[EAI:d][EAI:c][EAI:b][EAI:a][RI]
Schnellpressendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.[RII]

Aesthetik
oder
Wissenschaft des Schönen
.

Zum
Gebrauche für Vorlesungen

Dritter Theil.
Die Kunstlehre.





[figure]

Stuttgart.
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.

[RIII]

Aesthetik
oder
Wissenschaft des Schönen.

Zum
Gebrauche für Vorlesungen

Dritter Theil. Zweiter Abschnitt.
Die Künste.

Fünftes Heft:
Die Dichtkunst.
(Schluß des ganzen Werkes.)






[figure]

Stuttgart.
Verlagsexpedition der
Verlagsbuchhandlung von Carl Mäcken
in Reutlingen.
1857.

[RIV]

Schnellpressendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.

[RV]

Vorwort
zu der letzten Abtheilung. ──────


Jndem ich, fast eilf Jahre nach dem Erscheinen des ersten Bandes,
meine Aesthetik vollendet der Oeffentlichkeit übergebe, fühle ich mich vor
Allem verpflichtet, einen Uebelstand der technischen Form dieses Werks
bereitwillig zuzugestehen. Es ist die Paragraphen-Einrichtung. Ein
einfacher, freilich grober Rechnungsfehler hat mich um einen guten Theil
des Erfolgs meiner Arbeit gebracht. Das Werk sollte zum Gebrauch
akademischer Vorlesungen, zunächst meiner eigenen dienen, die Zusammendrängung
des Jnhalts in Paragraphen das Dictiren ersparen, diese
sollten vorgelesen, die Anmerkungen der Erläuterung in freier Rede zu
Grunde gelegt werden. Zu spät erkannte ich, daß das Buch den Umfang,
der dabei vorausgesetzt war, weit überschreiten mußte; die einmal
angenommene Form durfte nicht mehr verlassen werden. Sie schreckt
nun wie ein eisernes Stachelgitter von den Früchten meiner Arbeit ab;
die Paragraphen mußten durch die nothwendige Kürze hart, spröd im
Style werden und die schwere Mühe, die sie kostete, dankt mir natürlich
Niemand. Doch bleibt Ein Zweck, dem diese Einrichtung dient: die
vielen Rückbeziehungen, Anführungen früherer Stellen in einem Werke,
worin Alles in streng organischer Verbindung steht, sind dadurch
wesentlich erleichtert, daß überall auf die scharf hervortretenden,
bündigen Zusammenfassungen mit der Deutlichkeit der Zahl verwiesen
werden kann.


Es mag jedoch von der Härte, welche in den Paragraphen unvermeidlich
war, auf die Ausführung in den Anmerkungen etwas übergegangen
sein und der Styl mehr Schwere angenommen haben, als [RVI]
selbst der streng wissenschaftliche Charakter rechtfertigt. Der erste Theil
mag zudem von der damaligen Stimmung des Verfassers nicht unberührt
geblieben sein: der Vorwurf frivoler Leichtigkeit in der Behandlung
der Wissenschaft kann immerhin dazu verleiten, daß man denkt, man
wolle einmal zeigen, ob man es nicht auch schwer machen könne. ─
Jm Ganzen und Großen bedenke man aber wohl, daß ich durchaus
kein populäres Werk schreiben wollte. Es gibt eine Gemeinfaßlichkeit
edler Art, deren Werth, deren große Wichtigkeit für eine Zeit, zu deren
höchsten Aufgaben es gehört, dem Geiste Schloß und Riegel zu öffnen
und ihn in die Massen zu verbreiten, ich natürlich nicht bestreiten will;
aber daneben bleibt eine streng esoterische Form der Wissenschaft in
ihrem Recht, in ihrer Nothwendigkeit für alle Zukunft stehen. Es ist
ein anderes, zweites Geschäft, die strenge Form zu sprengen und den
Jnhalt an möglichst Viele auszugeben, ein Geschäft mit anderer Technik,
anderen Werkzeugen, und diejenigen, die dem Arbeiter jener innersten
Werkstätte vorwerfen, daß er in Formeln sich bewege, die nicht gemeinverständlich
sind, kommen mir immer vor, wie Leute, die etwa dem
Goldschmiede vorrückten, daß er nicht der einfachen Hämmer, Zangen,
Meisel u. s. w. sich bediene, wie man sie in jedem Hause braucht und
kennt. Das Ausmünzen, Verarbeiten für die Masse ist denn ein ganz
ehrenwerthes, verdienstliches Geschäft, nur soll es auch redlich sein und
gestehen, woher der Jnhalt geholt ist. Jch könnte hierüber allerhand
erzählen, begnüge mich aber mit der Bemerkung, daß ich nicht so geizig
bin, es für Diebstahl zu achten, wenn Einer nicht bei jedem Worte,
das er meinem Buch entnommen, die Anführungszeichen setzt, daß aber
wenigstens diejenigen Züchtigung verdienen, die einen Schriftsteller ausschreiben
und ihm zum Danke dafür bei jeder Gelegenheit einen Stich
versetzen. Freilich mögen sich diese Unredlichen einer ziemlichen Sicherheit
erfreuen, da sie wohl wissen, daß man sich schwer entschließt, die
peinliche Mühe einer genauen Constatirung des Betrugs durch actenmäßigen
Nachweis zu übernehmen, und daß sie, so lange man dieß
nicht thut, gegen jede Nennung protestiren können. Wenn ich aber
einmal recht viel Zeit übrig habe, gedenke ich doch ein Exempel zu
statuiren. ─ Jch meines Theils habe mir zur Pflicht gemacht, kein
Wort eines Andern ohne Citat, und zwar, wo ich sie immer finden [RVII]
konnte, mit ausdrücklicher Angabe der Stelle aufzunehmen. Mein Werk
sollte zugleich eine Fundgrube für die gesammte Literatur der Aesthetik,
ja für Alles sein, was da und dort von einzelnen bedeutenden Gedanken
über den Jnhalt dieser Wissenschaft zerstreut ist. Die Trockenheit
seines Charakters ist allerdings auch dadurch, nur dieß nicht zufällig,
sondern mit Wissen, verstärkt worden. Jm Uebrigen bedenke man auch
billig, welch massenhafter, aufquellender Stoff zusammenzupressen war;
man wird, wenn man genauer zusieht, wohl finden, wie oft ich gewaltsam
anhielt, wo der Zug der Darstellung in's Weite gehen und
sich der Ergießung in die gefällige Form hingeben wollte, so daß Gefahr
eintrat, mehr schön, als über das Schöne zu schreiben.


Niemand wird meinen, ich sei so wenig fortgeschritten, daß ich mit
einer Arbeit, deren Anfang so weit hinter mir liegt, ganz zufrieden
wäre. Was ich von der Kritik im Einzelnen gelernt, worin ich sie
ungerecht, ja feindselig, hämisch, selbst lügnerisch gefunden, dieß auseinanderzusetzen
gehört nicht in das Vorwort eines Werkes, das auf
Objectivität Anspruch macht. Nur das kann ich nicht ganz unterdrücken,
daß ich mich verwundert habe, die Schwächen und Mängel, die mir
selbst am klarsten sich aufgedeckt haben, so wenig von Andern aufgezeigt
zu sehen, während sie mir so häufig wesentliche Lücken und Fehler vorrückten,
wo das Vermißte, Ergänzende, Zurechtstellende nur an andern
Stellen ausgeführt ist, als an welchen sie es suchten. Uebrigens wird
man nicht verlangen, daß ich über die Gebrechen, die mir zum Bewußtsein
gekommen sind, hier ein Bekenntniß ablege, man wird diese
Unterlassung mir mindestens dafür verzeihen, daß ich auch nicht verkündige,
was nach meiner Ueberzeugung in dem Buche neu und gut ist.
Nur über eine Hauptfrage halte ich für Pflicht mich hier auszusprechen.
Die meisten und stärksten Angriffe hat der Aufbau meines Systems
auf der Grundlage einer Metaphysik des Schönen erfahren, welche den
Satz, daß das Schöne in der Auffassung und Thätigkeit des Geistes
liegt, noch unentwickelt läßt; man hat mir vorgeworfen, daß ich in der
Weise des Platonischen Jdealismus den Begriff hypostasire, wie ein
Wesen für sich in die Luft hinstelle. Was ich schon in der Vorrede
zum ersten Theile, was ich an hundert Orten im Zusammenhange des
Systems zu meiner Rechtfertigung hierüber vorgebracht habe, wurde nicht [RVIII]
berücksichtigt. Dieser Punct mag denn hier aus der Tendenz des ganzen
Werks noch einmal kurz beleuchtet werden. Dasselbe arbeitet in seinem
ganzen Geist und Bau gegen eine hohle, gegenstandslose, blos subjective
Kunst, gegen den falschen ästhetischen Jdealismus; für ein wahres Kunstwerk
wird nur dasjenige erklärt, welches in naturvollem Contacte des
Künstlergeistes mit einem gegebenen, vorgefundenen Object auf dem Wege
der Zufälligkeit entstanden ist; der Genius schaut in dieser Berührung
durch die empirisch getrübte Gestalt der Dinge hindurch in die reinen
Urtypen, auf welche das Leben angelegt ist, und dieß Schauen ist in
seinem Ausgangspunct von dem Scheine begleitet, als begegnen ihm
diese reinen Formen vermöge einer besonderen Gunst des Zufalls, die
einem Naturschönen mangellose Entwicklung gegönnt, mitten in der
empirischen Welt. Wird nun das System der Aesthetik aus der Phantasie
construirt, so wird dieser freudige Schein, von dem der Künstler
ausgehen soll, von vorneherein in entwickelter Weise vernichtet und stellt
sich der Gang der Wissenschaft an, auf ein gegenstandloses Dichten
hinzuarbeiten, das mit Willkür Gebilde aus dem Jnnern erzeugt. Daher
habe ich in diesem ersten Theile wohl angelegt, aber noch nicht entwickelt,
daß die reinen Typen nur scheinbar im naturschönen Gegenstand empirisch
vorgefunden worden, ich habe den Begriff des Schönen metaphysisch behandelt,
d. h. von dem Standpuncte, daß der Geist Schönes findet und schafft
vermöge seiner Herkunft aus dem allgemeinen Lebensschooße, in welchem
auch die reinen Urgestalten schweben, die allen Gebilden der Außenwelt zu
Grunde liegen. Jn diesem allgemeinen Substrate, in diesem Urgrunde verweilt
der erste Theil, darum heißt er metaphysisch, daher trennt er noch nicht,
unterscheidet noch nicht ausdrücklich, wie viel Antheil an der Erzeugung
des Schönen der thätige Geist, wie viel das empirische Object hat, daher
gesteht er noch nicht förmlich, daß das eigentlich Schaffende jener, dieß
blos das Weckende und der Stoff ist. ─ Ein weiterer Grund für diese
Anlage des Systems liegt in den gegensätzlichen Formen des Schönen,
dem Erhabenen und Komischen. Die Auffassung im Sinne der einen
oder andern dieser Formen geht bald nur vom Künstler und seiner
Stimmung aus, bald aber zwingt ihn der Gegenstand; es gibt Erscheinungen,
die ebensogut anmuthig, als erhaben oder komisch, es gibt aber
auch solche, die nur entweder anmuthig, oder erhaben, oder komisch gefaßt [RIX]
werden können: daraus folgt, daß diese großen Unterschiede in einem
allgemeinen, abstracten Gebiet außerhalb und vor denjenigen Gebieten
behandelt werden müssen, wo das Schöne ausdrücklich zuerst im Objecte,
dann im Subjecte gefunden wird, d. h. daß sie in einer Metaphysik des
Schönen ihren Platz fordern. So liegt die Sache; mag man diese
Gründe widerlegen, bis jetzt hat man sie meines Wissens noch nicht
einmal bedacht.


Eine schwere Beichte aber muß ich hier ablegen: die Lehre von der
Musik ist nur im ersten, allgemeinen Theile (§. 746 ─ 766) und
in dem Anhange von der Tanzkunst (§. 833) von mir ausgeführt.
Ein Freund, der philosophische Bildung mit tieferer Kenntniß der Musik
vereinigt, Dr. Carl Köstlin, Professor in Tübingen, auf theologischem
Gebiete durch historisch kritische Arbeiten ehrenvoll bekannt, neuerdings
durch philosophische Vorträge auf der genannten Universität mit Beifall
und Erfolg thätig, hat die übrigen Theile übernommen und im Anfange
seiner Arbeit einiges freundlich überlassene Material von einem in die
physikalischen Grundlagen und das technische System der Musik noch
spezieller Eingeweihten, der nicht genannt sein will, benützt. Der Entschluß
wurde von beiden Seiten nicht früher gefaßt, als bis sich bei unsern
Besprechungen ergeben hatte, daß Prof. Köstlin mit meinen Grundgedanken,
insbesondere mit meiner leitenden Jdee eines Gegensatzes von zwei Stylprinzipien,
der alle Künste und ihre Geschichte beherrscht, sich in völliger
Uebereinstimmung fand. Er hat sich, wie ich, zur Aufgabe gemacht, den
Begriff ganz in das Concrete hineinzuarbeiten, durch die Elemente, Formen,
Zweige der Musik vollständig und systematisch durchzuführen, und er muß
bei solcher Natur seiner Arbeit ebenso lebhaft, als ich bei der meinigen,
wünschen, daß man das Ganze liest, ehe man es beurtheilt. Jch hoffe,
daß der Unterschied der zweierlei Hände nicht allzufühlbar sein, sich nicht
als störende Kluft darstellen werde; ich kann freilich nicht die Verantwortung
für jedes Einzelne übernehmen, aber ich freue mich, durch eine
Kraft von solcher Tiefe, Fülle, Schärfe und Feinheit des Eindringens
unterstützt worden zu sein. Ganz ruhig ist mein Gewissen allerdings nicht
dabei, daß ich dieser Unterstützung bedurfte; ich bekenne hier eine tiefe und
traurige Lücke in meiner Bildung. Jch habe in dem Alter, wo man es
soll, weil man es kann, keine Musik gelernt; es war ein Versäumniß in [RX]
meiner Erziehung. Allerdings hätte ich wohl in den späteren Jugendjahren
mehr Willen und Beharrlichkeit gehabt, das Versäumte nachzuholen,
wenn nicht Alles an einem tödtlichen Grauen vor Noten gescheitert
wäre. Man versichert mich, daß ich ganz richtig höre, ich freue mich an
der Musik, ich glaube Manches, weit mehr, als in jenem von mir ausgeführten
Theil, über sie sagen können, und ich darf anführen, daß ein
Kenner mir seine Verwunderung darüber ausgedrückt hat, wie erträglich
die Ausführung der ganzen Lehre von dieser Kunst mir in den akademischen
Vorlesungen gelungen sei. Jch bin aber allerdings mehr auf das Auge,
als auf das Ohr angelegt und noch bestimmter muß ich bekennen, zu
den unmathematischen Naturen zu gehören. So lernte ich denn kein
Jnstrument und ein letzter, ganz später Versuch, mir theoretisch das
Verständniß der Zeichenschrift der Musik anzueignen, war vergeblich.
Wer aber keine Noten, kein Jnstrument versteht, hat ein für allemal
kein Recht, über Musik zu schreiben; was er immer über sie gedacht haben
mag, er würde bei jedem Schritt auf das Concrete stoßen, das er nicht
berühren darf; ich wollte und konnte einen solchen Eiertanz nicht auf
mich nehmen. Jch hatte nun die Wahl, entweder den Abschnitt über die
Musik auf das Wenige zu beschränken, was ich gegeben, und so die
Symmetrie meines Werkes zu opfern, oder dieselbe um den Preis zu
retten, daß ich eine fremde Hand zu Hülfe rief. Der deutsche Sinn für
Vollständigkeit und Ebenmäßigkeit zog das Erstere vor. Sagt man mir
nun, wem es in einem so wesentlichen Stück fehle, der sei nicht berechtigt,
eine Aesthetik zu schreiben, so muß ich es mir gefallen lassen und kann
nur bedauern, daß es dennoch geschehen ist. ─ Auf dem Titel der
Abtheilung von der Musik ist der Name meines Mitarbeiters nur darum
nicht genannt, weil sich keine Bezeichnung darbot, welche in der Form
und Kürze, wie es für diesen Zweck gefordert ist, seinen Antheil von
dem meinigen unterschied.


Zürich im Januar 1857.


Fr. Vischer.

[RXI]

Jnhaltsverzeichniß. ──────
Dritter Theil.
Die subjectiv-objective Wirklichkeit des Schönen
oder
die Kunst.

Zweiter Abschnitt.
Die Künste.
Dritte Gattung.
Die subjectiv=objective Kunstform oder die Dichtkunst.



  •  §§. Seite.
  • a. Das Wesen der Dichtkunst.
    • α. Ueberhaupt 834─845 1159─1195
    • β. Die einzelnen Momente.
      • Das Stylgesetz.
        • Verhältniß zu der Musik 846 1196─1199
        • ─ zu der bildenden Kunst 847 1199─1204
        • ─ zu der Prosa 848 1205─1211
        • Die zwei Stylprinzipien: directer und indirecter Jde=
          alismus 849 1211─1215
      • Der sprachliche Ausdruck 850 ff. 1215 ff.
        • Die Mittel der Veranschaulichung (Tropen) 851─852 1219─1232
        • Die Mittel der Stimmung (Figuren) 853 1232─1234
        • Gegensatz der Style 854 1234─1238
      • Die Rhythmik.
        • Grundbestimmungen 855─858 1238─1246
        • Die Rhythmik des direct idealen, classischen Styls 859 1246─1250
        • ─ ─ des indirect idealen, charakteristischen
          Styls 860 1250─1258
      • Die Composition 861 1258
  • b. Die Zweige der Dichtkunst.
    • Eintheilungsgründe 862─864 1259─1264
    • α. Die epische Dichtung.
      • 1. Jhr Wesen.
        • Grundbestimmung 865 1265─1266
        • Die epische Weltauffassung 866─868 1266─1275
        • Der epische Dichter. Das Stylgesetz 869 1275─1278
        •  §§. Seite.
        • Die Composition 870 1278─1283
        • Werth und logische Stellung 871 1283─1285
      • 2. Die Arten der epischen Poesie.
        • Die zwei Hauptformen 872 1285
        • Das Epos des idealen Styls oder das (orientalische und)
          griechische 873 1285─1289
          • Styl-Unterschied innerhalb desselben. Jdyll 874 1289─1291
          • Das römische Kunst-Epos 875 1291─1292
          • Das persische und das deutsche Heldengedicht des
            Mittelalters 876 1292─1295
          • Das romantische Epos.Legende.
            Mährchen 877 1296─1300
          • Das religiöse und weltliche Epos der Jta=
            liener 878 1300─1303
        • Die epische Dichtung des modernen, charakteristischen
          Styls oder der Roman 879─880 1303─1310
          • Eintheilung nach Stoffgebieten: der aristokratische,
            der Volksroman, der bürgerliche, histo=
            rische, soziale 881 1310─1315
          • Eintheilung nach Stimmungs-Unterschieden: der
            ernste und komische, der sentimentale Roman 882 1315─1317
          • Die Novelle. Die moderne Jdylle 883 1317─1321
    • β. Die lyrische Dichtung.
      • 1. Jhr Wesen.
        • Grundcharakter 884─886 1322─1333
        • Styl, Composition 887 1333─1338
        • Rhythmische Form 888 1338─1341
      • 2. Die Arten der lyrischen Dichtung
        • Eintheilungsgrund 889 1342─1345
        • Die Lyrik des Aufschwungs: das Hymnische,
          Dithyramb, Ode 890 1345─1351
        • Die reine lyrische Mitte: das Liederartige 891 1351─1354
          • Styl-Unterschied. Volkspoesie und Kunstpoesie 892 1354─1358
          • Objective Formen. ─ Ballade und Romanze 893 1358─1367
        • Die Lyrik der Betrachtung: Elegie, orienta=
          lische
          Lyrik, romanische Formen (Sonett),
          Epigramm u. s. w. 894 1367─1374
    • γ. Die dramatische Dichtung.
      • 1. Das Wesen derselben.
        • Grundbestimmung 895─896 1375─1381
        • Die dramatische Weltauffassung 897─900 1381─1389
        • Der dramatische Styl 901 1389─1394
        • Die dramatische Composition 902 1394─1403
        • Werth des Drama's im Verhältniß zum Epos 903 1403─1405
      • 2. Die Arten der dramatischen Poesie.
        • Der Stylgegensatz 904 1406─1408
          • Die classische Tragödie und Komödie 905─906 1408─1412
          • Das moderne Drama 907 1413─1416
          • Wechselwirkung und bleibender Unterschied der Style 908 1417─1419
        •  §§. Seite.
        • Haupt-Eintheilung: tragisch und komisch 909 1419─1420
          • Tragödie. Eintheilung derselben nach dem Stoff:
            sagenhaft heroisch, bürgerlich, privat
            910 1421─1423
            • Nach der Seite der Auffassung: Prinzi=
              pien=
              und Charakter=Tragödie 911 1423─1426
          • Verhältniß dieser Unterschiede zu einander 912 1426─1428
          • Verhältniß derselben zum Stylgegensatze 913 1428
          • Unterschied des negativ und positiv Tragischen 914 1429─1430
          • Komödie. Eintheilung derselben nach dem Stoffe:
            politisch, bürgerlich, privat. Die my=
            thische Form 915 1431─1433
            • Nach der Seite der Auffassung: Charak=
              ter= und Jntriguen=Lustspiel 916 1433─1436
          • Verhältniß zum Stylgegensatze 917 1436─1439
          • Annäherung an die Tragödie mit glücklichem Ausgang 918 1439─1441
          • Verhältniß zu den Hauptformen des Komischen.
            Volks-Lustspiel und Lustspiel der Kunstpoesie;
            Posse 919 1441─1443
          • Werth der Komödie im Verhältniß zur Tragödie 920 1443─1446
  • Anhang zu der Lehre von der dramat. Dich=
    kunst: die Schauspielkunst
    .
    • Die Mimik 921 1447─1453
    • Die Bühne 922 1453─1455
  • Anhang zu der Lehre von der Dichtkunst
    überhaupt. Satyrische, didaktische Poesie,
    Rhetorik
    .
    • Charakter des Grenzgebiets im Allgemeinen 923 1456─1457
      • Die Satyre; negative, indirecte und positive, directe Form 924 1458─1462
      • Die didaktische Poesie. Epische Formen: Beispiel,
        Parabel, Fabel und beschreibendes Gedicht.
        Thier-Epos. Lyrische und dem Dramatischen ver=
        wandte Formen. Das eigentliche Lehrgedicht 925 1462─1472
      • Die Tendenzpoesie und Rhetorik 926 1472─1474

[figure]
[EA1159:c][EA1159:b]

Druckfehler.


Theil I.


Seite Zeile


5. 10 v. u. statt: cognitatio lies: cognitio


35. 9 v. o. st. Geistet l. Geiste,


35. 10 v. o. st. ausgebilde l. ausgebildet


54. 10 v. o. streiche das Komma nach: das


54. 11 v. o. setze ein Komma nach: erschiene


88. 9 v. u. st. die l. dieß


89. 19 v. o. st. gibt l. gilt


105. 6 v. o. st. Dürr l. Dürer


105. 6 v. o. st. Lamozzo l. Lomazzo


110. 6 v. o. st. Lamozzo l. Lomazzo


110. 6 v. o. st. Nic, l. Nic.


126. 15 v. u. streiche: nämlich


126. 11 v. u. st. subjectiv l. objectiv


142. 15 v. o. st. sie l. es


149. 12 v. o. st. befreiten l. befreien


149. 14 v. o. st. befreiten l. geläuterten


Seite Zeile


173. 13 v. u. statt: auf lies: auch


199. 11 v. o. streichenichtnach
läßt sichund setze es nach
aber


203. 11 v. u. st. Ring l. Reiz


210. 6 v. o. nach „Jdee“ setze: der Einheit


224. 1 v. o. nach „stärkere“ setze ein Komma.


260. 4 v. o. st. Weislinger l. Weislingen


275. 19 v. o. st. Vermögens l. Vergnügens


277. 9 v. o. st. Jn l. Je


321. 18 v. u. st. Kampfwuth l. Kampfmuth


341. 16 v. o. st. Todel l. Tadel


419. 10 v. o. st. welche l. welchen


467. 5 v. o. st. Dichtens l. Denkens


469. 15 v. o. st. mag l. muß


Theil II.


Seite Zeile


78. 2 v. o. statt: Klängen lies: Klänge


116. 20 v. o. st. nun l. nur


297. 19 v. o. st. arbeitet l. darbietet


317. 19 v. o. st. Freude l. Schmerz


321. 3 v. o. st. Anderew l. Anderem


347. 19 v. o. st. dieselke l. dieselbe


348. 16 v. u. st. meinen l. meisten


358. 2 v. u. st. ρωγράφος l. ζωγράφος


359. 12 v. u. st. ἐριννύαϛ l. ἐριννύας


Seite Zeile


363. 13 v. o. statt: natur lies: natur=


386. 19 v. u. st. Aber l. Oder


442. 3 v. u. st. Politheismus


l. Polytheismus


459. 7 v. o. st. 4 l. 2


489. 9 v. o. st. Gleiche l. gleiche


509. 15 v. o. st. innere l. moderne


513. 15 v. o. st. ziehen l. zu ziehen


513. 1 v. u. st. komm l. kommt


Theil III.


Seite Zeile


28. 21 v. o. statt: dieser nicht,


lies: dieser, nicht


47. 21 v. o. st. fasset l. faselt


83. 4 v. o. st. nach l. auch


Seite Zeile


134. 8 v. u. statt: prachliebenden


lies: prachtliebenden


175. 12 v. o. st. ungeschaffene


l. umgeschaffene

[EA1159:a]

Seite Zeile


189. 18 v. u. statt: §. 555 lies: §. 550


197. 16 v. u. st. hingesteckten


l. hingestreckten


200. 14 v. o. st. kleiner l. kleinen


203. 1 v. o. st. 303 l. 203


240. 9 v. o. st. und l. der


244. 18 v. o. st. Kapitel l. Kapitell


365. 10 v. u. st. subjectiver l. subjective


371. 3 v. o. st. reell l. real


439. 17 v. u. st. nathropologischer


l. anthropologischer


490. 7. v. o. st. Pisa l. Florenz


662. 10 v. u. st. unbenanten


l. unbenannten


723. 4 v. u. st. Schutzwetzr l. Schutzwehr


777. 9 v. u. st. nun l. nur


786. 3 v. u. st. Mutter l. Mitte


799. 12 v. u. st. dann l. denn


800. 16 v. o. st. uns l. was


803. 2 v. u. nach: „liegen“ setze ein Komma.


807. 5 v. o. st. binden l. Binden


808. 12 v. o. st. Strömungs


l. Stimmungs=


808. 18 v. u. st. Resonnanz l. Resonanz


818. 16 v. o. streiche das Wort: Ton


819. 1 v. u. nach: „unbefriedigende“ setze
ein Komma.


821. 1 v. u. st. unendlichen l. unendlicher


823. 18 v. o. st. die l. der


Seite Zeile


823. 8 v. u. statt: einem lies: seinem


827. 2 v. u. st. und an dem l. nur an dem


828. 11 v. o. nach „Sinnlichen“ streiche
das Komma.


836. 8 v. u. nach „Melodie“ streiche das
Komma.


838. 13 v. o. nach „weil“ setze: er


838. 18 v. o. streiche: „auch“


838. 19 v. u. st. das l. der


839. 19 v. o. nach „Ausgebreiteten“ setze
ein Komma.


907. 6 v. u. st. Vorschieben l. Verschieben


1153. 14 v. u. st. dann l. denn


1154. 13 v. u. nach „Zeit“ streiche das Komma


1157. 14 v. o. nach „Grazie“ setze ein Komma.


1180. 9 v. u. st. flüchtigen l. flüssigen


1204. 4 v. o. st. Zuge l. Gange


1209. 15 v. u. st. nur l. aus


1212. 8 v. u. nach: 506) setze ein Komma.


1222. 9 v. u. st. harmonisch l. homerisch


1236. 4 v. u. st. Btick l. Blick


1248. 20 v. o. st. anatamischen


l. anatomischen


1317. 9 v. o. st. exotischen l. erotischen


1328. 21 v. o. st. anschließt l. anschießt


1333. 12 v. u. st. Atmösphäre l. Atmosphäre


1345. 1 v. u. st. eigenthümliche


l. eigentliche


1370. 8 v. u. st. Sinnen l. Sinne

[figure]
[E1159]

Dritte Gattung.
Die subjectiv=objective Kunstform oder die Dichtkunst.


a.
Das Wesen der Dichtkunst.


α. Ueberhaupt.


§. 834.


Die Kunst hat nunmehr alle Seiten der Erscheinung und der Art ihrer
Auffassung isolirt, welche überhaupt isolirt werden können. Jede dieser Beschränkungen
hat mit ihrem Werth auch ihre Mängel und Nachtheile geoffenbart
(vergl. §. 533); die letzte derselben, die Musik, hat mit der Form der Bewegung
von der subjectiven Welt Besitz genommen, aber die ganze objective
geopfert; die Nothwendigkeit des Schritts (vergl. §. 746), wodurch diese wieder
gewonnen und mit dem ganzen Reichthum der ersteren vereinigt werden soll,
hat sich nachdrücklich hervorgestellt.


Das Gesetz, das uns im wissenschaftlichen Gange vorwärts treibt, ist
in dem angeführten §. 533 aufgestellt und erläutert. Es hat nun die bildende
Kunst das Object, d. h. die Welt als körperliche, sichtbare Realität,
im Raume nachgebildet und dem Auge vorgeführt; ihre Darstellung war
zuerst räumlich im engsten Sinne des Worts, indem sie die Bewegung,
welche den Raum in der Zeit überwindet, überhaupt nicht zum Gegenstand
ihrer Nachahmung machte, sondern nur die bewegungslose Masse zu reinen
Verhältnissen ordnete: als Baukunst; sie hat organisch sich Bewegendes
nachgebildet, aber ohne die Bewegung wirklich in ihr Werk aufzunehmen,
und sie hat zugleich von den Momenten, die das Sehen in sich begreift,
dasjenige, das sich auf die Form im engeren Sinne des Worts bezieht,
das tastende Verhalten des Auges isolirt: als Bildnerkunst; sie hat die [1160]
dargestellte, aber nicht eigentlich nachgeahmte Bewegung beibehalten und
das bewegte Leben in ungleich reicherem Umfang, mit unendlich vertieftem
und erweitertem Ausdruck dem Auge in der Totalität seines Wahrnehmens
geboten, wie es mit der Form die Verhältnisse des Lichts und der Farbe
erfaßt: als Malerei. Hiemit ist Alles erschöpft, was im Raum ohne
wirkliche Bewegung dargestellt werden kann; eine Verbindung der letzteren
aber mit der räumlichen Darstellung ist, wie wir sahen, nur möglich durch
Verwendung lebendigen Naturstoffs in der blos anhängenden Kunstform
der Gymnastik (ebenso der Orchestik). Jede der einzelnen Beschränkungen
in dieser Folge der Künste erreichte durch ihr Verzichten ein relativ Vollkommenes
und deckte doch zugleich ihren tiefen Mangel auf. Dieß trieb
mit Nothwendigkeit zur Musik. Wir haben gesehen, was diese gewinnt
und verliert, indem sie die Welt der Jnnerlichkeit, das subjective Leben, in
der Form der reinen Bewegung, d. h. so ausspricht, daß das geistige Zeitleben
im Zeitleben des Darstellungsmittels seinen Ausdruck findet, aber keine
sich bewegende Gestalt, kein räumliches Subject einer Bewegung zu sehen
ist. Erst jetzt vermochte die Kunst das innerste Geheimniß der Dinge, wie
es vom Menschen durch lebensvolle Sympathie mit der Welt in seinen
Busen hereingenommen wird, jenes Geheimniß, das still über den Gestalten
der bildenden Kunst schwebt, ihnen und dem Zuschauer auf der Zunge liegt
und sich nicht lösen kann, zu entbinden und zu verrathen, und doch wußte
sie es nur auszuhauchen, nicht zu nennen, denn mit dem Sichtbaren hatte
sie die Fähigkeit geopfert, überhaupt einen Gegenstand anzugeben; sie war
ganz Gefühl und stand still an der Schwelle des Bewußtseins. Das Gefühl
haben wir aber als jene lebendige Mitte des Geisteslebens erkannt,
welche stetig in das bewußte Verhalten übergeht; es war nicht nur die
volle Empfindung des Mangels da, sondern positiv war es uns, als müsse
er jeden Augenblick sich tilgen, das Object schwebte stets in die nächste
Nähe heran, ja die ganze Kunstform verband sich mit der Sprache des
Bewußtseins, mit dem Worte, um ihrem tief gefühlten Mangel abzuhelfen,
freilich wieder mit einem Opfer, denn eben die Jsolirung der Erscheinungsseiten
in der Kunst begründet ja auf der einen Seite die Vollkommenheit
ihrer Sphären und die selbständige Musik mußte daher für reiner erklärt
werden, als die begleitende. Der Fortgang nun, wodurch die Lücke gefüllt
werden soll, welche auch diese neue, so reiche und tiefe Kunstform zurückgelassen
hat, muß sich von den bisherigen Schritten, die von der einen zu
der andern Kunst überführten, wesentlich unterscheiden. Dort bestand das
Neue nicht darin, daß je die neue Kunstform, um dem Mangel der in der
logischen Folge vorhergehenden abzuhelfen, auf eine noch hinter dieser liegende
Hauptform zurückgriff, sondern sie behielt zwar etwas von der vorhergehenden
(wie die Plastik von der Baukunst das schwere Material, die massiv räumliche [1161]
Darstellung und die Strenge der Verhältnisse, die Malerei von jener
das Gewicht der Form in Zeichnung und Modellirung, die Musik von
allen dreien die in ihren Darstellungen schlummernde Stimmung), aber sie
erfaßte zugleich eine neue Seite des Erscheinungslebens, wodurch denn das
Behaltene zugleich wesentlich verändert wurde. Die Poesie aber greift, um
das, was sie von der Musik behält, zu ergänzen, ─ wodurch sie es natürlich
ebenfalls wesentlich verändert, ─ zurück nach dem Sichtbaren,
dem Gebiete der bildenden Kunst. Freilich auch diese wieder ergriffene
Seite der Welt wird sie, verglichen mit der Behandlung, die ihr in der
bildenden Kunst widerfährt, auf's Tiefste verändern, eben weil sie, was die
Musik gewonnen hat, hinzubringt; ja in gewissem Sinne ist es ganz und
schlechthin Neues, in keiner von diesen zwei Hauptgattungen der Kunst
Dagewesenes, was mit ihr in die ästhetische Welt eintritt, allein es ist
nur Neues aus Erscheinungsgebieten, welche vorher in engeren Schranken
der Kunst sich eröffnet haben, kein neues Erscheinungsgebiet, keine neue
Kategorie des Daseins wird erobert. Einfach, weil es nichts mehr zu
erobern gibt, weil kein Erscheinungsgebiet mehr übrig ist. Wir sind daher
an der letzten Gattung der Kunst angekommen. Der Fortgang ist ein
Rückgang, die Linie läuft als Kreis in sich zurück. Es ist aber dieß Rückgreifen
nicht nur ein Nichtanders-Können, es ist eine positive, innere Nothwendigkeit,
denn alles Sein der Jdee ist zunächst Sein im Raume, räumliche
Existenz ist die vorausgesetzte Grundlage innerlicher, geistiger Existenz,
eine Grundlage, welche die Musik sich unter dem Fuße weggeschoben hat;
vergl. §. 746, wo überhaupt der Schritt zu der Musik gar nicht vollzogen
werden konnte, ohne sogleich auf die Poesie vorwärts hinüberzuweisen.


§. 835.


Durch diese Aufgabe ist gefordert, daß die Phantasie diejenige Art ihrer
Thätigkeit in Wirkung setze, worin sie sich nicht auf das eine oder andere ihrer
Momente, sondern auf die ganze ideal gesetzte Sinnlichkeit und auf das Jnnerste
und Reinste ihres Wesens, auf die tiefste Vergeistigung aller ihr zugeführten
Bilder stellt: die dichtende Phantasie (vergl. §. 404. 535).


Der Dichter soll die Wirkung auf das Auge mit der Wirkung auf
das Gehör (das Letztere keineswegs blos dadurch, daß er sich durch sein
Kunstmittel an dasselbe wendet,) vereinigen, er soll zu allen Sinnen sprechen.
Vor Allem muß er daher selbst mit allen Sinnen schauen. Dieß thut aber
jeder Künstler; es muß also seinen Grund in der Organisation der Phantasie
haben, wenn der eine diese, der andere jene Seite der Erscheinung,
die er doch sinnlich mitauffaßt, in demselben Act ausscheidet, um sich auf [1162]
eine bestimmte zu isoliren, wenn dagegen die Auffassung des Dichters sich
in das Ganze der Erscheinung legt. Dieser Satz ist hier aus der Lehre
von der Phantasie ausdrücklich wieder aufzunehmen, welche in §. 404 auf
Grundlage der Darstellung des Wesens derselben jene innern Unterschiede
aufgeführt hat, die darauf beruhen, daß die Phantasie als Ganzes sich
entweder auf den Standpunct des einen oder andern ihrer Momente stellt
oder in den Jnbegriff dieser Momente legt; und darauf eben beruht ja die
Theilung der Kunst in Künste (§. 535). Es sind aber in §. 404 zwei
Linien der Eintheilung aufgestellt, welche entsprechend nebeneinander laufen:
die eine, ebengenannte, ist genommen aus den Weisen des Verhaltens zum
äußern Object, welche der innerlich frei gestaltenden Thätigkeit vorausgesetzt
sind, die andere aus dieser selbst; so gründet sich die bildende Phantasie
auf den Standpunct der Anschauung in der ersten, auf den der Einbildungskraft
in der zweiten Linie, die empfindende auf die Seite der innigen, mit
dem Gehörssinn auffassenden Aneignung des angeschauten Gegenstands in
der ersten, auf die Stimmungsseite der Begeisterung in der zweiten; was
nun die dichtende betrifft, so ist jetzt genauer zu bestimmen, wie es hier mit
den zwei Begründungslinien sich verhalte. Der geborene Dichter schaut
denn allerdings zum Voraus anders an, als der bildende Künstler und der
Musiker; Gestalt und Ton, jede Bewegung, jede Aeußerung des Lebens
umfaßt er, wie schon gesagt, mit gleich aufmerksamen Sinnen. Allein
schon in §. 404 ist zu der Bestimmung: „die ganze ideal gesetzte Sinnlichkeit“
gefügt „und die reichste geistige Bewegung aller ihrer Mittel.“
Der Künstler, der sich nicht auf einen bestimmten Sinn isolirt, sieht es
schon in seiner Auffassung auf eine Kunst ab, welche, weil dem äußern
Sinne niemals alle Erscheinungsseiten zugleich dargestellt werden können,
nur für den innern darstellt und die Totalität der Erscheinung wesentlich
in geistige Einheit zusammenfaßt, das Ganze des Lebens, ergriffen im geistigen
Centrum, nachbildet. Von diesem Centrum laufen die Strahlen in gleicher
Kraft nach allen Seiten der Erscheinung; jede Weise, sie wahrzunehmen,
kann bedeutend werden, ist bedeutend, jeder Punct der Peripherie führt in
das Jnnere, jeder Nerv betheiligt sich in der Aufnahme. Also nur darum
ist hier die ganze Sinnlichkeit berechtigt und berufen, weil sie schon als
Sinnlichkeit Alles geistig betont, weil jeder ihrer Töne unmittelbare Resonanz
im Geiste hat, weil in jedem Ergreifen des Gegenstands die Tiefe
dieser Beziehung vorbehalten ist, ja miterfolgt. Dieß ist eben dadurch bereits
ausgesprochen, daß der Dichter die subjective Jnnerlichkeit der Musik mit
der objectiven Gestaltung der bildenden Kunst vereinigen soll. Sehen wir
nun genauer auf jene zwei Linien zurück, so ist die ganze Sinnlichkeit,
womit der Dichter anschaut, darum bereits auch die verinnerlichte, ideal
gesetzte, also die Einbildungskraft, weil die Totalität der Anschauung sogleich [1163]
in der Bedeutung vor sich geht, daß sie ohne jede äußere Gegenwart des
Objects das Bild bewahren und im Zuhörer hervorrufen muß. Das innere
Bild soll aber in emphatischem Sinne vergeistigt, also von der eigentlich
Jdeal=bildenden Phantasie verarbeitet werden. So ruht die dichtende Art
der Phantasie gleichmäßig auf diesen beiden Linien: auf der ganzen Sinnlichkeit,
die als Einbildungskraft zur innerlichen wird, und auf dem intensiv
reinsten Thun der Phantasie. Trat in der Begründung der bildenden
Phantasie die Einbildungskraft in zweiter Linie ebenfalls auf, so lag hier
das Gewicht auf der Objectivität des innerlich vorschwebenden Bildes
im Gegensatze gegen das bildlose Empfinden; tritt sie jetzt in erster Linie,
sofern nämlich die Totalität der Sinnenwahrnehmung unmittelbar in sie
überleitet, wieder auf, so liegt der Nachdruck eben auf der Vollständigkeit,
womit alle äußeren Sinne in ihr auf innerliche Weise, in Abwesenheit des
Gegenstands, der Seele das Bild vorführen, das durch ihre Thätigkeit erfaßt
wird, denn die Einbildungskraft sieht nicht nur, sondern hört auch,
tastet, schmeckt, riecht innerlich. Nun aber ist allerdings das Thun der
Einbildungskraft noch kein Läutern der Erscheinungen zum Ausdruck der
reinen Jdee, daher ergänzt sich die Begründung dahin, daß die dichtende
Phantasie auf die Phantasie selbst im engsten Sinne des Worts, auf die
reine, Jdeal=bildende Formthätigkeit gestellt ist. Alle Arten der Phantasie
müssen zwar zu dieser Höhe des Thuns sich erheben, wenn sie ächte Kunstwerke
hervorbringen wollen, sie müssen ein reines, ideales Bild geistig im
Jnnern erzeugen, aber während die andern dieß Bild im äußeren Stoff
niederlegen, bleibt es bei dem Dichter im Mittheilen nach außen geistig,
innerlich: daher ist sein Element wie das keines andern Künstlers die innere
Jdealbildung; daher haben wir die dichtende Phantasie die Phantasie der
Phantasie genannt.


§. 836.


Soll nun die dichtende Phantasie ihr inneres Bild in Kunstform darstellen
und hiemit den vollen Schein der Dinge vorführen, so muß sie nothwendig
auf alles Material, auch auf diejenige Beziehung zu einem solchen, die in
der Musik noch besteht (vergl. §. 759. 767, 3.), verzichten (vergl. §. 533. 534)
und sich statt dessen eines bloßen Vehikels bedienen. Dieß kann nur der
articulirte Ton, die Sprache sein, als das Mittel, wodurch der Dichter das
Bild, das er in sich selbst erzeugt hat, im Jnnern desjenigen hervorruft, an
den er sich wendet, also mit Phantasie in Phantasie thätig ist. Jn engerem
Sinne, als bei der Musik, ist daher die Phantasie, in welche der Dichter
das Gebilde der seinigen überträgt, das eigentliche Material, in welchem er
arbeitet.

[1164]

Jn §. 533. 534 ist gezeigt, daß die Kunst in stufenförmigem Gange
je das Material, worin das Leben umfassender und tiefer zur Darstellung
gebracht werden kann, an die Stelle des beengenderen setzt, bis endlich alles
Material, weil sein Charakter wesentlich die sinnliche Ausschließlichkeit ist,
abgeworfen wird, und es ist nachgewiesen, daß daraus zunächst eine Zweitheilung
der gesammten Künste entsteht, indem der Gruppe derselben, welche
sich sinnlichen Materials bedient, eine Kunst gegenübertritt, welche dieses
Band zerschneidet. Darauf ist dann in §. 535 die Dreitheilung eingeführt
durch diejenige Kunstform, welche den Moment des Uebergangs zu dieser
völligen Lösung darstellt, indem sie ein sinnliches Material noch verwendet,
aber nur als Voraussetzung, d. h. nur, um ihm das rein Bewegte, schon
der Zeitform Angehörende, den Ton, zu entlocken. Daß nun die Abwerfung
alles eigentlichen Materials mit der Poesie eintreten muß, folgt eben daraus,
daß sie für alle Sinne und daß sie sowohl das innere, als das äußere
Leben darstellt. Es ist schon bei der Verbindung von Künsten untereinander
(§. 544) berührt, daß es Unnatur ist, Poesie, Musik und Malerei vereinigen
zu wollen, der Unsinn der Verbindung voller Farbenwirkung und Formwirkung
ist bei den bildenden Künsten nachgewiesen. Der bloße Versuch,
sich ein Werk der Kunst vorzustellen, worin die Erfassung des Gegenstands
nach sämmtlichen Seiten der Erscheinung sich an ein Material bände, hebt
sich von selbst auf: nachgeahmte Figuren, welche völlige Farbe haben, sich
bewegen, singen, sprechen, dazu wirklich bewegte Lüfte, Wasser, Pflanzen,
und auch diese in allen Verhältnissen des Lichts und der Farbe, sind undenkbar.
Die Kunst, die auf der ganzen innerlich gesetzten Sinnlichkeit
ruht, kann sich auch nur an diese wenden, der volle Schein kann nur
in der Einbildungskraft des Zuhörers oder Lesers hervorgerufen werden.
Auch die bedingte Beziehung der Musik zu einem Körper als Material
fällt daher weg: das Schöne kann mit dem, wodurch es vermittelt wird,
nicht ebenso unmittelbar Eines sein, wie in der Musik mit dem Tone, den
sie durch Anschlagen eines Körpers hervorbringt. Will ich nun, daß im
Jnnern derjenigen, an die ich mich als Künstler wende, das Bild entstehe,
das ich in meinem Jnnern trage, so bleibt als Mittel, als tragendes, überführendes,
von meinem Jnnern zu dem des Andern überleitendes Medium,
d. h. als Vehikel, nur die Sprache übrig. Die Sprache ist ein System
articulirter Töne; die Zusammenschließung der Vocale durch Consonanten
entnimmt den Ton dem bloßen Weben der Empfindung, bildet ihn im Worte
zum Ausdruck des Bewußtseins, des Begriffs. Bewußtsein, Begriff: dieß
bedeutet uns hier zunächst nur: Angabe bestimmter Objecte; wir untersuchen
noch nicht die schwierige Frage, in welchem Sinne der Dichter allerdings
auch an das Bewußtsein als eigentliches Denken des Allgemeinen sich wende.
Die Sprache ist nun zwar schlechthin ein Verallgemeinern und das Wort [1165]
als solches gibt nie ein eigentliches Dieses, ein empirisch Einzelnes an,
denn das Erzeugen von Lautzeichen, wodurch jedes Object ohne sinnliche
Aufweisung kennbar gemacht wird, setzt ja eben voraus, daß durch Zusammenfassung
der Vielheit empirischer Jndividuen der Begriff, das Allgemeine
gebildet sei, und der ursprüngliche symbolisch bildliche Charakter der Laute
und Schriftzeichen ist in der entwickelten Sprache nothwendig und mit Recht
vergessen, dem reinen Mechanismus gewohnter Verknüpfung des Jnhalts
mit dem Worte gewichen. Allein die Abstraction des Denkens, wie es sich
in der Sprache darstellt, ist keine absolute: die Einbildungskraft begleitet
sie und erzeugt sich einen Auszug aus der unbestimmten Vielheit des Einzelnen,
ein Bild der Gattung, das nun den Begriff derselben, wie er im
Wort als mechanisirtem Zeichen gegeben ist, umschwebt: was man in der
Psychologie Denkbild genannt hat. Die Selbstbeobachtung sagt Jedem,
daß mit dem Worte, wie es vernommen oder gelesen wird, eine sinnliche
Vorstellung vor seinem Jnnern steht, bei dem Wort Mann ein Mann,
Baum ein Baum u. s. w. Der Dichter kann also mit dem Vehikel der
Sprache überhaupt auf das innere Schauen wirken, es hervorrufen, sie ist
sein elektrischer Telegraph, durch den er sein Bild zu dem hinüberströmen
läßt, für den er dichtet. Dieß bedarf allerdings einer eingreifenden näheren
Bestimmung. Jenes Denkbild, das mit dem vernommenen Worte wie
durch einen Zauberschlag innerlich entsteht, hat an sich weder die Kraft der
Jdealität, noch der Jndividualität mit dem ästhetischen Bilde gemein, es ist
blaß, verschwommen und zur äußersten Unbestimmtheit zerfließt es bei den
Wörtern, welche abstracte Begriffe im engeren Sinne bezeichnen, obwohl
auch sie ursprünglich andere, concrete Bedeutung hatten. Die Aufgabe des
Dichters fällt in den Mittelpunct dieses Verhältnisses zwischen Sprache und
innerem Bild hinein: er hat die Sprache so zu verarbeiten, daß er das
Denkbild zum Jdealbild erhebt, dem ganz Abstracten seine Beziehung zum
Sinnlichen zurückgibt, ebensosehr aber, daß er in dieser Rückbildung zum
Sinnlichen und durch dieselbe die Energie des Allgemeinen vielmehr gerade verdoppelt.
Wie er dieß bewerkstelligt, welche Behandlung der Sprache dadurch
gefordert ist, dieß ist hier noch nicht weiter auszuführen, sondern zuerst nur
das Gewicht der Aufgabe an sich festzuhalten. Und es liegt darauf der
ganze Nachdruck eines Grundbegriffes: der Dichter hat Bilder, d. h. natürlich
nicht blos einzelne Gleichnisse, Metaphern u. s. w., sondern innere Anschauungen,
richtiger: eine ganze Anschauung zu geben.
Note: ─ Es erhellt nun,
daß, wenn man in der Poesie noch von einem Materiale sprechen kann,
dieß die Phantasie des Zuhörers ist. Jn §. 767, 2. ist dieß auch von der
Musik gesagt, aber durch 3. beschränkt: zwischen dem Künstler und dem Zuhörer
steht hier zwar kein Material mehr als firer Körper, sondern schwebt
nur ein Bewegtes, der Ton, aber er ist mehr, als bloßes Vehikel, er ist [1166]
doch das lebendige physikalische Dasein des Kunstwerks. Auch diese Beschränkung
also fällt in der Poesie weg. Genauer gesagt ist es eigentlich
die Einbildungskraft des Vernehmenden, die der Dichter zur Phantasie umzubilden
hat, am richtigsten: die blos allgemeine Phantasie (§. 379─383),
die er, so lange sein Gedicht wirkt, zur besondern, schöpferischen emporheben
soll. Der Dichter arbeitet also mit Phantasie in Phantasie, er baut, er
modellirt und meiselt, zeichnet, malt, stimmt wie der Musiker in der innerlich
gesetzten ganzen Sinnlichkeit seines Hörers oder Lesers. Jn gewissem Sinne
gilt selbst von diesem Materiale der Satz, daß alles Kunstmaterial roher
und todter Stoff sein muß (vergl. §. 490): roh und todt ist die empfangende
Phantasie in diesem Verhältniß, d. h. sie hat nach der Seite, in
Beziehung auf den Gegenstand, den jetzt der Dichter bearbeitet, nicht selbst
vorher etwas wirklich Schönes bilden können; auch ihre Thätigkeit in
Mythus und Sage ist verglichen mit dem Kunstwerke noch formlos, roher,
todter Stoff. Obwohl Geist ist also der Geist des Empfangenden doch in
dieser Beziehung widerstandsloses Wachs, das erst zu kneten ist.


§. 837.


Die Kunst ist nun im eigentlichen Sinne sprechend und damit erst
eigentlich klar geworden; denn durch die Sprache wird aller Jnhalt an das
Bewußtsein geknüpft. Mit dem vollen Scheine ist nun erst der reine
Schein gewonnen; hiedurch vollendet sich der schon in der Auffassungsweise
begründete Charakter der Geistigkeit (§. 835), wodurch die Poesie von allen
andern Künsten sich unterscheidet; sie verzehrt tiefer und inniger, als die andern,
alles Stoffartige, steht im vollsten Sinne des Worts auf dem Boden der Jdee
und trägt den Charakter der Unendlichkeit und der Totalität, vermöge der sie
in jedem Bilde ein Weltbild gibt.


Es ist schon in §. 835 enthalten, daß die Poesie die geistigste Kunstform
ist; der Satz blieb aber noch unentwickelt, das Prädicat der besondern
Geistigkeit wurde zunächst in der Auffassungsweise gefunden, es erhält seinen
vollen Sinn erst, wenn diese auch in die Darstellungsweise verfolgt wird. ─
Von jeder Kunstform galt es, daß sie gewissermaaßen sprechend sei, der Musik
ist die Zunge gelöst, aber ihr fehlt der abschließende, Wort und Begriff
bildende Consonant, die Dichtkunst erst ist eigentlich sprechend, erst dem
Dichter „hat ein Gott gegeben, zu sagen, was er leidet.“ Jn dieser
allereinfachsten Bestimmung liegt eine Welt. Wir fassen dieselbe zunächst
nur an ihren Hauptpuncten. Jm vorh. §. sind wir von der Bestimmung,
daß die Sprache dem Bewußtsein einen bestimmten Gegenstand, dem
Denken einen Begriff gibt, alsbald fortgeeilt zu der andern, daß es sich [1167]
um die Ueberleitung eines Bildes in die empfangende Phantasie handle.
Wir nehmen jetzt die erste zunächst für sich wieder auf und lassen dabei
allerdings den Begriff im engeren Sinne des Wortes, das abstracte Denken
des Allgemeinen, vorerst aus; die Frage, wie weit er neben dem in ein
Denkbild überlaufenden Begriffe, der Concretes in seiner Allgemeinheit zusammenfaßt,
eine Rolle in der Poesie spielen könne, werden wir später aufnehmen.
Wesentlich ist also, daß in der Poesie Alles vom Bewußtsein
getragen und begleitet wird, das denn in Begriffen sich deutlich sagt, was
es in sich aufnimmt. Gegenüber dem bloßen Empfinden in der Musik, die
sich an den dunkeln Sinn des bloße Töne vernehmenden Gehörs wendet,
haben wir allerdings schon der bildenden Kunst, die dem Auge das klare
Object vorführt, den Boden des Bewußtseins zuerkannt. Das Bewußtsein
ist der Act, wodurch sich das Subject ein Object klar gegenüberstellt; in
diesem Acte, ohne daß er darum schon in den idealistischen des Selbstbewußtseins
(vergl. §. 748) übergeht, kann das eine Glied der Synthese,
das Subject, sich mit größerer oder geringerer Schärfe in seiner Selbstthätigkeit,
daher auch mehr oder minder activ, eindringend, aneignend das
Object erfassen. Dieser Unterschied hängt davon ab, ob zur Vorführung
des Gegenstands die Sprache nicht im Kunstwerk selbst, sondern nur daneben,
oder ob sie innerhalb desselben und als ursprüngliche Trägerinn verwendet wird.
Bei Bauwerken, Statuen, Gemälden wird uns der Zweck und Gegenstand
meist genannt oder wir nennen ihn uns selbst und auch das Aesthetische
der Darstellung geben wir uns in Worten an, aber der Künstler selbst als
Künstler spricht nicht. Der Dichter dagegen spricht eben als Künstler und
das Nennen ist wesentlich. Daraus folgt zunächst ganz einfach, daß dem
Gesetze: jedes Kunstwerk soll sich selbst erklären, keine Kunst so
ganz und eigentlich genügt, wie die Poesie. Dieß ist von der tiefsten Bedeutung
für das Jnnerste der künstlerischen Thätigkeit: der bildende Künstler
ist durch die Stummheit seiner Kunst gehalten, bekannte und geläufige, im
Wesentlichen schon erfundene Gegenstände vorzuziehen, und freilich muß er
sie wieder zum Stoff herabsetzen, daß seine Umbildung den Werth einer
neuen Schöpfung habe; der Dichter dagegen heißt zwar auch geläufige, von
der Volksphantasie schon bearbeitete Stoffe willkommen, aber er kann doch
weit unbeschränkter Stoffe ergreifen, die noch nie behandelt sind, denn da
er sie mit Worten exponirt, so braucht er keine Bekanntschaft vorauszusetzen;
er ist daher weit mehr eigentlich erfindend; vgl. Lessing's Laokoon Abschn. 11.
Es entspringt aber hieraus überhaupt eine Eigenschaft, ein Grundzug in
der Physiognomie der Dichtung, der als ein absolutes, klares Fassen, ein
Treffen mit der Spitze des Bewußtseins zu bezeichnen ist; das Auge des
Dichters und durch ihn das unsrige verhält sich zu dem des bildenden
Künstlers wie ein durchbohrendes zu einem hell und deutlich, aber mehr [1168]
passiv spiegelnden. Alles hat hier diesen bewußten Blitz, der Lichtpunct im
Auge ist packender, hat den Ausdruck der nicht fehlenden Sicherheit. Die Poesie
ist die eigentlich wissende Kunst. Sie verhält sich zu allen bildenden Künsten
und zu der Musik wie die Malerei zu der Plastik, welche dem todten Auge
erst den fassenden Lichtpunct gibt; es ist ein geistiges Durchleuchtetsein aller
Dinge in ihr, wie dieß keine andere Kunst erringen kann, denn dieser Ausdruck
kann alle Formen erst da beherrschen, wo sie wirklich reiner Schein
sind. An der Forderung, daß im Schönen aller Stoff in reinen Schein
sich verwandle, daß nicht der Durchmesser, nur der Aufriß, nicht das Jnnere
des Gebildes, sondern davon abgelöst die bloße Oberfläche wirke (vgl. §. 54),
haben wir vorzüglich die Bildnerkunst und die Malerei gemessen (§. 600 u. 650).
Aber Stein oder Erz und Farbstoff auf körperlicher Fläche, obgleich diese
Stoffe als solche mit dem dargestellten Stoffe von Fleisch, Knochen,
Blut u. s. w. nichts zu schaffen haben, gemahnen doch mit der Gewalt
sinnlicher Gegenwart an die stoffartigen, physiologischen, physikalischen Bedingungen
des Lebens, an den Durchmesser, und was die Musik betrifft,
so setzt die Luftwelle den wirklichen Nerv so unmittelbar in's Zittern, daß
eine höchst pathologische Wirkung nahe liegt. Kurz: in allen andern Künsten
ist die Materie noch nicht vollständig consumirt und sie verhalten sich zur
Dichtkunst wie eine Malerei, welche noch die Farben in ungebrochener
Stoffartigkeit verwendet, zu derjenigen, welche dieselben wahrhaft concret
ineinander verarbeitet und so das Colorit zur Reife sättigt. Das ist die
Frucht davon, daß die Poesie nur für das innere Auge und Ohr darstellt,
den Geist zu dieser camera obscura macht. Mit Geist in Geist malend
verwandelt sie alle Schwere des Körperlebens in reine Gestalt, alles Sein
in bloßes Aussehen, bloßes Erscheinen. Hier ist daher Alles verkocht,
geistig durcharbeitet, durchbeizt. Sie ist gefrorner Wein ohne das Eis, das
die andern Künste mitgeben. Mit dieser Geistigkeit steht nun die andere
Bestimmung des vorh. §., daß die Poesie das Vehikel der Sprache zu einem
Leiter lebendiger innerer Bilder zu gestalten hat, ebensowenig im Widerspruch,
als der Grundbegriff des Schönen überhaupt einen solchen enthält;
das Element der Jnnerlichkeit hebt die Sinnlichkeit so wenig auf, daß vielmehr
gerade die Poesie außerordentlich stoffartiger, pathologischer Wirkung
fähig und leicht in Versuchung ist, zu solcher überzugehen. Wir haben ein
Aehnliches bei der Malerei gesehen, welche so viel geistig sublimirter, vermittelter
ist, als die naive Sculptur, und doch die Sinnlichkeit so viel tiefer
und heißer zu entzünden vermag, namentlich im Nackten. Es hat dieß
seinen Grund nicht nur in der Farbe, sondern eben in der vertieften Jnnerlichkeit
dieser Kunst überhaupt. Alle Leidenschaft hat ihre wahre Stärke
gerade im innern Bilde, das glühend vor dem Geiste schwebt, und die
Kunst, die dieß ganz in der Gewalt hat, muß die heftigsten Erregungen, [1169]
die concentrirtesten Affecte hervorrufen können. Es folgt einfach aus dem
Wesen des Schönen, daß diese Hebel nur objectiv verwendet werden sollen,
d. h. daß das Wilde und Ueppige nur entfesselt werden darf in einem Zusammenhang,
der ihm durch einen großen und gesunden Jnhalt seine stoffartige
Spitze bricht und aus der Vollendung der Form hervorleuchtend dem
Heißesten selbst eine ideale Kühle gibt; sonst fällt die Poesie unter ihren
schönsten Beruf herab, worin sich alles hier Gesagte zusammenfaßt: entschiedener,
als jede andere Kunst, die Jdee durch die begrenzte Erscheinung
hindurchscheinen zu lassen. Alle Kunst stellt für die Phantasie dar, „die
Einbildungskraft durch die Einbildungskraft zu entzünden, ist das Geheimniß
des Künstlers“ (W. v. Humboldt. Aesth. Versuche. W. B. 4, S. 19), aber
die bildenden Künste stellen einen Körper in die Mitte zwischen die Phantasie
des Künstlers und Zuschauers, der Musiker bedarf noch eines solchen, um
die Tonwelle zu erzeugen, welche er zur Erscheinung des Bildes seiner
empfindenden Phantasie gestaltet; der Dichter aber weckt unmittelbar Phantasie
mit Phantasie und macht sein Bild nur so äußerlich, daß es in
der Veräußerung innerlich bleibt.
Daher geht ihm nichts verloren
von der Unendlichkeit, deren wunderbarer Hauch das Object der
Anschauung umschwebt, sobald es durch die Einbildungskraft innerlich gesetzt
ist (vergl. §. 388), und die natürlich nicht verschwindet, sondern wächst,
wenn sich dieser Act zur Phantasie steigert. Es ist zu §. 388 gesagt, die
Vergeistigung bemächtige sich in dem Momente, wo das Angeschaute zum
innern Bilde wird, obwohl es qualitativ noch nicht zum schönen umgeschaffen
sei, sozusagen erst der Umrisse und mache sie erzittern, in unendlichen Wiederhall
des subjectiven Gefühls verschweben, es ist an die grenzenlose Geistergewalt
des Furchtbaren erinnert, das wir genöthigt werden uns vorzustellen,
während wir es nicht sehen. Wir kommen an seinem Orte darauf zurück,
wie der Dichtkunst die besondern Wirkungen, die in diesen Zusammenhang
gehören, erst wahrhaft zu Gebot stehen. Die Geistigkeit des einzelnen Zuges
im poetischen Bilde ist aber zugleich ein Theil der geistigen Durchsichtigkeit,
der in dieser Kunst wie in keiner andern das Ganze durchdringt. Sie betont
mit jedem Strich ihres Gemäldes nachdrücklicher, als die übrigen Künste,
die ideale Einheit, welcher alle Theile desselben dienen. Der Ausdruck herrscht
hier ähnlich wie in der Malerei, aber auf höherer Stufe, daher intensiver
über die Form. Jsolirt sich ein Theil des Kunstwerks und dient nicht der
Jdee, so ist das Wesen dieser Kunst noch schuldhafter verletzt, als wenn
ebendieß in der bildenden geschieht, denn ihre Gestalten sind geistig schwebend
und flüssig, das Beziehungsvolle ist ihr Element. Nun offenbart das Schöne
in der bestimmten Jdee die absolute Jdee (§. 15); indem es ein Jndividuum
zeigt, das ganz Jndividuum ist und doch ganz seiner Gattung entspricht,
alle Gattungen und deren Jndividuen aber Glieder des Einen Weltganzen [1170]
sind, so öffnet es den Blick in eine Welt, welche überall vollkommen ist,
und faßt in seinen Ring, sei er klein oder groß, das All. Die Unendlichkeit
des ächten Kunstwerks ist daher zugleich Totalität; hat aber keine Kunst so
intensiven Charakter der Unendlichkeit wie die Poesie, so entfaltet auch keine
im engen Raum des Einzelnen so vernehmbar das Ganze der Welt, der
Menschheit und ihres Schicksals, der Natur in ihrer unendlichen Sympathie
mit der Menschenwelt, keine vermag uns so entschieden „in einen Mittelpunct
zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen in's Unendliche
ausgehen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30). Es ist das Herrliche
an einem Kinde, daß es noch ganz als bloße Möglichkeit, daher als unendliche
Möglichkeit erscheint; die männlichste, activste Kunstform verleiht
ihren Gebilden bei aller Kraft der Begrenzung diese Grenzenlosigkeit der
Perspective und erhebt den einfachsten Fall zum Weltbilde. Hemsterhuis
bestimmt das Schöne als das, was die größte Jdeenzahl in der kleinsten
Zeit gewährt; damit ist nicht sein Wesen, aber ein nothwendiges Merkmal
seines Wesens ausgesprochen und der Poesie kommt im höchsten Grade dieses
Merkmal zu. Ueber Homer's, Shakespeare's, Göthe's Gestaltungen meint
man ein wunderbares Zittern mystischer Luftwellen wahrzunehmen, Zauberfäden,
die von dem klar Begrenzten in das Unendliche hinauslaufen, es ist
eine Aussicht, wie von einem festen Puncte auf das Meer; es scheint alles
Große, ewig Wahre herzuschweben, um sich in den geschlossenen Kreis des
Gedichts zu fangen und wieder hinauszurinnen in alle Weite. Es ist nur
dieser Mensch, diese Gruppe von Menschen, diese Natur umher, und man
ruft doch aus: so ist der Mensch! das sind des Menschen Kräfte, das die
Wechselwirkung mit der Natur! Oder es ist sogar nur ein Baum, Fluß,
Berg, ein Thier und doch knüpft sich Ahnung des ganzen Daseins und der
Geschicke der Seele und der wechselnden Menschengeschlechter daran. Das
ächte Dichtwerk ist auch daher nie zu Ende zu erklären; ein solcher Baum
mag geschüttelt werden, so oft man will, er spendet immer neue Früchte.
Ein Vorhang schließt den Hintergrund der Scene ab, aber er bewegt sich
geisterhaft und man meint ein Flüstern hinter ihm zu vernehmen von wunderbaren
Stimmen. Der Maler wird einen Fluß so behandeln, daß man
seine Kühle zu fühlen, sein Rauschen zu vernehmen glaubt, daß man im
Wechselspiel seines Spiegels mit Luft und Himmel ein Bild der menschlichen
Seele ahnt, aber Göthe im „Fischer“ und E. Mörike in „Mein Fluß“
sagen es, leihen der Ahnung das Wort.


Die Persönlichkeit des Dichters wird von diesem Charakter der Poesie
das Gepräge tragen. Den Naturen, die für die bildenden Künste organisirt
sind, theilt sich etwas von der Ausschließlichkeit ihres Materials mit und
der Beruf, den Jnhalt wortlos in dasselbe zu versenken, ist von einer gewissen
relativen Unbewußtheit begleitet; der Musiker löst dem Jnhalt die [1171]
Zunge, aber so ganz in der Weise der Jnnerlichkeit der Empfindung, daß
er gerade noch unbewußter erscheint, als namentlich die Maler-Natur, die
hellblickendste und am meisten geschüttelte in der Gruppe der bildenden
Künstler. Der Dichter aber wird sich zu andern Künstlern verhalten wie
(in allem tiefen Unterschiede) der Philosoph zu den Männern der Fachwissenschaften,
vor ihm liegt das Leben enthüllt, er hat das Räthsel gefunden.
Die geistige Gelöstheit, durch die er sich auszeichnet, hat ihre negative
Grundlage in der ungleich leichtern Beherrschung des Vehikels, das an die
Stelle des Materials getreten ist: der Dichter ist weniger, als jeder andere
Künstler, Handwerker, der Geist hat daher wirklich auch weit mehr seine
Zeit frei für sinnendes Umschauen und Durchdringen der Dinge. Der
positive Grund aber liegt in dem Wesen seiner Kunst, wie es aufgezeigt ist.


§. 838.


Die Poesie ist aber als die subjectiv-objective Kunstform auch die Totalität
der andern Künste.
Auf der einen Seite hat sie (vgl. §. 834 u. 835)
das Reich der bildenden Künste im Besitze: sie bildet nicht nur ihr Verfahren
nach, sondern umfaßt überhaupt ihre Gegenstände, und zwar, wie keine
von ihnen, in unbeschränkter Ausdehnung, so daß sie die ganze sichtbare Welt
vor dem innern Auge ausbreitet. Dazu kommt noch, daß der Dichter auch
Tastsinn, Geruch und Geschmack (vergl. §. 71) bedingter Weise in Wirkung
setzen kann.


Es ist jetzt näher zu bestimmen, wie die Poesie den Gegensatz der
Künste, der objectiven, bildenden, und der subjectiven, stimmenden Hauptform
so aufhebt, daß sie in sich vereinigt, was jede derselben vor der andern
voraus hat, und so als die Kunst der Künste sich darstellt. Dabei ist von
der Wiederaufnahme des Prinzipes der bildenden Kunst auszugehen, denn
es ist eine ebenso wesentliche, als vielfach, namentlich in der modernen Zeit,
verkannte Grundbestimmung, daß der Dichter das Jnnere, das er darstellen
will, in Gestalten niederlegen, diese als Träger desselben vorführen muß.
Wer dem innern Auge nichts gibt, wer ihm nicht zeichnen kann, ist kein
Dichter. Das ist die μιμησις der Alten: objective Darstellung; dadurch
ist der Künstler ποιητὴς. „Jeden, der im Stande ist, seinen Empfindungszustand
in ein Object zu legen, so daß dieses Object mich nöthigt,
in jenen Empfindungszustand überzugehen, folglich lebendig auf mich wirkt,
heiße ich einen Poeten, einen Macher,“ dieses Wort Schiller's (Briefwechsel
mit Göthe Th. 6. S. 35), das wir zu §. 392, 1. in weiterer
Bedeutung schon angeführt haben, gilt hier natürlich in seiner engsten.
Mancher hält sich für einen Dichter, weil er ein paar Gefühle in Verse [1172]
gebracht hat, während er unfähig wäre, das einfachste Object, einen Trupp
Bauernbursche, Musikanten, Zigeuner u. dergl. lebenswahr zu zeichnen.
Man berufe sich gegen unsere Grundforderung nicht auf die lyrische Dichtkunst.
Es wird seines Orts gezeigt werden, daß ihr subjectiver Charakter
keinen Einwand gegen dieselbe begründet; vorläufig darf als unbezweifelt
vorausgesetzt werden, daß die zwei Gattungen, die ein umfassendes Weltbild
in handelnden und leidenden Charakteren objectiv niederlegen, das Wesen
der Poesie vollkommener aussprechen, daß aber auch die lyrische Dichtung
eine gewisse Objectivität, eine Situation, hervortretendes Bild einer Persönlichkeit
fordert. Wir ziehen nur das Resultat aus §. 834 und 835, wenn
wir nun aufstellen, daß der Standpunct der bildenden Kunst in der Poesie
wiederkehrt. Jm Allgemeinen hat das Wort des Simonides, die Dichtkunst
sei eine redende Malerei, seine Wahrheit. Die dunkle Halle, worin sich die
Kunst als Musik von der Zerstreuung des Sichtbaren tief in sich sammelte,
thut sich wieder auf, die Welt liegt im hellen Sonnenschein ausgebreitet
wieder vor dem Auge, aber nur vor dem der innern Vorstellung. Zunächst
hat diese Erneuerung der bildenden Kunst den Sinn, daß der Dichter das
Verfahren der bildenden Künste eigentlich nachahmen, ein Bild ihres spezifischen
Werkes geben kann: Paläste vor uns aufbauen, Bildwerke, Gemälde,
schöne Gärten, gymnastisches Spiel uns vorführen. Es darf nur an die
herrlichen Beispiele im Homer erinnert werden. Ungleich wesentlicher jedoch,
als dieses Nachbilden, ist das verwandte freie Bilden an demselben Stoffe.
Dem Dichter steht der Wechsel der verschiedenen Auffassungen der
bildenden Künste zu Gebot und er wird bald diese, bald jene in Anwendung
bringen: er nöthigt uns, bald mit messendem, bald mit tastendem, bald mit
malerischem Auge zu sehen. So kann er z. B. Erd- und Bergformen vor
unserem innern Auge entweder mehr so aufbauen, daß unser Gefühl für
Massenverhältnisse befriedigt wird, oder er kann ihre sanften Wölbungen,
Sättel, Falten, überhaupt das Bewegtere ihrer Formen dem in das Auge
übergetragenen Tasten vergegenwärtigen, oder endlich diese Auffassungsweisen
ganz in eine Licht- und Farbenwirkung stimmungsvoll auflösen. Es gibt
menschliche Gestalten, welche nur dem Bildhauer, andere, welche nur dem
Maler günstigen Stoff bieten; der Dichter, der beides zugleich ist, hat die
Mittel, sowohl die einen, als die andern, der entsprechenden Art der Anschauung
lebendig entgegenzubringen. Die ächte Poesie ist im Vergegenwärtigen
so stark, daß wir meinen, ihre Gestalten greifen zu können;
Homer's Gebilde leuchten in vollkommen plastischer Bestimmtheit der Formen
und Umrisse, Shakespeare's Charaktere wandeln in malerischer Beleuchtung
so nahe zu uns her, daß wir jeden Zug sehen können. Zu genau darf es
mit diesem Eindruck allerdings nicht genommen werden, wie sich anderswo
zeigen wird, die Energie seines Scheins ist aber eine vollständige.

[1173]

Wir fassen hier bereits auch den Umfang des Darstellbaren in's
Auge, ohne jedoch diejenige Seite der Erweiterung noch zu berücksichtigen,
welche sich aus der Vereinigung mit der Grundform der Musik ergibt,
obwohl darauf bereits hier Rücksicht zu nehmen ist, daß die Gebilde des
Dichters Bewegung haben, die des bildenden Künstlers nicht. Der Dichter
umfaßt denn nicht nur dieselben Stoffe wie dieser, sondern auch in unbeschränkter
Ausdehnung. Das ganze Gebiet des Sichtbaren ist ihm aufgeschlossen,
auch die Grenzen, welche der Malerei noch gesteckt sind (vergl.
§. 678 ff., abgesehen von der Beziehung auf das Häßliche, welche hier
noch nicht aufzunehmen ist). Was naturschön ist, aber nicht nachgeahmt
werden kann, weil es zu momentan, zu unmittelbar, zu außergewöhnlich,
zu unerreichbar blendend erscheint: er kann es uns vorzaubern und er darf
es, denn er wetteifert ja nicht in wirklicher Farbe mit der Jntensität der
Naturfarben, er gibt dem Momentanen und ganz Unmittelbaren (wie
Baumblüthen und erstes Frühlingsgrün), dem Außergewöhnlichen, Einzigen
eine ausgesprochene Beziehung auf inneres Leben, die ihm ewige Bedeutung
sichert, er „läßt den Sturm zu Leidenschaften wüthen, das Abendroth in
ernstem Sinne glüh'n.“ Auch das Kleinste ist ihm nicht undarstellbar, er
mag Jnsektenschwärme durch die Luft spielen lassen, mit denen sich der
Pinsel des Malers nicht befassen kann, u. dgl. Es ist namentlich nicht zu
übersehen, daß er selbst Solches, was an sich dem äußern Auge sichtbar,
aber verdeckt ist, dem innern vorführen, daß er uns z. B. den dunkeln
Meeresgrund mit seinen Ungeheuern schildern kann. Jn der Poesie ist auch
das Dichte zugleich durchsichtig. Dieß ist von den umfassendsten Folgen
für die Weite und Fülle des Feldes, das der Dichter vor uns ausbreitet:
seine Bilder decken sich nicht (Lessing Laok. Abschn. 5). Er hat kein
beengendes Gedräng im Raume zu scheuen, er mag ihn füllen, wie es ihm
aus inneren Gründen gut dünkt. Es liegt aber in dieser Richtung noch
ein weiterer ungemeiner Vortheil. Durch ihre Beziehung zum Volksglauben
fließt der Kunst eine Gattung von Gesichts-Erscheinungen zu, welche
sichtbar unsichtbar genannt werden können und von der gewaltigsten Wirkung
sind: Götter- und Geister-Erscheinungen. Diese Wesen sollen bald nur von
denjenigen innerlich gesehen werden, an die sich der Künstler wendet, bald
äußerlich von einigen der Personen, die er im Kunstwerke vorführt, von andern
nicht (wie Banquo's Geist im Makbeth und des Königs im Hamlet), bald
von allen, immer aber nur so, daß es ein unbestimmtes Sehen, Sehen einer
Gestalt von verschwebenden Umrissen ist. Ueberall ist hier der Maler in
einer übeln Lage: im ersten und zweiten Falle geräth er in den Widerspruch,
eine Erscheinung schlechthin sichtbar zu machen und doch anzeigen zu
sollen, daß sie von Niemand oder nicht von Allen gesehen wird. Lessing
zeigt (Laokoon Abschn. 12), wie derselbe aus den Grenzen seiner Kunst [1174]
herausgeht, wenn er sich hier mit der Wolke hilft, die bei Homer nur die
Unsichtbarkeit bedeuten soll. Er zeigt aber auch, wie der Maler mit den
ungemeinen Größe-Verhältnissen der Göttergestalt in's Gedränge kommt,
indem er ihr die übergroßen Dimensionen nicht geben kann, und er übersieht
nur, daß er das an sich zwar könnte, da ja in der Malerei aller Maaßstab
relativ ist (§, 649, 2.), daß aber doch diese Freiheit nicht schrankenlos
benützt werden kann, weil im vorliegenden Falle durch die räumliche Fixirung
so ungleicher Größenverhältnisse die Helden zu klein erschienen. Hier
zeigt sich also, daß doch erst die Poesie auch in der Darstellung jeder Größe
ganz frei sich bewegt. Aber noch mehr: die Größe des Götter- und Geisterleibes
wächst für die Phantasie zu einer unendlichen an, dem äußern
Auge ist sie begrenzt, richtiger: dem deutlich sehenden äußern Auge. Solches
unbestimmtes Sehen kann nun der Maler schwer ausdrücken, denn so dämmernd
und in Helldunkel verschwimmend er sein Object geben will, es hat doch zu
viel Bestimmtheit, um den Abgrund von Staunen zu öffnen, den nur die
Phantasie ohne die äußern Sinne kennt. Endlich genießt der Dichter noch
einen besondern Vortheil, der in der Anm. zu §. 837 schon berührt wurde,
wo von dem Charakter der Unendlichkeit die Rede war, der dem innern
Bild eigen ist: er kann Handlungen so schildern, daß wir wissen, sie geschehen
jetzt, daß sie uns aber zugleich verhüllt sind, im Dunkel vor sich
gehen, oder so, daß Personen im Gedichte selbst darum wissen, sie aus
andeutenden Zeichen errathen, sie sich vorstellen, aber ohne sie zu sehen.
Hier ergeben sich denn dieselben ungeheuern Wirkungen, wie durch das
halbdeutlich gesehene Wunderbare. Welche Hölle gräßlicher Entscheidung
liegt in den Worten der Lady Makbeth: jetzt ist er d'ran! Der Maler
mag wohl einen Lord Leicester darstellen, wie er verdammt ist, Moment
für Moment den Hinrichtungs-Act der Maria Stuart sich zu vergegenwärtigen,
man mag ihm den furchtbaren Vorgang in seinem Jnnern ansehen,
aber wie ganz anders wirkt die Scene, wenn der Dichter durch seine Mittel
uns zwingt, mit Leicester aus den dumpfen Lauten, die er vernimmt, uns
das Bild des Gräßlichen zu erzeugen, das ungesehen von unserem physischen,
wohl gesehen von unserem geistigen Auge vor sich geht! ─ Das sind denn
lauter Vortheile, die Lessing wohl berechtigten, (Laok. Abschn. 14) zu sagen:
müßte, so lange ich das leibliche Auge hätte, die Sphäre desselben auch die
Sphäre meines innern Auges sein, so würde ich, um von dieser Einschränkung
frei zu werden, einen großen Werth auf den Verlust des erstern legen.


Schließlich ist nicht zu übersehen, daß der Dichter auch jene stoffartigeren
Sinne, die auf unmittelbarer Berührung, chemischer Auflösung der
Körper beruhen, in Wirkung setzen kann und darf, da er ja an die ganze
innerlich gesetzte Sinnlichkeit sich wendet. Diese Sinne liegen allerdings
schon dem Charakter des Gehöres näher, zu dem wir erst übergehen; ihre [1175]
Eindrücke gleichen den tonischen darin, daß die Sprache eigentlich keine Worte
für sie hat, allein der Dichter kann das Object nennen und darauf gestützt
genügen die unzulänglichen Sprachmittel, uns die dunkeln, aber stark ergreifenden
Wahrnehmungen dieser Art zu vergegenwärtigen. Allerdings
darf er sie nur ungleich untergeordneter, als die Vergegenwärtigung von
Tönen, ungleich mehr nur als Beigabe des Sichtbaren in uns hervorrufen,
es bleibt daher bei dem Satze §. 834 Anm., daß die Poesie eigentlich kein
neues Erscheinungsgebiet erobert, daß er sie aber nicht zu scheuen hat, daß
sie im Gegentheil bedeutende ästhetische Hebel für ihn werden können, ist
schon in der Anm. zu §. 71 berührt; er wird sie wie eine tiefe Symbolik
mit menschlichen Stimmungen in geheimnißvolle Verbindung setzen, Aufregungen
der bedeutendsten Art aus ihnen entspringen lassen.


§. 839.


Auf der andern Seite hat die Dichtkunst mit der Musik durch ihr1.
Vehikel, die Sprache, überhaupt die Form der reinen Bewegung, des Geisteslebens,
die Zeitform gemein. Sie wendet sich nun mit dieser Form zunächst,2.
wie jene, an das Gefühl, indem sie nicht nur musikalische Kunstwerke für
das innerlich gesetzte Gehör irgendwie nachzubilden vermag, sondern, was
ungleich wichtiger ist, indem sie mit der Tonkunst den Jnhalt theilt und mit
ihrem eigenen Mittel, in gewisser Beziehung sogar umfangreicher, Stimmungen
darstellt. Sie hat aber überhaupt das Gebiet der bildenden Kunst, das Sichtbare,
mit dem der Musik, der innern Welt, so zu vereinigen und die unmittelbare
Herkunft von der letztern so zu bethätigen, daß alle ihre Gebilde durchaus
empfunden sind, daß sie dadurch lebendiges Gefühl der Zustände mittheilt.
Endlich gibt sie gemäß dieser nahen Verwandtschaft und um nicht alle äußere3.
Sinnenwirkung zu opfern, ihrem Vehikel, der Sprache, eine der Tonkunst
verwandte, ursprünglich für musikalischen Vortrag wirklich bestimmte, rhythmische
Form.


1. Zunächst ist vom Unterschiede zwischen dem musikalischen und dem
zum Wort articulirten Ton abzusehen und bestimmt hervorzuheben, daß die
Poesie mit der Musik die Form des Nacheinander, die Zeitform, also die
des psychischen Lebens theilt. Der Boden des Geistes ist erreicht und wird
nicht wieder verlassen, sondern in die Tiefe bearbeitet. Es ist aber hier, wo
es eben auf die Vereinigung der Wirkungen des Nacheinander mit denen
des Nebeneinander ankommt, diese Bestimmung genauer anzusehen. Der
Geist ist keineswegs blos eine Bewegung im Nacheinander, sondern er ist
zugleich die innerlich gewordene Raumwelt, innerliches Anschauen des Nebeneinander,
also des Gleichzeitigen. Es ist falsch, wenn man sagt, der Geist [1176]
könne nicht mehrere Vorstellungen gleichzeitig vollziehen. Als Phantasie
breitet er ein Bild vor sich aus, das viele Bilder in sich schließt, seine
Gefühle sind concrete Einheiten, als Denken faßt er einen Umkreis von
Gedanken in Einem zusammen. Aber Alles, was er innerlich schaut, fühlt
und denkt, bewegt sich im stetigen Flusse der Zeit. Der Geist ist zeitlose
Jdealität, in Zeitform sich äußernd, diese ist der Pulsschlag, der Perpendikel
seiner Ewigkeit. So kann er denn das, was er gleichzeitig in sich zusammenfaßt,
nicht anders, als in der Form des Nacheinander darstellen, wenn
er nicht seine Grundform freiwillig aufgeben und sein Jnneres in festem
Körper nachgebildet in den Raum stellen will. Die Musik führt gleichzeitige
Unterschiede des Gefühls im Nacheinander der Zeit vor, indem sie sich zur
Harmonie ausbildet. Die Poesie kann mit dem Vehikel der Sprache nicht
ebenso verfahren, denn es können nicht Mehrere zugleich gehört oder gelesen
werden, sie gibt aber in Einem Momente der Phantasie eine räumliche und
geistige Vielheit, freilich nicht, ohne in Schwierigkeiten und Jncongruenzen
zu gerathen, indem sie diese Vielheit successiv fortführt. Davon wird seines
Orts die Rede sein; jetzt ist zunächst die Verwandtschaft zwischen Musik und
Poesie weiter zu verfolgen.


2. Wie das Bewußtsein überhaupt die Erinnerung des Gefühls bewahrt
und von ihm begleitet wird, so muß die Kunstform, die den Uebergang
vom Einen zum Andern vollzieht, das Element, aus dem sie (logisch, doch
in gewissem Sinn auch historisch) herkommt, festhalten und kundgeben.
Es sind aber die Momente, worin dieß innige Band, diese Rückweisung
auf den mütterlichen Schooß sich ausspricht, wohl zu unterscheiden. Für's
Erste findet, ähnlich wie bei der geistigen Erneuerung der Wirkungen der
bildenden Kunst, ein eigentliches Nachahmen der Leistungen Statt: die
Dichtkunst kann bis auf einen gewissen Grad dem innerlichen Gehöre durch
Worte Charakter und Gang von Tonwerken vergegenwärtigen; sie kann es,
sofern dem Gefühle das Bewußtsein (§. 748), die Vorstellung bestimmter
Objecte (§. 749), das Denken und die Willenserregung (§. 756) immer
unmittelbar nahe liegt, sie kann es aber doch nur in ganz entfernter und
schwankender Andeutung, indem das Jnnerste des spezifisch für sich auftretenden
Gefühls niemals in Worte zu fassen ist. Nur das Allgemeinste
einer Stimmung, wie sie in einer Melodie liegt, kann ausgesprochen werden,
wie tief und ahnungsvoll aber, dafür gibt Shakespeare ein Beispiel in den
Worten des Herzogs in „Was ihr wollt“:


Die Weise noch einmal! ─ sie starb so hin;

O sie beschlich mein Ohr dem Weste gleich,

Der auf ein Veilchenbette lieblich haucht

Und Düfte stiehlt und gibt. ─
[1177]

Zu größerer Bestimmtheit bringt es natürlich die Poesie, wenn sie
dieß ungenügende Andeuten durch das Bild der Wirkung einer bestimmten
Musik ergänzt, wie Homer, wo er von Demodokos erzählt, der Dichter der
Gudrun, wenn er schildert, wie bei Horands Gesang die Vögel schweigen,
die Fische im Wasser stille halten. Dieß ganze Moment bleibt aber ein
sehr untergeordnetes; ungleich wesentlicher ist das andere, daß die Poesie
einfach durch sich selbst die Welt der Stimmungen darstellt. Der §. sagt:
„nach einer Seite sogar umfangreicher, als die Musik“; dieß erklärt sich
aus dem, was über das Verhältniß von Vocal- und Jnstrumentalmusik
(§. 764) mit Rückbeziehung auf das Verhältniß zwischen Gefühl und Bewußtsein
(§. 748) gesagt ist: das Reich der Gefühlszustände wird viel
umfassender geöffnet, wenn das Wort die Objecte nennt, auf welche das
Gefühl bezogen ist. Es ist aber an der erstern Stelle auch gezeigt, wie
durch diese hülfreiche Anlehnung für die Musik doch eine Jncongruenz entsteht,
wie sie sich des Textes ebensosehr erwehrt, als an ihn anschmiegt;
verhält sich dieß so in jenem Gebiete, wo der Dichter ganz nach den Zwecken
des Musikers sich richtet und die Poesie in seinem Text als solche nur
geringen Anspruch macht, so wird sich im eigenen Felde der Dichtkunst die
Sache anders wenden: in allen speziellen Schilderungen des Stimmungslebens
wird, indem das Wort dem Gefühle durchaus Beziehung auf Objecte
gibt, dieses in einem gewissen Sinne vielseitiger erschöpft, aber auch aus
seinem Elemente gehoben und zum bloßen Begleiter anderer Kräfte, zur
bloßen Atmosphäre, worin bestimmter Jnhalt, Sichtbares, Vergegenwärtigung
wirklich genannter Affecte, Entschlüsse, Handlungen sich gestaltet.
Nur darf dieß Element, diese Atmosphäre darum keineswegs zu einer bloßen
Nebensache werden, und dieß führt auf das dritte Moment, das Wesentliche,
den Mittelpunct. Nicht nur nämlich, wo es sich speziell von Schilderung
einzelner Gefühlszustände handelt, sondern überhaupt und immer soll Alles
in der Poesie stimmungsvoll sein. Wir haben ja gesehen, daß das
Gefühl die lebendige Mitte des Geisteslebens ist, woraus alles Bestimmte
hervorgeht, worein es wieder einsinkt, worin es erst zum innersten Eigenthum
des Subjects wird, woraus es wieder auftaucht, wie aber das Gefühl
nicht verschwindet, wenn das Bestimmte, Bewußte aus ihm sich ausgeschieden
hat, sondern es als innige Erinnerung seines Ursprungs begleitet. Dieß
gilt nun ganz von der Poesie als der Kunst der Darstellung des bewußten
Lebens in Phantasieform. Was nicht empfunden ist, hat kein Leben, keine
Wahrheit. Alles ächt Poetische ist durchaus in Empfindung getaucht; es
sind wahrnehmbare Wellen, warme Strömungen, welche das ganze Gebild
umweben, es ist ein bestimmter Duft, der Niemand entgeht, welcher Sinn
hat. Wie viele Poesie ist freilich geruchlos! Ein großer Theil der poetischen
Literatur, namentlich der neueren, fällt schon durch diesen einfachen Maaßstab [1178]
in das Nichts. Man kann sagen, daß in der zum vorh. §. angeführten
Schiller'schen Definition des Dichters nach ihrem ersten Theile:
„Empfindungszustand“ die Poesie nicht genug von der Musik unterschieden
sei; man könnte ebendasselbe dem Worte Göthe's vorwerfen: „lebendiges
Gefühl der Zustände und die Fähigkeit, es auszudrücken, macht den Dichter“;
man könnte darauf erwiedern, daß hier unter „Zustände“ wohl das Ganze
der Situationen, das Gefühl sammt den Dingen und Gedanken verstanden
sei; allein daran liegt hier wenig, sondern mit gutem Grund haben die
beiden großen Dichter unserer Nation einmal recht und ganz betonen wollen,
daß alles Aufzeigen der Dinge in der Poesie null sei, wenn es nicht jedem
Gemüthe die Jnnigkeit ursprünglicher Empfindung mittheile zum Zeugniß,
daß es daraus hervorgegangen. Daher ist in seiner Einfachheit doch so
bedeutend, was Göthe von Shakespeare gesagt hat: bei ihm erfahre man,
wie den Menschen zu Muthe sei. ─ Wir können nun das Wesen der
Dichtkunst, wie sich in ihr die bildende Kunst und Musik wiederholt und
vereinigt, dahin bestimmen: die Dichtkunst ist empfundene und empfindende
Gestalt. Der Mangel dieser Bestimmung wird sich zeigen und heben. ─
Nahe liegt es übrigens, schon hier den Schluß zu ziehen, daß die jetzt
hervorgestellte Seite der Dichtkunst ihr besonderes Recht in einem eigenen
Zweige zur Geltung bringen werde. Zum vorh. §. wurde dieser Zweig
vorläufig erwähnt, um einem Einwande gegen die Forderung objectiver
Bildlichkeit zu begegnen; der gegenwärtige Zusammenhang weist positiv auf
ihn hin, doch ist dieß erst aufzunehmen, wenn wir zur Eintheilung der
Poesie in ihre Gebiete übergehen.


3. Vom Rhythmischen, ─ worunter alle Formen der gebundenen Rede
begriffen werden, ─ nehmen wir hier vorerst nur die allgemeinste Bedeutung,
die innere Begründung im Zusammenhange zwischen Poesie und Musik auf.
Wenn alles Dichten vom Gefühl ausgeht und, wie es immer zum Objectiven
fortgehen mag, im Gefühle bleibt, so folgt von selbst, daß die poetische
Stimmung zugleich eine Nervenstimmung ist, welche den Keim und Grund
zu gewissen formalen Ordnungen, die sich im Darstellungsmittel niederlegen,
auf ähnliche Weise mit sich führen wird, wie die musikalische. Es leuchtet
freilich auch sogleich ein, daß eine andere Formenwelt in dem articulirten
Tone sich entwickeln muß, der nur Vehikel ist, als in dem nicht articulirten
Tone, der das Material einer Kunst bildet, aber dieß hebt die ursprüngliche
Verwandtschaft nicht auf. Es ist bekannt und oft angeführt, daß gehobene
Stimmung selbst Naturen, die sonst kein Talent zur Dichtkunst haben, zu
rhythmischer Sprache fortreißt; wir dürfen hier statt alles Weiteren auf den
ersten Theil der Lehre von der Musik, auf die Blicke verweisen, die wir
in jenen geheimnißvollen Zusammenhang zwischen Seelenstimmung und
Schwingungsleben der Nerven geworfen haben. Derselbe wird sich im [1179]
Dichter natürlich noch ganz anders, bestimmter und gemessener geltend
machen, als im gewöhnlichen Menschen, der nur einzelne poetische Momente
hat. Wie er das Bild seines Kunstwerks im Geist empfängt, wird auch das
entsprechende Versmaaß im innern Gehöre mit anklingen und seine Formen
sind ihm keine Fessel, sondern wachsen organisch mit dem Körper der Dichtung.
Jn Wahrheit ist dieser Uebergang des Gefühlsschwungs in die poetische
Sprache eigentlich eine Reminiscenz davon, daß das Element der Sprache,
der Ton, in einer unmittelbar benachbarten Kunst überhaupt nicht bloßes
Mittel, sondern Material des Schönen war. Der Dichtkunst würde, wenn
es anders wäre, das letzte Band verloren gehen, das sie an die eigentliche,
äußere, nicht blos innerlich gesetzte Sinnlichkeit knüpft, oder richtiger: das
Band, das sie allerdings unter allen Umständen noch an diese knüpft (da
doch gehört oder gelesen werden muß), verlöre allen Zusammenhang mit dem
Schönen, dessen Vermittler und Leiter es ist. Daher ist ursprünglich alle
Poesie unmittelbar musikalisch, das Lied entsteht mit der Melodie und wird
anders gar nicht vorgetragen, als in Form des Gesangs mit Begleitung
eines Jnstruments. Dieser innige Zusammenhang kann allerdings, je mehr
die Poesie ihr eigenes Wesen in den größeren, objectiven Formen ausbildet,
nicht fortbestehen; der volle Sinnen-Eindruck des musikalischen Vortrags
drückt auf die Entwicklung des rein Poetischen, stört das nöthige Verweilen
bei der Bestimmtheit der innern Anschauung; daher ist es natürlich, daß
solche unmittelbare Einheit beider Künste sich in jenen Zweig zurückzieht,
dessen nothwendiges Erwachsen aus dem Verhältnisse der Poesie zum Gefühle
sich uns bereits angekündigt hat, in den lyrischen. Doch ist sogleich
hinzuzusetzen, daß auch dieß besonders enge Verhältniß kein absolutes ist
und, nachdem das ursprüngliche Band gemeinschaftlichen Werdens des Textes
und der Melodie sich gelöst hat, das stimmungsvollste Lied für sich bestehen
kann, so daß durch die musikalische Composition und den Vortrag etwas
zwar innig Verwandtes, aber doch Neues und Anderes hinzukommt. Kurz,
die rhythmische Form ist, ohne nothwendigen Zusammenhang mit eigentlicher
Musik, ein der Poesie wesentliches Analogon von Musik im Bau und
Gang der gebundenen Sprache. Die Sache hat übrigens noch eine andere
Seite, als die, von welcher wir hier ausgegangen sind und wonach die
poetische Stimmung den rhythmischen Gang und Klang der Sprache von
selbst mit sich führt; neben diesem Wege von innen nach außen besteht eine
Rückwirkung von außen nach innen: die rhythmisch gehobene Rede trägt
und hält den Dichter auf der Höhe der idealen Stimmung, warnt ihn,
wo dieselbe in's Platte fallen will, und leitet sie in die äußersten Spitzen,
den einzelnen Ausdruck hinaus. Nur die Oppositionsstellung im Kampfe
gegen eine Dichtung, die in der Form aufzugehen drohte, konnte ein relatives
Recht haben, im ernsten Drama grundsätzlich die prosaische Rede als [1180]
Regel einzuführen, und die Vorkämpfer selbst giengen unter Vorgang Lessing's
im Nathan auf die gebundene Form zurück. Eine Vergleichung der ersten
und zweiten Bearbeitung von Göthe's Jphigenie gibt die interessantesten
Belege für unsern Satz (vgl. Göthe's Jph. auf T. in ihrer ersten Gestalt
herausgeg. v. Ad. Stahr). Jm bürgerlichen Lustspiel oder nach Shakespeare's
Vorgang in komischen Scenen, die sich in das ernste Drama mischen,
behauptet dagegen die Prosa ihr Recht, eben weil sie anzeigt, daß hier das
Gewöhnliche jene Geltung hat, welche ihm an sich im Komischen gebührt.
Die Auflösung des Epos in den Roman war zugleich ein Uebertritt dieser
Gattung auf den Boden der Realität mit ihren prosaischen Bedingungen
und ebendaher auch eine Auflösung der rhythmischen Sprache in die Prosa;
die Frage über Bedeutung und Berechtigung dieser Form kann hier noch
nicht aufgenommen werden. Ueberall jedoch muß die prosaische Rede in der
Poesie wenigstens durch einen Anklang des Rhythmischen, den Numerus,
ausdrücken, daß hier geweihter Boden ist, und ihren Eintritt rechtfertigen. ─
Es wirkt aber ferner die rhythmische Sprachform auf die Thätigkeit des
Dichters auch in dem positiven Sinne zurück, daß sie im Einzelnen poetische
Gedanken in ihm weckt, welche in der Jntention des Ganzen noch nicht
angelegt waren. Auch hier hat die Musik=ähnlich gehobene Sprache etwas
von der Natur eines Materials: es ist mehrmals, namentlich in §. 518, 1.
gesagt, daß der Kampf mit dem Materiale auf die Erfindung so zurückwirkt,
daß er Motive weckt. Wie manche schöne Dichterstelle verdankt ihren
Ursprung dem Zwang und Drang eines metrischen Verhältnisses, eines
Reims!


Was die Persönlichkeit des Dichters betrifft, so ist ihm durch den
wesentlichen Unterschied zwischen dem bloßen Analogon von Musik in der
rhythmischen Behandlung der Sprache und der wirklichen Tonkunst die
Strenge und Länge der Schule erspart, welche der Musiker, wie der bildende
Künstler bedarf. Dieß ist schon §. 520, Anm. 2. berührt. Der Dichter
braucht überhaupt, da er mit einem wenig widerstrebenden Vehikel in dem
flüchtigen Elemente der Phantasie arbeitet, seiner Kunst nicht das Ganze
seiner Lebensbestimmung zu widmen, wenn ihm nur Geschäft, Amt u. s. w.,
dem er daneben sich widmen mag und das gegen die Versuchung zu überhitztem
Phantasieleben den heilsamen Widerhalt einer gesunden Trockenheit
gibt, die unentbehrliche Muße läßt. Freilich liegt in dieser größeren Freiheit
vom Handwerk auch die stärkere Verlockung zum Dilettantismus.


§. 840.


Da aber die Wirkungen der andern Künste in der Dichtkunst sich so wiederholen,
daß sie in ein schlechthin neues Element versetzt werden, wodurch allein [1181]
ihre Vereinigung möglich wird, so muß ihre Aufnahme auch mit einem
großen Verluste verbunden sein: das Leben des Gefühls kann entfernt nicht
mit der Jnnigkeit erschöpft werden, wie in der Musik, das Sichtbare verliert
die Schärfe, Deutlichkeit, geschlossene Objectivität, welche ihm die bildende Kunst
gibt, und der Versuch, diesen Mangel durch verweilende Ausführung zu heben,
geräth, sowie die Darstellung des Gleichzeitigen, durch den Widerspruch mit der
Grundform der zeitlichen Fortbewegung in tiefe Schwierigkeiten.


Wenn sich mit der Jnnigkeit des Gefühls die Deutlichkeit der Vorstellung
des Sichtbaren verbindet, wenn es nicht mehr in seiner Reinheit
durch Töne, sondern vermittelst genannter Objecte ausgesprochen wird,
wenn dieß Tageslicht in sein Helldunkel fällt, so entweicht nothwendig ein
gutes Theil seines eigenthümlichen Wesens; es bleibt nur warme Dunsthülle,
die einen lichten Kern umgibt, welcher von anderer Natur ist. Daß
es nach anderer Seite umfangreicher zur Darstellung kommt, haben wir im
vorh. §. gezeigt, bereits aber auch ausgesprochen, daß damit ein Verlust
in der Qualität verbunden sein muß. Und doch behält die Poesie von
der Musik gerade so viel bei, um dadurch auch nach anderer Seite einen
starken Verlust zu begründen. Musikalisch können wir nämlich ihre Jnnerlichkeit
überhaupt nennen, ihr Wesen, sofern sie sich blos an die innerlich
gesetzte Sinnlichkeit wendet: und dadurch wird nun auch die Vorführung
des Sichtbaren, wodurch sie die bildende Kunst in sich erneuert, mit einem
tiefen Mangel unvermeidlich behaftet. Die innerlich gesetzte Sinnlichkeit,
sofern in ihr der Proceß der Umbildung des Aufgenommenen beginnt,
heißt Einbildungskraft. Mit dieser Hereinziehung in das Jnnere verliert
die Anschauung nothwendig an Schärfe und Bestimmtheit, vergl. §. 388, 1.
Dieser Mangel wird auch durch die Phantasie als die zur Jdeal=bildenden
Thätigkeit erhobene Einbildung nicht ganz getilgt. Wenn dem reinen Bilde,
das sie im Jnnern erzeugt, volle Objectivität (§. 391), sogar ganze sinnliche
Lebendigkeit (§. 398) zuerkannt worden ist, so kann dieß nur relativen Sinn
haben; der Objectivität als blos innerem Gegenüberstellen kommt nicht die
Kraft der Unterscheidung zu, wie dem Gegenschlage zwischen Subject und
wirklichem, äußerem Object, dem lebendig sinnlichen Bilde, das nur innerer
Schein ist, nicht die Deutlichkeit, wie der eigentlichen, realen Erscheinung.
Ebendadurch war ja der Uebergang der Phantasie in die Kunst gefordert,
welche dem innern Bilde wieder die Objectivität und Deutlichkeit des Naturschönen
verleiht (§. 492, vergl. dazu besonders §. 510). Die Kunst selbst
aber, nachdem sie die Hauptformen der Darstellung in sinnlichem Materiale
durchlaufen hat, kehrt nun auf höherer Stufe zu dem Standpuncte der
Phantasie vor der Kunst zurück. „Auf höherer Stufe,“ denn der Unterschied
ist klar: die Phantasie als Dichtkunst ist ja von der Phantasie, [1182]
die noch nicht Kunst ist, wesentlich dadurch verschieden, daß sie sich nach
außen erschließt, sich in einem technisch durchgeführten Gebilde mittheilt,
wogegen das Gebilde der noch nicht künstlerisch thätigen Phantasie wesentlich
noch ein unreifes ist; ihr Erzeugniß hat also nicht nur Objectivität
in dem Sinne, wie das innere Jdealbild überhaupt, sondern die ganz
entwickelte Objectivität der Kunstgestaltung; allein es bleibt in dieser Erschließung
nach außen doch innerlich und muß daher die Unbestimmtheit
und Undeutlichkeit des Phantasiebildes, das sich noch gar nicht erschlossen
hat, doch in irgend einem Sinne theilen; es hat Körper gewonnen, dessen
Glieder in festem Kunstverhältniß stehen, aber dieß ist ein Körper, aus
welchem der Blitz des Gedankens mit einer Bestimmtheit leuchtet, in welcher
diejenige Bestimmtheit, Compactheit und Schärfe der Umrisse sich verzehrt,
die dem Werke der bildenden Kunst eigen ist. Das vollständige, wirkliche
Ausbreiten vor dem Auge bleibt der unendliche Vortheil des bildenden
Künstlers vor dem Dichter. Es müssen nun auch die Jncongruenzen stärker
betont werden, welche schon zu §. 839, Anm. 1. berührt sind. Der Dichter
wird der Undeutlichkeit, an welcher seine Bilder in Vergleichung mit denen
des Malers leiden, durch ein Verweilen bei den einzelnen Zügen abzuhelfen
streben. Allein es ist dieß in Wahrheit kein Verweilen, denn in Zeitform
darstellend rückt er ja fort. Dieser wichtige Satz ist hier vorerst einfach
hinzustellen, in der Lehre vom Styl aber genauer auseinanderzusetzen und
in seine Consequenzen zu verfolgen. Es handelt sich jedoch nicht nur von
der Deutlichkeit, sondern auch von der Gleichzeitigkeit. Wenn nämlich
Mehreres, was auf weiten Räumen zu gleicher Zeit geschieht, dargestellt
werden soll, so ist nicht die Vielheit an sich dem Dichter ein Hinderniß,
denn die Phantasie schaut gleichzeitig Vieles und er mag sein Gesichtsfeld
strecken, so weit er will, aber die Theile des Vielen bewegen sich in der
Zeitform, ein Geschehen ist darzustellen und der Dichter kann nur Eine
dieser gleichzeitig laufenden Linien nach der andern verfolgen. Dieß ist die
andere Seite der Beengung, um welche er die freie Weite seiner Kunst
erkauft; beide Seiten fassen sich zusammen in dem Widerspruche des Successiven
mit dem Simultanen.


§. 841.


Dieser Verlust wird reichlich ersetzt durch das schlechthin Neue, was
gewonnen ist. Zunächst liegt dieß in der Vereinigung des Räumlichen und Zeitlichen:
die Dichtkunst fesselt nicht einen Moment der Bewegung an das Nebeneinander
des Raumes, sondern ihre Gestalten bewegen sich vor dem innern Auge
wirklich und sie führt daher eine Reihe von Momenten vorüber, deren Abschluß
nur der künstlerische Zweck bestimmt. Dieser wesentliche Fortschritt vereinigt
sich mit den in §. 838 hervorgehobenen Vortheilen.

[1183]

Ein Theil des großen Vorsprungs der Poesie, nicht in Eroberung
neuer, aber unendlich neuer Erschöpfung der Erscheinungsgebiete, worin die
andern Künste sich bewegen, ist allerdings schon in §. 838 aufgeführt; der
Zuwachs an Ausdehnung über alle Art von Jnhalt, wurde schon dort hervorgehoben,
um dann zunächst die Verluste auf demselben Boden nachzuweisen,
hierauf aber nunmehr zu dem absoluten Gewinn aufzusteigen, der
für diese Verluste entschädigt. Der quantitative Umfang des Darstellbaren,
von welchem dort die Rede war, ist denn eine an sich zwar höchst bedeutende,
verglichen jedoch mit dem unendlichen Gewinne, von dem jetzt die Rede ist,
noch untergeordnete Eroberung. Die Poesie hat gewonnen eine Einheit
des Nebeneinander im Raume und des Nacheinander in der Zeit. Das
Werk der bildenden Kunst fesselt einen Zeitmoment im Raume, der Zuschauer
löst wohl durch seine Phantasie diese Fessel wieder, indem er sich aus dem
fruchtbaren Momente, den der Künstler gewählt hat, die vorhergehenden
und folgenden entwickelt; er thut dieß aber, obwohl auf Anlaß, doch nicht
unter Anleitung des Künstlers, es ist also zufällig, ob er dieß Vorher und
Nachher sich richtig oder falsch, schön oder unschön vergegenwärtigt und wie
weit er es fortführt, ja was das Letztere betrifft, so ist überhaupt gar nicht
zu bestimmen, an welchem Puncte dieser Reihe seine Phantasie umbiegen
und zu der unentwickelten Sammlung von Momenten in Einem entwickelten,
die ihm das Kunstwerk vor Augen stellt, zurückkehren soll. Man erkennt,
daß dieß trotz allem Charakter klarer Abgeschlossenheit ein Grundzug von
Unreife, Unvollendung ist, welcher der bildenden Kunst anhängt. Der Dichter
dagegen gibt die Reihe wirklich, er überläßt sie nicht der ungewissen Fähigkeit
der allgemeinen Phantasie, er führt sie künstlerisch gebildet an unserem
innern Anschauen vorüber, beginnt und schließt sie, wo der innere Einheits=
und Lebenspunct seines Kunstwerks es verlangt; wir sehen den Apollo von
Belvedere nicht nur, wie er abgeschossen hat und dem Schusse triumphirend
nachblickt, den Laokoon nicht nur, wie er von den Schlangen umschnürt in
Todesschmerz aufstöhnt, sondern jenen, wie er den Feind ersieht, wie er
schießt und nachher in seiner Götterruhe zurückkehrt, diesen, wie er die dämonischen
Thiere mit Grauen erblickt, sich mit seinen Söhnen auf den
Altar flüchtet, erfaßt wird und wie er nach den letzten tödtlichen Bissen
mit ihnen, eine tragische Leichengruppe, hingestreckt liegt. Nun erst nehme
man wieder den rein quantitativen Gewinn hinzu, welcher schon in §. 838
hervorgehoben ist: ebenso bewegt, wie die Figur oder Gruppe, die je zunächst
den Mittelpunct seiner Darstellung bildet, gibt uns der Dichter Alles mit,
was rings diese Gruppe umgibt, soweit es ihm ästhetisch beliebt, seinen
Kreis zu ziehen, und dieß gefüllte Ganze führt er dann zu den weiteren Momenten
fort; eine ganze breite Masse der verschiedensten Gegenstände in den
verschiedensten Zuständen und Stimmungen kann er vor uns hinführen, [1184]
einen ganzen, mächtigen Strom, der das unendliche Leben spiegelt, wälzt
er gewaltig vor unserem Jnnern vorüber. Die Schwierigkeiten, denen er
nach dem vorh. §. unterliegt, sind darin keine absoluten Hindernisse, sie
bedingen nur gewisse Gesetze des Verfahrens und ein gewisses Maaß.


§. 842.


1.

Das Ganze des unendlichen Gewinns erhellt aber in der Verbindung des
Jnhalts von §. 837 mit §. 841: die also bewegte Gestaltenwelt erscheint nicht
nur allen Sinnen, sondern dem innern Gehör wesentlich in der Form der
Sprache, welche Alles in das volle Bewußtsein erhebt. Mit der gesammten
sichtbaren Welt kommt also die gesammte innere zur Darstellung und zwar
so, daß jene sich in diese, diese aber schließlich zur Handlung als dem wahren
Ziele der dichterischen Weltauffassung concentrirt, welche demnach das Schöne
2.wahrhaft in der Form der Persönlichkeit (§. 19) verwirklicht. Die Handlung
begreift auch abstracte Gedanken in sich und solche sind, wofern sie nur durch
Empfindung und Leidenschaft mit Veränderungen der Außenwelt in innerem
Zusammenhang stehen, von der Dichtkunst keineswegs ausgeschlossen.


1. Der Dichter zeigt Gestalten, bewegte Gestalten und bewegt in einer
Reihe von Momenten, wir sehen sie, wir hören sie innerlich. Wir hören
sie aber nicht nur tönen, seufzen, lachen, weinen, sondern auch sprechen.
Der Dichter spricht selbst, er erzählt, was seine Personen sprechen, er kann
sie auch in der oratio recta sprechen lassen. Er sagt uns, wie seine Personen
das Geheimniß der Welt, alle Berührungen zwischen Welt und Mensch
auffassen, er sagt uns, wie er selbst es auffaßt, er deutet Alles. Darin
erst vollendet sich der Begriff der Einheit des Subjectiven und Objectiven
in der Dichtkunst: Alles geht in's Jnnere, wird zum Jnnern, wird hier
durch die Sprache zu einem Bewußten, und umgekehrt: aller Ausfluß des
menschlichen Jnnern in der Welt, der zur Darstellung kommt, wird mit der
Ausdrücklichkeit des Worts auf diese seine Quelle zurückgeführt. Zunächst
ist also klar, daß hiemit erst die Lichtfackel in das Jnnere getragen ist; alle
Kunst stellt das Jnnere dar, entfaltet die Welt, wie sie der Geist beleuchtet,
aber wo das Wort fehlt, treten doch nur dämmernd und höchst unvollständig
die weiten Gewölbe der unendlichen Jnnenwelt in's Licht. Was ein Menschenherz
in sich bewegen, was es thun und leiden kann, in welchen unermeßlichen
Weisen die Welt es anregt, welche Abgründe und Höhen in ihm
sich aufthun, welche unendlichen Kämpfe sich in ihm entspinnen, in welchen
verwickelten Prozessen die Leidenschaften, die Entschlüsse, die Charaktere reifen,
welche Empfindungen ganze Massen, welche Kräfte die mächtige Wucht des
Gemeinlebens beherrschen, welche Jdeen die Geschichte regieren: Alles wird [1185]
nun erst offenbar, weil es ausgesprochen wird. Dieß Aussprechen ist aber
immer zugleich das Zusammenfassen der innern und äußern Welt: jene
wird eben darum deutlich, weil durch das Wort alle Beziehungen auf diese,
auf die Objecte, auf die Natur, auf die festen Formen der Gesellschaft, des
Staats ausgedrückt, alle Seiten der Erscheinung verwendet werden können,
um Seelenbewegungen zum Verständnisse zu bringen. Göthe bezeichnet das
Wesen des Dichters, wenn er von Shakespeare rühmt, wie er das Geheimniß
des Weltgeistes ausplaudert und verräth, wie es heraus muß und
sollten es die Steine verkündigen, wie seine Charaktere ihr Herz in der
Hand tragen, wie sie Uhren gleichen, deren durchsichtiges Zifferblatt das
ganze innere Triebwerk sehen ließe. Der Dichter zeigt die Welt, wie sie sich
stetig im Subjecte zum Lichte des Bewußtseins zusammenfaßt, die Welt im
idealen Einheitspuncte der Persönlichkeit; er verwirklicht also mehr, als jeder
andere Künstler, was der angeführte §. der Metaphysik des Schönen aufgestellt
hat: daß alles Schöne persönlich ist. Er macht die Welt durchsichtig,
man sieht durch alle Erscheinung auf den Brennpunct, dem alles
Aeußere nur Anreiz, Organ und Stoff seiner freien Bestimmung ist. Wir
haben von der Poesie bereits gesagt, der Ausdruck herrsche in ihr über die
Form, wir haben ebendasselbe von der Malerei gesagt, aber auch in dieser
Beziehung wiederholt sich der Charakter der Malerei in der Poesie auf höherer
Stufe in unendlich intensiverem Sinne. ─ Die Auffassung der Welt unter
dem Standpuncte der ausgesprochenen Persönlichkeit führt nun schließlich
zum Standpuncte der Handlung. Die Persönlichkeit, mit dem Jnhalte der
Welt in unendlichen Wechselwirkungen erfüllt, bestimmt die Welt durch
Denken und Handeln. Das Denken kann als solches nicht den herrschenden
Jnhalt eines Kunstwerks bilden, die Erschließung, die Verwirklichung der
Persönlichkeit muß also die Handlung sein. Die Welt ist in der Anschauung
der Poesie wesentlich Wille. Jn §. 684, 2. ist der Malerei ein vorzüglich
dramatischer Charakter zuerkannt. Dieß im Gegensatze zu der Sculptur;
vergleicht man aber jene Kunst mit der Poesie, so leuchtet ein, daß diese
noch eine ganz andere Meisterinn ist in der Durchführung der straffen
Spannungen, der entscheidenden Momente, zuckenden Blitze der That. Das
ist die Spitze, in welche sie das weite und tiefe Bild des innern Lebens
zusammendrängt, das sie vor uns entfaltet; auf diese Spitze stellt sie die
Welt; sie ist radical, aus der Tiefe der Freiheit läßt sie die durchgreifenden
Acte heranschwellen, welche den Faden des Gegebenen, die Macht des blos
Zuständlichen durchschneiden. Diese Stellung der Welt unter den Standpunct
des Willens darf natürlich nicht in nackter Einfachheit verstanden
werden; sie schließt z. B. den Zufall nicht aus, nur daß er nicht gilt, als
sofern er vom Willen zum Motiv erhoben wird; es darf ferner nicht blos
an einzelne Willens-Acte gedacht werden, sondern ebensosehr an fortdauernde [1186]
Folgen von solchen, an bestehende Zustände als Product des Gemeinwillens
in weit verwickelter Wechselwirkung mit den Bedingungen der umgebenden
Natur u. s. w. Ueberhaupt wird die Poesie verschiedene Formen treiben,
deren eine mittelbarer, die andere unmittelbarer die innere Einheit der Weltanschauung
dieser Kunst bis zu solcher Straffheit entwickelt, und es ist das
hier erst Angedeutete in der Lehre von den Zweigen wieder aufzunehmen. ─
Auch die Persönlichkeit des Dichters ist hier noch einmal in's Auge zu
fassen: was zu §. 385, §. 389 Anm. 2. §. 393, 2. als Bedingung der
Phantasiethätigkeit überhaupt aufgestellt ist: ein reiches Erfahrungsleben,
das gilt ebenfalls mit besonderem Nachdruck dem Dichter. Da in seiner
Künstlerhand alles Leben zum Seelenleben werden, da er die ganze Außenwelt
in's Jnnere führen und wenden soll, so muß er mit dem scharfen
Auge der objectiven Anschauung den lebendigsten Nerv der Theilnahme vereinigen
und dieß kann er nicht, ohne in den Strudel des Lebens, das Meer
der Leidenschaften und tiefsten Kämpfe selbst hineingerissen zu werden. Wessen
Brust das Leben nicht durchwühlt, wer nicht der Menschheit ganzes Wohl
und Wehe erlebt hat, ist kein Dichter. Es ist nicht vorausgesetzt, daß buchstäblich
alles Schwerste, Aufregendste erlebt sei, dem Dichter-Gemüthe kann zum
Himmel und zur Hölle werden, was Andere nur leicht anstreift, aber genug
muß erlebt sein, um sich in jedes Glied der Kette menschlicher Erfahrungen
lebendig versetzen zu können. Um so stärker ist aber auch die andere Forderung
festzuhalten: wer aus dem wühlenden Kampfe nicht gesammelt und
geläutert hervorgegangen ist, der ist auch kein Dichter, denn wir brauchen
nicht auf's Neue zu beweisen, daß das eigene Jnnere nicht mehr stoffartig
mit einer Leidenschaft verwachsen sein darf, wenn sie zum künstlerischen Stoffe
werden soll. Shakespeare's Sonette geben einen höchst merkwürdigen Blick
in ein Gemüth, das von furchtbaren Kämpfen durchwühlt ist, aber sich mit
der strengsten ethischen Kraft der Selbstbestimmung daraus emporarbeitet
und Verjüngung aus dem trinkt, was Vernichtung drohte; Tieck hat dieß
im Dichterleben tiefsinnig verwendet und und durch Zusammenstellung mit
R. Green und Marlowe dem Erhebungsprozeß Shakespeare's die künstlerische
Folie gegeben. Ein durchaus normales Bild für den Satz, von dem es
sich hier handelt, ist auch Göthe's Leben, namentlich die Entstehung von
Werther's Leiden, worauf schon in Anm. 2. zu §. 393 hingewiesen ist.


2. Es ist ausdrücklich hervorzuheben, daß die Dichtkunst fähig und berechtigt
ist, auch Abstractes auszusprechen. Es steht dieß nicht in Widerspruch
mit §. 16, welcher strenge die Verwechslung der Jdee mit dem
abstracten Begriff ausschließt, denn dort ist die Rede vom Mittelpunct eines
ästhetischen Ganzen, hier von Solchem, was nur als Moment im Verlaufe
dieses Ganzen auftritt. Natürlich muß ein solches, an sich prosaisches,
Moment in sichtbarem Zusammenhang von Grund oder Folge mit dem [1187]
Mittelpuncte, der lebendigen Jdee des Dichtwerks stehen; so können ganz
prosaische Verhältnisse, z. B. Rechtsfragen, die furchtbarsten Leidenschaften,
Probleme des Wissens die schwersten Gemüthskämpfe hervorrufen, umgekehrt
sittliche Kräfte sich darin äußern, daß sie Thaten ausführen, Lebensformen
begründen, welche wesentlich prosaische Bestandtheile mit sich führen,
die vom Dichter auseinandergesetzt werden müssen, sie können ihre Fülle
und Tiefe im Aussprechen von allgemeinen Wahrheiten, Sätzen der Weisheit
offenbaren, wie der schlimme Charakter seine Verkehrtheit durch Lüge
und Widerspruch. Ja alles dieß ist vielmehr nothwendig, wo die Kunst
mit dem Mittel der Sprache das Leben in der Gesammtheit seiner Erscheinungsseiten
darstellt, und es ist abermals zu erinnern, was die bildende
Kunst entbehrt, indem sie alle diese Vermittlungen nicht nennen kann. Umfassende
Kunstwerke der Poesie werden, indem ihnen so der Dichter unbeschadet
der Objectivität und Concretion ihres ästhetischen Lebenssitzes Gedanken
in reiner Gedankenform einflechten darf, zu einem Schatze tiefer Wahrheiten;
Shakespeare's und Göthe's Werke sind ganz durchsättigt mit dem Salze der
Lebensweisheit. ─ Wir haben diesen Punct schon berührt in der Lehre
vom Erhabenen des Subjects, §. 103; hier, im Gebiete der Poesie, tritt
er erst in volles und richtiges Licht.


§. 843.


Vor diesen Mitteln und diesem Geiste der Poesie fallen die Schranken,
welche der Einführung des Häßlichen auch im Gebiete der Malerei noch
gesetzt sind, und es bleibt nur die allgemeine ästhetische Bedingung übrig, daß
sich dasselbe in ein Erhabenes oder Komisches auflöse. Sie erschöpft nicht
nur diese widerstreitenden Formen, sondern auch das einfach Schöne in einer
Weite und Tiefe wie keine andere Kunst.


Die Mittel, wodurch die Malerei befähigt ist, Häßliches ästhetisch aufzulösen,
erkannten wir in der Vielheit von Erscheinungen, die sie in Einem
Bilde zu vereinigen vermag und durch die es ihr möglich wird, den an
sich abstoßenden Eindruck einer Form im Fortgang zu andern, schöneren,
aufzuheben, ferner in dem fortleitenden, dämpfenden Charakter der Farbe
und endlich überhaupt in der Herrschaft des Ausdrucks über die Form. Die
Poesie besitzt nicht nur diese Mittel, sondern ungleich mehr. Sie schwächt
überhaupt und vor Allem die Graßheit der unmittelbaren Erscheinung des
Häßlichen schon dadurch, daß sie es nur der innern Anschauung vorführt.
Mit dem Satze in §. 837 Anm., daß das nur vorgestellte Furchtbare unendlich
stärker wirke, als das wirklich geschaute („Schrecken der Einbildung
sind furchtbarer, als wirkliche“ sagt Makbeth), steht diese Wahrheit in keinem [1188]
Widerspruch, denn was durch die Verhüllung vor dem äußern Sinne geschwächt
wird, ist eben nicht das Furchtbare, sondern das Häßliche, das zu
sehr als solches sich zu fühlen gibt, um sich in das Furchtbare poetisch aufzulösen,
wenn diese Schwächung nicht Statt findet. Unter Anderem wird
es hiedurch möglich, selbst einen Sinnen-Eindruck zu vergegenwärtigen, in
welchem das Häßliche recht eigentlich als ein Eckelhaftes auftritt: den Gestank;
der Dichter kann diese apprehensive Wirkung als Hebel des Furchtbaren
(z. B. mephitische Dünste der Flüsse der Unterwelt, verwesender Leichname)
so verwenden, daß der Eckel nur ein Mittel ist, Grauen zu wecken.
Er kann aber auch, was den einen Sinn beleidigt, zugleich einem andern
zu vernehmen geben, das Uebergewicht des Jnteresses im Sinne des Furchtbaren
diesem zuschieben und so das Häßliche, was jenen verletzt, zu einem
bloßen Moment herabsetzen: „wenn Virgil's Laokoon schreit, wem fällt es
dabei ein, daß ein großes Maul zum Schreien nöthig ist und daß dieses große
Maul häßlich läßt? Genug daß: clamores horrendos ad sidera tollit ein
erhabener Zug für das Gehör ist, mag er doch für das Gesicht sein, was
er will“ (Lessing Laok. Cap. 4). Hier dient also dem Dichter die gleichzeitige
Verbindung eines Zugs mit andern Zügen; das wichtigste Auflösungsmittel
aber ist ihm natürlich das successive Fortrücken im Gegensatze
gegen das Fixiren des Moments in der bildenden Kunst: das Bild, das
schwebend am innern Sinne vorüberzieht, läßt sich unendlich leichter in die
positive anderweitige Wirkung überleiten, die es, an sich häßlich, hervorrufen
soll; der Laokoon schiene im Marmor unabläßig zu schreien, bei dem Dichter
schreit er nur einen Augenblick (Lessing a. a. O. Cap. 3); wie aber ein
solcher weitgeöffneter Mund auf die Leinwand gefesselt sich ausnimmt, kann
man an dem gekreuzigten Petrus von Rubens in Köln sehen. Es ist schon
in der Lehre von der Bildnerkunst gezeigt worden, daß Lessing Unrecht hat,
wenn er der bildenden Kunst (obwohl er im Allgemeinen natürlich zugibt,
daß sie die Bewegung errathen lassen, daß sie Handlungen andeutungsweise
durch Körper ausdrücken kann), doch das entschieden Transitorische
verschließt, vergl. §. 613 und 623; zu dem letztern §. ist der Satz aufgestellt:
verboten ist nicht das Augenblickliche an sich, sondern das, dessen
Anblick nur einen Augenblick erträglich ist. Auch Frauenstädt (Aesth.
Fragen XIV) weist nach, daß Lessing hier die Form des dargestellten Gegenstandes
und die Natur des Materials, worin dargestellt wird, miteinander
verwechselt, indem die Fixirung im dauernden Materiale keineswegs die abgebildete
Bewegung in räumliche Dauer verwandelt, also z. B. der fliegende
Vogel darum, weil sein Bild auf der Leinwand festhaftet, keineswegs zu
einem ruhenden wird. Nur fehlt er dann selbst gegen die Logik, wenn er
sagt, in der Poesie werden gewisse Darstellungen, welche nicht wegen ihrer
Bewegtheit an sich, sondern wegen der grellen Art derselben aus der Sculptur [1189]
und Malerei auszuschließen seien, darum möglich, weil diese durch das hörbare,
minder lebhaft und anschaulich wirkende Wort schildere; hier verwechselt
er selbst Jnhalt und Darstellungsweise; es sollte heißen: weil die
Poesie vermittelst des Worts nur auf die Phantasie, nicht auf die äußere
Anschauung wirke. Darin liegt dann als besonderes Moment, daß durch
jenes Vehikel, dessen Laut mit dem Dargestellten an sich gar nichts zu
schaffen hat, auch Gehörs-Eindrücke vergegenwärtigt werden können, und
dieß eben ist der Fall in dem Beispiele von Laokoon. Der geöffnete Mund
wäre im Marmor oder auf der Leinwand nicht darum häßlich, weil schreien
momentan, sondern weil es, für das Auge allein dargestellt, ein Momentanes
häßlicher Art ist; der Dichter aber gibt uns nur eine schwache Vorstellung
vom offenen Mund und lenkt uns überdieß auf den furchtbaren
Laut ab. Uebrigens, nachdem man einer wissenschaftlichen Verwechslung
von Jnhalt und Darstellungsmittel gehörig vorgebeugt, hat man dann
dennoch nicht zu übersehen, daß der Zuschauer bis zu einem gewissen
Grade allerdings dieses auf jenen in seinem Gefühl unwillkürlich überträgt,
und dieß ist eben der Fall bei Solchem, was, wenn es mehr, als momentan,
ist, widerlich wird; da meint man denn, es wolle sich, von der bildenden
Kunst technisch festgehalten, auch wirklich für permanent erklären. Daher
bleibt trotz der ursprünglichen Verwechslung Lessing's Satz richtig, daß der
Laokoon im Marmor immer zu schreien schiene, während der des Dichters
nur einen Augenblick schreit. ─ Ein weiteres Mittel, wodurch die Poesie das
Häßliche in erweitertem Umfang einzuführen und aufzulösen sich befähigt,
ist die Farbe. Sie theilt es mit der Malerei, es hat aber für sie, wie für
die letztere, nicht nur die Bedeutung eines mildernden Uebermittelns an
einen andern Sinn, sondern einer Eintiefung der ganzen Erscheinungswelt
und einer Dämpfung ihrer Härten durch die Herrschaft des Ausdrucks
über die Form. Der Dichter hat aber durch das Wort noch einen Reichthum
von andern Vortheilen, denn er bringt vermittelst desselben eine
Summe von Zügen herbei, die sämmtlich verhindern, daß das Häßliche
sich als solches verhärte, und es schließlich als Moment in den Fluß der
Handlung überführen. Lessing zeigt a. a. O., wie Laokoons Schreien
das Störende auch dadurch verliert, daß uns der Dichter so viele andere
Züge des unglücklichen Priesters kennen lehrt. Angesichts solcher Freiheit
erhellt noch entschiedener, als bei andern Künsten, daß der Begriff einer
bloßen Zulassung des Häßlichen unzulänglich ist: die Poesie kann nicht
nur, sondern sie will und soll das Häßliche erst in seinem ganzen und
wahren Wesen in die Kunst einführen, denn das Häßlche ist schließlich
(vgl. §. 108, Anm. 1) das Böse in seiner Erscheinung und erst diese Kunst
öffnet ja wahrhaft die innere, die sittliche Welt, welche ohne die Contrastwirkungen
und das Ferment des Bösen gar nicht denkbar ist. Durch die [1190]
reichen Mittel des Dichters wird es nun in den tiefen geistigen Zusammenhang
gesetzt, der es gleichzeitig verstärkt und mildert. Es erhält einen
eigenthümlichen dämonischen Reiz, indem es mit dem Großen und Edeln
geheimnißvoll sich verwickelt und in seiner äußersten Verirrung noch einen
verführerischen Erinnerungsschimmer des Schönen auf der Stirne trägt.


Mit der vollen Enthüllung der innern Welt öffnen sich aber auch erst
alle jene Widersprüche, durch welche dem Häßlichen sein Stachel genommen,
vielmehr in einen Reiz zum Lachen verwandelt wird, und ein gemalter Falstaff
ist nicht halb so komisch, als der wandelnde, sprechende, handelnde,
dem wir in das Spiel hineinsehen, das seine Genußsucht, sein Witz und
sein Gewissen miteinander treiben wie drei Eimer, die immer ihren Stoff
ineinander herüber- und hinübergießen. Die Metaphysik des Schönen hat
gezeigt, daß keine seiner Grundformen nach der Seite seines Jnhaltes so
entschieden ein Hergang, ein Verlauf und nach der subjectiven Seite so
prägnant ein Act des Bewußtseins ist, wie das Komische. Daraus folgt,
daß nur diejenige Kunst, welche wirkliche Bewegung darstellt und durch die
Sprache eine Kunst des Bewußtseins ist, diese Welt erschöpfen kann. Wir
haben gesehen, wie die Malerei trotz ihren erweiterten Grenzen im Grunde
sehr zurückhaltend, mäßig im Komischen ist und sein muß. Der Dichter
also erst entfesselt alle Geister des Humors, er erst zeigt uns, wie Weisheit
und Thorheit, Kraft und Schwäche in den Tiefen des Gemüths miteinander
ihr Spiel treiben, und führt dieß Spiel an das Tageslicht der bewegten,
springenden Handlung heraus.


Die Grenze des Verzerrten und Tollen liegt daher für den Dichter
einzig in dem allgemeinen ästhetischen Gesetze, daß es sich nicht als solches
verselbständige, sondern in eine jener contrastirenden Formen des Schönen
überlaufe; es steht zwischen ihm und diesem Reichsgesetze keine Zwischen=
Jnstanz, er ist reichs=unmittelbar. Allein auch das einfach Schöne erscheint
in unendlich vertiefter Anmuth, wenn es durch die Kunst des Bewußtseins
und der Sprache wesentlich als Seelenschönheit auftritt. Ein Wort kann
einen innern Himmel der Liebe, Reinheit, Unschuld enthüllen, in dessen
Herrlichkeit der bildende Künstler mit allen seinen Mitteln uns so nicht
blicken lassen kann; die Seelen-Anmuth einer Margarethe im Faust, einer
Cordelia, Ophelia, Desdemona ist dem Griffel und Pinsel unerreichbar.


§. 844.


Hiemit ergibt sich, daß die Poesie noch mehr, als die Malerei (vergl. §. 657),
auf das Prinzip der indirecten Jdealisirung gewiesen ist. Dennoch wird
dadurch das entgegengesetzte der directen Jdealisirung weniger, als in jener
Kunst, auf die Seite gedrängt.

[1191]

Das Häßliche ist, wie wir gesehen haben, da, wo alle Kunstmittel
vorhanden sind, es aufzulösen, nicht blos zugelassen, sondern es wird herbeigerufen,
die Kunst muß es wollen. Das Häßliche ist nur die Spitze
einer Formenwelt, welche in ihren niedrigeren Graden blos abweichend vom
rein entwickelten Normaltypus einer Gattung, unregelmäßig u. s. w. genannt
wird. Es geht nun in der Poesie der Zug der Auffassungsweise nothwendig
dahin, daß nicht die einzelne Gestalt im Sinne des Normaltypus schön
sei, sondern das Schöne aus einer Gesammtwirkung entspringe, worin mehr
oder minder unregelmäßige, vom Maaßstab ihrer Gattung mit mehr oder
minder Eigenheit bis zur Empörung des Häßlichen abweichende Erscheinungen
zusammentreten. Der Grund davon ist zunächst ebenderselbe wie in der
Malerei: die Mitaufnahme des die Hauptgestalten Umgebenden, die überleitende,
dämpfende Farbe, die freie Einführung einer Vielheit von Gestalten,
das Vorwiegen des Ausdrucks über die Form: alles dieß zieht so zu sagen
an der einzelnen Gestalt, lockert die Selbständigkeit der ästhetischen Geltung,
auf, die ihr in der Götterbildenden Plastik zukommt, und verändert den
festen Körper des Schönen in ein ergossenes Fluidum, seinen Buchstaben
in einen Geist, der zwischen den Zeilen zu lesen ist. Erwägt man nun,
daß in der Poesie alle jene Momente sich nicht nur unendlich erweitern,
sondern daß noch das wirkliche Fortrücken, die Zeitform hinzukommt,
so kann kein Zweifel sein, daß eine so geistig bewegte Kunst die
Würze des Umwegs durch das Jndirecte dem geraden Wege des Schönen
vorzieht. Hier wird der Strahl der Schönheit aus einer Gährung aufblitzen,
in welcher die reine Schönheitslinie nicht gefordert ist, der Gott
wird seine Marmorschönheit opfern und wenn tiefe Seelen-Conflicte seine
Gestalt zerfurchen, so wird das klar gesprochene Wort diese Furchen deuten.
Der Einzelne wird Glied in der Kette einer Handlung mit weitem, Natur
und Geschichte umfassendem Horizonte werden, der Stempel des tief und
allseitig Durcharbeiteten wird sich daher seiner Erscheinung aufdrücken, wie
sie vor unserem innern Auge vorüberzieht. Trotzdem wird das Prinzip der
directen Jdealisirung von dem der indirecten in der Poesie nicht nur nicht
schlechthin unterdrückt sein, wie ja dieß auch in der Malerei nicht der Fall
ist (vergl. §. 657), sondern es wird unter der Herrschaft desselben noch ein
ungleich größeres Recht fortbehaupten, als in dieser Kunst. Zum Beweise
ziehen wir aus der Geschichte beider Künste die einfache Thatsache herbei,
daß Homer unzweifelhaft ganz Dichter ist, während der Malerei der Alten
spezifische Eigenschaften fehlen, welche zum vollen Begriffe dieser Kunst
gehören. Das Stylprinzip in beiden ist hier das direct ideale, die Malerei
aber leidet darunter, die Poesie nicht. Hätte jene das Helldunkel, die
Dimension der Tiefe, die figurenreichere Composition und die Vielseitigkeit
des Ausdrucks entwickelt, wie das innere Wesen der Malerei dahin drängt, [1192]
so hätte sie charakteristisch, individualisirend werden müssen, die Poesie dagegen
entfaltete ihre sämmtlichen Mittel und konnte doch plastisch schön
bleiben, so daß ein Thersites einsam im Saale der Homerischen Statuen
wandelt. Es scheint auffallend, daß eine Kunst, in welcher das Salz
der Negativität im Verhältnisse zwischen Ausdruck und Form noch um
so viel stärker ist, als in der Malerei, daß die Poesie doch in den
Grenzen einer prinzipiellen Auffassung, welcher diese Negativität fremd ist,
auf dem Boden einer einfach ruhigen Harmonie zwischen Ausdruck und
Form eine so viel unzweifelhaftere, den spezifischen Bedingungen des bestimmten
Kunstgebiets entsprechende ebenbürtige Welt der Schönheit schaffen kann.
Es erklärt sich aber diese Erscheinung einmal daraus, daß in der Poesie
die Farbe kein so wesentliches Moment ist, wie in der Malerei, daß jene
vielmehr leichter, als diese, dem Formgefühle wieder ein gewisses Uebergewicht
über das Farbgefühl geben kann. Die Farbe in ihrer Ausbildung
zu einer gesättigten Welt unendlicher Uebergänge, Durchkreuzungen von
Licht und Dunkel ist es vorzüglich, was den Accent auf eine Art des Ausdrucks
wirft, die einen gewissen Bruch zwischen dem Jnnern und Aeußern
voraussetzt, was die Kräfte, Eigenschaften, Beziehungen jedes Wesens zur
Außenwelt so reich spezialisirt, daß die einfachere Grundlinie der Schönheit,
welche auf naturvolle Harmonie des Gemüthslebens weist, in dieser Kunst
zu matt, zu uninteressant erscheint. Die Gebilde, welche die Dichtung vor
unsere Phantasie führt, haben nun allerdings auch Farbe, über Homer's
Welt wölbt sich der tiefblaue Himmel des Südens und glänzt alles Leben
im glühenden Sonnenlichte. Allein wenn alle Züge der Erscheinung, wie
sie nur der innerlichen Sinnlichkeit vorschwebt, unbestimmter werden, so gilt
dieß doch mehr von der Farbe, als vom Umriß; dieser zeichnet sich deutlicher
und schärfer vor das Auge der Einbildungskraft, weil er Linie ist. Es
ist doch ungleich mehr Umriß= als Farben-Freude, was wir bei Homer's
Gebilden als Objecten des inneren Sehens genießen. Die Poesie bleibt
daher weniger, als die Malerei, hinter den Bedingungen ihrer spezifischen
Kunstform zurück, wenn sie die Zeichnung über die Farbe herrschen läßt;
die Zeichnung führt aber als das plastische Element mehr dem Prinzip der
directen Jdealisirung zu. Dieß ist aber noch nicht die ganze Begründung;
zunächst ist das Element Bewegung noch in Betracht zu ziehen. Dieselbe
geht in der Dichtkunst, wiewohl nur innerlich geschaut, doch wirklich vor
sich, wie in keiner bildenden Kunst. Sie hat ihr eigenes Reich der Schönheit
in der Welle der Anmuth; ihm steht eine andere Welt von Bewegungen
gegenüber, welche wir gebrochene nennen können und welche auf ein inneres
Leben hinweisen, das aus der Einfalt ursprünglicher Harmonie des Seelenlebens
herausgetreten ist. Der Dichter, der sich des Vortheils erfreut, daß
ihm wirklich bewegte Gestalten zu Gebote stehen, wird nun mit demselben [1193]
Fuge die eine oder andere Welt des Charakters der Bewegung zu der seinigen
machen können. Hiemit haben wir aber die Frage bereits in ihren
wahren Mittelpunct, in das Jnnere, in die Form des Seelenlebens geführt,
indem wir die Anmuth der Bewegung sogleich mit ihrem innern Grunde,
der Schönheit der Gemüths-Einfalt, zusammennehmen mußten. Nun ist
nach allem Obigen keine Frage, daß die Poesie unendlich erweiterte Mittel
besitzt, jede verwickeltste Brechung des einfach schönen Seelenlebens, das sich
mit der Sinnlichkeit in gediegener Harmonie ergeht, in alle ihre Ecken und
Härten zu verfolgen, und der Besitz dieser Mittel ist natürlich zugleich der
Wille, sie anzuwenden; allein man übersehe nicht, daß jene Welt des Gemüthslebens
nur auf dem vergleichenden Standpunct einfach, ungebrochen,
harmonisch ist, daß sie an sich ein bewegtes Leben voll von Kämpfen bis
zu den äußersten tragischen Conflicten umfassen kann, Alles mit nur weniger
vertiefter Resonanz und daher in gewissen Grenzen der Form, welche die
unzartere Ausbiegung, den schrofferen Sprung von einer Stimmung in die
andere, den tieferen Griff in die Härte der Lebensbedingungen ausschließen.
Die Poesie muß nun gerade einen besondern Beruf in sich tragen, die
Bewegtheit, welche auch dieser Lebensform zukommt, mit dem Umfang ihrer
Mittel zu entfalten, wie es die Malerei, ohne ihre Mittel von ihrem wahren
Ziele zurückzuhalten, nicht vermag, einen Beruf, zu zeigen, daß eine Welt, die
für den Maler zu leise, zu ungesalzen ist, unter ihrer Hand auflebt, sich vertieft
und erweitert, die volle Würze stark wirkender Gegensätze empfängt. Kurz
das Verhältniß ist dieses: der plastische Standpunct hindert die Malerei,
wenn er auf sie übergetragen wird, an der vollen Ausbildung ihres Wesens
als spezifische Kunstform, aber nicht ebenso die Dichtkunst: sie kann eine
Welt von Statuen, worin wie in der Sculptur das Gesetz gilt, daß die
einzelne Gestalt schön sei, beseelen und nach allen Seiten beleben, weil sie
die Sprache und die wirkliche Bewegung in der Macht hat. Diese Auffassung
wird sich dann über alle Seiten der Behandlung des Stoffs erstrecken:
wie die einzelne geschilderte Persönlichkeit, so die Welt, die Culturformen,
die Natur umher, so in der künstlerischen Form an sich die Sprache,
die ganze Composition; Alles wird Ausdruck der „folgerechten, Uebereinstimmung
liebenden Denkart“ sein, welcher Mercutio und die Amme in
Romeo und Julie als „possenhafte Jntermezzisten unerträglich sind“ (Göthe's
W. B. 45, S. 54). ─ Der hier aufgestellte Satz wird seine nähere Anwendung
in dem Abschnitt über den poetischen Styl finden und hier die
ganze Bedeutung seiner Consequenzen zu Tage treten.


§. 845.


Vermöge dieser Eigenschaften kommt der Poesie der Charakter der Allgemeinheit
zu; sie stellt gegenüber den andern Künsten den Begriff der [1194]
Kunst an sich dar; die beziehungsweise Leichtigkeit ihrer Uebung ist nur ein
Ausdruck ihrer geistigen Natur. Daher verhält sie sich anders zur zeitlichen
Entwicklung, als jene: sie eilt ihnen, in naiver Form mit der Musik vereinigt,
aber auch in höherer Ausbildung voran, sie ist keiner Nation fremd,
sie ist daher die älteste Kunst; aber zu voller Entwicklung ihres Wesens ist
moderne Cultur vorausgesetzt, daher ist sie ebensosehr die neueste Kunst.


Der Hauptsatz dieses §. ist schon durch den Jnhalt des vorh. eingeleitet,
denn wenn die Poesie auf einer Basis der Auffassung, wobei die
höchste der bildenden Künste, die Malerei, nicht zu voller Entwicklung gelangen
kann, doch in einer Form aufzutreten vermag, welcher kein Merkmal
der Kunst mangelt, so sieht man in ein Verhältniß, worin die Coordination
mit den andern Künsten aufhört und die Dichtung von ihnen
gelöst wie ein feiner Aether über festen Körpern erscheint, ja die Stellung
des Begriffs zu den realen Jndividuen einnimmt. Sie verhält sich zum
System der Künste wie das bedeutendste Nervencentrum, das Gehirn, zu
den untergeordneten Nerven-Centren und zu den Gliedern, nur daß man
dieß Bild ja nicht so verstehen darf, wie Rich. Wagner es braucht, als
bezeichne es das Denken im Gegensatze von Empfinden und Anschauen,
denn die Poesie ist ja vielmehr die ganze Kunst, vereinigt Empfinden und
Anschauen, die Musik und die bildenden Künste, eben wie im Gehirn jede
Thätigkeit des ganzen Organismus concentrirt ist, vorgebildet wird. Der
Begriff der Allgemeinheit trägt sich nun auf das Historische so über, daß
sie von jedem Volk in jedem Bildungszustande geübt wird, nach Göthe's
Wort „eine Welt- und Völkergabe“ ist und daß sie in der einzelnen Epoche
den schweren Gang der andern Künste nicht abwartet, sondern ihnen vorauseilt.
Natürlich erklärt sich dieß vor Allem aus der Geschmeidigkeit ihres
Vehikels, der Sprache: denn obwohl dieselbe künstlerisch, technisch gebildet
werden muß, ist doch diese Arbeit dadurch unendlich erleichtert, daß hier dem
Subjecte kein fremder Stoff mit der Sprödigkeit des Objects gegenübersteht,
wie im eigentlichen Materiale bei den andern Künsten, sondern eine
Aeußerungsform, die an sich zum Leben des Subjects gehört, nur edler,
schwungvoller, gemessener zu gestalten ist. Diese technische Leichtigkeit ist
daher nur die andere Seite der relativen Körperlosigkeit, der Geistigkeit der
Poesie. Es erhellt aus dem Wesen einer solchen Kunst, warum auch das
speziellere Talent für sie ungleich verbreiteter ist, als die Begabung für
andere Künste, denn sie liegt ja in dem reinen, menschlichen Wesen unmittelbarer,
inniger begründet, als diese. Jhre eng verwandte Nachbarinn, die
Musik, scheint als die subjective Kunstform auf diese Bedeutung mehr Anspruch
machen zu können und demnach sollte man meinen, das Talent für
sie sei verbreiteter. Allein das wahrhaft allgemein Menschliche ist nicht [1195]
das Gefühl, sondern der Geist, der seiner Natur nach nicht lange im bloßen
Gefühle verweilt. Jm Gefühle verharren ist individuell und soll es für
sich fixirt werden, so bedarf es einer Begabung, die eine besondere Organisation
des Gehörs voraussetzt, wie sie in solcher Bestimmtheit für die Auffassung
und Behandlung des Rhythmischen in der poetischen Sprache nicht
gefordert ist, denn gar Mancher hat feinen Sinn für Versbau und dabei
doch kein musikalisches Gehör. Dennoch macht sich die innige Nachbarschaft
beider Künste auch im zeitlichen Verhältnisse geltend; denn man kann
von jeder sagen, sie sei die älteste Kunst, und der scheinbare Widerspruch
löst sich in dem Satz auf, daß beide vereinigt die älteste Kunst sind. Es
ist ein altes und wahres Wort, daß die Poesie älter sei, als die Prosa.
Wo der Mensch zum Erstenmale die Welt mit erwachtem Geist im Lichte
des Allgemeinen betrachtet, da spricht er dieß nicht auf dem Wege aus, der
durch eine Reihe verständiger Vermittlungen bei der Jdee anlangt, sondern
unmittelbar in der idealen Stimmung und Anschauung. So entsteht eine
ursprüngliche und unmittelbare Dichtkunst, welche, verglichen mit der ganzen
Aufgabe der Poesie, relativ kunstlos, Product der Volksphantasie, Kunst
vor der Kunst, naive Kunst (vergl. §. 519) ist, und diese Form des unmittelbaren
Hervorbrechens theilt die Poesie nicht nur mit der Musik, sondern beide Künste treten in derselben durchaus verbunden auf als Volkslied.
Jn §. 766, der darauf schon hingewiesen, ist auch gezeigt, daß die
Musik, wie im naiven Zustand eine durchaus frühe, ebensosehr, in ausgebildeter
Form, eine wesentlich späte, moderne Kunst sei. Dieß gilt auch von
der Dichtkunst, doch mit Unterschied. Um in dem rein subjectiven Gebiete
eine Fülle und Reife des Schönen zu erreichen, ist eine Summe von
Erfahrung und Durcharbeitung des menschlichen Geistes und Herzens
vorausgesetzt, welche in dem engsten Sinne modern heißt, wonach wir die
Kunstepoche der Jahrhunderte seit der Auflösung des mittelalterlichen Jdeals
darunter verstehen, denn früher hat es doch eine wahre Musik in der ganzen
Bedeutung des Wortes nicht gegeben. Eine ganze und wahre, eine ausgebildete
Poesie, eine Kunstpoesie haben dagegen alle Culturvölker in den
verschiedenen Haupt-Perioden ihrer Geschichte gehabt; nur gewisse Zweige
derselben, ─ der lyrische und dramatische, wie wir sehen werden ─ setzen
den modernen Zustand einer vielseitigen und tiefen Entwicklung des subjectiven
Lebens, einer Fülle von Erfahrung voraus, doch nicht in dem ausschließlichen
Sinne des Worts, wie dieß bei der Musik der Fall ist, sondern
in dem relativen, wie derselbe auch in einer Völkerbildung eintrat, die
unserer Gegenwart als eine kindliche erscheint, für die Völker selbst aber
eine späte Stufe ihres Culturgangs war. Doch stellt sich die Sache bei
dem Drama etwas anders, als bei der Lyrik: es konnte sich zu dem Jnbegriff
dessen, was es spezifisch sein soll, erst in der eigentlich modernen Zeit,
in dem Kunstideal unserer Jahrhunderte entwickeln.

[1196]

β. Die einzelnen Momente.


§. 846.


1.

Jn der Poesie kommt zuerst das Stylgesetz in Betracht, weil unabhängig
von einem eigentlichen Materiale die ganze Thätigkeit von der innern Auffassung
ausgeht und nur an die Gesetze gebunden ist, die sich aus dem Wesen
2.der Phantasie und ihrem Verhältniß zum Vehikel ergeben. Die erste Bestimmung
dieses Gesetzes ist negativ, gegen die Verirrung auf den Boden der andern
Künste gerichtet, welche der Poesie dadurch nahe liegt, daß in gewissem Sinne
diese in ihr vereinigt sind. Die Poesie vergeht sich in die Musik, wenn sie
gestaltlos im unbestimmten Weben der subjectiven Empfindung sich bewegt oder
wenn sie die Technik der künstlerischen Sprachform zu ihrem hauptsächlichen
Augenmerk und ihrem Ausgangspuncte macht.


1. Wollte man in der speziellen Erörterung des Wesens der Poesie
vom äußeren Verfahren, hier von der Verskunst ausgehen, so geriethe man
in die Schwierigkeit, daß man den tiefen und wesentlichen Gegensatz in
der musikalischen Behandlung der Sprache, der in der classischen und romantischen
Form gegeben ist, darstellen müßte, ehe man seinen innern Grund,
den Unterschied der ganzen Gefühls- und Auffassungsweise, in's Licht gesetzt
hätte. Die Betrachtung dieses historischen Unterschieds gehört aber allerdings
in den gegenwärtigen Abschnitt, er kann nebst allem Historischen nicht in
einen besondern geschichtlichen Theil verwiesen werden, denn die Trennung
des Geschichtlichen vom Systematischen ist überhaupt in der Lehre von der
Dichtkunst nicht mehr, wie in der Lehre von den andern Künsten, möglich.
Es leuchtet dieß zum voraus ein, wenn man namentlich bedenkt, was hier
aus der Darstellung der Zweige würde, wenn man die großen Unterschiede,
welche durch die Geschichte der Poesie in ihnen ausgebildet worden sind, einem
besondern Abschnitte vorbehielte oder, da dieß eben nicht möglich ist, welche
schleppende Wiederholung entstünde. Ebenso erhellt von selbst, daß die Art
der poetischen Darstellung, wie sie in ihrem Unterschiede von der prosaischen
demnächst zur Sprache kommen muß, die prinzipielle Erörterung des Stylgesetzes
schon voraussetzt, denn eine wesentliche Verschiedenheit des Weges,
den das dichterische Verfahren in dieser Beziehung einschlägt, hat ihren
Grund ebenfalls in jenem Gegensatze der ganzen Auffassungsweise, der an
sich im Stylprinzip eingeschlossen ist. Dieß ist der negative Beweis für
die gewählte Ordnung, der Beweis aus den Uebelständen, die sich im andern
Fall ergäben; der positive liegt darin, daß die Poesie kein eigentliches Material
mehr hat. Das Verfahren dieser Kunst ist nicht, wie bei den andern [1197]
Künsten, aus den Bedingungen eines bestimmten äußeren Stoffes abzuleiten,
den sich die Phantasie zwar frei erwählt, durch den sie sich aber auch feste
Schranken setzt; an die Stelle des Materials tritt ja hier die Phantasie
des Zuhörers, und in welchem Charakter der Formgebung sie bearbeitet
werden soll, dieß hängt nur von der innern Auffassungsweise des Dichters
ab. Er ist hierin allerdings nicht schlechthin frei, sondern, wie der Bildner
und Maler an Schwere, Ausdehnung, Licht, Farbe u. s. w., an bestimmte
Gesetze gebunden, aber doch nur an solche, die aus seinem geistigen Elemente,
nämlich aus dem Wesen der Phantasie fließen. Hier liegt dasjenige, was den
körperlichen und tonischen Stoffbedingungen in den andern Künsten entspricht.
Die Poesie ist auch in diesem Sinne reichsunmittelbar. Die Behandlung
des äußern Vehikels, der Sprache, ist dann zunächst reines Ergebniß der
innern Art und Weise, wie der Dichter auffaßt und auf seinen Hörer wirkt;
allerdings ergeben sich aus dem Verhältnisse dieses Vehikels zum Jnhalte,
zum Leben der Phantasie, auch gewisse Schwierigkeiten, die wir angedeutet
haben und jetzt deutlicher auseinandersetzen werden; aber die hieraus fließenden
Beschränkungen der Freiheit des Dichters gleichen entfernt nicht der
Strenge der Gesetze, die für andere Künste aus ihrem Material entspringt.


2. Die Uebergriffe auf den Boden einer andern Art der Phantasie
und ihres spezifischen Verfahrens, zu denen die Poesie wie alle andern
Künste versucht ist, sind für sie, die das System der Künste abschließt, lauter
Rückgriffe: sie meint zu gewinnen, was sie gegen jene eingebüßt hat, und
sie verliert, was sie durch diese Einbuße erreicht hat. Der erste dieser Rückgriffe,
die ihrem Stylgesetze widersprechen, ist nach dem Elemente gewendet,
aus welchem sie zunächst herkommt. Die Poesie kann auf zweierlei Art
musiciren, statt zu dichten. Die erste besteht darin, daß sie es überhaupt
dem ganzen Jnhalte nach nicht eigentlich zur Anschauung bringt, sondern
den Hörer oder Leser im Nebel des gestaltlosen Empfindens festhält. Es
ist dieß eigentlich bloße Stimmung zum Dichten statt wirklichen Dichtens,
eine falsche und einseitige Wendung der Wahrheit, daß jede ächte Poesie
vor Allem den Eindruck des tief Empfundenen machen muß; denn wir
haben gesehen, daß die Dichtkunst das Gefühl wesentlich an das Bewußtsein
knüpft, in Gestalten als seine Träger verlegt und eine objectiv klar
gebildete Welt mit seinem warmen Element umhüllt. Man wird nicht sagen
können, daß eine solche Gestaltlosigkeit vorzüglich den unreifen Anfängen
der Poesie eigen sei; wohl kann es in der ursprünglichen, naiven Dichtung
an Liedern nicht fehlen, die fast nichts sind, als etwas entwickeltere Jnterjectionen,
im Ganzen und Wesentlichen aber werden wir sehen, daß dieselbe,
unbeschadet ihrer unmittelbaren Verbindung mit dem musikalischen Vortrage,
dem Jnhalte nach objectiv, anschauend ist. Geschichtlich betrachtet wird eine
Poesie der gestaltlosen Empfindung vielmehr in verhältnißmäßig später Zeit [1198]
durch den Kampf gegen die geistlose Regel eines conventionell gewordenen
Styls sich erzeugen. So brach in der neueren deutschen Poesie der erwachte
Genius im Sturme gegen Gotsched und die Franzosen zuerst als hoch
angeschwelltes, überschwengliches Gefühl hervor; diese Stimmung brütet
wie eine heiße, zitternde Luft, in die sich alle Bestimmtheit der Umrisse
auflöst, über den ersten Poesieen der jugendlich drängenden Geister. Klopstock's
Messias wurde, wie es Gervinus treffend bezeichnet hat, mehr ein
Oratorium, als ein Epos, Herder's und Göthe's Styl war ein Sprudeln
des übervollen Herzens, das sich athemlos in Ausrufungen und Gedankenstrichen
bewegt und die Herrlichkeit der neu aufgegangenen inneren Welt
zu verletzen fürchtet, wenn es zur Ruhe objectiver Gestaltung übergienge.
Das hatte freilich seinen tieferen und allgemeineren Grund in dem Charakter
einer geistigen Revolution, welche, ergänzend, was die Reformation begonnen,
dem Subjecte zuerst das Bewußtsein seiner freien Unendlichkeit gab, ohne
ihm noch den Weg zu zeigen, wie sich dieselbe mit der Erfahrung, mit der
Schranke des Endlichen zu vermitteln habe; wie daher die politische Revolution
nicht zu bauen vermochte, so die geistige nicht, ein klares Weltbild
zu geben. Vergl. hiezu §. 477. Ohne die Kraft und Frische, die sie in
jener ersten Zeit der ächten Sentimentalität hatte, blieb die Subjectivität
ein Grundzug der modernen Zeit, der sich auf Kosten der Gestaltung in
die Poesie legte. Es äußert sich dieß nicht nur darin, daß das Lyrische im
Epischen und Dramatischen überwuchert, die festen Grenzen der Zweige
löst und Zwitterformen hervorbringt, sondern auch im Lyrischen selbst, denn
wie sehr dieser Zweig der Musik verwandt sein mag, so verlangt er doch
seine Bestimmtheit, Deutlichkeit, seine Art von Objectivität. Ein Beispiel
des musikalisch Nebelhaften sind namentlich die lyrischen Dichtungen Tieck's:
sie wirken, als hätte man zu starken Thee getrunken und befände sich in
einer Ueberspannung aller Nerven, die der Seele eine unendliche Hebung
ihrer Kräfte vorspiegelt, ein inneres Sausen, Summen und Weben, wobei
schlechterdings nichts zu denken ist und das etwa einem verworrenen Phantasiren
auf dem Clavier gleicht. ─ Musikalisch subjectiv ist auch die unendliche
Masse von lyrischen Erzeugnissen jenes Dilettantismus zu nennen,
dem die Leichtigkeit, in einer längst zugerichteten Dichtersprache Verse zu
machen, den Mangel des Talents, der Originalität verhüllt: allgemeine
Empfindungen, wie sie in jedem menschlichen Leben wiederkehren, ausgedrückt
in verbrauchtem Apparate, gelten für Poesie, weil sie eben Empfindungen
sind.


Die andere Art des Uebergriffs in die Musik liegt auf der formellen
Seite: das Vehikel, der Rhythmus, die Sprachform, wird zum Zwecke.
Die Versuchung hiezu entspringt daraus, daß das Vehikel allerdings, obwohl
es nicht Material ist (vergl. §. 839, 3.), von der Jdealität der Stimmung [1199]
ergriffen und umgebildet werden soll. Aus der zuerst noch gestaltlosen Fülle
der wahren poetischen Stimmung keimt aber vor Allem die innere Gestalt, der
Körper einer gehaltvollen Anschauung, das rhythmische Gewand wächst mit
ihm und umschließt ihn in würdigen Falten; es ist nicht der ächte Prozeß,
wenn die Wärme unmittelbar in die Technik der Sprachform ausweicht;
die Draperie, auf welche die erste Aufmerksamkeit gerichtet wurde, wird eine
verschwommene Bildung umkleiden. Dieser Weg läßt vielmehr auf Mangel
an wahrer Wärme, das entschiedene Uebergewicht der formellen Virtuosität
auf innere Kälte schließen. Es scheint hier das gerade Gegentheil jenes
andern Uebergriffs vorzuliegen, der im Ueberschwang der Empfindung seinen
Grund hat; es verhält sich auch zunächst so, allein das überhitzte Gefühl,
das sich sträubt, in die feste Gestaltung überzugehen, kann auch Manier
werden, erkaltet zur Routine und schlägt sich in den Eisblumen der Verskunst
nieder. Die romantische Schule ist auch für diese „kalte Gluth und
lichten Rauch“ ein belehrendes Beispiel. Es ist aber noch eine andere,
schwieriger zu fassende Erscheinung zu nennen, die der §. durch den Zusatz:
Ausgangspunct bezeichnet; es gibt Dichter, welche im Ganzen mehr Virtuosen
der formellen Technik, als wahre Schöpfer eines poetischen Jnhalts
sind, denen aber in manchen Momenten am Klange der formellen Schönheit
das gehaltvollere Gefühl, das innig geschaute Bild anschießt; sie
arbeiten von außen nach innen, statt von innen nach außen, aber in glücklichen
Stunden führt sie ihr umgekehrter Gang auch zum Ziele. Solche
Naturen werden ihren, zwar fragmentarischen, höheren Beruf allerdings
schon in der technischen Form, auch wo die Pygmalions-Statue nicht erwarmt,
durch eine besondere Feinheit, ein plastisches Gefühl an den Tag legen, so
daß man versucht ist, die Genugthuung, die der Rhythmus des Verses an
sich allein gewährt, für ganze ästhetische Freude zu nehmen. Platen ist eine
solche Natur, zum Theil auch Rückert. ─ Man sieht, in wie mannigfachen
Verschiebungen die Wirklichkeit auseinanderlegt, was in der Jdee der wahren
Dichtung ein Volles, Ganzes, Eines ist.


§. 847.


Noch näher liegt der Poesie die entgegengesetzte Verirrung auf den Boden
der bildenden Kunst. Sie besteht darin, daß das Sichtbare durch Aufzählen
der einzelnen Züge so geschildert wird, als verweilte der Zuhörer mit dem
äußern Auge vor einem in das wirkliche Nebeneinander des Raums gestellten
Bilde. Dadurch geräth die Langsamkeit, womit die Rede vorrückt, und der
Zwang, den sie ausübt, mit der Schnelligkeit und Freiheit der von ihr angeregten
Phantasie, die mit Einem Blick ein Ganzes schaut, in Widerspruch.
Der Dichter hat vielmehr das Sichtbare mit wenigen Zügen so zu vergegenwärtigen, [1200]
daß es in den Bewegungszug der Phantasie aufgenommen wird.
Tiefer betrachtet entspringt das wahre Stylgesetz aus der Zusammenfassung der
Aufgabe der Poesie, Gestalten zu geben (§. 838), mit ihrer höchsten, die innere
Welt und schließlich Handlung darzustellen (§. 842), und bestimmt sich dahin,
daß diese Kunst Körper andeutungsweise durch Handlungen nachzuahmen
hat
(Lessing).


Die Poesie schwebt zwischen den beiden Verirrungen, von deren zweiter
dieser §. handelt, wie zwischen Scylla und Charybdis: um der gestaltlosen
Empfindung zu entgehen, verfällt der Dichter leicht in das Verfahren des
Malers und da die Flucht vor dem Unbestimmten und Farblosen jedem
klaren Geiste das Natürlichere ist, so droht von dieser Klippe die größere
Gefahr. Die deutsche Literatur darf stolz darauf sein, durch Lessing das
große Grundgesetz der Dichtkunst, welches dieser §. ausspricht, ein für allemal
hingestellt zu haben. Seit wir seinen Laokoon besitzen, gehört der Satz,
daß der Dichter nicht malen soll, zum A B C der Poesie. Wer dagegen
am meisten fehlt, sind noch heute, wie damals, als sie die beschreibende
Poesie einführten, die in Deutschland in den Brockes, Haller, Kleist ihre
Nachahmer fand und gegen welche Lessing's Schrift gerichtet war, die Engländer;
Walter Scott hat seine bedeutenden Schöpfungen unter dem Druck
eines eingefleischten Sündigens gegen diesen Urcodex fast erstickt. Es ist das
scharfe, fast mikroskopische Sehen, was ihn und Andere dazu verführt: das
umständliche Aufzählen der Züge soll den Leser in den Stand setzen, die
Gestalt bis zur Jllusion des physischen Schauens und Greifens überzeugend
vor sich zu bekommen; der Dichter will den Beweis führen, daß er selbst
so haarscharf geschaut habe, und der Leser soll ihm folgen, aber die Wirkung
ist die entgegengesetzte. ─ Jn der Nachweisung des Gesetzes, von dem es
sich hier handelt und auf das wir zu §. 839 und 840 vorläufig hingedeutet
haben, weichen wir jedoch von Lessing's Begründung (s. Laokoon Cap.
16 und 21) auf den ersten Schritten ab, um erst zum Schlusse die positive
Formel von ihm zu entlehnen. Der Satz, von welchem er ausgeht, daß
die Kategorie der Zeit, welcher die Poesie durch ihr Darstellungsmittel angehört,
das Simultane des räumlichen Nebeneinander als Jnhalt des
Dargestellten ausschließe, ist nicht richtig. Die Kategorie, in welche das
Vehikel fällt, ist allerdings zugleich diejenige, in welcher das Leben des
Geistes an sich, also das Organ, von welchem und für welches gedichtet
wird, sich bewegt. Das Zeitleben des Geistes ist aber, wie wir gezeigt
haben, in jedem Moment eine intensive Einheit von Verschiedenem, so denn
auch als Phantasie eine intensive Anschauung einer Vielheit, welche im
Raum ausgebreitet ist: Ein innerlicher Blick, der ein Ganzes von coexistirenden
Theilen überschaut. Der Gegenstand dieser innern Anschauung [1201]
kann an sich ganz wohl ein ruhender sein und die Mittheilungsform der
Rede ist dadurch, daß sie successiv schildert, an sich nicht unfähig, den Geist
in der Weise zu bestimmen, daß er sich das Bild eines solchen räumlich fest
ausgebreiteten Ganzen erzeuge. Lessing bemerkt richtig, daß bei Beschreibungen
für prosaische Zwecke das allmälige Aufreihen von Zügen kein Hinderniß für
den Leser ist, sich aus ihnen ein Bild zusammenzufügen (a. a. O. Cap. 17).
Natürlich ermangelt ein also zusammengesetztes Bild der Wärme, der Jdealität.
Und hier sitzt denn das Wesentliche: im Gebiete der Kunst will auch die
empfangende Phantasie zeugend, nachschaffend sich verhalten; sie ist in diese
Stimmung, diese Selbstthätigkeit von Anfang an durch den Dichter versetzt.
Einmal selbstthätig erzeugt sie sich nun auf Eine richtige Berührung des
poetischen Zauberstabs in Einem Augenblick das von dem Dichter beabsichtigte
Bild mit seiner Vielheit von Zügen, richtiger: nur das seiner Absicht irgendwie
entsprechende, denn hier tritt ein wesentlicher weiterer Unterscheidungszug
der Dichtkunst auf: der bildende Künstler schreibt dem Zuschauer das Bild
genau vor, indem er es ihm sichtbar ausgeführt vor das äußere Auge stellt;
der Zuschauer ist hierin unfrei; worin er frei ist, das ist die innere Erzeugung
eines Bildes der Reihe von Bewegungen, die dem dargestellten
Momente vorangehen und folgen; der Dichter dagegen schreibt dem Zuhörer
das Successive, das Wesentliche der Bewegung, den Gang des Ganzen
vor, da ist der Erstere hierin unfrei; dagegen gibt er ihm zur Erzeugung
des innern Bildes in seiner qualitativen Gestaltung nur den Anstoß: darin
ist der Zuhörer also hier ungleich freier, als in der bildenden Kunst. Es
verschlägt auch nichts, wenn dieser sich die Gestalt etwas anders, als jener,
vorstellt, wenn nur die Grundzüge im Bewegungscharakter der Absicht des
Dichters entsprechen. Wenn die Amme in Romeo und Julie in eitlem Putz
angestiegen kommt, den Auftrag Juliens an Romeo zu bestellen, und anfängt:
„Peter, meinen Fächer!“ so mag sie sich der Eine größer, der Andere
kleiner, jener in diese, dieser in jene Farbe gekleidet vorstellen: nur ein ganz
stumpfer Leser wird nicht augenblicklich ein in den wesentlichen Zügen richtiges
Bild der närrischen, treuen und gemeinen, geschwätzigen und verschwiegenen,
kupplerischen, in Runzeln noch eiteln, aufgeputzten Alten vor sich haben,
wie sie mit koketten Schwenkungen der Hüfte und steilem Kopfe die vornehme
Dame affectirt. Die Phantasie will also in der Dichtkunst schlechterdings
nicht aufgehalten und gezwungen sein. Verkennt dieß der Dichter,
so kommt nicht eigentlich „das Coexistirende des Körperlichen mit dem
Consecutiven der Rede in Collision,“ sondern die windschnelle, eine Vielheit
von Zügen auf Einen Schlag vor sich ausbreitende Bewegung und die
Freiheit der Phantasie mit der Langsamkeit, womit die Rede fortrückt, und
mit dem Zwange, den ihr Ausmalen auflegt. Der Dichter verfährt dann,
als stünde sein Zuhörer vor einem aufgehängten Bilde, faßte nach dem [1202]
ersten Ueberblick unter seiner Anleitung Theil für Theil in's Auge, ohne
Furcht, daß ihm die Zusammenfassung entgehe, denn das Ganze bleibt
ja im Raum fest vor ihm, und endlich gienge er dann zu dieser über, die
nun ein gefüllterer, durch Einzelbeobachtung vollkommenerer Act wäre, als
der erste Ueberblick. Er vergißt, daß er es mit einer bewegten Kraft zu
thun hat, welche nichts Festes vor sich hat, welche daher diesem Zuzählen
unter den Händen entschwebt, entweicht, indem sie, auf den ersten Schlag
schon mit ihrem Bilde fertig, bei dem Aufreihen der folgenden schon über
Berg und Thal ist, daß sie, während vornen zuwächst, hinten verliert,
daher schließlich nichts übrig hat, was sie zusammenfassen könnte, so daß
es ist, „als sähe man Steine auf einen Berg wälzen, aus welchen auf der
Spitze desselben ein prächtiges Gebäude aufgeführt werden soll, die aber
alle auf der andern Seite von selbst wieder herabrollen;“ eine treffliche
Vergleichung Lessing's, nur daß die vernommenen Theile nicht nur, wie er
sagt, dem Ohre, sondern vielmehr der vorausgeeilten Phantasie, welche
durch das Ohr in Thätigkeit gerufen ist, verloren gehen. Jn der That kann
Jeder an sich die Erfahrung machen, daß Walter Scott's und seiner Nachahmer
breite, Zoll für Zoll, vom Wirbel zur Zehe fortrückende Schilderungen
gerade das Gegentheil ihrer Absicht bewirken, daß man nämlich nichts hat,
nichts sieht. Ja auch bei Beschreibungen für prosaische Zwecke ist unser
obiges Zugeständniß zu beschränken; bekanntlich ist es ohne Zeichnung sehr
schwer und peinlich, sich z. B. einen Schlachtbericht klar zu vergegenwärtigen.
Der Dichter hat also nicht eigentlich und schlechthin das Coexistirende in
ein Successives zu verwandeln, er kann uns Coexistirendes vorführen, obwohl
sein Vehikel nicht coexistirende Form hat, aber er muß es so thun, daß
er den bewegten Charakter der Phantasie berücksichtigt, er muß daher mit
wenigen Mitteln dem Leser oder Zuhörer nur den nöthigen Anstoß geben
und er muß das Räumliche, das er so schildert, an geschilderte Bewegung
knüpfen, denn die Phantasie, weil sie selbst bewegt ist, will Solches sehen,
was sich bewegt. Von jenen Mitteln, namentlich den Epitheten, ist weiterhin
in besonderem Zusammenhang zu sprechen, der gegenwärtige betont zunächst
nur, daß sie einfach sein müssen, nicht versuchen dürfen, ein ausführliches
Bild zu geben. Allzu ängstlich darf dieß allerdings nicht genommen werden
und es ist mehr einzuräumen, als das karge Maaß von den Bezeichnungen,
welche Lessing (a. a. O. Cap. 18) zuläßt; wenn nur die Grundbedingung,
das Hereinziehen in den Bewegungsstrom der Phantasie, erfüllt ist. Zunächst
geschieht dieß dadurch, daß die Gegenstände als bewegte im eigentlichen Sinne
des Worts zur Darstellung gebracht werden; Lessing zeigt, wie Homer die
Kleider und Waffen Agamemnons schildert, indem er sie ihn anlegen, den
Wagen der Juno, das Scepter des Agamemnon und Achilles, den Bogen
des Pandarus, den Schild des Achilles, indem er sie vor unsern Augen [1203]
entstehen läßt. Er hätte noch andere Beispiele wählen können, welche mit
diesen Homerischen überhaupt unter den allgemeineren Begriff der Thätigkeit
fallen. Thätigkeit hat aber einen innern Grund und dieß führt uns tiefer,
zu der Beziehung auf das Jnnere. Auf diesem Uebergang ist eine besondere
Sphäre von Stoffen der Darstellung wichtig: Lessing hat übersehen, daß
es sich auch von unbeweglichen Gegenständen, namentlich von der Landschaft
handelt. Zunächst wird auch hier gelten, daß ihr Bild an dem Faden einer
Thätigkeit (Wandern, Jagen u. dergl.) uns vorübergeführt werden soll.
Es gibt eine tiefere Form: der Dichter kann, der gute wird immer auch
das unorganische Leben vor uns werden lassen, indem er uns eine Ahnung
der planetarischen Thätigkeit gibt, welche diese Massen aufgerichtet, diese
Wasser ergossen, diese Pflanzen gebildet hat. Allein auch diese Wendung
ist es noch nicht, welche Wesen und Streben der Dichtung am klarsten und
vollständigsten bezeichnet: der Dichter wird die umgebende Natur in die Seele
des Menschen tragen, er wird uns zeigen, wie durch die Sinne sein Gemüth
dieselbe auffaßt, er wird bewirken, daß der Leser die Landschaft mit den
Augen der epischen Spieler sieht, ─ „ihr Auge vor das seinige als Augenglas
nimmt“ (J. Paul Vorsch. d. Aesth. §. 80). Dieses Schildern durch
Schilderung des Reflexes auf Zuschauer im Gedichte kommt nun aber ebenso
bei Gegenständen jeder Art in Anwendung; Lessing führt es nur als Mittel
auf, um menschliche Schönheit zu vergegenwärtigen (a. a. O. Cap. 21.
Helena vor den Greisen auf der Mauer von Troia erscheinend). Jetzt ist
diese directe Beziehung auf das Jnnere mit der Bewegung überhaupt wieder
zusammenzufassen. Bringt der Dichter die Gegenstände, die er schildert, auch
nur in Zusammenhang mit physischer Bewegung, so führt doch der zunächst
nur äußere Zweck derselben directer oder indirecter auf einen innern. Mit
einem solchen werden auch Empfindungen über landschaftliche, menschliche
und jede andere Schönheit immer in unmittelbarer Verflechtung stehen.
Agamemnons Ankleiden, die Scepter, die Waffen, der Achillesschild: Alles
führt an längeren oder kürzeren Fäden in den Mittelpunct der großen
Handlung in der Jlias, die Gefühle der Greise bei dem Anblick der Helena
ebenso, und gefühlvolle Betrachtung von Landschaft im Roman hängt mit
Affecten, diese mit Thaten und Leiden zusammen, die vom Centrum der
Haupthandlung ausgehen und zu ihm zurückleiten. Lessing selbst hat daher
die Sache im Mittelpunct erfaßt, indem er den Satz aufstellt, den der §.
wörtlich von ihm aufnimmt. ─ Unter diesen Mitteln ist aber gerade das
Gewöhnlichste, Einfachste noch nicht genannt, auch von Lessing nicht erwähnt,
nämlich die Form der unmittelbaren Begleitung. Der Dichter
schildert Körper dadurch, daß er einfach zeigt, wie sie der innern Bewegung,
dem Zweck, dem Willen, der Handlung folgen und das Jnnere ausdrücken.
Gerade an dieser Form läßt sich auch am besten nachweisen, wie ein kurzer Zug [1204]
hinreicht, um die Phantasie zur Erzeugung eines innern Bildes zu bestimmen.
Der Dichter sage uns also von dem Aeußern einer Person, die er einführt,
zuerst gar nichts, oder nur ein Wort: schön, schlank, einfach oder reich
gekleidet, bewaffnet u. s. w. Nun setze er sie in Handlung und im Zuge
der Handlung nehme er, wie in raschem Vorübergleiten pflückend, einen
Zug auf, z. B.: jetzt blitzte das dunkle, das blaue Auge, schüttelte er die
braunen, die blonden Locken, schlug er die Toga auseinander, hob er das
lange Schwert u. s. w. Später mag dann, um den Zuhörer genauer zu
bestimmen, bei ähnlichem Anlaß ein zweiter, dritter, vierter Zug folgen;
eine Berichtigung, Ergänzung des auf den ersten Zug rasch geschaffenen
Bildes stört ihn nicht, sondern nur eine Zumuthung, langsam und in's
Kleinste hinein gezwungen vorzustellen. ─ J. Paul gibt (a. a. O. §. 79)
noch zwei Winke: er räth dem Dichter, zu wirken durch Aufhebung, d. h.
indem er eine Gestalt zuerst verhüllt, als eine durch äußere Hindernisse
verdeckte einführt, was die Phantasie doppelt stark reizt, sie sich vorzustellen,
und sie dann erst aufdeckt; ferner durch Contrast der Farben oder Verhältnisse:
wenn z. B. die Alten eine Venus zornig darstellen, so heben die Contraste
stärker ihre Anmuth hervor, als die Verwandtschaftsfarben. Diese Kunstmittel
subsumiren sich ebenfalls unter den Begriff der Bewegung im allgemeinsten
Sinn und haben sich überdieß mit dem Verfahren zu verbinden,
die den Gegenstand in die Bewegung im engern Sinne des Seelenlebens
und der Handlung hineinzieht.


Hiemit ist nun aber nicht nur eine poetische Stylregel aufgestellt,
sondern ein tieferer Blick in das Wesen der Dichtkunst gewonnen. Jn
§. 842 ist die höchste Kraft und Bestimmung derselben ausgesprochen:
Offenbarung der innern Welt, die sich in der Handlung zusammenfaßt;
es ist gesagt, daß hier alles Aeußere in das Jnnere mündet und aus ihm
hervorströmt. Dadurch tritt der Jnhalt des §. 842 mit dem des §. 838
in eine innere Einheit: die Wiederholung des Standpuncts der bildenden
Kunst auf dem geistigen Boden der Dichtkunst ist nun in erfüllten Zusammenhang
gesetzt mit ihrer eigensten Aufgabe, die innere Welt zu erschließen.
─ Sieht man auf die Person des Dichters und den innern Prozeß seiner
Thätigkeit zurück, so begreift man, wie ihm sein eigenes Vorfühlen der
innern Zustände, die er schildert, mit dem Schauen der Gestalten, welche
deren Träger sein sollen, zu einer lebendigen Einheit so zusammenwachsen
wird, daß er sie wohl unwillkürlich sogar mimisch sich vorspielt; daher sagt
Aristoteles (Poetik 17), der Dichter müsse bei der Versetzung in die Leidenschaften
seiner inneren Bewegung selbst mit der Gebärde folgen.

[1205]

§. 848.


Durch ihre Stellung an der Grenze der Künste ist die Dichtkunst die
unmittelbare Nachbarinn des Gebiets, worin scheinlos das Wahre und Gute
vorgetragen wird und welches ihr gegenüber Prosa heißt. Sie tritt daher
leichter, als jede andere Kunst, auf diesen Boden über, indem sie die wahre
ästhetische Einheit von Jdee und Bild entmischt, allgemeine oder thatsächliche
Wahrheit mit schönen Formen nur äußerlich bekleidet und durch solchen Jnhalt
näher oder entfernter auf den Willen zu wirken sucht. Hiedurch wird immer
zugleich die ästhetische Jllusion aufgehoben, indem die Person des Dichters zu
sichtbar hervortritt.


Die Stellung der Poesie ist eine andere, als die der übrigen Künste:
sie hat zur einen Seite das Land der Kunst, zur andern das Meer der
scheinlosen, reinen Geistesthätigkeiten, welche weiterhin wieder in den Willen
und das praktische Leben führen, während ihre Schwestern, von Kunstgebiet
umgeben, mitten im Lande wohnen und daher einen größern Sprung
nöthig haben, um den festen Boden des ungemischt Schönen zu verlassen.
Während daher in der Erörterung des Stylgesetzes bei diesen nur die
Ausweichung auf den Boden anderer Künste zur Sprache kam, muß hier
schon im gegenwärtigen Zusammenhang auch die Ausschreitung in das
Gebiet des mit ästhetischen Mitteln nur äußerlich sich schmückenden Wahren
und Guten zur Sprache kommen. Die Enge der Nachbarschaft ist ausgesprochen
in der gangbaren und wesentlichen Entgegensetzung der Begriffe
Poesie und Prosa: beide werden in diese ausdrückliche Beziehung des
Gegensatzes gestellt, eben weil sie trotz der Schärfe der Grenze hart aneinander
liegen. Was Prosa sei, wäre nach den Erörterungen in der Metaphysik
des Schönen eigentlich nicht mehr zu untersuchen; doch müssen wir
darauf zurückkommen, weil diese Spannung des Verhältnisses eine spezielle
Beleuchtung verlangt. Wir gehen dabei von der Berichtigung der betreffenden
Sätze Wilhelms v. Humboldt aus. Er sagt (Aesth. Vers. S. 20),
der Unterschied des Reiches der Phantasie von dem Reiche der Wirklichkeit
bestehe darin, daß in diesem jede Erscheinung einzeln und für sich dastehe,
keine als Grund oder Folge von der andern abhänge; eine solche Abhängigkeit
könne niemals wirklich angeschaut, immer nur durch Schlüsse eingesehen
werden; der Begriff des Wirklichen mache auch das Aufsuchen derselben
überflüssig; denn hier sei die Erscheinung einfach da, brauche sich
nicht erst durch ihre Ursache oder ihre Wirkung zu rechtfertigen; sobald man
hingegen in das Gebiet des Möglichen übergehe, so bestehe Jedes nur
durch seine Abhängigkeit von etwas Anderem, und Alles, was nicht anders
als unter der Bedingung eines durchgängigen innern Zusammenhangs gedacht [1206]
werden könne, sei idealisch. Es verhält sich aber so gewiß umgekehrt,
daß nur zu fragen ist, wie Humboldt zur der schiefen Aufstellung gekommen
sei. Nicht die Wirklichkeit schlechthin stellt ihre Jndividuen wie selbständige
Erscheinungen auf, sondern so werden sie aufgefaßt von der Anschauung,
und es ist gerade die idealisirende Kunst, welche an der letztern unmittelbar
fortbildet; dagegen die Beobachtung, der Verstand geht hinter die Anschauung
zurück, welche die Dinge aus der Kette ihrer Vermittlungen herausgreift,
stellt sie durch Schlüsse nach den Kategorieen der Causalität,
des Mittels und Zweckes u. s. w. in den Zusammenhang allseitiger Bedingtheit,
und dieß ist die Prosa, welche in Wahrheit eben das gemein
wirkliche Verhältniß begreift. Die Prosa kennt nicht den Schein, als ob
ein Jndividuum absolut sei, das Einzelne ist ihr nie eine Totalität,
sie steigt als Philosophie zu der Jdee einer Totalität auf, welche im ganzen
Weltall, in den unendlichen Zeiten und Räumen, in der allseitigen Vermittlung
und Wechsel-Ergänzung alles Einzelnen real ist; diese Totalität
nennt man im speculativen Sinne concret, das Jndividuum ist in ihr als
lebendiges Glied des Ganzen gesetzt, aber sie ist nicht concret in dem Sinne,
daß das Jndividuum in ihr mangellos seine Gattung und durch sie das
Weltall in sich darstellte. Dieser Betrachtung gegenüber ist das Einzelne
auf dem Standpuncte der Prosa immer todt, und zwar ohne Unterschied
der niedrigeren und höheren Gebiete; alle Prosa liest das Allgemeine aus
seinen Jndividuen zusammen, die Poesie hat es im Jndividuum. Jene
Fäden der Causalität, welche vom Jndividuum fortleiten in den unendlichen
Progreß des Einzelnen, schneidet die Poesie gerade durch, während die Prosa
sie verfolgt. Man sieht aber, wie W. Humboldt bei seiner übrigens so
richtigen Jdee vom Schönen auf den falschen Begriff gekommen ist. Er
bezeichnet (a. a. O. S. 21) die Phantasie als einen Theil der Vernunftthätigkeit,
deren Aufgabe es ist, Alles im Zusammenhang zu fassen, zu
Einheiten und endlich zur höchsten Einheit zu verbinden. Die Phantasie
ist nun wohl eine der Formen des absoluten Geistes, in ihrem Verfahren
aber von den übrigen Formen dieser höchsten Sphäre gerade dadurch verschieden,
daß sie die Sinnlichkeit in sie heraufnimmt und die höchste Einheit
in das sinnlich Eine legt, und eben dieser Unterschied war hier zu betonen.
Ferner erkennt Humboldt als wesentlichen Grundzug des Schönen die
Tilgung des gemein Zufälligen und meint nun, diese müsse dadurch
bewerkstelligt werden, daß die Dinge in ihrem allseitigen Zusammenhang
nach Grund und Folge aufgefaßt werden. Allein auf diese Weise tilgt
eben nur die Prosa den rohen Begriff des Zufalls, indem sie zeigt, daß
das, was eine jeweilig gegebene Linie anscheinend irrationell durchkreuzt,
vielmehr nur eine Folge davon ist, daß das Ganze des Lebens ein System
von Linien bildet, die sich nach allen Seiten unberechenbar schneiden; nicht [1207]
in ihren einzelnen, beschränkten Gebieten leistet sie dieß, denn jedes derselben
überläßt die Verfolgung gewisser Durchkreuzungen in ihre Causalität einem
andern, die Philosophie nur überblickt das Ganze und versöhnt mit jeder
Störung jedes Zusammenhangs auf jedem Punct. Jm Reiche des Schönen
dagegen wird das Zufällige auf anderem Wege getilgt: es wird in seiner,
die jeweilige Linie störenden Form entweder gar nicht zugelassen, als nicht
seiend behandelt, oder in ein Furchtbares, ein Komisches aufgehoben, nimmermehr
aber durch denkenden Ueberblick des unendlichen Zusammenhangs in
Natur und Geschichte auf seine entfernten Nothwendigkeiten zurückgeführt.
Hier sind wesentlich die §§. 52 und 53 zu vergleichen. Wie konnte nun
W. von Humboldt den falschen Begriff mit seiner richtigen Jdee, daß das
Schöne eine Totalität, ein geschlossenes, nur von sich selbst abhängiges
Ganzes ist, vereinigen? Er verwechselt die organische Motivirung im
Kunstwerk und jenen Charakter der Unendlichkeit, wodurch die Jdealgestalt
alle Möglichkeiten, die Keime zu allem Großen in sich trägt, mit dem
allseitigen Netze der Begründungen und Beziehungen, worin die Dinge
außerhalb des Kunstwerks stehen und wodurch auf dem Standpuncte
der Prosa Alles auf Alles hinweist, aber auf andere Weise, nämlich auf
Kosten der freien Selbständigkeit.


Wir werfen noch einen Blick auf ein besonderes Gebiet der Prosa,
die Geschichte. Das Wesentliche ist allerdings in anderem Zusammenhange
(§. 400) schon vorgebracht und es bleibt nur wenig zu sagen übrig.
Die Grundlage des historischen Standpuncts bleibt unbeschadet seines
höheren Zieles wesentlich die, daß man erfahre und wisse, was geschehen
ist, wogegen der Dichter zur Anschauung bringt, was nie und immer geschieht,
jedoch in solcher individueller Bestimmtheit, daß der Zuhörer überzeugt
ist, es könne in einer bestimmten Zeit, an bestimmtem Ort so und
nicht anders geschehen sein, oder richtiger: es müßte, wenn es geschähe,
so und nicht anders geschehen. Aristoteles sagt in der schon zu §. 400
angeführten Stelle der Poetik (C. 9), die Dichtkunst stelle mehr das Allgemeine,
die Geschichte das Einzelne dar, und das Allgemeine bestimmt er
näher dahin, daß die Reden oder Handlungen, die einem bestimmten
Manne beigelegt werden, Möglichkeit und Wahrscheinlichkeit haben. Statt
des Letztern würden wir sagen: innere Wahrheit; eine logische Verwirrung
aber liegt darin, daß durch die Worte: „einem bestimmten Manne“ der
Begriff des Einzelnen, der vorher die Geschichte von der Poesie unterscheiden
sollte, gerade auch in diese aufgenommen ist. Aristoteles stellt hiemit
die Forderung auf, daß die allgemeine, innere Wahrheit vereinigt
sei mit dem überzeugenden Ausdruck der Jndividualität; daß das Ewige
sich darstelle als ein Solches, was auch die Energie hat, unter den Bedingungen
der Wirklichkeit zu sein. Das Richtige ist, daß sowohl die [1208]
Geschichte, als auch die Poesie, jede das Allgemeine und jede das Einzelne
hat, aber jede das letztere in anderem Sinn und daher auch das erstere
in anderem Verhältniß dazu. Die Geschichte nämlich, da es ihr um den Stoff
als solchen zu thun ist, nimmt alle die Trübungen des Einzelnen, also des
Bandes zwischen dem Allgemeinen und Einzelnen auf, welche im Naturschönen
der störende Zufall mit sich bringt, sie versöhnt mit ihnen durch den weiten
Blick über die Zeiten und Ereignisse, die Poesie aber vollbringt die Versöhnung
hier, auf diesem Puncte, indem sie dieselben ausscheidet. Ebenso
verschieden sind sie im Umfang der Aufnahme des Einzelnen. Der Geschichtschreiber
nimmt nur gelegentlich solche Züge auf, welche den Gegenstand
der innern Anschauung greiflich vergegenwärtigen, der Dichter grundsätzlich
und überall; auf der andern Seite führt jener eine Masse causaler
Vermittlungen ein, welche den Jndividuen den schönen Schein der freien
Bewegung entziehen und sie insbesondere in der Zeit mechanisirter Staatsformen
in die Schnüre des Vorgeschriebenen, Canzlei- und Ordonnanzmäßigen
einspannen, der Dichter stößt sie aus und sein Augenmerk ist, dem Menschen
seine freie Lebendigkeit zu erhalten. (Vergl. hierüber auch Hegel, Aesthetik.
Th. 3, S. 256 ff.) Dieß führt auf den Unterschied im Stoffe: die Geschichte
umfaßt Alles, die Dichtkunst meidet mechanisirte Zustände. Jm
Uebrigen ist bei dieser Vergleichung von Poesie und Geschichte vorausgesetzt,
daß sich beide in denselben Stoff theilen. Warum es unbedingt vorzuziehen
ist, wenn der Dichter in den betreffenden Zweigen seiner Kunst den Stoff
nicht frei erfindet, sondern aus der Geschichte nimmt, brauchen wir, da
unser ganzes System nach Bau und Jnhalt vor Allem gegen stofflosen
Jdealismus der Phantasie gekehrt ist, nicht weiter zu zeigen. Wenn Aristoteles
denselben Satz darauf gründet, daß das Mögliche glaubwürdiger sei,
wenn es geschehen ist, so muß man wohl bemerken, daß er vorher übersehen
hat, in dem Begriffe des Möglichen ausdrücklich den des überzeugend
Jndividuellen hervorzuheben. Der Dichter thut darum gut, sich an die
Geschichte zu halten, weil sonst seinem Werke der Schein der Naturwahrheit,
Ton, Wurf und Haltung des individuell Wirklichen abgeht; sein Werk
interessirt uns nicht, weil das, was es darstellt, wirklich geschehen ist, sondern
weil es zur Kraft des Allgemeinen die unendliche Eigenheit alles Jndividuellen
aus dem Boden des empirisch Wirklichen heraufzieht. Daß aber
die Umschmelzung schwer und daß daher der Dichter im Vortheil ist, wenn
sich ihm geschichtliche Stoffe darbieten, welche die allgemeine Phantasie, die
dichtende Sage schon umgestaltet, schon bis auf einen gewissen Grad poetisch
zugerichtet hat, ist schon öfters bemerkt und muß bei dem Drama noch einmal
aufgenommen werden. Eine Aehnlichkeit zwischen Geschichtschreibung
und Dichtung liegt endlich im Großen und Ganzen der Anordnung, worin
doch auch die erstere nach einem Gesetze der Ausscheidung, Auswahl zu [1209]
verfahren hat, die der poetischen Composition verwandt ist. Jn dieser
Beziehung vorzüglich spricht man von historischem Kunstwerk. Allein das
leitende Prinzip bleibt auch hierin für den Geschichtschreiber, daß die sächliche
Wahrheit in volles und reines Licht trete. Würde z. B. eine Thatsache
oder eine Reihe von Thatsachen noch so dunkle Schatten auf die
Jdee einer ewigen Gerechtigkeit werfen, die sich nur anderswo, in andern
Geschichtswerken über den weitern Verlauf der Begebenheiten wieder ausgliechen,
der Historiker dürfte sie der künstlerischen Anordnung zu liebe
natürlich nicht unterdrücken.


Nach dieser Auseinandersetzung wären nun die verschiedenen Arten des
Uebertritts aus der ächten Poesie in die Prosa zu beleuchten. Wir beschränken
uns aber hier auf wenige Bemerkungen, weil die Sache an
andern Orten zur Sprache kommen muß, nämlich theils in der Darstellung
der Zweige der Poesie, theils im Anhang (vergl. §. 547). Ohne Vorgriff
in die Zweige sind allerdings auch diese Bemerkungen nicht möglich. ─
Das Vortragen allgemeiner (wissenschaftlicher, ethischer, politischer) oder
historischer Wahrheit, das schließlich irgendwie immer auf den Willen berechnet
ist, also die Welt unästhetisch aus dem Standpuncte des Sollens
auffaßt, und das sich von der ästhetischen Einheit entbindet, in welcher es
nur als ein vom lebendig anschaulichen Ganzen getragenes Moment Berechtigung
hat, ist immer zugleich ein falsches Hervortreten der Person des
Dichters, eine Aufhebung der Objectivität, die, in verschiedenem Sinne zwar,
allen Zweigen zukommt, also eine Störung der Jllusion. Jm Epischen
erzählt der Dichter; er verkennt aber das richtige Verhältniß, wonach er
blos Organ ist, wenn er über seinen Stoff redet, statt ihn durch seine
Rede nur aufzuzeigen, und das Letztere geschieht, indem er seine Personen
handeln läßt. Hier müssen wir nur §. 513 das Wort des Aristoteles
wieder aufnehmen: der Dichter selbst dürfe am wenigsten sprechen, denn so
sei es nicht gemeint mit seiner Aufgabe, nachzuahmen; die Andern drängen
durchaus die eigene Person vor, ahmen Weniges oder selten nach, Homer
aber führe nach einer kurzen Einleitung geradezu einen Mann oder eine
Frau oder sonst etwas ein und nichts ohne, sondern mit Charakter. Wie
wenig ist dieß einfache Grundgesetz namentlich in unserer Romanliteratur
erkannt und befolgt! Da werden Verhältnisse, Charaktere, Stimmungen
analysirt, statt daß uns durch Handlung gezeigt würde, wie sie sind, da
hört man überall den Dichter als Psychologen, Philosophen, Moralisten,
Politiker, der sich nur dürftig und fadenscheinig in eine Handlung verkleidet
hat. Bei J. Paul, der diese unter Excerpten, Excursen, Reden, Abhandlungen,
Hundsposttagen u. s. w. fast verschüttet, hängt dieß anders zusammen,
denn er weiß eigentlich, daß er sündigt, und thut es aus humoristischem
Eigensinn doch. Eine besonders gewöhnliche Form ist die, daß weit zu [1210]
viel Gespräch eingeflochten wird; es sprechen zwar die Personen im Roman,
aber aus ihnen sichtbar der Poet, der seine Reflexionen an den Mann
bringen will und es dadurch sicher wenigstens dahin bringt, daß man ihm
gar nicht mehr glaubt, es sei ihm Ernst mit dem Erzählen. ─ Eine andere,
gröbere Form der prosaischen Entmischung ist nun das Ausweichen auf
den historischen Standpunct. Es verbindet sich, wo es auftritt, mit jenem
Ueberschusse der Reflexion; der scheinbare Dichter will sich in beiden Formen
mit dem prosaischen Bewußtsein des Lesers in Vermittlung setzen, durch
die letztere aber speziell gegen Vorwürfe, die aus diesem Bewußtsein kommen,
verwahren und decken: er kann nichts dafür, wenn dieß und das verletzt,
es ist geschehen. Ausdrückliche Versicherungen der historischen Wahrheit,
Vorworte, Randbemerkungen mit statistischen Notizen und Argumenten,
Nachbemerkungen, überflüssig spezielle Data, zu genaue Localisirungen,
Aufnahme einzelner Züge, die ohne poetische Bedeutung sind, aber die
geschichtliche Wahrheit verbürgen sollen: das Alles wirkt zusammen, dafür
zu sorgen, daß ein recht fühlbarer Erdgeschmack, ein recht schwerer Bodensatz
des Stoffartigen zurückbleibe, den kein Schütteln mit dem darüber
schwebenden Spiritus zu amalgamiren vermag. Da bleibt das Ganze tonlos,
da treten die Massen nicht in Fluß, da erklingt nicht der Strom in
jenem Rhythmus, der uns sagt, daß aller Stoff in freien Schein verwandelt
ist, daß wir eine zweite, ideale Welt vor uns haben. Man lese z. B.
jede beliebige Parthie in dem gewiß nicht talentlosen Bulwer, halte sie
neben irgend eine Parthie des Wilh. Meister und höre hin, ob der Unterschied
nicht ist wie zwischen dem Klang von Kupfer und Silber. ─ Auf
die lyrische Dichtung wollen wir noch nicht näher eingehen; der betreffende
Abschnitt wird zeigen, wie der Lyriker, obwohl er im eigenen Namen
spricht, doch sich in gewissem Sinne zu objectiviren hat, wie nahe es aber
allerdings ihm besonders liegt, sich nackt an das prosaische Bewußtsein zu
wenden. Die Reflexionspoesie ist in diesem Gebiete am meisten zu Hause;
in das Feld der historischen Prosa geräth leicht das erzählende Gedicht in
Volkslied und Kunstpoesie. ─ Jm Drama ist kein directes Hervortreten
der Person des Dichters möglich, um so näher liegt das subjective Hervorsprechen
aus den nur scheinbar objectiven Charakteren. Schiller hatte schon
große Stufen der Schülerjahre hinter sich, als er im Don Carlos noch
recht in die oberflächlich maskirte Rhetorik des subjectiven Pathos verfiel.
Seine Nachahmer brachten zu demselben Fehler nicht seine große, weltumfassende
Seele mit. Schiller erkannte seine Blöße, nahm seinen Geist in
die Zucht der strengen Realität des geschichtlichen Stoffs und gründete mit
seinem Wallenstein das neuere historisch politische Drama. Aber seine
Nachfolger wußten die Umschmelzung nicht zu dem Puncte zu führen, auf
dem sie trotz so vielen Resten von Dualismus bei Schiller schon angelangt [1211]
ist. Vielmehr im Drama gerade geht das tendenziös rhetorische Pathos und
neben ihm die stoffartige Schwere des Historischen recht im Schwange. Dabei
bemerkt man doch auch, abgesehen von dem pathetischen Peroriren hinter der
Maske, ein im engeren Sinne merkliches Selbstsprechen des Dichters, und
dieß in allen Gattungen, auch im Lustspiel: es werden Entwicklungen von
Sachlagen, namentlich Expositionen im Anfang, Auseinandersetzungen der
Stimmungen, Leidenschaften gegeben, denen man augenblicklich ansieht,
daß die dramatische Person eigentlich nicht mit den andern auf der Bühne,
noch mit sich selbst, sondern mit den Zuhörern spricht, also eigentlich der
Dichter. Das ist zugleich ein Rückfall in die Kindheit des Drama, wo
Einer herauskam und dem Publikum direct erzählte, er sei bös, zornig,
dieß und das verhalte sich so und so. Auch die zu umständlichen Anweisungen
für das Spiel beweisen, daß dem Dichter das prosaische Wissen
um die Execution und das Publikum über die Schulter sieht.


§. 849.


Aus dem Verhältnisse der Prinzipien der directen und indirecten Jdealisirung
(§. 844) geht auch in der Poesie ein Gegensatz zweier Stylrichtungen
hervor. Die eine behandelt im Geiste der Plastik die innere und äußere Welt
allgemeiner, einfacher, ungebrochener und regelmäßiger, die andere, dem ächt
malerischen Verfahren entsprechend, verfolgt eine buntere Welt in die tieferen
Brüche des Bewußtseins und der Erscheinung, in die härteren Bedingungen des
Daseins und in die schärfste Eigenheit der Jndividualität und schreitet bis zu
den kühnsten Verbindungen des Ernsten und Komischen fort. Jene wird, vermöge
gegründeter Uebertragung des Geschichtlichen auf einen bleibenden Unterschied,
vorzüglich in der Poesie die classische genannt (vergl. §. 438). Jn keiner
andern Kunst ist Kampf und Wechselwirkung beider Style so durchgreifend und
befruchtend, wie in dieser.


Es muß hier nachdrücklich auf §. 676 verwiesen werden, wo das
Wesen und die ganze Bedeutung der zwei entgegengesetzten Style für die
Malerei auseinandergesetzt ist. Zwischen dieser und der Poesie besteht, wie
sich aus allem Bisherigen ergibt, die tiefste Verwandtschaft auch hierin, in
der letzteren behauptet jedoch (vergl. §. 844) das Prinzip der directen Jdealisirung
neben dem entgegengesetzten, das entschieden zur Herrschaft gelangt
ist, sein Recht in stärkerem Maaße fort, daher es in der Geschichte dieser
Kunst, in der Periode, deren Geist der plastische war, eine vollkommen
reife, den Bedingungen dieses Kunstgebiets rein entsprechende Poesie gegeben
hat, eine Poesie, die auf dem Standpunct ihres Jdeals so ganz
und aus Einem musterhaften Gusse war, daß von ihr der Name des [1212]
Classischen entnommen ist, wie er nicht nur dem Besten und Vollkommensten,
sondern in engerer Bedeutung dem Style gegeben wird, der auf
jenem Prinzip der directen Jdealisirung ruht, nach welchem die einzelne
Gestalt schön sein soll. Auch in der Malerei nennt man die entsprechende
Richtung die classische, die classicirende; man bemerke aber dabei wohl, daß
dieser Styl hier seine Muster nicht eigentlich in den Werken der Alten auf
demselben Kunstgebiete, vielmehr auf dem einer andern Kunst, der Sculptur,
hat, wogegen die classisch fühlende, zeichnende, componirende Richtung in
der Poesie ihre Vorbilder eben in den alten Meistern derselben Kunst findet
und der verwandte Charakter der Bildnerkunst nur zur näheren Belehrung
über ihr Wesen beizuziehen ist. Die Bezeichnung trifft daher noch weit
enger zu, wenn man (unter den nöthigen Einschränkungen) die Dichtung
der romanischen Völker, unter den Deutschen Göthe's und Schiller's im
Gegensatze vorzüglich gegen Shakespeare, die classicirende nennt, als wenn
man den älteren und jüngeren Akademikern der Malerei in Frankreich, den
Carstens und Wächter in Deutschland diesen Namen gibt. Die durchschlagende
Bezeichnung classisch und romantisch, wie sie nicht nur einen geschichtlich dagewesenen,
sondern bleibenden Unterschied der Auffassung im Auge hat, ist
im Gebiete der Poesie aufgekommen, der große Gegensatz der Style hier
früher, ausdrücklicher, tiefer erkannt worden, als auf allen andern Kunstgebieten:
natürlich, weil der geistigsten Kunst ein ausgesprochneres Bewußtsein
ihrer Gesetze, eine ausgebildetere Kritik zur Seite geht. Seit dem
Kampfe gegen Gotsched dreht sich Alles um diese Angel, Shakespeare ist
der Name, in welchem man Alles zusammenfaßt, was man unter dem
naturalistischen und individualisirenden Style begreift. Um was es sich
eigentlich handelt, kann man sich auf empirischem Weg am besten veranschaulichen,
wenn man deutlich das Schwanken zwischen zwei Stylen in
Göthe's Egmont beobachtet, wenn man in Schiller's Wallenstein genau
unterscheidet, wo unter dem Einflusse des großen Britten die gesättigte
Farbe der vollen Lebenswahrheit und wo dagegen die generalisirende Allgemeinheit
des Jdealismus durchdringt, wenn man die Aeußerung von Gervinus
über Schiller's Charaktere: sie halten sich in einer Mitte zwischen
der typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare (Neuere
Gesch. d. poet. Nat.=Lit. d. Deutsch. Th. 2. S. 506) wohl überlegt. Letztere
ist zwar nicht ganz richtig; diese Mitte suchen wir erst, sie ist das Ziel unserer
Poesie, aber das Wort gibt viel zu denken. ─ Der §. faßt in Kürze die
schon in früheren Abschnitten mehrfach besprochenen Grundzüge beider Style
noch einmal zusammen und hebt als neuen Zug nur die kühnere Mischung
des Ernsten und Komischen hervor; jede weitere Auseinandersetzung an der
gegenwärtigen Stelle wäre zweckwidrig, weil in der Folge der große Unterschied,
von dem es sich handelt, auf allen Hauptpuncten hervortritt und [1213]
zur Sprache kommt. Nur gewisse Bestimmungen, Definitionen desselben
sind hier noch zu berücksichtigen, um Einwürfen vorzubeugen. Jn der
Grundlage seiner Weltanschauung haben wir den classischen Styl wesentlich
als einen objectiven bestimmt („das Jdeal der objectiven Phantasie“
§. 425). Widerspricht dieß nicht dem Begriffe des Jdealistischen? Wie kann
man von dem klar schauenden, gegenständlichen Göthe und von dem subjectiven
Schiller gemeinschaftlich das Classiciren aussagen? Allein man
muß richtig unterscheiden. Jm classischen Style wird verlangt, daß die
einzelne Gestalt schön sei, daher greift er nicht tief in die spezielleren Züge
der Existenz hinein, gibt mehr Typen, als Jndividuen, berührt nur die
reinen, lichten Gipfel der Dinge. Göthe und Schiller in ihrer durch die
Alten geläuterten Periode haben dieß gemein; von dem Unterschiede, der
übrigens zwischen ihnen stattfindet, ist hier zunächst ganz abzusehen und
ebenso von den Einschränkungen, die im Gemeinschaftlichen selbst daraus
entspringen, daß Schiller vermöge seiner drastischen Energie durch Shakespeares
Einfluß vielfach zur gesättigteren, keckeren Farbengebung geführt wird.
Durch jene Keuschheit nun, die sich scheut, in die Einzelzüge der Dinge bis
zu einer gewissen Spezialität einzugehen, ist der Geist des classischen Styls
idealistisch, nimmt die großen Schritte des Kothurns; dem unbeschadet ist
aber seine Auffassung an sich streng sächlich, ihr verwandelt sich alles Jnnere
ganz in ein Bild, das so fest und in so klaren Umrissen dasteht, wie eine
Statue; sie setzt keinen Rest von Subjectivität. Von dieser Seite betrachtet,
steht Schiller der classischen Auffassung ganz ferne und fällt sogar
in die rhetorische Entmischung der ästhetischen Elemente (§. 848). Wir
haben den Charakter des classischen Jdeals früher auch einen realistischen
genannt (§. 439, 3.); darauf kommen wir nachher zurück, um namentlich
in dieser Bezeichnung verwirrendem Mißverständnisse zu steuern. Vorerst ist
noch zu verhüten, daß nicht ein Begriff zur Unzeit herbeigebracht werde,
welcher den richtigen Gegensatz ebenfalls umzustoßen droht: in gewissem
Sinn ist nämlich Göthe subjectiver, als Schiller, indem jener in Gemüthskämpfen,
dieser in Thaten und Geschichte als dem eigentlichen Elemente
seines Dichterberufes sich bewegt; dieß geht aber die Grundstimmung der
ganzen Persönlichkeit und den durch sie bestimmten Jnhalt, nicht den
Styl der Poesie an; es hat freilich auch wesentlichen Einfluß auf denselben,
allein diese Ursache des verschiedenen Colorits gehört nicht hierher.
Wir gehen jetzt hinüber zu dem entgegengesetzten Style, um hier ebenso
die Begriffe zu ordnen. Schiller nennt ihn sentimental; diese Begriffsbestimmung
ist im Ganzen und Großen beurtheilt in Anm. 1 zu §. 458.
Es bleibt das Wahre, daß im romantischen und modernen Jdeale die innere
Welt über die äußere wiegt und daher ein subjectiver Stimmungshauch
sich über alle Gebilde der Poesie legt, in welchem die Umrisse zu verzittern [1214]
scheinen; allein der Charakter der ganzen Auffassung ist damit nicht erschöpft;
und ebensowenig durch W. v. Humboldt's entsprechende Unterscheidung der
zwei Style als des bildenden und stimmenden (Aesthet. Vers. Abschnitt
XIV). Es handelt sich nämlich darum, wie das Uebergewicht der
subjectiven Welt in der Art der dichterischen Zeichnung der Gegenstände
sich äußere; und hier tritt ein Merkmal auf, das mit dem Sentimentalen,
blos Stimmenden gerade in Widerspruch zu stehen scheint. Eine Vergleichung
zwischen Homer und Ariost, wie sie W. v. Humboldt (a. a. O. Abschn. XXI)
anstellt, dient nicht dazu, dasselbe zu finden, das halb ironische, halb sentimentale
Spiel der Einbildungskraft ist eine vereinzelte Erscheinung ohne
Anspruch auf Allgemeinheit. Das Wahre ist vielmehr, daß der Geist, der
die Dinge im Lichte der innern Unendlichkeit auffaßt, gerade eine schärfere
Zeichnung der Einzelzüge begründet, als jener Jdealismus, weil im Lichte
des eröffneten Zusammenhangs mit der unermeßlich vertieften inneren Welt
selbst das Kleine, Enge, höchst Eigenthümliche berechtigt, bedeutend wird.
Der Styl, welcher vermöge des vorherrschenden Stimmungstons nach der
einen Seite einen gewissen musikalischen Nebel über die Dinge legt, ist
daher ebenderselbe, welcher diesen Nebel plötzlich zerreißt und in alle Falten
und Winkel der Welt, selbst in die häßlichen, Strahlen von einer Schärfe
schießt, vor welchen der classische zurückscheut. Die Schönheit aber resultirt
dann eben als stimmungsvoller Geist aus dem Ganzen. Es mag in gewissen
Zweigen der Dichtkunst, die sich in diesem Elemente bewegt, Erscheinungen
geben, welche sich ganz in jenem empfindungsvollen Dufte
halten, zu keinerlei Härte und Schärfe fortgehen und doch gut sind, aber
im Ganzen und Großen wird, wo die bewegte Subjectivität der Auffassung
herrscht, das Verfolgen des Objects in die engere Naturwahrheit wesentlich
mitgesetzt sein. Dieß nun hat man im Auge, wenn man diesen Styl den
realistischen nennt; der classische heißt so, wenn man die Objectivität der
Vergegenwärtigung überhaupt, der naturalisirende und individualisirende,
wenn man Grad und Umfang des Hereinziehens der Einzelzüge des Daseins
betont; Realismus im letzteren Sinn ist die gründliche Versetzung
künstlerischen Bildes in die volleren, härteren Bedingungen der Existenz,
der ausführlichere Schein des Lebens. Man sieht, wie sich diese Bestimmungen
herumwerfen: beide Style sind in gewissem Sinne idealistisch und
beide in gewissem Sinne realistisch; der erstere ist idealistisch im Sinne der
strengeren Ausscheidung der particularen Züge, der zweite ist in diesem
Sinne realistisch, der erste ist realistisch, weil er keine verborgene Jnnerlichkeit
kennt, der zweite ist in dem Sinn idealistisch, daß er seinen Ausgang
von dieser Tiefe nimmt. Jdealismus als Bezeichnung des ersteren kann
weniger mißverstanden werden, aber den Namen realistisch, der sonst für
den zweiten gebraucht wird, haben wir vermieden, um der Verwirrung zu [1215]
entgehen, und die freilich unbequemen Benennungen: naturalistisch und
individualisirend vorgezogen; wir werden jedoch von nun an beide Begriffe
auch in dem Ausdrucke charakteristisch zusammenfassen. Jn §. 39 ist
gezeigt, daß der Begriff des Charakteristischen in der Lehre vom Schönen
an sich zu einer müßigen Streitfrage führt, aber auch vorgesorgt, ihm in
der concreten Kunstwelt ohne Mißverständniß seine Anwendung zu sichern.
Uebrigens vermeiden wir es, diesen Styl romantisch zu nennen, ihm also
einen geschichtlichen Namen beizulegen, wie dem andern. Er ruht ja keineswegs
ebenso auf einem musterhaften Vorbilde, das im Mittelalter gegeben
wäre, wie dieser auf dem ewigen Vorbilde des Alterthums; seine Grundlagen
sind dem Mittelalter und der neuen Zeit gemeinschaftlich, den Unterschied
in der Entwicklung derselben verfolgen wir hier noch nicht. Der Begriff
des Romantischen hat überdieß durch eine krankhafte Art, das Mittelalter
zu erneuern, einen schiefen Nebenton bekommen. ─ Das Schwere in
den Unterscheidungen liegt aber auch darin, daß in der Poesie noch mehr,
als in der Malerei, die beiden Stylrichtungen sich mannigfach durchkreuzen
und brechen, daß in beiden Lagern verwickelte Mischungen aus dem Entgegengesetzten
sich darstellen. Daraus erhellt jedoch nur um so mehr die
besondere chemische Kraft, welche in der Poesie diesem Gegensatze zukommt.


§. 850.


Der poetische Styl, wie er im sprachlichen Ausdruck erscheint, hat1.
die prosaisch gewordene Sprache so zu behandeln, daß mit der Bezeichnung
auch das Bild des Bezeichneten in selbständiger Kraft vor der Phantasie ersteht
und sich lebendig bewegt. Die Dichtkunst wirkt dadurch schöpferisch und Sprachbildend
stets von Neuem auch auf die Prosa zurück. Da aber das Ganze2.
ihrer Thätigkeit auf lebendige Veranschaulichung gerichtet ist und da sie die
Nachahmung der Malerei zu vermeiden hat (§. 847), so ist sie in den einzelnen
Mitteln
einfach und spart den reicheren Glanz den Momenten der
entsprechenden Stimmung auf. Systematische Aufzählung dieser Mittel setzt die
Prosa voraus und gehört der Rhetorik an; die Poetik hat nur die wesentlichen
Formen derselben zu unterscheiden.


1. Wir haben (§. 836 Anm.) gesehen, wie zwar auch im gewöhnlichen
Gebrauche der Sprache das Sprachzeichen immer ein Bild des Bezeichneten
vor die innere Vorstellung ruft, aber dieß Bild nothwendig matt und unbestimmt
bleibt, wie mit dem Fortschritte des Bildungszwecks der Sprache
das Band zwischen Bedeutung und Wort mehr und mehr dem Mechanismus
bloßer Gedächtniß-Verknüpfung weicht. Die Sprache, wie sie dadurch geworden,
dient dem prosaischen Bewußtsein, das keine Absicht haben kann, [1216]
die Einzelvorstellungen, die es in seinen verständigen Zusammenhang reiht,
für die innere Anschauung zu beleben. Es ist nun nicht nur vergessen,
warum ein Gegenstand so und nicht anders genannt wird, das Denkbild
wird nicht nur immer blasser, sondern es verliert auch eine immer größere
Anzahl von Wörtern ihre ursprünglich sinnliche Bedeutung und wird in
der metaphorischen gebraucht, als wäre dieß die eigentliche (z. B. Herz,
wirken, entwickeln). Jenes Wort, daß die Poesie älter sei, als die Prosa,
gilt daher nicht nur von der früheren Ausbildung der ersteren als Anschauungsweise
überhaupt und im Liede, das lebendig von Mund zu Munde
gieng, ehe es eine Kunst der prosaischen Darstellung geben konnte, sondern
im weiteren, unbestimmteren Sinne von der sinnlichen Frische der ursprünglichen
Sprache der Naturvölker und der damit verbundenen Vorstellung.
Eigentliche und wahre Poesie setzt jedoch die Prosa voraus, entspringt aus
einer Macht des Geistes, die mit dieser ringt und das ideale Weltbild aus
ihr herausarbeitet. Je weiter die Prosa, als Bildungsform und Auffassungsweise
überhaupt, vorgeschritten, desto schwerer freilich ist dieser Kampf,
desto schwerer erklingt die spröde Verständigkeit der Sprache im Munde des
Dichters. Seine Aufgabe nun ist, dafür zu sorgen, daß das Wort dem
Hörer nicht mechanisches, todtes Zeichen bleibe, er muß ihn zwingen, zu
sehen und Belebtes, selbständig Lebendiges zu sehen. Der §. unterscheidet
diese beiden Seiten, denn es handelt sich von dem doppelten Berufe
der Poesie, nach der einen Seite das Wesen der bildenden Kunst, nach
der andern die Natur der Musik geistig auf ihrem Boden wiederherzustellen
(§. 838 und 839); daß er Gestalten vor uns hervorruft, darin gleicht
der Dichter dem bildenden Künstler, daß diese Gestalten sich bewegen, von
innerem Leben erklingen, darin ist er dem Musiker verwandt. Dieser Unterschied
wird seine Anwendung finden, wenn wir die Arten der Mittel, wodurch
die Phantasie vom Dichter zum lebendigen Bilden aufgerufen wird,
näher auseinandersetzen. Zunächst muß hier noch die Rückwirkung auf
die Prosa, die Sprache überhaupt hervorgehoben werden. Nach Wortbildung
Wörterverbindung, Wortstellung, Periodenbau, Kraft, Lebendigkeit und
Reichthum anschaulicher directer und bildlicher Bezeichnungen verdankt die
gewöhnliche Sprache dem stetigen Einflusse der Dichtkunst, noch mehr den
plötzlichen und reichen Strömen, die in den großen Momenten ihrer
Wiedergeburt hervorbrechen, unendliche Befruchtung. Man muß z. B.
wissen, wie viele Ausdrücke, die wir jetzt als höchst natürliche und schlichte
gebrauchen, Gotsched noch als ganz entsetzlich verwarf (wir nennen: das
Jauchzen, das ewige Schaffen, das Lächeln, das Jugendliche). Mit
Klopstock brach damals die schöpferische Sprachkraft herein und Göthe's
jugendliche Poesie wimmelt von Sprachbildungen, in welchen die kühne und
doch so warme, milde, weiche Gestaltungskraft sprudelt. Hat sich aber die [1217]
Prosa diese Schöpfungen angeeignet, so werden sie allmälig auch verbraucht
und fallen hinüber zu dem gemeinen Vorrathe der durch Gewohnheit abgeschliffenen
Sprachmünze, die man verwendet, ohne dabei innerlich etwas
zu schauen. Diese Abnützung ist von furchtbarer Stärke. Man bedenke
nur, daß ja die Sprache ursprünglich keine unsinnliche Bezeichnung hatte,
daß ein Wort um das andere seine sinnliche Bedeutung in eine geistige
verwandeln mußte, gegen deren schöne metaphorische Bedeutung man mit
der Zeit stumpf wurde. Wie dieß im Ganzen und Großen geschah, so
wiederholt es sich immer im Einzelnen. Der abreibende Verbruch wird
vermehrt durch eine höchst tadelnswerthe Verschwendung, welche ohne Noth
Bezeichnungen voll organisch anschaulicher Kraft für das Gewöhnlichste
ausgibt. Wie schön ist das Wort Entwicklung und wie Viele brauchen
es, wo Werden, Wachsen, sich Bilden und dergl. vollkommen hinreichend
wäre! Wie treffend ist Hegel's: „von Haus aus“ und wie hat man es
für alles und jedes Anfängliche verschwendet! Jm ausdrücklich Bildlichen
kommt dazu, daß so manche schlagende Vergleichung im ernsten Sinn unbrauchbar
wird, weil sie zu häufig komisch verwendet worden und die blöde,
frivole, stumpfe Messe nicht fähig ist, den Vergleichungspunct fest im Auge
zu behalten und nach dem Uebrigen nicht umzusehen. Wir könnten keinen
Helden mehr mit einem Eber, Esel vergleichen wie Homer, das Nibelungenlied,
das A. Test., das Kameel haben uns die Studenten weggenommen.
Shakespeare durfte ein sehr helles Auge mit dem der Kröte vergleichen und
kein Lachen gebildeter Weinreisender befürchten, die wohl meinen, er habe
nicht gewußt, daß die Kröte im Uebrigen häßlich ist. Die Stärke und
Raschheit der Abnützung fordert allerdings stets auf's Neue die Zeugungskraft
der Poesie heraus, führt aber zugleich die Versuchung mit sich, daß
der sprachliche Ausdruck sich überhitze, übersteigere, um ja der stark und
weit angewachsenen Prosa zu trotzen. Dieß führt zu dem wichtigen Satze,
den der zweite Theil des §. aufstellt.


2. Das Ganze der poetischen Schöpfung und die einzelnen Mittel derselben
im sprachlichen Ausdrucke sind streng zu unterscheiden. Jenes muß
ursprünglich so empfangen sein, daß die Jdee nicht anders, denn als lebendige
Gestalt vor dem Jnnern des Dichters steht, und daraus ergeben sich ihm
die Mittel, wodurch er sein Bild in den Zuhörer überträgt, mit innerer
Nothwendigkeit; diese Nothwendigkeit mag ihm selbst verborgen sein, er mag
im Einzelnen zweifeln, wählen, verändern, sie leitet ihn dennoch als Gesetz
und die Bemühung um das Einzelne ist daher nicht, wie es scheint, ein
besonderer, zweiter Act seines Thuns. Ausdrücklicher Accent, den er auf
die einzelnen Schönheiten legt, als bestünden sie für sich, erregt daher bei
Allen, die um das wahre Wesen der Dichtkunst wissen, den Verdacht, daß
es gelte, Blößen des Ganzen zu verhüllen. Man wird bei den großen [1218]
Dichtern eine Grundlage tüchtiger Nüchternheit, gesunder Trockenheit finden;
ohne diese herbe Wurzel schwebt die Phantasie taumelnd in der Luft. Jst
nur das Ganze poetisch empfangen und empfunden, so mag es im Uebrigen
gut schlicht und natürlich hergehen. Man sehe z. B. wie außerordentlich
einfach die Begebenheit in der Braut von Corinth erzählt ist; eine Menge
von Wendungen kommen vor, die unsere Bilderüberwürzten, in jedem
Wort aufgestelzten modernen Lyriker als platt und prosaisch verachten würden,
aber welcher Stimmungshauch zittert über den einfachen Worten, wie düster
spannend, bebend schreitet die Handlung fort, wie ist Alles geschaut! Wenn
im Drama ein Charakter wie leibhaftig geschaffen ist, hat er dann nöthig,
in jeder einzelnen Rede den Mund voll zu nehmen? Der epische Dichter,
wenn er zu viele ausdrückliche Anstalten trifft, sein inneres Bild vor unsere
Anschauung zu bringen, fällt in jenes Malen, das wir als Vergehen gegen
den poetischen Styl in §. 847 aufgezeigt haben. Einfachheit darf freilich
nie mit Dürftigkeit verwechselt werden; das deutsche Epos mit seinen trockenen
Farben, seiner unentwickelten Jntention der Anschauung gibt ein Beispiel.
Selbst den Durchbruch reicherer Fülle, prachtvoller Bilder-Häufungen schließt
das Gesetz der Sparsamkeit nicht aus; wo immer Sache und Stimmung
den Begriff des Vollen und Ergiebigen mit sich führen, muß auch die
Sprache sprudeln. Man vergegenwärtige sich z. B. Shakespeare's Prachtstelle
voll Ueberschwall der Bilder in Heinrich IV, Abtheil. 1, Aufzug 4,
Sc. 1: „Ganz rüstig, ganz in Waffen“ u. s. w.; hier mußte, um ein in
strotzendem Kraftgefühl und jugendlicher Kriegeslust heranwimmelndes Heer
zu schildern, auch der Ausdruck strotzen und wimmeln. Die Komik ohnedieß
fordert stellenweis ihre verschwenderischen Witzspiele. Geht aber der
Dichter zu ausdrücklich auf die einzelnen Schönheiten, so wird er sie auch
in der Quantität ohne wahres Motiv steigern. Es ist vorzüglich die Ueberfülle
derselben, was Argwohn gegen die innere Poesie des Ganzen erregt.
Die ganze orientalische Dichtung häuft die Pracht des Einzelnen in dem Grade,
in welchem das innere Verhältniß zwischen Jdee und Bild nicht das organisch
ästhetische ist; sie schlägt dem symbolischen, ästhetisch dürftigeren Kern einen
um so reicheren, mit Bilderbrillanten besäten Mantel um. Schiller's zu
glänzender Jambenstrom verräth einen innern Mangel seiner poetischen Begabung,
wo er nicht durch feurige Energie im speziellen Zusammenhange
motivirt ist. Jn seiner Jugendpoesie geht die Uebersättigung des Styls
vielfach bis zur Absurdität der euphuistischen Phrasen und concetti, aber
er hat sich geläutert und wie tief er theoretisch das Richtige erkannte, zeigt
Nro. 377 im Briefwechsel mit Göthe, wo er den folgereichen Satz von
einem gewissen Antagonismus zwischen Jnhalt und Darstellung ausspricht:
sei der Jnhalt bedeutend, so könne eine magere Darstellung ihm recht wohl
anstehen, wogegen ein unpoetischer, gemeiner Jnhalt, wie er in einem größeren [1219]
Ganzen oft nöthig werde, durch den belebten und reichen Ausdruck poetische
Dignität erhalte. Dazu hätte er setzen können, daß auch höchst bewegte
Leidenschaft üppige Fülle des letzteren motivire. Dieser Begriff eines Antagonismus
leitet aber schließlich auf die Bemerkung, daß der Dichter, der
ohne Motiv seine einzelnen Mittel steigert, die Bedeutung des bloßen Vehikels
vergißt, welche der Sprache als der Darstellungsform der Poesie zukommt.
Sie soll dem reinen, durchsichtigen Wasser gleichen, durch das wir die Gebilde
auf dem Grunde sehen. J. Paul's Styl geht von dem schweren
Jrrthum aus, daß die Sprache für sich ein dicker, salzüberfüllter Säuerling
sein müsse, und quält uns mit der Entzifferung der lästig pikanten Form,
wo wir den Jnhalt suchen.


Es ist keine Frage, daß eine genaue Analyse und logische Aufreihung
der einzelnen Mittel, wodurch sich die poetische Sprache von der prosaischen
unterscheidet, auch für die Poetik von tiefem Jnteresse wäre, denn die Wissenschaft
hat Alles zu würdigen und in die kleinste Falte des Einzelnen einzudringen.
Ausgegangen aber ist das Jnteresse für dieses Gebiet, das man
unter dem Namen der Tropen und Figuren begriff, von der Rhetorik,
also der Wissenschaft einer praktischen Thätigkeit, welche auf der Prosa ruht,
die scheinlos aufgefaßte Wirklichkeit durch Bestimmung des Willens zu verändern
den Zweck hat und hiezu als Mittel Phantasie und Empfindung
aufbietet. Die Voraussetzung, daß das Ganze prosaisch sei, lag zu Grunde
in der Art, wie man nun die einzelnen Mittel untersuchte; man dachte an
keine tiefere Ableitung, man erkannte nicht, wie in einem Gebiete, das ganz
und wesentlich der Phantasie gehört, jede einzelne Form der Veranschaulichung
und Belebung nur Ausfluß davon ist, daß das Ganze anschaulich
lebt, kurz, wie der Dichter auch im Einzelnen darum individualisirt, weil
das Ganze Jndividualisirung ist. Ueberdieß hat von jeher die trübste logische
Verwirrung, die dürftigste äußere Aufreihung in diesen Erörterungen
geherrscht. Es wäre aber eine gründlichere Untersuchung und Berichtigung
nicht sowohl Aufgabe der Aesthetik, als vielmehr einer getrennten Poetik.
Jene hat keinen Raum dazu übrig; wir werden nur einige Hauptpuncte
aus dieser Lehre von den Tropen und Figuren berühren.


§. 851.


Es sind, unter Vorbehalt, daß der Gegensatz kein abstracter ist, nach §. 8501.
die Mittel der Veranschaulichung und der Belebung, des Bildes und
der Stimmung, also objective und subjective, mehr malerische und mehr
musikalische Formen zu unterscheiden. Beiden steht die allgemeine, negative
Bestimmung voran, daß die Dichtkunst alle blos beschränkenden Ausdrücke scheut.
Die Veranschaulichung in ihrer einfacheren, directen Form legt sich im Satze vor-2. [1220]
züglich auf das Epitheton. Jm indirecten Verfahren, noch abgesehen von
der Herbeiziehung eines Subjects aus anderer Sphäre, vertauscht sie die Begriffsmomente
in verschiedener Weise, selbst in derjenigen, daß sie das Abstracte
für das Concrete setzt, jedoch so, daß sie hier zur Verwandlung des Begriffs
in eine Person übergeht; alle Mittel der Veranschaulichung drängen als beseelend
wesentlich zur Personification hin.


1. Der vorh. §. hat zu der hier aufgestellten Unterscheidung bereits den
Grund gelegt. Es versteht sich jedoch, daß sie nur relativ ist: die bildlichen
Mittel stellen der Phantasie ein Objectives gegenüber, sie fließen aber natürlich
auch aus erhöhter Stimmung und erregen solche, und umgekehrt, die belebende
Stimmung fördert natürlich auch die Kraft der innern Anschauung.
Tropen und Figuren als Formen der Anschaulichkeit und der Lebhaftigkeit,
der Einbildungskraft und des Gefühls, als malerisch und musikalisch zu
unterscheiden ist also unter diesem Vorbehalte richtig. Uebrigens bringt die
gewöhnliche Aufzählung unter den Figuren Solches, was, auch den Vorbehalt
angenommen, doch entschieden vielmehr unter die Formen der Anschaulichkeit
gehört; hat man doch sogar die Personification und Comparation
unter jene gestellt. Eher konnte man die Sermocination (die eine Person
oder Personification außerhalb des Drama's redend einführt) als Ausdruck
der wärmsten Belebung einer übrigens der Veranschaulichung angehörigen
Form, und ähnlich die Hyperbel als eine wesentlich auf der Stimmung
ruhende Steigerung der Metapher zu den Figuren herüberziehen.
Note: Hyperbel als Steigerung der Metapher – Parallelkategorie? Metapher wird hier noch nicht explizit als Tropus definiert. Uebrigens
fällt die Unterscheidung von Mitteln der Anschaulichkeit und der Lebhaftigkeit
dem Umfange nach mit den Tropen und Figuren nicht zusammen; Tropus
bedeutet Vertauschung des Subjects, indirecte Bezeichnung in verschiedenen
Weisen und und Graden; die Theorie der poetischen Ausdrucksformen hat
keinen allgemeinen Namen für den anschaulichen Ausdruck, der unbildlich
ist, d. h. keine zweite Anschauung zur Beleuchtung eines gegebenen Jnhalts
herbeibringt, und dieß ist der stärkste Beweis dafür, daß sie bisher ihre
Aufgabe für die Poetik gar nicht begriffen, nicht geahnt hat, wie es sich
hier von einem Grundgesetze der Dichtkunst, dem der Jndividualisirung überhaupt,
handelt, wovon das tropische Verfahren nur ein Theil ist.


Der §. stellt nun zuerst eine allgemeine negative Bestimmung über das
ganze vorliegende Gebiet voran, die nämlich, daß die Poesie im Ausdrucke nichts
Halbes, blos Limitirendes, Vorbehaltendes, Theilendes duldet. Weil in
ihr Alles leben soll, soll auch Alles ganz sein, lieber kühn bis in's Unglaubliche,
als beschnitten. Ausdrücke wie „ziemlich, einigermaaßen, theilweise,
insofern, so zu sagen“ erkälten augenblicklich, legen sich wie Mehlthau
auf den poetischen Zusammenhang. Vom bildlichen Verfahren kann hier
anticipirt werden, daß aus diesem Grunde die Metapher poetischer ist, als [1221]
die Vergleichung.
Note: Das „Wie“ oder „Gleichsam“ ist eine Verwahrung vor
der vorausgesetzten Prosa, daß man Bild und Jnhalt nicht verwechsle, und
stürzt ebendaher in diese. Das Komische freilich nimmt die Prosa absichtlich
auf und liebt darum die beschränkenden Redeformen (z. B. „Gottwalt begann
mäßig zu erstarren“), und so werden sie poetisch verwendbar wie
kümmerliche Körperformen malerisch, aber dieß bestätigt nur ihren negativen
Charakter.


2. Es sind nun zuerst die einfachsten Mittel der Veranschaulichung zu
betrachten. Die Poesie soll das Wort nicht als einen für die Phantasie
todten Begriff liegen lassen. Da das Hauptwort als Subject des Satzes
aus der allgemeinen Sprache vertrocknet, wie es in ihr geworden, übernommen
wird, so liegt das nächste Mittel, seinen Begriff für die Phantasie
zu beleben, in der Eigenschaftsbestimmung. Sie tritt hier wesentlich als
Zusatz, nicht als das durch die Copula zu vermittelnde Prädicat auf; es
handelt sich zunächst nicht um die Aussage, die durch den Satz erst erwachsen
soll, sondern, noch abgesehen von dieser, um eine Entwicklung des Subjects
an sich für das innere Schauen. Die Bezeichnung epitheton ornans will
dieß sagen, ist aber wohlweis nüchtern, weil man dabei nicht bedenkt, daß,
was vom prosaischen Standpuncte blos anhängender Schmuck, vom poetischen
wesentliche Aufthauung des im Wort erstarrten Bildes ist. Diese Auswicklung
ist der Poesie so unentbehrlich, daß sie ihre Epitheta, natürlich vor
Allem im epischen Gebiete, gern als stehende fixirt, und zwar keineswegs blos
als geläufiges Mittel der Versfüllung; Homer's geflügeltes Wort, hauptumlockte
Achaier, langhinstreckender Tod lassen uns nie stumpf, so oft sie
auch wiederkehren. Was schon mehrfach über das Gesetz der Einfachheit
der Anschauungsmittel gesagt ist, das gilt nun sogleich auch vom Epitheton.
Jn der neueren Poesie gibt namentlich Göthe's Hermann und Dorothea
lehrreiche Beispiele. W. v. Humboldt (Aesth. Vers. Abschn. XXX) entwickelt
treffend, wie die einfachen, wenigen Prädicate: tüchtig, groß, stark, gewaltig,
bei der ersten Schilderung von Dorothea, wo wir sie die Stiere des Wagens
lenken sehen, getragen vom großen poetischen Zusammenhang, ein ideales
Bild vor uns aufbauen. Ebenso steht durch die Wirkung des Zusammenhangs
im Anfang der Melpomene mit den wenigen Worten: ─ „des
hohen wankenden Kornes, das die Durchschreitenden fast, die hohen Gestalten,
erreichte,“ eine heroisch große Anschauung vor uns. Unsere Prosa
hat sich so verwöhnt, mit starken bildlichen Ausdrücken umzuwerfen, daß
wir gegen die Kraft des einfachen Prädicats, wenn es treffend ist, gegen
die Feinheit der Wahl des schlicht Bezeichnenden, kurz, gegen die Wahrheit
fast abgestumpft sind; uns heißt Alles nur sogleich herrlich, schauerlich,
glühend, strahlend, lachend u. s. w., wir fühlen kaum die Schönheit und
Wirksamkeit der Adjective dunkel, sanft, blau, still, hoch im Anfang des [1222]
Liedes: „Kennst du das Land,“ wir vernehmen kaum mehr das Rauschen
des Haines, dessen Wipfel Jphigenie nicht etwa gewaltig, erhaben u. dgl.,
sondern reg nennt, oder die geisterhaft herbstliche Stimmung in den Worten
des Mephistopheles: wie traurig steigt die unvollkommene Scheibe des
rothen Monds mit später Gluth heran, wir unterscheiden kaum, wie viel
poetischer Wallenstein von hohlen, als von leeren Lägern spricht. Gerade
unsere sinnlich starken Bezeichnungen sind durch die Verschwendung, indem
man nicht mehr nach dem passenden Orte fragt, allgemein, abstract geworden.
Wie matt muß dem, der an lauter spanischen Pfeffer gewöhnt ist, es
erscheinen, wenn Göthe seinen Hermann nur wohlgebildet, den Vater den
menschlichen Hauswirth, die Mutter die zuverläßige Gattin nennt! Die
letzteren zwei Prädicate sind nicht versinnlichend, sondern moralisch; der
Dichter hat ja überhaupt ebensosehr zu vergeistigen und zu verallgemeinern,
als zu individualisiren; dieß Verfahren verfolgen wir hier im Allgemeinen
nicht, eine besondere Wendung desselben aber wird zur Sprache kommen. ─
Es gilt nun aber auch natürlich vom Epitheton, daß durch die allgemeine
Vorschrift der Sparsamkeit das Häufen der Mittel im Moment ergiebig
hervorquellender Stimmung keineswegs ausgeschlossen ist; unsere Phantasie
kann recht wohl die successiven Prädicate in ein simultanes Ganzes zusammenfassen;
Jphigenie geht gleich im zweiten Vers in die warm beschleunigte
Prädicat-Häufung: des alten, heil'gen, dichtbelaubten Haines über und
Beispiele noch viel reicherer Fülle sind in der ächten Poesie unendlich. ─
Die Versinnlichung legt sich nun aber natürlich auch in die Bezeichnung
des Zustands oder Thuns durch das Zeitwort. Hier ist immer die
nähere, schärfere, sinnlichere Beziehung der allgemeineren vorzuziehen. Es
ist poetischer, zu sagen: der Schmerz wühlt, gräbt, nagt, bohrt im Jnnern,
als: er bewegt, erfüllt es u. s. w.
Note: Es tritt hiemit, wie in diesem Beispiel,
meist schon metaphorische Bezeichnung ein und führt dieß daher zu der Betrachtung
des bildlichen Verfahrens im engeren Sinne des Worts; davon
soll erst nachher spezieller die Rede sein, aber es ist unumgänglich, schon bei
dem Epitheton es zu erwähnen
Note: Epitheton ornans als Parallelkategorie , ebenso das metonymische Verfahren, wo der
Dichter statt der ganzen Thätigkeit eine nähere Erscheinungsseite derselben herausstellt;
wir führen hiezu nicht im Scherz als ächt harmonisch gefühlt an, wenn
Hebel, wo er den Wohlstand eines Landgeistlichen schildert und unter Anderem
seine Schweinezucht erwähnt, nicht etwa sagt: in den Wäldern mästet
sich, sondern: knarvelt d'Su. Das Verbum kann allerdings auch umgekehrt
die Enge des Sinnlichen vergeistigend erweitern, dieß führt jedoch
ebenfalls zur Metapher.
Note: ─ Bei genauerer Analyse wäre nun zu zeigen,
wie die veranschaulichende Kraft den Satz entwickelt, mit Zwischensätzen
gliedert (z. B. in Hermann und Dorothea, wo der Pfarrer dem Vater den
Ring vom Finger zieht und in Parenthese steht: nicht so leicht, denn er [1223]
war vom rundlichen Gliede gehalten) und dem einzelnen Sprachmittel seine
Wirkung durch den Zusammenhang, durch Hintergrund, Folie, Contrast
sichert; wir müssen uns aber mit diesen Andeutungen begnügen, um nun vom
Einfacheren zum Kühneren, von dem Verfahren, das den Gegenstand beläßt
und nur dem Auge auffrischt, zu dem fortzuschreiten, das ihn löst und lockert,
jedoch nur, um die zersprengte gemeine Ordnung der Dinge mit neuem,
freiem Leben zu durchschießen und in das Licht einer höheren Einheit zu
rücken. Hier beginnen denn die sogenannten Tropen oder Vertauschungen
und es handelt sich zuerst von derjenigen Art derselben, welche nicht eine Erscheinung
aus einer andern Sphäre vergleichend oder verwechselnd herbeizieht,
sondern bei dem Gegenstand und seiner Sphäre stehen bleibt: es ist die sogenannte
Metonymie (eine geistlose Bezeichnung, als gälte es blos Namensverwechslung)
und Synekdoche. Jene bewegt sich in geschloßnerem Kreis,
indem sie die concreten Verhältnisse und Erscheinungsseiten des Gegenstandes
vertauscht: Stoff, Werkzeug, Zeichen, Wirkung, eine der Wirkungen, einen
Theil für das, was aus dem Stoffe besteht, für den Träger des Werkzeugs,
Zeichens, für die Ursache, für das Gesammte der Wirkungen, für das
Ganze setzt u. s. w. Es ist z. B. selbst in der Prosa poetisch, wenn es
heißt: tausend Säbel, Bajonette, Segel für Reiter, Fußgänger, Schiffe.
Die Synekdoche ist ein gewaltsamerer Act, indem sie das logische Verhältniß
des Gegenstands in seiner ganzen Sphäre auflöst, Abstractes mit dem
Concreten, Art und Jndividuum mit der Gattung vertauscht und umgekehrt.
Es ist nicht passend, die Verwechslung des Ganzen und der Theile ihr
zuzuzählen, weil diese im geschloßnen Umkreise des concreten Subjects stehen
bleibt; wir haben sie daher zur Metonymie gezogen. Die meisten Formen
der Vertauschung, die man unter dieser aufführt, fallen ebenso gut, als
unter den Begriff von Wirkung, Werkzeug u. s. w., auch unter den des
Theils für das Ganze: so das angeführte Segel für Schiff, so wenn der
Dichter sagt: sein Brod mit Thränen essen statt: betrübt sein; jenes ist eine
Wirkung der Betrübniß oder ein Theil ihrer Wirkungen. Daran knüpft
sich denn von selbst, daß die Metonymie auch im eigentlichen Sinn Theil
und Ganzes vertauscht, z. B. Schwelle für Haus setzt. Man kann die
Classificationsverhältnisse, welche die Synekdoche verwechselt, nothdürftig auch
als Ganzes und Theile auffassen, aber dieß führt nur zur Verwirrung.
Wichtig ist nun bei dieser Form, daß sie nicht nur dem Gesetze der Jndividualisirung
folgend das Einzelne und die Art statt des Allgemeinen und
der Gattung setzt (z. B. Cicero statt Redner, Hund statt Thier), sondern,
was diesem Grundstreben zu widersprechen scheint, auch das Allgemeine,
Abstracte für das Besondere, Einzelne, Concrete, das Jahrhundert für: die
in ihm lebenden Generationen, die Menschheit, statt: die Menschen, die
Hoffnung statt der Hoffenden, Friede, Krieg statt der darin Begriffenen, [1224]
Buhlschaft statt der Kleider, womit sie sich putzt, der Mord statt: der Mörder.
Es ist nun dieß zunächst gar nichts Anderes, als eine logische Abbreviatur,
welche alle Sprache, auch die ganz gewöhnliche Prosa übt; dennoch bedarf
es nur eines Schritts, um von dieser scheinbar weitesten Entfernung zu
dem lebendigsten Mittelpuncte der Poesie umzulenken. Dieß geschieht nicht
etwa blos dadurch, daß der Dichter das Abstractum setzt, wo es die Prosa
nicht gesetzt hätte; wenn z. B. Makbeth vor der Ermordung Duncan's sagt:
jetzt geht der Mord an sein Geschäft, so hätte hier auch die gewöhnliche
Rede Mord, statt: Mörder setzen können. Der Dichter erhebt vielmehr,
was annähernd oder wirklich in jedem Momente wärmeren Antheils der
Phantasie auch die Prosa vollzieht, dann abgenützt in unzähligen Wendungen
stehend wiederholt (die trauernde Menschheit, die lächelnde Hoffnung, das
schnellschreitende Jahrhundert u. dergl.), zum vollen Acte: er beseelt, er personificirt
das Abstractum. Dieß geschieht durch originale Belebungskraft
im Epitheton und im Verbum mit ihren weitern Entwicklungen und Zusätzen:
der dürre Mord, geweckt von seiner Schildwacht, dem Wolf, der
das Signal ihm heult, fährt auf und schreitet hin nach seinem Ziel gespenstisch;
die seidne Buhlschaft liegt im Kleiderschrank (wie ein lebendiges
Wesen, das zur todten Puppe geworden); der Krieg sträubt den zornigen
Kamm und fletscht dem Frieden in die milden Augen; dieser schlummert in
der Wiege des Landes, tritt „mädchenblaß“ unter die Menschen, jener als
gluthaugige, schnaubende Jungfrau. Es erhellt, daß dieß Personificiren
derselbe Act ist wie der, durch welchen die Götter entstanden sind, mit dem
Unterschiede, daß er freier ästhetischer Schein bleibt, während in der Mythologie
die bedeutendsten seiner Schöpfungen sich im Glauben als wirkliche
Wesen festsetzten. Doch hat das mythische Bewußtsein neben diesen seinen
festgeglaubten Personificationen natürlich auch in frei poetischer Weise denselben
Act, nur gerade noch erleichtert durch die Gewohnheit des Götterbildens,
fortwährend in der reichsten Fülle ausgeübt; die Alten zeigen in
der Beseelung allgemeiner Begriffe eine Kühnheit, Bewegtheit der Phantasie,
die man von ihrer plastischen Ruhe kaum erwartet. Bei Sophokles heißt
die Hülfe heiterblickend, Reden bei Euripides und Aristophanes unfreundlich
blickend, bei Pindar hat das im Werden begriffene Lied ein fernleuchtendes
Antlitz, selbst der Seele werden Augen zugeschrieben, die Verläumdung hat
brennenden Blick, wie bei Shakespeare die Eifersucht ein grünaugiges Ungeheuer
ist, (vergl. Ueber personific. Adjectiva und Epitheta bei griechischen
Dichtern. V. C. C. Hense). Noch Horaz hat phantasievolle Anschauungen
dieser Art, wie z. B. die Sorge, die sich hinter den Reiter auf's Pferd setzt.
Shakespeare's besonderes Feuer und Alles belebender Reichthum im Personificiren
genoß, wie bekannt, eine Unterstützung, welche fast als Surrogat
jener mythischen Gewöhnung der Phantasie betrachtet werden kann: nämlich [1225]
in den sog. Moralitäten, welche mit der größten Keckheit jeden moralischen
Begriff als dramatische Person einzuführen pflegten. Es war dieß freilich,
da es ohne mythischen Glauben geschah, zunächst Allegorie; allein die
dramatische Aufführung gab dem persönlichen Bild etwas Ueberzeugendes,
die Geläufigkeit etwas Haltbares und es durfte nur die Zauberkraft des
Genius dazu kommen, so sprang statt der Allegorie ein Wesen hervor, das
wenigstens im Augenblicke der poetischen Anschauung wahres Leben hat,
kein Gott, aber etwas wie eine Geister-Erscheinung. So zur Kühnheit
gewöhnt und durch die entsprechende Gewohnheit seines Publikums gehalten
konnte Shakespeare es wagen, sogar die Luft einen ungebundenen Wüstling,
den Wind einen Buhler, das Gelächter einen Geck zu nennen, das Mitleid
als nacktes Kind auf Wolken einherfahren zu lassen, den Ariel anzureden:
mein schöner kleiner Fleiß (als ob der Fleiß ein persönlicher Geist und dieser
Ariel wäre) und ─ wunderbar schön ─ von der Zeit zu sagen: der alte
Glöckner, der kahle Küster. Es sind dieß nicht eigentlich Metaphern, der
Dichter vergleicht nicht, er beseelt den Begriff in sich und aus sich zur
Person. Doch werden wir sehen, daß in der Metapher, die das Vergleichen
verschweigt, mehr oder weniger von solcher Jnnigkeit des immanenten Beseelens
liegt.
Note:


Zu diesem Gipfel der belebenden Veranschaulichung, der Personification,
dringen nun die Formen des poetischen Ausdrucks, und zwar eben auch die
bisher betrachteten einfacheren, überhaupt mit aller Gewalt hin. Es handelt
sich jetzt nicht mehr blos von abstracten Begriffen, auch das Sinnliche, jede
Erscheinung, die kein oder für sich kein besonderes Leben hat, wird so behandelt,
daß ein eigener Geist in sie zu fahren scheint. Da Brutus Dolch
den Cäsar durchbohrt, folgt ihm das Blut, als stürzt' es vor die Thür',
um zu erfahren, ob wirklich Brutus so unfreundlich klopfte; dieß ist wie
eine Vergleichung ausgedrückt, wir dürfen aber das kühne Bild von der
Erörterung des Gleichnisses und der Metapher getrennt betrachten, weil es
so schlagartig wirkt, daß das Blut eine fühlende Seele für sich zu haben
scheint. Wenn bei Homer die Lanze hastig stürmt, wenn der Pfeil mit
Begierde fliegt, im Fleische zu schwelgen, so ist dieß ebenfalls solche unmittelbare
Beseelung. Die Alten sind auch hierin nicht weniger kühn, als
ein Shakespeare; Erz, Helm, Feuer, Fackel, Licht, Tag, Wolke, Pflanze,
selbst der glänzende Tisch haben Augen, die Felskluft ist hohläugig, ja
sogar das nur Hörbare, der Ruf der Stimme heißt bei Sophokles fernsehend
oder ferngesehen (vergl. Hense a. a. O.) Das ist durchaus nicht
ein mühsames Herbeiziehen, sondern ein sehr phantasiereiches Schauen,
wie die frische Einbildungskraft des Kindes in Allem Gesichter sieht, und
daraus erwächst eine allgemeine Belebung der Natur.

[1226]

§. 852.


Die andere, mehr äußerliche, aber farbenreichere Hauptform des indirecten
Verfahrens, der Tropus, zieht vergleichend eine Erscheinung aus einer
andern Sphäre herbei; verschweigt sie diesen Act und scheint das Verglichene
identisch zu setzen, so ist sie eigentliche Uebertragung, Metapher; Note: Tropus wird generell als eine vergleichende Form definiert, Vgl. somit als Oberkategorie; Metapher kann hier sowohl als verkürzter Vergleich wie auch als Übertragung annotiert werden; Übertragung jedoch expliziter entlehnt
diese ihr Bild aus dem beseelten Leben, so fällt sie in ihrer höchsten Lebendigkeit
mit der Personification zusammen. Schlagende Kraft des Vergleichungspunctes
ist im ernsten Gebiete (über den Unterschied des komischen vergl. §. 199) der
Charakter des ächten Bildes. Note: Metapher fällt mit Personifikation zusammen: Parallelkategorien


Jn den bisher aufgeführten Formen wird nicht ein Fremdes, das einen
eigenen Körper hat, mit dem vorliegenden Subjecte, dem ebenfalls eigene
Erscheinungsform zukommt, zusammengebracht, so daß wir diese zwei vermittelst
einer Eigenschaft, die beiden gemein ist, in Einheit zusammenfassen
sollen; jenes Verfahren ist, auch wo es die Momente eines Ganzen, eines
Ordnungsverhältnisses vertauscht, einfacher, bleibt in der Sache, erwärmt
und beseelt sie von innen heraus; dieses ist zwiefältig, unruhiger, macht
einen Sprung, ist äußerlicher und daher gewaltsamer. Die eigentlichen
Tropen, von denen es hier sich handelt, sind ebendarum weniger poetisch.
Was zu §. 850 von Bedeckung poetischer Blößen durch Glanz des Ausdrucks
gesagt ist, gilt namentlich diesem bildlichen Verfahren im engeren
Sinne des Worts. Es versteht sich, daß darum die ächte Poesie auf das
Bild nicht kann verzichten wollen. Es ist vermöge seiner springenden Natur
colorirter, als jene andern Formen, und viele Stellen fordern die buntere
Farbe; der Geist in wärmerer Bewegung, sei sie eine sanftere und beschauliche
oder feurige und wilde, fühlt den natürlichen Drang, seinen Gegenstand,
damit er in seinem Werth nachdrücklicher erscheine, nicht nur in einfacher,
sondern in doppelter Beleuchtung, sozusagen im Sonnen- und Kerzenlichte
zugleich zu zeigen; der Vergleichungspunct, der das innerste Wesen des
Gegenstands mit verdoppeltem Accente betont, ist das farbigere Kerzenlicht.
Jn diesem Drange liegt aber noch ein Tieferes: einerseits weidet sich in
solchem Umherschauen nach vergleichbarem Stoff aus andern Sphären die
Phantasie an ihrer eigenen Schönheit, jedoch in der ächten Dichtung niemals
selbstsüchtig, sondern in dem guten Sinne, daß durch die Freiheit, durch das ideale
Ueberschweben, worin sie sich genießt, die innige Vertiefung in das bestimmte
Object, dem die Vergleichung gilt, nicht gestört wird; es ist eine Befreiung
von stoffartigem Festkleben, eine Lösung in der Beschränkung, deren Natur
besonders da einleuchtet, wo sie der Dichter einer poetischen Person als ihren
eigenen Act beilegt, so daß wir Zeugen eines objectiven Schauspiels sind,
worin der Mensch von seiner Leidenschaft sich befreit, indem er alle Bilderkraft [1227]
der wühlenden Phantasie aufbietet, sie darzustellen. Vergl. über diesen
Sinn des vergleichenden Verfahrens Hegel Aesth. Th. 1. S. 521 ff., wo
namentlich die letztere Seite an Richard II treffend auseinandergesetzt ist.
Schließlich aber erkennen wir darin, wenn nicht der einzelne Vergleichungs=
Act, sondern diese Form überhaupt und ihre nimmer ruhende Thätigkeit
in's Auge gefaßt wird, die allgemeine, metaphysische Wahrheit, daß alle
Wesen der Welt Glieder Einer Kette sind und in unendliche Anziehungen
der Verwandtschaft treten können, daß das All im Flusse der innern Einheit
sich bewegt.


Wir eilen nun, ohne auf die sogen. Allegorie im engeren Sinne des
Worts (eine durch mehrere Momente durchgeführte Metapher, welche in
der Art verdeckt ist, daß sie den verglichenen Gegenstand verschweigt und
räthselartig errathen läßt) einzugehen, zu dem Unterschiede des Gleichnisses
und der Metapher.
Note: Unterkategorie der Metapher: Allegorie? (als spezielle Form der Metapher) Die Metapher ist die kühnere, feurigere Form, indem
sie das Wie und So wegläßt und die zwei verglichenen Erscheinungen wie
identisch zu schauen nöthigt.
Note: Mit solcher Energie verfährt Shakespeare,
wenn sein Othello nicht sagt: mein Herz ist wie versteinert, sondern: mein
Herz ist zu Stein geworden, ich schlage daran und die Hand schmerzt mich.
Note: Othello (Othello wird als Figur erwähnt), Quelle: William Shakespeare: Othello https://textgridrep.org/browse/-/browse/vn7q_0
Die Satz-Entwicklung kommt hier noch dazu, die verglichenen Zwei wie
identisch zusammenzuzwingen,
Note: Quelle: Othello (siehe vorherige Paraphrase) ebenso wenn Othello einen Beweis verlangt,
an dem kein Häkchen sei, den kleinsten Zweifel d'ran zu hängen.
Note: Quelle: Othello; Quelle/Autor ergibt sich aus vorheriger Paraphrase Kürzer tritt die
Metapher durch den bloßen Genitiv oder eine Präposition auf, die das zur
Vergleichung Beigezogene zur Eigenschaft, Attribut, Theil eines zunächst unbildlich
gesetzten Ganzen zu machen scheinen, welches aber mittelbar dadurch
in seiner Totalität bildlich wird
Note: ( z. B. „die Thore, eurer Stadt geschloßne
Augen“
Note: Quellenannahme: William Shakespeare: König Johann https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnjn_0, oder: „hier, nur hier, auf dieser Sandbank in der Zeit“Note: Wortlaut offenbar verändert (...Sandbank unserer Zeitlichkeit) Quellenannahme: William Shakespeare: Macbeth https://textgridrep.org/browse/-/browse/vn2s_0; dort
wird die Stadt zu einer Person
Note: Quellenannahme: William Shakespeare: König Johann https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnjn_0, hier die Zeit zu einem MeerNote: Quellenannahme: William Shakespeare: Macbeth https://textgridrep.org/browse/-/browse/vn2s_0); es ist dieß
eine Form, die enger bindet, als das bloße Epitheton
Note: Epitheton als Parallelkategorie (wie: Wunden, diese
Fenster, die sich aufgethan, dein Leben zu entlassen), doch geht letzteres wieder
in eine stärkere Form über, wenn das Verglichene nicht genannt, sondern
nur darauf hingezeigt wird (wie statt: Lippen: diese schwellenden Himmel).
Eine ganz gewöhnliche Wendung, die doch in der Lehre vom h. Abendmahl
auf so wilde Verhärtung stieß, ist die Bindung durch die Copula; lebendiger
ist das Band, wenn das Bild als bewegte Form im thätigen oder leidenden
Zeitworte liegt oder von diesem kühn subsumirt wird
Note: Nennung: Lehre vom hl. Abendmahl (Quelle/Werk: Neues Testament?) , wie wenn Hamlet
„Dolche zu seiner Mutter spricht.“
Note: Wortlaut offenbar verändert; Hamlet (als Figur genannt); Quelle: William Shakespeare: Hamlet https://textgridrep.org/browse/-/browse/vncw_0─ Die ruhigere Form des bildlichen
Verfahrens, das Gleichniß, gewinnt dagegen, was sie zu erzwingen verzichtet,
indem sie Bild und Gegenstand auseinanderhält, durch stetigen Fortschritt
in ihrer Entwicklung, wie Northumberlands schönes Bild: Ganz
solch ein Mann, so matt, so athemlos u. s. w. (Heinrich IV, Abth. 2.
Act 1, Sc. 1.); natürlich verstärkt sich die überzeugende Kraft, wenn an die [1228]
Stelle der Vergleichungsformel die mimische Darstellung tritt, wie in der
Vergleichung der Krone mit zwei Eimern in Richard II, in so vielen
classischen und namentlich orientalischen Erzählungen.


Was nun das Verhältniß der Sphären des Verglichenen und zur
Vergleichung Hergeholten betrifft, so gibt es, genau genommen, nur Einen
wesentlichen Unterschied: es wird Engeres mit Weiterem verglichen, vom Einzelnen
zum Allgemeinen, vom Sinnlichen zum beseelteren Sinnlichen und zum
Geist aufgestiegen oder umgekehrt vom Allgemeinen, Geistigen zum sinnlich
Geschloßneren übergegangen. Wenn Sinnliches mit Sinnlichem verglichen
wird, so wird man immer finden, daß entweder der verglichene Gegenstand
unorganisch, unbewegt, oder unbeseelt organisch, das Bild bewegt, organisch,
beseelt ist (wie wenn z. B. treibende Wolken mit gejagten Rossen verglichen
werden), oder umgekehrt (wie wenn ich ein feurig bewegtes Roß mit Wellen,
seine Mähne mit deren schäumendem Kamm vergleiche); und ähnlich wird,
wenn Geistiges in Geistigem sein Gegenbild findet, der Weg der Vergleichung
vom Jndividuelleren, von dem, was im Geistigen relativ sinnlich ist, in
das geistig Allgemeinere, das reiner Geistige gehen oder umgekehrt, es wird
namentlich auf der einen Seite Geistiges mit seiner sinnlichen Aeußerung
zusammengenommen, auf der andern diese abgezogen bleiben (wie wenn
eine reine Empfindung mit einem Gebete, eine rasche Handlung mit der
Schnelle eines Gedankens verglichen wird). Der natürliche und gewöhnlichere
Weg ist nun, wie sich aus dem Gesetze der Jndividualisirung von
selbst ergibt, der vom Allgemeinen zum Besondern, vom Geiste zum Körper,
vom Menschlichen zu der ungeistigen Natur. Allein man hüte sich, diese
Begriffe ungenau zu nehmen; sie werden nach Umständen schwierig, was
zunächst absteigende Vergleichung scheint, ist, genauer betrachtet, aufsteigende,
die aufsteigende aber hat im Bilde etwas relativ Absteigendes. Das Natürliche,
das Körperliche, kann von unbestimmter Weite, ungeschlossener Gestaltung
sein, dann sucht der Dichter das anschaulich Bestimmte, individuell
Geschlossene gern im persönlichen Leben, weil dieß individuelle Gestalt hat;
geht er aber nicht von einem Sinnlichen unbestimmter Art zu persönlich
Lebendigem als Ganzem, sondern von einem Besondern, selbst Persönlichen
nur zu einer allgemeinen geistigen Bestimmtheit, einem Zustand, einer
Thätigkeitsform über, so ist der Prozeß verwickelter. Hier wird man nämlich
immer finden, daß vorher das Allgemeine dunkel personificirt wird und
erst auf diesen Vorgang die aufsteigende Vergleichung sich gründet. Wenn
Leontes von Hermione sagt: sie war mild wie Kindheit und wie Gnade,
so schweben diese dem Dichter dunkel wie Personen, wie Götter mit entsprechenden
Zügen vor und mit diesen absoluten Wesen, worin jene Eigenschaften
in unbedingter Reinheit angeschaut sind, wird dann Hermione
verglichen. Wenn Lenau die düstre Wolke einen am Himmelsantlitz wandelnden [1229]
bangen, schweren Gedanken nennt, so ist der Gedanke eben in seiner
sinnlichen Erscheinung genommen, wie er über das Angesicht hinzieht, und
dahinter liegt überdieß noch die Personification, daß der Gedanke wandelt.
Man wird überhaupt finden, daß man alle wirklich aufsteigenden Vergleichungen
erst umkehrt und dann erst wieder in die gegebene Stellung
bringt. Man könnte z. B. sagen: dieses Fackellicht gleicht Shakespeare's
Styl; dann wird der Zuhörer sich besinnen, warum man das poetische
Colorit dieses Dichters mit dem flackernden, in's Dunkel unruhig glühenden
Feuer der Fackeln vergleichen kann, und hierauf wird er mit der Vergleichung
im umgekehrten Weg einverstanden sein. Der Geist läßt sich mit dem lichtvoll
Durchsichtigen vergleichen; ich kann nun umgekehrt von einem strahlenden,
durchleuchteten Wasserspiegel sagen: das ist, wie Geist. Man steigt von
der Materie auf, um den Geist in sie hereinzusehen. Es ist eine Art von
Genugthuung, die das Sinnliche dafür erhält, daß es sonst immer nur
als Gegenbild dient; der tiefere Grund und Trieb ist immer der, daß die
Phantasie von allen Puncten ausgeht, um Geist und Materie wechselnd zu
durchdringen, den Gegensatz von allen Seiten anfaßt, diese zu beseelen und
jenen zu verkörpern. Doch ist das aufsteigende Vergleichen zu sparen und
behutsam zu verwenden; es wird leicht geschraubt, gemacht, sublimirt. Lenau
z. B. hat das Maaß weit überschritten, er erscheint auch darin unnatürlich
überhitzt und vernichtet oft eine schöne Anschauung durch das geistige Gegenbild.
So wird im Gedichte: die nächtliche Fahrt, das düster schöne Bild
der durch das nächtliche Schneegefilde im Schlitten geführten Leiche durch
die Vergleichung mit dem Schicksale Polens plötzlich zur Allegorie, zur
bloßen Hülse herabgesetzt. Die aufsteigende Vergleichung wird leicht wider
Willen komisch, wenn der Sprung zu stark, namentlich wenn er moralisirend
ist. Kant bewunderte noch den Vers: „die Sonne quoll hervor, wie
Ruh' aus Tugend quillt“, worüber wir jetzt lächeln. Die ganze Gattung
eignet sich aber vortrefflich für die absichtliche Komik (er sah aus wie eine
Predigt, sie ist ein Lehrgedicht und dergl.).


Es ist klar, daß die Metapher und trotz dem auseinanderhaltenden
„Wie“ selbst die Vergleichung in ihrer höchsten Jnnigkeit und Energie das
Bild, wenn es ein beseeltes ist, nicht neben dem Verglichenen stehen lassen,
sondern in dieses herüberziehen, als wäre es seine Seele.
Note: Wir sind zu der
Personification von der Synekdoche übergegangen und haben bei den Bemerkungen
über allgemeine Beseelung schon Solches beigebracht, was zunächst
metaphorisch, tiefer genommen Beseelung, beseelende Personbildung ist. Die
Synekdoche setzt das Allgemeine der eigenen Sphäre des Gegenstands für
diesen; Gleichniß und Metapher bringen ihr Bild aus fremder Sphäre und
doch vollbringen auch sie einen freien augenblicklichen Schein, als wäre das
Eine im Andern gegenwärtig.
Note: Parallelkategorie: Synekdoche, mögl. auch Vergleich Wenn Exeter in Heinrich V sagt: meine [1230]
Mutter kam mir in's Auge und übergab mich den Thränen
Note: Paraphrase, da nicht als Zitat markiert; Quelle: William Shakespeare: König Heinrich V. https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0, so wird sich
eine lebendige Phantasie dieß nicht in die trockene Aeußerlichkeit der Vergleichung
auflösen: eine weibliche Rührung kam über mich, als würde der
Theil meiner Natur, den ich von meiner Mutter geerbt, über den männlichen
Herr, sondern ein Bild wird vor uns auftauchen, als schwebte der
Geist der Mutter herein in den Sohn wie ein Thauwind und schmölze
seine männliche Härte
Note: Quelle: William Shakespeare: König Heinrich V. https://textgridrep.org/browse/-/browse/vnf1_0. Vergleichungen der äußern Natur mit Geistigem
werden frostig, allegorisch, wenn das Bild zu bestimmt heraus und neben
die Sache hingestellt ist. Es mögen wohl z. B. in gewisser Stimmung
die letzten Wellenschläge nach einem Sturm im Gefühl anklingen wie das
Nachzucken einer Leidenschaft, die sich eben erst gelegt hat, aber wenn Lenau,
nachdem die Naturerscheinung geschildert ist, mit „also zuckt nach starkem
Weinen“ u. s. w. fortfährt, so tritt das moralische Phänomen äußerlich
neben das natürliche und vernichtet eigentlich dieses, statt innig hineingefühlt
zu sein.


Jn aller Vergleichung soll natürlich der Vergleichungspunct treffend,
schlagend sein. Othello's Bild für das schauerliche Nachwirken von Jago's
Einflüsterungen über Desdemona's Tuch: „o, es schwebt um mich so wie
der Rab' um ein verpestet Haus“ ist ein schönes Beispiel tiefer Zweckmäßigkeit
im Gleichniß. Ruhige Kraft des Ueberzeugens ziemt vorzüglich
der epischen Poesie; Göthe's Geist erweist sich in der einfachen Nothwendigkeit
und plastischen Sicherheit seiner Bilder als vorzüglich episch, selbst
im Drama. Wir greifen aus der unendlichen Fülle nur als nächstes, bestes
Beispiel das tief schlagende Bild des Orestes in der Jphigenie von den
Furien heraus, die ihn nur so lange verschonen, als er im Heiligthum
Dianen's weilt: „Wölfe harren so um den Baum, auf den ein Reisender
sich rettete“. Auch in der Prosa ist er außerordentlich reich an solchen ruhig
treffenden Bildern (z. B. an Frau v. Stein auf der Harzreise: „die Menschen
streichen sich bei meinem Jncognito recht auf mir auf wie auf einem Probirsteine“;
─ „behalten Sie mich lieb auch durch die Eiskruste, vielleicht wird's
mit mir wie mit gefrornem Wein“; ─ aus der Schweiz: „Himmelsluft,
weich, warm, feuchtlich, man wird auch wie die Trauben reif und süß in
der Seele“). Es muß aber auch ächt poetische Bilder, und zwar im ernsten
Gebiete, geben, die nicht unmittelbar einleuchten und doch tief treffend sind.
Dieß führt auf den Unterschied der Style und muß bei der Betrachtung
desselben zur Sprache kommen.


Die Vorschrift, im Bilde zu bleiben, kann den ächten Dichter
nicht unbedingt binden. Wirkliche Verstöße, die man als sog. Katachresen
zu den Sünden gegen den Geschmack zählen muß, finden nur da Statt, wo
durch einen eigentlichen lapsus der Aufmerksamkeit aus einer Vergleichungs=
Region in eine andere übergeschritten wird, die keine naturgemäße Verbindung [1231]
mit der ersten zuläßt, oder wenn mit fühlbarer Absichtlichkeit ein
Bild ausgesponnen und doch nur scheinbar festgehalten wird, wobei gewöhnlich
Verwechslungen der verglichenen Seite des Subjects mit andern
Seiten desselben sich einschleichen (vergl. J. Paul Vorsch. d. Aesth. §. 51
das Beispiel aus Lessing), oder endlich, wenn eine üppige Phantasie keine
Grenze mehr achtet und mit Kühnheiten, die bei richtigerem Maaß erlaubt
wären, gar zu freigebig ist, wie die romantische mit ihren ewigen klingenden
Farben, duftenden Tönen, singenden Blumen u. s. w. An und für
sich ist es nichts weniger, als unnatürlich, wenn die Verwandtschaft, worin
die bereits als Bild dienende Erscheinung mit andern steht, die Phantasie
anzieht, von jener zu diesen weiter zu gehen, um den verglichenen Punct
immer voller, kräftiger zu beleuchten und allerdings auch, um neue Puncte
oder Seiten des Gegenstands, sofern es nur mit heller poetischer Einsicht
geschieht, in die Vergleichung einzuführen. So ist z. B. ein Feuerregen ein
gewöhnlicher Ausdruck; wenn nun ein Affect wegen seiner verzehrenden Gewalt
mit Feuer verglichen wird, so bezeichnet der Regen die Fülle, die gehäuften
Schläge seiner Aeußerung und ein Feuerregen zorniger Worte ist ein durchaus
natürliches Bild. Der Dichter kann auch im Bilde bleiben, eine andere
Seite desselben hervorheben und auf eine andere Seite des Verglichenen
anwenden wie in den schönen Worten des Orestes: die Erinnyen blasen
mir schadenfroh die Asche von der Seele und leiden nicht, daß sich die letzten
Kohlen von unsers Hauses Schreckensbrande still in mir verglimmen. Mit
dem Worte „letzten“ wird hier das Leiden in Orestes Seele in den Begriff
des allgemeinen Unglücks seines Hauses, das mit ihm endigen sollte, umgewendet.
Die Grenzlinie, hinter welcher für die Uebergänge aus einem
Bild in das andere, aber freilich auch für das einfache Fortführen eines
Bildes das Abgeschmackte beginnt, ist freilich zart und läßt sich darüber im
Allgemeinen nichts bestimmen, als daß der Act des Vergleichens in seinem
Wesen immer ein einfacher Wurf der Phantasie bleiben muß, nie in ein
Festrennen und Zerren übergehen darf, denn dieß fordert den Verstand heraus,
der den Schein höhnisch aufhebt. Shakespeare hat bekanntlich in seiner
jugendlichen Periode jenem abgeschmackten Mode-Tone seiner Zeit, den man
Euphuismus nannte, nicht geringen Zoll gezahlt; doch ist nicht zu übersehen,
daß manche besonders seltsame Bilder, die in dieß Gebiet gehören,
mit dem offenbaren Bewußtsein überkühner Hyperbeln gebraucht sind, die
einen besonders tiefen und starken Affect bezeichnen sollen. So haben dieselben
in ihrer Absurdität doch einen eigenthümlich starken Hauch von
Stimmung, wie wenn Richard II sagt: macht zu Papier den Staub und
auf den Busen der Erde schreib' ein regnicht Auge Jammer. Wie dieser
unglückliche Fürst so in seinem Schmerze wühlt, brütet er (─ der Bilderwechsel
in diesen Worten sei auch erlaubt ─) ein andermal die Hyperbel [1232]
aus: selbst die fühllosen Brände des Kamins, bei dem die Königin seinen
beklagenswerthen Fall erzähle, werden mitleidsvoll das Feuer ausweinen und
theils in Asche, theils kohlschwarz um die Entsetzung eines ächten Königs
trauern. Shakespeare fühlte hier gewiß das Kindische und wollte es, ohne
daß er darum ganz entschuldigt wäre. Noch weniger ist die Uebertragung
eines an sich schon hyperbolischen Bilds in ein weiteres, das dann ganz
absurd wieder einen eigentlichen Zug vom Verglichenen aufnimmt, durch
die Situation entschuldigt in der Stelle von Romeo und Julie, wo dieser
schwört, wenn er Rosalinden verlasse, so sollen seine Thränen Feuer werden
und nachdem sie so oft (in ihrer eigenen Fluth) ertränkt waren und doch
nicht sterben konnten, nun für ihre Lüge als durchsichtige (!) Ketzer verbrannt
werden. Wir werden jedoch am Folgenden zeigen, daß manche
Bilder Shakespeare's, welche die Phantasielosigkeit noch heute für geschmacklos
erklärt, nicht nur keiner Entschuldigung bedürfen, sondern vielmehr die
höchste Bewunderung verdienen.


§. 853.


1.

Die, der musikalischen Wirkung verwandteren, Formen der subjectiven
Belebung (vergl. §. 851) sind die sogenannten Redefiguren: Bewegungslinien
der Stimmung, wie sich solche in der Sprache niederschlagen. Ein
Theil derselben liegt näher an der Grenze der objectiven Veranschaulichung
theils durch bildlichen Charakter, theils durch Aufnahme der Redeformen der
Handlung; ein anderer enthält die Unterschiede der Fülle und Enge, des
Anschwellens und Abschwellens im Flusse der Empfindung, ein anderer die
2.Jntensitäts-Unterschiede des einzelnen Moments. Dem eigentlich Musikalischen
nähert sich die dichterische Sprache durch Klangnachahmung.


1. Man begreift unter dem Figürlichen öfters auch das Tropische, in
genauerer Unterscheidung bezieht sich aber der Begriff des anschaulichen
Bildes, der hier in figura liegt, nicht auf ein festes Object, das dem innern
Auge gegenübertritt, sondern auf die Linien der Sprachbewegung als Ausdruck
der Stimmung: die Wissenschaft versucht mit dieser Bestimmung ein
Aehnliches, wie die Zeichnung, wenn sie die Bewegungen eines Tanzes
durch die Figur auf der horizontalen Fläche darstellt, nur daß die Abstraction
vom Dichter, der Versuch, die Formen seiner Rede ohne den wirklichen Jnhalt
des einzelnen Zusammenhanges zu fixiren und aufzuzählen, ein ungleich
härterer, mühsamerer und durch das Unbestimmbare der freien Bewegung
mangelhafterer Act ist, als dort die Abstraction vom Tänzer. Der §. sucht
einige Ordnung in die bisher durchaus verworren aufgehäufte Masse zu
bringen durch die aufgestellte Eintheilung. Demnach unterscheidet sich zuerst [1233]
eine Gruppe von Figuren, welche dem Gebiete der objectiven Veranschaulichung
näher liegt, und in diesem wieder zwei Arten: die eine ist wirklich
malerisch und würde daher entschieden zu jenem Gebiete gehören, wenn
nicht der Accent hier mehr auf die Stimmung, als auf die bildliche Natur
des Mittels fiele. Unter diesem Standpuncte kann die Hyperbel (vergl.
§. 851, Anm. 1.) hieher gezählt werden; lächerlich ist es, die Beschreibung
(Diatypose und Hypotypose) unter den Figuren aufzuzählen, außer etwa,
sofern man im Auge hat, daß sie durch erwärmte Stimmung eintritt, wo
sie nicht erwartet wurde; die Umschreibung ist, wenn sie den eigentlichen
Ausdruck wählt, nichts, als eine Auflösung des Subjects, das von der
Sprache in die Einfachheit des Begriffs zusammengezogen ist, in seine
Eigenschaften, wenn den uneigentlichen, gehört sie unter die Metaphern, und
nur entfernt, sofern man auch hier die besondere Wärme der Stimmung
als Grund der Vermeidung des logischen und eigentlichen Ausdrucks betont,
unter die Figuren.
Note: Umschreibung u.U. als Unterkategorie der Metapher Die sog. Distribution, eine malerisch entwickelnde Auseinanderlegung
statt des directen Ausdrucks, verdient nur zweifelhaft unter
derselben Bedingung diese Stelle, entschiedener die Häufung, Cumulation,
denn es ist Affect, was hier in wiederholten Schlägen wirkt, deren Qualität
an sich zwar malerisch sein mag. Eine andere Reihe von Figuren stellt
sich durch ihren dramatischen Charakter in die Nähe des Bildlichen, sie ist
objectiv durch Fiction von Personen und Hervorbrechen der eigenen: Anrede,
Frage und Antwort, Einführung Redender, Ausruf. Diese Formen, die
sich im wirklichen Drama, zum Theil auch in der lyrischen Poesie, von
selbst verstehen, sind in der epischen Darstellung ein Ausdruck der erhöhten
Stimmung, die einen Jnhalt in Gespräch und Handlung umsetzt; sie wären
bei der Personification aufzuführen, wenn es sich nicht hier um die subjective
Bewegtheit als Ursache des Verfahrens handelte. Jn Lessing's Styl
wird Alles lebendiger Dialog; Göthe erkannte selbst ein Kennzeichen seines
Dichterberufes darin, daß jeder Gegenstand des Nachdenkens sich in seinem
Jnnern zu einem bewegten Gespräche zwischen Personen verwandle, welche
die verschiedenen Standpuncte, Gründe u. s. w. vertreten. ─ Zu der zweiten
Ordnung von Figuren, die der §. aufführt, gehört der Klimax und Antiklimax,
der Pleonasmus, die Wiederholung mit ihren verschiedenen Arten
(Anaphora u. s. w.), die Abbrechung und Auslassung (Aposiopese und
Ellipse), das Asyndeton und Polysyndeton. Man sieht leicht, daß ein Theil
dieser Formen, welche sämmtlich Steigen und Fallen, Fülle und Enge,
Vorsturz, Fluß und Stocken des Redestroms charakterisiren, directer die
innere Qualität der Stimmung, ein anderer ihren Niederschlag in der
Sprachform anzeigt. Man hat daher Wortfiguren und Sinnfiguren oder
Sachfiguren unterschieden, allein der Unterschied ist flüssig und nicht zu verwundern,
daß in der Anwendung desselben keine Uebereinstimmung herrscht. [1234]
Asyndeton und Polysyndeton z. B. drücken deutlich verschiedenen Stimmungsrhythmus
aus und umgekehrt kann von Klimax und Antiklimax in der Lehre
von der Poesie nur insofern ausdrücklich die Rede sein, als sich Steigerung
und Senkung in der Sprachform niederlegt. Reine Wort- oder Formfiguren
sind nur bestimmte grammatikalische Unregelmäßigkeiten, wie Synkope,
Apokope, Zeugma u. s. w., über die weiter nichts zu sagen ist, als
daß sie in der Poesie häufiger vorkommen werden, als in der Prosa, weil dieselbe
auch an dem rein technischen Sprachgesetz ihre Freiheit geltend zu machen
liebt. ─ Zu dieser zweiten Ordnung mag, wenn man sie außer ihrem Zusammenhang
im komischen Prozesse betrachtet (vergl. §. 201 ff.), auch die
Jronie (mit der Litotes) als Figur gezählt werden, denn man kann sie als
eine Rückhaltung des Sprachflusses auffassen, der sich wie hinter einer
Schleuse spannt, um errathen zu lassen, daß das Verborgene das Gegentheil
des Sichtbaren ist. ─ Bei der dritten Ordnung handelt es sich von
den punctuellen Accenten, welche sich auf den einzelnen Moment der Rede
werfen; hieher gehört die Betonung durch Contrast, wie sie in der Sprachform
als Jnversion, Anaklase, Epanodos, Antithese erscheint. Die letztere
bedeutet hier einen Widerspruch zwischen Subject und Epitheton (z. B. der
arme Reiche), eine sehr wirksame, aber auch leicht zu mißbrauchende Form,
wie sie denn in der Marinischen Jagd nach concetti einst besonders beliebt war.


2. Die Onomatopoesie verhält sich zu dem allgemeinen, stetigen Einklang
zwischen Tonfall und Jnhalt, der in aller ächten Dichtung mit innerer
Nothwendigkeit herrscht, wie ein vereinzeltes, besonderes Spiel, den nachahmenden
Tonspielereien der Musik ähnlich und wie diese nur sparsam
anzuwenden. Der sausende Diskus des Odysseus und der rückwärts zu Thal
polternde Stein des Sisyphus sind berühmte Beispiele aus Homer; nicht
leicht ein schöneres, ungesuchteres bietet die moderne Literatur, als die
herrliche Stelle in Göthe's Faust, wo die Folge der Consonanten und
Vocale genau zu beobachten ist:


Und wenn der Sturm im Walde braust und knarrt,

Die Riesenfichte stürzend Nachbaräste

Und Nachbarstämme quetschend niederstreift

Und ihrem Fall dumpf hohl der Hügel donnert u. s. w.

§. 854.


Der große Gegensatz der Style macht im sprachlichen Ausdruck seine ganze
Stärke geltend. Der naturalistische und individualisirende Styl zeichnet durchaus
enger in's Einzelne, greift daher kühner in das Niedrige und Platte, zugleich
aber bricht das tiefere Geistesleben, das ihn hiezu berechtigt, unruhiger, aufgeregter,
traumartiger in Bildern und Figuren hervor.

[1235]

Hier namentlich ist das Beispiel der Malerei belehrend, der Gegensatz
ist genau derselbe, wie zwischen den großen italienischen Meistern, Raphael
an der Spitze, und Rubens, Rembrandt nebst den holländischen Kleinmalern
im Sittenbilde. Wir greifen sogleich in's Concrete und führen namentlich
einige Beispiele auf, welche zeigen, wie anders der classische gehobene
Schiller fühlt, als Shakespeare, der malerische Jndividualist in der Poesie.
Bei diesem zählt Makbeth dem Mörder, dem er erwiedert, er sei nur dem
Geschlechte nach Mann, wie die furchtsamen kleinern Hunde im Verzeichniß
des Hundegeschlechts freilich auch mitlaufen, neun Raçen auf, Schiller in
seiner Uebersetzung hält bei der zweiten inne: der classische Styl, der auf
dem Kothurne geht, fürchtet durch engeres Spezialisiren platt zu werden,
der charakteristische scheut es nicht, er geht durchaus in's Detail und sorgt
für die Haltung der poetischen Würde durch Ton und Stimmung im Ganzen.
Sicher hätte Schiller den verbannten Romeo nicht die Fliege und die Maus
um Juliens Nähe beneiden lassen und doch gehört dieß nicht unter Shakespeare's
Geschmacksverletzungen, sondern ist nur genau wahr gefühlt; und
wenn Shylock sein böses Wollen mit der Thatsache gewisser Jdiosynkrasieen
belegt, die er so speziell aufführt („es gibt der Leute, die kein grunzend
Ferkel ausstehen können“ u. s. w. Act 4, Sc. 1), so geschieht dieß zwar in
einer Komödie, doch im ängstlich spannenden Theile derselben, und kein
Dichter der classicirenden Richtung hätte einen finstern Charakter, der doch
etwas Tragisches hat, in seiner Rede so detaillirt. Solche Züge sind aber
nur vereinzelte Merkmale der Zeichnung des Charakters, der Leidenschaft,
der Handlung und aller Dinge, wie sie im charakteristischen Styl vorneherein
darauf angelegt wird, die Eigenheit der Züge bis in's Kleine mitaufzunehmen,
mag dieß auch im ernsten Zusammenhang so oder so in das
Komische auslaufen. Dasselbe spricht sich denn auch im Bildlichen aus.
Wenn Hamlet in einer hochtragischen Scene, in der äußersten Spannung
des Gemüths und aller Nerven dem Geiste seines Vaters zuruft: brav
gearbeitet, wackerer Maulwurf! so ist dieser Absprung in das Platte allen
denen, welche im Sinne des directen Jdealismus auffassen, rein ungenießbar;
sie verstehen nicht, wie recht wohl Shakespeare weiß, daß das platt ist, und
wie er es gerade darum seinem tragischen Humoristen in den Mund legt;
man kann recht wohl die verborgen arbeitende Macht, die endlich eine
Unthat an das Licht bringt, mit dem stillen Wühlen eines Maulwurfs
vergleichen, ja Hegel wendet die Stelle treffend auf den Geist in der Weltgeschichte
an, wie er lange in unsichtbarer Tiefe thätig ist, aber in den
großen Momenten der Krise sich an das Licht herausarbeitet; freilich liegt
trotz der Wahrheit des Vergleichungspunctes wegen der übrigen Kleinheit
des Bildes eine komische Jncongruenz darin, diese aber ist gerade beabsichtigt,
um durch die Jronie des weiten Abstands die Hoheit des Verglichenen [1236]
um so mehr zu betonen. Dazu kommt die Stimmung im gegebenen
Momente: Hamlet ist freudig gehoben durch die Entdeckung eines längst
geahnten Verbrechens und er liebt es, eine große Genugthuung im Tone
gemeiner Lustigkeit auszudrücken, nicht um jene, sondern um diese zu ironisiren;
man vergleiche sein Benehmen nach der Wirkung des aufgeführten
Schauspiels auf den König. Solche Sprünge sind denn im classischen und
classisch auffassenden modernen Style gar nicht denkbar. Zwar darf man
den Unterschied zwischen diesen beiden letzteren auch nicht übersehen: Homer
und die griechischen Tragiker hatten noch nicht das Lachen des modernen
Stumpfsinns zu fürchten, der, wie zu §. 850 erwähnt ist, bei übriger Ungleichheit
so schwer den Vergleichungspunct festzuhalten vermag, sie wimmeln
von Bildern, welche die niedrige Sphäre nicht scheuen, wenn sie nur schlagende
Wahrheit darbietet; Homer vergleicht seine Helden nicht nur mit Eseln,
Stieren, Widdern, ─ diese Thiere waren überhaupt noch nicht für die Komik
abgenützt, ─ er verschmäht es auch nicht, den Eigensinn der Fliege, den
am Lande zappelnden Fisch herbeizuziehen, um dem hartnäckigen Muthe, der
stets auf dieselbe Stelle im Getümmel sich wirft, dem schnappenden Röcheln
des tödtlich Verwundeten ein haarscharfes Licht der Vergleichung zuzuführen.
Solche Bilder kommen uns naiv vor, sind aber nur rein poetisch und beiden
entgegengesetzten Stylen gemeinsam; es ist daher nicht durch die übrigens
allerdings zarteren Grenzen des classisch gebildeten Gefühls gerechtfertigt,
sondern nur sehr bezeichnend für seine rhetorische Art, wenn Schiller sich
scheut, in dem treffenden Bilde von dem Geier und den Küchlein zu bleiben,
wo Makduff ausruft: „All' die lieben Kleinen? Jhr sagtet: alle? ─
Höllengeier! ─ Alle? ─ Wie, meine süßen Küchlein mit der Mutter auf
einen gier'gen Stoß?“ und übersetzt: „Alle! Was? Meine zarten kleinen
Engel alle? O höllischer Geier! Alle! Mutter, Kinder mit einem einz'gen
Tigergriff!“ Wahrhaft platt sind diese vermeintlich erhabeneren „Engel“
und der „Tiger“, zugleich hat die Scheue vor dem einfach Wahren hier zu
einer wirklich ganz unstatthaften Katachrese geführt (vgl. über dieses belehrende
Beispiel: Timm, das Nibelungenlied u. s. w. S. 25). Wenn aber im Uebrigen
der charakteristische Styl auch in diesem Gebiete sich scharf genug von dem
plastisch idealen unterscheidet, wenn er gerade darum ungleich mehr wagt,
weil die Tiefen des Geistes, die er aufdeckt, die freie Entlassung der Particularität
nicht nur ertragen, sondern sogar fordern, damit die Macht des
Bandes sich zeige, welches die Extreme zusammenhält, so bricht jene vertiefte
Haltung und Stimmung auf der andern Seite in Bildern aus, welche
überpathetisch, visionär, verzückt erscheinen, welche, auf den ersten Btick seltsam
und wildfremd, demjenigen, der sich in den Zustand zu versetzen vermag,
bei näherem und längerem Anschauen klar werden, wie Rembrandt's traumhaft
in's Dunkel leuchtendes Helldunkel oder das wilde Licht des Blitzes [1237]
auf dem Sanherib von Rubens. Der Dramatiker wird solche traumhafte
Bilder den Momenten der tiefsten Erregung vorbehalten. Ein solches Bild
gebraucht der entzückte Romeo in der Gartenscene: „herrlich über meinem
Haupt erscheinst du mir in dieser Nacht wie ein beschwingter Bote des
Himmels den erstaunten Menschensöhnen, die rücklings mit weit aufgeriss'nen
Augen sich niederwerfen, um ihm nachzuschaun.“ Man hat selbst neuerdings,
nachdem wir längst die stumpf phantasielose Kritik des guten Geschmacks
hinter uns haben, Makbeth's ungeheures Gesicht von den Folgen
der Ermordung des Königs für abgeschmackt erklärt: „Duncan's Tugenden
werden wie Engel posaunenzüngig Rache schrei'n dem tiefen Höllengreuel
dieses Mords und Mitleid wie ein nacktes, neugebornes Kind, auf Sturmwind
reitend, oder Himmels-Cherubim zu Roß auf unsichtbaren, luft'gen
Rennern werden die Schreckensthat in jedes Auge blasen, bis Thränenfluth
den Wind ertränkt.“ Der Vergleichungspunct ist die furchtbare Schnelligkeit
und Gewalt, mit welcher die Folgen des Mords, die Kunde, die tiefe
Empörung der Gemüther, Abscheu, Rachtrieb, Mitleid eintreten. Daß auf
den Sturmwolken Duncan's Tugenden als Engel hinsausen, ist eine nur
natürliche Personification und Zungen, deren Ruf so stark ist wie Posaunenton
immer noch keine übertriebene Hyperbel, dann folgt eine ganz ungewöhnliche
Vertauschung von Subject und Object, indem der Gegenstand
des innigsten Mitleids, ein nacktes, neugeborenes Kind, für das Gefühl
des Mitleids gesetzt ist, aber wer Phantasie hat, kann sich doch wohl in die
Anschauung versetzen: es wird den Menschen zu Muthe sein, als sehen
sie ein hülfloses Kind in den Wolken hinschweben, dem sie zueilen müssen,
wie um es zu retten; die Cherubim, die nachfolgen, scheinen dieses Kind
wie eine Geister-Erscheinung sich vorausgesandt zu haben, wie einen Genius
des Mitleids, der die Gestalt eines Objects des innigsten Mitleids annimmt,
um dieses zu erwecken; sie selbst, auf unsichtbaren luft'gen Rennern,
sind windschnelle Diener der göttlichen Gerechtigkeit; mit dieser Häufung
sammelt sich Alles an wie zu einem Bilde der wilden Jagd und das wollte
Shakespeare; daß der Gehörs-Eindruck sich dann in ein Anwehen der Augen
verwandelt, indem der Weg, den die Kunde vom Ohr zum Gefühle, von
da in's Auge nimmt, übersprungen wird, dieß ist ein Uebergang, dem man
in so tiefer Aufwühlung der Einbildungskraft sollte folgen können, und daß
„die Thränenfluth den Wind erstickt“, ist nur lebendiger Ausdruck dafür, daß,
wie Sturmwind sich in Regen auflöst, die Gefühle bei der ersten Kunde
dieses Mords sich alle in einen grenzenlosen Schmerz auflösen werden, der
dann seine Wirkung so sicher haben wird, wie angeschwollene Fluthen.
Alle Folgen von Makbeth's Mord sind in dieser furchtbaren Vision zusammengefaßt,
das Drama entwickelt in klarer Handlung, was in ihr
seltsam helldunkel enthalten ist; nicht in jeder Stimmung, nicht aus dem [1238]
Munde jeder seiner Personen dürfte der Dichter so wilde, rasch überspringende,
phantasmagorische Bilder vorbringen, wohl aber dem Helden, dem er ein
so nervöses Wesen, eine so gefährliche Romantik der Phantasie geliehen hat,
durfte er sie in der höchsten Spannung, da er mit Eins eine entsetzliche
Zukunft überblickt, auf die Lippen legen. ─ Etwas eigenthümlich Bewegtes
aber haben alle Bilder Shakespeare's; sie gemahnen uns, wie wenn man
mit unruhigem, blutrothem Fackellicht in eine Stalaktiten-Höhle leuchtete,
wogegen die Vergleichungen der Griechen und Göthe's wie eine Sonne
ruhig aufgehen und Zug für Zug den Gegenstand in scharfer Deutlichkeit
des Umrisses aufzeigen. Dieß ist episch; die griechischen Dramatiker haben
allerdings etwas von Shakespeare's bewegter, geisterhafter Gluth, doch
gekühlt im plastischen Formgefühle.


Der charakteristische Styl wird auch im nicht bildlichen Gebiete, dem
der sog. Figuren, im Allgemeinen der kühnere sein. Subjectiver bewegt,
wie er ist, erlaubt er sich eine naturalistische Freiheit auch in Behandlung
der Sprachregeln und wirft sich in trotziger Nachlässigkeit gegen die classische
Correctheit auf. Auch hierin ist der erste große Dichter dieses Styls, Shakespeare,
ein Beispiel, besonders belehrend aber der Muthwille der Schreibart
in der Sturm- und Drang-Periode, denn dieser gieng von der gesteigerten,
überschwenglichen Empfindungsfülle aus (vergl. §. 846, 2.), die sich aber
aus ihrer inneren Herrlichkeit zugleich das Recht des derbsten und freiesten
Umspringens mit der Sprache nahm; die Natur wurde in dem doppelten
Sinne des Gefühls der Unendlichkeit und gleichzeitig als die sogen. liebe
Natur, als Cynismus entfesselt und beides schlug sich insbesondere in den
Formen nieder, die man Figuren nennt; da wimmelt es denn namentlich
in Göthe's Jugendstyl von Aposiopesen, Abbrechungen, unendlichen Ausrufungen
u. s. w. bis hinaus auf die eigentlichen Formfiguren, die Weglassungen
des Artikels, des persönlichen Fürworts, des Hülfszeitworts, die
Stutzung der Endsylben, die Provinzialismen. Als aber Göthe sich classisch
geläutert hatte, nahm er nach und nach jenen vornehm gereinigten, bequem
säuberlichen Styl an, der von der Kraft des Naturalismus nur zu weit
abliegt und ein neuer Beleg ist, daß die Stylrichtungen sich nicht zu weit
von einander entfernen sollen.


§. 855.


Der poetische Styl im engeren formalen Sinne des Worts legt sich als
Rhythmus in der Sprache nieder (vergl. §. 839, 3.). Derselbe besteht in regelmäßiger
Wiederkehr einer bestimmten Anzahl von Zeitmomenten, welche von
einem Accente beherrscht werden, also sich nach dem Merkmale der Stärke und
Schwäche unterscheiden. Vermöge einer natürlichen inneren Verwandtschaft der [1239]
Stärke und der Zeitdauer des Tons erscheinen bei organischer Entwicklung
diese Unterschiede zugleich als ein bestimmter Wechsel von Kürzen und Längen.
Dieses System ist ein reines, selbständiges Kunst-Erzeugniß, das sich über die
Sprache als ihr Material überbreitet.


Wir versuchen, zuerst das Wesentliche der poetischen Rhythmik allgemein
aufzustellen, wiewohl diese Abstraction schwer und die Hinweisung auf den
durchgreifenden Unterschied der concreten Style schon hier nicht zu vermeiden
ist. Die rhythmische Form ist in ihrem ursprünglichen Wesen ein reines
Taktleben: es folgen sich in geordneter Wiederkehr bestimmte Abschnitte, die
sich in Zeit-Einheiten, Momente, Moren von bestimmter Anzahl theilen
und von einem unter ihnen, der die stärkere Jntention, den Jctus, die Arsis
(was in der Musik Thesis heißt), den Accent hat, beherrscht, getragen werden.
Mit innerer Nothwendigkeit fällt dieser stärkere Druck auf die erste der von
ihm beherrschten Moren, denn ein Fortgang in der Zeit, der sich in
Momente theilt, gleicht immer einer Bewegung und diese bedarf eines
Ansatzes, Abstoßes, von welchem folgende Bewegungen abhängen und welcher
regelmäßig wieder eintritt. Dieses System erweitert sich zur rhythmischen
Reihe, indem der einzelne Taktabschnitt im Größern sich so wiederholt, daß
ein verstärkter Accent, wie vorher der einfache Einen Abschnitt, so drei
Abschnitte beherrscht. Diese Reihen sind nicht mit dem Verse zu verwechseln;
der Vers kann aus mehreren Reihen bestehen, oder (durch den Reim) Eine
Reihe zerschneiden. ─ Der Zeit nach sind die Momente des Takt-Abschnittes
ursprünglich gleich; der Unterschied der Länge und Kürze ist nicht, wie so
häufig geschieht, mit dem des Accents zu verwechseln. Es steht, wie sich
zeigen wird, dem Style, der diese beiden Kräfte in Verbindung setzt, ein
anderer gegenüber, der in seiner ursprünglichen, rein nationalen, selbständigen
Ausbildung nur Takt-Verhältnisse, keine Längen und Kürzen kennt und erst
später auch diese Seite in gewissem Sinne sich aneignet. Dazu wird derselbe
allerdings durch die innere Natur der Sache selbst getrieben, denn
zwischen Accent und Länge besteht eine innere Wahlverwandtschaft und der
Styl, welcher ursprünglich das im engeren Sinn Rhythmische mit dem
Zeitbegriff in Verbindung setzt, ist der organischere, normalere. Jntention
und Zeitaufwand ziehen nämlich einander darum mit Nothwendigkeit an,
weil naturgemäß auf dem stärkeren Theil auch länger verweilt wird. Die
Jntention, die zugleich Länge ist, wird nun aber zwei der vorher gleichen
Momente umfassen und so tritt eine Länge an die Stelle von zwei Kürzen.
Nur ist dieß kein völliges Zusammenfallen und es darf nicht schlechthin als
eine Unregelmäßigkeit, sondern nur als ein seltener Rückgang auf die noch
nicht vollzogene Verbindung von Accent und Länge angesehen werden, wenn
im Verse sich eine Länge mit Arsis in zwei Kürzen, deren erste die Arsis [1240]
hat, aufgelöst darstellt; der Rhythmus gestattet die Wahl zwischen zwei
Kürzen und einer Länge auch in dem nicht betonten Theile des Fußes,
wie z. B. im daktylischen Rhythmus zwischen Daktylus und Spondäus:
ein Beweis, daß die Sprache mit ihren gegebenen Längen und Kürzen zu
dem reinen rhythmischen Gesetze als ein Anderes hinzukommt und ihm in
seiner Anwendung den Ausdruck der Mannigfaltigkeit gibt. Das rhythmische
Gesetz ist nicht der Sprache entnommen, nicht aus Verwendung der in der
Sprache gegebenen Accente, Längen und Kürzen entstanden; es konnte sich
natürlich nur an ihr ausbilden, allein es wurde in jener ursprünglichen
Poesie, welche dem Bewußtsein der Regel vorhergieng, nur aus ihr herausgehört,
was ursprünglich als ein Reines, Selbständiges in der Seele und
dem Nerve liegt, ein Jdeales, das, wie es nun sein Leben zur erkannten
Regel gestaltet hat, sich frei als künstlerisches Prinzip über das Sprachmaterial
herbaut, es in seinen Rahmen faßt. Das Rhythmische in dieser
seiner Reinheit kann daher zwar nur im Ton ausgedrückt werden, ist aber
an sich eine reine Bewegung und ebensogut in sichtbarer, als in hörbarer
Form, als Hebung, Senkung der Hand, beschleunigte oder verweilende
Gebärde zu versinnlichen.


§. 856.


Der Unterschied von der Musik besteht also wesentlich darin, daß der
poetische Rhythmus aus dem Leben des Tones nur den Unterschied der Stärke
(in Verbindung mit dem der Länge und Kürze), jene dagegen im Rahmen des
Taktes als ihr Haupt-Ausdrucksmittel den Unterschied der Höhe entnimmt
und verwendet. Das rein quantitative Wesen der Rhythmik gewinnt dagegen
eine qualitative Füllung, indem es in der Sprache als ein System articulirter
und ausdrucksvoller Laute verwirklicht wird; hier treten zugleich Momente
hinzu, welche der Melodie, der Klangfarbe, selbst der Harmonie analog sind,
und dieß wird um so mehr gefordert und der Fall sein, je weniger streng und
organisch das reine rhythmische Gesetz zur Herrschaft gelangt.


Die poetische Rhythmik und die Musik beziehen sich verschieden auf
ein Gemeinschaftliches, das Ganze des Tons. Jene kann sich nur in dem
durch Verbindung von Vocal und Consonant zur Sprache articulirten Tone
verwirklichen; so bleibt ihr nur der Unterschied der Stärke und Schwäche
nebst dem der Länge und Kürze als ihr Element übrig. Die Kunst der
reinen Empfindung aber, die Musik, bewegt sich im Tone wesentlich, sofern
er nicht zur Sprache erhoben ist, sie hat es daher mit dem Unterschiede der
Höhe und Tiefe als dem Elemente zu thun, worin die Qualität des Gefühls
ihren Ausdruck findet, sie kann in diesem Sinn Entwicklung des
Vocals genannt werden. Die Rhythmik dagegen hat mit diesem Unterschiede [1241]
nichts zu schaffen. Das Band zwischen ihr und der Sprache
kann ein engeres oder freieres sein; die deutsche Rhythmik entnimmt den
Unterschied der Stärke und Schwäche aus dieser, die antike that es
nicht; allein der Satz, daß die Rhythmik nur in der Sprache realisirt
werden kann, bedarf der Verstärkung durch die erstere Thatsache nicht, er
steht fest auch bei dem antiken Verhältniß, wogegen in der Musik, wenn
sie sich mit der Sprache verbindet, diese durchaus nicht die Bedeutung eines
Vehikels hat, dessen die bestimmende Kunstgattung bedarf, um zu existiren.
Die Füllung, die der Rhythmus durch seine Realisirung in der Sprache
erhält, bringt nun aber dennoch Elemente hinzu, welche näher oder entfernter
dem Musikalischen entsprechen. Den Sprachlauten ist nicht alle
Reminiscenz, daß sie ursprünglich das Gefühl des Gegenstands, des Tiefen,
Dunkeln, Dumpfen, Hohen, Hellen, Offenen, Herben, Sanften, Geschlossenen,
Freudigen, Schmerzlichen u. s. w. ausdrückten, verloren gegangen,
man mag dieß zunächst mit der Klangfarbe vergleichen; die Vocale sprechen
sich zudem an sich in bestimmten Unterschieden der Höhe und Tiefe aus und
eine neue Welt von Musik=ähnlichen Modificationen bringt (vom eigentlich
musikalischen Vortrag hier natürlich abgesehen) die Declamation hinzu:
Belebungen, die theils der Scala, theils jenem Unterschiede der Stärkung
oder Schwächung des einzelnen Tones angehören, der vom Takt-Accente
wohl zu unterscheiden ist, theils der Beschleunigung oder Hemmung im
Tempo entsprechen; die Wiederkehr des Verses endlich und besonders die
des symmetrischen Wechsels in der Strophe wird zwar nur successiv vernommen,
aber das innere Gehör faßt das Nacheinander doch wie in ein
gleichzeitiges Tönen zusammen und dadurch nähert sich der Eindruck entfernt
dem Gefühle der musikalischen Harmonie. Diese Anklänge an die Musik
verstärken sich, wo die Rhythmik sich mit dem Reime verbindet; doch hängt
damit Verlust auf der andern Seite zusammen, wie sich zeigen wird.


§. 857.


Die Poesie ist gemäß diesem Verhältnisse nicht reine Kunst der Stimmung
wie die Musik, sondern des zur bewußten Vorstellung entwickelten Jnhalts der
Stimmung, worin aber das Stimmungs-Element über diese Scheidung fortdauert
und seinen Ausdruck in der rhythmischen Form findet. Diese Seite ist
aber ebendaher darauf eingeschränkt, daß nicht das Ganze der Stimmung,
daher auch nicht ihr individueller Wechsel, sondern nur ihre allgemeine Gang-
Art in der gemessenen äußern Kunstform sich Gestalt geben kann. Denn obwohl
die gleichförmige Wiederkehr von dem einfachen Fortgang im Verse zum
geregelten Wechsel von zwei ungleichen Versen und weiter zu der symmetrischen
Zusammenstellung mehrerer verschiedener Verse in der Strophe, ja zur [1242]
Gruppirung verschiedener Strophen fortschreitet, so ist es doch nur das
inhaltvolle Wort selbst, worin das Leben der Stimmung in seiner innersten
Qualität und seinem Verlaufe sich den vollständigen Ausdruck gibt.


Hiedurch ist genauer bestimmt, was in §. 839 erst allgemein über das
Verhältniß der Poesie zu der Musik gesagt wurde. Die letztere füllt Tonleben
mit Tonleben, auch ihr eigentlich Qualitatives ist Ton als Ausdruck
der bloßen Stimmung; die erstere füllt ein blos quantitatives Tonleben
mit dem Jnhalte, der sich aus der bloßen Stimmung herausgewickelt hat
und im articulirten Wort als bewußte innere Anschauung ausspricht. Jn
dem Quantitativen, worein er gefaßt wird, dem Rhythmus, ist allerdings
die Stimmung als einhüllendes und begleitendes Element über jene Ablösung
hinüber erhalten; das Stimmungs-Element, worin das Gedicht
empfangen ist, überlebt den Proceß, durch welchen der lichte Tag des Bewußtseins
aus dem Nebel hervorgetreten ist; aber wenn so die Stimmung
bleibt, während doch das Kunsterzeugniß mehr, als bloße Stimmung, ist,
so folgt, daß auch in der Seite, welche ihrem Ausdrucke dient, eben der
rhythmischen Form nämlich, doch nicht das Ganze der Stimmung sich offenbaren
kann, denn ihr Jnnerstes ist übergegangen in die deutliche Sprache
des Wortes, in ihm ist das Gefühl Bewußtsein, der qualitative Kern desselben
ist also ein Anderes geworden. Es fragt sich genauer, was übrig bleibt, wenn
nicht mehr das ganze Leben der Stimmung als solches zum Ausdruck kommt.
Der §. gebraucht für dieses schwer zu bezeichnende Moment das Wort
Gang-Art. Wie sich der Takt als quantitativer Ausdruck der Stimmung
von dem eigentlich Qualitativen derselben unterscheidet, geht daraus hervor,
daß eine Tanz- und eine Trauer-Melodie in demselben Takte componirt
sein können. Und dennoch wird sich die freudige Stimmung und die traurige
auch wieder qualitativ anders gefärbt zeigen nach Unterschied des Taktes.
Dieß ist das Schwierige. Die Gang-Art zeigt vom Quantitativen auf
das Qualitative, ist eine verschiedene Temperatur in demselben, ohne mit
ihm zusammenzufallen. Es verhält sich wie mit der wirklichen Bewegung
eines Menschen: aus der Art, wie er sich vom Boden abstößt, aus dem
Unterschied im Auftreten, Gehen oder Laufen, Jnnehalten, Zögern, wieder
Aufspringen u. s. w. schließen wir auf seine Stimmung mit dem Vorbehalte,
daß es doch verschiedene Stimmungen sein können, die in denselben Weisen
der Bewegung sich ausdrücken, und umgekehrt, daß dieselbe Stimmung in
verschiedenen Bewegungsweisen sich ausdrücken kann, allein so, daß dadurch
innerhalb der gleichen Qualität Modificationen zu Tage treten, für die sich
in der Sprache kaum das Wort findet. Daher ist es auch so schwer, die
Stimmung der verschiedenen Metren zu bezeichnen, und gehen die Versuche,
dieß zu thun, so weit aus einander. Zorn und Freude kann sich [1243]
rasch bewegen, Angst und stille Beschauung kann säumen, schweben, gleiten
u. s. w. Wenn nun die bestimmte Qualität der Stimmung in der Musik
erst durch die Melodie, d. h. die Bewegung in den Verhältnissen der Tiefe
und Höhe, in der Poesie dieselbe Qualität, aber als klar vorgestellter Jnhalt,
durch die Sprache hinzukommt, so ergibt sich weiter, daß zwar in beiden
Gebieten die Takt-Art gleichförmig durch das ganze Kunstwerk geht, in der
Poesie aber, was dem Gebiete des unarticulirten Tons angehört, ganz an
das Gesetz der gleichförmigen Wiederkehr gefesselt bleibt, während die Musik
im Tonleben selbst den individuellen Wechsel innerhalb einer Stimmung,
ein Hauptmoment ihrer Qualität, zum Ausdruck bringt. Es treten zwar
Wechsel im poetischen Rhythmus ein, Verse von ungleicher Länge und Messung
folgen sich in fortlaufender Reihe, oder ein reicherer Unterschied, buntere
Verschlingung gruppirt sich zur Strophe, gleiche und ungleiche Strophen
abwechselnd stellen eine erweiterte Gruppe dar, aber auch in diesen kunstvollen
Gebäuden ist überall symmetrische Wiederkehr das Gesetz, während
die Stimmung, in der Sprache ausgedrückt, wechselt. Gerade in der Verbindung
mit der eigentlichen Musik fällt dieß doppelt auf: in den Strophen
wiederholt sich mit demselben Rhythmus dieselbe Melodie, während der
Jnhalt mit seiner Stimmung sich ändert. Das ist im Lyrischen; die Kunstwerke
der objectiven, ein umfassenderes Weltbild darstellenden Zweige aber
verzichten, das Epos überall, das Drama wenigstens in der neueren Zeit,
auch auf jenen Grad des Wechsels und bewegen sich bei den tiefsten Unterschieden
des Jnhalts in der Form gleichförmiger Wiederkehr einfacher Verse.
Der qualificirte Ausdruck der Sprache liegt nun zwar, wie wir sogleich
sehen werden, nicht wie ein gleichgültiger Stoff im Rahmen des Rhythmus,
allein der innerste Gehalt schwebt doch, obgleich mit ihm empfangen und
lebendig vereint, zugleich frei und hoch über diesem Elemente.


§. 858.


Allerdings gewinnt jedoch der formelle Ausdruck der Stimmung einen
weitern Zuwachs durch ein Verhältniß lebendigen Widerstreits zwischen Rhythmus
und Sprache im Versbau, worin beide ihre Selbständigkeit, aber ebendadurch
um so inniger ihre Vereinigung betonen. Der Vortrag gleicht theilweise
diesen Kampf aus, belebt aber auch von seiner Seite den Unterschied und bringt
einen weiteren Anklang des eigentlich musikalischen Elements hinzu.


Das rhythmische Maaß und die Sprache verbinden sich und fliehen
sich in ihrer Verbindung, bekämpfen sich, um desto ausdrücklicher verbunden
zu erscheinen. Es sind zwei Liebende, die sich entzweien und versöhnen und
in diesem Spiele die Natur eines Bundes offenbaren, der ein freies Opfer [1244]
der Freiheit ist. Hieher gehört zuerst die Regel, daß die Wort-Enden nicht
mit den Enden der Versfüße zusammenfallen. Der Vers stellt demzufolge
im metrischen Schema eine andere Figur dar, als in seinen Wörtern;
nimmt man diese für sich und sieht jedes Wortes Prosodie als ein metrisches
Ganzes für sich an, so scheinen andere Versfüße zu entstehen, während doch
das Schema das Geltende ist: ein Nebeneinanderspielen von zwei Bildern,
worin ein wesentlicher Lebensreiz der poetischen Form besteht. Man erkennt
seine volle Bedeutung durch die unleidliche Klang- und Schwunglosigkeit
der Verse, worin jedes Wortganze einem Versfluß entspricht. Dieser Widerstreit
heißt im Allgemeinen Cäsur, ist aber auf bestimmten Puncten des
Verses als Cäsur im engeren Sinne des Worts ausdrücklich gefordert; hier
wird ein Versfuß durch ein Wort-Ende zerschnitten, um einen zweiten
Haupt-Accent (verstärkten Jctus vergl. §. 855. Anm.) anzuzeigen, wie im
Hexameter, wo aber die Cäsur, um die Monotonie der Theilung in zwei
gleiche Hälften zu meiden, in den Fuß vor dem zweiten Hauptaccent zurückverlegt
ist. Dadurch nimmt nun der Reiz jenes Widerstreits bestimmtere
Gestalt an: es scheint sich der Vers in Hälften von ungleichem Metrum
zu theilen, z. B. der jambische Trimeter nach einer Cäsur in der Mitte des
dritten Fußes trochäisch fortzulaufen. ─ Eine weitere Belebung der rhythmischen
Verhältnisse besteht in ausdrücklicher Zulassung von Seiten des
Schema's: es ist der Spielraum der freien Wahl zwischen Längen und
Kürzen, die an gewissen Stellen, z. B. des Hexameters und Pentameters,
offen gelassen ist. Da wir hier die allgemeinen Züge aufstellen, die von
beiden geschichtlichen Hauptformen der Rhythmik gelten, so muß die deutsche
nicht blos in dem Sinne miteingeschlossen werden, daß stillschweigend ihre
moderne Aneignung der antiken Metrik vorausgesetzt ist, sondern auch in
Rücksicht auf ihre ursprüngliche Gestalt: was hier jenem Spielraum ungefähr
entspricht, ist die Freigebung der Senkungen zwischen der geregelten
Zahl der Hebungen. Es ist bekannt, wie lebendig die Nibelungenstrophe
in ihrer ursprünglichen Form verglichen mit der modernen Nachbildung
erscheint, welche einen regelmäßigen Wechsel von Senkungen und Hebungen
beobachtet. Wendet man auf jene das (ihr an sich fremde) metrische Schema
an, so erscheint sie als ein freier, nach dem Stimmungs-Jnhalte sich bewegender
Wechsel von Jamben, Trochäen, Daktylen, Anapästen u. s. w. ─
Eine fernere Quelle reicherer Bewegung ist der Kampf zwischen Vers= und
Wort-Accent. Die antike Metrik hat diesen jenem geopfert; aber wir müssen
hier sogleich eine Seite dessen heraufnehmen, was am Schlusse des §. vom
Vortrage gesagt ist: derselbe ließ neben der Herrschaft des Vers-Accents
den Wort-Accent durchhören und erzeugte so auch hier einen reizvollen
Widerstreit. Die neuere deutsche Rhythmik liebt es, nachdem sie sich das
System der Länge und Kürze so angeeignet hat, daß sie es im Wesentlichen [1245]
ihrem ursprünglichen Gesetze der Hebung und Senkung unterschiebt, an
manchen Versstellen, namentlich des Jambus, einen nachdrucksvollen Kampf
des Verses mit dem Schema einzuführen, indem sie z. B. Spondäen, Trochäen,
Anapäste, Daktyle statt der Jamben-Füße anwendet. Man erkennt hier am
unmittelbaren Eindrucke klar die Bedeutung einer solchen Divergenz: man
stutzt, wird aufmerksam und fühlt mit doppelter Stärke auf der einen Seite
das rhythmische Gesetz, auf der andern den emancipirten Nachdruck des
Worts. ─ Auch das Uebergreifen des Sinns von dem einen Vers in den
andern (enjambement) ist ein wesentlicher Zug in dem freien Spiele der
Anziehung und Abstoßung zwischen dem rhythmischen Schema und der
Sprache; man trägt, was durch den Jnhalt zusammengebunden ist, auf
das gleichförmig fortlaufende Versmaaß unwillkürlich so über, daß man
sich an Strophen, an Strophengruppen erinnert fühlt, und die Pause des
Sinnes scheint zur Pause des Vers- und Strophenschlusses zu werden,
während diese fortbestehen und so ein Jneinanderschimmern von zwei Eindrücken
entsteht. ─ Endlich der Vortrag. Es ist hier allerdings mehr die
Declamation, als der Gesang, in's Auge zu fassen, jedoch nicht allein, denn
der Gesang enthält jene in sich und hat das musikalische Schema ebenso
mit der Sinn-Betonung durchschlingend zu beleben, wie die bloße Declamation
das blos rhythmische. Aus diesem Zusammenhange haben wir schon
oben die Seite heraufgenommen, wonach der Vortrag den Wort-Accent
gegen den Vers-Accent hält und stützt; ebenso gibt er nun auch dem Sinn=
Accent sein von diesem geschwächtes Recht, er legt jedem Worte erst die
feineren Unterschiede des Nachdrucks und, zugleich im relativen Widerstreite
mit Länge und Kürze, des Verweilens bei, die sein Empfindungsgehalt mit
sich bringt; er faßt die Verse, worin der Sinn übergreift, in lebendigem
Zuge zusammen, ohne den Versschluß ganz verschwinden zu lassen, umgekehrt
pausirt er dem Sinne gemäß, wo der Vers fortläuft; er bringt aber
vor Allem die Modulation der Scala hinzu, welche die Gefühlsschwingungen
ausdrückt, wie sie durch den Jnhalt gegeben sind, und dieß ist die wichtigste
Seite seines Geschäfts. Sie erweitert jene verschiedenen Momente, wodurch
im poetischen Rhythmus etwas vom spezifisch Musikalischen anklingt, um
eine wesentlich neue: das musikalische Rudiment, das im Sprechen liegt
(§. 760), wächst im gehobenen Sprechen der Declamation. Die Linie,
welche die richtige Mitte zwischen zu hörbarem Scandiren oder einer zur
Manier gewordenen wiederkehrenden Scala und dem Erdrücken des Rhythmus
unter dem Ton-Ausdrucke des Jnhalts beobachtet, ist allerdings fein
und schwer zu treffen. Die romanischen Völker haben als Erbe aus dem
antiken Vortrage der dramatischen Verse ein dem Recitativ oder dem liturgischen
Halbgesange verwandtes singendes Sprechen überkommen. Der Krieg
gegen die von ihnen ausgegangene conventionelle Poesie im vorigen Jahrhundert [1246]
war zugleich Kampf gegen diesen Sprachgesang und die Prosa der
Rede, in die man sich warf, um die Naturwahrheit zu retten, diente dem
Mimen als Anhalt, die Modulation der wahren Töne der Empfindung
zu ihrem Rechte zu bringen. Nun aber riß der Naturalismus ein, und
als man in zurückgekehrter Erkenntniß der Würde der Poesie den Jamben
einführte, zeigte sich, daß die Schauspieler nicht mehr rhythmisch hören
und sprechen konnten, so daß Göthe eine bedeutende Schauspielerinn in der
Probe am Arme nahm und auf- und abgehend das Jamben-Maaß mit ihr
stampfte. ─ Was von der Declamation gilt, gilt auch vom Lesen als
einem inneren Sprechen, nur natürlich in schwächerem Maaße. Das Band,
das die Poesie an die unmittelbare Sinnlichkeit knüpft, ist immer dünner,
blasser geworden, sie hat die Musik, den Tanz verloren, endlich ist sie nicht
nur vom Singen auf das Sagen, sondern sogar in das Lesezimmer zurückgedrängt
worden. Diese Entsinnlichung hat nach der einen Seite ihren
Grund in dem Gesammten unserer Bildung und es hieße gegen eine Welt
von Erquickung im stillen Kämmerlein predigen, wenn man dagegen eiferte.
Dennoch lebt ein Gedicht nur halb und verstümmelt, wenn es blos gelesen,
nicht wenigstens vorgelesen wird. Entschieden hat die Berechnung auf das
bloße Lesen der dramatischen Literatur geschadet. Das Aufkommen der Lese=
Dramen hat den Sinn für das, was Handlung ist, was lebt, wirkt, fortschreitet
und packt, fast ertödtet.


§. 859.


Der allgemeine Gegensatz der Style, der alles Kunstleben beherrscht,
ist mit besonderer Bestimmtheit in der Rhythmik zur Erscheinung gekommen.
Die orientalische Dichtung ist auf diesem Gebiete ganz in den Grenzen einer
unreifen Vorstufe stehen geblieben; dagegen tritt der direct idealisirende
plastische
Styl des classischen Jdeals in vollendeter Gestalt bei den Griechen
auf. Zu Grunde liegt ein System von Takt-Arten, das in seiner Anwendung
auf die rein quantitirende Sprache sich mit dem Prinzip der Länge und
Kürze, den Wortaccent opfernd, in reiner Gesetzmäßigkeit verbindet, indem es
vermittelst des Vorschlags (Anakruse) die verschiedenen Metra mit ihrem verschiedenen
Charakter als eine feste Kunstordnung schafft, worein sich der Sprachkörper
mit dem Naturgesetze seiner Prosodie einfügt. Es entsteht so eine
selbständige Welt organischer formaler Schönheit, welche zugleich mit der Musik
lebendig vereinigt bleibt und die kunstreicher verschlungenen Strophen durch den
Tanz auch dem Auge als räumliche Figur vorzeichnet.


Die alt=orientalische Poesie zeigt nur unentwickelte Keime der Rhythmik.
Jn der alt=persischen und indischen Dichtkunst werden die Sylben nur gezählt [1247]
und in gleichen Zahlenreihen zusammengestellt; der epische (und gnomische)
Vers des Sanskrit, der Slokas, zeigt allerdings von dieser ersten
kindlichen Stufe (auf welche die deutsche Poesie nach der Auflösung des
rhythmischen Gesetzes, das in der Poesie des Mittelalters herrschte, einige
Zeit lang zurücksank) einen Fortschritt: er besteht aus sechszehn Moren mit
einer Cäsur in der Mitte; in jeder der beiden Hälften, in welche er hiedurch
zerfällt, sind die vier ersten Sylben in der Quantität völlig frei,
also rein gezählt, die vier folgenden aber metrisch gebunden, indem die
erste Hälfte mit einem Antispast, die zweite mit einem Doppeljambus
schließt, nur daß dort die Schlußsylbe auch lang, hier auch kurz sein kann.
Je zwei solche sechszehnsylbige Verse reihen sich als eine Art von Distichon
aneinander. Es hat sich bei den Jndiern im Verlauf eine große Zahl
anderweitiger Maaße, aber keines mit durchgeführter metrischer Bindung,
entwickelt. ─ Eigenthümlich ist die Bindung von Wortreihen durch die
bloße Einheit des Gedankens in der hebräischen Poesie. Es besteht zwar
eine unbestimmte Grundlage von Sylbenmessung: die offene Sylbe hat in
der Regel den langen, die geschlossene an sich den kurzen Vocal, aber der
Wortton alterirt dieß Verhältniß, ohne doch einem rhythmischen Schema
zu folgen. Da überdieß auch die bloße Sylbenzählung fehlt, so bleibt nur
der Rhythmus der Gedanken-Einheit, der sogenannte parallelismus membrorum,
der zwei Sätze im antithetischen, synonymen oder gar identischen
Sinne zusammenbindet. Allerdings bewirkt dieß jedoch einen gewissen Anklang
von Rhythmus auch in der Form: die Sätze klingen wie Hemistichen,
der Sylbenzahl sind mit der Wiederkehr des Jnhalts ungefähre Grenzen
gesetzt und als Ausdruck einer Neigung zu musikalischem Ersatz tritt gerne
die Assonanz ein. Zu der Ausbildung dieser Seite zeigte der Orient eine
aus der Stimmung seiner Phantasie begreifliche Neigung; der Reim war
in der arabischen Poesie vor der muhamedanischen Zeit und die neupersische
hat ihn (neben einer der deutschen Rhythmik verwandten Herrschaft des
Worttons) aufgenommen.


Wir verweilen bei diesen unentschiedenen Formen nicht weiter, denn
uns beschäftigt vor Allem die Frage, wie der große Gegensatz zweier ausgebildeter
Stylrichtungen, der als rother Faden uns durch die ganze Kunstlehre
begleitet, auf dem rhythmischen Gebiete zu Tage tritt, und wirklich
erscheint er auf demselben in besonders entschiedener Gestalt: hier die ruhige,
wohlgemessene, rein gegossene Form der unmittelbaren, plastischen Schönheit
der griechischen Muse, dort die unruhige, den gebrochneren Körper geistig
durchleuchtende, durch den Ausdruck des Ganzen mittelbar wirkende, malerische,
charakteristische Schönheit der germanischen. Die griechische Rhythmik kann
als das Vollkommnere in diesem Gegensatz, als das Classische im Sinne
des Musterhaften angesehen werden, die deutsche ist genöthigt, in der Ausbildung [1248]
der modernen Form sich ein wesentliches Moment von ihr anzueignen,
doch bleibt nach einer andern Seite die Frage über den größeren
Werth, wie bei allen ächten Gegensätzen, amphibolisch liegen. Jenes
Moment ist das eigentlich Metrische, das wir in der schwierigen Abstraction
der allgemeinen Erörterung bisher unbestimmt bald neben dem Rhythmischen
nannten, bald in dasselbe einschlossen: die Verhältnisse der Länge und Kürze
im Unterschiede von denen des Tongewichts, d. h. vom Rhythmischen im
engeren Sinne des Worts. Die griechische Poesie hat diese beiden Seiten
klar und fest ausgebildet und in Harmonie gesetzt. Sie gieng davon aus,
daß sie dreierlei rhythmische Ordnungen feststellte: von drei, vier und fünf
Momenten, entsprechend dem ⅜, \frac{4}{8} und ⅝ Takte. Wir verfolgen nur
die beiden ersteren Formen mit Uebergehung der dritten, im päonischen
Verse dargestellten, weil diese verwickelte Gestaltung wie aus der Musik,
so auch aus der Poesie verschwunden ist, und haben also eine Form des
ungeraden und eine des geraden Taktverhältnisses vor uns. Daß nun
Tongewicht und Länge in einem Verhältniß der nothwendigen Anziehung
stehen, ist in §. 855 ausgesprochen und diese Anziehung vollendet sich, indem
das Taktleben des Rhythmus seine Verwirklichung findet in einer
Sprache, die ein festes, organisch mitgewachsenes, dem Körper der Sylben
wie die anatamischen Proportionen dem organischen unverrückbar einverleibtes
System von Längen und Kürzen darstellt, zu welchem das Gesetz
der Verlängerung durch Position hinzutritt, dessen Ursprung noch heute aus
der Aussprache von Sylben, die sich mit doppeltem Consonanten schließen,
bei den romanischen Völkern leicht zu erkennen ist. Die zwei ersten Takt=
Momente ziehen sich nun zu einer Länge zusammen, welcher natürlich der
Jctus bleibt, den vorher das erste der drei und vier ursprünglich gleichen
Momente hatte. Die nicht zusammengezogenen Einheiten sind nun Kürzen.
Hiemit wird die rhythmische Form zugleich zur metrischen, d. h. das Taktverhältniß
stellt sich zugleich als ein bestimmtes Verhältniß von Längen und
Kürzen dar und der einzelne Takt-Abschnitt heißt nun Fuß. So sind die
fallenden Metra, das trochäische und daktylische, entstanden; das letztere erzeugt
durch Zusammenziehung auch des dritten und vierten Moments zu einer
Länge den Spondäus. Es ist nun aber natürlich, daß der Rhythmus sich
weiter eine Form aneignet, die wir in allen Gebieten der Bewegung,
namentlich aber in Gang und Sprung als eine in der Natur der Sache
begründete finden: es ist dieß ein den eigentlichen Absprung, das Abschnellen
vom Boden unterstützender, vorbereitender Ansatz, Vorschlag, Ansprung:
die Anakruse. Durch den Vorantritt eines solchen Moments oder zweier
entsteht eine Verschiebung, Durchkreuzung der ursprünglichen Ordnungen
und bildet sich das jambische Metrum, worin je die Kürze, die im Trochäus
auf die Länge folgte, zum nächsten Abschnitte gezogen wird und so der [1249]
Länge vorangeht, und das anapästische, worin es sich ebenso mit den zwei
Kürzen verhält, die im Daktylus auf die Länge folgen. Jn diesem neuen
Verhältniß hat sich auch der Accent verschoben, er fällt nicht mehr auf das
erste, sondern auf das letzte Moment. Dieß sind die einfachen Grundlagen,
woraus sich der ganze rhythmisch=metrische Reichthum der griechischen Poesie
entwickelt, und diese Entwicklung erfolgt wesentlich durch das schon in
unsere allgemeine Erörterung (§. 855. Anm.) aufgenommene Gesetz der
Erweiterung des einzelnen Takt-Abschnitts zur rhythmischen Reihe, worin
nun der verstärkte Accent des ersten Abschnitts ebensoviele Abschnitte beherrscht,
als der einfache im einzelnen Abschnitt Momente. Es sind einfache,
verbundene, symmetrisch zusammengestellte verschiedene Reihen, woraus
die in ihren verschiedenen Graden kunstreicher Bildung rhythmisch=metrischen
Schemata entstehen. Die griechische Poesie hat ferner alle andern wesentlichen
Momente, die wir in der allgemeinen Betrachtung aufgestellt haben, normal
ausgebildet. Wir führen als ein einzelnes Moment noch die Pause an,
wodurch die weitere Ausbildung des rhythmischen Systems mit dem Unterschiede
des katalektischen und akatalektischen Verses bedingt ist. ─ Die griechische
Poesie besitzt nun in diesem klar und fest organisirten Materiale zugleich
die einfach bestimmten Elemente des Stimmungs-Ausdrucks, wie ihn die
Rhythmik zu übernehmen hat. Mit Vorbehalt der unendlichen Modificationen,
welche die Versmaaße durch die Verbindung verschiedener Füße und
die ganze reiche Welt der Strophen erhalten, kann in Kürze hier so viel
gesagt werden: der Stimmungscharakter der Haupt-Metra zeigt an sich
einen einfachen Gegensatz, der aber von einem andern durchkreuzt wird:
der eine ruht auf dem Unterschiede des Geraden und Ungeraden, der andere
auf dem Eintritt der Anakruse. Das ungerade Taktverhältniß ist an sich
das bewegtere, das aufgeregte, allein im Jambus bringt die Anakruse
etwas dem ungeraden Verhältniß Verwandtes herein: die Bewegung muß
durch ein sichtbares Anstreben erst in's Werk gesetzt werden, zeigt die Absicht
des Fortschreitens, markirt sich ausdrücklich, wogegen der Trochäus gleich
mit dem ersten Schritte fest und ohne die Unruhe des Ansatzes auftritt,
daher er im Charakter des Laufes doch zugleich den der ruhigeren Stärke
hat; da er aber im zweiten Momente nachläßt, so hat er nicht das drastisch
Fortstrebende, Dramatische des Jambus, sondern einen Zug von der Weichheit,
schmelzendem Nachlassen, melancholischer, lyrischer Stimmung gesellt
sich seiner Kraft-Entwicklung. Das gerade Taktverhältniß hat an sich den
Charakter der ernsten Ruhe, die ihre Bewegungsmomente gleichmäßig abmißt.
Allein die in zwei raschen Schlägen vorhergehende Anakruse
erinnert an den Ansatz zum Höhesprung, gibt daher dem Anapäste den
Charakter des hastig Aufspringenden, des leidenschaftlich bewegten Lyrischen,
wogegen der Daktylus auf der breiten Basis des vorangeschickten Hauptschritts [1250]
sicher und fest vordringt und nach diesem entschiedenen Anfang dem
Leichten und Beweglichen, doch in ruhiger Gleichmessung, sich zu entfalten
gönnt: der Vers des würdigen, gehaltenen Fortschritts im Epos, der aber
auch mit dem Spondäus wechseln kann, welcher mit seinen zwei ernsten
Längen keine leichtere, hellere Empfindung zuläßt, sondern die Stimmung
tief, dunkel und schwer im Grunde des substantiell Gebundenen, des Erhabenen
zurückhält.


Dieses rhythmische System ist natürlich nur durch seine Anwendung
auf den Sprachkörper mit seinen Längen und Kürzen zugleich ein metrisches.
Aber, obwohl in dieser Anwendung entstanden, ist es doch ein System für
sich, ein idealer Bau, von dem wie von keinem andern rhythmischen Style
gilt, was in §. 855 gesagt ist: ein künstliches System wölbe sich über das
Sprachmaterial her. Dieß findet seinen entschiedensten Ausdruck darin, daß,
wie öfter bemerkt, hier dem Vers-Accente und dem Metrum der Wort=
Accent rein geopfert wird: eine Vollkommenheit und ebensosehr eine große
Unvollkommenheit, genau wie in der Sculptur die Vollkommenheit der
reinen Nachbildung der Form mit der tiefen Unvollkommenheit Eines ist,
daß die Accente der Farbe, des seelenvollen Schimmers im Auge, der
ganzen Welt kleinerer, aber charaktervoller Bewegungen wegfallen. Hier
ist denn die rhythmische Gestalt eine Schönheit für sich, erfreut und befriedigt
auch bei geringerem Werthe des Sprach-Jnhalts und setzt hiefür
jenes unendlich feine Gehör voraus, das dem classischen Alterthum eigen
war und selbst in Rom dem Redner wegen eines schlechten Tonfalls in
seiner Prosa ein Zischen, wegen eines schönen einen Sturm des Beifalls
bereitete. Jn dieser Selbständigkeit des rhythmisch Schönen hatte es auch
seinen Grund, daß das Band mit dem eigentlich musikalischen Vortrage
nicht aufgelöst war und daß sich hiezu bei den kunstreicheren Formen der
gehobensten, feierlichsten Lyrik das zweite, der Tanz, gesellte. Es ist in
dem Anhang über die Tanzkunst von der uns völlig verlorenen Form die
Rede gewesen, welche die rhythmische Schönheit durch Massenbewegung
räumlich objectivirte, als Figur projicirte, s. §. 833.


§. 860.


1.

Dagegen ist der, in seiner reinen Ausbildung nur der germanischen
Dichtung eigene, charakteristische Styl ursprünglich ein System von Accenten,
das mit der Quantität nichts zu thun hat; der Vers-Accent fällt mit dem
Wort-Accente zusammen und heißt Hebung, das Verhältniß der unbetonten
Sylben, d. h. der Senkungen hat kein Gesetz. Jn dieser Rhythmik, worin
also nicht gemessen, nur gewogen wird, herrscht hiemit der Begriff, der Aus-
2.druck. Jm Verlaufe hat sich die deutsche Dichtkunst das Classische in der [1251]
Weise angeeignet, daß die Hebungen für Längen, die Senkungen für Kürzen
gelten und beide gezählt werden. Jndem sich aber daneben die natürlichen
Längen, verschiedene Stufen der Oetonung, die Verschiebung des Accents durch
Zusammensetzung von Wörtern geltend machen und überdieß der Sinn-Accent
den Wort-Accent kreuzt, entsteht ein Gebilde, dessen Körper von dem Geiste,
der sich in ihm bewegt, gelöst und gebrochen ist. Diese Brechung der plasti-3.
schen Schönheit fordert einen Ersatz; derselbe ist gegeben in dem malerischen
und der eigentlichen Musik näher verwandten Mittel des Reims.


1. Wir nennen diesen Styl (dessen Spuren sich übrigens auch in dem
Saturnischen Verse der ältesten römischen Poesie und, wie zu §. 859 berührt
ist, im Hebräischen und Neupersischen finden) vorerst germanisch, weil
er dem Deutschen und Skandinavischen gemein ist, nachher in seiner veränderten
Gestalt deutsch, weil nur in unserer Dichtung diese entstanden und
wahrhaft durchgeführt ist. Von der romanischen (und englischen) Poesie
nachher in Kürze das Nöthige. ─ Jener ursprünglich germanische Styl
bindet nun die Verse allein durch die gleiche Anzahl von Accenten; dieses
rhythmische Gesetz steht aber schon ursprünglich in untrennbarem Zusammenhang
mit der Sprache, es vollstreckt sich also schlechthin nur im Einklange
mit dem Wort-Accent und so heißen die Accente Hebungen. Hebungen
sind Sylben, die in der Sprache an sich accentuirt sind und der Rhythmik
die geforderten Accente herstellen. Nicht betonte Sylben d. h. Senkungen
können zwischen die Hebungen in verschiedener Anzahl treten oder ganz
fehlen; das Gesetz gibt sie frei und es wird dadurch jene nach dem Unterschiede
des Sprach-Jnhalts belebte Mannigfaltigkeit möglich, von welcher
zu §. 858 die Rede war. Es wird also nicht gemessen, sondern gewogen,
die Sprache hat daneben auch Längen und Kürzen, sie kommen aber als
solche schlechthin nicht in Betracht; die Hebung ist in allen Sylben, die
lang sind, wohl zugleich Länge, aber diese Seite geht die Rhythmik nichts
an, die Stufen, Modificationen, verschiedenen Stellungen der Länge zu
der accentuirten Sylbe können demnach die Schwierigkeiten noch nicht erzeugen,
von welchen nachher die Rede sein wird, weil Metrum im eigentlichen
Sinne des Worts gar nicht besteht; ob z. B. Jahrhundert als
Amphibrachy's gebraucht werden darf, kann gar nicht gefragt werden. Dagegen
bereiten die verschiedenen Stufen der Betonung, da der starke wie
der schwache Ton sich noch in Grade theilt, gewisse Schwierigkeiten, in die
wir uns aber hier nicht einlassen können. Die Hebung gehört nun im
Wesentlichen der Wurzelsylbe an, gewisse Bildungssylben und stärkere Flexionssylben
treten daneben allerdings noch mit demselben Anspruch auf, doch ist
jenes das Entscheidende und hiemit, da die Wurzel den Begriff enthält, die
Herrschaft des Sinns als des Tongebenden Prinzips, das Ueberwiegen des [1252]
Ausdrucks über die Form, also der charakteristische Styl ausgesprochen.
Hier steht keine plastisch gemessene Normalgestalt vor uns, sondern eine
unregelmäßigere Bildung, welche durch den bedeutungsvollen Blick, der auf
innere Tiefen weist, für den Mangel der reinen Formschönheit entschädigt.
Es hat sich aber aus den einfach fortlaufenden Verspaaren, welche nur
dieses Gesetz band und als Vorläufer des Reims die Alliteration schmückte,
ein reicher Strophenbau im Mittelalter entwickelt, worin sich ein künstlerischer
Sinn offenbarte, der in seinem Gebiete nicht weniger fein war, als
der classische. Dennoch genügte bei dem Mangel an Quantität auch diese
Kunstbildung nicht: die Alliteration wurde (vermittelst der Uebergangsform
der Assonanz) zum Reime, um sich in ihm den malerischen Ersatz zu suchen.
Wir fassen jedoch den letzteren in dieser Bedeutung erst nachher näher in's
Auge, da er der ursprünglichen und der modernen Form des charakteristischen
Styls gemeinschaftlich ist.


2. Die moderne deutsche Dichtkunst hat nun auch in der äußeren Sprachgestaltung
die Aufgabe des modernen Jdeals erfüllt, den romantischen Gehalt
mit der classischen Form, die subjectiv gestimmte Phantasie mit der
objectiven zu vereinigen (vergl. §. 466 ff.): sie hat sich auf die im §. ausgesprochene
Weise das quantitative Prinzip von der Poesie der Alten angeeignet.
Dadurch ist nun aber eine vielfache Verschlingung und Durchkreuzung
von rhythmisch=metrischen Bedingungen eingetreten. Die niedrigere
Abstufung des Tons wird zum Theil als mittelzeitig behandelt, doch hat
sie selbst wieder einen Unterschied von Graden, welche, an sich zweifelhaft,
nur durch den Zusammenhang ihrer Stellung bestimmbar sind. Volle Länge
gehört nur Wurzelsylben an, und diese haben auch den Accent, allein wie,
wenn der Accent durch Zusammensetzung von Wörtern so verschoben wird,
daß, was sonst Länge war und den ganzen Ton hatte, zwar Länge bleibt,
aber nun schwächeren Ton hat (wie in: Hofjäger, Jahrhundert, Hinzieh'n
die Sylben jäg, Jahr, zieh'n)? Entscheidet man hier trotz der Verschiebung
des Accents leichter für den Gebrauch der geschwächten Sylben als Längen, so
wird dagegen die Frage zweifelhafter, wo eine kurze, aber betonte Sylbe einen
Theil ihres Tons verliert, wie z. B. in Weinberg, Feldschlacht die zweite.
Man mag bestimmen, daß in diesen Fällen Doppelconsonant für Länge
entscheidet, aber man wird finden, daß die freie Bewegung im Verse dadurch
sehr belästigt wird. Das jedoch steht fest, daß nimmermehr der Vers=
Accent
auf eine Sylbe fallen darf, deren starker Ton durch Verbindung
mit einem andern Worte geschwächt worden ist, was denn zur Folge hat,
daß ein zweites, selbständiges Wort als das nicht accentuirte Moment des
Fußes nachhinkt (wie der Hexameter-Schluß von Voß: „der Herrscher im
Donnergewölk Zeus“). Erhellt nun aber doch genugsam, daß hier an die
Stelle des organisch festen Gesetzes der antiken Rhythmik, die zugleich geordnete [1253]
Metrik war, eine vielseitige Bedingtheit und Bestimmbarkeit getreten
ist, so wird dieser Charakter vollendet durch das Gewicht des Sinn=Accents,
der den Wort-Accent und ebenhiemit auch dessen Verwendung als Länge
durchkreuzt. „Jch bin's“ ist Jambus; „bin ich's?“ ist auch Jambus,
aber „bin ich's?“ ist Trochäus (oder, wegen des Doppelconsonanten am
Schluß, Spondäus). Dieß Moment ist es nun aber zugleich, was von
Neuem die Frage über das Verhältniß der natürlichen Längen erschwert,
die durch Verbindungen, Satzstellung doch den Hauptton verlieren. „War“
ist lang und hat starken Ton, aber wenn es in der Frage: „War ich's?
als lang behandelt wird, so entsteht Unklarheit des Sinns, denn es ist
nicht zu erkennen, ob nicht vielmehr gefragt wird: „war ich's?“ ─ Es
ist nicht unsere Aufgabe, hier die Schwierigkeiten zu verfolgen, zu entscheiden
und Regeln aufzustellen, sondern nur, auszusprechen, welcher Geist
und Charakter aus solcher Beschaffenheit der Verhältnisse hervorgeht. Der
Körper dieser Formwelt erscheint nun gegenüber dem festen Fleische und den
normalen Proportionen der classischen zunächst, da er sich davon angeeignet
hat, was möglich ist, zwar regelmäßiger, als die ältere deutsche Form,
welche die Senkungen nicht zählte, aber durch die Verwicklung des hinzugekommenen
neuen Prinzips mit dem ursprünglichen auf der andern Seite
nur desto gemischter, vermittelter, gebrochener, durcharbeiteter, mürber von
allen Seiten; aber die Lichter des Geistes, die auf ihm hin und wiederspielen,
frei ihre Stelle wechseln, ihren Druck jetzt auf diesen, jetzt auf jenen
Punct werfen, auf ihm wie auf Tasten hin und her laufen, geben ihm für
den Verlust der Jugendblüthe ein zweites, höheres, ein wiedergebornes
Leben, das seine Falten verschönert. Es ist dieß noch derselbe Geist, der
den Charakter der ursprünglichen, nicht quantitirenden, deutschen Rhythmik
bestimmt hat: es ist der Jnhalt, die Sache selbst, es gibt keine Rhythmik
als Kunstsystem an und für sich, ohne die innere Bedeutung der Dinge;
aber dieser Geist beherrscht jetzt eine reichere, gemischtere Welt.


Durch die Aneignung der Quantität ist es der deutschen Sprache
möglich geworden, die antiken Versmaaße nachzuahmen. Aber sie hat dabei
doch nicht nur mit den genannten Schwierigkeiten zu kämpfen, sondern der
Mangel eines festen, organischen Wechsels von Längen und Kürzen, zu
welchem wir noch erwähnen müssen, daß uns im Laufe der Zeit zu viele
ursprüngliche Längen verloren gegangen sind, hängt auch mit der wachsenden
Verstümmlung der Flexionen und Bildungen zusammen, die unsere Sprache
erfahren hat, und diese entzieht dem Verse, der doch plastische Schönheit
verlangt, seine natürliche Fülle. Unsere Poesie, Literatur, Sprache hat
unendlich dadurch gewonnen, daß wir die antiken Maaße nachbilden können
und oft nachbilden; aber es bleibt doch eine Maske, ein fremdes Kleid. Es
verhält sich wie mit der Aufnahme der alten Götterwelt und ihrer direct [1254]
idealen Formen in der Plastik und namentlich in der Malerei: eine Versetzung
der Phantasie in eine fremde Welt, die unter Anderem gut und
schön ist, aber nie das Bleibende, das Bestimmende sein kann. Die Nachahmung
der alten Metra als einzig wahres Gesetz ansprechen, wie Klopstock
that, heißt im formalen Gebiet in den falschen Classicismus zurückstürzen,
von dem er selber im materialen, in der innern Welt der Poesie uns befreite.
Wir sollen durch das classische Jdeal Sinn und Gefühl läutern, aber nur
den Honig aus ihm ziehen, nicht seine Zellen nachahmen. Unser Ersatz
für den Verlust an unmittelbarer Schönheit, den wir auf diesem Wege
nicht suchen können, liegt auf einer Seite, die schon vor der Aneignung
des Classischen ihre Ausbildung fand und die wir nun genauer in's Auge
fassen müssen.


Zuvor nur noch Weniges über die romanische und englische Rhythmik.
Die romanischen Völker zeigen in dem ganz unorganischen Verhältnisse,
worein sie das Sprach-Material zu der Versform setzen, daß mit der Verstümmlung,
Mischung und Auflösung des Lateinischen, woraus jenes hervorgegangen,
auch die Jnnigkeit des rhythmischen Gefühls verloren gegangen
ist. Sie zählen nur die Sylben und spannen, unbekümmert um den Wort=
Accent, großentheils selbst um die Quantität, den Vers darüber. Wenn
die antike Rhythmik sich ebenfalls um den Wort-Accent nicht kümmerte, so
war dieß etwas Anderes: sie hatte dafür die strenge Prosodie, worin das
Wort seinen ganzen Naturgehalt organisch geltend machte, und ihr Vers=
Accent war ein reines, künstliches System, nicht ursprünglich auf den Wort=
Accent gebaut, während die romanischen Völker die letztere, germanische
Form annehmen und doch ganz willkürlich anwenden. Am meisten gilt diese
Willkür von den Franzosen, an deren Versbildung man recht auffallend
erkennt, daß ihnen die lateinische Sprache zudem aufgeimpft ist, daß sie
daher kein lebendiges Naturgefühl für den Körper des Wortes haben. Die
Willkür der Anwendung des Vers-Accents (der nach dem modern germanischen
Prinzip als Länge gilt, wie die Thesis, Senkung als Kürze,) wird
hier noch unterstützt durch das sogenannte Sprechen ohne Accent, d. h. die
Betonung der Endsylben neben der Wurzel (nicht schlechtweg Betonung der
Endsylben wie Manche harthörig meinen). Der Armuth, welche die Abstutzung
der ursprünglichen lateinischen Endungen mit sich gebracht, wird
theilweise dadurch abgeholfen, daß die stummen e im Verse gesprochen werden
und gelten, allein nur um so fühlbarer wird der unorganische Zustand, wenn
selbst diese Sylben Accent und Länge tragen müssen. Bei einem solchen
Grade der Willkür würden die Versformen geradezu unkenntlich, wenn nicht
das Gesetz eingeführt wäre, daß am Ende des Verses Wort- und Vers=
Accent immer zusammenfallen müssen. Es kann bei diesen Verhältnissen
von einer Ausbildung reicher gegliederter Versfüße nicht die Rede sein, weil [1255]
nur das Einfachste erkennbar ist; es gibt nur Jamben und Trochäen,
Nachahmung der reicher gegliederten antiken Maaße ist unmöglich. Die
monoton wiederkehrende Zerhackung der rhythmischen Reihe im Alexandriner
entspricht dem Geiste der witzigen antithetischen Zuspitzung, welcher der
Nation eigen ist. ─ Das Jtalienische trägt ungleich mehr Fähigkeit
einer organischen Rhythmik in sich; es läßt im Wesentlichen der Stammsylbe
die entschiedene Betonung und hat nicht alle Flexionen, Endungen
verstümmelt. Die vielen Endungen mit zwei kurzen Sylben liefern neben
dem herrschenden jambischen Tonfalle reichen anapästischen und daktylischen
Stoff, stören aber die Anwendung des Spondäus, welcher ohnedieß der
Verlust sehr vieler lateinischer Längen große Schwierigkeit bereitet. Diese
Sprache ist aber durch die volle Klangschönheit, welche sie vor allen neueren
auszeichnet, so entschieden nach der reichsten Ausbildung der musikalischen
Seite in kunstreich verschlungenen Reimsystemen hingelenkt, daß auch sie das
rhythmisch=metrische Verhältniß in jenem Zustande der Willkür, obwohl dieselbe
nicht so tief greift, wie die französische, belassen hat. Aehnlich verhält
es sich im Spanischen; unter den Versarten entspricht seinem gravitätischen
Geiste vorzüglich der feierlich empfindungsreiche Trochäus, den sie, in kurzen
Reihen Gewicht an Gewicht hängend, sich zu eigen gemacht hat. ─ Die
englische Sprache trägt als original deutsche, mit romanischem Zusatz nur
mäßig gemischte, das Gesetz der Zusammenstimmung von Vers- und Wort=
Accent durch ursprüngliche Natur und Neigung in sich. Anders aber verhält
es sich mit der Fähigkeit, dieses Gesetz so zu verwenden, daß es zugleich
metrische Geltung hat, d. h. Hebung und Senkung für Länge und Kürze
gilt und so die antiken Versfüße nachgeahmt werden können. Das Englische
ist noch weit mehr, als das Deutsche, wo es rein blieb, der Neigung
gefolgt, die Fülle der aus Abwandlung und Ableitung entspringenden Endsylben
abzustoßen, in stumme e zu versenken; so ist es überreich an einsylbigen
Wörtern und seine mehrsylbigen entbehren mit den volleren Endungen
der prosodischen Mannigfaltigkeit. Hiemit mußte das metrische Gefühl sich
abstumpfen, was sich namentlich auch darin zeigt, daß die Willkür im
Gebrauche der Mittelzeiten ungleich größer ist, als im Deutschen. Ferner
hat das gehobene Sprechen, die Declamation im Englischen eine stoßweise
Bewegung, wodurch der Charakter einer Accentsprache sich noch verstärkt
und gegen gesetzmäßige Verwendung der Accentverhältnisse als quantitirender
sich ungleich mehr verhärtet, als das Deutsche. Noch durchgreifender
wird der Accent durch die Stellung des Worts bedingt, der Wort-Accent
durch den Sinn-Accent gekreuzt und auch dadurch eine wirkliche Durchführung
geordneter Längen und Kürzen gestört. Nun ist zwar das Metrische
so weit eingedrungen, daß die Senkungen als Kürzen neben den Hebungen
als Längen durch Zahl geregelt sind, aber die Versmaaße werden doch mehr [1256]
accent=, als quantitäts=mäßig gefühlt; es gibt Daktylen und Anapäste,
aber sie können aus diesem Grunde nicht wohl zur Nachbildung der antiken
Metren, denen sie angehören, gebraucht werden, sie sind beliebt im springenden
Balladen-Versmaaß, aber zwischen Jamben oder Trochäen eingefaßt,
und diese einfachen Formen sind die herrschenden. Die schon erwähnte
Menge einsylbiger Wörter bereitet nun spezieller dadurch große Schwierigkeiten
gegen consequente Uebertragung des Quantitativen, daß dieselben doch
dem Gehalte nach großentheils bedeutend sind, daß dieser in umgekehrtem
Verhältniß zu ihrem Körper steht, daß sie sich daher gegen die Einfügung
in die antiken Verse, namentlich die längeren, sträuben: „ein mit ihnen
gefüllter längerer Vers müßte überfüllt erscheinen“ (Grundriß der Metrik
antiker und moderner Spr. v. Krüger S. 96).


3. Den Reim haben wir mehrfach einen Ersatz für den Verlust der
strengen Gesetzmäßigkeit des metrisch Rhythmischen genannt. Er tritt am
Schlusse des Verses ein, und dieß eben ist recht ein Ausdruck davon, daß
hier im Verskörper selbst noch etwas fehlt, vermißt, gesucht wird, das denn
als Extremität, als Einfassung seinen Gliedern erst den fehlenden organischen
Halt gibt. Er kann auch die rhythmischen Reihen durchschneiden und so in
mehrere Zeilen zerfällen; dadurch ist er eine Quelle der reichsten Mannigfaltigkeit
in Strophen geworden. Durch den Reim tritt nun eine Wiederkehr
neuer Art in die poetische Formbildung ein. Vergleicht man dieselbe mit
den anderen Künsten, so erinnert sie in der Architektur an den gothischen
Styl: dieser liebt das geometrische Spiel der Stellungen, Umstellungen,
des symmetrischen Gegenüber krystallinisch gebundener, aber ohne strengen
Zusammenhang mit dem Structiven in buntem Ornamente schwelgender
Formen, während der classische seine keusch gesparten Ausschmückungen mit
streng organischem Gefühl aus den fungirenden Kräften entwickelt; der
Unterschied zwischen normal rhythmischer Schönheit und zwischen Reimschmuck
bei zerworfenen Verhältnissen der letzteren entspricht auf's Einleuchtendste
diesem architektonischen. Noch näher liegt die Vergleichung mit der Malerei:
es ist tief in der Natur der Sache begründet, daß man bei Farben an
Klänge und bei diesen an jene denkt; die lebendig warme, den Charakter
individualisirende Farbe bringt ganz ebenso das Element einer neuen Qualification
zu der festen Form, die sich in der Sculptur isolirt, wie der Reim
zu dem bloßen Proportionsleben in Takt und Quantität. Am nächsten
aber liegt der Blick in das eng benachbarte musikalische Gebiet: der Klang
des Worts, wie er im Reime technisch verwendet wird, daher als solcher
ausdrücklich in's Gehör fällt, ist tief verwandt mit der Klangfarbe der verschiedenen
Jnstrumente. Gleichzeitig ertönend bringen diese die Harmonie
hervor; der successive Eindruck der Reime tönt noch ungleich bestimmter,
als die wiederkehrenden Zeilen in reimlosen Strophen, wie eine gleichzeitige [1257]
Wirkung im Gefühle nach und so bringt er entschieden ein der musikalischen
Harmonie Verwandtes in die dichterische Form. Jn ihr vereinigt sich verschiedene
Melodie in Einem Gange: der Reim hat aber auch dieß in der
Kreuzung, Verschränkung verschiedener sich entsprechender Folgen, in der
Anreihung solcher Folgen zur Strophe, in der Wiederkehr gleicher Strophen
mit verschiedenen Reimen. Die Harmonie in der Musik haben wir (vergl.
§. 757) als Ausdruck vervielfachter Resonanz Einer Empfindung in demselben
Gemüthe oder in dem Gemüthe Mehrerer gefaßt: dasselbe vertiefte,
erweiterte Gefühlsleben drückt das Echo des Reimes aus, ein liebendes
Herüber und Hinüber, Neigen und Beugen, das bezeugt, daß die Welt der
Gegenstände mit anderer Jnnigkeit und Vielseitigkeit, als durch das blos
gewogene und gemessene Wort, in's Herz zurückgeschlungen und hier verarbeitet
wird. Nun aber ist zunächst wohl zu beachten, daß an sich die
Reimwörter einander nichts angehen. Wenige Wörter sind so sinnverwandt
wie Mark und Stark, Leben und Streben. Jndem der Reim uns dennoch
zwingt, das Fremde, Entlegene wie ein lebendig Einiges zusammenzufassen,
gleicht er dem Witze (vergl. §. 193); sein tertium comparationis ist die
Gleichheit des Klangs und diese freilich noch ein ungleich schwächeres,
äußerlicheres Band, als die Aehnlichkeit der Eigenschaften zwischen den
Dingen, die der Witz zu seinem Spiele verwendet, ausgenommen das Wortspiel
und speziell das Klang-Wortspiel, das wegen seiner nahen Verwandtschaft
oft genug in Reim-Reihen übergeht. Wenn aber der Reim nach
dieser Seite willkürlicher, äußerlicher scheint, als der, doch so kalte, Witz,
so vergesse man nicht, was zwischen und in den Reimwörtern liegt: wirklicher,
empfundener Jnhalt. Der Witz springt momentan, unvermittelt von
Entlegenem zu Entlegenem, das er scheinbar identisch setzt; die reimende
Poesie vermittelt Reihen tief gefühlter Vorstellungen und wenn der Gleichklang
des Reims sie an ihren Enden zusammenfaßt, als wären sie eben
durch ihn wirklich verwandt, wie sie es durch ihn allein vielmehr noch nicht
sind, so wird nun der wirkliche Zusammenhang des Jnhalts, den die Reime
binden, unwillkürlich und unbewußt vom Gefühl auf den Gleichklang so
übergetragen, als ergänze er, was diesem an wahrer, innerer Bindung der
Vorstellungen an sich mangelt. Dieß ist der tiefe, der seelenvolle Reiz in
der Willkür des Reimspieles: man fühlt immer wieder, daß der Gleichklang
nicht wahre Einheit des Jnhalts ist, und läßt sich immer wieder täuschen,
indem man ihm wirklichen inneren Zusammenhang zusetzt und zurechnet.
Allerdings sollen eben darum nicht bedeutungslose Wörter zu Reimen verwendet
werden, außer in komischer Absicht, wo dann das Reimspiel zum
wirklichen Witzspiele wird. Hierüber namentlich vergl. Poggel Grundzüge
einer Theorie des Reims und der Gleichklänge u. s. w., ein Werk voll tiefen
und feinen Sinns für das Geheimniß dieser Form der poetischen Technik. ─ [1258]
Fragt man endlich, ob der Reim auch der Melodie an sich verwandt sei,
so ist dieß natürlich insofern zu verneinen, als auch er mit den Unterschieden
der Tiefe und Höhe, deren charakteristische Folge ja das Wesen der Melodie
bildet, nichts zu schaffen hat. Allein im Gange der Melodie entwickeln sich
immer entsprechende Folgen, Verhältnisse wie Frage und Antwort tauchen
auf, ein Steigen und Sinken zieht sich hindurch; indem nun der Reim ein
System von lauter solchen Correspondenzen ist, so gemahnt er entfernt auch
an den Wechsel von Höhe und Tiefe, in welchem die Musik als Melodie
dieselben entwickelt.


§. 861.


Die Gesetze der Composition können in der Lehre von der Poesie nur
zugleich mit den Zweigen untersucht werden; die Darstellung der letzteren muß
ferner auch die Hauptmomente der Geschichte dieser Kunst in sich schließen.


Es ist klar, daß die Compositionsweise zu verschieden ist in Epos,
Lyrik und Drama, um von der Erörterung dieser Hauptformen, in die
unsere Kunst sich verzweigt, getrennt und für sich behandelt zu werden.
Sogleich die Frage, wie sich die Composition im Rhythmischen äußere, die
hier unmittelbar im Zusammenhange zu liegen scheint, führt darauf: denn
ganz ungleich ist in den Zweigen der Poesie der Umfang, in welchem der
innere Rhythmus des poetischen Kunstwerks sich bestimmend nach dieser Seite
hin ausspricht; insbesondere leuchtet von selbst ein, daß es die Lyrik sein
wird, in welcher die Composition mit besonderer Entschiedenheit als rhythmischer
Bau an den Tag treten muß; da wären wir also unmittelbar zu
der letzteren geführt und dieß verbietet doch ein höheres Gesetz der Eintheilung.
─ Die Lehre von den Zweigen verschluckt aber nach der andern
Seite auch einen ganzen Abschnitt, der bisher überall als dritter in unserer
Anordnung aufgetreten ist. Die Kreuzung der logischen Eintheilung mit
dem Geschichtlichen, wovon in §. 541 die Rede gewesen, ist nämlich in
keiner Kunst so stark und bedeutungsvoll, wie in der Poesie, und fordert
hier wirklich, daß die historische Entwicklung in die Lehre von den Zweigen
sich auflöse. Schon in §. 846, Anm. 1. mußte ausgesprochen werden, daß
jene sich nicht, wie bisher, vom Systematischen trennen lasse. Den eigentlichen
Beweis hiefür wird die Ausführung selbst liefern.

[1259]

b.
Die Zweige der Dichtkunst.


§. 862.


Als die geistigste unter den Künsten erweist sich die Poesie auch dadurch,
daß in ihr erst mit voller Bestimmtheit der Auffassungs-Unterschied der
Phantasie (§. 404), also das Verhältniß des Künstlers zum Gegenstande den
Eintheilungsgrund für die Hauptformen bildet. Hiedurch wird die Stoff-
Beziehung der Phantasie (§. 403) auf die Seite gedrängt, der Gegenstand ist
in jeder Hauptform die Welt und vor Allem der Mensch; der Dichter betrachtet
ihn nur jedesmal von einer andern Seite, wobei allerdings der Ausschnitt des
Stoffgebiets sich verändert, und in einer andern Beziehung der Zeit.


Auffassungs-Unterschiede nennen wir jene Arten der Phantasie, worauf
die Theilung der Kunst in die Künste beruht: die bildende, die
empfindende, die dichtende Phantasie. Die letzte wiederholt die
andern in sich: sie stellt sich auf den Boden der ersten und erzeugt so die
epische, auf den Boden der zweiten und erzeugt die lyrische, ganz und
voll auf den eigenen Boden und erzeugt die dramatische Form. Wir
haben dieß vermöge eines unvermeidlichen Vorgriffs schon öfters ausgesprochen,
denn in den andern Künsten tauchen diese Unterschiede bereits auf,
aber noch ohne entschiedene Kraft. Jn der bildenden Kunst war, ihrem
körperlichen Charakter gemäß, immer noch die Stoffbeziehung bestimmend
für die Eintheilung, der Unterschied des Epischen, Lyrischen, Dramatischen
trat daneben zu Tage am fühlbarsten in der Malerei (vergl. §. 697. 698.
699. 700, 3. 702. 705, 2. 709, 1. 710. 711. 712), aber daß er sich auch
hier noch nicht entscheidend in den Vordergrund stellt, machte sich schon in
der Schwierigkeit der Bezeichnung bemerkbar: wir waren genöthigt, wenn
wir nicht jedesmal den beschwerlichen Ausdruck: Stellung der bildenden
Phantasie auf den Boden der empfindenden u. s. w. gebrauchen wollten, die
Benennungen aus der Poesie vorauszunehmen. Jn der Musik machte sich
dieses Unterscheidungsprinzip natürlich selbständiger, energischer geltend,
doch immer noch halbverhüllt; denn von wesentlichen Unterschieden der
Auffassung kann nur die Rede sein, wo das Subject einem Objecte klar
gegenübersteht; die Musik ist subjectiv, der Stoff nicht mehr entscheidend,
aber sie ist zu subjectiv, um nicht ebenfalls in dieser Beziehung von der
Poesie Licht zu erwarten. Nun aber steht klar vor uns, was sich bis dahin
nur undeutlich an die Oberfläche drängte: wir haben eine Eintheilung, wie [1260]
sie so scharf und entschieden in keiner andern Kunst auftritt. Sie ist daher
auch längst stehend und die Aesthetik hat hier nicht mehr das schwierige
Geschäft der Entwirrung von Unterscheidungen, die im gewöhnlichen Bewußtsein
dunkel nebeneinander herlaufen. Die Stoffbeziehung der Phantasie
tritt nun also nothwendig zurück. Von einer besondern Richtung auf das
Landschaftliche, Thierische kann ohnedieß nicht die Rede sein: wir haben
gesehen, daß es mit dem Satze, der Jnhalt des Schönen sei im höchsten
Sinne die Persönlichkeit, in der Poesie voller Ernst wird (§. 842). Der
Mensch ist die wahre Aufgabe aller Kunst, und er ist es in der Poesie
ausdrücklich; er wird in jeder ihrer Hauptformen nur von einem andern
Standpunct aufgefaßt und so verändert sich freilich, da die veränderte Auffassungsseite
eine veränderte Beziehung zum Stoffgebiete mit sich bringt,
jedesmal auch der Ausschnitt aus dem letzteren, wie denn z. B. das Epos
landschaftliches und thierisches Leben in ganz anderem Umfang aufnimmt,
als das Drama. Es wird sich zeigen, daß dieser Unterschied der Umfassung
des Stoffes namentlich davon abhängt, ob die reinmenschliche oder die
geschichtliche Richtung herrscht, und diese Arten der Richtung der Phantasie
haben wir zwar in §. 403 zu denjenigen gestellt, welche sich auf den Stoff
beziehen, sie fallen aber, wo die Auffassung als solche entscheidend herrscht,
natürlich an diese herüber. Dieß wird sich im Verlaufe näher erklären.
Uebrigens mag die Dichtkunst den Weltstoff in kleinem oder großem Umfang
aufnehmen, bezogen ist der Mensch immer auf die Natur und Alles rings
um ihn, daher ist der Jnhalt der Poesie immer die ganze Welt; sie sieht
vom Menschen aus die Welt. ─ Der veränderte Standpunct der Beleuchtung
bringt nun aber allerdings zugleich jedesmal eine andere Erstreckungsseite
der Zeit mit sich: wir werden sehen, daß das Epos den Gegenstand
unter dem Standpuncte der Vergangenheit betrachtet, in der lyrischen
Dichtung Alles zur Gegenwart im Gefühle wird, im Drama die Gegenwart,
indem sie sich als Handlung entwickelt, sich gegen die Zukunft spannt.
Es hat dieß zwar seine logischen Schwierigkeiten und darf nimmermehr zum
Eintheilungsgrund erhoben werden wie von Just. Fr. Richter (Vorsch. d.
Aesth. §. 75), aber es steht im tiefsten Zusammenhange mit der Weise, wie
das Jch des Dichters mit seinem Gegenstande sich durchdringt, und dieses
Moment ist jetzt vor Allem bestimmter hervorzuheben.


§. 863.


1.

Der Unterschied der Arten der Phantasie, der sich auf die Weise der Auffassung
gründet, hat seinen tieferen Grund in dem Gesetze der Diremtion des
Objectiven und Subjectiven und ihrer Zusammenfassung im Subjectiv-
Objectiven
(vergl. §. 537) und dieses tritt jetzt in seiner ganzen Bestimmtheit [1261]
hervor als ein Unterschied des Durchdringungsprocesses zwischen dem Jch des
Dichters und seinem Gegenstande. So wiederholt sich in der Dichtkunst nicht nur
das System der Künste, als deren Totalität sie sich nun bestimmter (vergl.
§. 838) erweist, sondern zugleich das ganze System der Aesthetik. Mit2.
diesem innersten Eintheilungsprinzip ist zugleich ein Unterschied im Grade
des Umfangs
und in der Art der Technik gegeben, aber die Geistigkeit
der ganzen Kunst und ihres Mediums ist Ursache, daß die verschiedenen Hauptformen
sich nicht als Künste ausscheiden, sondern nur als Zweige einer Kunst
auftreten (vergl. §. 538).


1. Wie die Dichtkunst den Charakter der bildenden und den der Musik
in sich vereinigt, ist aufgezeigt worden. Es wiederholt sich hiedurch das
System der Aesthetik in ihr, indem in der bildenden Kunst auf veränderter
Stufe die Objectivität des Naturschönen, in der Musik die Subjectivität
der Phantasie wiederkehrt, und ist so in ihrer concreten Totalität dieser
Grundgegensatz schließlich zusammengefaßt. Allein nicht genug: der Kreis
kehrt in der Poesie noch einmal in sich zurück, denn in ihren Zweigen
wiederholt sich die Stellung, die in den verschiedenen Künsten der Künstler
zum Object einnimmt, und zwar in einem Processe von solcher Entschiedenheit
und Klarheit, daß die Wiederholung zugleich eine Vertiefung, eine
vollere Verwirklichung ist und rückwärts das Entsprechende, was den Künsten
im Großen zu Grunde liegt, in helleres Licht stellt. Auseinandergesetzt
kann dieser Proceß in seinen Unterschieden noch nicht werden, ohne daß
zu stark vorgegriffen wird, doch sagen wir in Kürze so viel: es wird sich
zeigen, wie dem epischen Dichter die Welt eine gegebene, feste, objective
Macht ist und bleibt, obwohl sein Jch neben dem Jnhalt sichtbar hervortritt
und der Stimmung nach ruhig betrachtend über den Dingen schwebt,
wie der lyrische die Welt ganz in subjectives Empfindungsleben umsetzt,
wie der dramatische sie als eine nun subjectiv ganz durchdrungene oder in
das Subject ganz eingegangene in der Form der Handlung wieder entläßt
und entfaltet, so daß man sein Jch gar nicht wahrnimmt, weil es ganz
darin, daß er ganz abwesend, weil ganz gegenwärtig ist. Jn diesen Wendungen
des Verhältnisses scheidet sich denn zu bestimmten Hauptformen das,
worin der Dichter dem bildenden Künstler, worin er dem Musiker verwandt
und worin er ganz er selbst ist, und mit dieser Wiederkehr der Künste
wiederholen sich in der Poesie abermals die entsprechenden Haupttheile des
ganzen Systems: die Objectivität des Naturschönen, die Subjectivität der
Phantasie und die erfüllte Einheit beider in der Kunst. Ohne Zwang
läßt sich hinzusetzen: die Poesie kehre, indem sie so das Ganze des wirklichen
Schönen in sich vertieft wiederholt, als die idealste Kunst in den ersten
Theil des Systems, die reine, allgemeine Jdee des Schönen, zurück. ─ [1262]
Hier ist nur noch das Nöthige zur Rechtfertigung der Stelle zu sagen, die
dem Lyrischen gegeben ist. Es scheint der Zeit und dem Begriffe nach,
oder, wenn man will: der Zeit nach, weil dem Begriffe nach vielmehr
das Erste zu sein, denn die Poesie ist die enge Nachbarinn der Musik,
kommt aus ihr und schickt sich an, aus der Jnnerlichkeit der Empfindung
die Welt der Objecte wieder zu erschließen und auszubreiten, ihr Wesen ist
die Entfaltung der innerlich verarbeiteten Welt; daher waren lyrische Ergießungen
der unmittelbaren Empfindung nothwendig überall die ersten
Aeußerungen der dichterischen Phantasie. Ein Jnteresse der bloßen logischen
Consequenz, die Kategorie der Objectivität um jeden Preis voranzustellen,
wäre nur eine Verirrung der Abstraction und das System könnte ganz
ebensogut hier dem Subjectiven die erste Stelle anweisen, dann das Objective
aus ihm hervortreten lassen, endlich beide vereinigen, als in der Gruppe
der bildenden Künste umgekehrt die subjectivste unter ihnen, die Malerei,
als dritte, nicht als zweite gesetzt worden ist. Allein genauer betrachtet
verhält sich die Sache anders: die ältesten Lieder waren überall objectiven
Jnhalts, priesen Thaten der Götter und Menschen; freilich in lyrischem
Tone, und man kann insofern sagen, es liege hier eine noch unentwickelte
Einheit des Lyrischen und Epischen vor, allein es war keine Einheit, die
ein Gleichgewicht enthielt, vielmehr das objective, epische Element herrschte
und gestaltete sich zuerst weiter zu bestimmten Formen, zu Heldenliedern,
die dann zu Epen zusammenwuchsen, während das subjective, lyrische noch
lange Zeit viel zu unentwickelt blieb, um als entschiedene Form in das
Licht der Geschichte der Poesie herauszutreten, vielmehr die späte Reife der
Bildung abwarten mußte, die dem erfahrungsvolleren, durcharbeiteten Gemüthe
des Menschen erst die tiefere und reichere Resonanz gibt, ihm die
Menge von Saiten aufzieht, welche erklingen muß, wenn von einer lyrischen
Dichtung als stehendem Zweige soll die Rede sein können. Historisch und
psychologisch hat den Beweis für den Vorgang des Epischen Wackernagel
geführt (Schweiz. Mus. f. histor. Wissensch. „Die epische Poesie“ B. 1 u. 2).
Wir haben den innern Grund mit der letzten Bemerkung bereits angedeutet:
der ideale Weltgehalt erscheint dem Jndividuum, das noch nicht durch die
Arbeit der Bildung in sich zurückgetreten ist, als objectives Sein, Macht,
Geschichte. Kindliche Bewunderung all' des Vielen und Herrlichen, was
es gibt, ist der erste Standpunct. Dennoch behält jener Begriff einer
ursprünglichen, unentwickelten Einheit des Lyrischen und Epischen in den
ältesten erzählenden Liedern seine relative Richtigkeit; jenes war im Keime
vorhanden, mußte dann diesem den Vortritt lassen, nahm aber, als es selbst
an die Reihe der Entwicklung kam, die Form wieder auf, in der es einst
neben dem Epischen geschlummert hatte, und gab ihr wirklich lyrische Gestalt;
dieß wird an seinem Orte näher erklärt werden.

[1263]

2. Jn §. 540 ist „Moment und Grad des Umfangs“ als weiterer
Theilungsgrund für die Zweige der Künste aufgeführt. Der „Moment“
fällt in der Poesie weg, da sie überhaupt in der Zeitform sich bewegt, daher
immer eine Reihe von Momenten vorüberführt und also kein Unterschied
entstehen kann, der darauf begründet wäre, daß der Gegenstand in einem
so oder anders beschaffenen Moment aufgefaßt würde; der Unterschied im
Grade des Umfangs aber macht sich nachdrücklich geltend: Epos und Drama
geben ein Weltbild, jenes extensiver, dieses intensiver, das lyrische Gedicht
dagegen ist ein kleines Ganzes, das wohl auch die Welt unter einer
bestimmten Beleuchtung im Gemüthe spiegelt, welches ja an sich ein Mikromus
ist, allein die Kleinheit des Umfangs ist nicht gleichgültig, im einzelnen
Reflexe ist nur sehr mittelbar das Ganze der Welt und des Gemüths der
Persönlichkeit enthalten. ─ Mit der Auffassung wird auch die Technik eine
andere. Unter dieser verstehen wir jetzt die äußere Form, die Rhythmik;
denn nicht wird, wie im Fortgang vom einen Gebiete der bildenden Kunst
zum andern, oder, was dem Verhältniß eigentlich entspricht, wie im Uebergange
von dieser zur Musik und von der Musik zur Poesie das ganze
Material gewechselt, da ja alles eigentliche Material abgeworfen ist und
mit einem geistigen Medium in Geist gearbeitet wird. Dieß muß ausdrücklich
noch gesagt werden, um daran die Wiederaufnahme des Satzes in
§. 538 zu knüpfen, der nunmehr seine völlige Begründung gefunden hat:
die Hauptformen der Poesie sind als die Wiederholung der großen Kunstgebiete
und der Haupttheile des Systems so bedeutend, daß sie eigentlich
nicht dem entsprechen, was wir in den andern Künsten Zweige nennen,
aber die Geistigkeit des Elements läßt nicht die Jsolirung und Verselbständigung
dieser Formen zu, welche in den andern Gebieten Künste begründet,
und so erscheinen dieselben dennoch als Zweige einer Kunst.


§. 864.


Jn der weiteren Eintheilung der Zweige tritt theils der Unterschied der
Style, und zwar in tiefem Zusammenhang mit dem des Mythischen und nicht
Mythischen, als entscheidendes Moment auf, theils macht sich ein Unterschied
des Objectiven und Subjectiven in neuer, eigenthümlicher Bedeutung
geltend, theils greift mit einer Bestimmtheit wie in keinem andern Gebiete der Unterschied
der Grundgegensätze des Schönen (§. 402) durch. Daneben machen
sich in verschiedenen Verhältnissen die andern Eintheilungsgründe (§. 540) geltend.


Der §. deutet an, welche Momente der Reihe nach innerhalb der Zweige
der Poesie als Eintheilungsgründe für ihre einzelnen Formen an die Spitze
treten. Wir belassen es zunächst bei dieser Andeutung und bemerken nur
über das an zweiter Stelle genannte Moment so viel im Voraus: es [1264]
handelt sich hier vom Lyrischen und es wird sich zeigen, daß in diesem Gebiet
an die Stelle dessen, was wir Auffassungs-Unterschied der Phantasie
(bildend, empfindend, dichtend) nennen, ein anderer Unterschied treten muß,
der mit ihm verwandt, aber nicht identisch ist: es wird sich hier von verschiedenen
Graden handeln, in welchen der Stoff in das Gefühl eingeht,
sich in inneres Gemüthsleben verwandelt oder von demselben sich wieder
ablöst. Dieß wird sich seines Orts näher erklären und ebendamit der abweichende
Sinn, worin hier die Kategorie des Objectiven und Subjectiven
auftritt. Auch die entscheidende Bedeutung, welche nun das dritte unter
den angeführten Momenten, der Gegensatz des Ernsten und Komischen,
gewinnt, verfolgen wir jetzt noch nicht weiter, sondern bemerken, was die
im §. zunächst genannten Eintheilungsmomente betrifft, nur noch im Allgemeinen,
daß, wo eines derselben an die Spitze tritt, die andern dadurch
nicht ihre Geltung verlieren, sondern für weitere Unter-Eintheilungen auf
verschiedene Weise bestimmend werden, so namentlich auch jener Auffassungs=
Unterschied, der nur im lyrischen Gebiete sich in einen andern verwandelt.
─ Dazu kommen nun die Eintheilungsgründe, die außerdem in §. 540
allgemein aufgestellt worden sind: es ist die Stoffbeziehung der Phantasie
(nach §. 403), welche untergeordnete Geltung gewinnt: man denke nur an
die heroisch=mythische Welt des Epos, die reale des Romans und wieder
an den historischen, den socialen Roman u. s. w., an das politische und
an das bürgerliche Drama, wobei denn auch der Unterschied des Styls im
höchsten Grade wichtig wird; ferner tritt der Unterschied im Grade des
Umfangs noch einmal auf (Roman und Novelle, Drama und Farce) und
es wird sich zeigen, ob in der engeren Eintheilung auch der des erfaßten
Moments entscheidend eingreift; endlich macht sich der Unterschied der Technik,
worunter wir jetzt neben der Sprachform auch die Compositionsweise verstehen,
innerhalb der einzelnen Zweige geltend. Auch hierüber enthalten
wir uns noch aller Erläuterung, um nicht zu sehr vorzugreifen.

[1265]

α. Die epische Dichtung.


1. Jhr Wesen.


§. 865.


Jm Charakter der Objectivität, der vollen und scharfen Absonderung
vom Subjecte, wie sie dem Werke der bildenden Kunst eigen ist, kann der
Dichter seinen Gegenstand nur dadurch hinstellen und halten, daß er ihn als
eine vergangene Begebenheit erzählt. Als Erzähler bleibt er aber
neben dem Jnhalt in naiver Synthese gegenwärtig und in seiner Thätigkeit
sichtbar; nur dem Geiste der Behandlung nach tritt er hinter ihn zurück und
weiß oder behauptet sein Product nicht als solches, sondern als selbständiges
Leben des Gegenstands.


Es ist zuerst der Unterschied des epischen Dichters vom bildenden Künstler
in der Aehnlichkeit genauer in's Licht zu setzen. Dieser nimmt einen Stoff
in seine Phantasie auf, greift dann zu körperlichem Materiale, formt, meiselt,
malt daran und damit, bis sein Phantasiebild in voller, scharf abgeschnittener,
räumlicher Gegenüberstellung vor den Zuschauer tritt. Jetzt ist der
Künstler verschwunden, er hat sein Werk stehen lassen, wir finden es im
Raume vor wie ein schönes Natur-Object. Der Dichter aber bleibt bei
seinem Werke; er ist thatsächlich auch weggegangen, nachdem er es vollendet
hat, aber während wir es genießen, mag es ein Anderer vortragen oder
mögen wir es lesen, ist er dabei und darin, denn statt des Materials hat
er ja nur das Wort, er spricht es, er spricht mit uns, bis wir zu Ende
sind. Und dieß wird eben gerade ausdrücklich fühlbar, wo er uns Vergangenes
vorträgt: da leuchtet recht ein, wie wir im lebendigen Worte den
Dichter zugleich gegenwärtig haben, während der ihm so verwandte bildende
Künstler schweigend sein Werk im uneigentlichen Sinne erzählen läßt. Daher
heißt diese Gattung Epos: Wort. Wir nennen das Verhältniß zwischen
dem Dichter und dem Jnhalt im Epos das einer naiven Synthese, weil
bei diesem einfachen Vortreten des erzählenden Dichters noch gar nicht gefragt
wird, inwieweit er denn der Umbildner, Schöpfer des Jnhalts sei;
genug, sein Subject ist da. Soll sein Werk in emphatischem Sinn objectiv
heißen wie das des bildenden Künstlers, so muß diese Eigenschaft anderswo
liegen, als in dem eigentlichen Verfahren. Zunächst ist es die Vergangenheit
des Stoffs als einer Begebenheit, was die Objectivität mit sich bringt.
Das Vergangene ist fertig, abgesondert vom Subjecte, tritt in beschlossenem
Gegenschlag ihm gegenüber. Hiemit steht aber im innigsten Zusammenhange [1266]
der Geist des Verfahrens, der von der allgemeinen Kunstform des
Verfahrens wohl zu unterscheiden ist. Gerade weil er ein vergangener ist,
kann der Stoff so behandelt werden, als habe er sich selbst gemacht und
der Dichter thue nichts dazu, sondern stehe blos mit dem Stabe daneben
und zeige die Bilder wie Sculpturwerke oder Gemälde, wo wir von Theil
zu Theil, von Bild zu Bild fortrücken; darin also liegt die tiefe Verwandtschaft
mit dem bildenden Künstler. Man hat dieß nicht immer unterschieden,
wie man es sollte; Hegel z. B. sagt einfach, der epische Dichter
verschwinde in seinem Gegenstande, nur das Product, nicht aber er erscheine
(Aesth. Th. 3, S. 337), Göthe: der Rhapsode sollte als ein höheres Wesen
in seinem Gedichte nicht selbst erscheinen u. s. w. (Briefwechsel zwischen Göthe
und Schiller B. 3, S. 378). Schon der antike Anruf an die Muse spricht
aber aus, daß der begeisterte Dichter gegenwärtig ist, er kann auch sonst mit
lyrischen Wendungen, mit Betrachtungen hervortreten, ohne daß darunter
die Objectivität im Geiste des Verfahrens litte. Der §. sagt: der Dichter
„weiß oder behauptet sein Product nicht als solches,“ um dem Unterschiede
des ächten, ursprünglichen Epos und der späteren Formen, die näher am
Romane liegen, namentlich aber des Romans selbst seinen Spielraum zu
lassen, denn wir sind noch im Allgemeinen. Der Dichter kann nämlich
noch immer vom epischen Geiste der Gegenständlichkeit durchdrungen sein,
obwohl er mit seiner Zeit schon weit entfernt ist vom naiven Glauben an
die geschichtliche Wahrheit seines Stoffs, von jenem Verhältnisse, worin er
nur „Mund der Sage“ ist und worin auch ein schöpferisches Umbilden des
Gegenstands von keinem vollen Bewußtsein der eigenen freien Thätigkeit
begleitet ist; da wird er aber mit einer gemessenen, milden Jronie dieses
Bewußtsein verbergen und sich durchaus benehmen, als gebiete ihm der
Stoff, und dieß wird insofern keine Unwahrheit sein, als der Auffassung
nach allerdings die Nothwendigkeit des Weltlaufs ihm imponirt: das ästhetische
Spiel besteht nur darin, daß er vermöge einer Vertauschung der
Subjecte vorgibt, als gelte der Respect, den er der inneren Wahrheit zollt, der
äußeren, thatsächlichen. Allerdings gedeiht aber jener Geist der Gegenständlichkeit
besser, wo es dieser Uebertragung nicht bedarf, sondern der
Dichter mit ungetheilter Naivetät in der Sache ist.


§. 866.


Hiedurch ist die ganze Weltauffassung des Dichters bedingt. Er hat
allerdings in einer Handlung das Leben des Willens und seine Conflicte
darzustellen, aber als vergangen ist dieselbe der Nothwendigkeit anheimgefallen
und stellt sich mit allen übrigen Bedingungen des Geschehens unter den
Standpunct des Seins, der Substantialität. Die Hauptperson, der Held, [1267]
erscheint daher trotz der Selbständigkeit der That, die jedoch überhaupt nicht
von schneidend radicalem Charakter sein darf, als getragen vom allgemeinen
Strome des Weltlebens, auf den er als voller Mensch vielseitig bezogen ist,
und der innere Proceß des Willens, wie gründlich er auch aufgedeckt werden
mag, wird ebensosehr als ein äußeres Bestimmtsein, die That als sinnliche Bewegung
der Außenwelt in der Breite ihrer Erscheinung dargestellt.


Wir unterscheiden das Weltbild des epischen Dichters von seiner Persönlichkeit
und Stimmung und handeln zuerst von jenem. Hier sind nun,
wie Göthe nnd Schiller in ihren trefflichen Erörterungen über Epos und
Drama klar erkannten (vergl. a. a. O. B. 3, S. 374), alle wesentlichen
Züge vom Merkmale des Vergangenen abzuleiten, und dazu hat der
vorh. §. den Grund gelegt.


Der wesentliche Jnhalt des Epos ist Handlung; die Grundaufgabe
der Poesie, Persönlichkeit, Handlung, mithin inneres Leben (vergl. §. 842)
darzustellen, gilt natürlich auch diesem Zweige und kann durch die folgenden
scheinbar widersprechenden Bedingungen nicht aufgehoben werden. Schon
Aristoteles (Poetik C. 23) fordert für das Epos wie für die Tragödie
dramatischen Jnhalt, d. h., daß Eine vollständige und vollendete Handlung
den Mittelpunct bilde. Sie bewirkt dieß dadurch, daß sie die Vielheit des
Geschehenden durch das Streben nach einem aus freier Willensbestimmung
gesetzten Ziele zur Einheit bindet. Dieß eben ist der Unterschied von der
bloßen Begebenheit, wie wir in §. 865 den Jnhalt noch bezeichnet haben,
und hiemit, wie Aristoteles hervorhebt, von der Geschichtschreibung, deren
Verhältniß zur Poesie in §. 848, Anm. besprochen ist. Allein die
Handlung im Epos ist vergangen. Jm Augenblick ihres Eintritts scheint
jede Handlung wie eine aus grundloser Tiefe steigende, nur von sich ausgehende,
im tiefsten Sinne des Wortes radicale Macht den Complex des
Wirklichen zu durchbohren; ist sie aber vollendet und vorüber, so zählt man
sie selbst zu diesem Complexe. Zunächst einfach, weil nichts mehr an ihr
zu ändern ist, sie ist nothwendig geworden; aber man blickt auch zurück,
man überschaut sie im Zusammenhang, man urtheilt pragmatisch, man
sucht und findet die vielerlei Motive, die von außen und von innen wirkten
und auf weitere Motive und Ursachen zurückweisen; sie erscheint so als
Wirkung, als ein Gegebenes; man blickt vorwärts und erkennt sie als
Ursache einer Vielheit von Wirkungen, die mit dem Beabsichtigten, also
dem Willen, nur sehr mittelbar zusammenhängen. So reiht sich trotz dem
innern Unterschiede die Handlung in die Linie aller andern Ursachen und
Wirkungen ein, die als Ganzes nur die Bewegung des nothwendigen, einfachen
Seins ist, und es stellt sich auf einem Umwege der Begriff der Begebenheit
wieder her. Wenn Schiller (a. a. O. Th. 3, S. 86) sagt, der [1268]
dramatische Dichter stehe unter der Kategorie der Causalität, der epische
unter der Substantialität, so ist unter dem ersteren Begriffe die rein von
vorn anfangende innere Causalität zu verstehen, nicht die Reihe der Causalitäten,
der äußeren und inneren miteinander, wie sie eben als die Expansion
der Substanz erscheint. Das aber ist richtig, daß Handlungen, die sehr
nachdrücklich zunächst den Charakter tragen, daß sie den Faden des Gegebenen
revolutionär durchschneiden, kein epischer Stoff sind. Die Epochen
der Geschichte, die dem Epos und die dem Drama den Stoff liefern, die
großen Männer, die mit dem Ganzen gehen, und jene, die sich von den
Massen losreißen, isoliren, um eine neue Ordnung der Dinge zu schaffen,
hat treffend Gervinus unterschieden (Gesch. der poet. Nat.=Lit. der Deutschen,
1. Ausg. B. 5, S. 491 ff.). Dieß führt uns auf die Organe der Handlung
und das Hauptorgan, den Helden im Mittelpunct. Er muß als ein
Subject der lebendigsten Selbstthätigkeit hervorragen. Allein wie frei und frischweg
von innen heraus er handeln mag, so folgt doch eben aus dem einreihenden,
an die Summe der Bedingungen anknüpfenden Charakter der Auffassung
und Stoffwahl, daß auch diese Selbstthätigkeit wieder nur als Glied des
Complexes erscheint, der als Ganzes nothwendig ist; der epische Held
schwimmt mit starkem Arme, aber nicht gegen, sondern mit der Woge, und
die Wassermasse, die er theilt, hält doch ihn selbst. „Jm Epos trägt die
Welt den Helden, im Drama trägt ein Atlas die Welt“ (J. P. Fr. Richter,
Vorsch. der Aesth. §. 63). Diese Selbständigkeit ohne Jsolirung nimmt in
den Arten der epischen Poesie allerdings verschiedene Formen an und wird
fast zum bloßen Verarbeiten von Eindrücken, Leidenschaften, Bildungsmomenten
in demjenigen Gebiete, wo es sich nicht um Thaten, sondern um
Bildung handelt (Roman; W. Meister z. B. ist übrigens allzu unselbständig),
aber der Grundbegriff bleibt der gleiche. ─ Mag nun die Thätigkeit des
Helden die lautere oder stillere sein, die Entschlüsse keimen und gähren im
tiefen Grunde der Seele und es fragt sich, ob oder wieweit die epische
Poesie mit diesem innern Processe sich zu beschäftigen habe. Natürlich nicht
schlechthin darf man dieß verneinen, es bleibt vielmehr auch für diese Gattung
der Satz in Kraft, daß die Poesie mehr, als jede andere Kunst, den Grund
des Lebens in das Jnnere verlege und die Welt des Bewußtseins schildere
(§. 842), allein nach zwei Seiten macht sich die substantielle, sächliche Auffassung
des Epischen geltend. Der innere Proceß selbst erscheint mehr als
ein Bestimmtsein, denn als ein Wollen, das Geisteswerk selbst als ein
Naturwerk, Wachsen, Reifen oder plötzliches Entstehen; es kommt über den
Helden wie eine fremde Macht, den Achilles warnt eine innere Stimme,
seinen Zorn gegen Agamemnon mitten im Ausbruche zurückzuhalten: es
ist Athene, die ihn an der blonden Locke faßt; so werden die innern Motive
selbst zu Begebnissen (Hegel a. a. O. S. 356. 357), und sind es nicht [1269]
Götter, in denen das Subjective selbst objectiv erscheint, so sind es Umstände,
allgemeine Lebensmächte, moralische Nothwendigkeiten, die wie Naturnothwendigkeiten
auf das Jnnere wirken, Jnstincte. Zu dieser Seite
gehört noch wesentlich, daß im epischen Helden nicht die Straffheit seines
Zweckes die übrige Mannigfaltigkeit einer reichen Menschennatur beschränken
und streng zusammenspannen darf: er muß ein voller, in reichen Beziehungen
gegen die Welt geöffneter, allseitig empfänglicher, in mancherlei Verhältnissen
sich bewegender Mensch sein (vergl. Hegel's schöne Darstellung Aesth. B. 1,
S. 304. 305; B. 3, S. 361 ff.) Es folgt dieß aus dem Charakter der
Sächlichkeit, der Substantialität, der realen Bedingtheit; wo das Weltwesen
waltet, muß die Vielheit seiner Fäden vor Allem gerade in der Beziehung
auf das Centrum der Persönlichkeit sich behaupten, nach demselben hin und
von ihm wieder auslaufen. Die andere Seite liegt auf dem Puncte, wo
das Jnnerliche sich erschließt. Es gilt trotz dem Obigen, daß das Epos
mehr den außer sich wirkenden, als den nach innen geführten Menschen
behandelt (Briefwechsel zwischen Göthe und Schiller a. a. O. S. 375. 376).
Der innere Proceß muß selbst schon darauf angelegt sein, daß er auf ein
breites, Massenbewegendes Wirken geht; geschieht dieß nicht in dem Sinne,
daß die Handlung vor Allem die sinnlichen Organe des Menschen selbst
gewaltig, heldenmäßig und dadurch erst große äußere Massen (tantae
molis erat, Romanam condere gentem
ist ächt episch) in Bewegung setzt,
so muß doch in anderer Form, in Reisen, Unternehmungen und Thätigkeiten
jeder Art, die in's Weite gehen und sich beziehungsreich in die Weltverkettung
einflechten, das im Jnnern Gewordene diesen in's Aeußere stetig
auslaufenden Charakter offenbaren.


§. 867.


Weiter folgt aus der Grundbestimmung, daß der Held nicht isolirt auf-1.
tritt, sondern in instinctartiger Gesellung Viele zusammenwirken. Mit der
massenhaften Fülle der Personen theilt sich die Handlung in eine Mannigfaltigkeit
untergeordneter Handlungen. Neben den Menschen und ihn bewegend tritt2.
auf gleiche Höhe des Jnteresses das ganze übrige Dasein in seiner Breite: die
sämmtlichen Culturformen und vor Allem die Natur in der geschlossenen Gesetzmäßigkeit
ihres Lebens und Bildens. Daher wird auch das Geschichtliche
mehr im Elemente des allgemein Menschlichen aufgefaßt und ist das Epos dem
Sittenbilde verwandt.


Die epische Poesie setzt Massen, ja ganze Völker in Bewegung, denn
sind die innern Motive einmal sächlich, substantiell gefaßt, so wollen sie
auch große Bahnen, worauf Viele mitgehen. Sie wirken instinctiv, man [1270]
folgt dem Zuge des Zwecks als einer Macht, von der man gebunden ist,
ohne zu fragen: warum? So halten die Griechen und die Nibelungen zusammen,
ohne sich von einer allgemeineren Jdee als Grund ihres Handelns
Rechenschaft zu geben, jene, um einen Frauenraub zu rächen, wobei sie die
höhere Bedeutung des Kampfes von Occident gegen Orient kaum ahnen,
diese durch das Band der Vasallentreue vereinigt. Auch der stillere Bruder
des Epos, der Roman und was ihm verwandt ist, spielt immer unter
Massen, die etwas zusammenbindet, was als unvordenkliches Gesammtproduct
unbestimmt vieler Jndividuen stärker ist, als das einzelne Jndividuum, und
über der Willkür desselben steht. Daher fühlt sich überhaupt auch in einzelnen
Anschauungen alles massenhaft Bewegte episch an, z. B. das Gewoge
einer Menge, worin Alles blind mit dem Strome geht: so der Zug der
Ausgewanderten in Göthe's Hermann und Dorothea, mit den Wagenladungen,
denen man die wahllose Hast des Aufbruchs ansieht, der Wirrwarr,
der aus dem Gedräng ihrer Menge, ein andermal aus der Ungeduld
entsteht, womit man sich auf eine Quelle stürzt. Ziehen, Wandern in
Menge ist immer namentlich episch; der epische Mensch hat etwas vom
instinctmäßigen sich Schaaren und Reisen der Zugvögel, der Gesellung der
Thiere überhaupt, man ist geneigt, Jäger-Ausdrücke wie Rudel u. dergl.
von ihm zu gebrauchen. Episch ist das Heer des Xerxes mit seinen fremdartigen
Völkern, Waffen, Trachten, wie es sich gegen Griechenland heranwälzt,
in der Schilderung des Herodot, episch ist die Völkerwanderung.
Es folgt aus dieser Masse der Mitwirkenden als eine Grundeigenschaft des
Epos die Polymythie, die Erweiterung der Einen Handlung in viele
(Aristoteles a. a. O. C. 18), denn wo Massen sich betheiligen, treten nothwendig
besondere Zwecke als Motive von Neben-Handlungen hervor. Dieß
führt auf die Episoden, wovon nachher bei Erörterung der Composition.


2. Wo einmal das Sein die Grundform bildet, herrscht auch die Freude
an dem, was ist, einfach an dem vielen Merkwürdigen, Großen und Schönen,
was es gibt. Diese Naivetät darf selbst dem modernen, epischen Dichter
nicht fehlen. Daher vor Allem die Wichtigkeit der Culturformen. Darunter
ist der Mensch in seiner äußeren Erscheinung zu verstehen, wie sie die Gefühls=
und Auffassungsweise, den geistigen Bildungszustand einer Zeit, eines
Volks charakterisirt; die gesammten, geistigen, sittlichen Sphären, Wissenschaft,
Kenntnisse, Religion, moralische Begriffe, Vorurtheile und conventionelle
Maaßstäbe, Verhältnisse, Sitten: Alles dieß, sofern es in bestimmten
Formen erscheint, durch die Hand der Technik auf einer bestimmten Stufe
sich in stehender Weise ausprägt, heißt Culturform. Von außen treten die
klimatischen, tellurischen Bedingungen hinzu, aber nur, sofern sie mit der
geistigen Bestimmtheit zusammenwirken, begründen sie Culturformen. Die
Kunststyle selbst heißen Culturformen, sofern sich die geistigen Grundzüge [1271]
einer Zeit überhaupt in ihnen ausdrücken; z. B. kirchliche Baukunst und
Malerei wird dann nicht rein ästhetisch, sondern so zu sagen symptomatisch
als Theil des Gottesdienstes, somit des innern Culturzustands überhaupt,
betrachtet. Waffen, Kleidung, Geräthe drücken die Art der Kriegsführung,
die Begriffe vom Angenehmen, Anständigen, Nützlichen aus; die Fertigkeiten,
durch die sie hervorgebracht und womit sie gebraucht werden, weisen
dadurch mittelbar auch auf den tieferen Charakter einer Nation, Epoche,
auf die Höhe ihres Wissens und Fühlens, und so heißen sie Culturformen.
Es handelt sich also wesentlich immer darum, wie das Jnnere in seiner Erscheinung
sich ausnimmt, das Aeußere hat allerdings wesentlich die Bedeutung des
Symptoms, aber dieß hebt das spezifische Jnteresse für die sinnliche Erscheinungsweise
als solche nicht auf. Diese ganze Formenwelt rückt denn also
im epischen Gebiete mit der Handlung und dem innern Leben des Menschen
in die Beleuchtung Eines ungetrennten poetischen Nachdrucks; man will
überall sehen, wie der Mensch sich gebahrt, im Umgange sich bewegt, Gott
verehrt, baut, bildet, malt, fährt und reitet, kämpft, welche Geräthe er
gebraucht, wie er gekleidet ist, ißt und trinkt. Dieß Alles erfreut gleichzeitig
und gleich innig das innere Anschauungsbedürfniß wie den sittlich geistigen
Drang, von dem eigentlichen Denken, Fühlen und Wollen einer Zeit ein
klares Bild zu bekommen. Da nun der tiefere Grund solcher Auffassungsweise
überhaupt darin liegt, daß sie auf der Kategorie des Seins ruht, so erhellt
ferner von selbst, daß vorzüglich das Gebiet, welchem diese Kategorie
ursprünglich und eigentlich angehört und von welchem sie auf das menschliche
Leben übergetragen ist, die Natur, mit kindlicher Freude angeschaut und
beleuchtet wird: Luft, Licht, Land und Wasser, Sturm und Stille, die
Pflanze und namentlich das Thier, das zum Menschen, wo er im Sinne
des höheren Jnstinctlebens aufgefaßt wird, wie ein einfaches, unentwickeltes,
aber auch unverwickeltes Prototyp sich verhält und als sein Genosse und
Diener ihn fortsetzt nach der Naturseite. Die Gediegenheit des Daseins,
wie sie sich in compacten, klar umrissenen, fest gemessenen Gestaltungen und
ebenso mächtigen, Alles tragenden, nährenden, umhüllenden, elementarischen
Potenzen offenbart, erfreut den offenen Sinn für Realität, Kraft und
Form.


Es leuchtet ein, daß das Epos eine tiefe Verwandtschaft mit dem
Sittenbilde hat, denn dieses „faßt den Menschen unter dem Standpuncte
des Seins, der Zuständlichkeit auf“ (vergl. §. 696 Anm., wozu in §. 697
bereits der Begriff des Epischen vorausgenommen und auf dieses Gebiet
angewandt werden mußte). Und dieß führt zurück auf den Standpunct des
allgemein Menschlichen (§. 702). Die Parallele gilt nicht nur einer besondern
Form, die dem Sittenbilde spezieller verwandt ist und die wir unterscheiden
werden, sondern auch dem großartigen heroischen Epos. Es ruht [1272]
auf Geschichte, aber die Sage, die dem Dichter vorarbeitet, und die Auffassung,
die er hinzubringt, arbeitet aus jener Spannung der Kräfte auf
den Moment, der sich geschichtlich verewigt, die rein menschlichen Züge und
die Zustände heraus, die sich unter den Jahrzahlen der Geschichte im ruhigen
Kreislaufe des Lebens gleich bleiben, und die Thaten behalten ihre Größe,
werden aber dennoch in die Beleuchtung des Zuständlichen gerückt. Man
könnte näher auf das geschichtliche Sittenbild hinweisen, namentlich bei dem
historischen Romane.


§. 868.


Durch diese Fülle des Jnhalts gibt die epische Poesie ein ganzes Weltbild:
ein Nationalleben, ein Zeitalter in der Gesammtheit seiner Zustände,
und darin ausdrücklicher, als es andere Kunstformen vermögen, einen Spiegel
des Menschenlebens überhaupt, also eine Totalität. Dieses Gemälde der
breiten Verkettung des Weltverlaufs ist durchdrungen von Schicksalsgefühl, aber
das Schicksal waltet im Sinne des Verhängnisses, d. h. als das Ergebniß
dunkler Zusammenwirkung unendlicher äußerer Ursachen mit dem menschlichen
Willen; der Zufall spielt darin eine Rolle, die sich rechtfertigt, das Tragische
in seiner ersten Form, als Gesetz des Universums, entspricht wesentlich dem
ganzen Standpuncte, der Ausgang aber ist zwar nicht nothwendig, doch vorherrschend
ein glücklicher.


Totalität im intensiven Sinne ist Grundbestimmung alles Schönen
als eines Mikrokosmus; in keinem Zweige der Kunst gilt sie so sehr auch
im extensiven Sinne, wie im Epos. Es gibt durch seine Breite ein relativ
Ganzes von ungleich größerem Umfang, als irgend ein anderes Werk der
Kunst: ganze Nationen werden nach allen Seiten ihres Lebens, Bildungszustands,
Strebens, dazu im Conflicte mit andern geschildert. Der Roman,
wiewohl er die großen Lebensäußerungen weitgreifender That nicht oder
nur als Hintergrund in sich aufnimmt, gibt doch in seiner wahren Gestalt
ebenfalls ein umfassendes Bild der Gesellschaft, Nation, Zeit. Die kleineren
Formen, Jdylle und Novelle, können keinen Einwand gegen diese Natur
der epischen Poesie begründen, denn auch sie dehnen doch ihre Darstellung
so vielseitig auf die Lebenszustände aus, daß von dem zwar engeren Saum
überall die sichtbaren Fäden hängen, an die wir leicht die Vorstellung der
Zustände des größeren Kreises knüpfen. Nun ist natürlich zwischen dem
sehr Vielen, dem relativ Ganzen, welches sich in der epischen Dichtung vor
uns ausbreitet, und dem wirklichen Ganzen der Menschheit, Geschichte und
Natur die Kluft an sich nicht weniger unendlich, als wenn jenes relativ
Ganze ein kleineres wäre, allein eine Dichtung, die ausdrücklich sehr viel [1273]
umfaßt, weist uns doch mit breiterer Hand hinaus auf die unendliche
Perspective des unausmeßbaren Ganzen. Es handelt sich freilich in allem
Jdealen nicht um das Extensive, sondern das Jntensive, nicht um Quantität,
sondern Qualität, und jeder Künstler und Dichter hat „seinen Leser
in einen Mittelpunct zu stellen, von welchem nach allen Seiten hin Strahlen
in's Unendliche laufen“ (W. v. Humboldt a. a. O. S. 30), allein die
innere Unendlichkeit entwickelt ihre Lebensfülle in der äußern, die Jntension
in der Extension, die Qualität in der Quantität und je mehr mich der
Dichter wirklich zu sehen anleitet, um so mehr und voller leitet er mich an,
den ganzen Reichthum auch des nicht Gesehenen als Ausdehnung der Substanz
zu ahnen. Daher ist das ächt Epische von einem Gefühle begleitet,
als höre man einen breiten, unaussprechlich mächtigen Strom brausen, als
rausche die ganze Geschichte in gewaltigen Wogen an uns vorüber. Darin
liegt zugleich das volle Gefühl des Erhabenen der Zeit (vergl. §. 93. 94);
man sieht die Geschlechter kommen und gehen, wachsen und welken. Ein
tief und ächt episches Gefühl knüpft sich an den uralten Birnbaum in
Göthe's Hermann und Dorothea, der, wie heute, die Schnitter, die Hirten
und Heerden schon so viele Generationen hindurch in seinem Schatten hat
ruhen gesehen und noch sehen wird. Der Dichter hat aber zu zeigen, wie
im Mittelpuncte dieses weit ausgebreiteten Daseins die sittliche Welt steht,
in der ein ewiges Gesetz der Gerechtigkeit sich vollzieht, und so ist jenes
Gefühl eines unendlichen Flusses in seinem tieferen Gehalte Schicksalsgefühl.
Es scheint weit mehr vom Drama, als vom Epos zu gelten, daß es durch
und durch von Schicksalsgefühl getränkt sei. Allein dann wird dieser Begriff
in dem strafferen Sinn eines engen Zusammenhangs zwischen der
freien That und ihren Folgen genommen; im Epos dagegen herrscht das
Schicksal als der Factor des unendlichen Complexes des Weltverlaufs, worin
die Acte des Menschenwillens nur einzelne Wellen sind, worin der sittliche
Zustand, der sich als Summe der Zusammenwirkung unbestimmt vieler Jndividuen
ergibt, sich ununterschieden mit allem dem verflicht, was natürliche
Ursachen, äußere Bedingungen jeder Art hinzubringen, und worin der Begriff
des Zusammenhangs zwischen Schuld und Leiden sich mehr in das Weite
und Lose verlaufen muß. Es ist allerdings angemessener, dieß Verhängniß
zu nennen: „im Epos wohnt das Verhängniß, ─ da der Charakter
hier nur dem Ganzen dient und da kein Lebens= sondern ein Weltverlauf
erscheint, so verliert sich sein Schicksal in das Allgemeine“ (J. P. Fr. Richter
a. a. O. S. 63). Dieß führt auf den breiten Spielraum des Zufälligen
im Epos. Der Begriff eines Complexes, einer Causalitäts-Verkettung, den
wir vom Epos aufgestellt haben, widerspricht demselben nicht; das Zufällige
ist immer motivirt, nur der gegenwärtige Zusammenhang zeigt nicht seine
Motivirung. Dem Epos genügt dieß; der zuständliche Mensch, der Sohn [1274]
der Natur, darf sich über die Jrrationalität in der Durchkreuzung der Naturgesetze
nicht beklagen; es ist nur in der Ordnung, wenn ihn ohne ethischen
Zusammenhang das Gesetz der Schwere, des Falles, des Erkrankens in Folge
gewisser Ursachen trifft, und über den glücklichen Zufall, der ihm Stärke,
Reichthum u. s. w. ertheilt, darf er sich freuen, ohne ihn ängstlich vom
Verdienste zu unterscheiden (Schiller's Gedicht: das Glück ist episch gefühlt);
das Gut wird nicht minder geschätzt, als das Gute, und es genügt, daß
der Eingriff des Zufalls in den sittlichen Zusammenhang, der ihm in seinem
Anfangspuncte fehlt, im Fortgang, an seinem Endpunct aufgenommen werde.
Odysseus ist ein wahrer Spielball des Zufalls, der als Götterlaune doch
nicht ethisch motivirt ist, und er bethätigt sich als Heldenseele, indem er
sich hindurchringt. Es ist im Ganzen dieser Verhältnisse begründet, daß
jene Form des Tragischen, die der §. aus dem ersten Theil (§. 130. 131)
anführt und die wir auch das Naturtragische nennen können, vorzüglich
dieser Weltanschauung entspricht. Früher Tod eines jugendlich strahlenden
Helden ist Hauptinhalt der großen ächten Heldengedichte des Alterthums;
aber auch abgesehen von bestimmten Theilen der Fabel liegt ein Flor der
Wehmuth über jeder wahren epischen Dichtung, der nur vollständiger zu
erklären ist, als Hegel gethan hat, indem er blos die Einzelschicksale berücksichtigt
(a. a. O. S. 366. 367). Es bringt schon der Klang der Vergangenheit,
jenes Zeitgefühl im Epischen den Ton der Trauer mit sich:
wir sehen die Geschlechter kommen und gehen und werden einst auch hinabsinken.
Jm ächten, ursprünglichen Heldengedicht hat aber dieser elegische
Hauch den besonderen, tieferen Grund: der Untergang der Helden, namentlich
des jugendlichen Heros, ist ein Bild des unabänderlichen Entschwindens
des Jugendalters, des Jünglings-Lebens der Völker, das noch keine Prosa
kennt; natürlich kein absichtliches Bild, sondern unbewußter Ausdruck eines
tiefen Gefühls. Es folgt aber aus diesem Stimmungs-Elemente keineswegs
die Nothwendigkeit tragischen Endes für das Ganze des Epos. Hier
wird sich vielmehr das Gefühl geltend machen, daß eine Kraft in den
Nationen ist, welche den Untergang ihrer Jugend-Epoche überlebt: dieß ist
der eine Grund für das Vorherrschen glücklichen Schlusses in dieser Dichtungsart,
der andere liegt im Weltbild überhaupt, sofern es keine revolutionär
durchbrechende Thaten zum Mittelpunct hat, in der Harmonie
des Willens mit den Naturmächten, der „Eingestimmtheit der Helden mit
dem Schicksal“ (Gervinus a. a. O. S. 490). Glücklicher Schluß entspricht
insbesondere jener vorläufig schon berührten Form des Epos, die dem Sittenbild
in engerem Sinne verwandt ist, denn wo es sich weniger um
große Thaten, als um persönliche Schicksale, häusliches, geselliges Leben
handelt, da tritt der Begriff der Schuld und der großen Kluft des Lebens
zurück und mögen wir das freundliche Glück walten sehen. Dabei wird [1275]
aber jene Stimme der Wehmuth immer ein wesentliches Moment des Epos
bleiben, der glückliche Schluß überall die dunkle Folie eines tragischen Hintergrundes
haben, wie der Sieg des Achilles den Tod Hektors, den Fall
Troja's, den bevorstehenden eigenen frühen Untergang, der Sieg des Odysseus
eine lange Leidenszeit des Helden selbst und die furchtbaren Schicksale
der anderen Kämpfer vor Troja und ihrer Häuser. Es ist jedoch auch
tragischer Schluß durch den Charakter des epischen Weltbildes nicht ausgeschlossen:
das Tragische des Conflicts gehört nicht dem Drama allein an,
es kann auch in Zuständen seine Rolle spielen, die übrigens naive Culturform
haben und in denen keine bewußten Kämpfe um Prinzipien geführt
werden. Wir kommen darauf bei dem Nibelungenliede zurück.


§. 869.


Der Dichter schwebt über diesem großen Stoffe mit dem Gleichmuthe1.
der parteilosen Betrachtung, den der Standpunct der Allgemeinheit mit sich
bringt, und mit der milden Jronie, welche die Begeisterung nicht ausschließt.
Jndem diese Grundstimmung mit der Aufgabe, das Geschäft der bildenden Kunst
in der Form der Poesie zu übernehmen, sich vereinigt, bestimmt sich das Stylgesetz
des epischen Dichters dahin, daß er mit der Ruhe der Gegenständlichkeit
die Dinge als gediegene Gestaltungen des Seins mehr in ihrer Erscheinung,
als in ihrem innern Geheimniß und ihrer Wirkung auf das Jnnere schildern,
daß er nicht stoßweise, sondern stetig, Eines aus dem Andern entwickelnd fortschreiten
soll. Er hat durch die Ausführlichkeit seines Verweilens zu zeigen,
daß hier der Zweck in jedem Puncte der Bewegung selbst liegt. Der gemessenen,2.
breiten, ruhig großartigen Fortbewegung hat die äußere Sprachform den gemäßen
rhythmischen Ausdruck zu geben.


1. Wir sind zu dem Dichter übergegangen und begründen jene Grundstimmung
der contemplativen Ruhe mit Schiller (a. a. O. S. 388) einfach
darauf, daß sich derselbe um die Begebenheit als eine vollendete bewegt,
daß sie ihm nicht entlaufen kann, daß er schon im Anfang und in der
Mitte das Ende weiß. Daher keine Aufregung, daher die ruhige Freiheit
des Gemüths, das wie die Sonne über Gerechte und Ungerechte scheint
und sein Licht mit parteiloser Gleichheit vertheilt. Ob naiv oder bewußt,
Volks- oder Kunstdichter, er wird eben, weil er Alles mit gleicher Liebe
umfaßt, selbst dem Bösen und Schlechten nicht zürnt, da es doch ein
Ferment der geschichtlichen Bewegung ist, am Guten, Tüchtigen, Gesunden,
Großen seine Herzensfreude hat, ohne doch seine Schwächen zu übersehen,
im milden Sinne des Worts immer ironisch sein, man wird ein Gefühl
haben, als ob ein feines Lächeln, weit entfernt von jeder hohlen Eitelkeit [1276]
subjectiver Ueberbildung, seine Lippen umspiele. Dieß widerspricht im Geringsten
nicht dem hohen Schwunge, mit welchem ihn die Majestät seines
Weltbildes erfüllt. Hiezu haben wir nun §. 865 wieder aufzunehmen und
danach die Aufgabe des epischen Dichters als spezifische Art des Verfahrens
näher zu bestimmen. Es ist ihm aus der Totalität der Künste, wie sie in
der Poesie geistig enthalten ist, durchaus vorherrschend das Moment zugefallen,
wodurch in dieser die bildende Kunst sich wiederholt: er hat
darzustellen, zu schildern, zu bauen, zu meiseln, zu zeichnen, zu malen, nur
daß er das unterscheidende Grundgesetz seiner Kunst nicht verkennen darf,
das in §. 847 aufgestellt ist. Klar, in scharfen Umrissen, nicht mehr verwachsen
und verklebt mit seinem Jnnern, soll er die Gestalt der Dinge vor
uns hinstellen. Er muß vorzüglich auf das Auge organisirt sein; wem es
gleichgültig ist, wie die Dinge aussehen, wer sich nicht um Körperformen,
Kleider, Geräthe, Arten der sinnlichen Bewegung in allem Thun bekümmert,
der ist zum epischen Dichter verloren. Auf die Vereinigung dieses Verfahrens
der auf das Auge organisirten Phantasie mit jener Ruhe der
Objectivität, gründet sich nun das Stylgesetz dieser Form der Dichtkunst.
Göthe's Natur ist wahrhaft typisch für dieselbe. Er ließ immer „die Dinge
rein auf sich wirken“ und gab sie rein wieder, es lag so viel vom bildenden
Künstler in ihm, als eben recht ist, um für das innere Auge zu leisten,
was jener dem äußeren hinstellt; sein Gemüth scheute sich vor schroffen
Thaten der Freiheit in der Geschichte und strebte mild und versöhnt zum
allgemein Menschlichen, die „strenge, gerade Linie, nach welcher der tragische
Poet fortschreitet, sagte seiner freien Gemüthlichkeit nicht zu“, er „erschrack
vor dem bloßen Unternehmen, eine Tragödie zu schreiben“; der feste Zeichner
und der hoch in der Vogelperspective der reinen Allgemeinheit der Jdee
schwebende Betrachter verbinden sich in seinen Werken so, daß sie „ruhig
und tief, klar und doch unbegreiflich sind wie die Natur“, daß die „schöne
Klarheit, Gleichheit des Gemüths, woraus Alles geflossen ist“, bewundert
werden muß (vergl. a. a. O. B. 3, S. 361. 356. B. 2, S. 79). Es
versteht sich, daß durch die Aufgabe des Zeichnens und die Grundbedingung
eines ruhig gestimmten Gemüths das Stimmungsvolle, wodurch in der
Poesie auch die Musik sich wiederholt (§. 839, 2.), nicht ausgeschlossen sein
kann, aber das geistig bewegte Wesen seiner Kunst verführt den Dichter
leicht, zu viel zu stimmen, zu wenig zu bilden (vergl. W. v. Humboldt
a. a. O. S. 49); Göthe ist auch hierin Muster: der bewegteste Stimmungshauch
zittert um seine Gestalten, ohne je ihre Umrisse zu lockern. Es gibt
wohl innerhalb des epischen Gebiets einen Unterschied des Plastischen und
Musikalischen, Bildenden und Stimmenden, aber die Grenze, worüber die
letztere Behandlungsweise nicht gehen darf, ist deutlich genug; ein Klopstock
z. B., dem es ganz an Auge und Sinn für Handlung gebricht, ist ganz [1277]
und gar unepisch und nur im lyrischen Gebiete wahrer Dichter. ─ Das
Stylgesetz muß sich nun auch in der Art der Fortbewegung äußern.
Die heutige Neigung, im Roman auf Ueberraschungen und starke Stöße zu
arbeiten, in rapidem Scenenwechsel Neues auf Neues zu pfropfen, die Hauptfabel
in unaufhörlichem Abbrechen bis zur äußersten Spannung der Ungeduld
hinzuhalten, zeigt durch das Gegentheil des Richtigen recht das Richtige.
Die starken stoßweisen Wirkungen sind, wie sich zeigen wird, dramatisch
und ein solches Haschen nach denselben (das jedoch überhaupt unkünstlerisch
ist und auch im Drama jedes Maaß überschritte) zeugt zugleich von unserer
Uebersättigung, die nicht ruht, bis sie jede Gattung aus den Fugen bringt
und in die andere hinübersteigert. Schon die Fülle des anhängenden
Sinnlichen bringt einen Tenor der epischen Darstellung mit sich: daß man
zwischen dem Größten und Furchtbarsten ißt, trinkt, schläft, sich kleidet,
schon das vermittelt die Gegensätze, füllt die schroffen Sprünge aus. Doch
ist gewaltsam Einbrechendes, ergreifend Plötzliches dadurch natürlich nicht
untersagt. Der höhere Grund der mildernden Ueberleitung liegt in der
Ruhe des Dichters und in jener Anschauung, für welche Alles ebensowohl
begründet und begründend, als eine reine und selbständige Erscheinung des
allseitig begründeten Weltganzen ist. Daher wird er auch das Erschütternde
reichlich vorbereiten und in die Breite verhallen lassen, ohne darum die
Gewalt seines Ausbruchs zu schwächen, denn wir erschrecken z. B. über sehr
furchtbarem Geräusch auch wenn wir es erwartet haben. Daher werden
seine Gemälde „gegliederten Ketten gleichen, in welchen Bewegung aus
Bewegung, Figur aus Figur entspringt, das Ganze wird in seinen einzelnen
Gruppen durch nirgends unterbrochene Umrisse eine einzige Figur bilden, ─
die Empfindungen folgen durch leise Uebergänge aufeinander, abstechende
Töne werden durch Zwischentöne gemildert, erschütternde allmälig vorbereitet
und ruhig verhallen gelassen, ─ die Handlung geht ununterbrochen fort,
jeder Umstand fließt als nothwendige Folge aus dem Vorigen her und
herrscht so das Gesetz durchgängiger Stetigkeit“ (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 57. 58. 161. 164. 218. 219). Was das Spannen betrifft, so darf
man diese Wirkung allerdings vom Epos nicht ganz ausweisen; Hektor's
Schicksal z. B. zu erfahren mußte jeder Hörer begierig sein und diese Begierde
wurde nicht aufgehoben dadurch, daß er es wie das Ende des ganzen
Kriegs durch die Sage zum Voraus wußte, denn der Dichter gab dem
Ganzen und jedem Theile den frischen Glanz der Neuheit, wohl aber war
dadurch die pathologische Gewalt der Neugierde gebrochen und so die ideale
Jnteresselosigkeit im Jnteresse gesichert. Wir werden diesen Punct bei dem
Roman wieder aufnehmen und sagen hier nur so viel, daß, wer ein Werk
dieser Gattung künstlerisch genießen will, immerhin das Ende vorweg lesen
mag, um den scharfen Pechfaden der Neugierde, mit dem der Romandichter [1278]
uns anschnürt, durchzuschneiden. Die Weiber freilich thun dasselbe
aus anderem Grund und mit anderem Erfolg; haben sie die Endpuncte vorweggenommen,
so verlieren sie den Genuß der Linie zwischen beiden. ─
Der wahre epische Dichter „schildert uns das ruhige Dasein der Dinge
nach ihren Naturen; sein Zweck liegt schon in jedem Puncte
seiner Bewegung,
darum eilen wir nicht ungeduldig zum Ziele, sondern
verweilen mit Liebe bei jedem Schritte“ (Schiller a. a. O. Th. 3, S. 73).


2. Was der §. ganz allgemein über das Versmaaß sagt, ist hier
noch nicht näher auseinanderzusetzen, um für die tiefen Unterschiede bis zum
metrisch nicht gebundenen Wohlklange der Prosa im Roman Raum zu lassen.
Es genügt der allgemeine Satz, daß die episch rhythmische Form vor Allem
die Hoheit der Empfindung auszudrücken hat, welche das mächtige Weltbild
des Jnhalts mit sich bringt, daß derselbe sich als Ruhe im Fortschritt,
als feierlich gemessener Gang äußern muß, dem aber ein belebender Wechsel
von Beschleunigungsverhältnissen nicht fehlen darf. Der Gang des Hexameters
bleibt freilich für diesen Zweck so normal, daß er schon hier wie
ein Dogma genannt werden darf.


§. 870.


1,

Für die epische Composition entspringt hieraus das Gesetz der stetig
fortschreitenden, die Contraste dämpfenden Motivirung, aber zugleich das Gesetz
der starken Herrschaft rückschreitender und hemmender Motive, der relativen
Selbständigkeit der Theile, und eines bedeutenden Spielraums für die Episode
2.(vergl. §. 496). Die Masse, die sich auf dem weiten Sehfelde wie auf einer
unendlichen Fläche ausbreitet, ist durch bestimmte Auseinanderhaltung eines
Hintergrundes und eines die Hauptgruppe enthaltenden Vordergrundes näher
zu gliedern und in der Vielheit einzelner Handlungen durch die Alles bindende
Haupthandlung mit Anfang, Mitte und Schluß die Einheit zu sichern.


1. Was über die Art der Fortbewegung gesagt ist, greift bereits in
das Compositionsgesetz ein. Wir haben die Motivirung als ein wesentliches
Band des Zusammenhalts der Einheit und Vielheit in der geistigen Organisation
des Kunstwerks erkannt (§. 499). Es erhellt nun aus Allem,
was als epische Stylbedingung sich ergeben hat, daß dieses Moment in
ganz besonderem Sinne zu den Aufgaben der epischen Composition gehört,
und dasselbe umfaßt das ganze Gebiet der vermittelnden, lückenlos fortführenden
Wirkungen, das Reichliche, Gefüllte, die völlige Auswicklung, die Milderung
der Contraste. Diese mögen in vollem Kampf aufeinanderstoßen, aber dieselbe
liebende Hand hat die Griechen und Trojaner, Achilles und Hektor,
Odysseus und die Freier, selbst Polyphem mit dem Flusse der plastischen Linie [1279]
bedacht und zu harmonischen Gruppen ohne wilden Riß vereinigt. Das Gesetz
der Motivirung steht natürlich nicht außer Zusammenhang mit dem Jnhalt,
es fordert Ableitung des Einzelnen aus genügenden Ursachen und Triebfedern,
allein das Verhältniß der rein künstlerischen Bindung zur Bindung des
Jnhalts ist ein freieres, als wir es im Drama finden werden; der Faden
mag schwach sein, wenn ihn nur der Dichter schön knüpft, die Causalität
im Einzelnen eine lose, wenn nur der Eindruck einer allgemeinen Welt=
Causalität durch die Behandlung des Ganzen gesichert ist. Wir haben dem
Zufalle großen Spielraum gelassen (§. 868); der Dichter wird ihn so einführen,
daß er, obwohl an sich zunächst unmotivirt, sich doch ruhig und
elastisch in den Zusammenhang einfügt. Hier ist also kein Widerspruch; eher
scheint ein solcher zu entstehen durch die andern Momente des Compositionsgesetzes,
die der §. zunächst folgen läßt, denn sie führen in gewissem Sinne
zu einer Zerschneidung des Bandes zwischen den Theilen. Der epische
Dichter hat mit einem successiven Mittel das Zeitliche nach mehreren Dimensionen
darzustellen, er muß daher den Faden oft abbrechen, um nachzuholen,
was gleichzeitig mit dem eben Erzählten oder vor der Zeit, in welcher wir
uns befinden, geschehen ist („rückwärtsschreitende Motive“ Göthe im Briefw.
mit Sch. Th. 3, S. 376); er bewegt sich in einem ungemein breiten Raume und
muß uns daher oft in einem Sprunge von dem einen Ort in den andern
versetzen, von den Freiern zu dem reisenden Telemach, von diesem zu
Odysseus bei den Phäaken u. s. w. Der innere Gang der Handlung ferner
ist nach allem schon Ausgeführten ein zögernder, der in eine Masse von
Mithandelnden, von Bedingungen der Natur und Cultur hineingestellte
Mensch begegnet vielen Hemmnissen („die retardirenden Motive“, von Göthe
a. a. O. ungenau der dramatischen und epischen Dichtung in gleichem Maaße
zugeschrieben). Die Odyssee und Gudrun sind ihrer ganzen Composition
nach vorzüglich auf Hemmungen gebaut (vgl. Zimmermann über d. Begr.
d. Epos S. 120). Es liegt aber tiefer und allgemeiner im ganzen Standpuncte,
daß der Dichter oft stehen bleibt, oft Seitenwege einschlägt, denn
wir haben gesehen, daß im Grunde alles tüchtige Dasein ihm gleich interessant
ist; der dramatische Dichter geht straff gerade aus und wirft rasch
nieder, was ihm im Weg ist, der epische gleicht dem Lustwandler, der sich
überall aufhält; „Selbständigkeit der Theile macht einen Hauptcharakter
des epischen Gedichtes aus (Schiller a. a. O. S. 73). Es entspringen
daraus Bestandtheile, welche von der Handlung nicht streng gefordert sind,
und so ergibt sich die große Rolle, welche im Epos die Episode spielt.
Wir müssen zu ihr auch die Ausführlichkeit der Vergleichungen zählen.
Wir haben in §. 854 Anm. die epische Vergleichung charakterisirt. Jn ihrer
ruhigen Objectivität liebt sie es, sich in einem Grade zu entwickeln, der
weit über den Vergleichungszweck hinausgeht. Allein dieß Alles hebt in [1280]
der ächten epischen Poesie die Stetigkeit des Fortschritts, den ruhigen Uebergang
der Linien, das Herauswachsen der Theile auseinander nicht auf,
denn diese Bedingungen fordern nicht eine straffe Anknüpfung der Theile
aneinander, ja gerade die Liberalität, womit die Einheit herrscht, ist ihnen
günstig und begründet das Runde, Fließende der Verbindungen. Der ächte
epische Dichter setzt den Leser durchaus in die Stimmung, daß er, auch
wenn innegehalten oder der Weg verlassen wird, sich ruhig bewußt bleibt,
es werde weiter gehen und auf die Bahn wieder eingelenkt werden. Bricht
er den Faden ab, so zeigt er doch zugleich, daß er das Ende noch in der
Hand hält, ihn wieder anzuknüpfen. So wenn er den Zeitpunct verläßt
und uns zu Früherem wegführt. Jm Anfang der Odyssee fliegen wir mit
dem Blicke der Götter leicht von Odysseus und der Jnsel der Kalypso zu
Telemach nach Jthaka, von Argos wieder zu den Freiern; wir ahnen, daß
der Vater und Sohn im Kampfe gegen diese zu Einer lebendigen Gruppe
sich vereinigen werden. Bei den Phäaken erzählt Odysseus seine Jrrfahrten
seit der Zerstörung von Troja, da müssen wir in der Zeit bedeutend zurück,
aber Alles ist ebensosehr gegenwärtig, denn mit dem Jnhalte des erzählten
Vergangenen steht der Held, der es erlebt hat, als der Erzähler vor uns,
und wir sehen voraus, daß seine Leiden die Prüfungen sind, durch die er
zum künftigen Siege geht. Die eigentlichen Hemmungen der Handlung
können keine Störungen sein, denn sie zeigen doch nur das gemessene Vorschreiten
der thätigen Kraft; mag sie sich auch, wie der grollende Achilles,
eine lange Zeit in sich zurückziehen, sie wird nur um so furchtbarer wieder
hervorbrechen. Für die Episode haben wir dreierlei verlangt: eine äußere
Anknüpfung im Sinne der Causalität, ─ diese darf lose sein, wie z. B.
das Bedürfniß einer ausgezeichneten Wehr, wodurch wir das ausführliche
Gemälde des Schildes des Achilles erhalten, ─ die Wirkung eines Ruhepunctes
und die wirkliche Erweiterung des Lebensbildes: beides trifft auf
die schönste Weise eben in diesem Beispiele zu. Die Bekenntnisse einer
schönen Seele in W. Meister's Lehrjahren fallen namentlich unter den Begriff
des Ruhepunctes: im Getümmel und der Zerstreuung der Welt ein
Bild der Sammlung, der tiefen, stillen Einkehr in sich. Die stärkere Beziehung
ist aber natürlich die zweite: Erweiterung des Lebensbildes zu einer
Totalität ist so sehr der bestimmende Standpunct des epischen Dichters, daß
dagegen der Anspruch auf streng organische Nothwendigkeit für die Handlung
gerne zurücktritt. Jm ächten alten Epos hat dieß Motiv der Episode die
bestimmtere Bedeutung, daß das Gedicht die ganze Heldensage von einem
bestimmten Punct aus zu umfassen strebt, daher da und dort einen Anlaß
benützt, um diesen und jenen Zweig derselben einzufügen (vgl. Wackernagel
d. ep. Poesie. Schweiz. Mus. f. histor. W. B. 2, S. 82). Auch für die
reich entwickelten Gleichnisse Homer's gilt jener Begriff, der Blick wird über [1281]
alles Umgebende, vorzüglich über die Natur ausgedehnt, und dieß hat die
tiefere Bedeutung, daß ja die Menschenwelt selbst und die Handlung unter
den Standpunct des Seins, also der Natur gerückt ist, daher durch die
Hinausführung in diese nur ursprünglich Verwandtes inniger aufeinander
bezogen wird. Jm Ganzen und Großen ist über die Selbständigkeit der
Theile nur zu wiederholen, was schon zum vorh. §. gesagt ist: dem Dichter
gilt Alles ebensosehr als ein Glied in der allgemeinen Causalität, wie als
freie Erscheinung des Ganzen, worin die Causalität erschöpft ist; das Einzelne
ist eine Welt für sich, ein Himmelskörper, frei schwebend, doch aber
mit dem Andern durch den tiefen Zug der Einheit verbunden; „wie ist es
Jhnen gelungen, den großen, so weit auseinandergeworfenen Kreis und
Schauplatz von Personen und Begebenheiten wieder so eng zusammenzurücken!
Es steht da wie ein Planetensystem“ (Schiller an Göthe a. a. O.
Th. 2, S. 80).


2. Es bedarf aber nun allerdings eines bestimmteren Bandes zwischen
der Einheit (der Handlung) und der Vielheit, wie z. B. Leonardo da Vinci
sich nicht begnügte, die dreizehn Personen seines Abendmahls durch die
Einheit in der Mannigfaltigkeit des Eindrucks der Worte Christi zusammenzuhalten,
sondern außerdem die Jünger zu drei und drei in ungesuchten
Stellungen gruppirte. Dieß ist bei einer so umfangreichen Composition
wie die epische doppelt nothwendig; man hat dieselbe mit der Ausdehnung
auf einer unabsehlichen Fläche im Gegensatze gegen den Punct oder die Linie
verglichen, worauf das Drama sich concentrirt (W. v. Humboldt a. a. O.
S. 170); wir müssen uns erinnern, wie der Dichter die Grenzen der
bildenden Kunst hinter sich läßt, alles Sichtbare und Unsichtbare und jenes
nach allen Erscheinungsseiten darstellt; keiner macht daraus so sehr Ernst,
als der epische, und so erhält er ein unendliches Sehfeld. Dennoch muß
er in Theilung und Beschränkung dieser von Gestalten wimmelnden Fläche
dem Maler gleichen, der durch einen wirklichen Ausschnitt des Raumes den
unendlichen Raum mit unendlichen Gestalten nur durch die in's Unbestimmte
verschwimmende Behandlung des Hintergrunds ahnen läßt, von diesem aber
einen (Mittel= und) Vordergrund mit der Kraft der Nähe und Deutlichkeit
unterscheidet. Das treffendste Beispiel ist die flüchtige Gemeinde in Hermann
und Dorothea, die mit ihrem Gewimmel und Gedränge auf die französische
Revolution, auf Völker- und Menschenschicksal mit ihren großen politischen
Fragen wie auf eine dunkle, ahnungsvolle Ferne hinausweist, während
Hermann mit seinen Eltern und Freunden den Vordergrund bildet (W. v.
Humboldt a. a. O. S. 208). So dehnt sich in der Odyssee neben dem
Schicksale Troja's und Griechenlands die weite Welt mit ihren Wundern,
so weit der Horizont der Griechen reichte, das Gesammte des häuslichen
Lebens und der Sitte als Hintergrund aus. Da aber die Poesie zeitlich [1282]
fortschreitet, so werden sich Hinter- und Vordergrund im Verlaufe zusammenbewegen:
Dorothea tritt aus jenem auf diesen herüber, wird mit Hermann
vereinigt und deutsche Gesinnung stellt sich als fester Damm gegen das
Chaos, aus dem sie kommt. Die Erscheinungen, welche, in einem mittleren
Maaße von bloßer Andeutung und voller Ausführung gehalten, die Hauptgruppe
umgeben, wie die Bewohner des Städtchens in unserer Jdylle,
kann man den Mittelgrund nennen. Der Dichter wird hier wieder Einige
herausgreifen, um sie mit der Hauptgruppe auf den Vordergrund einzuführen;
so stellt Göthe den Pfarrer und Apotheker in helleres Mittellicht,
so nimmt die Jlias aus dem dunkeln Gewimmel der Streiter Einzelne heraus
und bringt sie im Kampfe mit den Haupthelden auf das Proscenium.
Durch solche Mittel läuft denn schließlich unbeschadet der deutlichen Scheidung
Nahes und Fernes mit stärkeren und dünneren, längeren und kürzeren Fäden
in die Eine Hauptgruppe, wie die Welt der Jlias in die Entzweiung des
Achilles mit Agamemnon, sein Grollen, sein Hervorbrechen nach dem Tode
des Patroklus und die Besiegung Hektor's zusammen; die Phantasie genießt
sich in der freien Bewegung, von da wieder hinaus in den Hintergrund,
das Schicksal Troja's und die Ahnung der großen griechischen Zukunft, und
wieder zurück zu dem bindenden Mittelpuncte des Vordergrunds zu laufen.
Dieser ist denn also enthalten in der eigentlichen, unmittelbar vor Augen
liegenden Handlung. Sie muß als organisches Band der Einheit durchgreifen:
diese alte Lehre des Aristoteles, der hierin im Wesentlichen Epos
und Tragödie, ohne den Unterschied der liberaleren Form, worin das Gesetz
im Epos herrscht, zu verkennen, unter dieselbe Forderung befaßt, haben
wir schon oben, wo vom Jnhalte des Epos als solchem die Rede war,
angeführt. Einfach und schlagend setzt Aristoteles hinzu, um diese Einheit
durchführen zu können, habe Homer nicht den ganzen trojanischen Krieg behandelt,
weil er zu groß und nicht leicht zu übersehen war, sondern einen
Theil, der sich durch seine Episoden zum Bilde des Ganzen erweitert.
Die Auseinanderhaltung eines Vordergrunds und Hintergrunds, die wir
zunächst als mittleres Moment der Bindung des Einen und Vielen gefordert
haben, gehört mehr der räumlichen, extensiven Seite an, sofern auch in der
Poesie, da sie für die innere Anschauung darstellt, allerdings von einer
solchen die Rede sein kann; die Handlung aber verlangt eine speziellere
Bindung in zeitlicher Form und wir haben hier besonders deutlich jene in
§. 500, 2. für alle Composition als wesentlich ausgesprochene Erscheinung
eines Dreischlags in der einfachen Unterscheidung des Aristoteles:
Anfang, Mitte, Ende; d. h. Darstellung der Sachlage mit den Keimen
der Verwicklung, die Verwicklung mit ihren Kämpfen, deren Gipfel die
Katastrophe ist, welche ebensosehr als das Ende der Mitte, wie als der
Anfang des Endes erscheint, und das Ende d. h. die schließliche Lösung, [1283]
der Ablauf der Katastrophe bis zum eigentlichen äußeren Schluß. Jn der
Jlias bildet den Anfang Zorn und Grollen des Achilles mit der ganzen
Lage der Griechen und Trojaner im Hintergrund, die Mitte sein Vorbrechen
zur Theilnahme am Streit in Folge des Tods des Patroklus bis zum Kampfe
mit Hektor; der Tod des letzteren, mit Troja's sicherem Untergang im
Hintergrund, ist die Katastrophe, die ebensosehr die Mitte abschließt, als
den Ablauf eröffnet, dessen eigentlicher Jnhalt in der Zurückgabe des Leichnams
und dem Begräbniß des Patroklus liegt. So besteht in der Odyssee
aus den Schicksalen des Helden unmittelbar vor seiner Rückkehr nach Jthaka
mit Einschluß dessen, was er vor Beginn des Epos erlitten hat und was
in den Aufenthalt bei den Phäaken als Erzählung eingeschoben ist, der Anfang;
die Scenen nach der Rückkehr, die sämmtlich in den Vorbereitungen
zum Kampfe mit den Freiern zusammenlaufen, bilden die Mitte oder Verwicklung;
mit dem Kampfe selbst ist das Gedicht auf seiner Höhe, unmittelbar
an der Katastrophe, die Entscheidung desselben ist Anfang der Lösung, des
Ablaufs, und was noch folgt, die Reinigung des Saals und Hauses,
Bestrafung der Treulosen, die Scene mit Penelope, dann die wahrscheinlich
späteren Zuthaten: der Auftritt in der Unterwelt, die Begrüßung des Laertes
und Dämpfung des Aufruhrs, der eigentliche Ablauf, das Ende. Jm
Nibelungen-Liede stellt der ganze Theil bis zu Chriemhildens zweiter Vermählung
ebensosehr die Exposition für das Folgende, als ein eigenes Epos
mit Anfang (bis zu dem Streite der Weiber), Mitte (von da bis zur Ermordung
Sigfried's), Ende (Klage, Trauer, neue Kränkung der Chriemhilde
durch den Raub des Schatzes) dar; im Folgenden waltet Sigfried's Geist
als Nemesis im Rachedurst der Chriemhilde: Anfang bis zu der Einladung
der Nibelungen, Mitte von den ersten Ausbrüchen des feindseligen Geistes,
nachdem sie in Etzelenland angekommen, bis zu der Ermordung Gunther's
und Hagen's im Gefängniß, Ende das Gericht, das Dieterich von Bern an
Chriemhilde vollstreckt, und, wenn sie mit dem Epos noch verbunden wäre,
die Klage. Die Jlias erscheint als schlußlos nur dann, wenn man verkennt,
daß der Dichter aus dem großen Cyklus eine Parthie herausnehmen
mußte, in der sich als in einem engen Ring ein Bild des Ganzen geben
ließ, sie erscheint als über ihren natürlichen Schluß fortlaufend nur dann,
wenn man verkennt, daß ein Epos voller ausathmen muß, als ein Drama.
Die Annahme einer gewissen Schlußlosigkeit des Epos hat nur so viel
Wahres, daß diese Gattung mehr, als andere Kunstwerke, vielleicht am
meisten noch dem Gemälde ähnlich, das unbestimmte Bewußtsein erregt,
daß die Kette der Dinge und Begebenheiten, obwohl hier eine ideale Einheit
aus der empirischen Unendlichkeit einen Ausschnitt gibt, über diesen
Ausschnitt fortläuft. Jm Romane namentlich mag es zweifelhaft sein, ob
wir über das Ende der Nebenpersonen etwas mehr oder weniger erfahren
sollten. Vergl. hierüber die Anm. zu §. 501.

[1284]

§. 871.


Diese Eigenschaften begründen einen gewissen generischen Charakter der
epischen Dichtung und es scheint daher zunächst, daß sie aus der logischen Reihe
der Formen der Poesie heraustrete.


Jn der epischen Poesie sind der Dichter und sein Object vereinigt und
doch unterschieden; obwohl dem Geiste der Behandlung nach jener zurücktritt,
bleibt er doch dem einfachen Sachverhalte nach sichtbar gegenwärtig
neben seinem Stoffe. Dieß Verhältniß wurde als eine naive Synthese bezeichnet
(§. 865). Nach dieser Seite haben wir ein einfaches Beisammensein
der zwei Factoren, die in den andern Formen der Poesie sich gegenseitig
absorbiren, denn in der lyrischen geht die Welt im Dichter, in der dramatischen
der Dichter in seiner Welt auf. Das Epische erscheint schon dadurch
als eine elementarische Form, die zu den beiden andern nicht im Verhältnisse
der Coordination steht wie Einzelnes zu Einzelnem, sondern in dem
des Allgemeinen zum Einzelnen, der ursprünglichen Einheit zu den Formen
des Gegensatzes. Nimmt man nun den Geist der Behandlung dazu, so
scheint auch nach dieser Seite der epische Dichter durch seine objective Ruhe und
ideale Universalität, sowie durch seine Aufgabe, selbst Alles klar zu zeichnen
und dem innern Auge zur Erscheinung zu bringen, weit mehr der Dichter überhaupt,
ja der Künstler überhaupt zu sein, als es der lyrische und dramatische ist.
Der Künstler überhaupt: denn Objectivität ist Grundbegriff aller Kunst gegenüber
dem blos subjectiven Phantasiegebilde und man kann mit W. v. Humboldt
(a. a. O. S. 46 u. 49) es so wenden: er gleiche am meisten dem bildenden
Künstler, die bildende Kunst stelle aber das Wesen der Kunst an sich am
reinsten dar; man kann ihn, den Schöpfer der „Sculpturbilder der
Vorstellung
“ (Hegel a. a. O. S. 322), näher dem Bildhauer vergleichen
und nun daran erinnern, wie die Plastik mit einem gewissen Anspruch auf
den Werth einer absoluten Kunst inmitten der bildenden Künste ruhig thront.
Dieß Alles weist nun wieder ganz auf Göthe's normale Dichternatur und
in jenen Stellen des Göthe-Schiller'schen Briefwechsels, worin überhaupt
das Drama gegen das Epos zurückgesetzt wird, sagt denn dieser das interessante
Wort über jenen: „ich glaube, daß blos die strenge gerade Linie,
nach welcher der tragische Dichter fortschreiten muß, Jhrer Natur nicht zusagt,
die sich überall mit freier Gemüthlichkeit äußern will; alsdann glaube
ich auch, eine gewisse Berechnung auf den Zuschauer, von der sich der
tragische Poet nicht dispensiren kann, der Hinblick auf einen Zweck genire
Sie, und vielleicht sind Sie gerade nur deßwegen weniger zum Tragödiendichter
geeignet, weil Sie ganz zum Dichter in seiner generischen
Bedeutung erschaffen sind
“ (a. a. O. Th. 3, S. 361). Die [1285]
freie Ruhe des epischen Dichters gründet sich, wie wir gesehen, namentlich
auf die Vergangenheit seines Objects und wenn die Ferne eine idealisirende
Kraft hat, so kommt sie vor Allem ihm zu statten: ein weiterer Ausdruck
für den Satz, daß diese Form durch reine Jdealität außer und über den
andern stehe. Endlich enthält ja das Epos im Keime das Lyrische und
Dramatische; die objective und sinnliche Haltung schließt Momente des
hervorbrechenden subjectiven Gefühls, sei es das des Dichters oder seiner
Personen, nicht aus, und die Handlung nimmt oft genug durch die directe
Rede dialogische Form an, so daß die Betheiligten gegenwärtig vor uns
aufzutreten scheinen. ─ Hier lassen wir diesen Satz von dem Vorzuge,
richtiger vor der generischen Natur der epischen Poesie stehen. Der Ausdruck
des §.: „es scheint zunächst“ wird im Fortgang zu den weiteren Formen
seine Erledigung finden.


2. Die Arten der epischen Poesie.


§. 872.


Jn der gesammten Ausbildung der epischen Poesie treten nur zwei Formen
auf, welche in dem Sinne rein und ächt sind, daß jede von ihnen als wirklicher
Typus eines der Style erscheint, deren großer Gegensatz die Geschichte
aller Kunst beherrscht: das griechische Heldengedicht und der moderne
Roman.
Alles Andere stellt sich unter den Maaßstab des ersteren und fällt,
trotz mancherlei werthvollen Eigenthümlichkeiten, an Werth unter dasselbe; der
Roman dagegen ist zwar eine sehr mangelhafte Form, aber bestimmter und
selbständiger Ausdruck eines Styls.


Der Jnhalt dieses §., der wohl nur auf den ersten, flüchtigen Blick
paradox erscheint, ist durch die folgende Ausführung zu rechtfertigen.


§. 873.


Während das einzige ursprüngliche Gedicht im idealen Style, welches der1.
Orient hinterlassen hat, das indische, Ansätze von ächt epischer Schönheit in
das Formlose auflöst, steht das griechische Epos so in einziger Vollendung2.
da, daß es als historische Erscheinung doch ganz mit dem Begriffe
der Sache zusammenfällt;
denn in einer Dichtungsart, welche
ihrem Wesen nach ein plastisches und naives Weltbild fordert, wird das Vollkommenste
da geleistet, wo nicht nur die Phantasie des Volksgeistes an sich plastisch
ist, sondern auch das dichtende Bewußtsein sich zur Kunstpoesie erhoben hat, [1286]
ohne den Boden der Naivetät zu verlassen. Den Stoff entnimmt diese Dichtung
aus der Heldensage und dem mit ihm vereinigten Göttermythus und entfaltet
in ihm ein vollständiges, organisches Bild des nationalen Lebens in welthistorischem
Zusammenstoße. Die rhythmische Form entspricht rein der bewegungsvollen
Würde des Jnhalts.


1. Wir können uns bei dem indischen Epos nur kurz aufhalten und
müssen auf das verweisen, was in §. 343 ff. über den Charakter des
Orients überhaupt, in §. 346, 1. über Jndien insbesondere, dann in
§. 426 ff. über die orientalische, und §. 431, 1. speziell über die indische
Phantasie gesagt ist. Mahabharata und Ramayana enthalten Ansätze, die
sich ganz homerisch fühlen, namentlich die eine der großen Episoden des
letzteren, in seinen Hauptbestandtheilen ursprünglicheren Epos, Nalas und
Damajanti. Allein wie die früher einfache Religion Jndiens, so sind diese
─ man weiß nicht, soll man sagen: Keime oder Trümmer eines gesunden
heroischen, plastisch gezeichneten Bildes ächter männlicher Thatkraft, gediegener
Sitte, gehaltener weiblicher Lieblichkeit und rührender Treue überwuchert
worden von der zwischen Mythologie und bloßer Symbolik wild
schwankenden, alle Umrisse auflösenden Einbildungskraft, von der Doctrin,
die unter Anderm eine ganze Theologie in einem Gespräch vor der Schlacht
ausspinnt (in der Episode Bhagavadgita), von absurder Vergötterung des
Thierischen (Affe Hanuman in Ramayana). Es ist eine epische Poesie,
welche in Religionsphilosophie, namentlich Theogonie (Herabkunft der Ganga
in Ramayana) zurücksinkt oder übergeht. Das Theogonische werden wir
aber überhaupt gar nicht zur reinen Poesie ziehen, sondern in den Anhang
vom Didaktischen verweisen, denn es ist nicht reine Versenkung einer allgemeinen
Wahrheit in ein Bild des Lebens. Die theologische Verschwemmung
des rein Menschlichen hat denn auch an die Stelle des heroischen Handelns
das wahnsinnige Büßerwesen gesetzt, das mit seinen mehr als tausendjährigen
Peinigungen selbst den Götterhimmel zu sprengen droht. Daß die
gelenklose Gaukelei der Phantasie im Umfang des Epos maaßlos ist wie
in allen Formen und Zahlen des Jnhalts, in der Composition kein Verhältniß
zwischen Hauptkörper und Episode kennt, unorganisch die Theile ineinanderschachtelt,
folgt nur von selbst aus ihrem innern Charakter.


2. Der vorh. §. hat das griechische Heldengedicht und den Roman
noch nebeneinandergestellt, doch bereits den letzteren eine mangelhafte Form
des Styls genannt, dem er angehört; wir fügen zunächst so viel hinzu:
der Roman wird zwar nicht durch den Maaßstab des ursprünglichen Epos
gerichtet, denn er stellt sich nicht unter denselben, wohl aber durch den Maaßstab
einer Aufgabe, die offenbar von einer andern Dichtungs-Art vollkommener
zu lösen ist, der ihn also zu einer zweifelhaften Gestalt heruntersetzt. Hiedurch [1287]
wird nun das homerische Heldengedicht als einzig und absolut hingestellt. Es
verhält sich hier wie in der Sculptur: eine historische Erscheinung fällt mit
dem Begriffe der Sache zusammen, ist normal. Wenn man das Wesen
der Sculptur schildern will, schildert man die griechische, und umgekehrt;
ebendieß gilt von dem Wesen des Epos an sich und von dem homerischen
Epos. Es hat aber nicht nur die Bedeutung eines Beispiels, wenn hier
an jene Kunst erinnert wird, vielmehr erhellt, daß dasselbe Volk, das durch
die Reinheit der Objectivität seines Kunstgeistes in der bildenden Kunst das
normale Höchste im Gebiete der Sculptur leistete, ebendarum auch in der
Poesie das schlechthin Musterhafte im Gebiete des Epos hervorbringen
mußte; denn es bedarf keines Beweises mehr, daß die epische Darstellung
in der Art, wie sie die klare und ruhige Vergegenwärtigung der Dinge,
die volle Gegenüberstellung scharf abgesonderter Bilder zur wesentlichen
Aufgabe hat, auf's Jnnigste der Sculptur entspricht. Hieran knüpft sich
unmittelbar das Moment des Naiven. Mit diesem Einen Worte bezeichnen
wir den Weltzustand, wie er in der epischen Dichtung aufgefaßt wird, die
unmittelbare Harmonie, worein hier die Welt der innern Motive mit der
Welt der sinnlichen Bedürfnisse, Thätigkeiten, Culturformen zusammengeht.
Nun kann aber kein günstigeres Verhältniß eintreten, als wenn der Dichter
im edelsten Sinne des Worts naiv ist, wie sein Gegenstand. Es führt
dieß auf den Unterschied der naiven und der bewußten Kunst, der seine
höchst wichtige Geltung erst im Gebiete der Poesie erlangt und hier als
Gegensatz der Volkspoesie und Kunstpoesie auftritt (vergl. §. 519).
Nun ist aber die Volkspoesie in ihrer Jnnigkeit und Frische und mit ihrem
Minimum von technischer Kunstbildung doch zu arm, den großen Stoff der
epischen Poesie anders, als in getrennten einzelnen Liedern, zu gestalten.
Solche Lieder (Rhapsodien) sind bekanntlich die Elemente, aus denen überall
das ursprüngliche, allein ächte Epos erwachsen ist. Sollen sie nun zu einem
künstlerischen Ganzen umgebildet werden und doch der epische Charakter
nicht verloren gehen, so bedarf es einer Kunstbildung mit Einsicht in die
Aufgabe, die doch unerschütterlich naiv bleibt. Keinem andern Volke ist
aber das Glück geworden, wie den Griechen, ihr National-Epos zu vollenden
in dem Momente, da eben die naive Poesie die Vortheile der Kunst in
sich aufnimmt und die Kunstpoesie den ganzen Vortheil der Naivetät genießt.
Jn der getrennten Volkspoesie fragt man nach der Person des
Dichters gar nicht, in dieser künstlerisch erhöhten Volkspoesie dagegen ist
allerdings die künstlerische Vollendung eines epischen Ganzen offenbar einem,
auf ungezählten Stufen von Vorarbeitern aufgestiegenen hochbegabten Einzelnen
zuzuschreiben, der aber doch Volksdichter und daher namenlos bleibt.
Doch könnten wir uns mit einem andern Ergebniß immerhin auch versöhnen:
denn wo die Dichtkunst noch eine instinctive Macht ist, läßt sich [1288]
eine Mehrheit von Dichtern, die wie Bienen ein Ganzes bauen, auch ohne
tief verschiedene Thätigkeit des Letzten, der die Hand anlegt, nicht allzuschwer
vorstellig machen. Diesem hohen Glücke der Kunst gesellt sich nun das
andere des Stoffs. Es erhellt nämlich aus unserer allgemeinen Erörterung
auch dieß, daß für die epische Auffassung der absolut entsprechendste Stoff
das heroische Jugendalter eines Volkes ist, wie wir es in §. 328
in Kurzem charakterisirt und dabei auf Hegel's ausgezeichnete Darstellung
verwiesen haben. Dieser Zustand konnte aber bei keinem Volke so poetisch
sein wie bei dem der Griechen, dessen Charakter auch in der historischen
Zeit die schönen in §. 348 ff. geschilderten Grundzüge bewahrt. Die
Heldensage, reich und rein bildend wie keine andere (§. 436), hat einen
Moment aus diesem vorgeschichtlichen Zeitalter, einen Rachezug gegen eine
asiatische Stadt ergriffen und zu einem Bilde gesteigert, das eben in und
mit den Liedern selbst fortwuchs bis zu der Jdealität, die es in der letzten
Hand gewann. Wir haben vor uns das Jugendleben eines unendlich
zukunftreichen Volks, das seine Nationalität im Kriege bekräftigt. Die
Tapferkeit ist die Cardinaltugend und so durch den bestimmenden Mittelpunct
dafür gesorgt, daß wir es rein episch mit dem „nach außen wirkenden
Menschen“, „der Naturseite des Charakters“ zu thun haben. Die
ganze Nation ist, wie im näheren Sinn der Einzelne, nach außen gewendet
und zwar in einem welthistorischen Zusammenstoße, worin sie sich ihrer
Eigenthümlichkeit, ihres Werths, ihres großen künftigen Berufs bewußt
wird und alles Einheimische den Accent der gegensätzlichen Spannung erhält.
Dieser Gegensatz ist aber wesentlich der des rein Menschlichen gegen
das Barbarenthum. Neben der Wildheit, die des Feindes entrissene Schaam
den wilden Hunden und Geiern zur Beute hinwirft, ist die zarte Knospe
rührender Humanität erschlossen, der Sinn für die tieferen und feineren
Kräfte der Jntelligenz aufgegangen. Eine Gruppe plastisch fester Charaktertypen
repräsentirt die Grundzüge des Nationalgeistes auf der gegebenen
Stufe seiner sittlichen Entwicklung. Das ganze Leben der nationalen Sitte,
in naiver Verwunderung über die fremde, breitet sich aus. Das einfachste
Thun erscheint als ein ursprüngliches, ehrwürdiges und eine Wäsche am
Fluß, besorgt von einer Königstochter, wird zum anmuthigsten, rührendsten
Bilde; auch dabei gedenkt man gern Göthe's, wie er schon in Werther's
Leiden seinen Beruf zum epischen Dichter gezeigt hat durch die schöne Stelle
über das „Wasserholen am Brunnen, das harmloseste Geschäft und das
Nöthigste, das ehemals die Töchter der Könige selbst verrichteten.“ Die
Kunst hat sich in diesen Zuständen schon kräftig genug entwickelt, um durch
Schmuck jeder Art das Bedürfniß zu veredeln, aber sie begegnet noch einem
kindlichen Staunen, Alles ist noch frisch. Keine Lebensform ist in dem
reichen Ganzen vergessen, kein wesentliches Gefühl, keine Gewohnheit, kein [1289]
Hauptzug der herrlichen umgebenden Natur; die Nation besitzt in diesem
Gesammtbilde, dieser „Bibel des Volks“ (Hegel Aesth. Th. 3, S. 332),
einen Schatz, der für alle Seiten des Lebens den unerschöpflichen Grundtext
enthält. Dieß Alles ist nun durch reine Künstlerhand sonnenhell beleuchtet,
steht aufgeschlagen in unendlicher Klarheit vor uns, ist durchaus
rein geschaut. Die Weihe der Jdealität gewinnt aber der große Stoff
schließlich dadurch, daß sich Alles an die Götter knüpft, daß Heldensage
und Mythus überall ineinandergehen. Die lenkenden Mächte des Lebens,
Natur-Ursachen, Gesetze heiliger Sitte, Forderungen des Vaterlandes,
innere Motive des Besinnens und Wollens sind als Götter neben die
Menschen gesetzt und handeln mit ihnen durcheinander auf Einem Boden.
Diese poetische Tautologie ist das unendliche Erhöhungsmittel für die Grundempfindung,
in diesem Lichte wird Alles absolut und es verhält sich auch
hier wie in der Sculptur, welche wesentlich eine Götterbildende Kunst ist.
Es ist natürlich nicht blos Poesie, sondern wesentlich Glauben; eine nicht
geglaubte Welt transcendenter Wesen kann nur in seltenen, einzelnen Momenten
durch besondere Kraft der Zurückversetzung der Phantasie belebt
werden. Aber das schlicht Geglaubte ist zur reinsten Gestalt der Schönheit
erhoben und auch hier Alles hell, sonnenklar, während die indischen Götter
im Nebel des wirren Gestaltenwechsels taumeln.


Es sind nun unserer allgemeinen Bestimmung des Wesens der epischen
Poesie mehrere neue Momente zugewachsen, die nur vom ursprünglichen
Epos, dem volksthümlichen, doch dem plastischen Jdealstyle angehörigen
Heldengedichte gelten: Entstehung aus naiver Poesie der Form nach, nationaler
Krieg, weltgeschichtliche Collision, Verbindung der Heldensage und
des Göttermythus dem Jnhalte nach. Ob und wieweit alle diese spezielleren
Bedingungen als Maaßstab gelten, nach welchem zunächst die Erscheinungen
zu beurtheilen sind, die bei allem Unterschiede doch mit dem homerischen
Epos sich unter das Prinzip des idealen Styles stellen, dieß muß sich nun
zeigen; doch ist vorher eine wichtige Unterscheidung innerhalb dieses Styls
aufzustellen. ─ Was die Form im engsten Sinne des Wortes, das Metrum,
betrifft, so müssen andere Zeiten deren andere finden können, aber
daß der Hexameter durch seine Beweglichkeit in der Haltung, seine Freiheit
und sein Spiel in der Majestät als heroisches Maaß nicht übertroffen
werden kann, durften wir schon bei der allgemeinen Charakteristik der epischen
Poesie aussprechen (§. 869, Anm. 2.).


§. 874.


Wie jedoch alles geschichtliche Leben der Kunst darauf beruht, daß die1.
Styl-Gegensätze ineinander übertreten, so stellt sich auch im classischen Jdealstyle [1290]
der epischen Dichtung neben das erhabene, pathetische Heldengedicht ein Epos,
das seinem Hauptinhalte nach rührendes, das Jnnerliche mehr betonendes, die
2.Einzelzüge individueller zeichnendes Sittengemälde ist, und in dieser Richtung
entsteht zuletzt das kleine Bild des Volkslebens mit entferntem Anklang sentimentaler
Vertiefung in die Stille des Engen und der Natur: das Jdyll.


1. Aristoteles unterscheidet (Poetik C. 24) ein einfaches und ein verwickeltes,
ein pathetisches und ein ethisches Epos; einfach und pathetisch,
sagt er, ist die Jlias, verwickelt und ethisch die Odyssee. Ethisch heißt hier,
was wir sittenbildlich nennen, mit dem Unterschiede, daß das eigentliche
Sittenbild in der Malerei keine Fabel hat und haben kann, sondern nur
Gebaren, Gewöhnung, Zustände in ihrem bleibenden, wiederkehrenden Wesen
schildert. Das Merkmal der verschlungenen Composition haben wir als
untergeordnet nicht in den §. aufgenommen; natürlich aber ist es allerdings,
daß, wo nicht die großen Leidenschaften den Jnhalt bilden, welche auf dem
Schauplatze der Heroenthat walten, dafür ein Reiz des Suchens und Findens
eintreten wird, der in der Composition, doch auch in der Fabel an
sich begründet sein muß: Anziehungen, Spannungen, die hingehalten, nach
manchem Wechsel befriedigt werden und sowohl nach Stoff, als Behandlung
ein wärmeres, concentrirteres subjectives Element in das Epos bringen.
Hiemit kündigt sich ein Motiv an, das erst im romantischen und modernen
Jdeal seine volle Ausbildung zu finden bestimmt ist: die Liebe. Jm antiken
Epos ist es eheliche Liebe mit Heimath und Hauswesen, was den Mittelpunct
dieser Form, der Odyssee bildet. Aristoteles sagt: die Odyssee ist
verschlungen, denn sie ist durchaus Erkennung (und sittenbildlich); d. h.
die Spannung auf das Wiedersehen ist der poetische Reiz, sie wird durch
viele, von der Composition ineinandergeschlungene Hemmungen hingehalten
bis zum Ende. Da nun das Subject der Erkennung natürlich liebende
Menschen sind, so erhellt, wie in der ἀναγνώρισις des Aristoteles der
Keim oder das antike Vorbild des Romans als höchst interessante Andeutung
oder Ahnung verborgen liegt. Und wirklich: die Odyssee ist „der
antike Ur-Roman (J. P. Fr. Richter Vorsch. d. Aesth. §. 66). Es folgt von
selbst, daß das Jnnerliche auch überhaupt mehr in den Vordergrund tritt,
wenn Sehnsucht und Wiedersehen den Haupt-Jnhalt bildet; Odysseus am
Ufer der Jnsel der Kalypso in das Meer hinausweinend, die trauernde Penelope
in der einsamen Kammer und der suchende Sohn sind Bilder eines innigeren
Seelenlebens. Nur daß natürlich das epische Grundgesetz, wonach
alles Jnnerliche in sinnlicher Ausführlichkeit der Erscheinung sich geben
muß, unangetastet bleibt. Auch die Natur wird jetzt mit subjectiverem
Jnteresse beschaut, das Meer, die landschaftlichen Reize, die Grotten,
Quellen, Bäume u. s. w. So erscheint die Odyssee wirklich als „der [1291]
Mond“ neben der Jlias „der Sonne“. ─ Jm Style dieser Form des
Epos erkennen wir ein erstes Auftauchen der charakteristischen, die individuelleren
Züge aufnehmenden Richtung innerhalb der direct idealen, wiewohl
natürlich noch fest am Bande des plastischen Schwunges gehalten: die
Einzelheiten des häuslichen Lebens, der idyllischen Wirthschaft mit Sauhirt
und Rinderhirt, bis hinaus auf den armen, treuen Hofhund, des Gebarens
und der Gewöhnungen der Menschen nach allen Seiten, treten in schärferes
Licht, als sonst die Antike es ansteckt. Kann man im weiteren Sinn alle
epische Poesie sittenbildlich nennen (vergl. §. 867, 2.), so ist es also dieser
Prototyp des Romans in dem engeren Sinne des Worts, auf den wir
eben da schon hingewiesen haben.


2. Das späte Alterthum trägt nun die Leuchte noch weiter weg vom
heroischen Schauplatz in das Enge des Menschenlebens, die Zustände der
Sitte im nahen und innigen Umgang mit der Natur. Theokrit's Jdyllen
sind bekanntlich etwas Anderes, als die moderne Gattung dieses Namens:
das Jnteresse für das Anspruchlose und still Glückliche des Landlebens, für
die Reize der Natur ist noch durch keine Culturmüdigkeit, keine Kämpfe
des subjectiven Bewußtseins geschärft, die Figuren sind auch nicht blos
Hirten, Fischer u. s. w., sondern zum Theil Handwerker, Bürgerfrauen u. dergl.,
das Neue liegt mehr im Anwachsen der charakteristischen Stylrichtung, im
Belauschen und Aufnehmen des ungenirt Derben, die Ausführung besteht
in kleinen Bildchen ohne Fabel oder nur mit unentwickeltem Keim einer
solchen; daher εἰδύλλιον: (Sitten=) Bildchen. Dennoch macht sich ein
entfernter Anklang von sentimentalem Jnteresse fühlbar: ohne Ueberdruß
an einem zerfallenen öffentlichen Leben hätte sich der Sinn nicht diesen
Heimlichkeiten des Kleinlebens, der Zufriedenheit und der milden Parodie
göttlicher Selbstgenügsamkeit in der Stille zugewendet und in dem Blicke,
womit diese Dichtung auf den Heimlichkeiten und Schönheiten der Natur
ausruht, liegt doch ein Ausdruck tieferer Erwärmung, die im streng Classischen
nur ganz vereinzelt auftaucht. Zarte Ansätze zu dem Allem finden
sich aber allerdings schon in der Odyssee; man denke, was das Letzte betrifft,
nur an die Schilderung der Umgebungen der Kalypso-Grotte (V Gesang).


§. 875.


Die römische Poesie erzeugt ein Kunst-Epos, welches sich, obwohl
ihm ein Geist pompöser Großheit eigen ist, durch künstliche Nachbildung
sämmtlicher Merkmale des Homerischen unter den Maaßstab des letzteren, das
doch aus der naiven Poesie entsprungen ist, ebendadurch aber als ein Werk der
Reflexion, zum Theil auch der zu sehr gesteigerten subjectiven Empfindung,
außerhalb des Aechten stellt. Das Kunst-Epos ist kein reines Epos.

[1292]

Es kann hier nicht die Aufgabe sein, Virgil's Aeneis nach allen ihren
Zügen zu schildern, sondern nur, den großen Zusammenhang in's Auge zu
fassen, worin dieses Werk der bewußten, correcten, eleganten Kunst an der
Spitze einer ganzen Gattung und Generation steht, die mit ihm gerade
durch den von ihr selbst thatsächlich anerkannten Maaßstab jenseits der
richtigen Linie, in das Zweifelhafte verwiesen wird. Denn ein Product
der bewußten Kunst, das in allen wesentlichen Zügen der (zwar auf dem
Uebergange zur Kunstpoesie begriffenen, doch in ihrem Wesen noch reinen)
naiven Volkspoesie nachgebildet ist, richtet sich eben durch sich selbst und
bekennt sich als unächt. So erwächst der Satz, der uns im Folgenden
führen wird: daß das Kunst-Epos kein reines Epos ist. Die vollendete
Bildung ist dem Weltzustande nach prosaisch geworden in Staat, Gesellschaft
u. s. w.; dieser Zustand macht natürlich die Poesie an sich nicht
unmöglich, aber er verweist sie an diejenigen Formen, welche nicht ein
Bild der unmittelbaren schönen Einheit des innern und äußern Lebens im
Großen (im Kleinen ist es etwas Anderes) fordern; denn diesem Zustande
muß man nahe stehen, wenn man ihn künstlerisch wiedergeben will. Versucht
es der Künstler dennoch, so ist er zur Nachahmung genöthigt und
das Ursprüngliche nachahmen ist ein innerer Widerspruch. Besonders deutlich
zeigt sich dieß am Einwirken der Götter: sie sind nicht mehr lebendig
geglaubt, daher ist es bereits Maschinerie. Allein dieß ist nur ein Ausdruck
davon, wie der Standpunct im Ganzen verloren ist: kein Zug, der
ein flüssig einfaches Natursein des Menschen darstellen soll, hat hier die
Wahrheit, die nur in einer Welt möglich ist, von deren Naivetät auch ihr
inniger Götterglaube Zeugniß gibt. Der Mensch, der das Naturband gelockert
hat, lebt tiefer nach innen: das Sentimentale (namentlich in der
Liebe der Dido) wird daher stärker, weit zu stark für das Heldengedicht.
Der römische Geist der That, das mannhaft Gewaltige, Herrschende, Massen=Bewegende,
in der Form feierlich Große (vergl. §. 352 ff., 442 ff.) bleibt
diesem Epos ein unbenommener Ruhm, hat auch epischen Charakter, aber
nicht hinreichenden, das ganze Weltbild episch zu bestimmen. ─ Wenn nunmehr
die Poesie sich zu den Hirten begibt, so ist es schon Flucht aus einer
falschen, naturlosen Cultur, der Sehnsucht wohl erscheint ein Bild des
naturvollen Lebens, aber ein beschränkteres, vom großen Schauplatz heimlich
abgelegenes; Virgil's Eklogon und Georgica werden die Stammväter der
modernen Jdylle.


§. 876.


Jm Mittelalter treten bei zwei Völkern Heldengedichte auf, die ihrem
Kerne nach dem griechischen an ächt epischem Charakter sich zur Seite stellen,
denen aber nicht das Glück einer ununterbrochenen Fortbildung und Abschließung [1293]
durch höhere Kunst innerhalb der Volkspoesie zu Theil wurde, so daß sie
als ein Ganzes aus verschiedenartigen Schichten überliefert sind: das persische
und das deutsche. Das letztere unterscheidet sich dem Jnhalte nach von dem
griechischen namentlich durch einen intensio tragischen Geist des Schicksals, mit
dem der Heldencharakter zu einer finstern Größe zusammenwächst, steht ihm
aber in seinen Grundbestandtheilen, sowie durch Scheidung in die zwei Formen
(§. 874), ebenbürtiger gegenüber, als das Epos irgend eines andern Volkes.


Jn dem Zusammenhange, wie wir hier die logische Eintheilung und
die geschichtliche Entwicklung ineinanderarbeiten, stellen sich die beiden Heldengedichte,
von denen die Rede ist, an den Schluß der Lehre vom Epos
im ursprünglichen Sinne des Wortes und an den Anfang der Poesie des
Mittelalters, richtiger: zwischen heidnisches Alterthum und muhamedanisches,
christliches Mittelalter so hinein, daß jenes den Kern, dieses (in Persien
im zehnten, in Deutschland zu Anfang des dreizehnten Jahrhunderts)
den formellen Abschluß gibt. Der große Unterschied ist nun freilich der,
daß im Oriente Firdussi den ächt epischen Bestandtheil seines Schahname,
die uralte Heldensage vom Kampfe zwischen Jran und Turan mit der
herrlichen Heldengestalt Rusthems, ganz im Sinne eines Kunstepos voll
Glanz und Reichthum der Phantasie, aber auch mit der grübelnden Künstlichkeit
der reifen muhamedanischen Bildung abschließt oder vielmehr zu
dem kleineren Theile eines Ganzen von massenhaftem, den weitschichtigen
Geschichtsstoff in sich fassenden Umfang herabsetzt, während dagegen die
deutsche Heldensage im Volksliede fortlebt und ihren Abschluß Händen oder
einer Hand verdankt, die sich nur ein kleines Maaß von Kunstbildung
angeeignet. Der Prozeß der Entstehung des deutschen Epos wäre soweit
immerhin demjenigen, wodurch die Homerischen Epen entstanden sind, ähnlich
genug. Auch der Stoff ist bei allem Unterschiede von tief verwandter,
wahrhaft epischer Natur. So schlechthin kann Homer nicht Maaßstab sein,
daß nicht eine Charakterwelt, die mit ungleich gröberer Form tiefer und
härter in sich gedrängt ist, noch als ganz episch gelten könnte; eine Heldenstatue
aus dunklem Granit ist nicht so erfreulich, wie eine aus Marmor,
kann aber immer noch monumental genug sein; die geringere Flüssigkeit,
der Stempel einer kargeren, winterlicheren Natur, die derbe, pralle Haltung
erscheint doch so ganz und ächt naiv, sächlich, fern von jener Subjectivität,
die das Band der Unmittelbarkeit zerschneidet, der Geist so gediegen instinctiv,
in Massen handelnd, Massen bewegend, mit Roß und Schwert im
gesund realen Verkehr, kindlich all der Dinge, die schön und gewaltig sind,
sich erfreuend, in alter Vätersitte einfach wurzelnd, daß man sich durchaus
in der rechten epischen Luft befindet. Die Leidenschaft, hier die Rache,
geht ihren breiten und langen Weg ächt heidnisch reflexionslos wie eine [1294]
Naturgewalt, ein Strom ohne Wehre, und das Gewissen kommt als objective
Macht in persönlicher Form, als die That eines Größeren und
Stärkeren über sie. Die Helden sind ächte Typen nationaler Grundzüge,
die Heldinnen nicht minder. Daß fast keine transcendenten Mächte einwirken,
daß Odin und der Fluch, den Andwari auf das Gold gelegt, in
der deutschen Sage ausgewaschen ist und einzig noch Alberich und die
Meerweiber als mythisches Motiv bleiben, ist schon ein schwierigerer Punct.
Allein wir können uns auch gefallen lassen, daß der Mythus nicht ausdrücklich
im Epos hervortritt, nur noch durchschimmert; es mag genügen,
daß das Element des Ganzen noch dasselbe sei, das ursprünglich auch den
Götterglauben nothwendig in sich befaßt, daß nur an dessen Stelle die
Motive noch nicht in der Weise subjectiver Reflectirtheit in das Jnnere
geworfen seien, daß mit Einem Worte nur die Form des Bewußtseins
überhaupt noch objectiv, „grundheidnisch“ sei. Gewonnen aber wird im
deutschen Epos durch solche Haltung jene eiserne Großheit des Charakters,
der ganz mit dem Schicksale zusammenwächst, ächt erhaben es zu sich
herüberzieht und so mit ihm identisch wird, indem er seine That ganz auf
sich nimmt, für alle Folgen einsteht und dem sicheren Untergang ohne
Wanken entgegengeht. Es ist dieß noch nicht zu dramatisch, deßwegen
nicht, weil aller bewußte Conflict von Prinzipien noch ausgeschlossen und
weil der Schicksalsgang durch die episch nöthigen, vielen und breiten Retardationen
gehemmt ist. Die bange und schwüle Atmosphäre, der Drang
zum tragischen Ende, dieser düstere Balladengeist bleibt aus denselben Gründen
noch in den Grenzen des Epischen und ersetzt gewissermaaßen das Einwirken
feindseliger Götter. Glücklichen Schluß haben wir in §. 868 nicht
als nothwendig erkannt. Man kann sagen, es äußere sich im drängenden,
gespannten tragischen Geiste des Nibelungenlieds ein dramatischer Beruf
des germanischen Dichtergeistes, aber er zerstört in dieser Erscheinung noch
nicht das Wesen des Epos. ─ Das Unternehmen, wovon es sich handelt,
ist zwar kein nationales, doch fühlt sich im Heldenkampfe gegen die Hunnen
noch die weltgeschichtliche Collision des deutschen Volkes, sein großer Beruf,
den es in den Riesenschlachten der Völkerwanderung bewährt hat,
vernehmlich durch. Sitte und Culturform ist nach manchen Seiten ächt
episch, ausgiebig, reichlich und doch gediegen, namentlich wenn man die
Gudrun zu den Nibelungen hinzunimmt, die so schön der Odyssee, wie
diese der Jlias, entspricht. ─ Nun aber drängen sich auf der andern Seite
die großen Uebelstände auf, die sich alle darin zusammenfassen, daß das
deutsche Volk nicht das Glück gehabt hat, in ununterbrochen stetigem
Gange seine Heldensage bis zum Abschlusse fortzubilden: das Vergessen
ursprünglicher Motive der Handlung, die doch noch durchschimmern und
in ihrer richtigen Gestalt zum Verständnisse nöthig sind (so namentlich [1295]
Sigfried's frühere Verlobung mit Brunhilden), das Eintragen geschichtlicher
Personen und Verhältnisse, die wesentlich umgebildet sind und doch
nicht genug, um uns den Anreiz kritischer Vergleichung der Geschichte zu
ersparen, der uns peinlich den poetischen Genuß stört, endlich und namentlich
die Einflechtung heterogener, christlich ritterlicher Culturformen, die den
breitschultrigen Recken wie ein enger, zierlicher Rock viel zu knapp sitzen.
Dieß von der Seite des Jnhalts. Vergl. hiezu §. 355, 3. zu dem ganzen
Bilde §. 459. Was die Form betrifft, so erkennen wir eine Volkspoesie,
die nicht auf dem Puncte des Uebergangs zu einer so schönen Kunstpoesie
steht, wie die Homerische. Sie hat eine alte Schönheit (Hildebrandslied)
verloren und eine neue, künstlerisch freiere nicht gewonnen. Man sieht,
der Dichter trägt eine Anschauung in sich, aber er kann sie nicht herausgeben,
nicht entfalten. Jn seiner Hand wird der zierliche Rock selbst wieder
zur rohen Sackleinwand; es treten Stellen gediegener Einheit gefühlten
Jnhalts mit körnigem Wort und Bild hervor, einigemale wird er selbst
beredt, aber weit häufiger ist er Wort=, Reim- und Bilder=arm bis zur
äußersten Dürftigkeit, breit und langweilig bis zur Maaßlosigkeit. Er ist
naiv im engen, beschränkten Sinne des Worts. Die Nibelungenstrophe
war es nicht, die einer entbundneren Kunst die Fessel angelegt hätte;
sie hat heroische Bewegung, läßt durch das Freigeben der Senkungen dem
Wechsel des Gefühlsganges Raum und gibt im Reim einer gesteigerten
subjectiven Empfindung ihren Klang, der noch keineswegs zu lyrisch ist.
Dem deutschen Geist hätte müssen ein Styl möglich sein, der von der
Basis des Jdealen, Monumentalen, die den großen Jntentionen durchaus
nicht abzusprechen ist, hinübergestreift hätte in das Gebiet der charakteristischen,
der individualisirenden Behandlung, wie sie jenen mehr nach innen
gedrängten Naturen mit ihrer härteren Eigenheit entspräche; ein solcher
springt auch in einzelnen scharfen, gelegentlich derb humoristischen Zügen
an, aber er bleibt unentwickelt; die Dichtung der Nation gieng vorerst
andere Wege.


Wir erwähnen hier noch die Romanzen vom Cid. Sie liegen bereits
außerhalb der Linie des heroischen Epos, der Recke ist Ritter geworden,
der Kampf geht gegen die Feinde des Christenthums, die Sarazenen.
Dabei bewahren sie wahrhaft große und rührende Züge uralter Tüchtigkeit,
Einfachheit, schlichter Häuslichkeit, welche allerdings dem ächt epischen Element
angehören; wir haben sie aber im §. nicht genannt, weil sie nur
einen losen Kranz aus ungleichzeitigen Blumen bilden, zu keinem geschlossenen
Ganzen zusammengewachsen sind.

[1296]

§. 877.


1.

Dem ritterlich-höfischen Epos der ausgebildeten Romantik fehlen
im Jnhalt wesentliche Züge, die das Gesetz der Dicht-Art fordert, wogegen
andere eintreten, die ein Vorwalten des Subjectiven, Lyrischen offenbaren, namentlich
im Pathos der Liebe, dessen Einführung als Hauptmotiv in ein
episches Ganzes auf den Roman hinzeigt; die Form ist nicht mehr naiv im
2.hohen Sinne des Worts und doch nicht wahrhaft kunstmäßig. Neben dem
größern Epos, worin der weltliche und religiöse Sagenkreis vereinigt ist, tritt
die gesonderte Behandlung des religiösen als biographischer Mythus, als mysti-
3.sche Erzählung in der Legende auf. Dem Mittelalter vorzüglich eignet das
phantastische Spiel des Mährchens, das in der Weise der traumhaften Einbildungskraft
dichtend dem Menschen das Gefühl der Lösung seiner Uaturschranken
bereitet.


1. Wir dürfen über den Jnhalt der ritterlich höfischen Epopöe auf die
umfassende Darstellung der wirklichen (§. 355 ff.) und der idealen Welt
des Mittelalters (§. 447 ff.) verweisen. Es sind im letzteren Abschnitt
auch bereits die Sagenkreise unterschieden und es ist ausgesprochen, daß
diese bunt gebrochene Welt unendlich abliegt von der Gediegenheit der objectiven
Lebensform, welche der Geist des wahren Epos erfordert (§. 462
Anm.). Gewisse Züge des Epischen sind allerdings erhalten: der Weltzustand
ist noch nicht prosaisch geordnet, der Ritter, wohl zu unterscheiden
vom Helden oder Recken, hat doch den letzteren noch nicht ganz abgelegt,
die Sitte ist in allem Glanze, selbst in der Manirirtheit der Ausländerei,
noch naiv, die Culturformen ergiebig, reich und gediegen genug für das
Bedürfniß epischer Entfaltung. Der Charakter des national Geschlossenen
dagegen, der ein Grundmerkmal des ächt Epischen bildet, ist nach zwei
Extremen auseinandergegangen: das höchste Ziel ist, obwohl in mystischer
Fassung, ein universelles, weltbürgerliches, die Jdee der christlichen Religion,
das nähere Jnteresse aber ist individuell, es gilt der Person des Ritters in
seinen Abentheuern, seinen Kämpfen mit wirklichen und imaginativen Feinden.
Tritt nun so der Einzelne, Jsolirte in den Vordergrund, so ist es zugleich
der Jnnerliche mit seinem subjectiven Leben, dem sich das Jnteresse zuwendet.
Eine unendliche, mystische Gefühlswelt schließt sich auf, ihr Mittelpunct
ist, unbeschadet des mystischen Zieles, die Liebe. Dieß ist nun offenbar
ein Eintritt lyrischer Motive in das Epos; damit ist nicht (vergl. §. 874
Anm. 1.) gesagt, daß solcher Jnhalt dem Epischen überhaupt widerspreche,
wohl aber, daß er bei spezifischer Ausbildung auflösend und zersprengend
wirke in derjenigen Form, die nach der andern Seite in ihren Grundlagen,
in der Naivetät der dargestellten Culturformen sich noch unter den [1297]
Maaßstab des ursprünglichen, gediegenen, idealen Epos stellt; denn dieses
fordert eine Welt, die in solcher Weise noch nicht innerlich, nicht sentimental
ist, kennt kein vorwiegend psychologisches Jnteresse. Soll ein solches leitend
werden in der epischen Poesie, so ist eine andere Welt vorausgesetzt, die
Welt der Bildung, der Erfahrung, die moderne Welt; die Liebe wird nun
zum Bande, woran die Metamorphosen der persönlichen Charakter-Entwicklung
sich verlaufen. Dazu nimmt das ritterlich=höfische Epos wohl einen
Anlauf, aber ohne Consequenz, denn ihm fehlen ja die modernen Bildungsbedingungen,
es ist phantastisch. So schwebt es unsicher zwischen ächtem
Epos und Roman, ist nicht ganz mehr jenes und noch nicht ganz dieser.
Aehnlich amphibolisch verhält es sich mit der Form. Die adelichen Dichter
verachten die einheimische Heldensage und den Volksgesang, wissen sich
viel mit ihrer Kenntniß der ausländischen Stoffe und Muster, mit ihrer
Kunst und setzen ihren Namen mit voller Bewußtheit an die Spitze ihrer
Werke. Daher nennt man diese Gedichte Kunst-Epen im Vergleiche mit jenen
Heldengedichten der rein nationalen Volksdichtung. Allein nur ganz relativ
im Gegensatze gegen jene unzweifelhafte Volkspoesie können sie so genannt
werden, von reifer Kunstpoesie ist nicht die Rede, dieser Gegensatz selbst ist
eigentlich mehr im Bewußtsein, als im Können und Ausführen; Tugenden
und Mängel der Volkspoesie hängen dieser ritterlichen Dichtung noch an,
während sie doch auf den Boden, dem sie entwachsen zu sein meint, vornehm
herabsieht. Der Dichter glaubt naiv an seinen Stoff und wundert
sich kindlich über die weite Welt mit all' ihren schönen Dingen, aber
während von der andern Seite allerdings der Künstler in ihm sich nach
Kräften regt und namentlich die deutschen Meister, der tiefsinnige Wolfram
von Eschenbach und der heitere, freie, leichtfertige, seelenkundige Gottfried
von Straßburg die schweren Massen der nordfranzösischen Gedichte zu durchsichtigerer
Einheit verarbeiten, wird doch das Stoffartige keineswegs durchgreifend
überwunden, sondern lagern sich zwischen das grüne Land breite
Wüsten, bald öde, bald durch Ueberfruchtung mit blinden Abentheuern und
wirrem Schlachtengedräng ein Zerrbild ächter epischer Fülle, in beiden
Fällen ermüdend, und nach der rhythmischen Seite findet das platt eintönige
Fortlaufen in den monotonen Reimpaaren seinen Ausdruck. Es ist nicht
zu läugnen, daß die Langweiligkeit ein Grundzug dieser Producte ist, daß
man an diesem fortplätschernden Brunnenrohr sich schwer des Einnickens
erwehrt. So sind diese Dichter neben den Ansätzen zu bewußter Kunst
und Resten ächter Naivetät noch naiv auch im übeln, dürftigen, kindischen
Sinne des Worts, formlos, barbarisch. Der Form-Mangel hängt immer
wieder mit dem des Jnhalts zusammen und hier ist wesentlich noch zu
sagen, daß der Aufgang des Subjectiven zu träumerische Gestalt hat, um
an die Stelle der substantiellen Einfalt eine lichte, sittliche Ordnung zu [1298]
setzen. Die ethische Welt ist anbrüchig, im Nebel des Phantastischen, im
Chaos der Abentheuer verwirren sich die ewigen, rein menschlichen Grundgefühle,
namentlich ist der Begriff der Treue schwankend geworden. Gervinus
hat das Verdienst, unser Urtheil hierin zur Klarheit geführt, das
Gesunde des nationalen Heldengedichts von dem Ungesunden des ritterlichen
Epos fest geschieden zu haben.


2. Die Legende setzt eigentlich das religiöse Epos voraus, indem
sie meist die Lebenswendung einer Person erzählt, die mit der Welt bricht
und in den neuen Olymp der Heiligkeit aufsteigt. Sie ist ein Fragment
dieses Kreises, ein Griff der transcendenten Welt in die profane, der einen
Menschen aus dieser in sie herüberzieht, ein Gegenbild des ritterlichen
Lebensgangs, aber ein kürzeres, weil hier die weltliche Fülle abgewiesen
ist, und kein reines, weil auch des Ritters höchstes Ziel ein jenseitiges,
ein Tempeldienst des heil. Graals u. s. w. ist. Sie kann sich auch auf
momentanere Wunder beschränken, ist aber immer zu bezeichnen als Darstellung
eines einzelnen Actes aus der großen Geschichte der Auflösung der
Welt in das Jenseits. Der §. nennt sie auch mystische Erzählung; wir könnten
sagen: kirchliche Novelle, wenn wir die letztere Bezeichnung schon eingeführt
hätten. Wirklich hat aber das reine Mittelalter wohl gewußt, warum
es das große Ganze der religiösen Sage nicht zu einem besondern Epos
verarbeitete, den Weg des Heliand und der Evangelienharmonie von Otfried
nicht verfolgte, genügenden epischen Jnhalt vielmehr nur in der Verbindung
der mystischen Sage mit der weltlichen suchte. Wir werden dieß
im Folgenden begründen. So konnte wirklich nur das Fragment eines
vorausgesetzten, rein religiösen Dichtungskreises aufkommen. Es ist aber
die Legende keine Form von bleibendem poetischem Werthe; ihr ascetischer
Geist macht sie zu einer Spezialität des Mittelalters. Die religiöse Weltanschauung
enthält allerdings in der Jronie, welche die weltliche Betrachtung
der Dinge umkehrt, eine Möglichkeit humoristischer Behandlung, die
auch den modernen Dichter auf dieß Gebiet führen mag, wo denn Erfreuliches
zu Tage kommt, wenn statt des kirchlich obligaten Motivs ein
gesund ethisches in Wirkung gesetzt wird, wie in Göthe's trefflicher Legende
von Petrus und dem Hufeisen.


3. Das Mährchen führen wir, wiewohl es der classischen Welt an
dieser Form auch nicht fehlte, hier auf, weil es inniger zur Romantik gehört,
die ja mitten im Epos schon halb Mährchen war, da hier neben dem
eigentlichen Mythus des Mittelalters, den göttlichen Personen, ihren Wundern,
ihrer mystischen Gegenwart an besonderem Orte (h. Graal) die Feen,
Elfen, Zwerge u. s. w. ihre bekannte starke Rolle spielen und so das Mythische
als Phantastisches auftritt. Wenn wir das Orientalische ausführlicher
zu behandeln den Raum gehabt hätten, so hätte es ebensogut schon dort [1299]
aufgeführt werden können, denn der traumhaften Thätigkeit dieser Phantasie
mußte es allerdings ganz besonders zusagen (Jndien, Persien, Arabien;
Tausend und Eine Nacht); auch hat das Mittelalter, das ja vielfach unter
orientalem Einflusse sein Jdeal ausbildete, keinen kleinen Theil seines
Mährchenstoffs durch verschlungene Vermittlungen aus dieser Quelle geschöpft.
Das Wesen dieser phantastischen kleinen Nebenform des Epos
besteht darin, daß die unreife Vorgängerinn der Phantasie, die Einbildungskraft
(vergl. §. 388 ff.) in Bewegung und Geltung gesetzt wird, um ein
Weltbild zu schaffen, in welchem das Naturgesetz zu Gunsten des Begriffs
des Gutes sich lüftet. Das Gut im Unterschiede vom Guten ist Grund=
Jnhalt des Mährchens. Die Natur wird flüssig und kommt dem Wunsch
entgegen, der Mensch bewegt sich frei von „den Bedingungen, zwischen
welche er eingeklemmt ist“ (Göthe). Wir haben in der Anm. 1. zu §. 389
diese Bedeutung der Einbildungskraft, die nun von der dichtenden Phantasie
approbirt und aufgenommen wird, bereits hervorgehoben. Allerdings zieht
sich nun in den Begriff des Gutes auch der des Guten herein. Das
Wunder, das hier das Natürliche geworden ist, bestraft den Bösen, belohnt
den Guten, die leidende Unschuld; auch ahnt das Mährchen, daß die Vorstellung,
es möchte in unserer Macht stehen, die Naturgesetze zu brechen,
um unmittelbar unsere Einfälle und Wünsche zu verwirklichen, eigentlich
der Willkür angehört, die zum Bösen führt, daher feindliche Zauberer und
Zauberkräfte eine finstere Rolle in ihm spielen, allein ohne Consequenz,
denn diese böse Magie wird selbst durch Magie besiegt und bestraft. Das
Wunder kommt nun wohl gerne dem verfolgten Guten zu Hülfe, doch
nicht sowohl der thätigen, männlichen Tugend, als vielmehr der kindlichen
Unschuld, Gutmüthigkeit, dem holden Leichtsinn und der lustigen Schalkheit,
besonders gern aber der rührenden, schönen, poetischen Dummheit, in welcher
ein Göttliches, eine große Anlage dunkel schlummert; es handelt sich also
immer mehr von Glück, als von Verdienst, es soll dem Menschen einmal
wohl sein, er soll wie im glücklichen Traume vergessen, daß das Leben
ein schweißvoller Kampf mit unerbittlichen Gesetzen ist. Der ahnungsvolle,
geisterhafte Hauch vereinigt sich daher gerne mit dem Humor. Die wunderthätigen
Mächte sind vielfach als Trümmer des Mythus, depotenzirte
Götter zu erkennen, doch darf dieß nicht als allgemein und durchgängig
behauptet werden, wie z. B. von Wackernagel (Schweiz. Mus. f. histor.
Wiss. B. 1, S. 352 ff.). ─ Das Mährchen ist keine Spezialität wie die
Legende, sondern allgemein menschlich, daher jedem Zeitalter angehörig.
Es gedeiht aber nicht in der Kunstpoesie, seine wahre Heimath ist die
Phantasie des Volkes, es ist wesentlich naiv und gehört so als spielende
Arabeske streng an den Stamm des ächten Epos. Jn der modernen Dichtung,
die am entschiedensten Kunstpoesie ist, kann es daher nur vereinzelt den [1300]
Momenten glücklicher Zurückversetzung in das Helldunkel der Volksphantasie
gelingen.


§. 878.


1.

Jn Nachahmung der römischen Kunstpoesie bringt die romanische Literatur
ein religiöses Epos hervor, das allerdings ein Totalbild eines ganzen Zeitalters
darstellt, auch Bestandtheile von gediegener epischer Objectivität hat, als
Ganzes aber, auch abgesehen von der scholastischen Anordnung und Speculation,
der Herrschaft der Allegorie, den Beweis liefert, daß diese Form den Gesetzen
2.der Dichtart nicht angemessen ist. Die Gedichte weltlich romantischen Jnhalts,
welche der reifen Kunstbildung ebenda entspringen und jenen mit geistreicher
Jronie zum Mährchen verflüchtigen oder mit ernstem Sinn an eine weltgeschichtliche
That phantastisch religiöser Begeisterung knüpfen, sind ebenso wenig
ächte Gebilde des epischen Geistes.


1. Wir haben in §. 875 das Virgilische Epos aufgeführt, um den
Satz festzustellen, daß im Gebiete des ächten, ursprünglichen Epos die Nachahmung
durch Kunstpoesie ein Widerspruch ist, der nur zweifelhafte Producte
hervorbringen kann. Dieser Satz findet nun seine Anwendung auf die
ganze Gruppe von Erscheinungen, die aus Virgil's Einfluß entstanden sind,
und zwar in doppelter Stärke, da diese den Nachahmer nachahmen. Dieß
lag freilich den stamm- und bildungsverwandten Jtalienern näher, als einem
andern Volke. Was nun Dante betrifft, so schafft sein gewaltiger Geist
allerdings, wie es scheint, in der Gattung eine neue Form, die religiöse.
Wir behaupten aber, daß diese Form im Widerspruche mit dem Wesen der
Dicht-Art liegt. Eine wesentliche Gestalt der Poesie, deren innerster Geist gediegene
Objectivität ist, verlangt, daß die reale Welt mit einfach menschlichen
Motiven der eigentliche Hauptkörper der Dichtung sei, neben welchem das
Mythische als eine naive Doppeltsetzung, ideale Spiegelung dieser Motive
sich unbefangen in das Bild einer also ungebrochenen Welt einflechte; das
Reale nimmt den festen Grund und Boden ein, das Mythische lagert leicht
darüber und steigt beliebig darauf herab. Bei Dante dagegen herrscht ein
Aufsteigen vom Realen zum Mythischen: die ganze Welt wird unter dem
Standpunct einer Hinaufläuterung zur durchsichtigen, körperlos körperlichen,
mystischen Einheit mit dem Göttlichen als des höchsten Zieles angeschaut,
alles Sinnliche ist nur symbolischer Spiegel des Jenseits und dadurch die
Kraft des Daseins negativ behandelt; das Jenseits ist die Wahrheit. Dieß
ist nun ein für allemal unepisch, eine Spezialität des Mittelalters, während
Homer auch dem Christen ewig wahr bleibt. Dante's Genius war groß
genug, um eine Totalität zu schaffen, wie wir sie für das Epos verlangen,
er umfaßt sein Weltalter, ja die ganze Welt und Geschichte, aber vom [1301]
Standpuncte seines Weltalters, und dieser Standpunct ist kein gesunder,
allgemein wahrer. Der urkräftige Geist konnte von solcher blos spezifischen
Anschauung nicht unterdrückt werden und diese Urkraft, wo sie durchbricht,
erscheint allerdings als eine ächt epische. Dieß ist in den real=geschichtlichen
Bestandtheilen, in dem Bilde der wirklichen Welt, wie sie als die gerichtete
in das Jenseits versetzt ist. Die Kämpfe der Parteien Jtaliens, die Thaten
und Leiden der Männer stehen hier in Charakterfiguren ächt historischen,
markigen Styls vor uns, wirklich stylvoll im besten Sinne des Worts.
Und der Zustand des Gerichtetseins bringt allerdings, wie es Hegel treffend
auffaßt (Aesth. Th. 3, S. 409), noch einen besondern plastischen Zug hinzu,
ein Festgehalten- und Hingebanntsein durch das Gesetz der Ewigkeit, einen
ehernen Charakter des Monumentalen. Dieß ist der wahre, bleibende Jnhalt,
der Kern des Ganzen, nach Dante's Meinung nicht das Eigentliche,
denn er strebt dem mystischen Ziele zu, aber eben da ist er ganz epischer
Dichter, wo er sich dessen nicht bewußt ist. Es verhält sich wie mit den
historischen Charakterfiguren in der florentinischen Malerei des fünfzehnten
Jahrhunderts, die um irgend ein Mirakel gruppirt sind, das den bezweckten
Jnhalt bildet, und doch mehr Werth haben, als dieser, doch den Keim der
geschichtlichen Malerei darstellen, die ihr Bett noch nicht finden kann (vergl.
§. 722). Jm Uebrigen steht die Dichtung trotz dem classischen Muster
auch in der Composition noch ganz unter dem scholastischen Formgefühle
des Mittelalters: sie ist mit dem Cirkel gothisch architektonisch, bis in das
Kleinste hinein arithmetisch, statt poetisch componirt und die herrschende
Dreigliederung schließlich auch mystisch symbolisch gemeint, sie lagert in
breiten scholastischen, mönchisch aristotelischen Untersuchungen, Unterscheidungen
ermüdende Massen doctrinellen Jnhalts an, und da ihr die christliche
Mythologie nicht genügen kann, hilft sie sich mit der Allegorie, für
welche sie zum Theil auch den Apparat des classischen Mythus ausbeutet. Ueber
diese vergl. §. 444; Dante's Allegorien bekommen ein gewisses Leben durch
einen traumhaft mystischen Hauch, der sie umweht, aber sie leiden nichtsdestoweniger
an allen Schattenseiten dieser Zwittergeburt, die ebenso dem
barbarischen, unreifen, als dem überreifen, verschnörkelten Geschmack angehört
und dem Epos fremder ist, als jeder andern Kunstform, weil in ihm
recht besonders Alles einfach das sein soll, was es ist. Die vielen Commentare
sind eben ein Beweis der tiefen Unzulänglichkeit, denn die Poesie
soll sich selbst erklären.


2. Wir können über Ariosto und Tasso kürzer weggehen. Hier
ist völlig freie, entbundene Kunstpoesie, wie sie den Schluß des Mittelalters,
den Anfang der modernen Zeit bezeichnet, und zwar nachahmende,
vornehme, gelehrte Kunstpoesie angewandt auf Stoffe der romantischen
Sage und Geschichte, die einem phantastischen, unkritischen, naiven Bewußtsein [1302]
angehören und volksthümlicher Natur sind. Dante ist ungleich
gebundener in seinem Bewußtsein, wäre es nur an eine reale Weltanschauung,
so stünde Alles gut, und daß ächte Freiheit, epische Gleichheit des Gemüths
mit dieser Bindung vereinbar sei, haben wir gesehen. Ariost aber bewegt
sich schwebend in einer Freiheit des Spieles, in welcher die wahrhaft epische
Einheit von Ernst und milder Jronie völlig aufgelöst ist. Mit dieser
Stimmung ergreift er den mährchenhaften Theil der Carls-Sage ohne jede
Pietät für den Stoff und läßt ihn zu einem melodischen Bilder-Labyrinth
aufquellen, das denselben Genuß gewährt, wie das sinnlich heitere Wiegen
und Schaukeln italienischer Musik. Die feste Zeichnung, welche das Epos
fordert, zerfließt in nie ruhendem Rinnen der Gestalten, die fruchtbarste
Erfindung und die lebendigste sinnliche Vergegenwärtigung, ächt epische
Kräfte, wirken nicht episch, weil kein Bild verweilt, und das Gesetz der
retardirenden Unterbrechungen wird ironisch zu solcher Neckerei der immer
sich verlierenden, immer wieder hervortauchenden Linie gesteigert, daß man
sich lächelnd trotz allem südlichen Sinnenreize des Stoffs und Gewichte der
vereinzelten ernsten Stellen im reinen Zustande stoffloser Bewegungslust
befindet: ein künstlerisch entfaltetes, ausgedehntes Mährchen, wozu auch
Ovid ein gutes Theil des Vorbilds gegeben, gewiß kein Epos. Daß das
Exotische Haupt-Jnhalt ist, liegt in der Natur eines solchen Spiels. ─
Der ernste Tasso knüpft die romantischen Sagen an die große, welthistorische
That der Kreuzzüge. Er folgt in diesem Theile der Geschichte; das
ächte Epos aber ruht auf Sage, die den geschichtlichen Stoff typisch umgebildet,
idealisirt hat. Die Begeisterung für den Jnhalt ist da, aber, da
derselbe sich in Wahrheit ausgelebt hat, doch fühlbar angespannt und nach
der andern Seite im Pathos für die glatte Formschönheit verhauchend, so
daß man mitten in ihrer Anerkennung von Kälte angeweht wird. Ariost's
behagliche Leichtigkeit ist naturvoller, als diese classische Anspannung. Er
ist immer bequem, ganz Jtaliener und in diesem Sinne ganz naiv. Man
fühlt nicht eine Absicht, den Virgil zu erreichen, und sein Gedicht kann
weit eher als eine wahre Spezies angesehen werden, wenn man sie nur
nicht als Epos, sondern, wie wir sie genannt, als episch entwickeltes
Mährchen faßt. Tasso ist Nachahmer bis zur Copie einzelner Stellen Virgil's
und anderer Classiker. Ueberhaupt jedoch entweicht bei diesen Jtalienern
durchgängig ein gutes Theil der innern Wärme in die rhythmische
Form. Die Stanze ist zu sehr für sich künstlich schön, um nicht die Hälfte
des Jnteresses zu Gunsten der formellen Seite zu absorbiren, und speziell
für das Epos im Reimsystem ihrer Strophe zu lyrisch musikalisch. Die
Terzine Dante's ist epischer durch die Bindung, welche je die Mitte der
vorhergehenden Strophe für die zwei äußern Zeilen der folgenden verwendet,
aber offenbar auch zu künstlich, zu schwer und dadurch eine weitere Ursache [1303]
des Dunkels. ─ Nur flüchtig erwähnen wir Camoens; der historische
Jnhalt der Luisiaden hat energisches Leben, Schwung des Nationalstolzes,
aber an die Stelle der organisch idealisirenden Sage und des ächten Mythus
tritt die Ausbeutung des Olymps und seine Verbindung mit dem christlichen,
eine Caricatur des ächten epischen Weltbildes.


§. 879.


Die moderne Zeit hat an die Stelle des Epos, nachdem allerdings die1.
Umwälzung der Poesie mit neuen Versuchen desselben, und zwar der religiösen
Gattung, eröffnet worden war, den Roman gesetzt. Diese Form beruht auf2.
dem Geiste der Erfahrung (vergl. §. 365 ff. 466 ff.) und ihr Schauplatz ist
die prosaische Weltordnung, in welcher sie aber die Stellen aufsucht, die der
idealen Bewegung noch freieren Spielraum geben. Der Dichter ist selbstbewußter3.
Erfinder und fingirt frei den Hauptinhalt, was jedoch die epische Naivetät nicht
in jedem Sinn ausschließt.


1. Es kann nicht unsre Aufgabe sein, ausführlich zu zeigen, wie durch
die Epopöen Milton's und Klopstock's nur unsere Behauptung bestätigt
wird, daß das eigentliche Epos der modernen Kunstpoesie zuwiderläuft und
daß einem religiösen überhaupt das Wesentliche der Dichtart abgeht; wir
fügen zu dem früher Gesagten nur noch einige Bemerkungen. Was der
Protestantismus von Mythen hat stehen lassen, ist zu arm und unsinnlich;
ausgesponnen, mit eigenen Erfindungen (namentlich aus dem Gebiete der
Angelologie) vermehrt, wird es zur todtgebornen Maschine. Der Begriff
der Maschinerie, durch die Franzosen aufgebracht und namentlich von
Voltaire in der Henriade frostig allegorisch zur Anwendung gebracht, zeigt
schon im Namen die Verkehrtheit an, poetische Motive, die einst lebendig
waren, nach ihrem Tode erneuern zu wollen, denn der Name gesteht, daß
sie mechanisch werden. Die innere Unwahrheit wird zur poetischen Leere
und Kälte. Der reife Geist der Selbstbestimmung in der modernen Zeit
setzt den Schein jenseitiger, transcendenter Verhandlungen über das Loos
des Menschen zu einer hohlen Jllusion herab. Wir haben bei Dante gesagt,
das religiöse Epos sei aufsteigend statt niedersteigend; Klopstock besingt zwar
den Menschgewordenen Gottessohn, aber nur um ihn und in ihm die Menschheit
durch seinen Leidensweg und Tod zum Himmel zurückzuführen. Transcendent
ist der Gang, transcendent die Hauptperson: ein Gottessohn kann
nicht Held eines Epos sein, weil er nicht fehlen, nicht für Fehl menschlich
leiden kann. Daß Klopstock überdieß eine ganz anschauungslose, wesentlich
auf die Empfindung gestellte, musikalisch und lyrisch gestimmte Natur war,
verfolgen wir hier nicht weiter; hätte er auch die Partieen seines Stoffs, [1304]
welche Handlung, Fülle, Bild darboten, besser benützt und ausgebildet, so
wäre nur ein sich widersprechendes Ganzes entstanden. Milton's und Klopstock's
Epen sind und bleiben im historischen Zusammenhange der Literatur
höchst merkwürdig, indem der Drang, das neu aufgegangene unendliche
Empfindungsleben in erhabener Gestalt auszusprechen, und der neue Sinn
der Objectivität, der Zeichnung (dieser freilich bei Milton kräftiger, als bei
Klopstock), der in der beschreibenden Poesie vorher auf falschem Wege begriffen
war, in der Nachbildung Homer's sich Luft machte, aber wir halten
uns bei dieser Seite nicht auf, denn wir schreiben hier keine Geschichte der Poesie.
Ebendaher befassen wir uns auch nicht mit den neueren Versuchen, Heldengedichte
auf geschichtlichen Stoff zu gründen, nicht mit Klopstock's und
Schiller's Entwürfen, die aus begreiflichen Gründen nicht zur Ausführung
kamen, nicht mit dem Späteren, Pyrker u. s. w., nicht mit den neuesten
kürzeren Dichtungen, die abermals diese Form wiederzubeleben versuchten.
Günstiger steht es mit Wieland's Oberon; er will kein Epos sein, sondern
ein entwickeltes Mährchen im Geist Ariosto's, und schließt doch einen schönen
sittlichen Kern in die bunte Schaale; da aber das Mährchenhafte doch
für solchen größern Zusammenhang keinen hinreichenden Boden mehr hat,
konnte er der Nation kein bleibendes Jnteresse abgewinnen.


2. Der §. weist dem Romane seine eigentliche Zeit ganz in der modernen
Literatur an; dabei ist natürlich nur allgemein der Eintritt dieser
Kunstform in ihre wahre Geltung in's Auge gefaßt; wenn wir historisch
verführen, müßten wir das Verhältniß derselben zu den Rittergedichten
nachweisen: den positiven Ursprung aus denselben in der prosaischen Auflösung
ihrer Form zu Volksbüchern, den negativen in der ironischen Auflösung
ihres Jnhalts durch Cervantes. Dieß ist nicht unsere Aufgabe, wir
berühren aber jenen Ursprung nachher im innern Zusammenhang, besprechen
die letztere Erscheinung da, wo der Unterschied des Ernsten und Komischen
einzuführen ist, und beschränken uns hier auf das Allgemeine und Prinzipielle.
Durch die Darstellung der Weltalter der Phantasie ist aber bereits
Alles so vorbereitet, daß es nur kurzer Zurückverweisung bedarf. Die Grundlage
des modernen Epos, des Romans, ist die erfahrungsmäßig erkannte
Wirklichkeit, also die schlechthin nicht mehr mythische, die wunderlose Welt.
Gleichzeitig mit dem Wachsthum dieser Anschauung hat die Menschheit auch
die prosaische Einrichtung der Dinge in die Welt eingeführt: die Lösung
der Staatsthätigkeiten von der unmittelbaren Jndividualität, die Amtsnormen,
denen der Einzelne nur pflichtmäßig dient, die Theilung der Arbeit
zugleich mit ihrer ungemeinen Vervielfältigung, wodurch der Umfang physischer
Uebungen aus der lebendigen Vereinigung mit sittlichen Tugenden, die im
Heroen lebte, sich scheidet, die Erkältung der Umgangsformen, den allgemeinen
Zug zur Mechanisirung der technischen Producte, des Schmucks u. s. w., die Raffinirung [1305]
der Genüsse. Hegel bezeichnet nun mit einfach richtiger Bestimmung
das Wesen des Romans, wenn er (Aesth. Th. 3, S. 395) sagt, er erringe der
Poesie auf diesem Boden der Prosa ihr verlorenes Recht wieder. Es kann
dieß auf verschiedenen Wegen geschehen. Der erste ist der, daß die Handlung
in Zeiten zurückverlegt wird, wo die Prosa noch nicht oder nur wenig
Meisterinn der Zustände war; allein dieß ist nur scheinbar die einfachste
Auskunft, denn das Wissen um die unerbittliche Natur der Realität ist
jedenfalls im Dichter und theilt sich dem Gedichte mit; wo nun eine ganze
Dicht-Art einmal auf dieß Wissen gestellt ist, sucht sie ihrem Wesen gemäß
der Poetische gerade in einem Kampfe der innern Lebendigkeit des Menschen
mit der Härte der Bedingungen des Daseins, und Zustände, die noch so
flüssig sind, daß sie einer schönen Regung des Lebens keine Hindernisse
entgegenbringen, entbehren daher für den Roman ebenso des Salzes, wie
die plastische Schönheit der antiken Culturformen für den Maler. Ein
zweites Mittel ist die Aufsuchung der grünen Stellen mitten in der eingetretenen
Prosa, sei es der Zeit nach (Revolutionszustände u. s. w.), sei es
dem Unterschiede der Stände, Lebensstellungen nach (Adel, herumziehende
Künstler, Zigeuner, Räuber u. dergl.). Dieß ist eine sehr natürliche Richtung
des Romans und wir kommen darauf zurück. Ein dritter, mit den
beiden genannten begreiflich im innigsten Zusammenhang stehender Weg ist
die Reservirung gewisser offener Stellen, wo ein Ahnungsvolles, Ungewöhnliches
durchbricht und der harten Breite des Wirklichen das Gegengewicht
hält. Der bedeutendere Geist wird diese Blitze der Jdealität aus
tiefen Abgründen des Seelenlebens aufsteigen lassen, wie Göthe in den
Partieen von Mignon, die wie ein Vulkan aus den Flächen seines W. Meister
hervorsprühen; solche psychisch mystische Motive sind eine Art von Surrogat
für den verlorenen Mythus, und wahrlich ein besseres, als jene absurde
Oberleitung der geheimnißvollen Männer des Thurmes im W. Meister.
Es versteht sich übrigens, daß wir hiemit keine Tollheiten moderner Romantik
rechtfertigen wollen. Der gewöhnliche Weg aber besteht einfach in
der Erfindung auffallender, überraschender Begebenheiten. Hier ist es nun
allerdings ganz in der Ordnung, daß im Roman der Zufall als Rächer
des lebendigen Menschen an der Prosa der Zustände eine besonders starke
Rolle spielt, allein von dieser Seite liegt eine Schwäche nahe, die mit den
Anfängen des Romans zusammenhängt. Er ist, wie oben berührt, aus
den Ritterbüchern entstanden, die aus dem romantischen Epos hervorgegangen
waren, aus einem phantastischen Weltbilde, wo dem Ritter verfolgte Jungfrauen,
Riesen, Zwerge, Feeen auf Weg und Steg begegneten und wo ihm
Errettungen, Siege, Thaten überschwenglicher Tapferkeit ein Kinderspiel
waren. Das eigentliche Wunder, das absolut Unmögliche des romantischen
Glaubens, verschwand mit der Zeit, die unwahre Leichtigkeit und Häufigkeit [1306]
des an sich Möglichen, aber Seltenen und Unwahrscheinlichen blieb, und
der Roman, sofern er sich auf diese Richtung wirft, hat daher den Begriff
des Romanhaften begründet, d. h. eines Weltbildes, wo in jedem
Momente der Zufall Unterbrechungen des gewöhnlichen Gangs der Dinge
bereit hält, die der Eitelkeit des Herzens, den Wünschen der Phantasie entgegenkommen,
wie die Vorstellung, als dürfe man nur in den nächsten
besten Postwagen sitzen, um eine verkappte Prinzessin darin zu finden, die
man dann von einem Schock Räuber befreit, u. dergl. Dieß Abentheuerliche
lag allerdings schon in den griechischen Anfängen des Romans, auf die
wir, als auf verlorene Vorposten, nicht weiter eingehen können. Gewöhnt
sich der Leser die Welt so aufzufassen, so wird ihm alsgemach das Hirn verbrannt
und da er sich in die Rolle der Helden denkt, in die sich Alles verliebt,
wie sie nur die Schnalle einer Thüre aufdrücken, so verliert er die Einfachheit
des Unbewußten und sieht sich stets im Spiegel. Wir haben hier
schon eine Seite, die dem Roman etwas Bedenkliches gibt und ihn aus
dem Gebiete der Aesthetik unter das Tribunal der Pädagogik zu ziehen
droht; wir reden wohl zunächst von dem schlechten Roman, allein auch der
gute streift unwillkürlich an diese Nährung eines abentheuerlichen, selbstbewußt
eiteln Weltbildes. Endlich ist derjenige Weg der Herausarbeitung
des Jdealen aus der Prosa zu nennen, der eigentlich mit allen andern sich
vereinigt, aber ebensosehr, wie wir sehen werden, auch eine besondere Richtung
begründet: der Roman sucht die poetische Lebendigkeit da, wohin sie
sich bei wachsender Vertrocknung des öffentlichen geflüchtet hat: im engeren
Kreise, der Familie, dem Privatleben, in der Jndividualität, im Jnnern
(vergl. §. 375). Es folgt aus dem Obigen, daß hier, im Conflicte dieser
innern Lebendigkeit mit der Härte der äußern Welt, das eigentliche Thema
des Romans liegt. Wir werden dieß im Folgenden wieder auffassen.


3. Der Romandichter mag einen gegebenen Stoff aus der Wirklichkeit
behandeln, dieß wird hier wie überall das Bessere, das Naturgemäße sein.
Allein er kann Nebenhandlungen, ja die Haupthandlung frei erfinden, gänzlich
umbilden, wogegen der epische Dichter an die Umbildung, welche ein Stoff
durch die feststehende Sage erfahren hat, gebunden und nur in der Durchführung,
Entwicklung, Vergegenwärtigung frei ist. Der Romandichter ist
also weit mehr freier Erfinder und schon in dieser Beziehung reiner Kunstpoet.
Es ist nun aber auf den in §. 865 aufgestellten Satz zurückzuverweisen:
„der Dichter weiß oder behauptet sein Product nicht als solches.“
Die epische Objectivität fordert, daß auch der frei schaltende Romandichter
sich stelle, als thue er nichts dazu, als mache sich die Fabel von selbst
oder zwinge ihn, weil sie einmal thatsächlich sei, so und nicht anders zu
erzählen. Es ist dieß eine stillschweigende Convention zwischen ihm und dem
Leser. Dadurch tritt ein neuer, besonderer Zug von Jronie zu derjenigen, [1307]
die im weiteren Sinne des Worts dem epischen Dichter überhaupt eigen
ist (vergl. §. 869). Mit diesem selbstbewußten Verhalten ist nun zwar die
volle Naivetät allerdings nicht verträglich, die das Element des ächten Epos
bildet; allein von der Fabel ist das Bild der Dinge zu unterscheiden, die
Darstellung des ganzen Weltzustands, der Sitte, der Verhältnisse, die Vergegenwärtigung
der Hauptfiguren im Gange der Handlung: hierin ist der
Romandichter im guten Sinne des Wortes gebunden wie der Dichter des
Epos und muß denselben objectiven, kindlichen Sinn bewahren und zeigen.
Die geschärftere Jronie im Verhalten des Romandichters erscheint in diesem
Zusammenhang wieder milder und nicht zu weit abliegend von der epischen
Objectivität; wir haben in §. 865, Anm. bereits jene Uebertragung beleuchtet,
vermöge welcher hinter der Fiction des Glaubens an die thatsächliche
Nöthigung des Fabel-Jnhalts die Wahrheit der Unterwerfung des
Geistes unter die allgemeinen Gesetze und Bedingungen des Weltlaufs sich
verbirgt.


§. 880.


Die epische Forderung der Totalität bleibt stehen, doch nur in Beziehung1.
auf die Culturzustände, der Roman trägt in weit engerem Sinne den Charakter
des Sittenbildlichen, als das Epos; der Held ist nicht handelnd, er macht auf
dem Schauplatze der Erfahrung seinen Bildungsgang, worin die Liebe ein Hauptmotiv
ist und Conflicte der Seele und des Geistes an die Stelle der That
treten. Die Auffassung ist daher ungleich mehr, als dort, auf das Jnnere gerichtet,
der Styl aber geht noch weit enger in das Einzelne und ist wesentlich
der ausgebildet charakteristische, individualisirende. So bildet der2.
Roman einen vollen Stylgegensatz gegen das Epos; er ist aber ein mangelhaftes
Gefäß für den Geist der modernen Dichtung, er steht, wie schon seine
prosaische Sprachform zu erkennen gibt, bedenklich an der Grenze des sinnlich
oder geistig Stoffartigen und diese innere Unsicherheit gibt sich namentlich durch
die Art der Spannung und die Schwierigkeit des Schlusses zu erkennen.


1. Der Roman hat nicht eine große National-Unternehmung zum
Jnhalt, welche ein Weltbild im hohen geschichtlichen Sinne gäbe; umfassend
soll er nur sein in Beziehung auf das Zuständliche, rein Menschliche, indem
er von seinem Punct aus Sitten, Gesellschaft, Culturformen einer ganzen
Zeit und darin das Allgemeine des menschlichen Lebens darstellt. Der
historische Roman begründet keinen Einwand gegen diese Beschränkung der
vorliegenden Kunstform auf die vom Schauplatze der großen Thaten abliegende
Seite der Wirklichkeit; es wird sich zeigen, daß in ihm das Gebiet
der politischen Handlung nur den Hintergrund bildet. Jn diesen Grenzen [1308]
soll der Roman ein desto reicheres Gemälde entwerfen, denn dem Geiste
der Erfahrung steht Alles im Zusammenhang, sein Weltbild ist ein gefülltes,
kennt keine Lücken. Er ist naturgemäß polymythisch und wie Aristoteles
von der zweiten, „ethischen“ Gattung des Epos sagt, in der Composition
verwickelt. Wir haben in dieser das entfernte Vorbild des Romans erkannt
(§. 874), sie als sittenbildlich im engeren Sinne bezeichnet und vom Romane
gilt dieß natürlich noch mehr. Der Romanheld nun heißt wirklich
nur in ironischem Sinne so, da er nicht eigentlich handelt, sondern wesentlich
der mehr unselbständige, nur verarbeitende Mittelpunct ist, in welchem die
Bedingungen des Weltlebens, die leitenden Mächte der Cultursumme einer
Zeit, die Maximen der Gesellschaft, die Wirkungen der Verhältnisse zusammenlaufen.
Er macht durch diesen Lebens-Complex seinen Bildungsgang,
er durchläuft die Schule der Erfahrung. Hier tritt nun die große Bedeutung
der Liebe ein. Die ganze moderne Welt erkennt in ihr ein Hauptmoment
in der Ergänzung und Reifung der Persönlichkeit. Das Ziel des
Romanhelden ist schließlich immer die Humanität, irgendwie gilt von jedem,
was Schiller vom Wilh. Meister sagt: er trete von einem leeren und unbestimmten
Jdeal in ein bestimmtes, thätiges Leben, aber ohne die idealisirende
Kraft dabei einzubüßen; er wird vom Leben realistisch erzogen, er
soll reif werden, zu wirken (─ im Unterschiede vom Handeln ─), aber
zu wirken als ein ganzer, voller, ausgerundeter Mensch, als eine Persönlichkeit.
Jn dieser Erziehung ist denn die Liebe, da wir das rein Menschliche,
Jdeale im Weibe symbolisch anschauen, ein wesentliches Moment und
zugleich Surrogat für die verlorene Poesie der heroisch=epischen Weltanschauung;
die tiefsten Metamorphosen der Persönlichkeit, so haben wir schon
zu §. 877, 1. gesagt, knüpfen sich an eine Leidenschaft, die auf sinnlicher
Grundlage den ganzen Menschen ergreift, alle seine geistigen Kräfte in
Bewegung setzt, an ihre Wechsel, Freuden, Leiden; sie wird so zu dem Bande,
an welchem der innere Bildungsgang des Menschen, obgleich er seinem
höheren Jnhalte nach weit darüber hinausliegt, seinen Verlauf nimmt.
Dieß führt zurück zu dem Wege der Gewinnung des Poetischen inmitten
der Prosa, den wir im vorh. §. zuletzt aufgeführt haben: die Geheimnisse
des Seelenlebens sind die Stelle, wohin das Jdeale sich geflüchtet hat,
nachdem das Reale prosaisch geworden ist. Die Kämpfe des Geistes, des
Gewissens, die tiefen Krisen der Ueberzeugung, der Weltanschauung, die
das bedeutende Jndividuum durchläuft, vereinigt mit den Kämpfen des
Gefühlslebens: dieß sind die Conflicte, dieß die Schlachten des Romans.
Doch natürlich sind dieß nicht blos innere Conflicte, sie erwachsen aus der
Erfahrung und der Grundconflict ist immer der des erfahrungslosen Herzens,
das mit seinen Jdealen in die Welt tritt, des Jünglings, der die unerbittliche
Natur der Wirklichkeit als einer Gesammtsumme von Bedingungen, [1309]
die, von unendlich vielen Jndividuen in Wechsel-Ergänzung erarbeitet, über
jedem einzelnen Jndividuum stehen, gründlich durchkosten muß, um Mann
zu werden. Das Hauptgewicht fällt aber natürlich stets auf das innere
Leben und wenn demnach der Roman im Unterschiede vom Epos immer
vor Allem Seelengemälde ist, so wird dadurch das epische Gesetz, daß der
Dichter uns überall nach außen, in die Erscheinung führen soll, in seiner
Geltung zwar beschränkt, aber keineswegs aufgehoben; ja das Licht des
tieferen Reflexes im Seelenleben macht die Außendinge nur um so bedeutsamer,
beleuchtet die ganze Erscheinungswelt, namentlich auch die äußere
Natur, um so gründlicher, dringt heimlicher in die feinsten Falten. Hier
stehen wir nun am Hauptpuncte. Eine Welt von Zügen, die das plastisch
ideale Gesetz des Epos ausscheidet, nimmt das malerisch spezialisirende des
Romans wie mit mikroskopischem Blick auf, weil jene Jdealität der Zustände,
welche dieß nicht ertragen könnte, vorneherein gar nicht vorhanden ist, weil
hier die Jdealität vielmehr aus der Prosa der harten Naturwahrheit eben
durch die Rückführung auf ein vertieftes inneres Leben hergestellt wird.


2. Man hat den Roman ein verwildertes Epos, eine Zwittergattung
genannt. Wir halten zunächst unsern in §. 872 an die Spitze gestellten
Satz fest, daß er eine wahrere Erscheinung ist, als alle Heldengedichte nach
Homer, die der Kunstpoesie entsprossen sind; denn er will gar kein Epos
sein, sondern stellt sich diesem als Product einer ganz andern Stylrichtung
auf klar getrenntem Gipfel gegenüber. Aber dieser Gipfel ist viel niedriger,
als der, worauf das Epos seine Stelle hat. Warum? Weil der Styl, der
das Recht des tieferen Griffes in die härteren Bedingungen und Züge der
Wirklichkeit aus der vertieften Jnnerlichkeit der Weltauffassung schöpft, seine
wahre Heimath in einer andern Dicht-Art haben muß, in derjenigen nämlich,
welche die Welt als eine von innen, aus dem Willen bestimmte darstellt,
also der dramatischen. Er ist kein Epos mehr und doch kein Drama, er mag
in diesem Sinn eine Zwittergattung heißen; ein verwildertes Epos aber
kann man ihn nicht nennen, denn er hat die Trümmer des Epos, aus
denen er allerdings entstanden ist, in etwas spezifisch Anderes verwandelt.
Dagegen drängen sich schwere Bedenken auf, wenn man seine Stellung
ganz allgemein vom Standpuncte der reinen, selbständigen Kunstschönheit
betrachtet: hier bricht über eine kaum merkliche Schwelle der Charakter des
Zwitterhaften in anderer, weiterer Bedeutung herein: der Roman hat zu
viel Prosa des Lebens zugestanden, um einen sichern Halt für ihre Jdealisirung
zu haben; daher schwankt er so leicht nach zwei Extremen hin aus
dem Gebiete des rein Aesthetischen weg: er wirkt sinnlich stoffartig, sei es
in der gemeinen Bedeutung des Worts oder überhaupt im Sinne pathologischer
Aufregung, und sinkt zur breiten, leichten oder wilden Unterhaltungsliteratur
herunter; oder er wirkt didaktisch, tendenziös, nimmt jeden Streit [1310]
der moralischen, socialen, politischen, religiösen Theorieen und Jdeen unter
dem unruhigen Standpuncte des Sollens auf und vergißt nun abermals,
daß das wahrhaft Schöne zwecklos ist. Die Literatur hat Romane erlebt,
deren Zweck war, vor der Onanie zu warnen. Das Jnteresse am Jndividuum
und seinen Schicksalen, namentlich in der Liebe, bringt ferner eine
zu stoffartige Spannung der Neugierde mit sich, wie wir dieß schon früher
berührt haben. ─ Die innern Mängel kommen aber vorzüglich am Schlusse
zum Vorschein, denn dieser ist unvermeidlich hinkend. Die Frage ist nämlich
einfach: was soll der Held am Ende werden? Zum politischen Heroen erzieht
ihn der Roman nicht, unsere Aemter sind eine zu prosaische Form, um das
Schiff, das unterwegs mit so vielen Bildungsschätzen ausgestattet worden
ist, in diesem Hafen landen zu lassen. Es bleiben Thätigkeiten ohne
bestimmte Form übrig, die aber sämmtlich etwas Precäres haben. Wilh.
Meister wird Landwirth und ist dabei zugleich als wirkend in mancherlei
Formen des Humanen und Schönen vorzustellen, allein der Dichter setzt
doch einen gar zu fühlbaren Rest, wenn er, nachdem so viele Anstalten
gehäuft waren, einen Menschen zu erziehen, uns ein so unbestimmtes Bild
der Thätigkeit des reifen Mannes auf der untergeordneten, wenn auch
ehrenwerthen Grundlage der bloßen Nützlichkeit gibt. Künstlerleben ist zu
ideal, die Kunst thut nicht gut, die Kunst zum Objecte zu nehmen; geschieht
es aber doch, so erscheint das Continuirliche einer bestimmten Thätigkeit,
deren ideale Jnnenseite das Dichterwort doch nicht schildern kann, eben auch
prosaisch. Dem Romane fehlt der Schluß durch die That, ebendaher hat
er keinen rechten Schluß. Er hat die Stetigkeit des Prosaischen vorneherein
anerkannt, muß wieder in sie münden und verläuft sich daher ohne festen
Endpunct. Ein Hauptmoment des Roman-Schlusses ist die Beruhigung der
Liebe in der Ehe. Hier verhält es sich nicht anders. Die Ehe ist eigentlich
mehr, als die Liebe, aber in ihrer Stetigkeit nicht darzustellen, in ihrer
Erscheinung prosaisch und so läuft auch diese Seite der gewonnenen Jdealität
in zugestandene Prosa aus. Diesen Charakter, die Prosa nicht gründlich
brechen zu können, gesteht nun der Roman auch dadurch zu, daß er in
gebundener Sprache ganz undenkbar ist und mit bloßem entferntem Anklang
des Rhythmischen sich begnügen muß. Allein die Sprachform wird auch
zum rückwirkenden Motive, dießmal im schädlichen Sinne, und steigert die
Versuchung, die an sich schon in der Dicht-Art liegt, stoffartige Massen
von Historischem, Gelehrtem aller Art, unverarbeiteter Weisheit, Tendenziösem,
Erbaulichem u. s. w. in das geduldige Gefäß zu schütten.


§. 881.


1.

Nach Stoffgebieten eingetheilt nimmt der Roman vorherrschend das
Privatleben zu seinem Schauplatz und sucht hier das Poetische entweder in [1311]
der aristokratischen Gesellschaft, sei es im engeren, sei es, um die Erwerbung
schöner Humanität in den bevorzugten Kreisen darzustellen, im weiteren
Sinne des Worts, oder, und zwar in stets erneuter Opposition gegen diese
Form, im Volke, oder im gebildeten Bürgerstande, vorzüglich in seinem
Familienleben, und diese Gattung nimmt die breiteste Stelle ein. Ueber diese2.
Sphären erhebt sich unvollkommen der historische Roman in das politische
Gebiet und der sociale zu den großen Fragen über das Wohl der Gesellschaft.


1. Es folgt aus allem Gesagten, daß der Roman „vorherrschend“ d. h.
nicht nur meist, sondern wie sich zeigen wird, auch wo er das Oeffentliche
ergreift, wenigstens mit seinem ganzen Vordergrunde stets im Privatleben
spielt. Natürlich aber ergriff er zuerst dessen glänzendste, am Oeffentlichen
unmittelbar liegende, durch seine Glorie beschienene Seite, das Hofleben.
Der ältere aristokratische Roman, im siebenzehnten Jahrhundert, hauptsächlich
nach Calprenede und Mad. de Scüdery, ausgebildet, war nur scheinbar
ein historischer, ein „Heldenroman.“ Es war in den Herkules, Herkuliskus,
Aramena, Octavia, Arminius von Buchholz, Herzog Anton Ulrich von
Braunschweig, Lohenstein bis zu Ziegler's asiatischer Banise um einen „Hofspiegel“
und nur im Sinne aufgeklebter Gelehrsamkeit um einen „Weltspiegel“
zu thun; hinter den historischen Helden stacken Hofleute der Zeit.
Dieß war der nächste Ableger der an die Rittergedichte sich anschließenden
Amadis-Romane; das Aristokratische war zunächst historisch motivirt als
Reminiscenz, Nachwirkung der Romantik, die Dichter selbst waren Adeliche.
Dabei lag als inneres Motiv der Jnstinct zu Grunde, etwas der erhabenen
Thätigkeit der Heroen im ursprünglichen Epos Aehnliches als Stoff zu
ergreifen, und man suchte dieß Aequivalent in der feinsten Bildung und
freiesten Lebensbewegung, wie sie den bevorzugtesten Ständen sich öffnet.
Der aristokratische Roman ist ein verspäteter Versuch dieser Dicht-Art, auf
der Linie des Epos zu bleiben; das Heroische soll als Vornehmes conservirt
erscheinen. Die geistigere, moderne Wendung ist nun die, daß das
Vornehme nicht in die feinste, sondern in die reinste Bildung, in die Blüthe
der Humanität gesetzt wird, aber doch so, daß die Erwerbung derselben an
bevorzugten, der Enge und Sorge des Lebens enthobenen Stand als an
ihre Bedingung geknüpft bleibt. Göthe hat diese Verschmelzung des Bildungsbegriffs
mit dem Adelsbegriffe im Wilh. Meister zwar durch das
Aufsteigen eines Bürgerlichen in die vornehmen Kreise, durch Geltendmachung
der Kunst als eines geistigen Adels, die jedoch im Schauspielerstand auch
ihre ganze Sterblichkeit enthüllt, durch die Mißheirathen am Schluß ironisirt,
aber darum keineswegs aufgehoben, sondern doch in Ton und Jnhalt recht
sanctionirt. Dieses Kunstwerk kann im engeren Sinne des Worts ein
Humanitäts-Roman genannt werden. Die ganze Dicht-Art hat, wie wir [1312]
gesehen, die Jdee des Heranreifens zur reinen Menschlichkeit zum Jnhalt,
das eigentliche Handeln ist nicht ihre Sphäre. Damit ist aber natürlich
nicht gesagt, daß nicht der Kern der menschlichen Vollendung der Persönlichkeit
in das Ethische, die Charakterbildung, und zwar allerdings auch in
Beziehung auf das nationale, politische Leben zu legen sei, nur daß es bei
der Beziehung bleibt und nicht die That selbst, höchstens eine Aussicht auf
stetiges Wirken in die Fabel eintritt. Göthe's Roman faßt aber im Sinne
seiner Zeit das Humanitätsleben als ein System idealen Selbstgenusses,
worin das eigentlich Active und das Jnteresse für die großen Gegenstände
desselben fehlt; die Schlußwendung zu der Jdee nützlicher Thätigkeit und
der Begriff der Resignation vermag diese Grundlage nicht zu verändern,
fällt vielmehr selbst wieder unter die von ihr ausgehende Beleuchtung. Es
ist dieß ein Mangel an männlichem Marke, der aber in unserem Zusammenhang
als natürlicher Mangel der Spezies zur Sprache kommt. Es
verhält sich ebenso mit dem Künstler=Romane, zu welchem der W. Meister
neigt, und den wir zum aristokratischen zählen dürfen. Der allgemeine
Grund, der gegen die Wahl solcher Stoffe aus dem Gebiet idealer Beschäftigung
entscheidet, ist mehrfach und noch so eben von uns ausgesprochen;
in dieser Rückbiegung der Kunst auf sich selbst verräth sich ganz die bedenkliche
Scheue der neueren Zeit vor dem herben Roh-Stoffe des realen Lebens.
Wir wollen jedoch damit nicht schroff absprechen; Künstler, mehr noch Dichter,
Schauspieler können erschütternde Schicksale erleben, die hinreichenden Stoff
für den Mittelpunct einer Roman-Fabel liefern, so daß man das Mißliche
einer Beschäftigung, welche dem Epiker zu wenig Realität darbietet, weniger
fühlen mag; je ernster aber ein solcher Lebensgang erscheint, je ergreifender
die Kämpfe einer künstlerisch idealen Natur mit der Welt, desto bestimmter
tritt ein solcher Roman aus der aristokratischen, fein epicureischen Sphäre
heraus und in die Gattung des bürgerlichen Romans hinüber. Jnnerhalb
der Sphäre, in der wir stehen, ja der Behandlung nach in aller Roman=
Literatur ist Göthe's Roman ein Werk fast unvergleichlicher Vollkommenheit.
Die breiten und vollen Massen des Jnhalts, getränkt mit Lebensweisheit,
erklingen unter der Hand des Künstlers wie in höheren Rhythmen, das
Stoffartige ist rein getilgt und mit ächter Milde, feinem epischem Lächeln
schwebt objectiv der ruhige Geist über der harmonisch geordneten weiten
Welt. ─ Es war zunächst die innere Unwahrheit des aristokratischen Romans
in seiner ursprünglichen Gestalt, was den Gegensatz herausforderte.
Diese Unwahrheit lag in der kindischen Häufung des Unwahrscheinlichen,
den unglaublichen Thaten der galanten Tapferkeit, den unendlichen abentheuerlichen
Zufällen, die derselbe aus der Ritter-Romantik mit herüberbrachte,
ebenso aber in dem falschen Welt- und Sittenbild überhaupt, der
Unnatur des Umgangtons, dem Hohn auf alle Wahrheit der Erfahrung, [1313]
auf welche doch die ganze Dicht-Art, realistisch in ihrem innersten Wesen,
gegründet ist. Der Volksroman, der Ableger des Sancho Pansa, begleitet
wirklich den aristokratischen Roman, wie dieser den Don Quixote,
von den spanischen Schelmen- und Räuber-Romanen bis heute, wo er sich
in den Dorfgeschichten eine neue Gestalt gegeben. Räuber, Abentheurer
aller Art, wandernde Musikanten, Studenten, Handwerksbursche, Bediente,
arme Findlinge, die schließlich emporkommen, endlich Bauern: wir dürfen
dieß ganze Personal im Volksromane zusammenfassen, der uns die Welt
kennen lehrt, wie sie ist, wie sie mit rauhem Stoße den jungen Lehrling
enttäuscht und ihm das Schulgeld grob und hart abfordert. Der Styl
geht um so viel naturalistischer in diese Gröbe des Lebens, als der Geist
der Wirklichkeit die ganze Grundlage bildet. Er ist in den frühesten Erscheinungen
noch ein Stück ächten Volkstons, namentlich in dem trefflichen
Simplicissimus, auch in den „wahrhaftigen Gesichten Philander's von Sittewald,“
die zwar didaktisch sind, aber so viel ächt Episches enthalten:
Werken, durch welche der Geist der Enttäuschung und Erfahrung, der Erkenntniß
der Argheit und „Hypokrisie“ der Welt, der über das sechszehnte
und siebenzehnte Jahrhundert kam, mit so scharfer Schneide geht. Wir können
auch die Robinsonaden nach der einen Seite in unsern Zusammenhang ziehen,
als Ausdruck einer Stimmung, welche die übersatte und üppige Cultur
erfrischen wollte, indem sie ihr zeigte, wie schwer und interessant ihre Anfänge
sind: sie sollte wieder Natur-Reiz erhalten durch das Bild eines
Schiffbrüchigen, der von allen ihren Vortheilen getrennt ist und von vorn
beginnen muß. Diese Classe steht aber zugleich in einem größern, bedeutenderen
Zusammenhang und weist merkwürdig auf die Jdeen-Strömung hin,
die mit Rousseau ihren stärkeren Lauf anhob; sie verkündigt einfache, naturgemäße,
freie Staats- und Gesellschafts-Bildung. ─ Die Dorfgeschichten
der neueren Zeit gehören ihrem beschränkten Umfange nach eigentlich in die
Geschichte der Jdylle und sind bei der modernen Form derselben noch einmal
aufzunehmen; doch ist nicht zu übersehen, daß diese selbst an dem hier
vorliegenden Gegensatze Theil hat, indem das falsche Bild des Jdyllischen
in der bekannten Form des Schäferwesens von der höfisch aristokratischen
Dichtung ausgeht, das denn auch im eigentlichen Romane dieses Geschmacks
einen starken Einschlag bildet. Die Dorfgeschichte gibt dagegen wahre Landleute,
enthüllt die Härten, die Uebel des Bauernlebens, hält es nicht schlechthin
abgeschlossen von der verderblichen Berührung mit der raffinirten Cultur,
und doch rettet sie zugleich die Einfalt, die Schönheit des Heimlichen und
Beschränkten. So gehört sie in den Zug der Opposition gegen die aristokratische
Romanliteratur. ─ Der bürgerliche Roman dagegen ist die
eigentlich normale Spezies. Er vereinigt das Wahre des aristokratischen
und des Volksromans, denn er führt uns in die mittlere Schichte der Gesellschaft, [1314]
welche mit dem Schatze der tüchtigen Volksnatur die Güter der
Humanität, mit der Wahrheit des Lebens den schönen Schein, das vertiefte
und bereicherte Seelenleben der Bildung zusammenfaßt. Der Heerd
der Familie ist der wahre Mittelpunct des Weltbildes im Roman und er
gewinnt seine Bedeutung erst, wo Gemüther sich um ihn vereinigen, welche
die harte Wahrheit des Lebens mit zarteren Saiten einer erweiterten geistigen
Welt wiedertönen. Jn diesen Kreisen erst wird wahrhaft erlebt und entfaltet
sich das wahre, von den Extremen ferne Bild der Sitte. Die Engländer,
die der neueren Literatur überall die bedeutendsten Anstöße gegeben,
sind auch in dieser Gattung vorangegangen. Der Urheber derselben, Richardson,
ist Pedant im Ausmalen, peinlicher Anatom in der psychologischen
Zergliederung, abstracter Moralist, und doch begründet er den scharf zeichnenden
realistischen Styl, wie ihn die Kunstform fordert, weist auf das
wahre Ziel hin, in diesem Styl ein Seelengemälde zu entfalten und ihr
zum Mittelpuncte den gediegenen ethischen Gehalt unserer gebildeten bürgerlichen
Stände zu geben.


2. Wir könnten den historischen Roman auch in anderem Zusammenhang
aufführen, nämlich da, wo von dem Hinübergreifen des classischen,
monumentalen Styls in den charakteristischen zu handeln ist. Doch ist es
nur die Größe des Stoffs, wodurch sich diese Form zu einem Seitenbilde
des Epos und seiner Erhabenheit zu steigern sucht; im Style hat gerade
sie von ihrem Begründer, W. Scott, die Richtung auf das Jndividualisiren
bis zu jenem Excesse des breiten, verweilenden Ausmalens erhalten,
den wir mit Lessing als Verletzung eines poetischen Grundgesetzes verwerfen
mußten (vergl. §. 847), und eine Neigung dazu wird bleiben, weil der
epische Poet, wo er mit dem Historiker den Stoff theilt, den Unterschied
der Behandlung immer in recht haarscharfer Vergegenwärtigung wird zeigen
wollen. Es ist nun hier allerdings die monumentale Großheit des geschichtlich
politischen Stoffs gewonnen, allein der innere Mangel der ganzen
Dicht-Art tritt in dem Verhältniß der Theile und namentlich im Schlusse
nur um so fühlbarer zu Tage: das große Schicksal der Völker und das
Bild der politischen Charaktere muß Hintergrund und Mittelgrund bleiben,
der Romanheld im Vordergrund darf nicht historisch bedeutend sein, weil
der Roman einmal das Allgemeine, genreartig Namenlose des Privatlebens,
das rein Menschliche der Persönlichkeit zum Jnhalt hat; nun spricht ebendaher
dieser Vordergrund das höhere Jnteresse an, das doch seinem bedeutenderen
Gewichte nach der Hintergrund, Mittelgrund verlangt, und
das ist ein innerer Widerspruch; dort spannt uns die höhere Bedeutung
der Geschichte, das Schicksal von Nationen, hier die Frage, ob Hans die
Grete bekommt, Beides gleichzeitig und so, daß die letztere Frage uns
wärmer, zudringlicher beschäftigt. ─ Der soziale Roman schlummert als [1315]
mehr oder weniger bestimmter Keim schon im Volksroman und im bürgerlichen.
Es liegt beiden, namentlich dem ersteren, nahe, die brennende
Frage über die Einrichtung der Gesellschaft, Unterschied und Kampf der
Stände, Verhältniß zwischen Arbeit und Erwerb, Vergehungen und Strafen
u. s. w. fühlbarer aus ihrem Erzählungsstoff hervorspringen zu lassen, ausdrücklich
zu behandeln und näher oder ferner an die Grenze des Tendenziösen
zu treiben; es kann aber einen Roman geben, der solche Fragen
entschieden und doch nicht in unpoetischer Absichtlichkeit, sondern mit der
Frische unmittelbarer Kraft und Erfindung zu seinem Mittelpuncte macht;
seine Sphäre ist entweder bürgerlich oder volksthümlich, das Gewicht aber,
das auf diesem Mittelpuncte liegt, begründet seinen Namen, weist ihm
seine eigene Stelle an. Jmmermann's Epigonen sind trotz ihren schwachen
und nachgeahmten Partieen ein achtungswerthes Beispiel. Es wird freilich
nur Wenigen und in wenigen Momenten gelingen, einen Jnhalt, der seiner
Natur nach in sehr bewußter Weise gedacht sein will, so in sich aufzunehmen,
daß er ganz als Gestalt und Handlung vor dem Jnnern steht, und demnach
so zu behandeln, daß also nicht der unorganische Weg der Tendenz eingeschlagen
wird. Die geniale George Sand steht hoch in den endlosen Fluthen,
welche der tendenziös soziale Roman in der neuesten Zeit aufgeworfen hat,
nicht weil man sagen kann, sie habe jene Schwierigkeit gelöst, vielmehr sie
ist ganz tendenziös, aber dem außer=ästhetischen Zwecke steht ein Auge, eine
Kraft der Zeichnung, eine Seele, ein Stylgefühl Raphael's zu Gebot,
welche Bewunderung und Liebe fordern.


§. 882.


Was die Stimmungsunterschiede der Phantasie betrifft, so zieht der
Roman in vollem Umfang das Komische in seinen Kreis und bildet es zu
einer besondern Form aus. Die ironische Auflösung des (romantischen) Epos
war für seine Entstehung überhaupt und für die Begründung dieser Form ein
wesentliches Moment, wogegen innerhalb des Epos das Komische nur sparsamen
Raum findet und nicht eine eigene Form, sondern nur eine Parodie der
Dichtart hervorbringen kann. Der Roman bewegt sich durch alle Stufen des
Komischen bis zum Humor, der sich naturgemäß mit der sentimentalen
Richtung verbindet. Der Stoffsphäre nach vereinigt sich das Komische mit der
volksthümlichen oder bürgerlichen Opposition gegen den aristokratischen Roman.
Der ernste Roman liebt glücklichen Ausgang, kann aber auch tragisch endigen.


Wir haben die Frage über das Verhältniß der epischen Poesie zum
Komischen bis hieher verschoben, weil erst beide gegensätzliche Stylformen
vorliegen müssen, um sie zu beantworten. Das ächte Epos ist durch die [1316]
Jdealität des classischen Styls gehalten, das Komische in enge Grenzen
zu weisen, nicht zwar in ebenso enge, wie die Sculptur, welcher kein
Thersites erlaubt ist, aber begreiflich in viel engere, als die Gattung, die
vorneherein auf einer erfahrungsgemäßen, realistischen Weltanschauung ruht
und sich im malerischen, individualisirenden Style bewegt. Es gibt kein
komisches Epos. Was man so nannte, von der Betrachomyomachie bis
zu Boileau's lutrin, Pope's Lockenraub, Zachariä's Renommisten und
Murner in der Hölle, ist nicht eine Spezies, sondern nur Parodie einer
Spezies, worin diese dadurch lächerlich gemacht wird, daß ihre großen
Motive und großer Styl auf die Folie kleiner Stoffe gelegt werden. Diese
Formen gehören in den Anhang von der Satyre. Ebenda werden wir
auch, obwohl wir den tiefen Unterschied nicht verkennen, das deutsche Thier=
Epos aufführen. ─ Eine positive neue Spezies entsteht aus der Jronie
eines Weltbilds, das sich ausgelebt hat und welchem unter dem Spotte
zugleich ein neues Weltbild entgegengestellt wird. Das Ausgelebte wird
als eine Jllusion dem Lächerlichen übergeben. Mit Jllusionen tritt aber
der Romanheld immer seinen Erfahrungsweg durch das Leben an, daher
hat es tiefen innern Zusammenhang, daß die wahre Entstehung des Romans
und die Schöpfung des komischen Romans im Grunde zusammenfallen.
Der tolle Humor des Rabelais und Fischart konnte erst eine formlos wilde
Caricatur der romantischen Ritterwelt, keine neue Form hervorbringen; mit
einem Werke der künstlerischen Jronie dieser Welt den komischen Roman,
schließlich den wirklichen Roman überhaupt geschaffen zu haben, dieß ist
die unsterbliche Leistung des Cervantes. Der edle Narr Don Quixote,
dessen Hirn von der Lectüre der Ritterbücher verbrannt ist, zieht Abentheuer
suchend durch die Welt, deren prosaische Wirklichkeit ihm auf allen
Tritten den komischen Anprall bereitet und deren grobe Wahrheit von den
Lippen seines komischen Schattens, seines bäurischen Chors, des Sancho
Pansa gepredigt wird. So ist diese Jronie des Ritterthums zugleich Volksroman,
nimmt im Volke den Ansatz zum Spotte gegen das ausgelebte
Jdeal der Aristokratie. Um diesen Roman gruppiren sich jene Schelmen=
und Abentheurer-Romane in Spanien, die in Frankreich ihre Nachahmung
im Gil Blas von Lesage finden, und in Deutschland treten die Volksromane,
die oben erwähnt sind, der absurden Fortsetzung des Ritterlichen im aristokratischen
Kunstroman entgegen. Eine andere Linie tritt in England hervor.
Hier bildet sich der bürgerlich komische Roman in Opposition gegen
die Prüderie, die abstracten Tugend- und Bosheits-Muster, die pedantische
Selbstzergliederung in Richardson's Romanen, wiewohl diese selbst die bürgerliche
Form begründet und in der Feinheit, Schärfe und Sicherheit der
Zeichnung so großes Verdienst haben. Naturalistisch derb und possenhaft
tritt die Gegenwirkung in Fielding, wüst und aus tieferen Abgründen des [1317]
Häßlichen keine reine Komik entbindend in Smollet auf. ─ Jnzwischen
hatte sich das Sentimentale entwickelt. Es verbindet sich in der englischen
Literatur alsbald mit dem Komischen so, daß die tiefere Gestalt
desselben, der Humor, auflebt: Goldsmith und Sterne schaffen den humoristischen
Roman. Es ist hier nicht unsere Aufgabe, diese Gestalt zu schildern,
da ihr inneres Wesen im ersten Theil im Abschnitt vom Humor aufgezeigt
ist (vergl. namentlich §. 220). Jn Deutschland bildete sich unter starkem
englischem Einfluß die empfindsame Stimmung zu einer Gewalt aus, welche
sich im Romane, der durch seine exotischen Motive ihr unmittelbar das
natürlichste Gefäß darbietet, eine besondere Form schafft, die geistvollste
in Werther's Leiden, worin sie mit ihrer verführerischen Schönheit ihr wahres
Wesen zugleich als Selbstverrichtung enthüllt und, indem sie sich ganz darstellt,
sich negativ heilt. Aber daneben zieht sich, ebenfalls von der englischen
Literatur angeregt, die komische Linie hin und bereitet eine andere
Weise der Auflösung des Sentimentalen vor, den eigenthümlichen Umschlag
in den Humor, der sich nicht wirklich von diesem Geiste der überschwenglichen
Sehnsucht befreit, sondern immer sein Bild neu erzeugt, um es neu
in das „Lächeln zwischen Thränen“ aufzulösen: J. P. Fr. Richter (vergl.
§. 205 ff. und §. 480). Der komische Roman ist seither in mancherlei
Form aufgetreten, hat aber den Reichthum und die Gewalt dieses zwar
formlosen Humoristen und seiner englischen Vorgänger nicht wieder erreicht.
Die neuere romantische Schule hat die phantastischen Motive der ursprünglichen
Romantik wieder ausgebeutet, dämonische Gestalten des Unheimlichen
beschworen und diese Welt in die kranke Form des gebrochenen, zerrissenen
Humors unvollkommen aufgelöst.


Wir haben gesehen, daß das Epos tief tragisch endigen kann, seiner
Natur nach aber mehr zum glücklichen Ausgang treibt. Dieß ist noch
mehr der Fall bei dem Romane, da er sich mit den milderen Motiven des
Seelenlebens befaßt und den Gang seines Helden durch die Conflicte des
Lebens mit der Entwicklung seiner Persönlichkeit zur wahren Humanität
zu schließen seine innerste Aufgabe ist. Allein diese Conflicte begründen
nicht nur im Einzelnen um so schneidendere tragische Momente, als die
Subjectivität hier in ihrer ganzen Feinfühligkeit auf die Härten des Lebens
stößt, sondern es muß dem Roman auch unbenommen sein, sich ganz im
tragischen Elemente zu bewegen und es in einen finstern Schluß, in das
Bild einer an der Unerbittlichkeit der Weltbedingungen scheiternden Persönlichkeit
zusammenzudrängen.


§. 883.


Dem Romane stellt sich als das kleinere Bild einer Situation aus dem1.
größern Ganzen des Weltzustands und der persönlichen Entwicklung die No- [1318]
2.velle zur Seite. Das Volksthümliche hat sich vorzüglich in diese Form gelegt
und als realistische Jdylle die Dorfgeschichte eingeführt. Einzig in ihrer Art
steht aber eine andere Gestalt der modernen Jdylle: der ideale Styl tritt
in den charakteristischen über und steigert das bescheidene Bild
des Landlebens zur monumentalen Höhe des Epos.


1. Die Novelle verhält sich zum Romane wie ein Strahl zu einer
Lichtmasse. Sie gibt nicht das umfassende Bild der Weltzustände, aber
einen Ausschnitt daraus, der mit intensiver, momentaner Stärke auf das
größere Ganze als Perspective hinausweist, nicht die vollständige Entwicklung
einer Persönlichkeit, aber ein Stück aus einem Menschenleben, das
eine Spannung, eine Krise hat und uns durch eine Gemüths- und Schicksalswendung
mit scharfem Accente zeigt, was Menschenleben überhaupt ist.
Man hat sie einfach und richtig als eine Situation im Unterschied von
der Entwicklung durch eine Reihe von Situationen im Romane bezeichnet.
Die Novelle hat dem Romane den Boden bereitet, das Erfahrungsbild
der Welt erobert; das Mittelalter kannte Mensch und Welt nicht, träumte
überall von Exemtionen, Bocaccio plauderte das Geheimniß aus, daß
Menschen Menschen, „sterbliche Menschen“ sind. Dieselbe Bedeutung hat
die große Beliebtheit des Schwankes, wie er im sechszehnten Jahrhundert
in Deutschland herrscht. Diese kleinen Formen sind zum Theil bloße Anekdoten.
Die Anekdote ist mit kurzer Spannung und Lösung zufrieden ohne
das Resultat eines fruchtbaren, inhaltvollen Blickes in die Wahrheit des
Menschenlebens, daher meist komisch; die Novelle dagegen bewegt sich auch
im tragischen Gebiet, und zwar mehr, als der Roman. Es liegt dieß in
ihrer strafferen Natur; wer Jnteressantes kurz erzählen will, muß das
Retardirende schneller niederwerfen und auf die Katastrophe zueilen, wo
sich aber diese acuter hervordrängt, da ist auch die schärfere Schneide des
Schicksals, wie die Pritsche des lächerlichen Zufalls, im Zuge des Ausholens.
Es lag der modernen Zeit sehr nahe, den Jnhalt der Novelle
als Thema zu behandeln, d. h. unsere Conversation und Debatte so in sie
zu verlegen, daß eine Lebensfrage, ein Kampf geistiger Richtungen, dunkle
Erscheinungen des Seelenlebens und dergl. vorherrschend gesprächsweise erörtert
werden, während in den persönlichen Schicksalen zugleich die factische
Antwort erfolgt. Die Form ist bedenklich, denn es liegt nur zu nahe, die
zweite Seite, welche natürlich den wesentlichen Körper des Ganzen bilden
müßte, zur Nebensache zu machen und so die Jdee didaktisch, statt poetisch
und zwar mit dem besondern Geruche des Salons, der Theegesellschaft
herauszustellen, wie wir in den meisten Novellen Tieck's sehen. Ein Anderes
ist es, wenn eine harmlose Gesellschaft sich Novellen erzählt, wie bei
Bocaccio, wo denn schließlich allerdings auch die Erzählenden selbst eine [1319]
Novelle spielen mögen; ohne Bocaccio's Naivetät ist auch dieß von Tieck
(im Phantasus), Göthe und And. nachgeahmt. ─ Eine gegen den Roman
hin erweiterte Novelle sind Göthe's Wahlverwandtschaften, sie bleiben aber
in ihrer Grundlage fest auf dem Boden der Dichtart, denn sie schildern
nicht einen ganzen Entwicklungsgang einer Persönlichkeit, die Hauptpersonen
sind beziehungsweise reif; eine einzelne, verfängliche Lebensfrage, die Frage
über das Verhältniß zwischen Freiheit, Pflicht, Selbstbeherrschung und
dunkeln physiologisch=psychischen Gewalten, die Jndividuum an Jndividuum
bannen, bildet den wesentlichen, ächt novellenhaft spannenden Jnhalt und
nur die breite Fülle der Darstellung bringt den Romancharakter hinzu. ─


Wir hätten nun hier mancherlei schwer zu bestimmende Nebenformen zu
besprechen, sagen aber nur ein Wort von der sog. poetischen Erzählung.
Sie hätte schon neben dem classischen Epos erwähnt werden können, sie
läuft aber ebenso neben dem Roman und auch der Novelle her. Dort erscheint
sie, wie z. B. die Erzählungen einzelner Thaten des Herkules bei
Theokrit, als eine epische Studie, ein Eidyllion, aber im hohen Style, nur
ohne die Weihe, welche die Einreihung in den Zusammenhang des großen
Weltbildes gibt. Soll zwischen der poetischen Erzählung der neueren Zeit
und der Novelle ein fester Unterschied angegeben werden, so kann er nur
darin liegen, daß jene entweder im Sinne des Hinneigens zum Historischen,
oder zum Didaktischen mehr stoffartig ist, wiewohl sie im Uebrigen ihre
Materie mit mehr oder weniger Selbstthätigkeit der Kunst umbilden mag.
Hoch stehen in der ersteren Gattung trotz der Bitterkeit, die sie verdüstert,
an Kunsttalent die Erzählungen Heinrich's von Kleist. Die zweite Gattung
war in der Periode, die der Revolution in der neueren Poesie vorangieng,
sehr beliebt; man trug in anekdotenhaftem Gewande gern schalkhafte oder
rührende Pointen, Sätze der Lebenserfahrung, Menschenkenntniß vor, wie
Gellert, Lichtwehr, Pfeffel. Diese Sachen waren, um ihnen etwas mehr
Schein zu geben, versificirt; sie blühten gleichzeitig mit der Fabel und sind
ihr verwandt.


2. Die Novelle führt uns zum Jdyll (oder, um bei dem Sprachgebrauche
zu bleiben, der die moderne Form mit einem grammatischen
Genusfehler zu bezeichnen einmal gewohnt ist,) zur Jdylle zurück. Das
classische Sittenbildchen wird in der modernen Zeit vor Allem der Composition
nach erweitert: der bloße Keim einer Handlung, der in ihm lag,
entwickelt sich, es bekommt eine Fabel, wird Erzählung, daher auch größer
an Umfang. Es erhellt schon daraus, daß dieser Zweig höhere Wichtigkeit
erhalten hat, und der innere Grund liegt darin, daß eine Stimmung, die
wir nur erst als ganz schwachen Anhauch im classischen Jdyll gefunden
haben, nunmehr völlig ausgebildet den Charakter der Gattung bestimmt:
das Gefühl der Unnatur in der gebildeten Gesellschaft, der Härte und Kälte [1320]
des öffentlichen, politischen Lebens. Es ist dieselbe Spannung der Sentimentalität,
die erst der Gegensatz erzeugt, wie in der Landschaftmalerei. Der
gebildete Mensch erscheint unwahr und getheilt, man sucht den ungetheilten,
wahren und glücklichen da, wo man dagegen auf die größeren Jnteressen
verzichten muß; daher zieht sich denn diese Dicht-Art dem Stoffe nach immer
mehr zu den Ständen zurück, die so wenig als möglich vom Raffinement
der Bildung berührt werden, zu Landleuten, Hirten. Wir können, was
ihre frühere Geschichte betrifft, nur andeuten, wie jene Spielerei und Affectation
des Schäferwesens, worunter Höflinge versteckt waren, in Jtalien aufkommt,
von da nach Spanien, Frankreich, Deutschland wandert, hier durch die
Nürnberger sich ganz zum Kindischen verschnörkelt, wie später Geßner sie zu
vereinfachen und zu veredeln meint, indem er die Sentimentalität, nicht in
jenem allgemeinen, ächten, sondern im spezifisch weichlichen, weinerlichen
Sinn ihr eingießt und aus Naturmenschen ihr empfindsames Gegentheil
macht. Sieht man diese Dichtungs-Form genauer an und fragt sich, was
der richtige Styl ihrer Behandlung in der modernen Zeit sei, so drängt sich
eine doppelte Beziehung auf: nach der einen Seite hat für uns die Jdylle
einen classischen Charakter, denn sie zeigt ein ungebrochenes, naives Leben,
wie es im Ganzen und Großen dem Alterthum eigen war; nach der andern
Seite soll diese Beziehung zu keiner Unwahrheit, keiner falschen Jdealisirung
führen und man soll sich wohl erinnern, daß gerade bei den Alten selbst die
Jdylle es war, worin der realistische, charakteristische Styl ein Gefäß seiner
relativen Ausbildung fand. Es ergeben sich naturgemäß aus dieser doppelten
Beziehung zwei Stylrichtungen, die sich aber vor extremem Gegensatz hüten
müssen. Fr. Müller, der Maler, gab unter dem Einflusse des erwachten
Jnteresses für das Volkslied der Jdylle zuerst realistische Wahrheit, später
floß dieser Auffassung der ganze Gewinn an innigem Einblick in die wahren
Heimlichkeiten des Landlebens zu, den die Dialekts-Poesie, namentlich die
Hebel'sche, brachte, man fieng überhaupt an, gesunder, objectiver zu schauen,
und daraus haben sich denn, nachdem Jmmermann mit dem trefflichen Dorfschulzen
in seinem Münchhausen vorangegangen, die Jdyllen in Novellenform,
die Dorfgeschichten gebildet. Wir haben in anderem Zusammenhange
(§. 881, Anm. 1.) bereits das Wesentliche dieses Zweigs kurz bezeichnet.
Das Landleben erscheint hier nicht wie eine Oase, worin nur die Milch der
frommen Denkungsart fließt; hier gibt es Kabalen, Neid, Engherzigkeit,
Unsauberes aller Art, wie in der großen Welt, der Landmann wird auch
nicht mehr vom Städter unwahr abgeschieden, kommt vielmehr in Verkehr
und Conflicte mit ihm, es erfolgen Rücktritte, Uebertritte zwischen beiden
Ständen, kurz die Uebel der Gesellschaft und das Glück der ländlichen
Naivetät greifen ineinander über. Und dennoch muß der Kern der geschlossenen
Schönheit des kindlich Engen, der gemüthlichen Heimlichkeit im gesunden [1321]
Erd- und Heu-Geruch erhalten bleiben. Dieß ist das Schwere der Aufgabe,
die B. Auerbach, obwohl er von falschen Tönen und fühlbaren Spuren des
allzu modern Bewußten keineswegs frei ist, Epoche machend gelöst hat.
Die Dorfgeschichten haben ihren unbedingten Werth, aber die ganze Form
darf nicht überschätzt werden und hat sich sehr davor zu hüten, daß sie sich
über den Beifall des lorgnettirenden Auges der modernen Gesellschaft täusche.
─ Wir haben hiemit der entgegengesetzten Richtung der Zeit nach vorgegriffen;
dieser Realismus ist im engsten Sinne modern. Die classische Richtung der
großen Zeit der neueren deutschen Poesie schlug jenen andern Weg ein. Voß
gieng voran, Göthe überholte ihn weit und schenkte der Poesie sein Meisterwerk,
das bis jetzt einzig dasteht und als unicum reiner Typus einer
Gattung ist: einer Jdylle, die durch den Geist der Behandlung sich zur Würde
des Epos erhebt. Wir haben hier einen der reinsten Fälle der Kreuzung
der Style, die uns durch unsere ganze Kunstlehre begleitet, tief entsprechend
jener classischen Jdealität, welche in der Malerei Leop. Robert in das Sittenbild,
Rottman in die Landschaft eingeführt hat. Die Hauptpersonen sind
nicht Hirten, Bauern, aber auch nicht, wie bei Voß, Menschen, welche der
Sphäre der Bildung angehören, die vom Volke trennt, und nur durch das
Amt auf das Land versetzt sind (wiewohl wir diesem Stoffe, dem deutschen
Pfarrhause, seine Poesie nicht absprechen), es sind Bewohner eines Städtchens,
deren Geist Gewerb und Verkehr gelichtet hat, ohne den nothwendigen und
vertrauten Umgang mit der Natur zu lockern. Ein höherer Ton ist schon
dadurch gewonnen; das große Weltgeschick aber, wie es als Hintergrund
aufsteigt, mit der einfachen Liebesgeschichte im Vordergrunde sich verflicht
und ernste, würdige, sittliche Erwägungen, nationale Gesinnungen erweckt,
gibt der ganzen Stimmung und Composition die epische Höhe, welcher in
der Behandlung und Durchführung das reinste classische Formgefühl entgegenkommt,
das durch die einfachsten Mittel die schlichten Gestalten in das
Licht patriarchalischer Volksführer, homerischer Männer und Frauen rückt.
Deutsches Herz, deutscher Sinn für die kleinen Züge des engeren Lebens,
Naturtreue und Charakteristik, malerischer Wurf und Hauch hat sich hier in
einer Verschmelzung, die so nicht wiederkehren wird, mit griechischer Großheit,
Reinheit und Plastik vereinigt und das Eine Werk war es werth,
daß Wilh. v. Humboldt in seiner classischen Analyse die Gesetze der epischen
Dichtkunst an ihm entwickelte.

[1322]

β. Die lyrische Dichtung.


1. Jhr Wesen.


§. 884.


Die einfache Synthese des Subjects mit dem Objecte, worin jenes diesem
sich unterordnet (vergl. §. 865), kann dem Geiste der Kunst nicht genügen;
er fordert eine weitere Stufe, auf welcher dem Wesen nach die Welt in das
Subject eingeht und von ihm durchdrungen wird, so daß alles Objective als
dessen inneres Leben erscheint, und dem Verfahren nach die Umständlichkeit
schwindet, durch welche das Epos der bildenden Kunst verwandt ist. Der Act
der Freiheit, der diesem Verhalten zu Grunde liegt, wird jedoch in der verhüllten
Form des Bestimmtseins, des Zustands, der Geist als Seele auftreten:
die dichtende Phantasie stellt sich auf den Standpunct der empfindenden.
Dieser Fortgang entspricht also demjenigen, der von der bildenden Kunst zu
der Musik führt (vergl. §. 746). Die lyrische Dichtung, die er begründet,
kann sich der Geschichte, wie dem Begriffe nach zu der epischen nur als die
nachfolgende verhalten.


Die allgemeine Begründung des Uebergangs von der epischen zur
lyrischen Poesie ist auf anderer Stufe dieselbe, wie die des Uebergangs von
der bildenden Kunst zu der Musik. Jn der epischen Poesie ist zwar die
Welt der Gegenstände geistig durcharbeitet, bewegt, wie sie es in der Malerei
noch nicht sein kann, aber die dichtende Phantasie hat sich doch wieder auf
den Boden der bildenden gestellt, sich das Object geben, sich durch es
bestimmen lassen; sie hat den Geist wie ein Natursein angeschaut. Dagegen
tritt nun in der Kunst dieselbe Forderung des Geistes auf, wie jene in der
Philosophie, die vom Realismus zum subjectiven Jdealismus fortdrängt und
aus dem Satz Ernst macht, daß der Mensch das Maaß aller Dinge ist,
indem er begreift, daß für ihn Alles nur so viel ist, als es für sein Bewußtsein
ist. Es kann bei der Naivetät nicht bleiben, welcher die Gegenständlichkeit
imponirt; die Welt soll vom Geiste ganz durchdrungen, durchkocht
erscheinen und dieß kann, ─ auf dem Standpuncte, dem hier der
objective zunächst Platz macht, ─ nur dadurch geschehen, daß sie überhaupt
nicht für sich erscheint, sondern nur so, wie sie im Geiste gesetzt, zu seinem
innern Bild und Leben geworden, ganz in ihn ein und aufgegangen ist.
Speziell macht sich die innere Nothwendigkeit des Fortgangs zu der subjectiven
Form in der Weise des epischen Verfahrens fühlbar. Wohl gewinnen
wir dadurch jenes sonnenklare Bild der Dinge, aber es geht zu langsam. [1323]
Der Geist, der den Meisel und Pinsel weggeworfen hat, um durch das
geflügelte Wort zu sprechen, kann nicht dabei stehen bleiben, daß er die
langen Wege, auf denen jene die Erscheinung der Dinge nachahmen, obwohl
unter veränderten Beschleunigungsverhältnissen zu den seinigen macht,
daß er, als Wortführer für die Dinge und Menschen, doch immer noch
daneben stehen muß und sagen: so war Dieß und Jenes, jetzt hat Der,
jetzt Jener dieß und das gesprochen u. s. w. Die Phantasie muß sich ihres
von innen heraus bewegten und bewegenden Wesens bewußt werden, die
Geduld für diese Form verlieren und eine andere suchen, welche, ob zwar
mit Opfer, doch dasselbe auf einem unendlich kürzeren Weg erreicht, eine
Form, worin der dargestellte Mensch im eigenen Namen redet und so,
daß er seine Erscheinung ungesagt, doch merkbar mitbringt und das Bild
der Außendinge, wie sie in ihm sich spiegeln, durch das Aussprechen der
Spieglung ausspricht. Wenn dieß die reine, allgemeine Bedeutung des
vorliegenden Schrittes ist, so darf er darum dennoch nicht als ein plötzlicher
Aufgang der reinen Geistigkeit, als ein Act des Jch, das sich in seiner
reinen Freiheit erfaßt, verstanden werden. Daß jene Vergleichung mit dem
subjectiven Jdealismus nur eine Parallele ist, bedarf ohnedieß keines Beweises,
denn wir sind im ästhetischen Gebiete, wo ein naturloser Geist überhaupt
keine Stelle hat. Aber auch zu der Form des Verhaltens, welche
ästhetisch naturvoll ist und doch den freien Geist als weltbestimmenden auffaßt
und darstellt, kann die Kunst in diesem ersten Schritte von der epischen
Ausbreitung und Objectivität zur Concentrirung und subjectiven Jntensität
noch nicht vordringen. Vielmehr wir befinden uns in der Mitte, wo Welt
und Natur sich in das Subject zusammenzieht, in diesem selbst aber als die
Naturform der empfindenden Seele sich erhält oder wiederkehrt. Das lyrische
Subject ist factisch Welt-Einheit, Brennpunct der Welt, aber die Welt ist
in ihm nur Herz, Gemüth geworden; es vollstreckt thatsächlich an den
Dingen die Wahrheit, daß sie nichts an sich sind, aber nur in einem tiefen,
helldunkeln Träumen, worin sich ihm die wahre Bedeutung seines Thuns
so verbirgt, daß es unter die zufälligen Eindrücke von außen wie unfrei
gestellt ist, daß es meint, sein Zustand sei ihm angethan, komme wie eine
Naturnothwendigkeit über es, während es doch in Wahrheit ganz bei sich
ist und Alles, was an es kommt, in dieß Jch auflöst. Es ist dieß also
eine Wiederkehr des Standpuncts der Musik auf neuem Boden, die dichtende
Phantasie wird zur dichtend=empfindenden. Sie ist als solche ganz
naiv, aber freilich nicht mehr so, wie die dichtend=bildende, die epische.
Zwar ist diese, von der einen Seite betrachtet, klarer und freier: sie schwebt
ruhig über den Dingen und schaut sie deutlich und hell, sie scheint geistiger,
bewußter. Sie ist es auch, aber sie ist es nur, weil sie noch nicht zu dem
tiefen Prozesse fortgeht, dem Subjecte die Welt im Jnnersten anzueignen, [1324]
und dieser Prozeß muß auf dem Durchgangspuncte, der sich als lyrische
Poesie darstellt, nothwendig mit Verlust an jener Art von Klarheit und
Freiheit verbunden sein; die neue, höhere, zu welcher er führt, liegt noch
unentwickelt und dunkel in ihm. Aber die Naivetät dieses Dunkels ist dennoch
weit über die Naivetät des Epos hinaus: sie ist das Unbewußte des
tiefen Verarbeitens, nicht mehr das Unbewußte des Anstaunens. Sie setzt
daher auch geschichtlich eine größere Reife voraus. Der Schluß des §. faßt
nur in einen Satz zusammen, was zur Rechtfertigung der allgemeinen Eintheilung
schon in §. 863, Anm. 1. ausgeführt ist. Wir haben dort auch
auf W. Wackernagel's psychologische und historische Begründung verwiesen
und fügen zur letzteren Seite nur noch eine allgemeine Bemerkung hinzu.
Jn Griechenland giengen schwere Erschütterungen voraus, Ringen der
Parteien, des Adels und Volks, beider mit Alleinherrschern, ehe der
Einzelne sich zu der Concentration und Vielseitigkeit der inneren Erregung
zusammenfaßte, woraus die lyrische Poesie sich entwickelte; im Mittelalter
mußte erst durch lange und wilde Kämpfe das Prinzip der christlichen
Religion mit dem Bruchstücke heidnischer Objectivität, das den Charakter
dieser Weltperiode wesentlich mitbestimmt, zusammengegohren, deutsche, romanische
und orientalische Elemente mußten in den Kreuzzügen durcheinandergerüttelt
sein, ehe die Knospe sich erschloß und die erfüllte Jnnerlichkeit ihren
Duft im Liede verbreitete. Doch hat erst die moderne Poesie eine wahre
und volle Lyrik schaffen können, denn es ist nur der gebildete Geist, der die
reichen Negationen durchlaufen und überwunden hat, welche Alles hervorlocken,
was im Grunde eines Menschenherzens schlummert. Aber selbst ein
sichtbares Aufblühen der Volkspoesie setzt eine Periode voraus, wo das Volk
einer früheren Bindung und Dunkelheit der Zustände sich entwachsen fühlt,
wie im sechszehnten Jahrhundert. ─ Anders verhält es sich mit dem einzelnen
Dichter: die Muse, welche ganz ein Kind der Stimmung ist, wird
der Jugend mehr, als dem reiferen Mannesalter hold sein; wenige Lyriker
haben lange fortgesungen, und auch diese mit den Jahren etweder seltener,
oder, wenn reichlich, doch weniger rein poetisch, sondern contemplativ,
didaktisch.


§. 885.


1.

Da es aber die dichtende Phantasie ist, welche sich auf den Standpunct
der empfindenden stellt, so liegt darin zugleich der Unterschied von der Musik:
das Gefühl kann in der Dichtkunst nur durch Anknüpfung an das Bewußtsein
als Organ und Jnhalt einer Kunstform auftreten; das Subject spricht zwar
nur sich, seine Stimmung aus, vermag dieß aber blos dadurch, daß es theils
Elemente der epischen Anschauung, directe und indirecte Bilder, theils eigentliche
Gedanken (gnomische Elemente) und Willensbewegungen in die Stimmungs- [1325]
Atmosphäre überträgt. Durch diese sämmtlichen Mittel bewegt sich die lyrische2.
Poesie in den verschiedenen Richtungen der Zeit, wesentlich aber ist sie im
Gegensatze gegen die epische Vergangenheit auf die Gegenwart gestellt.


1. Wir haben die Musik als die schlechthin subjective Kunst des Gefühls
kennen gelernt, die als solche kein Object geben kann. Darum ist ihre
Form das reine, verglichen mit aller andern Kunst gestaltlose Bewegungsleben
des Tons. Die Poesie hat sich über diese Sphäre erhoben und spricht
mit dem Vehikel des articulirten Tons, des Worts, die innere Welt im
Lichte des Bewußtseins aus. Wenn daher in ihr der Standpunct wiederkehrt,
auf dem das ganze System der Künste in der Musik steht, so muß,
da dieß eine Versetzung auf denselben von einem andern Standpunct ist,
zugleich mit der Analogie auch der tiefe Unterschied sich geltend machen;
daher schon in §. 846, Anm. 2. gesagt ist, daß gegen das Stylgesetz, welches
Verirrung der Dichtkunst in das Gebiet der Tonkunst abwehrt, auch die
lyrische Form keine Einwendung begründe. Man kann nun das Verhältniß
so bestimmen: das Gefühl ist die reine Mitte des Geisteslebens, woraus
die bewußten Thätigkeiten stets auftauchen und worein sie stets zurücksinken;
diese stehen daher beständig an seiner Schwelle (vergl. §. 748. 749); die
Musik, als Kunst des reinen Gefühls, öffnet ihnen diesen Eintritt nicht;
die lyrische Poesie öffnet ihn, umhüllt aber alle bestimmte Gestaltung, die
hiemit eingelassen ist, mit dem Schleier des Empfindungs-Elements: ein
stets sich vollziehender, stets sich zurücknehmender Uebertritt auf andern
Boden, ein Schweben zwischen dem reinen, unbewußten Sichselbstvernehmen
und dem bewußten Vernehmen der Dinge, ein Nebel mit lichten Durchblicken.
Das Gemüth geht nur aus sich heraus, um in sich zu bleiben; es kann
seinen Zustand nur aussprechen an Anderem, durch Hereinziehen von Solchem,
was nicht mehr bloße Empfindung ist, aber es wird diesen Stoff auch blos
hereinziehen, um ihm seine Farbe zu geben. Der lyrische Dichter sagt, was
sich dem Worte, indem es darein gefaßt wird, entzieht, er sagt es daher so,
daß er im Sagen verstummt und durch sein Verstummen auf einen unerschöpften
unendlichen Grund hineinzeigt. Es zittert ein Unaussprechliches
zwischen seinen Zeilen: das reine, wortlose Schwingungsleben des Gefühls.
Er nennt und zeichnet uns Dinge, Gedanken, aber in ihnen immer nur
sich, sein Herz, wie sie auf es wirken, aus ihm hervorsteigen und wie kein
Ausdruck ihm genügt. ─ Wir haben gesehen, wie in der Poesie die bildende
Kunst sich wiederholt (§. 838); dieß wird in der epischen Dichtart im engeren
Sinne zur Wahrheit, aber der Satz ist ganz allgemein ausgesprochen und
muß auch in der Sphäre wahr bleiben, von welcher mit besonderem Nachdruck
das Andere gilt, daß in der Poesie die Musik wiederkehrt. So sind es
denn zunächst epische Elemente, d. h. Bilder der Anschauung, wodurch der [1326]
Lyriker seine subjective Stimmung objectivirt. Sehen wir nun an einigen
Beispielen, worin diese Anschauungsbilder, zunächst die directen im Unterschiede
von den indirecten, metaphorischen, bestehen und wie sie sich mit dem
eigentlichen, unmittelbaren Gefühls-Ausdruck mischen. Jn „Schäfers Klagelied“
hören wir unmittelbar kein Wort von dem, was der Jnhalt ist, dem
in Liebesweh gebrochenen Herzen; er zeigt uns, wie er tausendmal an den
Stab gebogen auf dem Berge steht, in das Thal hinabschaut, wie er in
dunkler Bewußtlosigkeit hinabsteigt, die wenigen Worte „und weiß doch
selber nicht wie“ lassen uns aber nicht zweifeln, daß hier das Anschauungsbild
nur dient, um einen Zustand der tiefsten Versenkung des Gemüthslebens
zu enthüllen; es folgt der Zug des unbewußten Blumenbrechens, des Harrens
in Sturm und Wetter unter dem Baume, wir erfahren dann den Grund
des innern Leidens mit den Worten: sie aber ist weggezogen u. s. w., und
nun, wo man meinen könnte, daß die Schilderung des innern Zustandes
anfangen werde, bringt das Gedicht zunächst noch einen äußern Zug:
„vorüber, ihr Schafe, vorüber“ und hat zum Schlusse nur Ein directes
Wort für das, was Jnhalt des Ganzen ist: „dem Schäfer ist gar so weh!“
Mignon haucht ihre Sehnsucht nach dem schönen Heimathlande in Anschauungen
Jtaliens aus, nur im Refrain bricht sie ausdrücklich durch, aber
auch nicht rein direct, sondern als ein Wunsch, dahin zu ziehen, der eigentlich
wieder ein Bild enthält. Gretchen im Faust sagt uns in den Strophen, die
sie am Spinnrade singt, wie sie nur nach dem Geliebten aus dem Fenster
schaut, aus dem Hause geht, schildert dann seine herrliche Erscheinung und
schließt mit einem Bilde der heißen Umarmung, wie sich Herz und Phantasie
danach drängt, sie spricht so die unendliche Sehnsucht in lauter Anschauungsbildern
aus; in jenem Liede des tiefsten Weh's, das sich als Gebet an die
Maria wendet, zeichnet sie in wenigen Zügen zuerst das Bild der vom
Schwerte durchbohrten, zum Himmel aufblickenden Mutter Gottes, vor dem
sie kniet, sie erzählt nachher (wir sehen von den andern Strophen noch ab),
wie sie die Blumenscherben mit Thränen bethaute, als sie Morgens die
Blumen brach, die sie vor dem Bilde niederlegt, sie schildert, wie sie vor
Aufgang der Sonne in ihrem Jammer schon aufgerichtet im Bette saß.
Werther, ächt lyrisch, kann uns nur sagen, wie ihm die Augen der Geliebten
vor der Stirne brennen: „hier, wenn ich die Augen schließe, hier in
meiner Stirne, wo die innere Sehkraft sich vereinigt, stehen ihre schwarzen
Augen. Hier! ich kann es dir nicht ausdrücken. Mache ich meine Augen
zu, so sind sie da; wie ein Abgrund ruhen sie vor mir, in mir, füllen die
Sinne meiner Stirn.“ Es unterscheiden sich aus diesen Beispielen bereits
zweierlei Formen der objectiven Anschauung: das lyrische Subject führt uns
erzählend, schildernd äußere Objecte vor, aber auch sein eigenes Bild, indem
es sich vor seine und unsere Phantasie in einem bestimmten Zustand [1327]
hinstellt. Die letztere Form ist zwar subjectiv, aber im Subjectiven noch zu
den objectiven Elementen zu zählen. Nun muß aber das in Empfindung
versenkte Selbst auch unmittelbar von sich ausgehend ohne diese Gegenüberstellung
seinen Stimmungszustand auszusprechen suchen. Da derselbe jedoch
schließlich unsagbar ist, so wird es auch für diese rein subjective Einkehr in
sich abermals nach objectiven Elementen greifen; es wird nämlich der leibliche
Reflex des Seelenzustands dienen müssen, um ein andeutendes Bild
von diesem zu geben. Man betrachte Mignon's Lied: „Nur wer die Sehnsucht
kennt“: das kranke Herz sucht zu sagen, was es leidet; da beruft es
sich zuerst auf Andere, die dasselbe leiden, die werden es wissen, sagen läßt
es sich nicht; jetzt folgt ein Anschauungsbild der zweiten Gattung der erst
von uns aufgeführten Formen: „allein und abgetrennt von aller Freude seh'
ich an's Firmament nach jener Seite“; mit wenigen Worten wird hierauf
sächlich die Ursache des Leidens angegeben: „ach, der mich liebt und kennt,
ist in der Weite“; nun aber soll endlich der innere Zustand direct ausgesprochen
werden, da hat das unsagbare Gefühl nur Ein Mittel, es holt
ein Bild aus der tiefen Durchwühlung, welche die Sehnsucht im physischen
Leben hervorbringt: „es schwindelt mir, es brennt mein Eingeweide“ und
hier, wo derjenige, der das Lyrische nicht versteht, meinen wird, das Eigentliche,
die wirkliche Entwicklung des Seelenzustands werde nun folgen, ─
verhaucht das Lied, es kann nur zum ersten Satze der Berufung auf Andere
zurückkehren und schließen. So findet auch jenes erste Lied Gretchen's kein
directes Wort für ihren Zustand, als: „mein Herz ist schwer, mein armer
Kopf ist mir verrückt, mein armer Sinn ist mir zerstückt“; und das zweite
greift ebenfalls in die verstörten Tiefen des leiblichen Lebens, doch nur,
um sogleich hinzuzusetzen, daß auch dieß eigentlich unaussprechlich sei: „wer
fühlet, wie wühlet der Schmerz mir im Gebein? Was mein armes Herz
hier banget, was es zittert, was verlanget, weißt nur Du, nur Du allein“,
dann findet die innere Qual nur das einfache Wort: Wehe, fühlt aber,
daß es nicht genügt, und wiederholt es daher dreimal, auf den Busen
deutend: „wie weh, wie weh, wie wehe wird mir im Busen hier“; sie
greift wieder zum Objectiven: „ich wein, ich wein', ich weine“, und noch
einmal zum physiologischen Bilde: „das Herz zerbricht in mir“, dann aber,
da dieß Alles unzureichend bleibt, zu jenen epischen Elementen der Vergegenwärtigung
ihrer Leidensgestalt. Clärchen's Sehnsucht langet und banget
in schwebender Pein, jauchzt himmelhoch zum Tode betrübt und kann nicht
weiter. Das Objective, in jenem engeren und diesem allgemeineren Sinne,
genügt also nicht und eben das ist die rechte Lyrik, die dieß nicht Genügen,
dieß Wortlose im Worte ausspricht, aber es ist doch der einzige Körper,
an welchem der elektrische Funke des Gefühls hinläuft und aufsprüht. So
gewiß ist im Lyrischen ein episches Element, daß es sogar Formen gibt, [1328]
welche scheinbar ganz darin aufgehen, eine Anschauung zu geben, sei es ein
ruhendes Naturbild, Sittenbild oder eine Erzählung. Es ist aber noch nicht
die Rede von diesen besondern Formen, sie sind dem Abschnitte von den
Zweigen vorbehalten, hier nur vorbereitet. Betrachtet man nun das letzte
der aufgeführten Mittel des lyrischen Gefühls näher, so ist es eine Art
dunkler Symbolik, wodurch der leibliche Zustand den Seelenzustand reflectirt.
Behutsam angewendet gilt ebendieser Begriff dunkler Symbolik von den
objectiveren Anschauungs-Elementen, die vorher aufgeführt sind. Es handelt
sich hier noch gar nicht von der eigentlichen Vergleichung, aber das Angeschaute
wird ähnlich wie in dem dunkeln Zusammenfühlen von Jnhalt
und Bild im altreligiösen Symbole zu einem Spiegel, verliert seine Selbständigkeit,
das Gefühl, hülflos in seiner Unaussprechlichkeit, hängt sich
daran, heftet sich daran, senkt sich hinein, um sich an ihm wie an einem
Sinnbilde zum Ausdruck zu verhelfen. So in Desdemonen's Liede der
Refrain von der grünen Weide; das verlassene Mädchen sagt uns nicht,
wie sie unter der Weide sitzt und ihr die grauen, hingegossenen Blätter und
Zweige zum Bilde ihres Zustands werden, der sich ganz in Thränen hingießen
möchte, sie vergleicht nicht, es schwebt ihr nur so vor, aber sie muß
immer darauf zurückkommen. Ein andermal sind es Blumen, ein murmelnder
Bach, eine neblige Haide, woran das Gefühl des eigenen Zustandes
anschließt. Jn Göthe's Strophe: „Ueber allen Wipfeln ist Ruh'“ haben
wir dieß innig symbolische Hineinfühlen in die Natur oder das Herausfühlen
aus ihr in unvergleichlich reiner Form. Jn Ed. Mörike's Jägerlied
erinnert die zierliche Spur des Vogels im Schnee den Waidmann an die
zierlicheren Züge in den Briefchen der geliebten Hand aus weiter Ferne;
nun sieht er einen Reiher hoch in den Lüften und voll von dem Gedanken
der Macht der Liebe über Zeit und Raum ruft er aus: tausendmal so hoch
und so geschwind die Gedanken treuer Liebe sind. ─ Ein Anderes ist nun
die eigentliche Vergleichung. Es bedarf keines Beweises, daß das Gefühl
aus demselben Grunde, wie nach jenen zunächst directen Bildern, nach ihr
greift, nämlich eben, weil es nicht unmittelbar sich selbst aussprechen kann.
Daher spielt die Vergleichung in der Lyrik eine so wesentliche Rolle wie im
epischen Gebiete, ja sie wird noch ungleich häufiger auftreten, aber in einem
ganz verschiedenen Charakter: ein Unterschied, den wir nachher an anderem
Orte verfolgen werden; hier weisen wir auf die Stärke der Geltung dieses
Mittels zunächst nur hin, indem wir eine tief bezeichnende Erscheinung
hervorheben: das Bedürfniß, die dunkle Stimmung in einem Andern,
Helleren zu spiegeln, dem in's Unendliche sich verlierenden Hintergrunde das
Gegengewicht eines deutlichen Vordergrunds zu geben, ist so stark, daß es
die Lyrik liebt, geradezu eine ganze Empfindung, einen ganzen Gedanken
nur an einem Tropus fortlaufend und ihn durchführend zu entwickeln: [1329]
Erzeugnisse, die man wohl in besonderer Anwendung des Worts allegorische
Gedichte genannt hat. So fühlt Göthe im Schwager Kronos mit den
Wechseln einer Wagenfahrt die Wechsel eines Menschenlebens warm und
innig zusammen; er läßt in dem nachgedichteten Volkslied Haidenröslein
einen schalkhaften Gedanken durch das Bild vom gebrochnen Blümchen
durchspielen; er spricht einen ernsten und tiefen Gedanken direct als Sinn
des Bildes aus im „Gesang der Geister über den Wassern“, so Uhland in
der „Ulme zu Hirschau“.


Der §. sagt, daß das Gefühl auch zu dem Ausdruck von bestimmten
Gedanken und Willensbewegungen fortgehe, um sich eine Sprache zu geben.
Wir haben einen Fall des Ersteren in den so eben angeführten Beispielen
gefunden, er enthält aber natürlich nicht die einzige Art, sondern in jeder
Weise wird der lyrische Dichter ausdrücklich Gedachtes seinem Erzeugniß
einflechten. Es ist die Vollendung des Unterschieds von der Musik, daß
hier das Gefühl zum wirklichen Betrachten, zum Denken des Allgemeinen
sich erschließt, ohne doch seinen Charakter zu verlieren, denn die Gedanken
dürfen nur auf seinem Strome schwimmen, müssen in das grundbestimmende
Element seines Erzitterns und Schwebens hineingezogen sein, oder richtiger,
nur aus ihm aufsteigen, um wieder in ihm unterzutauchen. Allerdings
liegt die Abirrung in das Sentenziöse und überhaupt das Philosophische,
Lehrhafte nahe, die Probe aber, ob dieß Außerästhetische der Ausgangspunct
und das Herrschende, oder nur ein Strahl sei, an dem das Helldunkel der
reinen Stimmung Licht sucht, wird nicht schwer sein. Wir kommen auf
diesen Punct und die allerdings feinen Grenzbestimmungen anderswo zurück.
Dieß gedankenhafte Element bezeichnet der §. kurz als das gnomische, natürlich
nicht zu verwechseln mit der besondern Form der gnomischen Poesie. ─
Auch mit Willensbewegungen verhält es sich so, daß die lyrische Dichtung,
während die Musik sie nur anzukündigen scheint, ohne sie aussprechen zu
können, sich ihrem wirklichen Ausdruck öffnet; ja es muß eine Lyrik des
Willenspathos, des kriegerischen, politischen, ethischen geben, die darum noch
nicht Tendenz-Poesie ist, sondern der Bedingung genügt, daß die Empfindung
das bestimmende Element bleibe, in welches die Jdee, deren Widerspruch
mit der Wirklichkeit den Willens-Eifer begründet, erst ganz sich umgesetzt
hat. ─ Eine andere, negative Bedingung, die gerade hier besonders zu
betonen ist, nämlich die, daß das Pathologische überwunden sei, wird
nachher zur Sprache kommen. Uebrigens versteht sich, daß, was wir epische
oder Anschauungs-Elemente genannt haben, in der Wirklichkeit von diesen
Eintritten in die Welt des denkenden und wollenden Geistes nicht zu trennen
ist, daß sie vielmehr insgesammt an und miteinander verlaufen.


2. Die Unterscheidung dieser Elemente, welche überall nach Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft hinweisen, führt auf die Zeitbestimmung. [1330]
Es ist schon in §. 862 gesagt, daß die lyrische Poesie auf die Gegenwart,
wie die epische auf die Vergangenheit gestellt ist. Es ist dieß nur ein
anderer Ausdruck für den Satz, daß das Bestimmende dieser Dicht-Art die
lebendige, alles Object in sich verarbeitende Subjectivität ist. Das Lyrische
ist ganz auf diesen Moment concentrirt: jetzt, eben jetzt empfindet ein lebendiger
Mensch die Welt so und nicht anders. Allein der Moment flieht im
Werden und weicht dem folgenden. So ist die Gegenwart nur der stets
relative Punct, von welchem aus der Lyriker die Vergangenheit und Zukunft
durchmißt. Von ganz besonderer Stärke ist die Richtung der Vergangenheit.
Wo das Gefühl selbständig waltet, ist die Wehmuth des Rückblicks bestimmender
Grundzug, ein Flor, der über Allem, auch dem Heitern liegt; denn
als ein dunkles Schwingungsleben ist das Gefühl wesentlich ein Vernehmen
der Zeit, eigentlich die Zeit selbst als subjectives Vernehmen des ewigen
Wechsels; dieser Ton, den wir schon im Epischen fanden, dieser Zustand, als
säße man am Strome der allgemeinen Vergänglichkeit und hörte ihn rauschen,
wird im Lyrischen herrschend und wesentlicher Grundzug. Die Gegenwart weist
aber durch Hoffnung oder Furcht nothwendig auch auf die Zukunft und die
Empfindung schwillt in zarterer oder gewaltsamerer Weise nach ihr hin, das
Selbst stellt sich in sie hinaus und schaut dort sein Bild. Den Zug der Wehmuth
hebt auch dieß nicht auf, es zieht sich vielmehr etwas hindurch, ein Klang,
der zu sagen scheint, daß auch dieß Zukünftige einst vergangen sein wird.
Wie diesen verschiedenen Beziehungen nun die Elemente der Anschauung, der
Betrachtung und der Willensbewegung als Ausdrucksformen dienen, bedarf
keiner Auseinandersetzung.


§. 886.


Wie die lyrische Dichtung der Zeit nach wesentlich auf den Moment
gewiesen ist, so dem Umfange nach, in welchem sie das Objective ergreift, auf
die Vereinzelung: es ist wesentlich dieses Subject, das in dieser
Situation von einem Punct aus der Totalität der Welt berührt wird; daher
ist empirisches Erleben in der Form der Zufälligkeit vorausgesetzt, daher liegt
auch das Pathologische (vergl. §. 393, 2.) besonders nahe und muß an dieser
Stelle ausdrücklich wieder abgewiesen werden. Das freie und universale Gemüth,
das in Kampf und Schmerz sich mit der Welt versöhnt hat, legt nun zwar
in jedes Einzelne sein ganzes Jnneres und das Gefühl des Universums, aber
unentwickelt, und nur die Gesammtheit der lyrischen Aeußerungen gibt das
Bild einer Persönlichkeit, eines Volks, der Völker, der Welt. Die bestimmte
Art des Zusammenfühlens der Jndividualität und der Welt verleiht dem Gedichte
seinen Duft.


Die lyrische Poesie hat über der Jnnigkeit, die ihr gewonnen ist, das
Object zwar nicht so ganz verloren, wie die Musik; wir haben ihre epischen, [1331]
bildlichen, gnomischen, überhaupt einen Gegenstand nennenden Elemente
kennen gelernt; aber sie kann das Object nicht entwickeln, nicht ausbreiten.
Jst ihr zeitliches Element die Gegenwart, also der Augenblick, so ist in
Beziehung auf ihren Verkehr mit den Gegenständen ihr Charakter die
Punctualität; sie ist ein punctuelles Zünden der Welt im Subjecte:
in diesem Moment erfaßt die Erfahrung dieses Subject auf diese Weise.
Wir haben in §. 393, 1. für alle Phantasiethätigkeit gefordert, daß sie von
der zufälligen Anregung durch irgend ein Naturschönes ausgehe, allein in
den andern Gebieten wird an dem so gegebenen Stoffe fortgebildet, bis er
ein größeres Weltbild darstellt, das eine zweite, ideale Natur ist und
worüber man den Ausgangspunct rein vergißt; die Musik fällt hier weg,
da sie gar kein Mittel hat, den Anstoß, wovon die erfindende Stimmung
ausgegangen, erkennbar durchblicken zu lassen; der lyrische Dichter aber sagt
es recht ausdrücklich, daß er bei dem und dem Anlaß, hier am Fluß, im
Gebirge, hier, wo er die Geliebte zum ersten oder letzten Mal gesehen,
wo er am Todtenbette des Freunds gestanden u. s. w., den Grundgehalt des
Lebens so oder so gefühlt hat; wir sehen ihn im Nachen auf dem Strom,
über den er vor Jahren schon einmal gefahren, von den Manen derer, die
damals mit ihm waren, begleitet; wir sehen ihn dem Schnee, dem Regen
entgegenstürzen, um die Brust zu kühlen, mit schlagendem Herzen geschwind
zu Pferde steigen, das Rebengeländer an seinem Fenster mit Thränen befeuchten;
das Mägdlein steht am Herde, muß Feuer zünden früh, wenn
die Hähne kräh'n, und wie sie in's Feuer blickt, fällt ihr ein, daß sie die
Nacht vom treulosen Knaben geträumt hat, die Verlassene schleicht durch's
Wiesenthal als im Traum verloren. So accentuirt der Lyriker die Situation
und eben weil er sie als solche accentuirt, mit einem raschen Lichte beleuchtet,
geht er nicht zu der Ausführung fort, worin sie ihre Bedeutung verlöre.
Daher gilt von der lyrischen Dichtart wie von keiner andern das Göthe'sche
Wort, daß ein wahres Gedicht Gelegenheitsgedicht im höheren Sinne
des Wortes sei, daher konnte aber auch in keinem Kunstgebiete das Wahre
dieses Wortes sich so sehr dahin verkehren, daß man unter Gelegenheit einen
Anlaß verstand, von dem nicht freie Gunst der Muse, sondern die Absicht
des Machens, etwa gar auf Bestellung, ausgeht. Die Gelegenheit ist
der Zufall des Anlasses, der die Phantasie absichtslos in Bewegung setzt.
Alles ästhetische Erfinden ist zufällig, aber in keinem Gebiete betont sich der
Begriff der Zufälligkeit so, wie im lyrischen, eben weil der außer aller Berechnung
liegende Ausgangspunct als solcher in der Situation premirt und
erhalten wird. Die Situation ist der Moment, wo Subject und Object
sich erfassen, dieß in jenem zündet, jenes dieß ergreift und sein Weltgefühl
in einem Einzelgefühl ausspricht. Treffende und feine Bemerkungen über
diesen Lebenspunct der ächten Lyrik gibt Gervinus in seiner meisterhaften [1332]
Schilderung des deutschen Volksgesangs (Gesch. d. Nat.=Lit. d. Deutsch.
Th. 2, VII, 1). ─ Vermöge dieses Charakters liegt nun das Pathologische
im lyrischen Gebiete näher, als in andern; wir haben es längst besprochen
und abgewiesen und brauchen daher hier nur zu sagen, daß es wegen der
stärkeren Versuchung besonders ausdrücklich zu verwehren sei. Die jambische
Poesie der Griechen, so manches von Zorn und Rache glühende Lied der
Araber, der französischen Dichter des Mittelalters, vor Allem aber die neuere
Zeit mit ihrer so ungleich vertieften Spannung der Gegensätze im Subjecte
liefert unzählige Proben; was der unmittelbare Natur-Ausbruch der Leidenschaft
sei, zeigt namentlich Bürger in Stellen, wie: „denn wie soll, wie
kann ich's zähmen, dieses hochempörte Herz? wie den letzten Trost ihm
nehmen, auszuschreien seinen Schmerz? Schreien, aus muß ich ihn schreien“
u. s. w. Die Gefahr, daß „die Hand, die vom Fieber zittert, das Fieber
zu schildern unternehme“, hat noch einen bestimmteren Grund, als den, daß
die Forderung des in gegebener Situation lebensfrisch Gefühlten so leicht
mißverstanden wird: er liegt in der falschen Deutung der Wahrheit, daß
das Land des Gefühls ein Land der Schmerzen ist. Erleben, erfahren heißt
durch Leiden gehen; die Welt in sich verarbeiten, heißt durch das Meer
der Qualen schwimmen. Das Object tritt nicht kampflos in das Subject
ein, um aus ihm verklärt im Glanz und Dufte der Empfindung hervorzusteigen;
die naive epische Freude an den Dingen muß erst bitter vergällt,
das Jdeal, womit der jugendlich geschwellte Geist an die Welt geht, mit
der rauhen Unerbittlichkeit hart zusammengestoßen sein, ehe die Blume der
tieferen, gefüllteren Lyrik aus den Tiefen des Gemüthes sproßt. Die Lyrik
hat diesen Lebensprozeß in seiner innersten Spannung auszusprechen und so
unzählige Lieder der unbefangenen Heiterkeit sie geschaffen hat und schafft,
so geben doch diese nur zusammengefaßt mit der weit größeren Summe der
schmerzvollen das ganze und wahre Bild dieser Dicht-Art. Aber eben: der
Kranke kann die Krankheit nicht darstellen; nur das Gemüth, das sich zur
Seligkeit der idealen Freiheit durchgekämpft hat oder doch die tiefe Anlage
dazu, die Kraft der Gesundheit in sich trägt, um die gefährlichsten Krankheiten
in glücklichen Krisen zu überstehen, wird die einzelne Erschütterung,
wie sie so eben noch in ihm nachzittert, verklärt, zur Allgemeinheit der Jdee
gereinigt wiedergeben. Göthe's unverwüstliche Elastizität steht auch in diesem
Zusammenhang als reines Muster da. Jn seiner Hand wird Alles leicht
und frei, verliert die Erdenschwere, schwebt im Aether der reinen Stimmung
und Form. An dem Morgen, da er Wetzlar verläßt, die Flamme einer
verzehrenden Leidenschaft, in welche die Zeitstimmung der Sentimentalität
noch ihr Oel gegossen, noch heiß im Herzen, dichtet er „Pilgers Morgenlied“;
der Nord des Lebens „zischt ihm tausendschlangenzüngig um's Herz“,
aber die Liebe des einzelnen Mannes zum einzelnen Weibe wird ihm zur [1333]
„allgegenwärtigen Liebe, die ihn durchglüht, die ihm gegossen in's frühwelkende
Herz doppeltes Leben: Freude, zu leben, und Muth.“


Das einzelne Werk der lyrischen Muse wird durch diese Unendlichkeit,
den Ausdruck eines freien, in der Klarheit des Universalen lebenden Gemüths
zum Mikrokosmus. Allein die Kunst im Ganzen und Großen strebt
dahin, den Mikrokosmus in einem entfalteten, größeren Ausschnitte des
Makrokosmus niederzulegen; die Lyrik faßt nur einen kleinen Punct der
Welt an und läßt ihm keine Selbständigkeit, entwickelt ihn nicht, sondern
eilt, ihm den Klang des Gemüths zu entlocken; der kleine Punct wird dadurch
wohl zu einer Welt, aber doch nicht so unbedingt, wie es Angesichts
des größeren Kunstwerks keine Welt mehr gibt, sondern die ganze Welt
jetzt hier, in diesem Bild enthalten ist, wir fühlen vielmehr den Vorbehalt
durch, daß es unzählige andere Puncte der Berührung und Klänge
geben kann, die erst das Weltbild vollenden. Man muß daher die Erzeugnisse
der lyrischen Dichtung summiren, das Bild der ganzen einzelnen
Persönlichkeit und ihrer Weltauffassung entspringt nur aus der Reihe ihrer
Lieder; diese Reihe neigt an sich zu Gruppen, die einen Lebenszustand erst
entfalten. Die Gruppen führen wieder aufeinander und schließen sich zum
Gesammtbilde ab. Solche Gruppen sind aber im Großen die lyrischen
Poesieen ganzer Völker, wie sie sich unterscheidend ergänzen, und nur die
lyrischen Dichtungen aller kunstsinnigen Nationen zeigen die Welt auf ihren
verschiedensten Puncten von der Subjectivität nach ihren verschiedensten
Seiten erfaßt, durcharbeitet, poetisch durchwühlt und so die Welt im
Subject oder umgekehrt. ─ Wir können dieß Alles so zusammenfassen: die
lyrische Poesie hat nicht sowohl bestimmten Körper, als bestimmten Duft.
Man vernimmt in ihr die Persönlichkeit und ihre Art, die Gefühlsweise
ganzer Nationen, vereinigt mit der bestimmten Natur der Gegenstände, an
die das Gefühl im einzelnen Fall und in herrschender Richtung anschießt,
wie eine spezifische Atmösphäre, die man gern mit einem feinen, aber entschiedenen
Eindruck auf den Geruchsinn vergleicht. Es ist, wie wenn man
vom Weine sagt, er habe Blume, eine bestimmte Blume, womit man ausdrücken
will, daß man das Erdreich, worin er gewachsen, die Zone, die
ihn gereift, in den feinsten Nerven durchfühle. Es ist vielleicht das höchste,
absolute Lob, wenn man von einem lyrischen Gedichte sagen kann, es habe
Duft. Herder hat, wie Wenige, das Organ gehabt, diesen Duft zu finden
und zu unterscheiden.


§. 887.


Der lyrische Styl ist im Unterschiede vom epischen (vergl. §. 869) darauf
gewiesen, mehr errathen zu lassen, als auszusprechen, vom Aeußeren auf das
Jnnere zu deuten und daher nicht in gemessener Ruhe zu entwickeln, sondern [1334]
rasch, abgebrochen fortzuschreiten. Die Composition verknüpft die Vorstellungen
nicht nach ihrer objectiven Ordnung, sondern liebt Absprünge, die
ihren Zusammenhang in der subjectiven Einheit des Gefühls haben und nur
entfernt der relativen Selbständigkeit der Episode sich nähern können. Die
wirkliche Einheit liegt darin, daß sie ein organisches Bild des Verlaufs einer
Stimmung gibt, worin eine Bewegung durch drei Hauptmomente (vergl. §. 500, 2.)
sich vernehmlich durchziehen wird. Diesem Gange sagt die unterbrechende und
abschließende Rückkehr zum Grundtone durch den Refrain zu. Die Natur
des Gefühls fordert Kürze des Ganzen.


Es wird sich zeigen, daß der Unterschied der Style in der lyrischen
Poesie nicht in der durchgreifenden Bedeutung auftreten kann, wie in der
epischen; wir erwähnen ihn vorläufig schon hier, um zuzugeben, daß die
direct ideale, plastische Richtung allerdings den stammelnden, sprungweisen,
andeutenden Charakter nicht in dem Maaße tragen wird, wie die naturalistische
und individualisirende; allein es wird dieß nur ein fehr relativer
Maaß-Unterschied sein, denn die spezifische Natur des Gefühls ist sich überall
gleich: sie kann sich eigentlich nicht in Worten ausdrücken und wenn sie
es doch versucht, muß sie es so thun, daß man den Worten ansieht, es sei
immer noch mehr zurück, als ausgesprochen ist. Je mehr ich mein Gefühl
zur klaren Gestalt beredt und in flüssigem Zusammenhang herausbilden
kann, desto mehr hört es schon auf, Gefühl zu sein. Wir haben gesehen,
daß epische Anschauungs-Elemente, Gedanken und Willensbewegungen herbeigezogen
werden, um einen Anhalt zu geben, an dem das Unergründliche
zur Aeußerung gelange; es muß aber eben zugleich die Unzulänglichkeit
dieses Anhalts zu Tage treten, es sind Lichter, die das Dunkel nicht ganz
erleuchten, sondern wieder zerrinnen und so ein Helldunkel erzeugen. Namentlich
muß sich dieß an dem indirect bildlichen Elemente, den Tropen,
bewähren: die lyrische Poesie wird die kühn verwechselnde Metapher dem
begründenden, entwickelnden Gleichnisse vorziehen, das gerne dem Bilde die
Ausführlichkeit einer über den Vergleichungszweck hinausgehenden selbständigen
Schönheit zuwendet.
Note: Es bleibt also dabei, daß das ahnungsvoll
nach innen Deutende, Springende, Unentwickelte recht im vollen Gegensatze
gegen das Epische den allgemeinen lyrischen Stylcharakter bildet. Man
sehe darauf jenes Lied und lied=artige Gebet Gretchen's in Göthe's Faust
an und beobachte, wie hier das ächt lyrische Gefühl von jedem Versuche
der Entfaltung, der Ausbreitung wieder in seine unerschöpfliche Tiefe zurücksinkt.
Dieß Stylgesetz wird sich am meisten da bewähren, wo es am
meisten in Gefahr sein wird, nämlich in den Formen, die innerhalb der
lyrischen Poesie episch zu nennen sind, also die Aufgabe haben, im Zusammenhang
erzählend darzustellen; hier wird der lyrische Charakter der scheinbar [1335]
ablenkenden Aufgabe zum Trotz, also gerade mit doppeltem Nachdrucke
sich geltend machen. ─ Der allgemeine Satz führt sogleich zu der Frage
nach der Composition und hier bewährt sich, was von der Schwäche
des Unterschieds der Style gesagt ist, daran, daß gerade der direct ideale,
classische Styl auf seiner Höhe am vollständigsten ausgebildet hat, was man
die lyrische Unordnung nennt. Sie hat sich vorzüglich in der Ode festgesetzt;
Pindar componirt wahrhaft labyrinthisch, knüpft Fäden an, läßt sie
wieder fallen und flicht sie erst am Ende so zusammen, daß die Bedeutung
klar wird (vergl. u. A. Otfr. Müller Gesch. d. griech. Lit. B. 1, S. 409 ff.).
Diese vielbesprochene Art der Anlage, das Abspringen zu weit von einander
entlegenen Gegenständen, das scheinbar gesetzlose, der bloßen Einbildungskraft
angehörige Spiel der Verknüpfung der Vorstellungen erklärt sich leicht
daraus, daß die wirkliche Ordnung eine subjective ist und die objectiven
Elemente aus dem Einen Gesichtspuncte der Stimmung verbindet. Diese
schwebt über der Welt, wie ein Magnet, an den auf Kosten des sächlichen
Zusammenhangs Jedwedes anschießt, was eine wesentliche Seite der Beziehung
zu ihm hat, oder sie kann mit dem schwebenden Vogel im Anfange
von Göthe's Harzreise im Winter verglichen werden: „Dem Geier gleich,
der auf schweren Morgenwolken mit sanftem Fittig ruhend nach Beute
schaut, schwebe mein Lied!“ Man wird sich hierüber klare Rechenschaft geben,
wenn man an sich selbst beobachtet, wie im Zustande entschiedener Gefühlsstimmung
die Phantasie umherschweift, als handle sie, vom Denken nicht
überwacht, ganz willkürlich für sich; man wird sich zuerst wundern, wenn
man sich darauf besinnt, bei wie fremdartigen Gegenständen sie herumgeirrt
ist, hernach aber sich überzeugen, daß sie im Dienste des Einen Grundgefühls
gehandelt hat. Der Wahnsinn als fixe Jdee ist ein krankhafter Verlust
des ganzen Geistes in diesen Zustand, dem die Kunst als einem Zustand
unter andern freie ästhetische Form gibt: er sieht alle Dinge außerhalb
der richtigen Ordnung nur im Zusammenhang mit Einer habituell gewordenen
Vorstellung, Empfindung; Blitz, Donner, Sturm und Regen, Edgar's
Erscheinung, Gloster's feinen Hut und alles Andere bezieht Lear nur auf
den Undank seiner Töchter. Die Phantasie kann auf dieser scheinbaren
Jrrfahrt bei diesem oder jenem Bild auch länger verweilen, als der sprungweis
bewegte Charakter der Dichtung es zuzugeben scheint, und man kann
dieß Episode nennen. Dahin gehören z. B. die mythischen Erzählungen
Pindar's, wie die des Argonautenzugs im Pythischen Gedicht auf den Kyrenäischen
König Arkesilas, allein das herrschende Gefühl ruft die Phantasie
von diesem Verweilen doch ungleich rascher zurück, als die epische Anschauung;
so im gegebenen Beispiele, wo jenes Bild nur dient, die Größe des Kyrenäischen
Königsgeschlechts durch den Ruhm der Argonauten, von denen es
abstammt, zu verherrlichen. Jn der modernen Lyrik werden solche Episodenähnliche [1336]
Stücke weit kürzer sein, weil der subjective Charakter hier überhaupt
das Anschauungs-Element weit mehr in die Enge zusammenzieht, man
kann sagen, weil sie ächter lyrisch ist. Die Einheit des lyrischen Gedichts
ist denn wesentlich Ton-Einheit und es gleicht jener Richtung in der Malerei,
welche nicht nur die Schönheit der Zeichnung, sondern überhaupt den
Werth der Gegenstände gegen den Stimmungston zurückstellt. Wir sind
aber jetzt im Elemente des zeitlich Bewegten: die Ton-Einheit muß also
in Ton-Unterschiede successiv auseinandergehen und kann als Einheit von
diesen ebensosehr Bewegungs-Einheit heißen. Ein bestimmtes Gefühl soll
im Liede den Weg gehen, den ihm seine Natur vorschreibt, und nicht ruhen,
bis es erschöpft ist. Es bedarf keines Beweises, daß auch hier der Dreischlag
von Anfang, Mitte, Schluß, wie wir ihn für alle Composition als
organisch gegeben aufgestellt haben, das Grundgesetz der Gliederung bilden
wird: Anschwellen, Ausbrechen, sich Beruhigen ist der natürliche Verlauf
jeder besonderen Stimmung. Doch können diese Elemente verschiedene
Stellungen zu einander eingehen und zu der Verschiedenheit dieser Stellung
kommt noch die Verschiedenheit der Mischung des Gefühlsklangs mit den
Anschauungs-Elementen, dem Gedankenmäßigen (Gnomischen) und dem
Hindringen gegen den Willens-Entschluß. Das letzte der drei Momente,
die Beruhigung, kann natürlich die mannigfaltigsten Formen annehmen, ist
nicht nothwendig eigentliche Besänftigung, besteht aber wesentlich immer
darin, daß das Gefühl eben in der Selbstdarstellung sich läutert, idealisirt.
Pilgers Morgenlied von Göthe (Nachgel. W. B. 16), das wir oben in
anderem Zusammenhang angeführt, enthält den Dreischlag der Momente
in der einfachen Weise, daß im ersten Satze der Anblick von Lila's Wohnung,
obwohl im Morgennebel verhüllt, Bilder seliger Erinnerung im
Dichter weckt; nun folgt ein zweiter Satz, zuerst episch der ersten Begegnung
gedenkend, dann rasch zu dem Gefühle der rauhen Wildheit des Trennungsschmerzes
übergehend und diesem Schmerze kühn den männlichen Willen
entgegenstellend, im letzten Satze aber beruhigt sich dieser Sturm nicht im
Erlöschen der schmerzvollen Stimmung, sondern im Verklären derselben zur
allgegenwärtigen Liebe. Dieß ist allerdings die einfachste, allgemeinste Form
des Verlaufs; allein die Beruhigung kann auch in einem vollen, stürmischen
Ausbruch des Gefühls liegen und dann haben wir die Umstellung, daß das
zweite der drei Momente, wie sie oben aufgeführt sind, an den Schluß
tritt; so schließt Gretchen's Lied „Meine Ruh' ist hin“ mit dem stürmischen
Wunsche, an den Küssen des Geliebten, zu dem die wühlende Sehnsucht
sie drängt, zu vergehen: vorher zurückgehalten, gepreßt, erstickt stürzt hier
das Grundgefühl gewaltsam wie durch eine Schleuse hervor, die sich dadurch
geöffnet hat, daß die arme Verlassene das Bild des Geliebten im vollen
Glanze, wie die Liebe schaut, sich vergegenwärtigt hat. Dieß ist nun [1337]
freilich keine Beruhigung im gewöhnlichen Sinn, aber als höchster Ausdruck
der Sehnsucht doch ein idealer Abschluß. Jn Mignon's Lied „Kennst du
das Land“ steigert sich die Sehnsucht in ununterbrochener Folge; in drei
Strophen stellt sich einfach die Dreigliederung dar; die erste malt die Natur
Jtaliens, die zweite seine Kunst, und hier hängt sich an das vorschwebende
Bild die dunkle Erinnerung der dort verlebten Kindheit; dadurch befeuert
sich in der letzten Strophe die Sehnsucht, die Phantasie sucht den Weg zu
dem Ziele derselben und findet ihn in einem der Alpenpässe, dessen wilde
Gebirgswelt recht der zum Gipfel angelangten Heftigkeit des Wunsches
entspricht, und mit diesem beschleunigten Pulse schließt das Lied. Dagegen
stellt sich in Göthe's Gedicht „Rastlose Liebe“ der stürmische Ausbruch an
den Anfang, bildet den ersten Satz: der Dichter möchte dem Gefühl einer
neuen Liebes-Anziehung sich entreißen, stürzt dem Schnee, dem Regen, dem
Wind entgegen; im zweiten Satze gibt er sich davon Rechenschaft, aber
wir ahnen schon, daß die Schmerzen, denen er entfliehen will, nicht so
unwillkommen sind: „alle das Neigen von Herzen zu Herzen, ach! wie so
eigen machet das Schmerzen!“, und im dritten Satze hat er sich in das
Glück ohne Ruh' ergeben und erkennt der Liebe, aus der es kommt, die
Krone des Lebens zu: erst jetzt, mit diesem Geständniß ist ausgesprochen, was
dem Anfange noch verschwiegen zu Grunde liegt. ─ Diese Winke mögen
hinreichen, zum weiteren Nachdenken über die lyrische Composition und die
mancherlei Umstellungen ihrer Glieder anzuregen; sie wären leicht zu vermehren,
namentlich wenn wir auf die Form eingehen wollten, die eine
Handlung erzählt und hiemit an das Aristotelische „Anfang, Mitte und
Schluß“ in ähnlicher Bestimmtheit gewiesen ist wie Epos und Drama.
Wesentlich ist aber hier noch das Moment einer wiederkehrenden Unterbrechung
des lyrischen Verlaufs, die denn auch am Abschlusse noch ihr Recht
behauptet, hervorzuheben: es ist der Refrain, wie ihn besonders das germanische
Volkslied und die durch es verjüngte Kunstpoesie liebt. Er ist
zunächst überhaupt Ausdruck davon, daß das Gefühl sich in Worten eigentlich
nicht auszubreiten, darzustellen vermag; so wird in Gretchen's schon besprochenem
Liede: „Meine Ruh' ist hin“ der erste Vers, der das Thema
hingestellt hat, zum wiederkehrenden Strophen-Abschluß, zum Refrain: es
ist ein mattes Zurücksinken von dem Versuche einer ausführenden Schilderung
des Zustandes einer liebenden Seele, die ihr Centrum verloren hat,
aber am Schlusse kann er hier nicht wiederkehren, da, entflammt am Bilde
des Geliebten, das Gefühl sich Luft gemacht hat und in's Weite ergießt.
Dagegen in Gretchen's Gebet faßt er als Anfang und Schluß das Ganze
ein; hier ist er der Ausdruck davon, daß die Verzweiflung nur bei der
göttlichen, mitfühlenden Liebe Hülfe suchen kann, er ist aber am Schluß
etwas verändert, ein heftigeres Flehen. Der Refrain trägt durch seine [1338]
Einschnitte zu der sogenannten lyrischen Unordnung bei, denn unvermittelt
durchbricht er die Versuche des Gefühls, zur objectiven Anschauung überzugehen;
aber in Wahrheit stellt er wie eine wiederkehrende Melodie die
Einheit des Grundtones aus den Wechseln und Unterschieden her; zugleich
ist er ein Ruhepunct: das Gemüth hält sich an ihm fest in dem bodenlosen
Wogen der Empfindung. Allerdings kann er auch aus bloßen Naturlauten,
Jnterjectionen bestehen; die Bedeutung eines durchgehenden Bandes
zum Festhalten der Grund-Empfindung bleibt ihm dann in dunklerer, der
Musik enger verwandter Weise. Das Kinderlied und Handwerkslied spielt
gerne mit dieser Form, um eine Körperbewegung auszudrücken, die der
Gesang begleitet; die Kunstpoesie wird in Nachbildungen leicht kindisch. ─
Daß die lyrische Dichtung auf Kürze angewiesen ist, geht aus der Natur
des Gefühles hervor, wie wir auf sie dieselbe Forderung schon in der Lehre
von der Musik §. 764 begründet haben.


§. 888.


Die lyrische Poesie ist durch ihre Bedeutung als Wiederkehr des Standpuncts
der empfindenden Phantasie in der dichtenden besonders eng auf die
rhythmische Form gewiesen; sie führt ihrer Natur nach zum Strophenbau,
bildet ihn kunstreich zu einer Vielfältigkeit verschlungener Gliederungen fort,
verbindet Strophen zur Strophengruppe, deren Composition naturgemäß zu
einer Gliederung von drei Sätzen neigt, endlich Strophengruppen zu größeren
Ganzen. Die Grundforderung aber ist, daß Ton und Gang der Stimmung
sich in der äußern Form treu ausspreche, und dieses Verhältniß soll nicht unter
allzu viel Kunst leiden. Wesentlich entspricht dem Charakter der lyrischen Dichtung
der Reim. Die Verwandtschaft mit der Tonkunst wird in ihr zur wirklichen
Verbindung durch musikalischen Vortrag.


Die lyrische Dichtung ist enger an den Gehörssinn gewiesen, weil sie
an das Bewußtsein zwar anknüpft, aber ihren Gefühls-Jnhalt ihm nicht
völlig zu erschließen vermag, der Ton und seine Kunstbildung aber eben
die Sprache des Gefühls ist. Doch führt dieß nicht unmittelbar auf den
eigentlich musikalischen Vortrag; die rhythmische Form in ihrem Unterschiede
von der Musik und ihrer tiefen Verwandtschaft mit derselben ist eben der
Punct, worin der Antheil des Bewußtseins, durch den jene Kunst dem
Gefühle Wort-Ausdruck gibt, mit dem reinen Bewegungsleben des Gefühls
geeinigt erscheint. Die verschlungenen, mit Bild und Gedanke durchschossenen
Wege und Gänge des Gefühls führen nun naturgemäßer zu kunstreichen
rhythmischen Gebilden; es tritt an die Stelle der fortlaufenden epischen
Versreihe eine Verbindung von Reihen zu selbständigen kleineren Ganzen, [1339]
zu Strophen, und eine Aufeinanderfolge von Strophen wie dort von einfachen
Reihen. Von jeher haben die Strophen dazu geneigt, den Weg des
Gefühls dadurch bestimmter darzustellen, daß sie durch eine nach Länge oder
Kürze überhaupt oder auch metrisch ungleiche Zeile ihre zusammengestellten
Reihen abschlossen und damit das Ausathmen des Gefühls schlechthin
oder das Ausathmen mit einem kurzen neuen Aufschwunge darstellten. Es
war zuerst der Pentameter, der im elegischen Versmaaße zum Hexameter
trat als „melodisches Herabfallen der flüssigen Säule, die im Hexameter
gestiegen ist,“ es war dann der Epodos in verschiedenen Formen. Allein
der Doppelschlag von Steigen und Sinken ist nur die allgemeinere Seite
des Gefühlslebens; die Stimmung hat ihren innern Verlauf und wir haben
in §. 887 auch von ihm gesagt, daß sich derselbe naturgemäß durch drei Momente
bewegen wird. Als sich die Lyrik in der dorischen Chorpoesie immer
kunstreicher ausbildete, stellte sich denn auch die Dreigliederung in den drei
Sätzen: Strophe, Antistrophe und Epode dar. Die Minnepoesie des Mittelalters
hat dieselbe Kunstform in den zwei Stollen, die der Aufgesang
hießen, und dem Abgesang ausgebildet; unter den neueren Bildungen sind
es namentlich mehrere italienische, die in der Verschlingung ihrer melodischen
Bänder den Abschluß durch einen zwei vorangehenden Sätzen ungleichen
Satz lieben, so die achtzeilige Stanze und das Sonett. Die antike Lyrik
ist nun zu äußerst kunstreichen Bildungen in der einzelnen Strophe fortgegangen
und hat Gruppen von Strophen mit andern zu Einer großen
verbunden: eine Höhe, die jedoch bedenklich die Grenze des richtigen Maaßes
berührt. Es ist nämlich der Consequenz, zu welcher der erste Theil unseres
§. führt, ihre Schranke zu setzen; denn bis auf einen gewissen Grad getrieben
ist das Kunstreiche der rhythmisch=metrischen Form nicht mehr Ausdruck,
sondern Abzug, Ableitungskanal der Jnnigkeit der Empfindung: die
Form wächst nicht mehr mit dem Jnhalt, sondern fordert Jnteresse für sich
und stiehlt ihm seine Wärme. Die Alten, bei denen überhaupt die äußere
Kunstform mehr als eine selbständige Welt der Schönheit bestand (vergl.
§. 859), konnten hierin ungleich weiter gehen, als die Neueren, ihr Formgefühl
war als solches so warm, daß sie, wenn sie auch die Form mit
Verlust an Jnteresse für den Jnhalt fühlten, doch innig fühlten. Wir
werden zudem sehen, mit welchen andern Seiten des unterscheidenden Charakters
ihrer lyrischen Poesie dieß zusammenhängt. Dagegen schlug die
ähnlich kunstreiche Ausbildung der lyrischen Formen im Minnegesang auf
der Höhe, zu der sie sich steigerte, in unzweifelhafte Erkältung des Gefühls,
in conventionelles Spiel und stabilen Cultus bestimmter Empfindungen um
und es bedurfte der ganzen Schlichtheit des später aufblühenden Volksliedes,
um zur Wahrheit zurückzukehren. Die Künstlichkeit der romanischen und
muhamedanisch orientalischen Formen wird uns nöthigen, dieser Lyrik ihre [1340]
Stelle jenseits der Mitte wahrer Jnnigkeit anzuweisen. Was namentlich
die größeren Strophensysteme betrifft, so tritt an ihre Stelle in der neueren
Poesie natürlicher das Cyclische, der Kranz von Gedichten, den der gemeinschaftliche
Jnhalt einer umfassenden Gefühls-Situation oder Lebensepoche
an geistigem Bande zusammenhält. ─ Das einfach Wesentliche bleibt immer,
daß der Stimmungston im Rhythmus reinen Ausdruck finde. Wir zeigen
die rechten Wege durch einen Blick auf Göthe'sche Balladen. „Der Fischer“
ist durchaus anthitetisch gebaut; jede Strophe besteht aus zwei kleineren
vierzeiligen. Das Maaß ist jambisch, also anwachsend, andringend, aber
je auf eine längere Zeile folgt eine kürzere: ein Zweischlag, der auf die
Anschwellung ein Gefühl des Zurücksinkens folgen läßt; die meisten der
Langzeilen aber zerfallen durch eine Diärese in zwei Dipodien, z. B: „das
Wasser rauscht, das Wasser schwoll;“ „halb zog sie ihn, halb sank er hin.“
So geht durch das Ganze das Gefühl des anschlagenden und zurücksinkenden
Wellenspiels, recht das Gefühl des Wassers und des süß, schwindlicht Verlockenden,
was es hat. „Der Gott und die Bajadere“ besteht aus Strophen,
die je wieder aus zwei vierzeiligen gebunden sind, aber auf jede ganze Strophe
folgt eine dreizeilige, die sich zu jener wie der Abgesang zum Aufgesang
mit seinen Stollen verhält, übrigens durch den Schlußreim, welcher mit
dem der größeren Strophen gebunden ist, sich an diese anflicht. Jene sind
trochäisch und drücken durch dieses Maaß bald das Hohe der Herabkunft
des Gottes, bald das sicher Continuirliche des Fortschrittes von den ersten
Anlockungen und Erweisungen der Liebe bis zum tragischen Ende aus.
Die kürzeren Abschlußstrophen dagegen bestehen aus längeren daktylischen
Zeilen mit Vorschlag und trochäischem Schluß; sie schießen hervor, als habe
das Gefühl in den Hauptstrophen nicht genug Raum gehabt, sich zu dehnen;
in der ersten bezeichnet dieser Rhythmus nur das schnell Wechselnde in
Mahadöh's Erdreisen, in der zweiten schlägt er zum lieblichen Tanz und
Zymbel-Klang als beschleunigter Puls, in der dritten drückt er die dienstwillige
Geschäftigkeit des Mädchens und die Freude des Gottes aus, in
der vierten klingt er ängstlich anwachsend im Gefühle der steigenden Schärfe
der Prüfungen, in der fünften athmet er befriedigte Lust, in der sechsten
bricht er stoßweise durch wie die Verzweiflung, womit die Bajadere unter
die Begleiter des Leichenzugs stürzt, in der siebenten scheint er unter dem
tragischen Jnhalte des Priestergesangs in dunkler Bangigkeit zu zittern, in
der achten ist er ganz Klage und in der neunten schwebt er mit dem verklärten
Paare beschwingt zum Himmel empor. Dagegen betrachte man die
Braut von Korinth; ihre Atmosphäre ist schwüle Bangigkeit, es liegt wie
ein bleierner Druck auf ihr; zwei kürzere Zeilen vor dem Schlusse der
Strophen scheinen unter diesem Drucke nicht weiter zu können, den wiederholten
Ansatz zu hemmen, den Athem einzuhalten, der dann, wie wenn der [1341]
Eintritt eines erwarteten Schrecklichen ihn befreite, in einer abschließenden
längeren Zeile, doch, wie die andern, in schweren trochäischen Wellen, aushaucht,
und erst in der letzten Strophe wird die Recitation diesem rhythmischen
Ende einen leichteren, schließlich entlastenden Ton geben. Aehnlich
verfolge man, wie die kurzen Zwischenstrophen im „Zauberlehrling“ bald
die unwillkommene Stetigkeit des Fortwirkens der Zauberkräfte, bald die
drollig angstvolle Hast des Lehrlings, bald den ordnenden Befehl und
die Lehre des Meisters ausdrücken. ─ Wir haben hier überall Strophenbildungen,
die das Einfache verlassen, ohne zu verwickelt zu werden und
namentlich ist es der Reim, der die übersichtliche Haltung sichert. Es
erhellt aus Allem, was über den Charakter des Lyrischen gesagt ist, daß
er in dieser Dichtart die Bedeutung, die ihm in §. 860, 3. zuerkannt ist,
im engsten Sinne behauptet. Er ist wesentlich stimmungsvoll und man
kann sagen, daß die lyrische Form ihren Beruf, ganz Kunst der poetischen
Stimmung zu sein, erst mit ihm erreicht habe. Das Verhältniß der lyrischen
Dichtung zur Musik ist schon in §. 839, 3. berührt. Das Epos
ist zum recitirenden Vortrag, das Lied zum Gesange bestimmt. Die innige
Analogie zwischen diesen ist in aller Volkspoesie wirklicher, untrennbarer
Bund. Die griechische Lyrik hob ihn auch als Kunstpoesie nicht auf, sondern
wuchs und vervollkommnete sich durchaus zugleich mit der musikalischen
Kunst, mit den Jnstrumenten, und in der chorischen Form trat der Tanz
hinzu, der die schwierig verschlungenen Maaße auch in die räumliche Figur
übersetzte und dem Auge vortrug. Man muß sich dieß veranschaulichen,
um sich klar zu machen, welche Fülle stimmungsvollen Genusses dem Griechen
schon in der Form lag. Namentlich hatten Strophe, Antistrophe
und Epodos die Tanzfigur der Evolution, ihrer Abwicklung und des Stillstands
zur Grundlage. Nachdem nun die moderne Bildung das Band gelöst
hat, ist die Lyrik der Kunstpoesie zunächst zum Lesen bestimmt, doch ist
hier die Trennung vom Sinnlichen ungleich härter, als im Epischen, wie
es vom öffentlichen Platze, wo einst der Rhapsode horchenden Volksmassen
mit heller Stimme vortrug, in die Stube zurückgetreten ist. Mindestens
gut declamirt wollen wir das lyrische Gedicht hören; allein je stimmungsvoller,
je ächter lyrisch, desto weniger freilich kann dieß genügen, ja desto
weniger paßt es. Es gibt eine lyrische Poesie und wir werden ihr ihre
Stelle anweisen, die declamatorischen Charakter hat, aber wer keine Erzeugnisse
aufzuweisen hat, die wie Gesang klingen, zum Gesang auffordern,
dem Componisten entgegenkommen, der hat sich nicht wahrhaft als lyrischer
Dichter bewährt; seine Werke wurzeln nicht im reinen Elemente der
Stimmung.

[1342]

2. Die Arten der lyrischen Dichtung.


§. 889.


Der Eintheilungsgrund für die Arten der lyrischen Poesie liegt in den
verschiedenen Schritten des Prozesses, durch welchen das Gemüth den Weltinhalt
in sein inneres Leben verwandelt; der Unterschied des Objectiven und
Subjectiven tritt also hier in eigenthümlicher Bedeutung auf und begründet
drei Formen: eine Lyrik des Aufschwungs zum Gegenstande, eine andere
des reinen Aufgehens des letzteren im Subjecte und eine dritte der beginnenden
und wachsenden Ablösung aus ihm oder der Betrachtung. Die andern
Eintheilungsmomente (vergl. §. 864), namentlich das auf den Unterschied der
Style begründete, berühren sich vielfach mit diesem entscheidenden, ohne mit ihm
zusammenzufallen, sie treten vielmehr wesentlich auch neben ihm in Geltung.


Der innere Grund der bekannten Schwierigkeit der Eintheilung des
lyrischen Gebiets ist natürlich der Mangel des eigentlich Objectiven: wo
ein gegenständliches Weltbild gegeben wird, treten eingreifende Unterschiede
des Standpuncts mit dem Erfolg auf, daß die Welt in verschiedenem Ausschnitt,
Umfang, daher in erkennbar festem Unterschiede der Composition,
der Behandlung, der ganzen Form zur Darstellung kommt; wo dagegen
das Subject nur die Welt in sich, als in Empfindung verwandelte ausspricht,
da geräth Alles in's Fließende und ist die nothwendige Folge eine
unübersehliche Vielheit der Formen, deren jede Stimmung in jedem Moment
eine neue erfinden kann. Die Stimmungen selbst aber sind unendlich nach
Jndividuen und Momenten und jede einzelne wieder unendlich gemischt; nur
Ein großer Haupt-Unterschied läßt sich aufweisen, nämlich eben derjenige, den
der §. aufstellt und den wir sogleich erläutern, aber mit dem Vorbehalte,
daß die genauere Benennung der Formen nicht eine bestimmte Gestalt,
sondern nur einen Ton, einen Charakter bezeichnen kann: das Hymnen=,
das Lieder=artige u. s. w. Wir haben die epische Poesie nach dem
Unterschiede der Style eingetheilt und dadurch gewonnen, daß die logische
Folge im Allgemeinen zugleich als die geschichtliche erschien. Jn einer
Kunstform ohne eigentliche Objectivität kann der Styl-Gegensatz eine so
durchgreifende Bedeutung nicht haben. Es wird ein solcher natürlich auftreten:
der plastisch=ideale Styl wird objectiver in seiner ganzen Haltung
sein und ebendarum mehr entwickelnd, weniger unruhig verfahren, mehr [1343]
Gedanken-Elemente beimischen, er wird vermöge dieser Eigenschaften seinen
Standpunct weniger in jener Mitte einnehmen, wo der Jnhalt rein in
lauter Stimmung aufgeht, sondern mehr in der ersten und dritten unter
den Formen des Prozesses, die der §. unterscheidet, wogegen der charakteristische
Styl recht entschieden der rein lyrischen Mitte angehören wird;
dieser Unterschied wird sich also mit unserer auf das Allgemeine des innern
Prozesses gegründeten Eintheilung berühren, aber nur theilweise in einer
Art, worin die logische Ordnung zugleich die historische ist, er wird nicht
mit ihr zusammenfallen, vielmehr es wird sich zeigen, daß, obwohl die eine
Stylrichtung mehr auf dieser, die andere auf jener Stufe des Prozesses
ihre Stellung hat, doch auf jeder Stufe jede von beiden auftritt und
Unterschiede innerhalb derselben begründet. ─ Es könnte sich fragen, ob
nicht der Unterschied der Auffassungs-Arten der Phantasie (bildend, empfindend,
dichtend), welcher die Eintheilung der Zweige überhaupt bedingt, hier,
im Lyrischen, auch als Grund für die Unter-Eintheilung einzuführen sei.
Allein die Subjectivität bildet zu sehr den Charakter des ganzen Zweiges,
als daß dieser Unterschied hier von durchgreifender Kraft sein könnte. Es
wird sich allerdings finden, daß die erste der Formen, wie sie sich nach
unserer Eintheilung unterscheiden, mehr epische Elemente hat, von der
zweiten erhellt bereits, daß sie im engsten Sinne lyrisch zu nennen ist,
die dritte durcharbeitet das Gefühl mit der überwachsenden geistigen Besinnung
und könnte so in gewissem Sinn als dichtend bezeichnet werden;
allein im Ganzen und Wesentlichen ist dieser Unterschied demjenigen, den
wir aus dem Prozesse der Empfindung entnehmen, nur verwandt und
ähnlich, keineswegs gleich. Dieß ergibt sich, wenn wir den letzteren nunmehr
genauer, wiewohl nur in vorläufiger Kürze, ansehen. Vorbereitet ist
die Sache schon in §. 864, wo gesagt ist, daß in der Unter-Eintheilung
auf einem Puncte der Unterschied des Objectiven und Subjectiven in neuer,
eigenthümlicher Bedeutung sich geltend mache. Wenn im engsten Sinne
lyrisch diejenige Form ist, in welcher der gegenständliche Jnhalt des Lebens
ganz in Empfindung verwandelt aus dem Subjecte spricht, so wird diese
reine Mitte naturgemäß zwei Extreme neben sich haben: auf dem einen
wird die Verwandlung noch nicht ganz vollzogen sein, auf dem andern nicht
mehr in ihrer vollen Reinheit bestehen; was aber zunächst als Zeitbezeichnung
erscheint, wird sich, wie überall in den wesentlichen Sphären des
Geistes, zugleich als bleibende, nothwendige Form fixiren. Die eine dieser
Formen, welche vor die Mitte fällt, ist objectiv in dem Sinne, daß das
Subject nicht wagt, nicht vermag sein Object ganz in sich hereinzuziehen,
daß es nur zu ihm sich erhebt, an es hinsingt, zu ihm aufsingt. Man
sieht, daß hier Objectivität etwas Anderes bedeutet, als gegenständliche
Darstellung im Sinne der bildenden Phantasie; es ist darunter allgemein [1344]
zu verstehen, daß bei aller Begeisterung der Gegenstand außer und über
dem Subjecte bleibt; allerdings aber wird in der Behandlung die Objectivität
in diesem Sinn Objectivität in jenem Sinne mit sich bringen.
Jn der mittleren Form dagegen singt der Jnhalt, ganz Gefühl, Stimmung
geworden, so unmittelbar, als wäre kein Prozeß der Durchdringung vorhergegangen,
aus dem Subjecte heraus. Diese Form ist also die schlechthin
subjective. Es wird sich zwar zeigen, daß sie das Objective im Sinne
der bildenden Phantasie, des Epischen, nicht ausschließt, daß vielmehr gewisse
Gebilde der lyrischen Dicht-Art, worin dieß Element recht bestimmte Gestalt
annimmt, gerade ihr angehören; aber eben hier, wo der Stoff objectiv
gesetzt ist, wird die Behandlung um so entschiedener den rein subjectiven
Empfindungscharakter tragen. Da sowohl demnach jene erste, als auch
diese zweite, mittlere Form epische Anschauungs-Elemente zur Ausbildung
bringt, freilich jede auf ganz andere Weise, so leuchtet ein, daß die Eintheilung
der Hauptformen nicht auf dieses Moment gegründet werden kann,
vielmehr objectiv und subjectiv hier etwas Anderes bedeutet, als bildend
und empfindend. Jm andern Extreme, in der dritten Form, klingt das
Gefühl aus, kühlt sich leise zur Betrachtung ab, allein solche Auflockerung
gegen den Gedanken hin ist doch etwas spezifisch Anderes, als was wir
dichtende Phantasie nennen; diese stellt die Welt als eine im engsten Sinn
geistig bewegte dar, aber das intensiv Geistige dieser Auffassungs-Art ist
an sich durchaus nicht mit dem Verhalten zu verwechseln, worin die Betrachtung
die Oberhand gewinnt. ─ Es erräth sich nun leicht, daß diese
Formen in enger Beziehung auch zum Unterschied der Stoffe stehen,
doch kann auch der Zweifel nicht eintreten, ob nicht auf dieses Moment
die Eintheilung zu gründen sei; denn wiewohl die eine Form mehr zu dieser,
die andere mehr zu jener Sphäre von Stoffen neigt, so greift dieß doch
keineswegs durch, vielmehr umgekehrt, die Formen greifen durch den Unterschied
der Stoffe wieder durch und wenn z. B. die Lyrik des Aufschwungs
nicht wohl anmuthigen, leichten, zierlichen Jnhalt behandeln kann, so eignet
sich doch die Lyrik der reinen Empfindung sehr wohl erhabenen an und die
der vortretenden Betrachtung dehnt sich ohnedieß offenbar über jederlei
Gegenstand aus. Hiemit haben wir auch bereits den Unterschied der Grundgegensätze
im Schönen (Stimmungs-Unterschiede der Phantasie im allgemeineren
Sinne: einfach schön, erhaben, komisch) berührt; da aber trotz der
sichtbaren Beziehung der ersten Form auf das Erhabene, der zweiten auf
das Anmuthige schlechthin einleuchtet, daß die zweite auch erhaben sein
kann und daß doch zugleich sie vorzüglich das Komische ergreifen wird, und
daß die dritte sich über die Stimmungen wie über die Stoffe frei verbreitet, so
gibt es auch keine etwaige Meinung zu widerlegen, welche das Lyrische nach
diesem Prinzip eintheilen wollte. ─ Was endlich die geschichtliche Ordnung [1345]
betrifft, so bringt es der Charakter des Lyrischen mit sich, daß sie in der
logischen Eintheilung zerworfen wird. Am meisten wird dieß mit dem
Orientalischen der Fall sein, das in der Lyrik eine ganz andere Stelle einnimmt,
als in den Hauptgebieten der Kunst im Großen, wogegen die successive
Folge des Classischen und Neueren mit der logischen mehr, aber keineswegs
consequent, zusammenlaufen wird. ─ Wir bemerken nur noch, daß Hegel's
Eintheilung einen Ansatz der unsrigen enthält, ihn aber nicht vollzieht, da
in ihr die dritte Form, die betrachtende Lyrik, als Unterabtheilung dessen
auftritt, was wir als mittlere Form setzen, nämlich des Liederartigen, dagegen
die Ode, die wir ganz anders stellen werden, den mittleren Platz
einnimmt (s. Aesth. Th. 3, S. 458. 465).


§. 890.


Jn der Lyrik des Aufschwungs erscheint der Jnhalt dem Subjecte1.
wesentlich als ein erhabener, so daß es ihn nicht in sich hereinzuziehen und ganz
in Gefühlsleben umzusetzen vermag; er bleibt außer ihm, also objectiv, und es
singt, in seinen Tiefen mächtig bewegt, zu ihm hinauf: das Hymnische.
Diese Form entspricht vorzüglich der classischen Poesie; ihr direct idealer, plasti-2.
scher Styl bildet hier das epische Element nebst dem gnomischen in der breitesten
Entwicklung aus, welche das Lyrische zuläßt. Dieß verändert sich auch in den
spezielleren Formen des Dithyrambs und der Ode nicht, in welchen der
subjective Prozeß zu der Trunkenheit der ersten Aneignung des übergewaltigen
Jnhalts und dann zu der kunstvollen Bemeisterung dieses Zustands fortgeht.
Die orientalische Hymnik ist ungleich subjectiver und ebenso, obwohl in anderem3.
Tone, die romantische und die moderne.


1. Der Jnhalt „erscheint als ein erhabener“, d. h.: das Hymnische
gehört dem Bewußtsein an, das die Kräfte, welche die Welt bewegen,
ihrer Ausbreitung und Zerstreuung im einzelnen Wirklichen entnimmt und
als absolute Mächte, als Wesen für sich, als Hypostasen sich gegenüberstellt.
Es erhellt sogleich, daß die Form der lyrischen Poesie, welche sich darauf
gründet, vorzüglich dem Götter=glaubigen, dem mythischen Bewußtsein angehört,
aber keineswegs allein; vielmehr kann auch der Geist, der durch
die Aufklärung die Welt entgöttert hat, jenen großen, zusammenfassenden,
eine Jdee von ihrer Verwirklichung im Einzelnen getrennt für sich hinstellenden
Act vornehmen; ein solches modernes Gedicht wird uns eigentlich factisch
zeigen, wie der Götterglaube entstanden ist, mag es nun zur eigentlichen
Personification fortgehen oder nicht. Sei es die Freundschaft, die
Freude, jede große sittliche Empfindung, sei es eine Naturkraft, die als
eine selbständige Macht angeschaut wird, ohne daß eine eigenthümliche [1346]
Personbildung einträte: die Vollziehung dieses Schrittes scheint immer in
nächster Nähe zu schweben, wie in Hölderlin's herrlicher Hymne an den
Aether ohne ausdrückliche Personification die Alles umspannende, nährende,
labende Naturpotenz zu einem Gott wird. Dieß verändert sich nicht, wenn
Fürsten, Helden, Landschaften, Städte, Handlungen, furchtbare Ereignisse,
einzelne gewaltige Natur-Erscheinungen besungen werden: sie wachsen in
der ganzen Auffassung und Behandlung, sowie durch die speziellern Anknüpfungen
an absolute Mächte, an Götter, selbst zu Göttern an, der Weg
ist nach dieser Seite hin nur so zu sagen analytisch, bei der unmittelbaren
Wendung an das Göttliche synthetisch. Keineswegs wird nun durch die
Objectivität in diesem Sinn einer erhabenen Form das Lyrische aufgehoben;
vielmehr gerade weil vor der Uebermacht des Gegenstands das Subject zu
verschwinden droht, weil sie auf sein Empfindungsleben drückt, so ringt
dieß, in seinen Tiefen erschüttert und aufgeboten, um so gewaltiger und
schwellt sich an, dem Gegenstande näher zu kommen und ihn so zu bewältigen,
daß seine unendliche Größe als ganz vom Dichter empfunden erscheint,
es bewegt sich um ihn, häuft Prädicat auf Prädicat, muß aber doch am
Ende gestehen, daß es ihn nicht erschöpft hat, wie Haller am Schlusse
seiner Hymne auf die Ewigkeit von dieser sagt: er ziehe die Millionen
Zahlen ab und sie stehe ganz vor ihm; so löst sich der Versuch der Bewältigung
schließlich in die reine Ausrufung auf und das Verstummen in
dieser ist eben ächt lyrisch. Es bleibt bei einem Hinan- und Hinaufsingen
an den Gegenstand. Dieß ist ein Tadel, wenn man vom Lyrischen überhaupt
spricht, nicht, wenn es in besonderem Sinne von einer seiner Formen
aussagt. Nur wo diese Form einseitig in einer ganzen Epoche, wie in
der Zeit nach Klopstock herrscht, erscheint sie als Mangel. Sie hat das
ganze Recht des Erhabenen.


2. Es folgt zunächst aus dem mythischen Charakter des Hymnischen,
daß dasselbe vorzüglich der classischen Lyrik als naturgemäßes Element
entspricht. Der Begriff des Objectiven, wie er dieser Gattung des Lyrischen
zu Grunde liegt, ist zwar, wie wir zum vorh. §. gezeigt haben, von
der allgemeinen ästhetischen Bedeutung, wie wir ihn sonst anwenden, verschieden,
allein unbeschadet dieses Unterschieds tritt hier nothwendig ein
inniger Zusammenhang ein: eine Lyrik, die dem Verhalten des Bewußtseins
nach ihren Jnhalt objectiv außer und über sich behält, wird vorzüglich von
demjenigen Kunststyle ausgebildet werden, der überall im Sinne der bildenden
Kunst, und zwar der Sculptur, und im Sinne der bildend dichtenden
Phantasie, also der epischen Form, auf klare Gestaltung und Schönheit der
einzelnen Gestalt dringt. Es kann sich fragen, ob eine solche Art der Phantasie
überhaupt Beruf zur lyrischen Dichtung habe, die Antwort wird aber
sein, es werde sich ähnlich verhalten, wie mit der Malerei, welche diesem [1347]
Jdeale nicht verschlossen war, aber im plastischen Geiste behandelt wurde;
nur ist nicht zu vergessen, daß die Poesie als die geistigste Kunst in allen
ihren Sphären den verschiedenen historischen Standpuncten der Auffassung
offener sein muß, als andere Kunstformen, daß also auch die Griechen in
der Jnnerlichkeit, die sich im Wort ausdrückt, tiefer mußten gehen können,
als in der, welche sich durch die Farbe ausdrückt. Doch nicht so tief, als
die Gattung in der ganzen Jntensität ihres Begriffes es fordert, und so
blieben sie denn in der Lyrik episch und sagte ihnen ebendaher diejenige
Form besonders zu, worin der Durchdringungsprozeß des lyrischen Verhaltens
sich auf seiner ersten Stufe befindet. Die erste, im engsten Sinn episch
lyrische Gestalt tritt in den sog. Homerischen Hymnen auf; die Form des
Anrufs ist kurz, der Hauptkörper besteht in der Erzählung der Thaten des
Gottes. Es waren ursprünglich Proömien rhapsodischer Gesänge, die sich
dann ablösten und als selbständige Form ausgebildet wurden; so haben
wir hier einen Rest jenes Keimes, in welchem anfangs das Epische und
Lyrische noch ungesondert lagen. Von da schritt die Lyrik der Griechen
durch die elegische und jambische Dichtung der Jonier zur melischen und zur
chorischen der Dorier fort. Es ist die letztere, welche hieher gehört; die
elegische werden wir zur dritten Stufe ziehen, die melische entspricht dem
Lieder=artigen und ihr Charakter wird sich insofern als ächter lyrisch erweisen;
allein auch diese beiden hatten doch ungleich mehr epische Färbung, als
dasjenige, was ihnen in der neueren Lyrik entspricht, und, was das Wichtigste
ist, die Krone des Fortschritts war eben jene chorische Form der
dorischen Dichtung, welche bei aller innerlichen Erregung doch die epischen
Elemente gerade am stärksten ausbildete. Dieser Gesang, der seinen Gipfel
in Pindar erreichte, war seinem ganzen Geiste nach objectiv, monumental.
Er sprach dieß schon in seiner Form aus, denn er wurde unter Begleitung
von Musik und Tanz bei öffentlichen Veranlassungen, Gottesdienst,
Empfang und Begleitung der Sieger in den öffentlichen Spielen
stets von ganzen Chören vorgetragen. Der Jnhalt konnte wohl auch der
Sphäre des schönen Lebensgenusses angehören, aber die höhere, wahre und
herrschende Bestimmung dieser feierlichen Formen waren doch die Götter,
die Helden, das Vaterland: es ist hymnische Dichtung. Der reiche und
kunstvolle Bau der Strophe, ihre Gliederung in Strophe, Antistrophe und
Epode war das Prachtgewand für diesen gewaltigen Jnhalt, für die breiten
und tiefen Wellen der Erschütterung, womit er das Gemüth bewegte. Nun
ist allerdings gerade in dieser Gattung die sogenannte lyrische Unordnung,
die als ein Hauptmerkmal der Ode angesehen wird, heimisch geworden,
aber wir sehen zunächst von dieser „labyrinthischen Composition“ ab, wie
sie ja in der That auch erst durch Pindar ihre Ausbildung erhielt; sie hob
ohnedieß, so sehr sie damit in Widerspruch zu stehen scheint, den Grundzug [1348]
keineswegs auf, welchen diese höchst reife Lyrik mit jenen homerischen Hymnen
immer noch gemein hatte. Dieß war denn eben die epische Haltung. Es
wird eine Reihe hoher Sculpturbilder aufgestellt, der Gott, der Held, die
Stadt, die Landschaft durch Darstellung der Thaten, Schicksale in reiner
Formenpracht aufgezeigt. Der Dichter trägt aus allen Sphären, die in
Verbindung mit seinem großen Gegenstande stehen, epische Glanzpartieen
herbei, wirft auf ihn ihre vereinigten Strahlen. Die einzelnen epischen
Theile sind selten lang, aber sie laufen doch an dem gegebenen Bilde episch
fort: sie entwickeln, und wenn wir vom lyrischen Style gesagt haben,
daß er wesentlich nicht entwickle, so müssen wir nun hinzusetzen, daß der
lyrische Styl der Griechen eben hiedurch im Lyrischen das Epische behält.
Zu diesem Entwickeln gehört aber auch das Fortgehen von einem epischen
Bilde zum andern; mag es immerhin zunächst noch so sehr als ein Sprung
erscheinen: es ist doch ein Entwickeln im Sinne des Ansammelns vieler
Bilder, um den Gegenstand mehr für das innere Auge, als für das Gefühl,
in volles Licht zu setzen. Hiezu kommt nun ein anderer Zug: die starke
Herrschaft des Gedanken-Elements, des Gnomischen. Sie ist so bedeutend,
daß die Frage entstehen könnte, ob wir nicht die gesammten Formen der
ausgebildeten Lyrik des classischen Alterthums in jene Sphäre verweisen
sollen, welche wir Lyrik der Betrachtung nennen. Was nicht einen bestimmten
Gehalt ausgesprochener ernster Lebensweisheit enthielt, hätte dem Griechen
nie als ein Gedicht höherer Gattung gegolten. Daran knüpft sich von selbst
das Ausmünden nach der Seite der Willensbestimmung: Rath, Warnung,
Aufforderung. Dennoch schwimmen diese Einträge in einem hinreichend
starken Elemente gewaltiger Erregung, um den Wärme-Grad des lyrischen
Charakters zu retten. ─ Ein ganz organischer Gang der Fortbildung stellt
sich nun dar, wenn wir diese hymnische Dichtung von den homerischen
Hymnen, dann von den noch nicht so labyrinthisch, wie von Pindar, componirten
Kunstwerken der chorischen Poesie zu den Dithyramben und
von da zu jener Fixirung der kühn abspringenden Compositionsweise begleiten,
wie sie sich als Hauptmerkmal der Ode im späteren Sprachgebrauche festgesetzt
hat. Wir dürfen nämlich den Dithyramb als diejenige Form des
lyrischen Prozesses betrachten, wo der Jnhalt in das Subject herübertritt,
aber das ihm nicht gewachsene Gefäß in's Wanken bringt und überfluthet.
Er wird Stimmung des Subjects, aber dieses ist von dem zu starken Trunke
berauscht, mit der innern Betäubung kommt die technische Form in's Schwanken
und schweift ungebunden in den verschiedensten Rhythmen hin und her.
Jn Griechenland hatte dieß die bestimmte Bedeutung, daß der Dithyramb
dem Dionysos galt, der Gottheit, die, wie keine andere, eine tief mystische
Einwohnung des All-Lebens in das innerste Seelen- und Nervenleben des
Menschen darstellte. Das epische Element blieb allerdings auch hier, indem [1349]
ein Vorsänger die Thaten und Leiden des Gottes vortrug: nach der andern
Seite ein Keim des Dramatischen, woraus bekanntlich die Tragödie entstand.
Was aber den Griechen Dionysos war, das ist uns jeder Moment der
leidenschaftlich dunkeln Erregung, worin das Höchste und Bedeutendste uns
erfüllt, ohne unser eigenster Besitz zu werden, ohne zum stillen, freien und
klaren Leben des Gefühls, worin wir ganz uns selbst haben, sich abzuklären.
Ode heißt in dem intensiven Sinne, wie der Sprachgebrauch sich festgesetzt
hat, ein hoch erregter Gesang wesentlich erhabenen Jnhalts in kunstreichen
Strophen und kühn abspringender Composition. Man darf dann
streng genommen die leichteren Formen und kürzeren Strophen mit menschlich
vertrauterem, erotischem und verwandtem Jnhalt, wie sie der melischen
Poesie, der Aeolischen und Anakreontischen, angehörten, nicht Oden nennen;
will man auch das eine jener Merkmale, die kunstvoll reiche Strophenbildung
(und den Tanz) fallen lassen, so bleibt doch das andere stehen und
man wird demnach unter den Horazischen Gedichten und den neueren Nachahmungen
nach dieser genaueren Bezeichnung nur das Ode nennen, was
erhabenen Jnhalt, angespannt hohen Ton und die sogenannte lyrische Unordnung
in der Composition hat. Es gibt keine scherzende, leichte Ode,
man müßte denn schließlich an dem Merkmale des Anrufs, des antiken
Tons und Rhythmus, wie er eine selbständige Klang-Schönheit darstellt,
überhaupt sich genügen lassen, um den Begriff der Ode zu bestimmen und
jene wesentlichen Bedingungen ganz aufgeben. Was nun die Absprünge
in der Compositionsweise betrifft, so haben wir allerdings diesen Zug schon
in der Darstellung des lyrischen Charakters überhaupt aufgenommen, um
an ihm den Gegensatz der objectiven und der lyrischen Ordnung zu zeigen.
Allein diese kann ihre Eigenthümlichkeit, ihren schweifenden Charakter in
einem ungleich bescheideneren Maaße des Abspringens genugsam offenbaren;
es ist Zeit, sich zu gestehen, daß die Pindarische Methode etwas höchst
unabsichtlich Entstandenes mit einem Uebermaaße der Absicht fixirt. Die
gar zu weiten Sprünge sind eine Nachahmung jenes Jrrens der Phantasie,
das der bacchischen Trunkenheit, dem Dithyramben, angehört, und halten
mit Bewußtsein das recht eigentlich Unbewußte fest, machen es zur Manier.
Die Ode im strengeren Sinne des Worts, wonach eben die lyrische Unordnung
ein wesentliches Merkmal des Begriffs bildet, zeigt daher einen inneren
Widerspruch, durch den sie genau an die Grenze des Hymnischen fällt und
eigentlich zur Lyrik der Betrachtung fortleitet, die wir aber aus höheren
Eintheilungs-Gründen noch nicht unmittelbar folgen lassen. Hegel sagt
demnach (a. a. O. S. 458) richtig, sie enthalte zwei entgegengesetzte Seiten:
die hinreißende Macht des Jnhalts und die subjective poetische Freiheit,
welche im Kampfe mit dem Gegenstande, der sie bewältigen will, hervorbricht;
Gluth und unläugbarer Frost sind in ihr verbunden.

[1350]

3. Der erhabene Jnhalt kann tiefer in das Gemüth steigen, jener Ton
des Schütterns und Dröhnens im Jnnersten, der dem Hymnischen eigen
ist, kann wärmer, inniger erklingen, ohne daß darum das Verhalten zu
einem außer und über dem Subjecte schwebenden Gegenstande sich verändert.
Das epische und gnomische Element tritt zurück, der Styl entwickelt ungleich
weniger in Erzählungsform, sondern häuft kürzere Bilder in rascher Folge
wie Brillanten auf das angestaunte Object. Jn der alt=orientalischen Welt
waren es die Semiten, welche ein tieferes subjectives Empfindungsleben
führten, als die andern Völker (vgl. §. 433, 3.). Die Unruhe der lyrischen
Bewegtheit bildet den Charakter ihrer Poesie. Da nun aber die Grundstimmung
auch hier die erhabene ist, so ergibt sich von selbst eine bedeutende
Entwicklung des Hymnischen im Lyrischen. Es tritt nirgends so stark und
schön hervor, als in den Psalmen der Hebräer. Hegel hat (a. a. O.
S. 456) das Aufjauchzen und Aufschreien der Seele zu Gott aus ihren
Tiefen, das prachtvolle unruhige Bilderhäufen in kräftiger Kürze charakterisirt.
─ Das Mittelalter beginnt mit seinen lateinischen Hymnen wieder in
objectiverem Style, der doch so viel gefühlter ist, als der antike (Stabat
mater
u. And.); die Hymnen auf die Maria, auf die Dreieinigkeit in der
mittelhochdeutschen Poesie dagegen sind episch nur im Sinn eines unersättlichen
Drangs, an dem unerschöpflichen Gegenstande der mystischen Verzückung
jede mit irgend einer Pracht des Bildes darstellbare Seite zu
erschöpfen, der gefühltere Styl wird ganz zum heißen Tone der Jnbrunst
(man sehe z. B. Gottfried's von Straßburg Hymnen auf die Maria). ─
Die moderne Zeit hat hohe Wahrheiten, sittliche Gesetze, Natur-Anschauungen
zunächst ohne Personification zum natürlichen Gegenstand hymnischer Begeisterung.
Obwohl hier die Objectivität im Sinne gegenübergestellter
Persönlichkeit wegfällt, bleibt sie doch, wie oben bemerkt, stehen im Sinne
stets vorschwebender Nähe einer Götter=artigen Anschauung, aber die Rationalität
der Auffassung führt diese hohe Lyrik unserer Zeit doch sachte, enger
oder ferner an die Grenze der betrachtenden Poesie. So Göthe's edle
Hymnen: Gesang Mahomet's, Gesang der Geister über den Wassern, das
Göttliche, Grenzen der Menschheit, Meine Göttinn, Hölderlin's schon erwähntes:
An den Aether, ferner: das Schicksal, an den Genius der Kühnheit.
Ein Theil dieser Gedichte nennt schon Götter oder setzt vernehmlicher an,
die Jdee, die den Haupt-Jnhalt bildet, zu vergöttlichen, vollzogen ist der
Schritt in den herrlichen zwei Gebeten der Göthischen Jphigenie: „Du hast
Wolken, gnädige Retterinn“ und „Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht“,
in Hölderlin's hoch classisch und ewig wahr gefühltem „Schicksalslied
Hyperions“. Jn Göthe's „Prometheus“ dreht sich das Hymnische
merkwürdig so, daß die Hoheit der Götter eigentlich in den sie antrotzenden
Helden herübertritt. Daß das Dithyrambische eine bleibende Seelenstimmung [1351]
ist, zeigt die neuere Poesie in „Wanderers Sturmlied“ und „Harzreise
im Winter“ von Göthe. Hier sieht man die Sprünge des Dithyramben,
wie sie die Ode künstlich methodisirt hat, in wahrhafter Trunkenheit der
Stimmung. Der moderne Dichter wird hier in der rhythmischen Form sich
fesselloser bewegen, als der antike, der im wilden Wechsel doch die einzelne
rhythmische Gruppe strenger maß. Die Ode nun ist vielfach und schön
von den Deutschen nachgebildet, freilich mehr so, daß in der Form die
kürzern alcäischen und sapphischen Maaße gebraucht sind, die wir nur der
Ode im ungenauen Sinne des Worts zuerkennen, während dagegen der
Jnhalt meist hoch geht, wie es die Ode im engeren Sinne will. Klopstock,
Hölderlin, Platen haben hierin das Schönste geleistet. Wir haben solche
Erzeugnisse zu beurtheilen wie moderne Sculpturwerke, welche im classischen
Jdealstyle Götter nachbilden, oder richtiger, wie moderne Gemälde, die den
classischen Mythus mit seinen reinen Formen, aber einem Anhauch moderner
Seele behandeln: sie werden den feiner Gebildeten und ihrem Klanggefühle
immer eine Quelle reinen Genusses sein, aber niemals sich wahrhaft einbürgern,
niemals der Nation geläufig werden.


§. 891.


Die wahre lyrische Mitte, worin der Jnhalt rein im Subject aufgeht, so
daß dieses ihn ausspricht, indem es frei und einfach sich und seinen augenblicklichen
Stimmungszustand ausspricht, begreift die große Masse des Liederartigen.
Alle Grundzüge des Lyrischen (§. 884─886) gelten vorzüglich von
dieser Form. Unmittelbarkeit, Schlichtheit, Leichtigkeit, Sangbarkeit ist seine
Natur. Demnach sagt ihm menschlich vertrauter, anmuthender Jnhalt zu, doch
keineswegs ist es darauf beschränkt, es kann die höchsten Gegenstände behandeln,
die tiefsten Kämpfe des Herzens, die tragischen Leiden des Einzelnen und des
Gesammtlebens so gut, als jede Freude und inniges Naturgefühl, wenn sie
nur ganz in subjective Empfindung eingegangen sind. Aber auch das Komische
gehört in vollerer Ausdehnung nur diesem lyrischen Gebiete. Vom
Jndividuellen neigt das Lied nothwendig zum Geselligen.


Hier namentlich ist die Schwierigkeit fühlbar, daß es keine bestimmten
Formen gibt, von denen man sagen kann: dieß sind Lieder. Es ist der
Ton, aus dem die Gattung erkannt werden muß, und hiezu gibt den
nächsten und einfachsten Anhalt die Vergleichung mit dem Hymnischen.
Will man den Unterschied von diesem recht deutlich wahrnehmen, so halte man
Schiller's Hymne an die Freude und Göthe's Tischlied: „Mich ergreift, ich
weiß nicht wie“ zusammen: jener singt die Freude an, bewegt sich um sie
und zählt ihre Wirkungen auf (ob gut oder nicht gut, geht uns hier nicht [1352]
an), aus diesem singt, ganz Stimmung, ganz Gegenwart und Augenblick,
die Freude heraus. Es bedarf keines Beweises mehr, daß in diesem Gebiete
die lyrische Poesie allein ganz sie selbst ist und daß auf ihm der Dichter
seinen Beruf zu ihr bewähren muß. Schiller hat kein einziges reines Lied
und im Lyrischen kann wirklich nicht die Frage sein, wer spezifisch mehr
Dichter sei, er oder Göthe. Was jene Grundmerkmale des Liedes heißen
wollen, daß es frischweg, leicht, im Entstehen schon wie gesungen, einfach,
naiv hervorfließe, kann man an Göthe's Liedern wie an einer reinen Norm
ersehen. Vom Liede wird denn namentlich auch gelten, was in §. 886
über die Situationsfarbe des Lyrischen gesagt wurde: man muß durchsehen,
wie in einer bestimmten Lage dieser Stimmungszustand entstanden ist, in
bestimmtem Augenblicke die Welt so und nicht anders im Dichtergemüthe
gezündet hat, das innig und ewig Wahre muß doch ganz den Charakter
der Zufälligkeit tragen und das ganz Freie den Charakter des nicht anders
Könnens, denn der Dichter ist hier erzeugender Geist und reines Naturkind,
Stimmungskind, ganz in Einem. ─ Sehen wir nun nach dem Stoff=
Unterschiede, so verhält sich hier das Lied nicht ausschließend wie das Hymnische.
Es wird natürlich mit dem breiteren Theile seiner Basis sich auf
dem Boden des heiteren Lebensgenusses festsetzen, Liebe, Wein, Tanz, gesellige
Lust, Naturgenuß wird sein liebstes Thema sein, denn das menschlich Vertraute,
Kampflose schlüpft natürlich leichter ganz in das Herz, wird ganz
Stimmung, als das Hohe, Monumentale; der holde Leichtsinn in Göthe's
Vanitas Vanitatum Vanitas stellt eigentlich diese reine, freie, widerstandslose
Bewegung in normaler Reinheit dar. Allein auch das Erhabene entzieht
sich dem Liede nicht, denn es kann volle Jmmanenz im Gemüthe des Subjectes
werden. Dieß gilt denn zuerst von dem absolut Erhabenen: es tritt
als Andacht in die Seele und wird zum Liede. Andacht ist nun freilich
auch die Stimmung der Hymne, allein wir müssen hier das Wort in
dem engeren Sinne nehmen, der diejenige Religion voraussetzt, welche die Jdee
der Jmmanenz im Begriffe der göttlichen Liebe besitzt und die Bewegung
der Andacht zu Gott zu einer Bewegung der Liebe im reinen und hohen
Sinne des Wortes erhebt; die Diremtion zwischen dem absoluten Gegenstand
als einem außerweltlich persönlichen und dem Subjecte bleibt der
Vorstellung nach stehen, wird aber der That nach durch die Jnnigkeit der
Andacht wie durch einen milden Strom wieder ausgeglichen; in diesem
harmonischen Flusse ist jene Erschütterung des Hymnischen und Dithyrambischen,
wobei immer eine herbere Entgegensetzung zu Grunde liegt, verschwunden
und kann so der schlichte Erguß des innigen Liedertons eintreten.
Das Lied schließt denn natürlich auch menschlich erhabenen Jnhalt nicht
aus, es feiert Kämpfe des Staats, Freiheit, Vaterland, große Helden und
Thaten, wenn nur immer der Stoff ganz Fleisch und Blut des subjectiven [1353]
Gefühls geworden ist. Noch weniger natürlich sind dem Liede die tiefen
inneren Brüche des individuellen Lebens fremd, die Tragödie des Herzens
in der ganzen Tonleiter vom wildesten Sturme der Leidenschaft bis zum
hinschmelzenden Seufzer der Wehmuth. Jene dunkeln Abgründe der Seele
in den Liedern Mignon's und des Harfners sind doch in die reine Farbe des
Liedes getaucht. Der Kampf im Jnnern ist ein Dornenweg durch die
schwersten Brechungen, Vermittlungen, allein auf seinen Stadien schwillt
die dunkle Summe derselben zur einfachen Unmittelbarkeit und elementarischen
Gewalt des Gefühles an, wie es im Liede durchbricht. Noch ist hervorzuheben,
daß von den Stoffgebieten nun auch das landschaftliche bestimmter
wieder auftritt. Es ist dieß die einfache Umkehrung des Satzes,
daß das Landschaftgemälde wesentlich lyrisch ist (vergl. §. 698, 1.), und
nach dem dort Ausgeführten bedarf es keines weiteren Beweises, daß das
Gefühl auch ohne Vermittlung der bildenden Phantasie an die Betrachtung
der Natur anschießt, wie sie uns das Gegenbild unserer Stimmungen darbietet.
Ja dasselbe kann ─ darauf werden wir zurückkommen ─ ganz,
ohne von sich zu reden, in einem Landschaftbild aufgehen. Mit der Ausdehnung
über alle Stoffsphären ist nun aber auch die andere über die großen
Grundgegensätze des Schönen so gegeben, daß neben dem Anmuthigen und
Erhabenen die Welt des Komischen in freier Fülle sich öffnet. Jst ja doch
das Komische die im engsten Sinn subjective unter den Formen des ästhetischen
Widerstreits, ganz Wohlsein des Subjects, also ganz Stimmung.
Es fragt sich nur, ob das Lyrische nicht überhaupt zu wenig Objectivität
habe, um dem Lachen erst den Anhalt des komischen Vorgangs zu geben;
allein es besitzt ja das Wort und ist daher in diesem Gebiete natürlich
nicht so beschränkt wie die Musik. Der Vorgang muß nicht ein Ereigniß
in der Außenwelt sein, er kann auf innern Widersprüchen beruhen, die der
Witz aufdeckt, und dieser, wenn nur getragen vom warmen Flusse der
Stimmung, hebt keineswegs den Charakter des Liedes auf. Wir werden
aber bald sehen, daß das Lied sogar im Sinne der Erzählung objectiv verfahren,
also auch einen äußern Vorgang komischer Art darstellen kann;
vorläufig weisen wir nur auf Göthe's ächt komische Schlagwirkung in
„Schneider-Courage“. ─ Das Gefühl ist sympathetisch; am meisten das
schlichte und naive; ertönt der Hymnus in vollster Kraft als chorischer
Gesang, so muß noch gewisser das Lied zur vollen Strömung vereinigter
Empfindungsflüsse, zum Ausdrucke des Gemeingefühls neigen. Diese Seite
tritt hier mit solcher Stärke hervor, daß sie sogar eine Unter-Eintheilung
in individuelle und gesellige Lieder nahe legt, und die letzteren sprechen
entweder die momentane Gesammtstimmung Solcher aus, die zu Andacht,
Trauer, Genuß, oder die eingewurzelte Solcher, die bleibend in einem Stande
vereinigt sind, beides natürlich in Anknüpfung an eine bestimmte Situation. [1354]
Welche Stände am meisten im Liede vertreten sein werden, ergibt sich aus
§. 327, 3. und §. 330. Das Lied gewinnt durch diese anschmiegende,
umfassende, vorzüglich sympathetische Natur unabsehliche Bedeutung für das
Leben, schließlich für die Geschichte einer Nation; es spricht Grundgefühle
aus, die in jeder Brust leben, verstärkt sie rückwirkend, führt in Schlachten,
tröstet in Niederlagen, weckt vom politischen Schlummer auf, knüpft sich an
Alles, begleitet jede Thätigkeit, jeden Genuß.


§. 892.


1,

Es folgt aus der Stellung des Liedes in der reinen Mitte des Lyrischen,
daß sein Styl vorzugsweise der in §. 887 angegebene ist. Doch kehrt innerhalb
dieses Charakters der Unterschied eines verhältnißmäßig mehr objectiven darstellenden,
offenen und hellen und eines mehr innerlichen, abgebrochenen, dunkeln
und verschleierten Styls zurück. Jener gehört der classischen, beziehungsweise
2.der romanischen, dieser der germanischen Poesie an. Derselbe Styl-Unterschied
macht sich aber noch in anderer, bleibender Weise geltend, nämlich in dem
Verhältnisse zwischen der Volkspoesie, deren eigentliche Lebensform das
Lied ist, und der Kunstpoesie.


1. Es ist schon im vorh. §. gesagt, daß die Grundmerkmale des Lyrischen
keiner andern Form in so vollem Sinn eignen können, als dem Liede;
die Anwendung dieses Satzes auf den Styl wurde ihrer Wichtigkeit wegen
hieher verschoben. Es ist aber der Lieder-Styl eben als ächt lyrischer mit
diesem schon geschildert und setzt sich jetzt nur dadurch näher in's Licht, daß
die Unterschiede beleuchtet werden, die innerhalb dieses Charakters wieder
eintreten. Dem Liederartigen entspricht bei den Griechen das, was im
engeren Sinne Melos hieß: d. h. der Form nach, was, in gleichen kurzen
Verszeilen oder leichteren, kürzeren Strophen gedichtet, von einem Einzelnen
mit der Begleitung der Lyra vorgetragen wurde, dem Jnhalte nach, was
wohl auch politisch, kriegerisch und überhaupt ernst sein konnte, vorzüglich
aber der individuellen Erregung durch Wein, Liebe oder irgend einer andern
Leidenschaft galt, und dem Tone nach, was ganz und wesentlich Stimmung
war. Diese Form ist von der Aeolischen Lyrik ausgebildet; zu Alcäus und
Sappho ist, obwohl Jonier, Anakreon zu stellen. Die Jnnigkeit, die den
Styl des Liedes bedingt, kann bei den Griechen freilich nicht in jene Tiefe
gehen, wie bei den neueren Völkern, denen die innere Unendlichkeit sich
erschlossen hat; das Jnnerlichste erscheint wie eine nach innen geworfene
Sinnlichkeit, das Seelenvollste glüht und wallt in einem heißen Elemente
der Leidenschaftlichkeit, die sich ganz und unreflectirt in den Moment versenkt.
Bei Anakreon allerdings wird die tiefe Bebung der Leidenschaft zum leichteren, [1355]
lebensfrohen Spiele, zum freieren Schweben. Dieser ächt lyrische
Ton des classischen Styls ist nun aber schon darum mehr mit episch objectiven
Elementen getränkt, weil jede Lebensmacht in Göttern angeschaut wird,
im Gott aber die innere Erregung immer wieder als herausgenommen aus
dem Jnnern des Menschen, als gegenständliche Erscheinung sich hinstellt.
Freilich fallen die ausdrücklich epischen Theile der hymnischen Poesie, die entwickelten
Schilderungen weg, aber das Gefühl selbst entfaltet sich an dem Bande
der klaren Göttervorstellung in bestimmtem, hellem Bilde, deutet nicht, zurücksinkend
von dem Versuche, sich auszusprechen, dunkel träumend auf noch
unausgesprochene, unerschöpfliche Tiefen, es verläuft plan, bis es in seiner
Darstellung gesättigt ist. Ebendarum ist das Gedanken-Element auch hier
durchaus stärker, als in dem neueren Liede, es spricht sich über Zeitläufe,
Göttermacht, Lebensgrundsätze direct in Sätzen aus, die wie feste Pfeiler
im lyrischen Wellenspiele stehen. Der sympathetische Trieb des Liedes sprach
sich unter And. in der besondern Form der Lieder beim geselligen Mahle,
den Skolien, aus. ─ Der lyrischen Poesie der romanischen Völker werden
wir ihren bedeutendsten Platz an einer andern Stelle anweisen; doch fehlt
ihnen nicht das rein gefühlte, frischweg gesungene Lied, obwohl es in der
Kunstpoesie, wenigstens Spaniens und Jtaliens, durch Ausbildung jener
verschlungenen Formen, die einen andern Ton, als den des Liedes, mit sich
bringen, frühe fast ganz verschwindet. Was man nun hier ächt liederartig
nennen kann, hat allerdings auch das schöne Helldunkel, das träumerisch
Andeutende, was die Empfindungssprache der neueren Völker von jener der
alten unterscheidet; wir erinnern statt unzähliger anderer Züge nur an das
italienische Lied, das Göthe im „Nachtgesange“ nachgebildet hat, und seinen
so ächt lyrisch in's dunkel Gefühlte verschwebenden Refrain: dormi, che
vuoi di piu
? Doch verbirgt sich auch in diesem Gebiete die Verwandtschaft
der romanischen Völker mit der classischen Anschauung nicht; es ist im
Ganzen und Großen Alles mehr heraus am hellen Sonnenlichte, schon die
Sprache bringt den offenern Klang, das vom Jnnern gelöstere Bild, und
der Vers neigt doch überall schon zu den Verschlingungen, die ein Wohlgefallen
an der Form für sich ausdrücken. Die Franzosen bewegen sich
auch in der Kunstpoesie anmuthig im leichten Liede, im chanson, aber die
Leichtigkeit hat hier auch die Bedeutung des spielenden Leichtsinnes, der
nichts tief nimmt. Der liebenswürdige Béranger, lebensheiter wie Anakreon
und doch warm für jedes Große, vor Allem für die Freiheit, aber bei alledem
ohne eine gewisse letzte Resonanz, die nur das Gemüth der germanischen
Völker kennt, ist das reinste Bild der französischen Gefühlsweise. Die
ganze Gewalt der dunkel verzitternden Tiefe gehört dem deutschen und
englischen Liede und zwar dem Kunstliede wie dem Volksliede. Solche
hingehauchte Strophen, solches tiefe Ahnen wie in Göthe's „Wonne der [1356]
Thränen“, in den beiden: „Wanderers Nachtlied“ und „ein Gleiches (Ueber
allen Gipfeln ist Ruh' u. s. w.)“, wie in jenen Liedern, die wir als Grundtypen
lyrischen Charakters in §. 885 und 886 näher betrachtet haben, solches
dämmernde Beschleichen wie in Jägers Abendlied oder „An den Mond“ haben
ähnlich nur die Engländer und Schotten aufzuweisen in dem eigenthümlich
beflorten, wie in Nebeln verzitternden Tone, der aus ihrem Volkslied in die
neuere Kunstpoesie Byron's, Moore's, Shelley's, Burn's, Campbell's und
der Dichter der sog. Seeschule übergegangen ist. Man kann namentlich hier
die ergreifende Wirkung des Refrains erkennen, denn er ist der brittischen
und schottischen Poesie besonders eigen. ─ Wir haben uns hier nicht ausdrücklich
über das Mittelalter ausgesprochen: nicht als hätten wir vergessen,
daß seine Phantasie vorherrschend die empfindende war; aber die ganze
Bildungsform war doch noch so weit episch, daß dieser Zweig überwog
und das Lyrische, freilich zum Schaden des Gattungscharakters, sich in ihn
warf. Zugleich war es allerdings die wirkliche Lyrik, worin die Knospe
des neu aufgegangenen Gemüthslebens sich erschloß; die Minnepoesie, aus
dem älteren Volkslied hervorgegangen, ist eine Erscheinung voll Lieblichkeit,
allein sie wird bald monoton durch die Wiederkehr desselben Jnhalts, conventionell
in dem methodisirten Cultus der Frauen und des Frühlings und
die kunstreiche Form leitet, wie schon früher bemerkt wurde, alsgemach die
Jnnigkeit der Stimmung nach der Seite des Gefäßes ab. Hier erkennt
man, daß das Bewußtsein des Mittelalters zu weltlos arm, noch zu wenig
von vielseitigen Beziehungen des Lebens geschüttelt war, und ein Walter
von der Vogelweide steht an Reichthum der Persönlichkeit und ihrer Jnteressen
für die reale Welt fast einzig da; das Volk, trotzdem, daß sein inneres
Leben noch einfacher sein mußte, als das des ritterlichen Standes, war doch
in unbefangnerem Verkehr mit der Wirklichkeit, als dieser, den der Geist der
Kaste abschloß, und was seinem Seelenleben an Reichthum der Saiten fehlte,
ersetzte die Frische und Fülle der Reize, die von jener ausgiengen. Wie daher
die Minnepoesie aus der Volkspoesie herkommt, so muß sie, nachdem sie
sich in Künstlichkeit ausgelebt, der letzteren wieder weichen, denn der Geist
des Volkes ist inzwischen, gegen das Ende des Mittelalters, ungleich
erfahrungsreicher und aufgeweckter geworden und am Ende des fünfzehnten,
Anfang des sechszehnten Jahrhunderts tritt die herrliche Blüthe des Volkslieds
ein, auf dessen bestimmtere Auffassung wir längst hingeleitet sind.


2. Der Unterschied der Volks- und Kunstpoesie ist schon in §. 519
aufgestellt. Hier, im lyrischen Gebiete, hat er seine eigentliche Stelle; denn
das Epische im ursprünglichen Volksgesange verewigt sich, wie wir schon
ausgeführt, nur, indem es aus dem Schooße des Lyrischen heraus und in
die Hände einer höheren, auf der Schwelle der Kunstpoesie stehenden Bildung
übertritt, und es bleibt dem Volke das, was einst ein Theil des Ganzen [1357]
war, das Lyrische, zur stillen Pflege, die, in ihrem Thun wesentlich um
keine Belauschung wissend, endlich doch belauscht wird und ihr schönes,
heimliches Werk in den Garten der Oeffentlichkeit hinübergetragen sieht.
Was heißt Volk, wenn man vom Volksliede spricht? Es ist ursprünglich,
ehe diejenige Bildung eintrat, welche die Stände nicht nur nach Besitz,
Macht, Recht, Geschäft, Würde, sondern nach der ganzen Form des Bewußtseins
trennt, die gesammte Nation. Da ist kein Unterschied des poetischen
Urtheils; dasselbe Lied entzückt Bauern, Handwerker, Adel, Geistliche, Fürsten.
Nachdem nun diese Trennung eingetreten ist, heißt der Theil der Nation,
der von den geistigen Mitteln ausgeschlossen ist, durch welche die Bildung
als die bewußtere und vermitteltere Erfassung seiner selbst und der Welt
erarbeitet wird, das Volk. Allein dieser Theil ist das, was einst Alle waren,
die Substanz und der mütterliche Boden, worüber die gebildeten Stände
hinausgewachsen sind, aus dem sie aber kommen. Von denjenigen, die in
unbestimmter Mitte stehen, nicht mehr naiv und doch nicht gründlich gebildet
oder durch Noth abgestumpft und verwildert sind oder das Raffinirte
der Bildung ohne ihr Gegengift sich angeeignet haben, ist nicht die Rede,
sondern von der Masse, die in der alten, einfachen Sitte wurzelt, die ihre
Bildung auch hat, aber eine solche, welche der die Kluft bedingenden Bildung
gegenüber Natur ist. Diese ganze Schichte lebt ein vergleichungsweise
unbewußtes Leben und weil die lyrische Poesie wesentlich ein Erzeugniß
nicht des hellwachen, sondern des als Seele in Natur versenkten, ahnenden
Geistes ist, so liegt gerade hier ein besonderer Beruf zu dieser Dichtart,
dessen reichere Erfüllung nur wartet, bis die dämmernde Volksseele vom
schärferen Geiste der Erfahrung angeweht wird, ohne doch ganz zum Tageslichte
der Reflexion aufgerüttelt zu werden. Jn diesem Boden erwächst nun
jene Kunst ohne Kunst, deren Grundzug die Schönheit der Unschuld ist, die
„nicht sich selbst und ihren heil'gen Werth erkennt“. Sie ist nur möglich
in unmittelbarer Verbindung mit der Musik, das Volkslied wird singend
improvisirt, pflanzt sich nur mit seiner Melodie fort, denn hier wird nicht
geschrieben und gedruckt. Der Dichter tritt nicht hervor, wird nicht genannt,
Niemand fragt nach ihm, er hat im Namen Aller gesungen, das Subject
isolirt sich ja auf der ganzen Bildungsstufe nicht, es gibt nur Ein Gesammtsubject,
dieß ist das Volk, und das Volk ist eigentlich der Dichter, es gibt
keinerlei literarisches Jnteresse, Jnteressantsein und Jnteressantseinwollen, kein
kritisches Urtheil; was schön ist, erfreut, weil man es an der Rührung
fühlt. Dieß ist das Waldesdunkel, wodurch in §. 519 die wahre Geburtsstätte
des Volkslieds bezeichnet ist. Lieder aus der Sphäre der bewußten
Bildung, welche populär werden und, weil sie dem Volkstone gut nachgefühlt
sind, selbst in Volksmund übergehen, sind darum nimmermehr Volkslieder
zu nennen. Daher nun die in dem genannten §. aufgestellten Züge [1358]
des Volkslieds, seine Mängel und seine Schönheiten, zu denen in §. 886
noch der weitere der überall lebendig fühlbaren Situation, der Lebenswahrheit
gefügt worden ist. Man kann die Mängel in dem Bilde zusammenfassen,
daß das Volkslied durchaus einen Erd- und Wurzel-Geruch mit sich
führt, daß man die Blume nie ohne diesen Beigeschmack bekommt, dafür
hat sie selbst um so frischeren Duft. Die Kunstdichtung, die nicht periodisch
aus dem frischen Boden dieser Waldblume sich verjüngt, bildet nur seidene
Blumen. Sie wird vor Allem sich zu sehr dem entwickelnden, hell beleuchtenden
Styl hingeben, ausmalen, beweisen, rationell aufzeigen; dort lernt
sie den ächten, helldunkeln, springenden Styl, wie er freilich bis zum
unkünstlerisch Verworrenen, Unverstandenen, Zusammenhangslosen fortgeht,
an spezifischen Taktlosigkeiten leidet, der Volkstracht ähnlich, die in so vielen
Gegenden nicht weiß, wo die Taille hingehört, die aber auch nie gemacht,
immer wahre Natur ist. Das Volkslied ist Gemeingut aller culturfähigen
Völker; außer den schon genannten ist namentlich die slavische Nation reich,
die weichen und wehmüthigen Klänge ihrer verschiedenen Stämme haben
aber nicht das Mark der germanischen. Die Verjüngung der Kunstpoesie
durch die Volkspoesie geschieht namentlich auch durch Wechselwirkung der
Literaturen, durch die Erkenntniß, daß die Dichtkunst „eine Welt= und
Völkergabe“ ist. Kein Moment der Einwirkung des Volkslieds auf die
Kunstdichtung war so bedeutend, als der, da Percy's Sammlung in England,
stärker und früher noch entscheidend in Deutschland zündete, die
Göttingerschule zu den ersten frischeren Lauten geweckt wurde, Bürger die
erste wahre Ballade dichtete, Herder die Stimmen der Völker sammelte und
Göthe's Genius sich zu diesem frischen Borne beugte, um zu trinken.


§. 893.


1.

Es widerspricht dieser Natur des Liedes nicht, daß es bestimmte objective
Formen hervorbringt, vielmehr sie zeigt sich gerade dadurch, daß sie das Gegen-
2.theil des Subjectiven setzt und doch ganz in ihren Stimmungston taucht. Die
eine Art der Objectivität besteht darin, daß der Dichter einen Gemüthszustand
nicht als den seinigen, sondern den einer andern Person ausspricht, oder daß
er in eigener Person vortragend ein Sittenbild oder ein Naturbild gibt; die
3.andere ist episch in dem bestimmten Sinne des Worts, daß eine ergreifende
Handlung als vergangen erzählt wird, wobei der Gegensatz der Style an
die schwankende Unterscheidung von Ballade und Romanze sich unbestimmt
anlehnt und das Lyrische als Dialog durchbrechend auch dem Dramatischen sich
4.nähert. Die meisten dieser Formen, namentlich die letzte, gehören sowohl der
Volkspoesie, als der Kunstpoesie an.

[1359]

1. Es kann auffallen, daß wir diese Gruppen von objectiven Formen
zum Liede rechnen, das im engsten Sinne subjectiv ist. Man unterscheide
aber die Objectivität, von der es hier sich handelt, wohl von derjenigen,
welche dem Hymnischen zu Grunde liegt: in diesem Gebiete blieb das
Subject außerhalb des Gegenstands und wandte sich nur, obwohl tief
bewegt, an ihn, im gegenwärtigen setzt das Subject den Gegenstand als
einen solchen, der erst durch sein Jnneres gegangen ist; nicht als handle
es sich um einen Act reiner Fiction, vielmehr der Dichter hat sich ganz
und ohne eigenes Bewußtsein über jene tiefste Bedeutung des Lyrischen,
wonach sich in ihm die Subjectivität als Centrum der Welt erweist, an
das Object hingegeben, von ihm durchziehen lassen, ebendadurch aber, indem
er ganz passiv scheint, es mit seinem Jnnern ganz durchdrungen, ganz
in Stimmung umgewandelt, und indem er es wiedergibt, kommt es nun
zu Tage ganz getaucht in lauter Bebung des Gefühls. Man sieht den
Prozeß nicht mehr, der Erfolg tritt ganz als unmittelbare Thatsache auf.
So erscheint der ächt lyrische Charakter des Liedes gerade da in seiner
vollen Kraft, wo er sich an seinem Gegentheile geltend macht, indem er
im Objectiven und Vermittelten eben recht subjectiv und unmittelbar ist.


2. Die Objectivität tritt in zweierlei Form auf, immer als Gegenstand,
welcher der Anschauung geboten wird, aber in der einen Gruppe gegenwärtig,
wiewohl dabei eine Succession von Momenten sich abwickeln kann,
in der andern vergangen. Die erstere, die wir zunächst in's Auge fassen,
scheint viel unzweifelhafter lyrisch, denn die Vergangenheit begründet ein
stärkeres Zurücktreten des Subjects vom Object. Dieß gilt jedenfalls von
der ersten Form dieser Gruppe: es ist die einfache Form der Verkleidung,
wo der Dichter aus der Maske einer zweiten Person oder, wie in so vielen
geselligen und Standes-Liedern, aus einer Vielheit von solchen spricht; er
hat sich völlig in den Zustand der andern Persönlichkeit hineinempfunden,
so stellt er doch ganz seinen eigenen Stimmungszustand dar und liegt daher
das Lied, das auf diesem Acte beruht, dem objectlos reinen Lied am nächsten.
Man braucht gar kein besonderes Gewicht darauf zu legen, daß die Stimmung
oft in dem engeren Sinn die eigene des Dichters ist, wie im Mignon=
Liede: „Kennst du das Land“, wo Göthe mit der fremden seine eigene
Sehnsucht nach Jtalien ausspricht, oder in so unzähligen Liedern, wo der
Dichter Empfindungen so allgemeiner Art, daß er sie sicher auch persönlich
erlebt, wie unglückliche Liebe, Weinlust, in einer bestimmten Maske, als
Hirt, Jäger, Musikant u. s. w. und mit einer bestimmten Situation ausspricht:
er kann sich in spezifischere Lebensformen, Zustände, Situationen
versetzen, welche nie seine eigenen sein konnten, und sie doch so tiefgefühlt
wie eigene und selbsterlebte wiedergeben. Wir erinnern statt vieler
Beispiele nur an jenes Gebet Gretchen's im Faust, an die Lieder des [1360]
Harfners im W. Meister, an Heine's „Hirtenknaben“. Rein menschlicher
Gehalt ist natürlich auch im Spezifischen vorausgesetzt. Vielleicht die ganze
Hälfte des lyrischen Parnasses gehört dieser einfachen Uebertragungsform
an. Auch in die Natur kann der Dichter sein Jnneres legen und aus ihr
sprechen lassen, wie Göthe in: „der Junggesell und der Mühlbach“ oder
wie Anakreon durch seine Taube sagen läßt, wie es sich bei ihm lebt. ─
Die zwei andern Formen dieser Gruppe sind viel weniger unmittelbar:
der Dichter gibt ein kurzes Sittenbild, kleines Landschaftgemälde; er tritt
nicht im eigenen, auch nicht im Namen eines Andern auf, er zeigt ein
Object, aber ein gegenwärtiges, auf und läßt dasselbe so ohne alles
weitere Zuthun für sich sprechen. Es scheint nichts einfacher, als ganz auf
den eigenen Vortrag des Gefühls zu verzichten, es ganz in den Gegenstand
zu versenken, aber dieß Verzichten geschieht mit mehr Bewußtheit, als es
scheint, und zugleich hängt die Richtung mit denselben Ursachen zusammen,
aus welchen in der neueren Zeit das Sittenbild und die Landschaft in der
Malerei eine so bedeutende Rolle spielt: dem Jnteresse für die Aufdeckung
immer neuer Länder, Zonen, den ethnographischen, naturwissenschaftlichen
Neigungen, und allerdings zugleich der Sehnsucht nach Frischem, von der
Sündfluth der Reisenden nicht Abgelecktem, also in Culturmüde, in idyllischem
Bedürfnisse. So sind denn diese Formen sehr modern. Bei Heine hatten sie
entschieden noch subjectiveren Ton, wie sein unheimliches Bild des Jägerhauses
„Die Nacht ist feucht und stürmisch“ (Heimkehr N. V), des Pfarrhauses
(N. XXVIII) „Der bleiche, herbstliche Halbmond“, das Völkerbild:
„Wir saßen im Fischerhause“ (N. VII), das rührende kleine Gemälde:
„Das ist ein schlechtes Wetter“ (N. XXIX), die liebliche Berg-Jdylle aus
dem Harze, diese nur leider mit dem blasirten cremor tartari stark vermischt;
ebenso die vielen tief bewegten Landschaftbilder; die berühmten Strophen
von der Fichte und Palme gehören nicht der vorliegenden, sondern jener
ersten Form an, weil sie, obwohl in schlagend einfacher Objectivität, doch
durch eine poetische Fiction einem Naturgegenstande ganz menschliches Empfinden
leihen. Lenau's Bilder magyarischer Zustände und Haiden entwickeln
bereits mehr das Object an sich und Freiligrath wird ganz zum glühenden,
aber auch seinen Pinsel sehr bewußt führenden Maler menschlichen, thierischen,
landschaftlichen Lebens aus der Wildniß, wohin der Fuß der Cultur nicht
getreten. Das sanfte und schöne Gemüth C. Mayer's liebt es besonders,
mit völliger Verzichtung auf ein Wort im eigenen Namen kleine Bilder
friedlich heimlicher Landschaft aneinanderzureihen. Recht und Fug solcher
lyrischen Objectivität kann nach dem Obigen nicht bestritten werden, nur
wechsle sie öfter mit directem Aussprechen der Stimmung, denn schließlich ist
sie doch ein Zurückhalten, das im Fortgang ermüdet, weil man der Natur
der Gattung nach darauf wartet, die Menschenstimme selbst zu vernehmen.

[1361]

3. Die Ballade und Romanze sind Abkömmlinge der alten Heldenlieder,
die zuerst einzeln gesungen, dann zum Epos fortgebildet und zusammengefügt
wurden; sie leiten also zu jener mehrfach erwähnten elementarischen
Form zurück, wo das Lyrische und Epische noch im Keime vereinigt
lagen. Allein nachdem das Letztere sich zu einer eigenen Gattung ausgesondert
hat, ist der Theil des gemeinschaftlichen Keimes, der diesem Zuge
nicht folgte, ein anderer geworden: er hat, obwohl dem Stoffe nach episch,
lyrischen Charakter angenommen. Episch ist vor Allem das Moment der
Vergangenheit, wodurch diese Form von der vorhergehenden Gruppe
sich unterscheidet; aber es bewirkt jetzt nicht mehr die frei über dem Gegenstand
schwebende, ausführlich zeichnende Haltung des Dichters, sondern
dieser legt sich mit seiner Empfindung ganz in den Gegenstand, als ob derselbe,
zwar als ein vergangener erzählt, zeitlich wie räumlich gegenwärtig
wäre; die Zeichnung wird dem Tone untergeordnet, der ganze Hauch und
Wurf wird subjectiv, bewegt, der Gang übersteigt rasch die retardirenden
Elemente und eilt zum Schlusse, der Rhythmus baut sich musikalisch in
lyrischen Strophen, das epische Lied entsteht mit der Melodie oder nach
einer vorhandenen Melodie, lebt im Volksgesange oder muß doch, wenn es
ächter Kunstpoesie angehört, den Charakter des Sangbaren tragen. Dem
alten Heldenliede sieht man ferner die Neigung an, sich als Glied in ein
größeres Ganzes zu fügen, es setzt die Kenntniß einer umfassenden Sage
voraus; Ballade und Romanze dagegen stellt einen Stoff für sich, ähnlich
wie die Novelle im Unterschied von dem Roman eine Situation, abgeschlossen
hin, behandelt daher auch nicht leicht mehr Theile der Heldensage, sondern
vereinzelte Ereignisse und Handlungen, Mordgeschichten, Schicksale der Liebe,
Kriegsauftritte u. s. w., die aber allerdings den ächten Jnhalt vorzüglich
dann liefern, wenn sie vorher von der Sage poetisch zubereitet sind, wohl
auch Elemente des Mährchenhaften, Geisterhaften aufgenommen haben,
worin tiefer und rein menschlicher Sinn eingehüllt ist. Die nähere Geschichte
ist noch zu stoffartig und prosaisch versetzt und führt mehr zur
poetischen Erzählung. Alle diese Merkmale weisen der epischen Lyrik im
Unterschiede vom Epos den ahnungsvoll charakteristischen, nicht entwickelnden
Styl zu; dennoch ist es natürlich, daß auch innerhalb dieses Bodens
der Gegensatz eines relativ helleren, subjectiv klaren, mehr gegenständlich
ausführenden und in diesem Sinne plastisch idealen Styls gegen einen im
engeren Sinne malerisch helldunkeln sich von Neuem erzeugt. Die classische
Dichtung bietet nichts für diese Stelle, im Alterthum blieb nach der Ausscheidung
des Epos keine epische Form von lyrischem Charakter zurück.
Dagegen tritt der Unterschied der Stylprinzipien in der neueren Poesie zunächst
als ein nationaler auf und lehnt sich so an die Namen Romanze
und Ballade. Ballade ist zwar ein italienisches Wort und bezeichnet ein [1362]
Tanzlied, das ursprünglich die bestimmte rhythmische Form von drei verschlungenen
Strophen mit Refrain hatte, allein wie es in England stehend
wurde als Name für das epische Lied, wie es dort und in Schottland sich
ausbildete, so verband sich damit der Sinn eines bestimmten Charakters der
Behandlung, in dem wir ein reines Bild jener zweiten Stylrichtung haben,
und die rhythmische Form bewegte sich frei in heimischen Maaßen. Es ist
die nordische Stimmung mit ihrem bewegteren, ahnungsvolleren, mehr
andeutenden, als zeichnenden Ton, ihrem stoßweisen, Mittelglieder überspringenden
Gange, es ist, was Göthe die mysteriöse Behandlung nennt,
welche der Ballade zukomme. Der Name Romanze hat sich in Spanien
für das epische Lied festgesetzt und das äußere, rhythmische Merkmal ist der
Trochäus, gewöhnlich in Tetrametern, welche fortlaufend assoniren. Es ist
aber nur natürlich, daß wir mit dem Namen auch den Begriff einer bestimmten
Behandlung verbinden und zwar derjenigen, wie sie dem romanischen
Völkergeist entspricht und eben in den spanischen Romanzen vorzüglich
sich zeigt: nämlich jener helleren, durchsichtigeren, ruhigeren, mehr episch
entwickelnden, mehr plastischen. Besteht nun dieser Gegensatz zunächst als
ein nationaler, so hindert nichts, denselben, wie er innerhalb der Literatur
einer Nation, namentlich der deutschen, jederzeit wieder auftreten und
bestehen wird, mit jenen Namen zu bezeichnen, nur geschehe es mit
dem Vorbehalte, daß man damit nicht ängstlich ausmessen und abstract
Alles eintheilen will; sonst thäte man besser, mit W. Wackernagel, der
(Schweiz. Archiv f. histor. Wiss. B. 2, S. 250) die Unterscheidung rein
auf das Metrische zu beschränken. Der Ballade kommt vermöge des oben
bezeichneten Charakters ihrer Bewegungsweise genauer das Merkmal des
dramatischen Ganges zu und dieß widerspricht keineswegs dem rein Lyrischen,
Beschleierten, Beflorten ihres Tons, das sich wie Moll zu dem Dur der
Romanze verhält. Das Drama beschleunigt, wie wir sehen werden, seinen
Gang, wirft die Hemmungen rascher nieder, als das Epos, motivirt tiefer
aus dem Jnnern, weniger umständlich und nur bedingt aus dem Aeußern;
dieß thut es, weil es die Welt als eine von innen heraus bestimmte darstellt;
die lyrische Poesie aber ist, wie sie nach der einen Seite vom Epos
herkommt, nach der andern eben hierin der Durchgang, aus dem das
Drama hervorgeht; hier wird die Welt in's Jnnere gezogen, zur Bewegung
von innen heraus bearbeitet, zubereitet, durch Lichter aus dem Jnnern beleuchtet.
Wirft sich nun das Lyrische episch auf Erzählungsstoff, so wird
es also gerade je intensiver lyrisch, desto mehr diesen Stoff in einer Weise
innerlich durchwärmen, daß seine wallende Bewegung auf die Nähe des
Dramatischen hinweist. Es ist keineswegs ein blos äußerlicher Zug, daß
dieser Styl ungleich mehr, als der Romanzenstyl, die dialogische Form liebt.
Hier werden die Sprechenden nicht weiter genannt, der Dichter hat sich, wie [1363]
der dramatische, in sie verwandelt; Momente der Handlung sind zwischen
den Reden verschwiegen, es ist vorausgesetzt, daß man sie sich vorstelle, die
Anschauung derselben aus dem Gesprochenen sich erzeuge, wie im Drama,
sofern die Schauspielkunst es nicht ergänzt. Jn der bekannten schottischen
Ballade Eduard ist z. B. nicht erzählt, daß der Mörder mit blutigem
Schwerte vor seine Mutter tritt, es geht sogleich aus der Anrede hervor:
„warum ist dein Schwert von Blut so roth?“ Jn diesem Ueberspringen,
Ahnenlassen liegt etwas Banges und so ist mit solchem Style auch die
Neigung zu tragischen Stoffen gegeben; man kann sagen, daß das Nibelungenlied
in seiner Stimmung als tragisches Epos eben zugleich mehr
balladenartig sei, als das Homerische Heldengedicht, und es ist merkwürdig,
daß in England zu der Zeit von Shakespeare's Auftreten beliebte Volksballaden
den Stoff zu manchen Dramen gaben. Doch wurden auch heitere
Balladen zu Komödien verwendet, und unser Satz will nicht sagen, daß die
Ballade nothwendig tragisch sei, so wenig, als der Romanze blos heiterer
Jnhalt zugeschrieben werden soll. Ja der Ballade sagt ausdrücklich auch das
Komische zu, denn die subjectivere Durchschüttlung des Objectiven erzeugt
mit ihren raschen Beleuchtungen den komischen Contrast, wie den erhabenen.
Die vordrängenden Jamben und Anapäste, welche namentlich die schottische,
englische Ballade liebt, entsprechen dieser springenden nordischen Unruhe, wie
die fallenden Trochäen der romanischen Ebenmäßigkeit und stetigeren Beleuchtung
der Dinge, aber der relative Fortbestand des innern Gegensatzes
innerhalb einer National-Literatur kann nicht weiter nur an diese Formen
gebunden sein. Auch die Neigung zum Geisterhaften, die jenem helldunkeln
Tone näher liegt, als diesem klaren, hängt mit unheimlich düsterem Jnhalt
zwar gerne, doch nicht schlechtweg zusammen, die wunderbaren Mächte
können auch neckisch, hülfreich wirken. Selbst die reinste, anmuthvolle
Heiterkeit des Jnhalts hebt den Balladencharakter nicht auf: der Junggesell
und der Mühlbach, der Edelknabe und die Müllerinn von Göthe weisen sich
durch die völlige Versenkung des Gefühls in den Stoff, die ihn dialogisch
selbst sprechen läßt und alle Mittelglieder überspringt, noch genugsam als
Balladen aus. ─ Es ist aber noch eine andere Seite des Unterschieds
hervorzuheben, die dem Bisherigen auf den ersten Blick zu widersprechen
scheint. Viele spanische Romanzen sind von der Art, daß sie den Schritt
zum Epischen, d. h. jetzt zunächst einfach zum Erzählen, nur halb vollziehen:
der Dichter redet seine Personen an, spricht sein Gefühl über sie, über ihr
Schicksal direct aus, erzählt im Präsens und gibt oft statt einer ganzen
Begebenheit nur eine Situation. Man lese nun von Uhland: der Traum,
Sängers Vorüberzieh'n, der nächtliche Ritter, der kastilische Ritter, S. Georgs
Ritter, Romanze vom kleinen Däumling, Ritter Paris, der Räuber und
was in der Sammlung folgt bis zu Bertran de Born, so wird man das [1364]
eine oder andere dieser Merkmale oder die sämmtlichen zutreffen sehen.
Noch bestimmter wird man dieß Verweilen im Subjectiven, das nur einen
Ansatz zum Erzählen nimmt und den Stoff wieder in lyrischen Klang zurückzieht,
in den Gedichten Heine's finden, die er Romanzen nennt; Balladen,
wie die „Grenadiere“, „Belsatzar“, durcherzählende Romanzen, wie „Don
Raniro“, mehreres Lieder- und Sonett=artige ist leicht auszuscheiden; wir
bezeichnen als Beispiele für den Charakter, von dem hier die Rede ist,
I, II, III, IV, V, VII, VIII, XI, XII, XIII, XIV, XV. Wir haben die
Ballade reiner lyrisch genannt, als die Romanze; ziehen wir nun zu dieser
die in Rede stehende Form, welche zum Erzählen nicht ernstlich fortgeht,
so scheinen wir in Widerspruch zu gerathen, denn dieß ist ja vielmehr ein
Stehenbleiben im Lyrischen. Allein beide Male ist Lyrisch in anderem Sinne
genommen: im Balladenstyle bedeutet es den Act der subjectiven Empfindung,
der sich an seinem geraden Gegentheile, der vollen Objectivität, so stark erweist,
daß er sie ganz in lauter Ton, Stimmung umsetzt, das anderemal
die Subjectivität, die den allgemeinen Begriffscharakter des Lyrischen so
einhält, daß sie bis zu voller Objectivität gar nicht fortschreitet, nur halbe
Anstalten zum Erzählen macht.


Hiemit haben wir Linien zu einer Grenzbestimmung zwischen Ballade
und Romanze zu geben versucht. Daß dieselben in der Anwendung durchaus
Lücken haben müssen, folgt nothwendig aus der innern Natur des Lyrischen;
wo es sich um so zarte Potenzen handelt, für die wir nur den Namen
Behandlungston haben, kann am allerwenigsten bei Schuh und Zoll ausgemessen
werden. Der Sprachgebrauch ist daher locker und schwankend.
Göthe nennt alle seine erzählenden Lieder Balladen und mit Recht. Angesichts
der Vollständigkeit der Versenkung, der Umtauschung des eigenen Jch
gegen die Personen und das Ereigniß, des bewegungsreichen Ganges, der
ganzen wallenden Natur dieser Lieder kann man zu dem Schlusse kommen,
Göthe sei mehr Dramatiker, als Schiller; allein seine Dramen leiden bei
aller übrigen Vollendung an einem Mangel gegenüber dem Spezifischen der
Dichtart, sie sind zu seelisch und haben zu wenig Handlung; er ist dagegen
im Epischen so Homerisch klar und so ganz, wie es die Dichtart will, rein
zeichnend und entwickelnd, daß man den Meister des lyrischen Helldunkels
der Empfindung nicht in ihm erwarten sollte. Wir überlassen diesen Knoten
dem Leser zur Auflösung; sie wird sich daran knüpfen müssen, daß Göthe
doch auch als Epiker keinen straff männlichen, sondern lauter rein menschliche,
weiblich seelische Stoffe behandelt hat. Schiller nennt nur seinen
Kampf mit dem Drachen Romanze, alles Andere Balladen; sonderbar:
thut er es wegen der lichten Deutlichkeit und beredten Entwicklung im
Style, so hätte er alle seine episch lyrischen Gedichte Romanzen nennen
können außer dem Taucher, denn dieser hat trotz den beredten Schilderungen [1365]
doch viel von dem tief dunkel bewegten, springenden, dramatischen Style
der ächten Ballade, und etwa noch außer dem Handschuh, wo ähnliche
Bewegung waltet. Wählt er den Namen wegen des glücklichen Ausgangs
im Gegensatze mit der tragischen Schicksals-Jdee in den andern, so wären
der Gang nach dem Eisenhammer, der Graf von Habsburg, die Bürgschaft
auch Romanzen zu nennen. Das Richtige wird sein, von Schiller's sämmtlichen
episch lyrischen Gedichten zu sagen: sie haben von der Ballade den
stark bewegten dramatischen Gang, aber nicht das Helldunkel des reinen
Empfindungstons, der immer eine Verwandtschaft mit dem Volksliede auch
in der Kunstpoesie bewahrt, vielmehr neigen sie durch ihre lichte Bewußtheit
und Sentenziosität noch über die Helle der Romanze hinüber in die betrachtende
Lyrik; zugleich aber seien sie durch die Fülle und Pracht ihrer
Schilderungen episch über das Maaß dieser Eigenschaft hinaus, wie wir sie
ebenfalls der Romanze zuerkannten, ja auch über das Maaß des Epos,
nämlich mit zu fühlbarer rhetorischer, declamatorischer Haltung; ein Verhältniß
der Kräfte, mit dem man sich, so oft der Mangel des Naiven,
ächt Liederartigen sich bis zum Ueberdruß aufzudrängen droht, doch immer
wieder versöhnt durch die Entschiedenheit des Einen Grundzugs, der dramatischen
Energie, die ganz den wirklich dramatischen Dichter ankündigt.


Wir haben bis hieher abgesehen von den Begriffsbestimmungen, welche
Echtermeyer in der Abh.: „Unsere Balladen- und Romanzenpoesie“ (Hall.
Jahrb. 1839, N. 96 ff.) gegeben hat, um weder unsere Entwicklung, noch
die Beurtheilung zu verwirren. Er geht vom Jnhalt aus und erklärt die
Ballade für die Form, worin der noch natürlich bestimmte Volksgeist, der
Geist in seiner Naturbedingtheit sich ausspreche, wie er entweder den Gewalten
der äußeren Natur unterliegt, oder seinen eigenen dunkeln Trieben
anheimfällt und von ihnen verschlungen wird, ─ die Nachtseite des Geistes,
die denn eine düstere Stimmung und eine tragische Wendung begründe;
die Romanze dagegen soll, nicht mehr an einen bestimmten Volksgeist gebunden,
der rein menschlichen Bildung angehörig, das ideale Selbstbewußtsein,
die freie sittliche Macht des Geistes verherrlichen. Daraus leitet er
dann den Styl-Unterschied ab und faßt ihn ähnlich unserer Bestimmung.
Es scheint dieß eine klare und einleuchtende Entscheidung der schwierigen
Frage; sieht man aber näher zu, so wird man finden, daß dieser Schein
täuscht. Für's Erste wird nicht Alles eingetheilt, was einzutheilen ist:
wohin soll die ganze große Welt des Gemüthslebens fallen, die weder der
düstern Nachtseite des unfreien, noch dem vollen Tage des sittlich selbstbewußten
und wollenden Geistes angehört? Vor Allem die Welt der Liebe,
sofern sie nicht in ideales Denken erhoben und doch in sich frei, schön und
heiter ist? Der nordische Styl wird sie dunkel, ahnungsvoll, der südliche
wird sie licht und klar behandeln, dort wird eine Ballade, hier eine Romanze [1366]
entstehen. Der Styl-Unterschied, wie er historisch auf Nationalitäten zurückführt,
ist es also, was entscheidet, nicht der Jnhalt. Für's Zweite: es ist
umgekehrt in dem Style, welcher mit herkömmlicher nationaler Beziehung
den Namen der Romanze führt, viel finster blutiger, nächtlicher Stoff
behandelt und man kann nur sagen, der dunkle, liederartig bewegte Styl
verbinde sich lieber und naturgemäßer dem düstern Jnhalte, der lichte dem
klaren und freien, wie denn dieß auch der Stimmungs-Unterschied der
Völker ist, von denen beide Style ausgiengen, es sei dieß aber nicht nothwendig.
Auch ganz sittlich lichter Jnhalt kann in Balladenstyl behandelt
werden; der Ton in Göthe's Gott und Bajadere hat so ganz den tief erzitternden
Charakter, daß wir dieses Gedicht nimmermehr Romanze nennen
könnten, und der Jnhalt gehört doch unzweifelhaft der sittlichen Lichtwelt an.
Echtermayer hat, dieß ist die dritte und wichtigste Einwendung, bei dem,
was er als Jnhalt der Romanze bestimmt, durchaus Schiller's philosophisch
gebildetes Bewußtsein im Auge gehabt und stoffartig auf den ethischen
Werth der Jdee der Freiheit gesehen. Das Wahre ist, daß, je durchsichtiger
solches sittliches Bewußtsein, desto schwerer es wird, sowohl eine ächte
Romanze, als eine ächte Ballade zu dichten. Das Gefühl ist in der
Romanze heller, als in der Ballade, aber nicht so gedankenhaft durcharbeitet.
Für den ästhetischen Maaßstab ist diejenige Bildung des modernen
Dichters die höchste, die von dem zu hellen Lichte ihres Selbstbewußtseins
sich in die dämmernden Stimmungen umsetzen kann, aus welchen die ächte
Romanze, noch mehr die ächte Ballade hervorgeht. Die bedeutendsten
Producte der neueren erzählenden Poesie sind Balladen, vor Allem die
Göthe'schen. ─ Echtermayer hat eine dritte, mittlere Form aufgestellt, die
er Mähre oder Rhapsodie nennt und welcher er als Jnhalt die Heldenwelt
zuweist, wie sich durch sie die Völker in energischer That von ihrer ersten
dunkeln Unmittelbarkeit befreien: eine ursprüngliche Kraft, die schon in die
Licht- und Tagesseite des Geistes, in die Geschichte, hereinragt. Uhland's
vaterländische Balladen namentlich würden in diese Gattung fallen und es
erscheint zweckmäßig, sie aufzustellen.


4. Es versteht sich, daß die hier aufgeführten Formen, das rein objective
Sitten- und Naturbild ausgenommen, ihren ursprünglichen Boden
recht in der Volkspoesie haben, vor Allem aber Ballade und Romanze.
Hier vorzüglich ist die Stelle, wo die Kunstpoesie neues, ächt lyrisches Leben
aus ihr getrunken hat. Nachdem aber diese Verjüngung vor sich gegangen
war, mußte eine episch lyrische Kunstpoesie möglich werden, die den ächt
lyrischen Ton einhält und doch in der ganzen Behandlung zeigt, daß ebensosehr
die classische Bildung auf uns eingewirkt hat, die aber darum nicht
zu der allzu lichten und glänzenden Beredtsamkeit fortgeht, welche einmal
unlyrisch ist; diese Art episch lyrischer Gedichte entzieht sich am meisten der [1367]
Eintheilung Ballade und Romanze und warnt uns, Alles eintheilen zu
wollen. Man hat unsern in diesen Formen so reichen Uhland als den
Classiker der Romantik bezeichnet; am Marke des Volkslieds genährt, eine
gediegene, einfach körnige Natur, die sich doch mit offener Seele den verschiedenen
Stimmungen der nord- und südfranzösischen, spanischen Romantik,
des classischen Alterthums, wie der dunkleren, härteren, biderben altdeutschen
Welt öffnet, führt er überall einen scharfen Meisel, der jedem Gesteine klar
bestimmte, reine Gestalt gibt. Jn der Deutlichkeit des Umrisses, welche
auch ein ahnungsvoll dunkler Jnhalt hiedurch erhält, wird denn die Grenze
zwischen Ballade und Romanze, jetzt abgesehen von jener subjectiveren
Nebenform der letzteren, der wir einen Theil dieser Gedichte bereits zugewiesen
haben, nothwendig ungewiß werden. Da, wo mehr Volksliedston
ist, kann kein Zweifel sein; aber wohin sollen wir z. B. Ver sacrum zählen
und mit ihm die ganze Welt episch lyrischer Gedichte, die im Jnhalte bald
finster, bald heiter, im Ton und Gang bald dramatisch bewegter, bald milder
und heller fließend, doch in der ganzen Form zu classisch durchgebildet sind,
zu sichtbar auf classischem Kothurne gehen, um unter Begriffe eingereiht zu
werden, die doch immer an die Naivetät der Volkspoesie erinnern? Es
bleibt also dabei, daß hier keine zu erschöpfender Eintheilung ausreichende
Terminologie besteht.


§. 894.


Die Lyrik der Betrachtung steht auf dem Punct einer beginnenden1.
Auflösung des reinen Gefühlszustands, worin derselbe in eine beschauende und
beschaute Seite auseinandergeht, die in ein Wechselspiel treten, in welchem die
Empfindung mit verhüllter oder ausgesprochener Wehmuth ihrer eben noch warmen
und eben verkühlenden Schönheit nachblickt und näher oder entfernter bereits
den denkenden Geist durchscheinen läßt. Unter den classischen Formen gehört
hieher die Elegie, aus dem Oriente in verschiedener Beziehung die indische und
die kunstreichen Bildungen der muhamedanischen Lyrik, aus der romanischen
Literatur die verschlungenen Strophen des Sonetts u. a. An der Grenze der2.
Prosa liegt als besondere Form das Epigramm und mit ihm eine große,
unbestimmte Masse, die sich unter dem Namen der schönen Gedankenpoesie zusammenfassen
läßt und namentlich der modernen Zeit und der deutschen Poesie
angehört.


1. Wir könnten das Wesen dieser Form auch als eine bis an die
Grenze der ästhetischen Einheit fortschreitende Entbindung des Gnomischen
bezeichnen, wenn wir nicht eben hier der gnomischen Poesie im engeren
Sinn uns näherten, die wir doch als besondere Form in den Anhang vom
Didaktischen verweisen und mit welcher wir das vorliegende Gebiet nicht [1368]
verwechselt sehen möchten. Um was es sich handelt, zeigt sogleich die Elegie.
Es ist bekannt, daß man unter ihr nach der antiken Bedeutung des Worts
durchaus nicht blos ein Lied der Wehmuth und Klage zu verstehen hat,
daß diese erste Form, in welcher sich bei den Joniern die lyrische aus der
epischen Poesie herausbildete, anfänglich politischen und kriegerischen Jnhalts
war, daß sie denselben, auch nachdem sie sich anderem zugewandt, nicht so
bald aufgab. Allerdings darf man behaupten, daß es Zeichen eines unreifen
Zustandes war, wenn Kallinos und Tyrtäos so starken Jnhalt in
solchem Gefäße niederlegten, daß dieß nur geschah, weil es überhaupt die erste
lyrische Form war, die man gefunden und in die nun zuerst der noch ganz
von heroisch mannhaften Gefühlen geschwellte, noch wenig lyrisch erweichte
Sinn sich warf; denn indem das elegische Versmaaß dem gewaltig und
feierlich vorstrebenden Hexameter den zurückweichenden, verathmenden, Grenze
setzenden, abschließenden Pentameter hinzufügte, war auch für den Jnhalt
ein sanftes Nachlassen gefordert, der verhauchende Vers sollte das Verhauchen
der Seelenbewegung darstellen. Es liegt in dieser Bewegungsweise
ein Abschiednehmen von der Empfindung, sie ist eben noch warm
und kühlt sich eben ab. Dieß ist das eigentliche Wesen der Elegie; Wehmuth
und Trauer in bestimmtem Sinn ist damit zunächst noch gar nicht
ausgesagt, denn dieß wäre ein Abschiednehmen vom Jnhalte der Empfindung,
vom schönen Gegenstande. Dagegen ist allerdings zunächst eine
stärkere Entbindung des gedankenhaften Elements hiemit gegeben, denn
Auskühlung des Gefühls und Uebergang desselben in das denkende Betrachten,
Beruhigung durch allgemeine Wahrheiten fallen nothwendig zusammen.
So diente denn das elegische Maaß, das Distichon, früher namentlich
bei Solon, überhaupt aber jederzeit auch dem eigentlich Gnomischen, dem
Aussprechen allgemein gültiger Lebensweisheit. Aber auch dieß directe
Lehren entspricht seinem wahren Charakter nicht und soll durch die Behauptung,
daß das Austönen des Gefühls ein Aufsteigen des Gedankenmäßigen
sei, vielmehr nur ein erstes Durchscheinen des Letzteren gerechtfertigt werden.
Die Elegie begriff ihre Bedeutung erst, als sie sich seit Archilochos in die
schönen Empfindungen des von Seele durchdrungenen Lebensgenusses, auf
Wein und Liebe und jede andere Stimmung warf, in welcher die Gegenwart,
der Augenblick im Schimmer des Jdealen aufglänzt, und sie konnte
noch einmal zu voller Blüthe erwachsen, als im Verfall des öffentlichen
Lebens die römische Welt das kurze Glück im leidenschaftlichen, subjectiv
entzündeteren Genusse des schönen Momentes suchte (vergl. §. 445, 1.).
So heiß nun aber das Gefühl in diesen Stimmungen erglühen mag, so
bringt doch eben jener Charakter des Rhythmus, das regelmäßige Absinken
nach dem steigenden Hexameter, einen Ton des Verglühens nothwendig mit
sich; das Gemüth ist noch ganz in seinen Zustand versenkt und beginnt [1369]
doch schon, ihm zuzusehen, frei über ihm zu schweben; der Liederdichter fühlt,
der elegische bespricht, was er fühlt; das Gefühl mag noch so heiß sein,
es verdunstet in der Elegie eben im Aufsprühen. Dieß führt uns denn
auf den Ausgangspunct und zu dem Begriffe der Wehmuth und Trauer
zurück. Nur im unbestimmteren Sinne des Worts liegt ein Zug derselben
zunächst in jenem Abschiednehmen von der Empfindung; es erhellt aber,
wie nahe der Schritt gelegt ist, in den bestimmteren Ton der Klage überzugehen,
der nun ein Abschiednehmen vom schönen Gegenstand ausspricht.
Jch blicke auf meine Empfindung wie auf eine flüchtige, entschwindende:
so wird mir ja die Empfindung selbst zum schönen Gegenstande, an dem
ich erfahre, daß die Momente der höchsten Lebenserregung kurz und vergänglich
sind, und es ist nur natürlich, wenn ich nun von der Empfindung
den Gegenstand und Jnhalt derselben unterscheide und die Flüchtigkeit des
Glückes auch objectiv mit entschiedener Stimmung der Trauer betone. Dann
wird die Elegie zu dem, was man sich in der neueren Zeit gewöhnlich
unter ihr vorstellt, zum Gedichte der Klage um verlorenes schönes Gut des
Lebens, sie ist es gerne, und sie ist es ja auch schon im griechischen Alterthum
gewesen, aber jener Klang der Wehmuth durchzieht sie wie ein Ton
der Aeolsharfe, auch wenn sie ganz nur von Freude und glücklicher Gegenwart
singt. Es ergibt sich nun, daß dieser Form aus dem tieferen Grunde
die Stelle an der nahen Grenze der ungemischten Poesie anzuweisen ist,
weil sie eigentlich weiß, daß das Jdeal nur momentan in das Leben eintritt.
Der schöne Moment, auf den sie selbst mitten in seiner Feier schon
wie auf einen fliehenden zurückblickt, ist in Wahrheit nichts Anderes, als
die ideale Verklärung des Lebens, welche in der empirischen Wirklichkeit
ohne den Zauber der Kunst nur scheinbar und rasch entschwindend eintritt,
denn dieß ist ja der Charakter alles Naturschönen, welche aber von der
Kunst bleibend vollzogen wird; die Elegie steht also nicht rein inmitten
der idealen Phantasie, sondern sehnt sich von dem Standpuncte der Wirklichkeit
nach dem Jdeale, welches dem ungetheilten ästhetisch idealen Bewußtsein
ein stetiges Diesseits ist, als nach einem Jenseits, das nur vorübergehendes
Diesseits wird, und trauert dem flüchtigen Eintritte desselben nach.
Sie trauert eigentlich um die ideale Phantasie selbst; eine Poesie, die so
eben nicht mehr ganze Poesie ist, trauert um die ganze. Schiller stellt in
der Abhandlung über naive und sentimentale Dichtkunst die Elegie als eine
Form der letzteren auf; was er aber sentimentale Dichtkunst nennt, ist diejenige,
welche das Wirkliche und die Jdee nur aufeinander bezieht, und
so gesteht er damit, daß die Elegie den einen Fuß schon auf der Grenze
der Poesie hat. Er selbst hat in den Gedichten: die Jdeale und: das Jdeal
und das Leben dieß geradezu bestätigt und die Elegie im Grunde verrathen:
im ersteren, indem er sich zum Schlusse rein prosaisch mit der Befriedigung [1370]
tröstet, die in der Beschäftigung liegt, im zweiten, indem er die wahre Erhebung
aus den Enttäuschungen des Lebens im Himmel der Phantasie
sucht, den uns die volle Poesie, ohne ihr Geheimniß zu gestehen, durch die
That auf die Erde senken soll. Die ächte Elegie schwatzt aber doch nicht
so ihr Geheimniß aus, weiß es selbst kaum und ihre Betrachtungen decken
in aller Trauer über die Flüchtigkeit des Schönen nicht so ausdrücklich die
Kluft auf, welche die ganze und volle Kunst schweigend ausfüllt; das heißt
von der Phantasie sprechen, statt in Phantasie thätig sein. Doch wir verdanken
Schiller auch wahre Elegieen. Pompeji und Herculanum, der Spaziergang
gehören zu den schönsten Erscheinungen dieses Gebiets und führen
verglichen mit Göthe's herrlichen römischen Elegien, auf einen Unterschied,
den wir noch zu berühren haben. Dort breitet sich das Jdeale in dem
Bilde der verschütteten Städte, das wunderbar wieder an den Tag der Gegenwart
getreten, in den Landschaftbildern, an denen der Spaziergänger sich
fortbewegt, als objectivere Anschauung vor dem betrachtend fühlenden Geist
aus; hier blickt der Dichter auf persönliches Glück zurück, das sich wohl
wie eine Rose an die Trümmer der großen Vergangenheit der alten Weltstadt
schlingt, wo einst Amor, der dem Liebenden die Lampe schürt, seinen
Triumvirn denselben Dienst gethan hat, wie jetzt dem nordischen Gaste,
das aber wesentlich sein Genuß, sein subjectiv Erlebtes ist. Es treten
also eine mehr objectiv epische und eine mehr subjectiv lyrische Form einander
gegenüber. ─ Das antike Versmaaß der Elegie ist hier beibehalten; im
Allgemeinen folgt übrigens eine Nöthigung hiezu aus dem nicht, was über
dessen Charakter gesagt ist; die modernen Strophenbildungen haben der
absinkenden und austönenden Formen genug, um dem elegischen Stimmungscharakter
seinen Ausdruck zu geben. ─ Nicht immer ist es leicht, das Elegische
vom Liedartigen zu unterscheiden; wesentlich ist, daß man immer den
betrachtenden Charakter in's Auge fasse, wehmüthiger Ton allein, selbst
ausgedrückter Gedanke wehmüthigen Jnhalts macht noch keine Elegie, wenn
er nur kurz hervorbricht, keine Entwicklung hat. Uhland's „Kapelle“ z. B.
ist ein Lied, keine Elegie.


Es kann Widerspruch erregen, daß wir hier die lyrische Poesie Jndiens
aufnehmen. Sie versenkt sich mit berauschter Wonne in eine Natur, deren
Ueppigkeit alle Sinnen umstrickt, in das Entzücken der Liebe, eine seelenvolle
Sinnlichkeit, fern von der tieferen Sammlung, welche dem betrachtenden
Momente, das wir doch in dieser Dicht-Art für so wesentlich halten,
eine Entfaltung zuließe; sie hat in ihrer trunkenen Versenkung einen primitiven
Charakter, wie alles Orientalische, und scheint daher mindestens
vor die classische Elegie gestellt werden zu müssen. Allein in dieser Trunkenheit
wohnt doch eine selige Müde, ein Hinschwinden in die Naturtiefen,
ein süßes Kranksein vor lauter Lust, die in ihrer Schönheit sich badet und [1371]
wohl fühlt, daß sie zu schön ist, um zu bleiben. Der elegische Ton liegt
daher im Ganzen, auch wo er sich nicht direct ausspricht, er tritt aber
doch auch wirklich und sogar herrschend hervor und kann als das Bezeichnende
der indischen Lyrik angesehen werden. Jhre schönsten Erzeugnisse
sind eigentlich elegisch; das herrliche Gedicht: die Jahreszeiten ist mit Mahnungen
an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks durchzogen; sehnsuchtvolle
Liebesklage ist der beliebteste Ton, der sich mit dem wunderbar träumerischen
Naturgefühle vereinigt und seinen ergreifendsten, reichsten Ausdruck
in dem Wolkenboten von Kalidasas gefunden hat. Mit dem Elegischen
tief verwandt ist das Jdyllische, wie sich aus der Erörterung desselben
(§. 874. 883) ergibt; man kann es die epische Elegie nennen, denn indem
der idyllische Dichter das schöne Bild naturvollen Menschenlebens in der
ländlichen Stille aufsuchen muß, gesteht er dessen Flüchtigkeit; das Jdeal
ist noch da, aber nur eben noch da, wird eben noch ferner vom großen
Menschengetümmel aufgefunden und erhascht. Mit richtigem Sinne stellt
daher Schiller (a. a. O.) Elegie und Jdylle nebeneinander. So knüpft
sich denn das Elegische an ein idyllisches Motiv in dem anmuthvollen
indischen Gedichte Gitagowinda, das die Liebe des Krishna zu der Hirtinn
Radha besingt. Es fehlt jedoch in dieser Poesie auch an Sprüchen der
Erfahrung und Lebensweisheit nicht, die dem Elemente der Betrachtung,
freilich ohne die ethische Sammlung des classischen Occidents, noch mehr
ohne die concentrirte Jnnerlichkeit der neueren germanischen Zeit, im elegischen
Elemente sein Recht sichern. Voranstellen aber mußten wir hier die
Form, die am deutlichsten den Begriff darstellt. ─ Trotz dem großen Sprunge
ist es nur natürlich, an die Seite der indischen die muhamedanische
Lyrik zu ziehen, wie sie im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert ihre
höchste Blüthe in Persien getrieben hat. Der Pantheismus, der in der
indischen Poesie noch trunkenes Naturgefühl war, ist hier durch reiche Vermittlungswege
so durchgebildet, daß er sich mit vollem und ausgesprochenem
mystischem Bewußtsein in den Genuß des Einzelnen versenken kann; Dschelaleddin
Rumi stellt die reine Mystik, Saadi den Uebergang zur Einlebung
derselben in das Gefühl des sinnlichen Augenblicks, Hafis die reine und
ungetheilte Versenkung dar. Hier hat sich das Gemüth von jeder Fessel
der Scheinwelt losgemacht, in das ewig Eine hingegeben und ist völlig
frei von jeder besonderen Bestimmtheit, heiter in der Bedürfnißlosigkeit des
Derwisch, gepäcklos wie Diogenes. Das ewig Eine ist aber auch in jedem
Wirklichen gegenwärtig; dem freien Gemüthe steht es ganz frei, sich in eine
Form seiner Realität, wie in seine gestaltlose Unendlichkeit, aufzulösen, und
es wird diejenige Form wählen, welche durch Hingabe des Jch an ein
zweites oder an die Tiefen des Naturgeistes ein sinnliches Symbol desselben
Wegs ist, wie er in Ascese und Speculation vollzogen wird. Jn seeligem [1372]
Liebesrausche gibt sich nun der Dichter unter Wohlgerüchen von Veilchen,
Jasmin, Rosen und Moschus der Geliebten, in deren Wangengrübchen der
Weltengeist gefallen ist, dem Weine hin, in dessen Feuer das ewige Geheimniß
glüht; er ist aber in dieser Hingebung ganz frei, denn das Welttrunkene
Gemüth ist dasselbe, das sich auch rein geistig mit dem Unendlichen
versöhnt und in der Reinheit dieser Versöhnung nur von jedem Dogma
und Sektenvorurtheil befreit hat; er taucht sich ganz in den Genuß und
schwebt doch frei und heiter über ihm und er spricht mit hellem Bewußtsein
die Einheit der beiden Wege des Aufgehens in der Unendlichkeit überall
und in immer neuen Wendungen aus. Diese Form ist daher in aller ungeheuchelten
Fülle der Sinnlichkeit doch zugleich betrachtend, das Gefühl
selbst löst sich hier besonders sichtbar in die zwei Seiten des Seins in der
Sache und der heiteren Beschauung dieses Seins auf; es ist dieß durchaus
elegisch und man wird auch an die Flüchtigkeit des schönen Augenblicks
oft genug so ausdrücklich gemahnt, als es die Elegie im engeren Sinne
des Worts nur thun kann. Diesem Spiele mit der stetigen Wiederkehr
zum mystischen Centrum entspricht das reiche Formenspiel und namentlich
das Ghasel mit seinem durchgehenden Reimbande. Jn den einzelnen
Mitteln ist diese Dichtung die vorherrschend bilderreiche; sie bedarf es aber
auch, denn sie dreht sich schließlich doch immer um Eines. Göthe's heiteres
Greisenalter hat in der entsprechenden Stimmung des freien Schwebens
und Betrachtens in diesen Formen gedichtet und sie noch einmal zur Wahrheit
gemacht.


Auch der weitere Sprung zu der subjectiven Lyrik der romanischen
Völker läßt sich unschwer rechtfertigen. Hier ist eine Welt der Jnnigkeit
aufgegangen, wie sie der Orient und das Alterthum nicht kannte, der platonische
Jdealismus und die Mystik fließt als Element in den ethisch gesammelten
occidentalischen Geist ein und vereinigt sich mit einem Volksnaturell,
das doch flüssiger, weltlich freier, sinnlich biegsamer ist, als der
noch tiefere, aber weltlosere, härter in sich gedrängte germanische Charakter.
Allein dieser Genius theilt auch mit dem antiken die Eigenschaft, daß ein
großer Theil der innern Wärme nach der Seite der Form hindrängt, um
sich hier als eine Schönheit für sich niederzuschlagen; dieß ist nun natürlich
in der ursprünglichen Art der Stimmung gesetzt und wirkt ebensosehr in der
Ausführung wieder auf sie zurück: die reich verschlungenen Formen des
Sonetts, der Canzone, Terzine, Sestine, der achtzeiligen Stanze, des Trioletts,
Rondeau's, Madrigal's u. s. w. stellen ein Spiel der Verschiebungen
dar wie maurische Arabesken; das Gefühl des Dichters kann in der Künstlichkeit
dieses Spiels die Unmittelbarkeit nicht bewahren, sondern wird nothwendig
zu einem Witze der Empfindung, wiewohl im guten und ernsten
Sinne des Worts; er schaukelt sich wie ein geschickter Ruderer mit kunstfertigen [1373]
Wendungen auf ihren Wellen und sieht mit reiner Betrachtung
ihrem plätschernden Wellenspiele zu. Es sind vorzüglich die Jtaliener, die
uns diese Formen gebracht haben, und es verhält sich wie mit der Herrschaft
der melodischen Schönheit bei relativ verminderter Ausdruckstiefe in
ihrer Musik. Das deutsche Gemüth wird sich aber nie ganz frei und heimisch
in ihnen bewegen.


2. Wir können in der unbestimmten Masse, die wir enger an die Grenze
der Prosa schieben, nur Eine benannte Form aufführen: das Epigramm.
Wenn alles Lyrische aus einer Situation entspringen soll, so gilt dieß vom
Epigramm in dem ganz speziellen Sinne, daß es auf ein einzelnes äußeres
Object gerichtet ist, dem der Dichter gegenübertritt, das er aber nicht in
das rein innere Leben des Gemüths umsetzt, sondern nur so weit auf das
Subjective bezieht, daß er einen schönen Gedanken darüber ausspricht,
und zwar ohne weitere Entwicklung, in schlagender Kürze. So ist die
Lyrik an ihrer Grenze noch einmal ganz punctuell, aber jetzt nicht mehr
rein empfindend und nicht mehr in den Ring der besonderen Stimmung
die Welt fassend, sondern Einzelnes durch einzelne Gedankenlichter beleuchtend;
es sind die zerstreuten erkaltenden Funken der Flamme, welche die
volle Lyrik in gedrängter Wärme zusammenhält; der Prozeß der Verklärung
der Welt im Subjecte hält eine Nach=ärndte, geht weit und breit in der
Welt um und wirft auf die einzelnen Dinge, ohne ihre Objectivität aufzuheben,
seine geistigen Blitze. Wir haben den Ausdruck gebraucht: schöner
Gedanke. Dieß heißt nicht nur ein Gedanke von reinem, edlem Gehalte,
sondern ein solcher, der im idealen Gefühls-Element empfangen und geeignet
ist, von ihm umfangen zu bleiben. Wir schließen damit das Epigramm,
das eine satyrische Spitze hat, vom gegenwärtigen Zusammenhang
aus; es gehört mit allem Satyrischen in den Anhang. Das Gefühls=
Element hat seinen Anhalt darin, daß das Epigramm ein gegebenes Object
zum unmittelbaren Ausgangspunct hat, das geeignet sein muß, unmittelbar
in einen Stimmungszustand zu versetzen, aus dem sich eine bedeutende Betrachtung
entwickelt. Es ist ursprünglich bestimmt, dem Gegenstand als Aufschrift
zu dienen, der also ein sinnlich gegebener ist, dieses Band löst sich,
es genügt, daß der Gegenstand der Vorstellung gegeben sei, wenn er nur
den Charakter eines vorgefundenen, Erlebten hat, woran sich tiefe Lebensbeziehungen
knüpfen. Daraus ergibt sich die Art der Composition im Epigramm:
es erregt zuerst durch Nennung des Objects, Anlasses eine kurze
Erwartung, dann läßt es in rascher Wendung den Aufschluß, die Pointe
hervorspringen. Der Uebergang in die satyrisch witzige Form liegt daher
nahe genug, man kann aber von einem Witze des schönen Gedankens reden
und dabei die Satyre noch völlig ausschließen. Wir verweisen auf die
unendlichen schönen Epigramme der Alten, unter den Neueren nur auf einen [1374]
großen Theil von Göthe's und Schiller's Xenien, auf Uhland's Sinngedichte,
zu denen er zwei Strophen nicht rechnet, die doch zu den schönsten
Epigrammen aller Zeit gehören: „Verspätetes Hochzeitlied“ mit dem Schlusse:
des schönsten Glückes Schimmer erglänzt euch eben dann, wenn man euch
jetzt und immer ein Brautlied singen kann. ─ Das Epigramm nun ist
der kleine benannte Punct in einer ganzen weiten Welt von Dichtungen,
die keinen Namen haben und die wir als Poesie des schönen Gedankens
bezeichnen; sie verhalten sich zum Epigramme wie das Ausgeführte zum
Zusammengezogenen. Es ist die schwer zu bestimmende Form, die auch
Hegel (a. a. O. S. 465) zuletzt, aber gewiß unrichtig als eine Art des
Liedes aufführt. Er weist auf Schiller hin, dessen Gedichte im Ganzen
und Großen eine eigentlich normale Erscheinnng dessen sind, was wir schöne
Gedankenpoesie nennen; die neuere, namentlich deutsche Literatur, hat aber
überhaupt in weiter Ausdehnung dieß Feld angebaut, und Namen wie
G. Pfitzer, Geibel sind fast ausschließlich nur hier zu treffen. Der moderne
Geist hat seinen unendlich reichen, vielseitigen und verwickelten Jnhalt in
das philosophische Bewußtsein erhoben, das sich auf unzähligen Wegen der
allgemeinen Bildung mitgetheilt hat; so ist dieses längst eine untrennbare
Form seines Wesens und wird durch seine Gegensätze und Kämpfe selbst
wieder zu einem Theile seines realen Lebens, seiner Erfahrungsmasse. Unmöglich
kann eine solche von Gedanken durchsäuerte Welt nach ihrem Umfang
und ihrer Tiefe in die liederartige Form der Unmittelbarkeit umgesetzt werden;
viel eher noch in den hymnischen Ton, von dem schon oben gesagt ist, daß
er sich mit der Poesie der Betrachtung berühre. Der Trotz des freien
Menschengeistes ist in Göthe's Prometheus, der Werth der Phantasie in:
„Meine Göttinn,“ die Kleinheit des Menschen gegen das Unendliche in
„Grenzen der Menschheit,“ Edelmuth und Wohlwollen als höchste Zierde
des Menschen in „das Göttliche“ wirklich so ganz in hoch gehender reiner
Stimmung ausgesprochen, daß der ächt lyrische Hymnenton erklingt. Es
ist aber solche Umsetzung gedankenmäßigen Gehaltes nur dem höchsten Talente,
seltenen Augenblicken und einem kleinen Theile der unabsehlichen Gedankenwelt
gegönnt. Es muß eine Poesie geben, welche den Gedanken
merklicher in Gedankenform ausspricht, aber doch noch auf so starker Grundlage
pathetischer Stimmung, daß wir sie noch nicht zum Didaktischen zählen
dürfen. Sie wird aller hohen Anerkennung werth sein, wenn sie ihre
Stellung an der Grenze der Poesie, wenn sie ihren Glanz, ihren rhetorisch
declamatorischen Styl als einen Schmuck zugesteht, dessen sie um ihres innern
Mangels willen bedarf. Die Grenze zwischen dem, was dem ächt Poetischen
näher und was ihm ferner liegt, wird hier schwebend und ist nicht weiter
zu verfolgen. Schiller bleibt, wie gesagt, Vorbild und reinstes Muster.

[1375]

γ. Die dramatische Dichtung.


1. Das Wesen derselben.


§. 895.


Wie die Dichtkunst überhaupt die gegenständliche Welt, nachdem dieselbe
ganz in das subjective Empfindungsleben der Musik eingegangen, wieder entfaltet,
so hat sie in ihren Zweigen die Subjectivität der Lyrik, welche dem
Standpuncte der Musik entspricht, wieder zur Objectivität des Epos zu erschließen
und hiedurch diese Gegensätze in einer dritten Form zusammenzufassen,
worin, wie in dem Ganzen der Poesie das gesammte System der übrigen Künste,
so sie selbst innerhalb ihrer sich wiederholt und concentrirt.


Der Fortgang begründet sich wie jener von der Musik zu der Poesie,
aber er ergibt sich einfacher, leichter: denn dort gilt es den langen Schritt
zu einer neuen Kunst, der seinen Ansatz im ganzen System der Künste, in
der Nothwendigkeit, daß die Objectivität der bildenden Kunst aus der subjectiven
Jnnerlichkeit der Musik sich wiederherstelle, ohne sie zu verlieren, endlich
in dem Grundgesetze nehmen mußte, daß der Lebensgehalt als sichtbarer
Körper dem Auge (jetzt dem inneren) erscheine; hier dagegen gilt es nur
die Wiederherstellung dieser objectiven Welt innerhalb einer Kunst, welche
ursprünglich diesen Boden gewonnen, welche ihn verlassen hat, um noch
einmal wie die Musik, aber auf neuer Stufe, die Welt der Gegenstände in
die Welt der Subjectivität zurücknehmen, sie ganz mit dieser zu durcharbeiten
und zu durchdringen, welche ihn aber mit ganz einleuchtender Nothwendigkeit
wieder einnehmen muß. Und die dringendere Nähe dieser Nothwendigkeit
hat sich ja in der Lyrik selbst dadurch überall angekündigt, daß die Welt
der sichtbaren Dinge und ihrer bewußten Auffassung nicht blos geahnt, wie
in der Musik, an ihrer Schwelle schwebte, sondern die Empfindung immer
nach ihr greifen mußte, um an sie gelehnt sich auszusprechen; ja bis zur
Darstellung einer Handlung schritt sie fort und wir fanden die Keime des
Drama in der erzählenden Form der Lyrik. Wenn nun, was in der Lyrik
gewonnen ist, diese subjective Durchdringung der Welt, sich vereinigt mit
dem, was das Epos durch seine Objectivität voraus hat, wenn die von
dem Welt-Jnhalt erfüllte Brust diesen wieder entläßt, daß er sich als gegenständliches,
aber aus dem Jnnersten des Geistes gebornes Bild ausbreite, [1376]
so kehrt der Kreis der Poesie ganz gefüllt in sich zurück, wie in der Poesie
überhaupt der Kreis der Kunst und mit ihm der ganze Kreis des Systems
der Aesthetik: ein Kreis im Kreise, eine Verarbeitung der Welt in die Form,
die alle Weisen und Seiten erschöpft, ihre Linie immer weiter gezogen und,
was sie umfaßt, immer tiefer und tiefer gegründet und verarbeitet hat und
nun beruhigt nicht weiter kann und will, sondern in sich selbst zurückläuft.
Die Poesie ist die Kunst der Künste; im Epos wiederholt sich die bildende
Kunst und analog das Naturschöne, in der Lyrik die Musik und analog
die Phantasie, im Drama die Poesie selbst und analog die Kunst: das
Drama ist die Poesie der Poesie.


§. 896.


Das Lyrische und Epische, Subjective und Objective kann sich nur so vereinigen,
daß es sich zugleich wesentlich verändert. Der Dichter spricht durch
Personen, in die er sich verwandelt und die er gegenwärtig vor uns auftreten
läßt, sein Jnneres aus: dieß ist lyrisch. Der Personen sind mehrere, sie verharren
nicht auf einem Puncte ihres inneren Lebens, sondern bewegen sich in
der Folge der Zeit, wirken nach außen und bringen durch Wirkung und Gegenwirkung
eine Handlung hervor, in welcher sich mit ihrem Complex von
äußern Bedingungen ein breiteres Weltbild, sichtbar für die innere Vorstellung
entfaltet: dieß ist episch. Allein an die Stelle der lyrischen Gemüths-Erregung
und der epischen Zuständlichkeit muß in dieser Verbindung als Jnhalt der freie
Geist treten, der mit hellem Bewußtsein seinen Willen zur That bestimmt; die
lyrische Gegenwart spannt sich energisch nach der Zukunft, die Form ist ausschließlich
dialogisch und das Weltbild als ein sichtbares erzeugt sich ohne
ausdrückliche Schilderung aus dem Bilde des innern Lebens der Charaktere.
Das Jnnere des Dichters muß im Subjectiven objectiv, zur Welt und Menschheit
erweitert sein. Er ist in seinem Werk ebenso ganz gegenwärtig, als ganz
abwesend; dieses besteht daher ganz selbständig, losgelöst vom Dichter, denn er
ist ganz darin aufgegangen: die vollkommenste Erfüllung des Begriffes der Kunst
(§. 489 und 524), die reifste und daher späteste Frucht ihres Wachsthums.


Das directe Aussprechen des Jnnern ist das Lyrische im Drama.
Der Dichter spricht zwar nicht in eigener Person, sondern aus dem Munde
Anderer, in deren Zustände er sich versetzt hat, allein dieß hebt zunächst den
lyrischen Charakter nicht auf, denn wir haben auch diese Umwandlung als
eine Form des Lyrischen kennen gelernt, die noch ganz in den Grenzen
dieses Zweiges bleibt, wiewohl sie allerdings zugleich den Fortgang zum [1377]
Dramatischen im Keim enthält. Das Drama gehört daher wie die Lyrik
zunächst der Zeitbestimmung der Gegenwart an. Von der sinnlich sichtbaren
Vergegenwärtigung durch Theater und Schauspielkunst abstrahiren
wir aber noch ganz; es ist hier, wie durchaus im Folgenden, immer nur
von der Vergegenwärtigung für das innere Schauen die Rede, das allerdings
weiterhin das Bedürfniß des äußern mit sich führt; aber erst der Anhang
von der Mimik wird diese Seite aufnehmen. ─ Jn der Aufzeigung des
epischen Elements der Objectivität, wie es im Drama erhalten ist, durfte
sogleich die Vielheit der Personen, durch die der Dichter spricht, nicht übergangen
werden; die erzählende Form der lyrischen Dichtung kann, wenn
sie sich durch dialogische Behandlung dem Drama nähert, kaum über zwei
Personen sprechen lassen; der Kreis, in den sich der gedrungne Kern der
Empfindung umsetzen und verkleiden kann, ist eng gezogen. Das weitere
epische Moment ist das Fortrücken in der Succession der Zeit; die lyrische
Stimmung hat auch ihren Verlauf, bleibt aber doch punctuell, bewegt sich
nur in sich, nicht ernstlich hinaus in die Dinge, an denen wir die Zeit
messen; wirklicher, erfüllter Zeitverlauf ist nur im Elemente des äußeren
Geschehens und Handelns. Das Jnnere, indem es sich ausspricht und
fortrückt, erschließt sich also zugleich zur Veränderung der Außenwelt, die
Wirkung ruft die Gegenwirkung hervor und es entsteht eine Handlung;
so mußten wir auch den Jnhalt des Epos nennen, so lange wir das Wort
nicht in seinem strengsten Sinne nahmen. Die handelnden Personen in
ihrer Vielheit und der nothwendig mitgesetzte Complex umgebender physischer
Welt und realer Verhältnisse der moralischen bedingen nun den größeren
Umfang, das umfassendere Bild des Lebens, wodurch das Drama wie das
Epos von dem Mikrokosmus des Lyrischen sich unterscheidet. Daß dieses
Weltbild der innern Anschauung sich darbiete, wie im Epos, dafür muß
der Dichter irgendwie sorgen; von der Art, wodurch er dieß bewerkstelligt,
ist jedoch abzusehen, so lange man den Unterschied vom Epischen, der freilich
gerade hier tief und durchschneidend ist, nicht in Betrachtung zieht. ─
Es unterliegen aber beide Elemente, das lyrische und epische, indem sie sich
zu einem Dritten verschmelzen, nothwendig einer wesentlichen Veränderung
und wir müssen dieselbe zuerst in ihrem prinzipiellen Mittelpunct erfassen.
Wenn der Dichter sich in Personen verwandelt, welche so sprechen, daß
daraus eine Veränderung der Außenwelt, eine Handlung sich ergibt, so
kann das Jnnere dieser Personen nicht mehr das in Gefühl versenkte des
Lyrikers sein: es muß die Objecte und sich selbst mit hellem Bewußtsein
ergreifen und sich frei als Wille aus sich entscheiden. Der dramatische
Mensch ist aber auch nicht mehr der zuständliche im Sinne des epischen
Charakters, der zwar handelt, jedoch geführt und getrieben von seinem Naturell,
von der Sitte, von dem, was als treibende Kraft in den Massen waltet. [1378]
Der Dichter zwar verhält sich im Epos nicht zuständlich wie seine Helden,
er schwebt frei und klar über der also bedingten Welt, allein wo der Mensch
als Object des Dichters noch blos zuständlich ist, da kann doch die Klarheit
und Freiheit, womit der letztere über dem Stoffe steht, noch nicht jene
ganze und intensive sein, welche im Reiche der möglichen Verhaltungsweisen
liegt und dem dramatischen Dichter zukommen muß, der den Menschen
in jenem determinirten Sinn auffaßt. Der Geist wird darum im Drama
allerdings ebensowenig in schlechthin abstracter Selbstbestimmung auftreten,
als in irgend einer Form des Schönen, aber, obwohl in positiver Einheit
mit seinem Naturell, doch den Entschluß mit klarer Rechenschaft über die
Gründe frei aus sich schöpfen und wenn Gefühl und Affect ihn blind und
instinctiv fortreißt, so wird dieß in einem Zusammenhange geschehen, wodurch
es als das erscheint, was nicht sein soll. So ist es das Drama,
was allein unter den Formen des Schönen den wahren, wirklichen Geist
zur Erscheinung bringt. Aus seinen Tiefen läßt es vor unsern Augen eine
Handlung hervorsteigen, wir sehen sie stetig aus dem energisch wirkenden
Jnnern werden. Hienach bestimmt sich nun auch das Verhältniß zum
Zeitbegriffe. Zunächst also theilt das Drama mit der Lyrik die Form der
Gegenwart. Das lyrische Gedicht entwickelt den Verlauf einer Stimmung,
bereitet uns durch den gegenwärtigen Moment auf den künftigen vor und enthält
demnach natürlich auch die Erstreckung der Zukunft, allein es fällt
kein Gewicht auf diese Seite, weil im weichen Elemente des Gefühls keine
Erwartung schlagartiger Folgen entsteht. Dagegen wo der wache Geist
im Kampfe wirkt, da müssen Entscheidungen erfolgen, denen wir mit
Spannung entgegensehen, und so fällt ein fühlbarer Nachdruck auf das
Moment der Zukunft. Die Gegenwart aber bleibt natürlich die bestimmende
Kategorie und dieß führt uns nun vom Mittelpuncte nach der formellen
Seite. ─ Die dramatische Handlung kann sich nur in der Form des Dialogs
bewegen. Die lyrische Poesie geht zu dieser Form fort, aber sie ist ihr
nicht wesentlich und ebenso verhält es sich im epischen Gedichte; wo aber
die Handlung gegenwärtig vor uns aus dem Jnnern sich erzeugt, da ist
der Dialog die einzig mögliche Darstellungsweise. Man kann sagen und
hat gesagt, das Drama ruhe formell wesentlich im Fortgange des lyrischen
Monologs zum Dialog; nur nennen wir natürlich das Alleinsprechen des
lyrischen Dichters nicht Monolog, weil dieser Name eine Handlung voraussetzt,
worin im Uebrigen die Zwiesprache oder das Sprechen Mehrerer herrscht.
─ Nun ist aber auch jenes epische Moment wieder aufzufassen, wodurch
das Drama die Handlung, die es entwickelt, als sichtbares Bild, nur zunächst
als blos innerlich sichtbares, uns vorführt, und es erhellt, wie grundverschieden
der Weg sein muß, durch den der dramatische Dichter dieß
bewerkstelligt. Er schiebt kurze Anmerkungen ein, um uns das Local, wohl [1379]
auch die Gestalt der Personen und ihre Gebärden zu veranschaulichen, dieß
geht aber fast nur die Bühnendarstellung an und kommt neben dem Wesentlichen,
was er als Dichter zu thun hat, gar nicht in Anschlag. Er läßt
die äußere Umgebung und die Erscheinung seiner Charaktere durch diese
selbst mit einzelnen Zügen zeichnen: dieß ist bereits ein integrirender, aber
gegenüber demselben Verfahren in der epischen Poesie ganz klein zusammengehender
Theil seines Verfahrens. Das Wesentliche ist vielmehr: die
Charaktere müssen von ihm so lebendig geschaut sein, daß sie das Bild
ihrer äußern Erscheinung und Bewegung für unsere Phantasie ohne weiteres
Zuthun nöthigend mitbringen. Einen wahrhaft organisch aus seinem Centrum
herauswirkenden dramatischen Charakter sehen wir im bloßen Lesen so deutlich
vor Augen, daß wir meinen, ihn greifen zu können. Die Häufung jener
Anmerkungen in der neueren dramatischen Literatur beweist mit dem Mißtrauen
zu unserer und des Schauspielers Phantasie nur den Unglauben an
die eigene. Die Energie der vollen Gegenwart, womit die Persönlichkeit
im Drama vor uns tritt, gibt ihr bei allem Unterschied der Künste eine
Verwandtschaft mit der Sculpturgestalt. Die epische Schilderung gleicht
mehr dem Gemälde, dem Auftrag auf der Fläche. Die Sculpturgestalt
erscheint wie aus einem geistigen unerforschlichen Grunde in den Raum
hereingewachsen, so baut sich aus seinem geistigen Kerne heraus vor unserem
inneren Auge der dramatische Charakter und stellt sich fest, klar abgeschnitten
in den idealen Raum der inneren Vorstellung.


Blicken wir nun auf das Jnnere des Dichters zurück, dessen Einströmen
in seine Personen wir zunächst zu dem Lyrischen im Drama gestellt
haben, so erhellt aus dieser veränderten Stellung, daß es selbst eine Welt
sein muß, wenn es, mit dem so umgebildeten Epischen so verbunden, ein
Weltbild soll geben können. Was das heißt, zeigt Keiner, wie Shakespeare,
dieser centrale Mensch, der den Menschen und den Dingen unbegreiflich in's
Herz sieht, dieses Jndividuum, das alle Formen der Menschheit durchwandelt
zu haben, Kind und Greis, Mann und Weib, Knecht und Fürst,
Krieger und Staatsmann selbst gewesen zu sein, ihre Schicksale selbst erlebt
zu haben und sich so zur Gattung zu erweitern scheint. Keine Kunstform
versetzt uns so in die Zustände wie das Drama, das sie uns gegenwärtig
vorstellt. Der Lyriker führt uns nur in sein Gemüth und nur in sein
Gemüth, nicht in seine ganze Persönlichkeit, weil er nicht handelt.
Göthe's Wort: bei Shakespeare könne man sehen wie den Menschen zu
Muthe ist, scheint wenig zu sagen und sagt unendlich viel. Dagegen kann
man an Schiller, ─ dessen übrige Größe darum doch unbestritten bleibt ─
negativ erkennen, was der Prozeß der völligen Entäußerung des dichterischen
Subjects besagen will. Er gießt rhetorisch seine ideale Anschauung,
sein schönes Gemüth in seine Personen, man vernimmt ihn selbst, wie er [1380]
hinter ihnen als dünnen Masken steht und hervorspricht, er zeichnet das
Böse und Niedrige mit seinem Hasse, statt ihm den kurzen Schein behaglicher
Berechtigung zu gönnen. Wo er diese Subjectivität, welche wohl
in Allgemeinheit des Gedankens und reiner Liebe die Welt umfaßt, aber
nicht im Sinne der poetischen Selbstverwandlung eine Welt ist, am meisten
überwunden hat, im Wallenstein, spart er sich doch die Parthie von Max
und Thekla als directes Gefäß für sein Gemüth aus, und eben diese
Parthie hat daher am wenigsten Haltung und Farbe von Stoff und Schauplatz.
Das Drama fordert einen Geist, der im Subjectiven selbst ganz
objectiv ist, der daher, wenn er sich ausspricht, den Gegenstand und zwar im
großen Sinne des Wortes, die Welt, ausspricht; es ist eine totale Selbstumsetzung,
die reinste Reproduction des Traumes (vergl. §. 390) im hellen Wachen.
Jn dem Werke dieser concentrirtesten und expandirtesten Form der Phantasie
ist daher verschwunden jene epische Synthese von Subject und Object und
jenes lyrische Alleinsein des Subjects, welches die Welt in sich resorbirt.
Man sieht keinen Dichter, sein Subject ist verschwunden, aber es ist verschwunden,
weil es im Werke ganz da ist, nichts blos Subjectives zurückbehalten
hat. Es ist von zwei Seiten die reine Einheit des Subjectiven
und Objectiven: blickt man auf die subjective Seite, so sieht man den
Dichter, der, wenn er ganz sich gibt, die Welt gibt; blickt man auf die
objective, so sieht man die Welt, die eine ganze und reine Entäußerung des
dichterischen Subjects, daher ganz von subjectivem Leben durchdrungen, durcharbeitet
ist. Von keinem Werke der Kunst gilt daher so ganz und absolut,
was für alle Kunst in den angeführten §§. als Forderung aufgestellt ist; keines
steht so ganz auf eigenen Füßen, rein abgelöst vom Künstler wie ein Naturwerk,
eine selbständige Welt, ein Planet, der sich um sich selber dreht, und
ist zugleich der Object gewordene Geist des Künstlersubjects. ─ Es erhellt,
daß eine solche Kunstform in der zeitlichen Entwicklung nicht nur die epische
Naivetät, sondern auch die subjective Bewegtheit der Lyrik hinter sich haben
muß und eine noch ungleich mehr geschüttelte, erfahrungsreiche, energische
und befreite Welt voraussetzt, als die letztere. Jn Griechenland stand das
Drama auf, als jene Kämpfe mit Tyrannis und Aristokratie, deren Unruhe
das lyrische Bewegungsleben des Gemüths gelüftet hatte, zur Entscheidung
gelangt, die Freiheit in der Demokratie eine Thatsache geworden und durch
den Sieg über die Perser die Geister zum vollsten Selbstbewußtsein gekommen
waren. Das Mittelalter konnte kein wahres Drama haben, die Mysterien
sind noch eine halb=epische Form mit eingesetzten lyrischen Gesängen. Man
kann diese Erscheinnng in beschränktem Sinne Volksdrama nennen; in
welcher Begrenzung von einer fortdauernden Thätigkeit der Volkspoesie
im dramatischen Gebiete die Rede sein könne, werden wir im Zusammenhang
der Komödie zur Sprache bringen. Das wirkliche und wahre Drama [1381]
der modernen Zeit ist aber ein Kind der Reformation und des Humanismus,
der erneuten Wissenschaft, also des Bruchs mit der mittelalterlichen Bindung
der Geister und des gedankenklaren Blicks geprüfter und enttäuschter Menschen
in die Wirklichkeit. Shakespeare, der Protestant, der Sohn jenes
unendlich lebendigen Jahrhunderts, dem die breite Binde von den Augen
gefallen war, ist der „Homer des Drama“ (Gervinus, Shakespeare B. 4,
S. 341). Die Blüthe dieser Kunstform im strengkatholischen und despotischen
Spanien war nicht möglich, wenn nicht der Welt ringsumher die
neue, freie Bildung wäre aufgegangen gewesen, der Kern der Weltauffassung
im spanischen Drama ist aber gerade so weit nicht wahrhaft dramatisch, als
dieselbe ihn nicht durchdringen konnte: er begründet den typisch gegebenen
Rahmen von Motiven, die nicht aus der wahren und allgemeinen Menschen=Natur
erwachsen. Wir haben diese Verhältnisse schon in der Geschichte
der Phantasie berührt, vergl. §. 472. 475. Die Franzosen haben in der
Beweglichkeit und kritischen Schärfe ihres Geistes immer ein Analogon des
Protestantismus gehabt. Was aber ihrem Drama fehlt, hängt doch mit
der schematisch unlebendigen Auffassung des innern Menschen zusammen,
die ihren Grund im romanisch Katholischen hat. Den ganzen und vollen
Beruf zu dieser Gattung hat die eigentlich moderne Zeit und der germanische
Geist. Die großen classischen Dichter unserer deutschen Nation sind
in diesen Beruf eingetreten, freilich ohne Shakespeare's unbedingtes dramatisches
Genie und ohne den Styl zu erreichen, den wir als nächstes Ziel
der bisherigen Geschichte des Drama erkennen werden, und ohne in der
Komödie es den neuern Franzosen und Engländern gleichzuthun.


§. 897.


Die Welt, wie sie in dieser Auffassung erscheint, ist wesentlich ganz von
innen heraus bestimmt, Alles fließt aus dem Jnnern und führt in es zurück;
es wird also vollkommener, als in den andern Zweigen, erfüllt, was nach §. 842, 1.
im Wesen der Dichtkunst liegt. Die Bestimmtheit dieses Jnnern als bewußter
Wille bringt ein entschiedenes Hervortreten des Gedankenhaften, des gnomischen
Elements, mit sich (vergl. §. 842, 2.). Der Wille setzt sich seinen Zweck und
vollführt ihn. Die Breite des Aeußerlichen zieht sich durch die Rückführung
auf den alle Masse allein bewegenden Zweck in einen engen, nur andeutenden
Auszug zusammen; bestimmend wirkt es auf den Willen nur, sofern es zum
Motiv erhoben wird. Jn diesem durchaus straffen Weltbilde gibt es daher
keinen Zufall.


Wir verweisen auf den angeführten §.; was dort von der Dichtkunst
überhaupt gesagt ist, das wird in derjenigen ihrer Formen zur vollen Wahrheit, [1382]
für welche nichts existirt, was nicht mittelbar oder unmittelbar vom
Geist als dem Zwecksetzenden, in ein Netz von Zwecken Alles, was ihm
gegenüber blos Natur, blos Masse ist, einspannenden ausgeht oder von
ihm als Grund einer Willensbestimmung approbirt ist. Der frei wollende
Geist denkt seinen Zweck; auch der zweite Theil von §. 842, welcher der
Poesie das Aussprechen allgemeiner Gedanken vindicirt, findet daher hier
seine vollste Anwendung: der Zweck wird im Drama, wie vor dem eigenen
Bewußtsein, so vor dem Freunde, vor dem Gegner gerechtfertigt, es wird
mit Gründen gekämpft, bleibende Wahrheiten, Sentenzen, breitere Ausführungen
gehen herüber und hinüber und stellen den Kampf der Kräfte in
ein Tageslicht, das ihn nach allen Seiten beleuchtet und ihm den Stempel
eines Kampfes von Jdeen aufprägt. Dieß Element ist es, was Aristoteles
(Poet. C. 6) die διανοια nennt, die Rechtfertigung des Strebens durch
Gedanken-Ausdruck, und was wir als das Gnomische bezeichnen. Die
Durchklärung des Stoffs mit diesem Lichte des Bewußtseins hat natürlich
verschiedene Stufen, mehr instinctives Dunkel bleibt in gewissen Formen
des Drama zurück, aber wir ziehen den Grundbegriff billig aus der durchsichtigsten.
Es gibt auch eine Stufe, wo sie zu weit geht und eine dramatische
Poesie der Betrachtung hervorbringt, eine Grenze, an welcher Göthe
und Schiller sich hinbewegen. ─ Wenn nun so die Welt unter den Standpunct
des sich durchführenden ethischen Zweckes rückt, so wird durch diese
Adstriction die Breite, wodurch sich das dramatische Bild zwar wesentlich von
der lyrischen Punctualität unterscheidet, in ihrem Umfange doch nothwendig
wieder verengt. Aehnlich wie in der Plastik muß hier das möglichst Wenige
dienen, um die äußere Sphäre und das physische Geschehen anzudeuten, und
diese Sparsamkeit, ganz abgesehen von der Rücksicht auf die scenischen Schwierigkeiten,
drückt aus, daß der dramatische Dichter nicht wie der epische am
Naturdasein in seiner Gediegenheit einfach seine Freude hat, sondern daß
es ihm werthlos ist, sofern es nicht in sichtbaren ethischen Zusammenhang
tritt. Jm Drama kommt z. B. ein Ankleiden, ein Essen vor, wenn es
für die Handlung und ihre große Kette von Verdienst und Schuld wesentlich
ist, daß dieß oder jenes gerade in einer solchen Situation eintrat; wogegen
das Epos bei diesen Dingen aus reiner Lust weit hinaus über den bedingenden
Zusammenhang der Handlung verweilt. ─ Dieß führt auf die strenge
Ausscheidung des Zufalls. Dieser Punct ist in der Lehre vom Tragischen
§. 117. 130. 133. 135 vollständig erörtet.


§. 898.


Der persönliche Wille ist in concreter Gestalt wesentlich Charakter,
dem sein Zweck zum Pathos geworden. Keine Form der Kunst ist so ganz zur [1383]
Charakterdarstellung berufen und so streng zur consequenten Durchführung
desselben verpflichtet, wie das Drama. Daher faßt es den Charakter in dem
intensiven Sinne, daß er sich vom Gegebenen losreißt und radical in die Verhältnisse
eingreift. Die Zusammendrängung seiner Kräfte auf seinen Zweck
beschränkt die Vielseitigkeit seiner Erscheinung. Er vollzieht entweder in der
Darstellung selbst eine entscheidende Wendung in sich bis zur völligen Veränderung
seines Centrums, oder er verharrt in seiner schon reifen Bestimmtheit.
Der Zweck enthält eine Mehrheit von Momenten und setzt den entgegengesetzten
Zweck voraus: in der Gruppe von Charakteren, welche dieß erfordert, deren
Personenzahl aber durch das Wesen der Dicht-Art beschränkt ist, herrscht Ein
Charakter als Hauptperson.


Der Begriff des Charakters ist in §. 333, der des Pathos in §. 110 ff.
entwickelt. Jn §. 842, 1. ist aufgestellt, daß die Poesie das Schöne vollkommener,
als irgend eine andere Kunst, in der Form der Persönlichkeit
verwirklicht. Jm höchsten Sinne wird dieß vom Drama geleistet, indem
es die Persönlichkeit in der ganz gesättigten und entschiedenen Gestalt des
Charakters zu seinem Mittelpunct hat. Stetige Einheit mit sich ist sein
Hauptmerkmal; Aristoteles fordert (Poet. C. 15) namentlich das ἱμαλὸν,
die Consequenz, und wäre es auch nur Consequenz in der Jnconsequenz.
Die neuere Romantik hat grundsätzlich kernlos schwankende, selbst in der
Jnconsequenz inconsequente Charaktere geliebt und war ebendarum vor
Allem durch und durch undramatisch. Wenn der Charakter kein Centrum
hat, wie soll ein klares Verhältniß im Gegensatze der Wechselwirkungen
Statt finden, zu welchem das Drama die Charaktere vereinigt? Tritt nun
der Charakter in seiner ganzen Entschiedenheit auf, so muß er sich auch in
die Spitze zusammenfassen, daß er die Kette des Gegebenen, frei aus sich
beginnend, durchschneidet. Jm vollständigen Sinne gilt dieß vom geschichtlichen,
politischen Helden, aber auch von der Hauptperson im bürgerlichen
Drama wird immer verlangt, daß sie in irgend einer Form radical handle,
d. h. das Bestehende auf irgend einem Puncte durchbreche, um es im Sinne
des Jdealen zu erneuern. Der Begriff des Jdealen darf dann allerdings
nicht zu eng gefaßt werden, das Motiv kann eine subjective Leidenschaft
sein, aber sie muß sich an eine Jdee knüpfen und im Glauben handeln, sie
so ausführen zu dürfen, daß sie sich ein neues, eigenes Gesetz schafft, wie
z. B. Othello, indem er als Richter handeln zu dürfen meint, die Jdee der
Gerechtigkeit in unerhörter Form auszuüben wagt. ─ Der dramatische
Charakter ist vermöge dieser Straffheit seines Handelns nothwendig gedrängter,
als der epische; er muß reich sein, damit man die Macht der Jdee, die
ihn erfüllt, an der Mannigfaltigkeit der Kräfte und Eigenschaften erkenne,
die sie durchdringt, in Bewegung setzt und in ihren Dienst zieht; aber diese [1384]
besonderen Seiten können und sollen nicht zu der wirklichen Entfaltung
kommen, wie im Epos, sondern durch ihre Verschlingung abgekürzt auf das
Eine Ziel losdrängen. Diese Jneinanderarbeitung des bestimmenden Pathos
und der reichen Persönlichkeit tritt in's stärkste Licht, wenn jenes einen
Charakter ergreift, der ihm ursprünglich widerstrebt, wenn seine Natur und die
Leidenschaft einander nur schwer und langsam annehmen, wie Othello's argloses,
großes Herz und das Gift des Argwohns. Wenn dann endlich das
Amalgam vollendet ist, erscheint der ganze Charakter in um so tieferem und
gewaltsamerem Aufruhr. Es ist dieß der Fall, wo derselbe im Drama eine
solche Wendung nimmt, daß seine Kräfte um ein neues Centrum sich vereinigen;
von dieser stärksten Form des Umschlags eines Charakters ist wohl zu
unterscheiden eine andere, wo er innerhalb seines ursprünglichen Centrums und
natürlichen Pathos durch Schicksalserfahrungen zu einer Krise gesteigert wird,
die seine ganze Stimmung, seinen Zustand verändert, wie z. B. König Lear.
Ein mittlerer Fall ist der, wenn der Keim zu einem Umschlag, welcher
das anfängliche Bild des Charakters aus den Fugen treibt, in diesem schon
vorher tiefer angelegt war, als es schien, wie im Makbeth, dem ungleichen
tragischen Bruder Richard's III, der als reifer, hart geschmiedeter Bösewicht
von Anfang an auftritt. Hamlet, der in dem fortgehenden Kampfe mit
einem Pathos, das den Anspruch macht, sich seiner ganz zu bemächtigen,
sich doch wesentlich gleich bleibt, steht fast einzig in der Geschichte der Tragödie.
Die einfachste Form der Steigerung im ursprünglichen Centrum ist
das Anwachsen zum höchsten Pathos der Liebe; es setzt jugendliche Naturen
voraus, die nicht vorher schon zu markirter Reife gelangt sind, wie Romeo.
Ein anderer Theil der dramatischen Charaktere bringt dagegen völlig reife
Gestalt nicht nur sogleich mit, sondern verharrt auch darin, so daß seine
Handlungen einfach aus der gegebenen festen Bestimmtheit hervorgehen.
Soll dieß aber von der Hauptperson gelten, so muß doch die That, die
zur Katastrophe führt, mit einer Aufregung, Aufwühlung verbunden sein,
die annähernd als eine Veränderung des Charakters bezeichnet werden kann,
wie bei Wallenstein, da ihn der Ehrgeiz zum Verrathe führt. ─ Der Zweck,
welcher der Hebel der dramatischen Handlung ist, setzt den Gegenzweck voraus,
beide legen sich in ihre Momente auseinander und dieß natürlich eben in
der lebendigen Form von Charakteren. Man vergleiche z. B. Schiller's
Wilhelm Tell. Die Jdee der nationalen Freiheit tritt in die Momente der
entscheidenden Thatkraft, der jugendlichen Leidenschaft, der berathenden männlichen
Klugheit auseinander: das erste in Tell, das zweite in Melchthal,
das dritte in Stauffacher, W. Fürst und einer Anzahl weniger bestimmt
hervortretender Personen; Jäger, Hirten, Fischer, Landleute, ihre Klagen
und Leiden sind nothwendig, den Gesammtzustand zur Darstellung zu bringen.
Weiblicher Heroismus, in mildem Contraste dem stilleren Familiensinne [1385]
gegenübergestellt, schließt sich an jene Momente an und selbst Kinder mit
einigen Strichen von Charakterzeichnung sind nothwendig. Der That der
Vertheidigung der Familie und des Vaterlands stellt der Dichter in starkem
Contraste den Mord aus Rache entgegen in Joh. Parricida. Auf der
andern Seite die Tyrannei in Geßler; sie erfordert Werkzeuge, Begleiter,
Soldaten. Jn der Mitte steht der Adel des Landes, theils national gesinnt,
aber die Erhebung des Volkes als solchen, das Aufsteigen der Demokratie
erst im Tode erkennend, theils der fremden Gewaltherrschaft anhängend, im
Verlauf aber zur nationalen Sache übergehend: Attinghausen und Rudenz.
Die Massen aber, welche die Befreiung im Großen vollbringen, sind nur
angedeutet. Die Frage, ob der Stoff des W. Tell nicht mehr episch, als
dramatisch ist, brauchen wir hier nicht zu untersuchen, denn wir hätten
genug andere unzweifelhaft dramatische Stoffe als Beispiel anführen können,
welche für eine große nationale Handlung Massen in Bewegung setzen
müssen. Auch auf dieser Seite tritt nun aber im Drama doch eine Zusammenziehung
der epischen Breite ein: verhältnißmäßig Wenige gelten als
Repräsentanten für sehr Viele, und aus den Figuren, welche die Masse
vertreten, sind nur einige skizzirt, so daß man erkennt, es handle sich hier
blos um ein Material, das nicht den Vollwerth der freien Persönlichkeit
hat und daher nur den Saum der Darstellung bildet. Aber, was wichtiger
ist, auch der Häupter der Handlung sind gegen die Fülle von Helden im
Epos Wenige, denn das Drama ist eingedenk, daß der durchgreifende Geist
der Geschichte sich in wenige Zähler neben unendlich vielen Nieten zusammenfaßt.
Man sieht auch hier die Aehnlichkeit mit der Plastik, welche,
wie sie die Natur-Umgebungen durch Weniges symbolisch andeutet, so in
der Hauptsache, in den Figuren, auf den Begriff der Vertretung Vieler
durch Wenige (vergl. §. 606) und keineswegs blos auf die Beachtung
der technischen Schwierigkeiten ihre Sparsamkeit in der Figurenzahl gründet.
─ Es versteht sich nun, daß ein Werth-Unterschied unter den Personen
der Handlung ist, und davon muß schon hier, in der Erörterung des allgemeinen
Wesens der dramatischen Kunstform, die Rede sein, während die
spezielle künstlerische Seite dem Abschnitte von der dramatischen Composition
angehört. Wo sich das Leben und die Geschichte zu einer entscheidenden
Spitze treibt, da muß es Eine Person sein, in welcher diese Bewegung
sich zusammenfaßt; das Drama hat daher nothwendig in viel engerem Sinn
eine Hauptperson, einen Helden, als das Epos, in welchem wohl auch
eine Gestalt alle andern überragt und das höchste Jnteresse auf sich zieht,
denn dort schneidet der herrschende Charakter das Bestehende durch, hier ist
er nur die höchste Fülle, das reinste Bild der Kräfte, die sich rings um
ihn her ausbreiten, er schwimmt oben auf dem Strome dieses Ganzen,
gegen den der dramatische Held ankämpft. Es kann nur äußerst seltene [1386]
Fälle geben, wo die Hauptperson schwer zu bezeichnen ist und doch die
Einheit nicht leidet; ein solcher ist Shakespeare's Jul. Cäsar, wo der Held,
der dem Stücke den Namen gegeben, früh untergeht und Brutus zum Helden
des Stücks wird, während doch sein und seiner Verbündeten Leiden und
die Niederlage der republikanischen Jdee als ein Fortwirken des Gemordeten,
eine Handlung seiner Manen erscheint. Wo das Pathos der Liebe den
Jnhalt bildet, treten zwei Personen, die in der Unendlichkeit ihrer idealen
Leidenschaft zu Einer werden, so vereinigt in den Vordergrund, daß man
zweifeln kann, ob der wagende Jüngling oder das zur Heldinn gewordene
Weib die Hauptperson ist, wie in Romeo und Julie. Der Charakter, welcher
an der Spitze der Gegenseite steht, gegen welche der dramatische Held kämpft,
wird häufig schärfer gezeichnet erscheinen, als dieser, denn er vertritt die
verhärtete Gestalt des Bestehenden, die herbe Welt des Verstandes oder das
Böse, die Jntrigue, während jener durch das phantasievoll Geniale seines
Wollens jugendlicher erscheint, ohne darum das Prädicat der schwungvolleren
Energie zu verlieren; so ist selbst das Weib Antigone in der Handlung der
Tragödie doch unzweifelhaft der Hauptcharakter gegenüber dem starren,
harten Männercharakter Kreon's. Man erkennt daraus, wie hier Alles auf
die Stellung ankommt, die ein Charakter in der gegenwärtigen Handlung
einnimmt, denn Hauptperson ist, wer die vollste Kraft in die Durchführung
des Zweckes setzt, um den jene sich dreht. Dieß führt auf den wahren
Einheitspunct im Drama.


§. 899.


Was durch diese Zweckthätigkeit des Willens geschieht, ist im intensiven
Sinne des Wortes Handlung, eine Reihe von Thaten mit einer entscheidenden
That im Mittelpuncte. Durch sie bereiten sich die Personen ihr Schicksal.
Dieses geht aus dem Kampfe der Wirkungen und Gegenwirkungen als das
dem Ganzen dieser Bewegung vorher verborgen inwohnende Gesetz hervor, stellt
sich als das wahrhaft Herrschende, als das wahre Subject der Handlung heraus
und zieht also das Haupt-Jnteresse, welchem sich nun das für die Charaktere
unterordnet, auf sich. Keine Form der Kunst ist so ganz, wie das Drama,
zur Darstellung des Tragischen berufen.


Aristoteles sagt (Poet. C. 6): die Hauptsache in der Tragödie sei der
Mythus, die Zusammenstellung der Begebenheiten, denn diese Dichtungsart
sei eine Nachahmung nicht von Personen, sondern von Handlungen, Lebensverhältnissen,
Glück und Unglück, ihr Ziel sei eine Handlung, nicht eine
Beschaffenheit; die Handlung sei nicht da zum Zwecke der Sittendarstellung,
sondern ihretwegen werde diese mitumfaßt, und eher sei eine Tragödie ohne [1387]
diese, als ohne jene möglich. Dieß ist in seiner sinnvoll empirischen Weise
naiv, aber durchaus treffend gesagt; naiv, weil der innere Zusammenhang
zwischen Charakter und Handlung nicht philosophisch entwickelt ist. Es
fehlt das Band, das vom Einen zum Andern führt; es müßte aufgezeigt
sein, wie das Erhabene des Subjects, das zuerst den Vordergrund einnimmt,
dem absolut Erhabenen des Schicksals Platz macht, jedoch nicht so, als ob
beide nur ein Nebeneinander wären und das Erste vom Zweiten äußerlich
verdrängt würde, sondern so, daß das Erhabene des Subjects als Bruchtheil
eines Ganzen erscheint, das in ihm selbst, aber nicht in ihm allein,
sondern in der Vielheit von Jndividuen, zunächst in der ganzen Gruppe
der in dieser Darstellung Vereinigten, in verschiedenen Verhältnissen der
Wechsel-Ergänzung von Recht und Unrecht gegenwärtig ist und von dem
es verschlungen wird, weil es nur Bruchtheil und zwar auf Trennung des
Ganzen ausgehender Bruchtheil war. Dieß ist der tragische Prozeß, wie
er in §. 117 ff. auseinandergesetzt ist, und wir dürfen jetzt auf diesen Abschnitt
mit der einfachen Bemerkung zurückverweisen, daß keine Gestalt der Kunst
diesen Prozeß so rein und scharf zur Erscheinung bringt, als das Drama.
Bei Aristoteles fehlt diese Begriffs-Entwicklung, weil ihm die tiefere Jdee
des Schicksals fehlt, statt welcher er einfach empirisch: Handlung, Umschwung,
Glück und Unglück setzt, und ebenso, weil ihm der tiefere Begriff
des Charakters fehlt, wie er als eine Form desselben allgemeinen Geistes,
der als Schicksal über ihn kommt, sich selbst dieses Schicksal schmiedet, weil
er in den Zusammenhang des Ganzen trennend eingreift. Sein Satz ist
dennoch höchst wichtig und fruchtbar, denn die Geschichte des Drama, namentlich
des neueren, zeigt, wie häufig man der falschen Ansicht folgte, als
ob Charakterzeichnung bei vernachläßigter Handlung schon ein Drama sei.
Dieß heißt für uns: bei dem Erhabenen des Subjects verweilen, statt von
da zum absolut Erhabenen der Weltordnung fortzugehen. Die dramatische
Conception geht nicht von den Charakteren, sondern von der Situation
aus und man kann beobachten, daß dem ächten Dichter häufig das Charakterbild
aus den Bedingungen des Schicksals erwächst. So fordert z. B.
die Handlung im Othello ein Weib, das so wehrlos, so unfähig ist, die
Zunge zu brauchen, daß ihre Unschuld trotz allen Mißhandlungen zu spät
an den Tag kommt. Aus dieser Bedingung ist wie aus einem zarten
Keime dem Dichter ein himmlisches Bild verschleierter, stiller, süßer Seelenschönheit,
reiner Sanftmuth hervorgewachsen. So entwickelt das ächte Genie
den Charakter vorneherein aus dem Schicksal und vereinigt organisch die
Kräfte, welche für diese beiden Seiten erforderlich sind, in richtigem Verhältniß.
Diese Vereinigung ist selten, die Talente und Richtungen sind so
vertheilt, daß Mancher einen Charakter zeichnen, aber keine Handlung, die
vorwärts geht und zu einer großen Entscheidung drängt, componiren kann. [1388]
Wir dürfen schon hier, obwohl wir diesen Punct an seinem Orte noch
ausdrücklich in's Auge fassen müssen, unsern Satz durch die Erscheinung
im Gebiete der Komödie beleuchten, daß man so häufig humoristische Charakterschöpfung
ohne lebendigen Gang und Wirkung der Fabel oder wohl
angelegte Jntrigue bei dürftiger Charakterzeichnung findet. Das Talent
der Charakterschöpfung ist an sich bedeutender, als das der Fabelschöpfung,
aber Angesichts der spezifischen Forderung der Dichtungsart ist das letztere
das strenger geforderte und so allerdings das vorzüglichere. Doch wir haben
hier zunächst das ernste, das tragische Schicksal im Auge, und bemerken noch
zum Schlußsatze des §.: im Drama muß das Tragische darum am vollsten
und reinsten zur Darstellung kommen, weil seine ganze Majestät aus dem
Gange einer gegenwärtigen Handlung sich entwickelt. Das Schicksalsgefühl
ist ein Gefühl des unendlich Drohenden, dann plötzlich Eintretenden, es
wird in seiner ganzen Stärke nur da erweckt, wo vor unsern Augen, jetzt,
in diesem Augenblick das Ungeheure geschieht.


§. 900.


Jn derselben Form des gegenwärtigen Entstehens einer Handlung aus
den Charakteren durch das geistige Mittel der Sprache, wodurch die dramatische
Dicht-Art den tragischen Prozeß in seiner ganzen Tiefe und Straffheit zur Erscheinung
bringt, ist es begründet, daß sie auch sein komisches Gegenbild
in einer Vollkommenheit und Selbständigkeit ohne Gleichen zu erzeugen vermag.
Das einfach Schöne in seiner ganzen Anmuth kann sie in diese Bewegungen
stürmischer verwickeln oder unversehrter in sie einflechten. Sie ist daher der
vollendetste Ausdruck der allgemeinen Grundformen des Schönen und auch in
diesem Sinne kehrt durch sie das System in sich selbst zurück.


Der §. nimmt seinen ersten Satz aus dem Schlusse der Anm. zum
vorh. §. deßwegen auf, weil für das Komische die Form der Gegenwart
seine ganz besondere Wichtigkeit hat, und ebenso verhält es sich mit dem
Mittel der Sprache, das darum hier ausdrücklich noch einmal betont werden
mußte. Das Komische ist diejenige unter den Grundformen des Schönen,
in welcher am sichtbarsten der Accent nicht auf dem Factischen liegt, sondern
auf dem Bewußtsein, seinen Widersprüchen, ihrer Auflösung. Sein volles,
wahres Bild muß also erst da möglich sein, wo es als komischer Charakter
vor uns tritt, in Redeform sein Jnneres selbst bekennt, so daß wir in die
Widersprüche seines Bewußtseins hineinsehen, daß er in seiner unendlichen
Naivetät gegenwärtig von uns belauscht wird. Er hat wohl die Lauscher
im Stücke um sich, als subjectiv humoristischer Charakter belauscht er sogar
sich selbst, aber der Bruch löst sich darin nicht ganz, der völlig durchsichtige [1389]
komische Act ist nur im Dichter, wir folgen ihm und stehen als die Lauscher
über den Belauschten und Lauschern im Stücke: die komische Scala, welche
in §. 182 aufgewiesen ist. Die ganze Lehre vom Komischen, namentlich
von der Posse und vom Humor, wies überall schon auf das Drama hin,
klang fühlbar dramatisch, da in jedem Sinn ein Wechsel-Act zwischen Spieler
und Zuschauer gesetzt war. Wir haben im Epos komische Bestandtheile,
wir haben einen komischen Roman, komische Lyrik gefunden; die letztere ist
doch kein häufiger, kein reicher Klang, dieß widerspräche der Poesie der
Empfindung; die epische Breite ist ein Hinderniß, daß ein Moment, das
auch hier noch, wie im Tragischen, besonders hervorgehoben werden muß,
nämlich die absolute Plötzlichkeit des Komischen recht zum Durchbruch komme.
Der komische Blitz ist der Form der Gegenwart vorbehalten, die sich nach
der Zukunft spannt. Wie das Schicksal in den Reibungen des komischen
Charakters mit der Außenwelt zum Zufalle wird und an die Stelle der
Nemesis die bloße Verlegenheit tritt, ist in der Lehre vom Komischen auseinandergesetzt
und kann danach ein Schein des Widerspruchs mit dem Satze,
daß das Drama den Zufall aufhebe, wie keine andere Kunstform, nicht
entstehen. ─ Die Schönheit der harmlosen Anmuth wird im tragischen
und komischen Prozeß ihre wesentliche Stelle finden; sie wird wie eine Blume
am schäumenden Wassersturze stehen und gerettet oder mit in seine Wirbel
hineingerissen werden. Dieses Schicksal wird ein mehr äußeres oder mehr
inneres sein, Clärchen folgt dem Geliebten durch freien Entschluß in den
Tod, Gretchen im Faust wird erst innerlich zerrissen, um dann in erhabener
Fassung zu sterben; im Komischen theilt die naive Lustigkeit der Anmuth
harmlos das komische Spiel, durch Schmerzen geht der tiefere und freiere
Humor einer Rosalinde und Porzia. ─ So treten denn jene Grundformen,
die in der Metaphysik des Schönen entwickelt sind und den Unterbau des
ganzen Systems bilden, aus ihrer Tiefe herauf und bilden in scharfer Gliederung
ebensosehr die Spitze der Pyramide. Das System kehrt also durch
die Poesie und im höchsten Sinne durch die dramatische nicht nur überhaupt
in seinen ersten Theil als die reine, geistige Gestalt des Schönen
(vergl. §. 863, Anm. 1.), sondern auch speziell in dessen unterschiedene
Formen mit gefüllter Jntensität zurück.


§. 901.


Der dramatische Styl entnimmt sein Grundgesetz aus dem Momente des1.
Fortgangs vom Charakter zur Handlung, er ist wesentlich vorwärts drängend,
spannend und durchschlagend. Danach bestimmen sich die einzelnen Elemente der2.
Darstellung: das in engerem Sinn epische der Erzählung nimmt höhere Bewegtheit
an, das lyrische im Monologe darf sich nicht in die Jnnerlichkeit [1390]
der bloßen Empfindung oder des Denkens vertiefen, sondern muß durch Affect
auf die Handlung lebendig überleiten, der Dialog darf nicht ein bloßer Austausch
von Gründen oder Gefühlen, sondern muß wechselseitig wirksam sein,
3.etwas in der Sachlage verändern. Das Feuer der Bewegung ergreift auch die
einzelnen poetischen Mittel, namentlich die Tropen. Die entsprechende rhythmische
Form ist der steigende, strebende Jambus.


1. Der epische Styl hat sein Grundgesetz im Standpuncte des Seins,
der Substantialität, der Bewegung auf ruhiger Grundlage, der dramatische
im Standpuncte des Werdens, nämlich des Werdens der That und des
Schicksals aus dem Jnnern. Er ist daher ganz bewegte Linie, die vorwärts
geht, ganz Bahn; spannt sich die Handlung dem Wesen nach von der Gegenwart
nach der Zukunft, so muß sich dieß natürlich auch im Styl ausdrücken:
er muß vor Allem spannend sein. Es gibt freilich einen Mißbrauch,
einen athemlos vorwärts hetzenden, jagenden Styl: die Eile muß ihre Weile,
das Bild der Charaktere und ihrer Lagen muß Zeit haben, sich zu entwickeln;
die Franzosen besonders neigen zum Uebermaaß der spannenden
Bewegung, aber was am meisten und in Deutschland vor Allem Noth thut,
ist die Warnung vor beschaulichem Weilen und Kleben, und nicht stark
genug kann man unsern Dichtern zurufen: was nicht vorwärts drängt und
daher nicht spannt, ist nicht dramatisch. Die Spannung löst sich von
Stadium zu Stadium in Entscheidungen auf, bis der Schluß die letzte
bringt; auf der Spitze des Messers schwebt die Handlung, ein Schlag,
und der Würfel fällt. Hier wird die Spannung zur Ueberraschung; der
subjective Ausdruck des Aristoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid
erwecke, ist durch den Begriff des Schreckens, doch in einzelnen Momenten
der Tragödie und in Schauspiel und Komödie auch den der Freude und
der komischen Erschütterung zu ergänzen. Daß sie in der Spannung vorbereitet
ist, schwächt die Ueberraschung nicht. Der Gang ist also in vollem
Gegensatze gegen den epischen ein stoßweiser, das Merkmal des Plötzlichen,
was in allem Erhabenen und Komischen liegt, wird zum Styl-Merkmale,
und ebenso stark ist hier unsern Dichtern zuzurufen: was nicht blitzt,
durchschlägt, zündet, ist nicht dramatisch. Der Mißbrauch liegt freilich auch
auf diesem Puncte nahe genug, aber von den zwei Uebeln: zu wenig oder
zu viel Schlag und Erschütterung ist das letztere das, was nur am Maaße
sündigt, das erstere am Wesen der Dicht-Art. Göthe hat in allen
seinen Dramen keinen Moment, der so rein und ächt dramatisch wäre, wie
der, wo Alba den Egmont in den Palast reiten, vom Pferde steigen sieht,
und den folgenden, wo er ihn verhaftet. Jphigenie und Tasso sind unsterbliche
Seelengemälde ohne wahrhaft dramatische Spannung und Ueberraschung.
Schiller dagegen ist überall reich an solchen Momenten, wo alle [1391]
Herzen klopfen, jeder Nerv sich spannt und dann der Blitz der Entscheidung
zuckt. Wie wirkungsvoll hat er, um nur dieß Eine zu erwähnen, die Scene
der Ermordung Geßler's behandelt, wo wir Tell lauernd wissen, wo ─
ein äußerst glückliches Motiv ─ die flehende Armgart eintritt, Geßler ihr
gegenüber den Uebermuth auf den Gipfel steigert und mitten in der harten,
stolzen Rede vom Pfeil durchbohrt sein: „Jch will“ ─ stöhnend mit dem
Ausruf abbricht: „Gott sei mir gnädig!“ und vom Pferde sinkt. Der
Großmeister aber in ächt dramatischer Spannung und Ueberraschung ist
Shakespeare; wir weisen nur auf die Scene der Ermordung Duncan's im
Makbeth hin. Lady Makbeth in grauenhafter Angst befindet sich auf der
Bühne; ihre Worte: „er ist daran“ sind ein Abgrund spannender Bangigkeit,
dann bemerke man das tiefe künstlerische Motiv, daß Makbeth, ehe die
That geschehen ist, noch einmal oben erscheint und fragt, was es gebe;
dieß ist ein Verweilen, das uns zeigt, wie beide Gatten von den gleichen
Schrecken der Gewissensangst durchbohrt sind; endlich tritt jener starr,
stier mit den Worten auf: „ich hab' die That gethan“ und es folgt die
Schilderung ihrer Ausführung und seiner innern Zustände, die eine Unendlichkeit
von Entsetzen in sich schließt.


2. Das Epische im allgemeineren Sinne des Worts, wie es sich im
Dramatischen erhält, ist das Geschehen überhaupt, das freilich hier zu einem
intensiven Handeln wird. Es bedarf aber diese Dicht-Art eines epischen
Elements in engerer Bedeutung: dieß ist die Erzählung. Sie ist nöthig,
um Solches, was der Länge der Zeit und der Masse des Stoffs wegen
nicht in gegenwärtiger Handlung dargestellt werden kann, doch vorzubringen,
ferner um Gräßliches, was, unmittelbar vor das wirkliche Auge gebracht,
unerträglich wäre, nur im Spiegel des Bewußtseins eines Zweiten zu zeigen,
ein Mittel, das jedoch dem Schauder nur den grassen stoffartigen Charakter
nehmen, nicht ihn ersparen soll, ja denselben im geistigen Reflexe
vielmehr unendlich steigert (vergl. §. 388, 1.). Dieß epische Element,
in's dramatische versetzt, muß nun natürlich, von dem Charakter des letzteren
ergriffen, einen beflügelten, schlagenden, kürzeren Styl annehmen. Bei den
Alten waren die Berichte von Boten, Wächtern u. s. w. als stehende Form
neben den lyrischen Gesängen in der Tragödie unterschieden und geläufig,
sie haben noch mehr spezifisch epischen Ton und lieben größere Länge, als
die modernen Erzählungen, wo das dramatische Gefühl in diesen Theil
stärker eingedrungen ist. Man vergleiche mit antiken Erzählungen die zwei
in Göthe's Jphigenie, wo diese das Schicksal ihres Hauses, Orestes die
Ermordung seiner Mutter berichtet, man bemerke namentlich, wie gern die
rasche Rede in's Präsens übergeht, und man wird den Unterschied erkennen.
Es gibt innerhalb dieses Charakters der dramatischen Erzählung wieder einen
Unterschied des mehr Epischen, mehr Lyrischen und mehr spezifisch Dramatischen; [1392]
mehr episch werden wegen des Gezogenen und Massenhaften im
Stoffe z. B. Berichte von Reisen, Schlachten, Zurüstungen zu einer Unternehmung
sein, mehr lyrisch Erzählungen von tief stimmungsvollen Momenten
wie im Hamlet die herrliche Erzählung von Ophelia's Tod: „es
neigt ein Weidenbaum sich über'n Bach;“ mehr rein dramatisch alle Schilderungen
kritischer Schicksalsmomente, wie Wallenstein's Erzählung von
dem Abend vor der Lützner Schlacht, oder furchtbarer Thaten, Verübung
eines Mords u. s. w. ─ Der Monolog ist lyrisch als ein mehr oder
minder empfindungsvolles Jnsichgehen des Subjects. Er bildet subjective
Ruhepuncte im Gedränge, in der stürmischen Reibung der Kräfte, im vorwärts
drückenden Gange der Handlung. Er ist aber, da hier Alles in der
helleren Sphäre des Bewußtseins geschieht, zugleich wesentlich Moment der
Selbstbesinnung, denkend, gnomisch in der weiteren Bedeutung des Worts.
Daher ist er besonders motivirt und kehrt in fast regelmäßigen Pausen
wieder, wo der Held lange zweifelt, oder wo er in der Einsamkeit des Bösen
einer Welt gegenüber seine Plane überlegen muß, oder wo den Verbrecher
von Stadium zu Stadium sein Gewissen überfällt; so im Hamlet, Wallenstein,
Makbeth, Richard III, Othello. Allein der Dichter muß sich hüten, daß
er darüber nicht das Grundgesetz, die Beziehung auf die Handlung vergesse;
der Monolog, mag er mehr oder weniger Besinnung enthalten, soll vom
Affecte getragen sein, aus ihm fließen, in ihn auslaufen, am Bande des
leidenschaftlichen Wollens bleiben, die Handlung negativ durch Hemmung
oder positiv durch Eingreifen fördern. Wie drastisch sind Hamlet's reflexionskranke,
selbst Faust's von Wissensdurst glühende Monologen! Die moderne,
namentlich deutsche Poesie ist seit langer Zeit auf dem besten Wege, im
Monologe lyrisch zu schwelgen und philosophisch zu grübeln, ja er ist ihr
recht die Zufluchtstätte für ihre Scheue vor Handlung. Man darf unter
Verwahrung vor solchem Abweg allerdings einen mehr lyrischen, mehr betrachtenden,
mehr dramatischen Monolog unterscheiden. Juliens Monolog
vor der Brautnacht, Egmont's Monolog im Gefängniß z. B. ist lyrisch,
Makbeth's: „Wär's abgethan, wie es gethan ist“, Hamlet's: „Sein oder
Nichtsein“, Wallensteins: „Wär's möglich“ betrachtend, dagegen: „Du hast's
erreicht, Octavio“, Buttler's: „Er ist herein,“ Makbeth's vor dem Morde
Duncan's „Jst das ein Dolch?“ ächt dramatisch. ─ Der Dialog ist, wie
wir gesehen, die eigentliche Form, durch welche die Subjectivität der Lyrik
in Wechselwirkung und Kampf von Subjecten, dadurch in die Objectivität
der Handlung übergeht. Da aber die Handelnden wissen müssen, was und
warum sie wollen, und es gegeneinander vertheidigen, so ist das Gespräch
zu großem Theil ein Austausch von Gründen; namentlich ergibt sich ganz
von selbst jene geflügelte Wechselrede, die in kurzen Sätzen Behauptung
und Einwendung herüber und hinüberwirft: die Stichomythie. Allein gerade [1393]
hier zeigt sich der Unterschied vom logischen Gespräche an der Eile und
Leidenschaftlichkeit dieses Zuwerfens. Der Dialog soll ja in die Handlung
münden, er ist ja im Drama der Ausdruck davon, daß der bewegte Geist
sich zur That erschließt, Arm und Hand, Schwert und jeden körperlichen
Stoff von innen heraus in Bewegung setzt, der Dialog muß eben der Hebel
dieses Uebergangs sein. Das Feuer, das ihn darum beherrschen soll, darf
auch nicht bloß lyrische Jnnigkeit sein, die sich in Wechselgesängen des Gefühls
ergeht. Es besteht allerdings auch im Dialog ein Unterschied zwischen
dem mehr Lyrischen, wie namentlich in Liebes-Dramen (Romeo's und Juliens
Gespräch nach der Brautnacht z. B. erinnert unmittelbar an die Tage= und
Wächter-Lieder des Minnegesangs), in Parthieen des Jubels über Glück, der
Wehklage über Unglück (so die gesang=artigen Wechselklagen der Frauen in
Richard III), zwischen dem mehr Logischen oder Gnomischen, wo es auf Rechtfertigung
und Widerlegung ankommt, und dem eigentlich Dramatischen, wo der
Affect entweder dunkler zu Grunde liegt, wie in den Gesprächen, durch welche
Oedipus sein eigenes Unheil erforscht, der Ton der tiefen, furchtbaren Bangigkeit,
in die der Unwille und die Ungeduld übergeht, oder wo er ganz
ausbricht, der Entschluß da ist und die Vollziehung folgt; da aber schließlich
Alles auf das letzte Moment führen soll, so muß dieß auch den ersteren
Formen Ton und Farbe geben. Recht ganz dramatisch sind die vollen,
gewaltigen Ergießungen affectvoller Beredtsamkeit, wo die kürzere Wechselrede
wie in prachtvollen Strom sich sammelt und hervorstürzt; ein solcher
Feuerstrom ist z. B. Apollon's Zornrede, womit er die Eumeniden aus
seinem Tempel jagt (Eumeniden des Aeschylus). Der dramatische Dialog
hat so seinen Rhythmus im Wechsel des Gedrängten und Entwickelten, des
kühler Betrachtenden, wärmer Gefühlten, heiß Gewollten, des Stockens,
Laufens, Stürzens und es ist eine feine Sache darum, ihn in diesem Sinne
mit poetisch musikalischem Ohre zu belauschen.


3. Daß jene Mittel, wodurch die Sprache aus einem todten Organe
der Prosa zum idealen Leben, aus der Farblosigkeit zur Farbe gerufen wird
und die wir in §. 850─854 besprochen haben, im Drama zur vollsten
Kraft gelangen, bedarf keines Beweises. Namentlich wird die Rede besonders
lebhaft in den sogen. Figuren sich bewegen. Der Tropus wird
wie in der Lyrik die kühnere Metapher dem auseinanderhaltenden und begründenden
Gleichnisse vorziehen.
Note: Hier wird die Bedeutung der Metapher für das Drama expliziert. Wir verweisen speziell auf das, was in
§. 854 über den Unterschied der Style in dieser Sphäre gesagt ist; jetzt
handelt es sich zwar von einem Unterschiede der Zweige und der große
Gegensatz der Style besteht neben diesem so, daß jede Stylrichtung in Epos,
Lyrik, Drama ihren allgemeinen Charakter bewahrt; doch nicht, ohne ihn
zu modificiren, und zwar so, daß auch der plastisch ideale Styl im Drama
die überraschenderen, phantastischeren Bilder liebt, die übrigens dem charakteristischen [1394]
Styl eigen sind. Wir haben schon zu jenem §. bemerkt, daß die
griechischen Tragiker reich sind an solchen wie aus traumhaft dunklem Grunde
seltsam aufglühenden Bildern, die an Shakespeare erinnern. Die feurig
bewegte Stimmung des Drama wühlt die Phantasie leidenschaftlicher auf, der
spannende Gang läßt keine Zeit, das Bild zu begründen, zu rechtfertigen, es
muß schlagartig wirken, zuerst befremden, dann wie in Blitz beleuchten, überzeugen.
─ Es ist der geniale Takt der Griechen, der sie führte, den Jambus
als dramatischen Vers auszubilden. Wie ganz sein Charakter der dramatischen
Bewegung entspricht und wie der Trochäus der Spanier eine aus
Feierlichkeit und lyrischem Verhauchen gemischte, undramatische Stimmung mit
sich führt, ist schon im Abschnitte von der Rhythmik gesagt. Die längere, breitspurigere
Bahn des Trimeter im Unterschiede von der kürzeren des fünffüßigen
Jambus im neueren Drama bezeichnet aber auch nach dieser Seite den
Gegensatz der Style. Färbung und Belebung durch Zwischenklang anderer
Metren (Anapäste und Spondäen), durch einen Kampf von Wort= und
Vers-Accent, durch die Wechsel des Verhältnisses zwischen Wortfuß und
Versfuß fehlt natürlich auch dem Jambus nicht; daß er im classischen
Drama von lyrischen Strophen unterbrochen wird, gehört nur soweit hieher,
als die Einflechtung von Reimen im modernen Drama als Ausdruck durchbrechender
lyrischer Stimmung, der freilich sparsam sein soll, diesem Formwechsel
ungefähr entspricht. Durchherrschender Reim, wie z. B. in Göthe's
Faust, kann nur für die Spezialität eines Drama gerechtfertigt werden,
das sich in innerliche Tiefen versenkt, die von der Dicht-Art im Ganzen
mit Recht vermieden werden, daneben aber das Phantastische und Naturalistische
walten läßt. Der Gebrauch der Prosa hängt mit dem Styl-Unterschiede
zusammen, den wir erst im Folgenden aufnehmen. Jm hohen Drama
wird er da begründet sein, wo eine grasse Wirklichkeit durchbricht, wie im
Makbeth, wo die Lady als Nachtwandlerinn auftritt, im Faust nach den
Blocksbergscenen, wo der Held das Schicksal Margaretens erfahren hat und,
nachdem ihm die Augen so fürchterlich aufgegangen, dem Mephistopheles
die wilden Vorwürfe macht. Komische Einschiebungen werden ebenfalls
passend in prosaischer Sprache reden, dieß entspricht der Natur des Komischen,
obwohl es nicht nothwendig durch sie gefordert ist.


§. 902.


Jn keinem Kunstwerke hat die Composition so hohe Bedeutung wie
im dramatischen. Die Zeit und den Raum, in die sie ihre Handlung setzt,
idealisirt sie im Sinne der Zusammenziehung und des gemäßigt freien Wechsels.
Die Handlung selbst beherrscht durch strenge Einheit die ihr untergeordnete,
sparsame Vielheit von einzelnen Handlungen, worin die Episode nur die [1395]
beschränkteste Geltung hat, und theilt wie das Epos ihre Gruppen vor Allem
in Hintergrund und Vordergrund. Sie bewegt sich wesentlich in wirksamen
Contrasten, schreitet in straff bindender Motivirung fort, wirft die
retardirenden Momente im Wachsen und Anschwellen des herrschenden Pathos
und hinter ihm der Schicksalsmacht mit beschleunigtem Gang und kurzen Nuhepuncten
nieder und gliedert ihren Nhythmus in Schürzung, Verwicklung,
Lösung
des Knotens oder Katastrophe: eine Dreiheit, die sie mit der
epischen Composition theilt, die sich aber hier in bestimmte Einschnitte, Acte
genannt, zerlegt, welche sich naturgemäß zur Fünfzahl erweitern und wieder in
einzelne Auftritte zerfallen.


Der oberste Satz des §. ist genauer so auszudrücken: kein Werk der
Kunst ist so ganz Composition wie das Drama, denn in keinem wird aller
Stoff so durcharbeitet und alles Einzelne so ganz und straff in einen Zusammenhang
gerückt, worin es seine ganze Bedeutung durch die Beziehung
zum Andern hat. Das ist die weitere, spezifisch künstlerische Bedeutung
jenes Aristotelischen Satzes, den wir in §. 899 zunächst nur für den Jnhalt
an sich, das Weltbild des Drama und das Verhältniß seiner Seiten,
geltend gemacht haben, des Satzes, daß in der Tragödie nicht die Menschen,
sondern die Zusammenstellung der Begebenheiten, die Behandlung des Mythus
(der Fabel) die Hauptsache sei; Aristoteles fügt eine feine Vergleichung mit
der Malerei hinzu: ein monochromes, gut componirtes Bild erfreue weit
mehr, als ein anderes mit planlos aufgetragenen schönen Farben. Die
Farbe entspricht der Charakterzeichnung, überhaupt aber aller Einzelschönheit,
allem einzelnen Effecte, wodurch im Zuschauer ein Jnteresse erweckt wird,
das stoffartig ist, wenn es sich nicht in das reine Jnteresse für das Ganze
und seinen Gang aufhebt, in welchem Alles sich gegenseitig bedingt, hält
und trägt. ─ Was nun zuerst die allgemeinen Existenzformen, Raum und
Zeit, betrifft, in denen das Drama sich bewegt, so gehen wir über die
Frage von den sogenannten Einheiten derselben in Kürze weg, um eine
längst abgethane und veraltete Debatte nicht müßig aufzuwärmen. Es
ist schon dadurch, daß der §. den Begriff der Einheit erst bei der Handlung
einführt, dem Ansinnen ausgewichen, uns noch einmal mit den Franzosen
und ihrem mißverstandenen Aristoteles zu beschäftigen. Oft genug ist es
gesagt, daß die Poesie und am entschiedensten das Drama die Zeit idealisirt,
indem die Strecken derselben, worin nichts an sich Bedeutendes, nichts für
die gegenwärtige Handlung Bedeutendes geschieht, für sie gar nicht vorhanden
sind. Allerdings darf man aber ebendarum nicht an den Unterschied
der gemeinen Zeit von der empirischen ausdrücklich erinnern, wie in jenen
neueren, namentlich französischen Effectstücken geschieht, welche buchstäblich
ankündigen, daß zwischen den Acten zehn, zwanzig und mehr Jahre verschwunden [1396]
zu denken sind, und Personen, die im ersten Act als Jünglinge
auftreten, im letzten als graue Greise vorführen. Die Jdealisirung der Zeit
ist, wie alles Schöne, eine Zusammenziehung und derselbe Begriff gilt zunächst
auch von der Behandlung des Raums: das weite Sehfeld des Epos
zieht sich in einen verhältnißmäßig engen Raum mit nur angedeuteter Ferne
zusammen, die empirische Weltbreite hat für uns in dem Augenblicke, wo
der höchste Lebens-Jnhalt sich auf den gegenwärtigen schmalen Punct verdichtet,
gar keine Existenz. Allein die Phantasie, von innen heraus arbeitend,
dem Kerne, der Handlung die umgebende Sphäre von innen heraus setzend,
kann mit ihren geistigen Schwingen diesen Jnhalt in jedem Moment auf
einen andern Punct des Raums hinübertragen; ist nur der innere Zusammenhang
gerechtfertigt, so mag das Wo durch die mitwirkenden äußern
Motive bestimmt werden. So wird hier die Jdealisirung zum freien Wechsel,
allein der Begriff der Zusammenziehung erhält sich, tritt noch einmal auf.
Willkür im Gebrauche dieser Freiheit ist nämlich ihr selbst im Wege, indem
sie gerade an die empirische Wirklichkeit erinnert, wo sie in idealem Schwung
über sie hinfliegen wollte. Zu häufiger Wechsel des Orts beunruhigt, erinnert
durch diese Unruhe an die prosaische Arbeit der gemeinen Raumüberwindung,
weist hinaus auf die unendliche Breite des Raums, die wir in der Concentration
der Handlung auf einen Punct desselben vergessen sollten, und
wirkt wie eine bunte, naturalistisch behandelte Basis als Piedestal eines
plastischen Monuments. Bekanntlich ist bei Shakespeare der rasche Wechsel
durch die Armuth der damaligen Theater-Einrichtung entschuldigt und tritt
die unpoetisch ablenkende Wirkung erst ein, wo dieß mit dem Reichthum
unserer scenischen Mittel nachgeahmt wird.


Dagegen steht als unverbrüchliches Gesetz die straffe Einheit der Handlung
fest. Die Handlung zerlegt sich in untergeordnete Handlungen, es
geschieht natürlich Mehreres in der Art, daß zunächst die verschiedenen Ereignisse
nebeneinander getrennt herzulaufen scheinen. Jm Wilh. Tell z. B.
wird auf verschiedenen Puncten das Volk mißhandelt, dann tritt neben dem
Helden die berathende Thätigkeit anderer Volkshäupter hervor u. s. w. Die
Einheit muß zeitig diese Fäden zusammenfassen und ihnen ihr bindendes
Centrum geben. Von Beispielen, wie ein Faden sich trennt, das Jnteresse
von der Haupthandlung abzieht und störend nach einer andern wendet,
stehe hier statt vieler die Ausweichung vom heroischen Jnhalt zu einer
Liebesgeschichte und Collision der Leidenschaft im Götz von Berlichingen;
von tiefer Verbindung einer doppelten Fabel hat dagegen §. 500, Anm. 1
ein Beispiel aufgestellt im König Lear. Shakespeare liebt diese Compositionsweise
namentlich in der Komödie; hier verkittet er durch Jneinandergreifen
der einzelnen Handlungen und durch Contraste fest und täuschend die zwei
Bestandtheile, aber doch nur pragmatisch, nicht wahrhaft innerlich; die [1397]
Bemühungen, im Kaufmann von Venedig, im Sommernachtstraum, in der
gezähmten Keiferinn eine organisch herrschende Einheit aufzuzeigen, werden
gegen das Zugeständniß vertauscht werden müssen, daß der Dichter es im
Lustspiele leichter nahm, als in der Tragödie. Der Kitt gleicht jenem Kalke
alten Mauerwerks, der so fest ist, daß eher die Steine brechen, als die
Fugen sich lösen lassen, ist aber doch nur Kitt. Es ist überhaupt eine
gewagte Sache, zwei symmetrische Fabeln ohne Störung des Verhältnisses
zwischen Ueberordnung und Unterordnung nebeneinander herzuführen und
die Aufgabe wird nicht leicht wieder so gelöst werden wie im König Lear.
Die einfache, natürliche Composition wird in klarer Unterordnung eine
Mehrheit von Zweig-Handlungen um die Haupt-Handlung so gruppiren,
daß dieselben als Verästung ihres Stammes sich leicht zu erkennen geben.
Sie dürfen sich nur nicht, auch in der reicheren Fabel des charakteristischen
Styles nicht, zur epischen Fülle ausbreiten. Daß in dieser Ausbreitung
vollends das Episodische auf den denkbar engsten Spielraum eingegrenzt
wird, ergibt sich aus dem Grundgesetze straff angezogener Einheit. Es kann
sich hier nur darum handeln, daß eine Scene etwas weiter ausgeführt wird,
als der Zweck, die Handlung zu fördern, es erheischt, niemals darum, ob
eine Scene sich einschieben dürfe, die diesem Zwecke nicht dient, sie wäre
denn klein und anspruchlos. Die breitere Ausführung mag z. B. die Absicht
haben, den Typus eines Standes, die Form gewisser Culturzustände zu
einer relativen Selbständigkeit des Bildes zu entwickeln, aber sie sei nach
Anfang und Ende fest eingefugt in den Bau des Ganzen. Einige Beispiele
gibt §. 496, Anm. ─ Zwischen dem Momente der Einheit und Vielheit
liegt als Mittelglied eine Zweiheit, nämlich jener Unterschied von Hintergrund
und Vordergrund, den wir schon im epischen Gebiet (§. 870, 2.)
aufgeführt haben und der in seiner Anwendung auf das Drama nicht verwechselt
werden darf mit dem verwandten Begriffe, wie er in §. 122 ff.
aufgestellt ist, um das Wesen der tragischen Bewegung zu bestimmen. Jetzt
hat er spezifisch künstlerische Bedeutung. Hintergrund ist z. B. in Romeo und
Julie der Zwist der Familien (wesentlich bedeutend als Schooß, woraus
das tragische Geschick hervorgeht, doch im Colorit mit Recht nur wenig
ausgeführt), im Othello der Krieg Venedigs, im Wallenstein sind es ebenfalls
die Kriegsverhältnisse, in Wilh. Tell das sich verschwörende, dann
handelnde Volk. Der Hintergrund ist der Boden, worauf die Handlung
vor sich geht, deutet auf das Massenhafte, das breite Weltwesen hinaus;
dieß verhält sich ähnlich im Epos, aber hier wird der Hintergrund breit
ausgeführt, im Drama soll er nur eben so viel Entwicklung genießen, daß
er dem Vordergrunde, der Haupthandlung, ihre Voraussetzung, begleitende
Erklärung, Atmosphäre, Stimmung gibt, wie dem Wallenstein seinen
„Pulvergeruch“.

[1398]

Die Herrschaft starker Contrastwirkungen neben den milden ergibt
sich aus dem durchschlagenden, stoßweisen Gange des Drama. Sie liegen
theils in den Charakteren, theils in den Handlungen. So steigert Shakespeare
die Schwärze von Makbeth's That durch Duncan's reine Güte, wobei
er den Tadel der Schwäche unterdrückt, welchen seine Quelle, die Chronik,
enthielt, so die Furchtbarkeit des Mords durch den friedlichen Eindruck der
Schwalbennester, der balsamischen Luft, unter welchem Duncan in Makbeth's
Schloß tritt. Strenge Motivirung folgt als unverbrüchliche Forderung
daraus, daß der dramatische Dichter seinen Stoff in das straffste Netz der
ethischen Causalität schnüren muß. Dieß scheint mit der Forderung des
stoßweisen Fortschritts, der entscheidenden Ausbrüche, kurz mit dem hier so
stark waltenden Momente der Plötzlichkeit in Widerspruch zu stehen. Allein
wir haben bereits gesagt, daß gründliche Vorbereitung nicht die Ueberraschung
aufhebt. Der Durchbruch einer Summe von Kräften zu einer
starken Wirkung ist immer etwas wirklich Neues, obwohl nur ein reif
gewordenes Maaß dessen, was vorher schon da war. Die Motivirung
muß vor Allem eine innerliche sein, d. h. Pathos und That muß aus dem
Charakter, indem er bestimmte äußere Umstände vermöge seiner ganzen
Organisation zu Triebfedern erhebt, mit innerer Nothwendigkeit fließen.
Schwieriger ist die Frage, wie weit die Motivirung bestimmter Momente
einer Handlung an das Aeußere anknüpfen soll. Göthe erzählt z. B.
(Eckerm. Th. 1, S. 196 ff.), Schiller habe seinen Geßler ohne äußern
Anlaß auf den grausamen Gedanken kommen lassen wollen, daß Tell dem
Kind einen Apfel vom Kopfe schieße, mühsam habe er ihn dahin gebracht,
diesen Gedanken dadurch zu motiviren, daß der Knabe vorher die Geschicklichkeit
des Vaters rühme, einen Apfel vom Baume zu schießen. ─ Jhre
besondere Wichtigkeit hat die Motivirung auf dem Puncte, wo die Entscheidung
eintritt. Der Deus ex machina war bei den Alten etwas Anderes,
als bei den Neueren. Eingriff einer Gottheit erschien ihnen nicht als etwas
blos Aeußerliches, weil die Gottheit zum Voraus die Persongewordene
sittliche Macht war, welche die neuere Kunst nur in die Menschen selbst
legen und aus ihren Handlungen hervorspringen lassen darf. An die Stelle
der Götter sind in der modernen Poesie Fürsten, fürstliche Handbillets,
Zufälle, Gelegenheiten zu Lebenserrettungen u. dergl. getreten, und solche
Aeußerlichkeit der Motive ist nicht durch einen ethischen Zusammenhang
entschuldigt wie der Eingriff jener Transcendenz. Wie der rechte Dichter
Alles bindet, zeigt nichts besser, als eine Vergleichung bedeutender Dramen
mit der epischen Quelle, wo sie aus solcher geflossen. Man sehe z. B. den
Schluß der Novelle nach, die dem Othello zu Grunde liegt: hier wird
Othello Jahre lang nach der Ermordung der Desdemona von Verwandten
derselben getödtet.

[1399]

Das Drama ist eigentlich eine Kette von Retardationen, denn seine
Handlung ist wesentlich ein Kampf und dieser setzt Hindernisse voraus.
Der intensiven Stetigkeit nach hat es also mehr Hemmung, als das Epos.
Dagegen fällt in der Darstellungsform weg, was Göthe die rückwärts
schreitenden Motive nennt: das Nachholen früherer Begebenheiten, und dem
Jnhalte nach nimmt das Epos eine ganze Welt breiter sinnlicher Retardationen
auf, wie Seefahrten, Reisen u. s. w., welche im Drama diese Rolle
nicht spielen können; seine Hemmungen liegen im Gebiete des Willens.
Das Wesentliche ist nun aber, daß der Druck gegen die Hemmungen im
Drama unendlich stärker ist, als im Epos; der Wille des Helden arbeitet
unaufhaltsam vorwärts bis zum Umschwung. Wie treibt es Schlag auf
Schlag dem Abgrunde zu im Makbeth, welche absolute Gravitation bis zum
Schwindel ist in dieser Bewegung! Hier blicken wir zunächst wieder auf
den Charakter zurück: die Hauptaufgabe ist das Wachsen und Anschwellen
der Leidenschaft und vielleicht das schlagendste Beispiel die Vergiftung von
Othello's Gemüth von dem Momente an, da Jago mit den Worten:
„ha! das gefällt mir nicht“ ihm den ersten, feinen Gifttropfen einspritzt,
bis zu dem wahnsinnigen Aufruhr aller Kräfte und der unseligen That, die
aus ihm fließt. Allein es schwillt gegen das Streben, das den positiven
Mittelpunct der Handlung bildet, gleichzeitig die feindliche Welt an, was
freilich in solchen Dramen, die auf politischem Boden spielen, sichtbarer vorliegt,
als in diesem Bilde der Leidenschaft, wo der schließliche Gegner die
drohende und endlich eintretende Entdeckung der Wahrheit ist; so im Jul.
Cäsar, Coriolan, Makbeth, Hamlet, Wallenstein; der Held wirft zuerst
die aufsteigenden Hindernisse nieder, dann aber zeigt sich, daß diese in
stetem Druck, wie eine zusammenpressende Maschine, siegreich vorrücken,
wiewohl ihre Organe im Sieg auch sich selbst Leiden bereiten. Es ist also
eine ironische Doppelbewegung. Jm Hamlet hat es der Dichter gewagt,
den Helden selbst als fortwährend retardirenden, unter den furchtbarsten
Vorwürfen gegen sich selbst zaudernden Charakter zu halten, und die schwere
Aufgabe bewundernswerth so gelöst, daß der anwachsende, durch seine Halbmittel
genährte Schub der feindlichen Welt ihn in dem Augenblicke zum
ganzen Handeln bringt, wo er schon verloren ist. Eine so unerbittlich fortschreitende
Bewegung fordert ihre Ruhepuncte, nur folgt von selbst,
daß diese nach der andern Seite die Wirkung derselben erhöhen; es verhält
sich genau wie mit den Pausen im Erhabenen der Kraft (vergl. §. 99):
die vorhergegangenen Stöße zittern in ihnen nach und gespannte Erwartung
sieht vorwärts auf das, was sie vorbereiten; ihre Ruhe verstärkt den Eindruck
der vorhergehenden und folgenden Unruhe, sie gehören also ebensosehr
zu den Contrasten. Ein solcher Ruhepunct ist im Makbeth die in anderem
Zusammenhang schon erwähnte Scene, da Duncan in das Schloß seines [1400]
Mörders eintritt, dann die Pförtnerscene nach der Vollziehung und vor der
Entdeckung des Mords (wobei wir von der Frage absehen, ob es passend
sei, daß sie komisch behandelt ist); Lear's Schlaf ist ein rührendes Ausruhen
von den vorhergegangenen Stürmen auch für den Zuschauer, aber ebensosehr
ein Moment, wo wir uns für das Letzte, Traurigste vorbereiten müssen.
Jm Wallenstein ist das Liebes-Verhältniß zwischen Max und Thekla, auch
das Astrologische ein wiederkehrender, zu sehr ausgedehnter Ruhepunct, ein
äußerst wohlerfundener und schön ausgeführter die Scene, wo Wallenstein
zum letzten Mal, in der Stimmung milder Wehmuth, auftritt. Daß die
Monologe im Allgemeinen ebenfalls unter diesen Standpunct fallen, ist
schon zu §. 901, 2. berührt; sie beruhigen durch die Einkehr in sich, es erstreckt
sich aber die vorhergehende Wirkung in sie herein und die kommende
erzeugt sich in ihnen.


Was nun den Rhythmus dieser ganzen Bewegung und seine Tempi
betrifft, so findet hier die deutlichste und vollste Anwendung, was §. 500, 2.
aufgestellt und erläutert ist. Dort haben wir bereits einen Blick auf das
Drama geworfen und gezeigt, wie sich die Dreiheit der Hauptmomente,
welche Aristoteles unterscheidet, Anfang, Mitte und Ende, zu der Zweiheit
der Schürzung und Lösung verhält, in welche er das Ganze der Tragödie
setzt: die Schürzung zerfällt in Vorbereitung und steigende, ihren Gipfel
erreichende Verwicklung, also in zwei Momente, und dann folgt als drittes
die Lösung, die Abwicklung, in ihrer entscheidenden Krisis Katastrophe,
als Bild des Schicksal-Umschlags von Glück in Unglück die Peripetie
genannt. Der Anfang oder die Vorbereitung heißt Exposition, im Unterschiede
von der engeren Bedeutung des Wortes, welche sich auf eine Erzählung
beschränkt, die zum Eingang von der Lage der Dinge Bericht
erstattet: die Exposition (der Prologos in der Eintheilung der Griechen)
im weiteren Sinne gibt das, woraus die Handlung als ihrem Keime sich
entwickelt, die Situation. Die Diagnose der ächt dramatischen Situation
ist wesentliche Eigenschaft des ächten dramatischen Dichters und sein bester
Glücksstern, wenn er Stoffe findet, die sie ihm darbieten. Die Lage eines
Oedipus, einer Antigone, eines Orestes, Hamlet, das sind dramatische
Situationen. Natürlich ist aber die Exposition nicht ruhiges Bild, sondern
es geschieht schon wesentlich etwas, wodurch die Handlung in Gang kommt,
die Dinge sich verwickeln müssen, wie z. B. im Tell der Zustand des schönen
Hirtenlandes unter dem Drucke der Vögte nicht etwa blos durch Schilderung
und Gefühl sich darstellt, sondern sogleich neue Gewaltthaten der Tyrannei,
Acte der Selbsthülfe, Entschlüsse zu Thaten auf der Seite der Schweizer
erfolgen. Der mittlere Theil, die Verwicklung oder Schürzung, ist die
Strecke, worin recht die dramatische Spannung ihren Sitz hat, naturgemäß
der ausgedehnteste, der in die reichste Reihe von Momenten sich zerlegt. [1401]
So geht im Makbeth die Stufenfolge vom ersten Morde zum zweiten,
dann zu der Hexenscene, welche den Helden durch den innern Widerspruch
der Prophezeihungen in fieberhafte Wuth stürzt, dann zu der Ermordung
der Familie Makduff's weiter, und in gleichem Schritte mit dieser Reihe
von Thaten läuft das Wachsthum der innern Zerstörung und der Macht,
welche die äußere Zerstörung bereitet; mit der letzten Stufe, der That der
wilden Grausamkeit gegen Makduff's Familie, ist der Held auf dem Gipfel
angekommen, ja er hat den Fuß schon darüber hinausgesetzt, das Aufsteigen
ist bereits entschieden ein Herabsteigen. Ueberhaupt wird sich der Moment
des beginnenden Falles, die Vorbereitung der Peripetie, vermöge des innern,
ironischen Widerspruchs der Bewegung immer schon auf dieser Strecke der
Verwicklung einstellen und ein Punct, wo er eintritt, eigentlich nicht nachweisen
lassen, wohl aber wird sich ein sichtbarer Gipfel des Glücks aufzeigen
lassen, wo der Held, der die Vorboten seines Falls nicht sieht oder
sich darüber wegsetzt, seinen Zweck erreicht zu haben glaubt, und von diesem
Höhepunct an geht es dann augenscheinlich bergab. Die Katastrophe selbst
verläuft natürlich auch wieder in einer Gruppe von Momenten, zumal da es
sich nicht blos um das Schicksal der Hauptperson, sondern auch der Nebenpersonen
und die Folgen handelt, die in die Weite, in den Hintergrund
sich erstrecken. Uebersieht man diese Theile, so ergibt sich wie von selbst die
Erweiterung der drei Hauptmomente in fünf, die sich mit Rücksicht auf die
Bühne, das Fallen des Vorhangs und die Pausen als Acte darstellen:
Einschnitte, die bei den Alten bekanntlich durch die Chorgesänge gebildet
wurden und erst, als mit der neueren Komödie der Chor wegfiel, eigentlichen
Stillständen der Handlung Platz machten. Die Verwicklung, die
Mitte, wird nämlich mehr Ausdehnung in Anspruch nehmen, als Anfang
und Ende, und mit ihren verschiedenen Stufen drei Acte fordern. Doch
können auch Fälle vorkommen, wo die Katastrophe zwei Acte verlangt,
indem die Nachwirkungen der eigentlichen Entscheidung, z. B. für eine ganze
Nation wie im Wilh. Tell, noch ausdrücklich entwickelt sein wollen. Die
Alten hatten drei Hauptabschnitte; Prolog: der Theil, der die Exposition
enthielt und vor den Eintritt des Chors fiel; Epeisodion: die Scene zwischen
dem Einzuge des Chors und den Standliedern desselben; Exodos: nach dem
letzten Standliede. Der mittlere dieser Theile, die Verwicklung enthaltend,
zerfiel nach der Natur des Stücks in mehr oder weniger von Standliedern
getheilte Momente. Die Fixirung des Ganzen auf eine bestimmte Zahl von
Acten, wie sie zuerst Horaz aufstellt, kann zwar keine bindende Regel sein,
aber es ist gut und recht, daß sich ein Brauch festgesetzt hat. Die Acte
theilen sich wieder in Scenen, diese in ihre einzelnen Gruppen und Situationen
und das Drama erscheint so gegenüber dem stetigen Flusse des Epos,
der mit geringerem Grad innerer Nothwendigkeit in Gesänge zerfällt, als [1402]
ein durch und durch gegliederter Körper. Wichtig ist die Frage über die
letzten Scenen, sofern dabei das Compositionsgesetz der schließlichen festen
Begrenzung (vergl. §. 501) im tiefsten Zusammenhang mit dem Jnhalte
zur Anwendung kommt. Es handelt sich im Tragischen darum, wie weit
der Dichter uns eine Aussicht eröffnen will, die uns mit der Härte des
Schicksals versöhnt. Diese Aussicht darf nicht zu entwickelt sein, wenn sie
nicht zu einem gemeinen und trivialen Begriffe von Gerechtigkeit führen
und überdieß in die Breite des Empirischen, das neben dem idealen Ausschnitte
des Drama's eigentlich nicht existirt, ablenken soll; sie darf nicht
fehlen, wie am Schlusse vom Don Carlos und in großen Schicksals= und
Effect-Stücken, die mit einem reinen Mißklang endigen. Shakespeare hat
das Maaß am richtigsten getroffen. Erörterungen wie die, ob man gut
thue, den letzten Auftritt der Maria Stuart bei der Aufführung gewöhnlich
wegzulassen, sind für dieses Moment der Composition sehr belehrend. Unterlassung
oder zu lange Fortführung eines letzten Strichs kann in einem so
höchst concisen Kunstwerke wie das Drama viel verderben.


Der §. enthält nichts von cyclischen Compositionen, weil über eine
zweifelhafte und wirklich unwesentliche Seite in Kürze nichts Positives aufzustellen
ist. Die Trilogieen der Alten konnten bei der Kürze ihrer Stücke
an Einem Abend miteinander aufgeführt werden; dennoch sind die Glieder
derselben, die sich wie Exposition, Verwicklung, Katastrophe im einzelnen
Drama verhalten, ebensosehr selbständige, in sich abgeschlossene Dramen.
Den innern Zusammenhang hielt auch die Jedem geläufige Sage dem
Bewußtsein gegenwärtig. Die neuere Dichtung ist schon durch die, auf
anderweitigen Gründen beruhende, Länge der Stücke gewiesen, Trilogieen
zu vermeiden; denn die Aufführung müssen wir, obwohl wir sie jetzt noch
nicht ausdrücklich hinzunehmen, doch immer im Auge behalten und bedenken,
daß die Zerfällung in mehrere Theater-Abende den Zusammenhang im
Bewußtsein der Zuschauer zerschneidet. Das einzelne Stück müßte um so
selbständiger abgeschlossen sein, in demselben Grade lockert sich aber der
organische Zusammenhang mit den andern. Jn Schiller's, ─ wenn man
sie so nennen kann, ─ Trilogie des Wallenstein ist das Lager ein genreartiges
Vorspiel, die beiden Piccolomini haben viel zu wenig Abschluß. ─
Ein großartiges Beispiel eines umfassenderen, auf gewichtigen historischen
Stoff und tiefen Schicksals-Zusammenhang gegründeten Cyclus geben
Shakespeare's englische Dramen. Dieses Jugendwerk Shakespeare's (das
z. Th. aus bloßer Ueberarbeitung fremder Stücke besteht) leidet unläugbar
an chronikalisch=epischer Behandlung, man wird aber darum noch nicht behaupten
können, es wäre dem reifen Shakespeare unmöglich gewesen, mit
strengerer Ausscheidung des Stoffartigen eine Reihe cyclischer Dramen aus
dieser Epoche der englischen Geschichte zu bilden. Jn der That kann es [1403]
Stadien der Geschichte geben, die dem Blick eine große Bahn eröffnen, auf
welcher eine Reihe von Stoffen zu Dramen liegt, die sich wie Aussaat und
Aerndte zu einander verhalten, und der Auflösungsgang des englischen
Feudalstaats ist offenbar ein solches Stadium. Aber es gehört große Kunst
dazu, eine solche Bahn zu durchmessen, ohne in das Massenhafte, Epische
zu verfallen. Es war nicht unmöglich, Heinrich IV und V in Ein selbständiges
Schauspiel zusammenzudrängen und die Abtheilungen Heinrich's VI
in Eine Tragödie. Diese Mitte blieb allerdings auch bei der kunstvollsten
Behandlung dramatisch loser, als die festen Anfangs- und Schluß-Puncte
Richard II und Richard III. ─ Das aber versteht sich, daß es verkehrt ist,
von der Ansicht ausgehend, ein Cyclus sei eine höhere Composition, nach
der man streben müsse, nach Stoffen dafür umherzusuchen und die Geschichte
abzwingen zu wollen. Bietet sich ein Stadium zu solcher Behandlung dar,
─ wie dieß in der Hohenstaufengeschichte offenbar nicht der Fall ist, ─
so mag es der Dichter versuchen, ob er einen Cyclus ohne Schaden der
Geschlossenheit des einzelnen Dramas, dessen feste Composition immer das
Höhere bleibt, durchzuführen vermag. Wir möchten nur die Möglichkeit
nicht läugnen.


§. 903.


Vergleicht man nach diesen Grundzügen das Drama mit dem Epos, so
erhellt, daß es an Jntensität und Einheit gewinnt, was es in Vergleichung mit
diesem an Breite und Fülle verliert. Die milde Gemüthsfreiheit (vergl. §. 869)
ist, gegen die leicht zu pathologischer Wirkung verleitende Unruhe der Spannung
und des stoßweisen, aber geraden Ganges zum dramatischen Ziele gehalten, zunächst
ein unbedingter Vorzug des epischen Dichters. Aber der dichterische Geist
bewährt eine um so höhere Macht, wenn er trotz und in der Aufregung seine
Freiheit behauptet und das Bild des Kampfes zum harmonischen Schlusse führt.
Die reine Einheit des Subjectiven und Objectiven in dem Acte der dramatischen
Phantasie ist unzweifelhaft höher, als die naive Synthese in der epischen Dichtung.


Es ist längst (vergl. §. 533, 2.) vorgesorgt, daß wir nicht in falsche
Werthvergleichungen gerathen. Es besteht ein Stufen-Unterschied, aber jeder
Gewinn ist auch Verlust. Das Jnteresse, welches die Frage über das
Werthverhältniß zwischen Epos und Drama seit der Debatte über Göthe
und Schiller und der interessanten Erörterung zwischen den beiden großen
Dichtern selbst (im Briefwechsel Th. 3) gewonnen hat, bestimmt uns, ein
ausdrückliches Wort hierüber, wie am Schlusse der allgemeinen Betrachtung
der epischen Poesie (§. 871), folgen zu lassen. Vom Drama sagt Schiller
(a. a. O. S. 387): „die Handlung bewegt sich vor mir, während ich mich
um die epische selbst bewege und sie gleichsam stille zu stehen scheint; dadurch [1404]
bin ich streng an die Gegenwart gefesselt, meine Phantasie verliert
alle Freiheit, es entsteht und erhält sich eine fortwährende Unruhe in mir,
ich muß immer bei'm Objecte bleiben, alles Nachdenken ist mir versagt,
weil ich einer fremden Gewalt folge“, und (S. 72): „der tragische Dichter
raubt uns unsere Gemüthsfreiheit, und indem er unsere Thätigkeit nach
einer einzigen Seite richtet und concentrirt, so vereinfacht er sich sein Geschäft
um Vieles und setzt sich in Vortheil, indem er uns in Nachtheil setzt“.
Er nennt (S. 361) den dramatischen Weg den der strengen geraden Linie,
er sagt, Göthe werde genirt durch den Hinblick auf den Zweck des äußern
Eindrucks, der bei dieser Dichtungsart nicht ganz verlassen werde. Entgegengesetzt
urtheilt Aristoteles; er geht in seiner Werthvergleichung (Poet. C. 27)
ebenfalls vom Zugeständniß einer stoffartigen Wirkung des Drama aus,
schreibt jedoch diese nur der Leidenschaftlichkeit einer übertriebenen Mimik zu
und zieht dann das Drama vor, weil es Alles habe, was das Epos, und
in Musik und Scenerie noch mehr, sodann, weil es durch Erkennungen und
Handlungen lebendiger, ferner weil es kürzer, gedrängter sei „mit weniger
Zeit gemischt“ (wobei das Bild gewässerten Weins zu Grunde liegt), und
endlich weil es mehr Einheit habe. Jn diesen treffenden Sätzen ist nur
unrichtig, daß die pathologische Wirkung blos auf Schuld der Schauspieler
geschrieben, nicht als eine dem Dichter selbst nahe liegende Gefahr eingeräumt,
und daß behauptet ist, das Drama habe ja noch mehr, als was das
Epos hat, seine Kürze und Gedrängtheit sei ein Gewinn ohne Einbuße.
Die pathologische Aufregung ist eine Klippe, die dem Drama vermöge seines
inneren Wesens nahe liegt, Musik und Scenerie ersetzt nicht, was das Epos
an klarer, entwickelter Zeichnung voraus hat, und das breitere, ausführlichere
Weltbild ist gegen das gedrängtere nicht ohne Weiteres zurückzusetzen, sondern
behält seinen Werth; Schiller hätte die letztere Seite ausdrücklich hervorheben
dürfen. Dennoch, wenn wir die Sache im Mittelpuncte fassen, kann
kein Zweifel sein, daß das gedrängtere, zu straffer Einheit angezogene Weltbild
trotz dem Verlust an anderer Schönheit höher ist, als das gedehnte und
entwickelte ohne energisch durchgreifende Einheit. Das Epos läßt unentschieden,
was schließlich die Welt bestimme, das Drama entscheidet: es ist
der active und wesentlich imputable Geist. Wir haben von der Poesie
(§. 837, Anm.) gesagt, sie sei der gefrorne Wein des Lebens, das Bild
gilt im engsten Sinne vom Drama. Was nun das Pathologische der
Wirkung betrifft, so führt es auf den Dichter selbst und auf den Punct der
Gemüthsfreiheit, von welchem Schiller ausgeht. Der Dichter bewahrt sie
im Epos wie der Hörer oder Leser; im Drama scheint sie durch die Unmittelbarkeit
der gegenwärtigen Wirkung und des Drängens nach dem Ziele
verloren zu gehen, ja in gewissem Sinne geht sie wirklich verloren, weicht
der Unruhe und Hast. Allein es gibt eine Ruhe in der Unruhe und der [1405]
wahre Dichter besitzt sie. Es ist schwerer, im Sturme frei, fest und klar zu
bleiben, als auf der ruhigen See, aber es ist auch eine höhere Bewährung
der Energie des Geistes. Göthe war sehr geneigt, in der Geschichte nur
Willkür zu sehen, und vermochte die Jdee der Naturnothwendigkeit nicht
dahin umzubilden, daß sie sich ihm zu einem Begriffe steigerte, der auch
die geschichtlichen Kämpfe des Menschen und jene Acte der Freiheit, die
ein Gegebenes revolutionär durchbrechen, unter sich befaßte; es war ein
Mangel seines Dichtergeistes, daß er die epische Ruhe wohl hatte, aber
nicht die dramatische Ruhe in der Unruhe. Wie auf der Seite des
Dichters, so verhält es sich auf der Seite des Zuschauers. Das Drama
wühlt die ganze Seele gründlicher auf, als das Epos, es ist um so schwerer,
nicht pathologisch fortgerissen zu werden, wer aber den Geist frei behält,
schaut auch um so tiefer in den Grund des Lebens. Jede Kunstform hat
ihre spezifischen Verirrungen, ihre eigenthümliche Masse des Schlechten und
Mittelmäßigen. Es fehlt nicht an Effect- und Rührstücken ohne Kern,
ohne Erhebung zur Ruhe des Gesetzes. Es gibt Talente, die sehr leicht
erfinden, eine Fabel wirksam durchführen und doch aller Tiefe ermangeln;
die dramatische Composition scheint leichter, als die epische. Sie ist es auch
für den, der auf dem geraden Wege zum Ziele wenig zu tragen hat, aber
der ächte Dichter trägt ein ganzes Bild der Welt, ist sich bewußt, eine
concrete Anschauung erzeugen zu müssen ohne die Mittel der epischen Poesie;
was so leicht und kurz scheint, ist gesättigt von Bildungskraft und die Anordnung
des gedrängten Ganzen fordert tiefere Weisheit, als die des breiten
Epos, dem ein holdes Jrren gestattet ist. Schiller ist nicht deßwegen weniger
voller, spezifischer Dichter, als Göthe, weil er zum Drama berufen ist,
sondern weil er nicht gleichmäßig und stetig seine Subjectivität in der
Handlung zu objectiviren vermag. Shakespeare ist ganz dramatischer Dichter
und größer, als beide. Wir brauchen hier nicht weiter zu gehen, sondern
nur auf das Wesen des poetischen Prozesses im dramatischen Verfahren
(§. 896) zurückzuweisen. Jene Verwandlung des Dichtersubjects in das
Object bis zur völligen activen Gegenwart ist der größte Act, den der Geist
der Kunst vollziehen kann. Das freie Schweben des epischen Dichters über
dem Stoffe ist schön und behält neben dem dramatischen Verhalten seinen
eigenen Werth, aber es ist erkauft um den Preis der noch nicht vollzogenen
reinen Wechseldurchdringung, deren Erschütterungen Göthe nicht aushielt.
Es ist natürlich, Epos und Drama als die zwei Formen zu vergleichen,
die das größere, objective Weltbild geben, aber man darf nicht vergessen,
daß in der Mitte zwischen beiden die lyrische Dichtung liegt, die den dramatischen
Geistesprozeß vorbereitet, indem sie das freie Nebeneinander des
epischen Subjects und Objects in subjective Einheit aufhebt, die Welt der
Gegenstände mit geistigem Feuer durchglüht und schmelzt, um sie neugeboren
und geistig ganz durcharbeitet im Drama wieder an das Tageslicht zu bringen.

[1406]

2. Die Arten der dramatischen Poesie.


§. 904.


Der Stylgegensatz, der alles Kunstleben beherrscht, tritt nirgends so
durchgreifend zu Tage, als in der dramatischen Poesie. Er theilt dieselbe
zunächst geschichtlich in zwei große Welten, deren Werthverhältniß jedoch ein
anderes ist, als in der epischen Dichtung, indem das Drama des modernen,
charakteristischen Styls dem Wesen der Dichtungsart vollkommener entspricht,
als das Drama des antiken, idealen Styls. Doch behält dieses für alle Zeit
seinen regulativen Werth.


Der erste Satz bedarf kaum eines Beweises, denn nur bei oberflächlicher
Betrachtung könnte es scheinen, daß in einer Kunstform, welche das
Aeußere auf den schmalsten Punct zusammendrängt, kein tiefer Unterschied
eintreten könne in der Behandlung der Züge, die der Pflug des Lebens
den Erscheinungen eingräbt und durch die sich Jndividuum von Jndividuum
unterscheidet. Alles Aeußere gewinnt seine wahre Bedeutung erst auf dem
Puncte, wo es vom Charakter verarbeitet wird und zugleich ihm seine spezifische
Farbe verleiht; die unendliche Eigenheit des Jndividuums hat ihren
letzten Grund im Jnnern, wo geheimnißvoll die reine geistige Kraft des
Willens sich mit dem Angeborenen, mit der ganzen Naturbestimmtheit zur
Einheit bindet. Jm Kampfe des Lebens wird dieser Einheitspunct thätige
Kraft, nun kommt es auf uns an, welche bestimmtere, markirende Züge
sich dem Bild unserer Erscheinung aufprägen; der Charakter ist selbst der
Zeichner seiner Gestalt. Eben aus dieser Wahrheit macht das Drama
Ernst, indem es nicht, wie das Epos, der Phantasie die Erscheinungen
vorzeichnet, sondern den Charakter vor uns so handeln und leiden läßt,
daß wir, noch ohne Hülfe der Schauspielkunst, uns sein äußeres Bild von
innen heraus, aus seinen Willensbewegungen aufbauen. Diejenige Kunstform,
die aus dem Charakter das Schicksal entwickelt, führt also gerade
recht an die Quelle, in den Mittelpunct, wo das individuelle Gepräge der
Lebenszüge seinen Sitz und Ausgang hat, in dessen verschiedener Behandlung
der große Stylgegensatz beruht. Stellt man Sophokles und Shakespeare oder
Göthe und Shakespeare nebeneinander, so zeigt man klarer, was unter diesem
Gegensatze verstanden sei, als wenn man Homer mit einem epischen Dichter
der romantischen Zeit oder einem modernen Romandichter zusammenstellt, ja
klarer selbst, als wenn man Raphael und Rembrandt nebeneinander hält.


Da wir die Geschichte der Poesie nicht getrennt behandeln, sondern
in die Lehre von den Zweigen verarbeiten, so ist der Stylgegensatz, wie er [1407]
sich historisch im Großen ausspricht, an den Anfang der hier aufzuführenden
Unterscheidungen zu stellen. Es liegt aber darin keine logische Störung,
weil das Geschichtliche alsbald die Bedeutung gewinnt, in den Charakter
der Dichtungsart, wie er an sich und abgesehen von der zeitlichen Entwicklung
besteht, so einzugreifen, daß bleibende Gegensätze sich bilden. ─ Dem
Orientalischen können wir dießmal nur noch die kurze Bemerkung widmen,
daß die einzige dramatische Erscheinung in einer begreiflichermaßen undramatischen
Form des Phantasielebens, das indische Drama, seinen höchsten
Werth in dem hat, was eigentlich lyrischer Natur ist, in der Schönheit
und Anmuth der Liebe, und daß es an dramatisch wirksamen Momenten in
der Handlung zwar nicht fehlt, daß aber das Spezifische der Kunstgattung
durch die immer wieder einbrechenden phantastischen, allgemein menschlicher
Wahrheit entbehrenden Motive und Entrückungen auf transcendenten Boden
durchbrochen wird. ─ Behalten wir nun das Griechische und ihm gegenüber
das Moderne im Auge, so sehen wir sogleich ein ganz anderes Verhältniß,
als im epischen Gebiete. Dort hatte alles Nach-Homerische einen
zweifelhaften Charakter; einen reinen Gegensatz gegen das ächte Epos bildete
nur der Roman und es wurde doch von ihm behauptet, er sei das Wert
eines berechtigten, entgegengesetzten Styls, der aber seine wahre Bestimmung
in einem andern Gebiet haben müsse. Dieß Gebiet ist eben das dramatische.
Hier ist so entschieden der wahre Boden des modernen, charakteristischen,
als im Epos der des direct idealen Styls, und es ist Zeit, daß man sich
die großen, tiefen Mängel gestehe, an denen das griechische Drama leidet,
wenn es streng an den Maaßstab des Spezifischen der Dichtungsart gehalten
wird. Keineswegs aber dreht sich nun das Verhältniß so um, daß von
dem griechischen Drama ebenso bestimmte Zweifelhaftigkeit des Werthes
ausgesagt werden müßte, als von den epischen Erscheinungen nach Homer.
Die Griechen haben die große Genialität gehabt, im tiefen Widerspruch
mit den Grundlagen ihrer Weltanschauung, die wesentlich episch waren,
doch das Drama in der Poesie zu schaffen, wie sie im Staatsleben zur
Freiheit fortschritten. Umringt und gebunden von einer Götterwelt, die
bei den Völkern des Orients, woher sie gewandert, Ausdruck und Ausfluß
eines verhüllten und willenlosen Lebens war, erwachten sie doch zum Bewußtsein,
zu der That, zu der Entscheidung, liehen ihren Göttern die
erwachte Seele, machten sie zu Vertretern des freien Menschen und konnten
so mit und unter ihnen frei sein. Ein Volk von Bildhauern, belebten sie
doch die stille Statue, warfen die Trennung in die stille Harmonie des Geistes
und der Sinne, den Blitz des wollenden Blickes in ihr lichtloses Auge und
versetzten sie wandelnd, handelnd auf die Bühne. Der homerische Held
entwuchs dem Gängelbande der Gottheit, des Jnstinctes, des Affectes, der
wahllos über ihn kam, und lernte eine straffe Entscheidung aus sich selbst [1408]
nehmen. Mitten im zerreißenden Conflicte bewahrten diese Gestalten dennoch
den griechischen Geist der maaßvoll schönen Naturkraft; aber wie viel davon
sie bewahrten, ebenso viel ungelösten Dunkels und undramatischer Einfachheit
bleibt in dem Bilde stehen. Nicht so viel, um ihm die Bedeutung
eines Vorbilds zu nehmen, an dem für alle Zeiten das rohere, wildere
Gefühl der neueren Völker sich zu läutern hat, nur so viel, um streng zu
verbieten, daß sie sich je in der ganzen Auffassung unfrei daran binden.
Das classische Drama ist so eine große und herrliche Vorlage, die als
höchste Ausbildung des direct idealen Styls auf einem Boden, wo er kein
volles Recht hat, allem Modernen vor- und gegenüberliegt, ähnlich wie
die classische Malerei (vergl. §. 717), doch ungleich höher, denn es hat
zwar keineswegs alles Spezifische, doch ungleich mehr des Spezifischen der
bestimmten Kunstform ausgebildet, als jene.


§. 905.


Die classische Tragödie spielt auf mythisch-heroischem Boden, die Fabel
und die Motivirung ist einfach, die Composition liebt es, die Handlung, wodurch
die Katastrophe bedingt ist, als geschehen vorauszusetzen, der Personen sind
wenige, die Charaktere mehr Typen, als Jndividuen, die Schicksals-Jdee leidet
an einem unversöhnten Widerspruche (vergl. §. 435. 440). Der Chor, der
stehengebliebene Boden des religiösen Ursprungs, ist episch als Repräsentant des
Volksganzen, lyrisch in der Form und in seiner Bedeutung als idealer Zuschauer,
der dem empirischen vorempfindet; er hält das Band der Poesie mit der Musik
und Orchestik fest.


Auf den ungemeinen Vortheil, der dem griechischen Tragiker aus jenen
großen Stoffen der Heldensage erwuchs, haben wir schon öfters hingezeigt;
eine von der Volksphantasie schon umgebildete Wirklichkeit kam ihm entgegen,
das Bild einer Zeit, worin ungeheure Kräfte ungebunden von aller Mechanisirung
des Staatslebens ihren Schicksalsweg gehen, und er hatte nur
„Poesie auf Poesie zu impfen“ (W. Schlegel Vorles. über dram. Kunst und
Lit. Th. 1, S. 80); doch darf man nicht übersehen, daß das Verweilen
auf dem mythisch sagenhaften Boden, der Ausschluß des klaren Tages der
Geschichte (wo er betreten wird, geschieht es nur in Anknüpfung an Mythisches
oder in der Weise mythischer Stellvertretung für das Historische)
zugleich mit der Großheit auch die aus der Transcendenz des Standpunctes
fließenden Mängel dieser Tragödie bedingt. Die Großheit ruht vor Allem
auf der Einfachheit einer Menschenwelt von unentwickelter, aber auch ungebrochener,
objectiv bestimmter, monumentaler Subjectivität. Damit hängt
sogleich auch die Einfachheit der Fabel zusammen, denn es ist nicht das [1409]
Jnteresse ausgebildet, zu zeigen und zu sehen, wie eine bestimmte Erschütterung
des Lebens sich in einer Gruppe einzelner Situationen und Handlungen, in
welche die Haupthandlung sich verästet, vielseitig reflectirt, mannigfaltig
färbt, in einem Reichthum von Folgen modificirt. Ebensowenig ist ein
Jnteresse da, die Handlung auf einem längeren Wege des Wachsens und
Anschwellens im Zusammenwirken mehrerer und aufeinanderfolgender Motive
werden zu lassen. Der objective Mensch zaudert im Conflict nicht lange,
allgemeine Lebensmächte streiten sich um sein Jnneres, er entscheidet im
Namen der Einen siegreichen rasch wie mit Nothwendigkeit, das Gewicht
der Behandlung kann noch nicht auf die Seelengeschichte, den psychologischen
Prozeß fallen. Dieser Prozeß bedingt mehrere kritische Momente, die
selbst schon relative Katastrophen sind; so enthält Shakespeare's Makbeth
eine Reihe von Krisen, Stadien mit entscheidenden Wendungen des Bewußtseins
und Thaten; die alte Tragödie hatte nur Eine Krise: rasche That
und Katastrophe war ihr Loosungswort, ja sie liebte eine Form, worin
eigentlich Alles nur Katastrophe ist; es ist dieß jener Gang der Composition,
den wir mit Jmmermann (Ueber d. rasenden Ajax des Sophokles
S. 65) analytisch nennen können, indem das entscheidende Einzelne, die
That, woraus die Katastrophe fließt, mit dem Anfang des Drama schon
geschehen ist (Ajax und Oedipus), und in den Folgen, die sich nun entwickeln,
durch Jnduction zugleich den Weg, wie die That entstand, und
die Wolke des Schicksals erkannt wird, welche von Anfang an über dem
Helden hing. Der uncolorirte Charakter dieser Tragödie zeigt sich nun
vor Allem in den Charakteren. Wenn man eine Antigone, einen Oedipus
aufmerksam liest, so fühlt man einen schwachen Ansatz zu bestimmterer
Färbung, etwas von individueller Complexion, Temperament, spezielleren
Zügen; es ist höchst interessant, sich vorzustellen, was Shakespeare aus
solchen Keimen gemacht, wie er sie zum Bilde reicher, mit vielen Saiten
besetzter, vieltöniger und eigenartiger Charaktere entwickelt hätte; bei den
Alten bleibt es ein Anflug, ein Farbenton, den die objective Bestimmtheit
der plastischen Umrisse und das Monumentale der nur von den allgemeinen
Mächten durchzogenen Seele nicht zur Entwicklung kommen läßt. Nennt
man sie mehr Typen, als Jndividuen, so ist dieß näher dahin zu bestimmen,
daß im classischen Style des modernen Drama das, was wir
Typen nennen können, die Charaktere, die mehr das Allgemeine eines Temperaments,
eines Standes, einer sittlichen Angewöhnung vertreten, als das
unendlich Eigene von Jndividuen darstellen, doch subjectiv ausgearbeiteter,
naturalistischer gehalten ist, als jene einfach großen Naturen. Und doch sind
jene nicht leblos, ja weit lebendiger, als die schematischen Charaktere des
verwandten Styls der neueren Poesie, denn sie sind Anschauungen einer
Zeit, eines Volkes, wo diese objective Einfachheit eine Wahrheit und das [1410]
Gepräge des wesentlichen, großen Pathos zugleich das der Lebenswärme
war. Die geringe Anzahl der Personen folgt aus der Einfachheit der
Handlung, findet aber ihre Ergänzung im Chore.


Der innerste Mangel dieses Drama liegt nun aber in dem antiken
Schicksalsbegriffe. Was in den angeführten §§. über diesen gesagt ist,
fassen wir nur mit Wenigem noch einmal auf. Es unterscheiden sich leicht
zwei Formen des tragischen Prozesses im griechischen Drama, in deren einer
die Schuld klarer und bestimmter ist unbeschadet des Zwielichtes, das sie
von der einen Seite mildert, indem man sich den ganzen Heldencharakter
und die ganze Situation anders denken müßte, wenn es ohne Schuld
abgehen sollte, während in der andern das Schicksal weit mehr noch die
tückisch auflauernde, neidische Macht des älteren Volksglaubens ist, die den
Helden gerade durch die Mittel, die er ergreift, ihm zu entgehen, in's Elend
stürzt. Diese zweite Form tritt nirgends so bestimmt auf, wie im Oedipus.
Ganz ohne Schuld geht es allerdings auch in ihr nicht ab; im Oedipus
ziehen wir aus dem herrischen, jähzornigen Wesen des Helden einen dunkeln
Schluß auf eine ὕβρις, welche nicht ganz ungerecht gedemüthigt wird. Allein
in beiden Formen wird der Schuldbegriff getrübt und gekreuzt dadurch, daß
das Schicksal durch Träume, Seher, Orakel prophezeit, also zum Voraus
gesetzt ist: Ausfluß eines finstern Geistes der Nemesis, der durch ganze
Häuser geht und das Verbrechen des Ahnherrn im Enkel straft. Die Schuld
des Enkels fällt nun in schwankender Verwirrung halb mit unter den Begriff
der über das Geschlecht verhängten Strafe. Wo das Schicksal vorherbestimmt
ist, kann es sich nie und nimmer rein aus dem Gange der
Handlung als Resultat erzeugen. Jn richtiger Betrachtung ist das, was
als Resultat hervorspringt, freilich immer schon im Anfang der Handlung
angelegt, aber nur implicite, nicht, wie bei den Griechen, explicite. Der
Begriff der Vorherbestimmung ist überhaupt ein falscher, tödtet allen wahren
Begriff von Schuld, Handlung, Menschenleben. Die Allwissenheit hat nur
Sinn, wenn man erst die Kategorie des Vorher und Nachher in der Zeit
aufgehoben hat. Die Griechen haben jene Antinomie von absolutem Schicksal
und Schuld ungelöst stehen lassen und es wird dabei bleiben, daß dieß der
kranke, immer beunruhigende Punct in ihrer Tragödie ist.


Der Chor ist bekanntlich die stehengebliebene Wurzel, woraus die Tragödie
hervorgegangen ist; er bewahrt den Ursprung aus den Gesängen des
Dionysischen Cultus als wesentlichen Theil und stehenden Zug ihres religiösen
Charakters. Episch ist er seiner realen Bedeutung nach als Zuziehung
des Volkes zu der Handlung, die auf den Höhen des Lebens, unter den
Heroen vor sich geht, als Ausdruck der Oeffentlichkeit, also des Massenhaften,
Ausgedehnten. Das real Allgemeine, dieser Grund und Boden, aus dem
sich die Helden erheben, wird aber im Jnhalte der Chorgesänge zum ideal [1411]
Allgemeinen der Betrachtung. Die betrachtende Haltung des Chors hat
zunächst den tieferen Sinn, den Hegel (Aesth. Th. 3, S. 547 ff.) ausgesprochen
hat: er stellt die unentzweite Substanz des sittlichen Bewußtseins
dar, die sich gegenüber den tiefen individuellen Collisionen, die aus ihr wie
aus dem Schooße des Erdreichs hervorschießen, in ihrer Allgemeinheit erhält.
Diese Allgemeinheit spricht der Chor durch stetige Anknüpfung der angeschauten
Handlung an ewige Wahrheiten, an das Göttliche aus, gibt so
dem religiösen Ursprung des Drama's, der in ihm bewahrt ist, ausdrückliche
Form und erscheint in seiner Spruchweisheit zugleich als gnomischer Bestandtheil.
Aber nicht, als ob das Erschütternde der Handlung ihn nicht subjectiv
bewegte, er ist wesentlich fühlend, Empfindungs-Echo des tragischen
Vorgangs. Das Allgemeine, was sich in ihm darstellt, gemahnt nach dieser
Seite unwillkürlich an die Landschaft, an das allgemein Umgebende, Luft
und Erde, was mitzutönen, verhallend weiter zu tragen scheint. Hiemit
ist denn auch die lyrische Bedeutung des Chors ausgesprochen. Er empfindet
als Zuschauer im Stück, als künstlerischer Auszug aus der empirischen
Menge der Zuschauer diesen vor; die pathologische Gewalt, womit die
letzteren ergriffen werden, ist schon dadurch gebrochen, daß ihr Gefühl hier
überhaupt geläuterten Kunst-Ausdruck findet. Allein indem der Chor im
Sturme des Gefühls jene Ruhe und Allgemeinheit der Betrachtung rettet,
reinigt er auch positiv Furcht und Mitleiden, die er dem empirischen Zuschauer
vorempfindet. W. Schlegel's Wort, er sei der idealisirte Zuschauer
(a. a. O. Th. 1, S. 77), bleibt daher ebenso treffend, als geistreich. Die
griechische Poesie entwickelt, um dieser vielseitigen und großartigen Bedeutung
zu genügen, auf diesem Puncte den höchsten Glanz der Lyrik. Das
Band zwischen dem Drama und dieser Form schlingt sich aber auch in die
Handlung selbst hinüber, da die Personen derselben von der Rede in Wechselgesang
mit dem Chor übergehen; der Gesang wird von der Musik begleitet
und der Chor stellt ihre Rhythmen zugleich in orchestischer Bewegung räumlich
dar. Wir sehen also eine Verbindung der Zweige der Poesie mit Musik
und Tanzkunst, die ebenso imposant und lebensvoll, als unserem auf Theilung
der Gattungen gerichteten Sinne fremd ist. Wir müssen trotz aller Großartigkeit
dieser Lebensfülle eine solche Verwachsung für einen unreifen
Zustand erklären; das Drama kann in diesem Prachtgewande nicht zur
klaren Ausbildung seiner tiefsten Bedingungen, eines hellen Bewußtseins
von Charakter, Motiv und Schicksal gelangen, während es in der neueren
Zeit seine Reife freilich um den theuren Preis jener unmittelbaren Lebendigkeit
der Verschlingung mit andern Zweigen und Künsten erkauft. Es
verhält sich ähnlich wie mit der Polychromie in Architektur und Sculptur.

[1412]

§. 906.


Streng geschieden von der Tragödie bewegt sich die classische Komödie
zwar auf dem Boden der realen Gegenwart und ihr Humor ruht auf der Grundlage
der politischen Satyre, ihrem Style nach aber ist sie mythisch phantastisch,
das reine Gegenbild der ersteren. Dagegen tritt hier innerhalb des classischen
Jdeals ein Stylgegensatz, der im tragischen Gebiete schwächer angedeutet ist,
mit relativer Entschiedenheit in der neueren Komödie hervor.


Jm ernsten Drama des classischen Jdeals war durch den plastischen
Geist und sein Stylgesetz des directen Jdealismus, welches Schönheit der
einzelnen Gestalt forderte, durch die hierin begründete Einfachheit der Charaktere,
durch die dunkle, drohende Wolke des Schicksals, die es nicht gestattete,
daß der Mensch sich seiner unendlichen subjectiven Freiheit erinnerte, der
Uebergang in das Komische streng ausgeschlossen. Kaum ein ferner Ton
ist z. B. dem Wächter in der Antigone angehaucht und auch hier ist die
Vorstellung anziehend, was wohl Shakespeare daraus entwickelt hätte. Jn
der antiken Komödie nun, die wegen der Stylfrage hier einzuführen ist,
obwohl die betreffende stehende Eintheilung erst nachher aufgeführt wird,
herrscht ebenso unbedingt das Komische in der Handlung. Jn der Stimmung
allerdings kann ihr ein ernster Grundzug nicht abgehen, vielmehr ist ihr Humor
von den Klängen der erhabensten Gesinnungen und Schmerzen durchzogen.
Was Stoff und Jnhalt betrifft, so bringt es das Wesen des Komischen
selbst mit sich, daß im vollen Gegensatze gegen die Tragödie hier die unmittelbare
empirische Wirklichkeit ergriffen wurde; die ältere, Aristophanische
Komödie hat das große Thema der Auflösungszustände des griechischen
Staats, sie ist in ihrer Grundlage politische Satyre. Die Großheit dieses
Stoffes gibt ihr den monumentalen Charakter und sichert so zunächst nach
dieser Seite im Realistischen den hohen Styl; allein dieses Bild der Auflösung
der plastischen Schönheit des griechischen Lebens ist noch in einem
andern Sinne selbst plastisch: es objectivirt den Geist der Komik in einer
Parodie der mythischen Welt, worauf die Tragödie ruht, nimmt so die
Gestalt des greiflich wunderbar Komischen, des Grotesken an, treibt zugleich
die porträtirten Persönlichkeiten zur phantastischen Caricatur auf und erhebt
sich von der Grundlage der Satyre in den ausgelassensten Humor. Dagegen
bildet nun die neuere Komödie der Griechen einen vollen Gegensatz; der
monumentale politische Boden und mit ihm das Reich der kolossalen komischen
Wunder wird verlassen, sie steigt in das Privatleben herab, wird
sittenbildlich, naturalistisch, es tritt in den classischen Styl der charakteristische
ein. Vergleicht man sie jedoch mit dem Ganzen des letzteren Styls in
seiner wirklichen und vollständigen Ausbildung, so ist der Gegensatz gegen [1413]
die alte Komödie doch ein blos beziehungsweiser: die neuere Komödie der
Alten generalisirt mehr, als sie individualisirt, ihre Sklaven, Schmarotzer,
geprellten Väter, leichtsinnigen Söhne, Dirnen, soldatischen Aufschneider,
Trunkenbolde u. s. w. sind mehr Masken, als wirkliche Einzelwesen, und
es wird dieß folgenreich für den Uebertritt des classischen Styls in den
wesentlich charakteristischen modernen durch den Einfluß des Abbilds der
neueren Komödie der Griechen, der römischen, auf die romanische Literatur.
Obwohl nach dieser Seite nur ein relativer Gegensatz, konnte eine solche
Form doch im Alterthum nicht gleichzeitig mit der rein classischen auftreten,
dort ist der Unterschied vielmehr ein successiver und es verhält sich damit wie
mit dem Uebergange der antiken Plastik und Malerei in das Realistische,
Sittenbildliche; die Erscheinung ist aber als geschichtliches Vorbild eines
bleibenden, der weitern, logischen Eintheilung angehörigen Gegensatzes
durchaus wichtig und wesentlich. Ein ähnlicher Gegensatz tritt nun, ebenfalls
geschichtlich, auch in der antiken Tragödie ein, denn Euripides faßt
die Menschen schon empirisch, subjectiv, psychologisch, vielseitig, reicher colorirt,
skeptisch; aber diese Behandlung steht im Widerspruche mit dem großen
heroisch mythischen Stoffe, der doch beibehalten ist, und so gelangt auf
diesem Boden die Stylwendung nicht zu derselben Bestimmtheit, wie auf
dem komischen. Jn schwacher Andeutung ist allerdings ein Styl-Gegensatz
auch als ein gleichzeitiger wahrzunehmen, und zwar in der Eintheilung der
Arten der Tragödie bei Aristoteles (Poetik C. 18.); denn die ethische Art,
die er unter den andern aufzählt, ist sittenbildlich, charakteristisch und der
Peleus, den er neben den Phthiotiden als Beispiel anführt, war nicht
nur von Euripides, sondern auch von Sophokles behandelt. Allein diese
Form war wenig ausgebildet und das psychologische, rein menschliche Gemälde,
auf das sie schließen läßt, konnte entfernt nicht bis zu einer
Ausbildung des Charakteristischen gehen, die einen so entschiedenen Gegensatz
der Stylrichtung innerhalb des Antiken darstellte, wie die neuere
Komödie.


§. 907.


Der charakteristische Styl des modernen Drama's stellt sich, ohne auf
die sagenhaften Stoffe zu verzichten, auf den Boden der naturgemäßen Wirklichkeit
des politischen, bürgerlichen, oder Privatlebens und entwickelt aus der
tieferen, auf prinzipielle Umgestaltung des Bestehenden schneidender gerichteten
Subjectivität vielseitiger, eine scheinbar widerspruchsvolle Einheit darstellender
und in härtere Einzelzüge auslaufender Charaktere in organischem Anwachsen
eine reichere, verzweigtere, größere Personenzahl fordernde Handlung. Das
Schicksal ergibt sich als immanentes Gesetz aus den Wirkungen und Gegenwirkungen
der Freiheit. Der Chor, die Verbindung des Drama mit Lyrik, [1414]
Musik und Tanz, fällt weg. Jnnigere Mischung des Ernsten und Komischen,
Eintritt des Letzteren in die Tragödie und ernstes Jnteresse der Fabel in der
Komödie folgt aus den innersten Bedingungen dieses Styls.


Die Grundzüge dieses Unterschieds sind zum Theil schon in der Darstellung
des classisch idealen Styls ausgesprochen, da derselbe nur an seinem
Gegensatze geschildert werden konnte, zum Theil müssen sie noch bei der
folgenden Ziehung der bleibenden Theilungslinien zur Sprache kommen.
Wir heben daher hier nur Weniges über einzelne Puncte hervor. Auf die
dunkeln, großen Stoffe aus vorgeschichtlicher, sagenhafter Zeit mit ihren
mythischen Motiven kann auch das Drama des naturwahren Styls nicht
verzichten: die bedeutendsten Tragödien des Vaters des modernen Drama's,
Shakespeare's, spielen auf solchem Boden. Die Begründung des charakteristischen
Styls ist sein Werk, er sprang in voller Rüstung, wie Minerva,
aus seinem Haupte. Seine sagenhaften Stoffe gehören der nordischen
Welt; eignet sich der charakteristische Styl in dem Sinne, welcher zur Sprache
kommen wird, den classischen an, so ist dadurch auch die Aufnahme antiker
Sagenstoffe gegeben. Nur wird der Unterschied von den Alten nothwendig
der sein, daß alle übernatürlichen Motive, welche diese Stoffe mit sich bringen,
im Verlaufe der Handlung in's Jnnere verfolgt, zurückverlegt werden müssen.
Das Schwere ist, dieß so zu behandeln, daß das Wunderbare zum Ausdruck
einer inneren Wahrheit wird, ohne doch zur todten Allegorie sich
auszuhöhlen; Shakespeare ist darin unübertroffen; er verbessert im Fortgang
den mythischen Ausgang, seine Geister und Hexen werden zu Thatsachen
des Bewußtseins und bewahren doch die ganze Schauer-Atmosphäre
geglaubter Erscheinungen aus einem Reiche des Uebernatürlichen. Aehnlich
verhält es sich mit den Furien in Göthe's Jphigenie; der Dichter verlegt
sie von Anfang an nur in das Jnnere des Orestes und sie behalten doch
die Lebens-Wahrheit uralter, geläufiger Tradition. Die wahre Heimath
des modernen Drama ist aber allerdings die wunderlose Wirklichkeit der
Geschichte. Es tritt mitten in die Bedingungen der Realität bis hinein in
die engere Sphäre des Privat- und Familienlebens, das erst dem Jdeale
der neueren Welt seine Wärme und innere Lebendigkeit erschlossen hat. Wie
der Roman, so muß nun das Drama die Stellen aufsuchen, wo die prosaisch
verstandene oder wirklich prosaische Ordnung der Geschichte durchbrochen
wird, sich lüftet und ein Bild freierer Bewegung darbietet. Wir werden bei
dem Unterschiede der Stoffe noch ein Wort über die Momente sagen, die
der dramatische Dichter aufzusuchen hat; die Hinweisung liegt aber schon
in dem, was der §. über die Charakterbehandlung und den Schicksalsbegriff
des naturalistischen und individualisirenden Styls enthält. Die Transcendenz
des Schicksals ist überwunden, dieß ergibt sich bereits aus der Forderung, [1415]
daß mythische Motive im Fortgange sich in naturgemäße Wahrheit aufheben;
der Mensch ist also auf sich, auf die eigenen Füße gestellt, seine Loose fallen
in seinem eignen Jnnern, das Schicksal erzeugt sich aus der Freiheit. „Das
Schicksal oder, welches einerlei ist, die entschiedene Natur des Menschen,
die ihn blind da oder dorthin führt“, sagt Göthe (Briefw. mit Schiller
Th. 3, S. 84). Es fehlt in dieser Bezeichnung der immanenten modernen
Schicksals-Jdee eine Reihe vermittelnder Begriffe, die nach unserer Lehre
vom Tragischen keiner weiteren Auseinandersetzung bedürfen, sie ist aber
dennoch schlagend und treffend. Der Charakter nun erkauft sich in dieser
Auffassung das Recht, mit dem weiteren Umfang seiner Eigenheiten und
Härten, mit seiner unregelmäßigeren, zerfurchteren Gestalt in die Poesie
einzutreten, durch das Uebergewicht des Ausdrucks, und dieser Ausdruck ist im
Drama der Ausdruck der Freiheit, des entscheidenden Wollens. Nun erst legt
sich das ganze Gewicht so auf diesen Punct, daß der Wille in jener Form
der schärfsten Jntensität auftritt, die wir in §. 898 als die wesentlich dramatische
aufgestellt haben: das moderne Drama fordert revolutionäre, im tiefsten
Sinne des Worts radicale Charaktere. Mit der durchschneidenden Entschiedenheit
entwickelt sich jetzt auch die Fülle und Tiefe der inneren Welt, der
charakteristische Styl ist zugleich der subjective, psychologische. Dieß hat aber
ebenso ganz objective Bedeutung: das Streben des Helden soll ja allgemein
menschlichen, ewig wahren Jnhalt haben, soll Pathos im gewichtigen Sinne
des Wortes sein und gerade die objective Gewalt und Wahrheit des Pathos
will der moderne Geist daran erkennen, daß es den Menschen mit aller
Vielseitigkeit, Besonderheit und Eigenheit seiner Kräfte in Besitz nimmt.
Der complicirtere, oder, wie man sonst sagte, gemischtere Charakter ist demnach
objectiv wie subjectiv gefordert, ein Charakter, der sich in gebrochener
Linie, in scheinbaren Widersprüchen bewegt. Dieß ist zugleich der Grund
der reicheren Fabel, der mannigfaltig sich verästenden Handlung, der Polymythie
im neueren Drama. Es verhält sich wie mit der Ausbildung der
Harmonie in der neueren Musik: die größere Zahl der Personen entspricht
genau der reichen Jnstrumentirung des modernen Musikwerks; wir wollen
den einen Grundton in mannigfaltigerer Resonanz vernehmen, dieselbe Bewegung
des Jnnern vielfacher gewendet, wie sie sich in verschiedenen Gemüthern,
Fällen, Folgen spiegelt, oder, um die Beziehung der Style zum Unterschiede
der Plastik und Malerei nicht zu vergessen, wir wollen den tieferen Hintergrund,
die reichere Composition der letzteren statt der unbenützten Fläche,
welche die sparsameren Gruppen des Relief umgibt. Jst die Handlung
mannigfaltiger, so ist sie nothwendig auch verwickelter und ihr verschlungener
Knoten entspricht der verschlungneren Form des Charakters. ─ Diese
innern Bedingungen sind denn auch der tiefere Grund der Entfernung
des Chors. Eine Handlung, die vom Prinzip der Jmmanenz so streng [1416]
zusammengehalten ist, kann nicht einen idealen Zuschauer neben sich haben:
sie nimmt ihn in sich herein, hat ihr subjectives Echo in der Vielzahl der
betheiligten Personen und ihres vertiefteren, vielsaitigeren Gemüthslebens,
sie selbst empfinden dem empirischen Zuschauer vor. Daß unsere Zustände
nicht öffentlich sind, daß das Wichtigste in geschlossenen Räumen vor sich
geht, darin liegt der untergeordnete, reale Grund dieser Weglassung. Hiezu
kommt nun aber das moderne Prinzip der reinen Theilung und Auseinanderhaltung
der Künste und ihrer Zweige. Musik und Tanz ist an die Oper
und das Ballet gefallen, wie die Plastik die Farbe ganz an die Malerei
abgegeben hat.


Die Einflechtung des Komischen in das Tragische und die Erhebung
des Ernsten zum leitenden Motive in der komischen Handlung ist an mehreren
Stellen schon so hinreichend besprochen und begründet, daß wir das
Wenige, was noch darüber zu sagen ist, der näheren Beleuchtung der Arten
überlassen und hier nur noch darauf aufmerksam machen, wie der Uebergang
des Tragischen in's Komische schon durch die Behandlung des Charakters
gegeben ist: je complicirter derselbe erscheint, desto weniger können Contraste
ausbleiben, die an's Komische streifen oder bestimmt in dasselbe übergehen,
und ist hievon selbst der erhabene Charakter nicht ausgenommen, so ist
schon dadurch gegeben, daß neben ihm auch wirklich und ganz komische
Charaktere auftreten können. Die moderne, nordische Weltanschauung hat
die Kraft, diese Widersprüche zu ertragen und zusammenzuhalten, und wenn
Göthe die Wärterinn und Mercutio in Romeo und Julie im Namen unserer
„folgerechten, Uebereinstimmung liebenden Denkart“ als possenhafte Jntermezzisten
verwirft, so spricht er vom Standpuncte des classischen Styls,
dem er sich hierin bis zu einem Grad anschließt, der zum Unrechte gegen
diejenige Aufgabe der neueren Poesie wird, von welcher sofort die Rede
sein muß.


§. 908.


Ungleich wesentlicher, als die Ansätze des charakteristischen Styls im rein
idealen des classischen Alterthums, ist die Nachwirkung des letzteren auf jenen,
woraus ein Gegensatz und Kampf der Prinzipien erwachsen ist, der auf keinem
Boden so sichtbar, bewußt und belebend auftritt, wie auf dem dramatischen.
Derselbe fällt theils mit dem Unterschiede der romanischen und germanischen
Nationalität zusammen, theils wiederholt er sich innerhalb der Poesie jeder von
beiden, doch ungleich kräftiger in der germanischen, welche wie keine andere
berufen ist, die Aufgabe der Versöhnung beider Style mit Uebergewicht des
charakteristischen zu lösen.

[1417]

Die Erläuterung mag dießmal den Schluß des §. heraufnehmen und
von da aus die vorangehenden Sätze in's Licht stellen. Unsere Aufgabe
ist, wenn nicht die ganze leitende Jdee unserer Lehre von dem Leben der
Kunst unrichtig sein soll, offenbar in das Wort zu fassen: Shakespeare's
Styl, geläutert durch wahre, freie Aneignung des Antiken.

Um diesen Punct oscillirt die neuere dramatische Poesie der Deutschen wie
die neuere Malerei um eine höhere Vereinigung des deutschen, niederländischen
Styls mit dem Raphaelischen oder überhaupt italienischen. Göthe
nimmt die Wendung zum classicirenden Styl in seinem Egmont; der
naturalistische, charakteristische, in den seine Jugendpoesie sich geworfen, und
der hohe, ideale sind in diesem Drama als zwei nicht wirklich verschmolzene
Elemente merklich zu unterscheiden, wie oft eine Strecke weit die Wasser
zweier vereinigter Flüsse. Von da an vertieft Göthe seine antik gefühlten
Gestalten durch moderne Humanität und deutsches Herz, aber er setzt sie
nicht in die concrete Farbe der wirklichen Jndividualität und Naturwahrheit,
schon darum nicht, weil es mehr Seelenbilder, als männliche Charaktergestalten
sind. Eine ähnliche Schwankung wie im Egmont ist in Schiller's
Wallenstein; im Lager, in manchen Scenen und Zügen der beiden Piccolomini
und des Schlußstücks der Trilogie, die selbst bis zum behaglichen
Humor charakteristisch sind, in dem tiefen Gefühle, womit Physiognomie
und Stimmung der Zeit erfaßt ist, erkennt man Shakespeare's Geist, aber
im Kothurn des rhetorischen Pathos, in der Jdealität, die in Charakterzeichnung
und einzelner Darstellung doch wieder eine Welt von Zügen der
strengeren geschichtlich naturwahren Haltung fern hält, vor Allem in der
Schicksals-Jdee tritt doch mit Uebergewicht die classische Stylisirung hervor.
Von da an halten sich Schiller's Charaktere „in einer Mitte zwischen der
typischen Art der Alten und der individuellen des Shakespeare“, so sagt
Gervinus (Neuere Gesch. d. poet. Nationallit. d. Deutsch. Th. 2, S. 506
Ausg. 1842), geht aber offenbar zu weit; denn man wird dieß Wort,
das eine so bedeutende Gedankenreihe eröffnet, nur auf einige derselben,
nicht auf alle anwenden dürfen. Die Schiller'sche Charakterwelt ist weit
mehr antik sententiös, rhetorisch und hochpathetisch, als Shakespearisch
naturwahr und in die Einzelzüge der Eigenheit hinausgeführt, es sind weit
mehr Typen, als Jndividuen, er generalisirt weit mehr, als er detaillirt.
Seine Schicksals-Jdee behielt immer einen Rest ungelöster Härte, der an
die neidische Macht des altgriechischen Fatums erinnert. Jn der Braut
von Messina nahm er förmlich diesen Begriff auf und gab dadurch den
Anstoß zu den sog. Schicksalstragödien, in welchen das Fatum nicht nur
in antiker Weise ein Vorausgesetztes, sondern in grasser Trivialität sogar
an ein bestimmtes Datum, an ein bestimmtes sinnlich Einzelnes geknüpft
ist. Von dieser Caricatur fern wollte Schiller ihm seine finstere Majestät [1418]
sichern, jeden Schein abschneiden, als gelte es im Tragischen blos der Erhabenheit
des menschlichen Subjects; er erkannte nicht, daß die absolute
Erhabenheit des Schicksals sich nur vertieft, wenn es als immanentes
Gesetz aus den Charakteren und der Handlung entwickelt wird, aber nach
jener Seite ist doch Wahrheit und wirkliche Größe in seiner Schicksals-Jdee;
bei einem Müllner und Grillparzer schlug diese in's Lächerliche um. ─
Wir erwarten noch den classisch gereinigten deutschen Shakespeare. Eine
absolute Vereinigung der Stylgegensätze gibt es freilich nicht, soll es nicht
geben, die Geschichte der Kunst ist ja gerade die Geschichte ihres Kampfes
und wir haben hier ihre Beleuchtung vorangeschickt, um darauf einen bleibenden
Unterschied zu gründen, der sich durch die folgenden stehenden Eintheilungen
hindurchzieht; aber ein relativ Höchstes der Vereinigung mit
reicher Umgebung von Modificationen und Mischungsverhältnissen muß der
Begriff sein, nach welchem wir steuern. Keiner Nationalität kann diese
Aufgabe so gesetzt sein, wie der germanischen; ihr angelsächsischer Stamm,
in England mit dem feurigeren normannischen gemischt, hat das wunderbare,
aber noch mit nordischer Formlosigkeit behaftete Muster in Shakespeare
dem deutschen hingestellt, das er mit dem andern ewigen Muster, dem classischen,
zusammenfassen soll. ─ Das Drama der romanischen Völker nun
stellt ein überleitendes Band zwischen dem letzteren und der ganzen Aufgabe
dar. Sie hängen durch Abstammung und Cultur alle noch in der classischen
Tradition, so verschieden sie dieselbe durch ihre Besonderheit und
moderne Bildung auch gefärbt haben, und das entscheidende Zeichen davon
ist, daß sie Shakespeare mit seinen Contrasten im tief individuell gesättigten
Style niemals ganz verstanden haben, verstehen können. Das spanische
Drama stellt seine Menschen, die durchaus mehr Stände, Temperamente,
Leidenschaften, als Jndividuen sind, unter die Wunder eines Himmels, zu
dem sie sich durch das Aufgeben dessen, was eben den wirklichen Jnhalt
des Charakters und Drama's ausmacht, in mystischer Auflösung erheben
sollen, oder spannt sie, in der weltlichen Sphäre, in einen Codex conventioneller
Begriffe der Ehre, Liebe, Ergebung des Unterthanen ein, der die
leidenschaftlichsten Conflicte zur Folge hat, aber der concreten menschlichen
Wahrheit entbehrt. Dieses Drama ist in all seiner Pracht eine Spezialität,
der antiken Anschauung aber verwandt durch den Charakter des Gegebenen
und Vorausgesetzten, den, wie dort das Schicksal, hier die Welt hat, in
die der dramatische Mensch gestellt wird, und durch die, obwohl farbigere,
doch typische Behandlung seiner Persönlichkeit. Das französische Drama
nannte sich in der Blüthezeit selbst das classische. Seinem innern Geiste
nach, dem Geiste der Hof-Etikette, der kalten rhetorischen Antithesen war
es dem Classischen so fremd, als möglich, und doch durch seine negativen
Eigenschaften dem formlosen Geiste des Nordens eine Schule der Zucht [1419]
(vergl. §. 476), ein Muster, worin das wahre Muster zwar frostig entstellt
war, aber ein nothwendiges Mittleres, dessen unfreie Nachahmung der
freien Aneignung des ächten Classischen, das man noch nicht verstand, vorangehen
sollte. Es ist ein ähnlicher Gang wie die verschiedenen Stufen
des Classicismus in der neueren Geschichte der Malerei §. 737 ff. ─
Jm Lustspiel hat das spanische Drama, abgesehen von den eigentlichen,
stehenden Masken, die Charaktere immer maskenhaft behandelt, immer mehr
komische Typen, als Jndividuen gehabt und das Gewicht auf die Komik
der Fabel, auf die Jntrigue gelegt. Es verhält sich mit dem französischen,
so bedeutend und fruchtbar seit Moliere der Geist der Nation in diesem
Gebiete sich erwiesen hat, nicht anders: der feinste Witz in der Handlung
und keine humoristische Tiefe und Jndividualität in den Charakteren, so
ergötzlich sie auch als generelle Figuren sein mögen. Es ist im Wesentlichen
immer die in's Moderne übersetzte römische Komödie. ─ Das italienische
Drama ist dem französischen gefolgt. Was in diesen Literaturen durch Einflüsse
des bürgerlichen, sozialen Drama's, das von England ausgieng, durch
Diderot die erste Nachahmung fand, in Deutschland aufkam und dann nach
Frankreich zurückwirkte, was ferner durch Einflüsse der deutschen romantischen
Schule entstanden ist, verfolgen wir hier nicht weiter: es sind Schritte zum
charakteristischen, naturwahren Style mit starker Neigung zum falschen Effect
und zum Grassen; die höchste Aufgabe dieses Styls, die Tiefe der Jndividualisirung,
blieb, wie gesagt, den Deutschen als Aufgabe vorbehalten.


§. 909.


Der Styl-Unterschied bildet eines der Momente für die allgemeine
Eintheilung des Drama's.
Der oberste, durchgreifende Gegensatz aber
ist der des Tragischen und Komischen. Glückliche Lösung tragischer
Conflicte begründet keine eigene Form, sondern das Drama solchen Jnhalts
fällt je nach Stoff und Behandlung in das eine oder andere dieser zwei Gebiete.
Die verschiedenen Formen des Tragischen und Komischen treten als eines der
Motive für die Unter-Eintheilung auf.


Wir haben der festen, stehenden Eintheilung der Formen des Drama
eine historische Beleuchtung der Stylprinzipien vorangeschickt, die jedoch mit
der Aufzeigung eines bleibenden Gegensatzes schloß und dieser wird denn
weiterhin als einer der Eintheilungsgründe auftreten. Es bedarf aber keiner
Nachweisung mehr, daß im Gebiete des Drama das Tragische und Komische
den entscheidenden, höchsten Eintheilungsgrund abgibt, wir verweisen auf
§. 540, 1. §. 864. 899. 900; es kann sich nur fragen, ob nicht eine dritte
Gattung aufgestellt werden müsse, worin dieser Gegensatz aufgelöst sei. [1420]
Als eine solche hat man das Drama mit glücklichem Ausgang aufgeführt,
wofür wir den Namen Schauspiel kaum brauchen können, weil er sich
einmal factisch für eine bestimmte geschichtliche Form, und zwar eine zweifelhafte,
nämlich das bürgerliche Rührstück, fixirt hat. Man erkennt nun
aber sogleich, daß dieser Begriff sich nicht dem der Tragödie und Komödie
logisch coordiniren kann, so daß man etwa an ein Mittleres zwischen Ernst
und Komik zu denken hätte, was in der frohen Stimmung des heiteren
Ausgangs enthalten wäre. Die Stimmung des Glücklichen und die komische
sind keine Begriffe, die unter Eine Kategorie fallen. Jene kann in diese
übergehen, dann begründet sie, wenn es sich nicht blos von einer mäßigen,
vereinzelten Einmischung des Komischen in das Tragische, wie sie überhaupt
dem charakteristischen Style natürlich ist, sondern von einer starken, zur
Herrschaft gelangenden handelt, eine Komödie, sie muß aber diesen Uebergang
nicht nehmen, und ein Drama, das vorherrschend ein Bild von ernstem
Kampf, Schuld und Leiden, darstellt, gehört, mag auch dieß Leiden vorübergehend
und der Schluß glücklich sein, zur Tragödie: es ist nichts Anderes,
als das positiv Tragische, dessen Sinn und Werth in §. 128 erörtert ist,
in der Form des Drama realisirt. Es handelt sich einfach um die zwei
Glieder jenes Dualismus, der durch alles Erhabene geht und im Tragischen
seine höchste Bedeutung hat. Wir wiederholen den Satz aus jenem §.,
daß die negative Form die reinere und bedeutendere, die positive aber, d. h.
die Darstellung schwerer und ernster Conflicte mit glücklichem Ausgang, die
schwächere ist, weil sie immer noch einen Schein übrig läßt, als gelte es
die Verherrlichung des subjectiv Erhabenen. Diesen Schein zu vermeiden,
muß der ganze Accent darauf gelegt werden, daß nicht menschliches Verdienst
seine Genugthuung erhalte, sondern, daß ihm nach tiefem Leiden,
das mit irgend einer Schuld zusammenhängt, womit edles Streben sich
getrübt hat, von der absoluten Macht der Weltordnung vergönnt sei, seinen
Zweck siegreich durchzuführen. Je schwächer nun das erste Moment in
dieser Bewegung ist, d. h. je weniger tief und furchtbar der Conflict und
die Schwere der Prüfung, desto näher liegt es allerdings, daß der glückliche
Schluß in der Grundstimmung anticipirt wird und diese aus der nur freien
und freudigen in die komische sich umsetzt. Das Mittelglied ist, daß die
Frohheit auch die subjective Willkür, das absolute Leichtnehmen alles Jnhalts
entbindet. Dann entsteht eine Form, die, wie gesagt, zwar nicht als dritte
neben Tragödie und Komödie steht, aber eine Art der letzteren bildet, welche
etwas von der ersteren hat: die Komödie mit ernstem Mittelpunct. Die
Sache ist damit allerdings noch nicht erschöpft, das Weitere gehört in die
Unter-Eintheilung der zwei Hauptgattungen, wo die verschiedenen Formen
des Tragischen und Komischen als Motive einer engeren Unterscheidung
hervortreten.

[1421]

§. 910.


Für die Tragödie bildet den nächsten Eintheilungsgrund der Unterschied
des Stoffes. Derselbe ist entweder sagenhaft heroisch oder historisch
politisch,
wo denn prinzipielle Umwälzungen des Bestehenden durch gewaltige
Charaktere den der Dichtungsart entsprechendsten Jnhalt darbieten, oder er
gehört dem bürgerlichen und Privat-Leben an. Historisch politischer
Hintergrund hebt die letztere Sphäre in die Nähe der ersteren.


Es versteht sich, daß die Eintheilung nach dem Stoffe nicht erschöpfend
ist; die Eintheilungsgründe sind nacheinander aufzustellen und dann ihre
Convergenzen und Divergenzen aufzuzeigen. ─ Wir haben schon in §. 907
gesagt und in der Anm. weiter ausgeführt, daß das moderne Drama
die sagenhaft heroischen Stoffe mit dem oft von uns hervorgehobenen großen
Vortheile, den sie bringen, nicht aufzugeben hat. Es bedarf also keines
weiteren Wortes, um zu rechtfertigen, daß wir diese Sphäre als Glied
einer bleibenden Eintheilung aufführen. Der eigentliche, heimische Boden
des modernen Drama's sind aber natürlich die hellen Epochen der Geschichte;
die Arbeit ist unendlich schwerer, der Fehlgriff der Stoffwahl, die Ueberwältigung
durch den massenhaften, von der Sage nicht vereinfachten Gegenstand,
daher die Verirrung in die Breite des Epischen liegt nahe genug, allein
alle moderne Kunst hat die Aufgabe, zur ursprünglichen Stoffwelt sich
zurückzuwenden und den schweren Kampf ohne die hülfreiche Vorarbeit der
allgemeinen Phantasie auf sich zu nehmen. Von der einen Seite betrachtet
sind Stoffe aus der alten Geschichte günstiger. Die Welt ist eine
einfachere, klarere, schon durch die größere Ferne der Zeit mehr idealisirte.
Der alte Orient enthält noch manchen ungehobenen Schatz, namentlich ist
Herodot noch zu wenig benützt. Ganz modernes Bewußtsein, tiefe und
raffinirte Conflicte des Herzens und Weltschmerz in alttestamentliche Stoffe
zwängen ist eine der Verkehrtheiten unserer Zeit. Einen größeren Reichthum
ächt dramatischer Stoffe bringt natürlich die classische, die griechische
und römische Geschichte dem Dichter entgegen. Er findet hier neben
solchen Zuständen, Begebenheiten, Charakteren, die unzweifelhaft mehr epischer
Stoff sind, die prinzipiellen Kämpfe, die das Drama verlangt, die radicalen
Charaktere, welche mit hellem Bewußtsein eine bestehende Ordnung
stürzen und tragisch untergehen. Wie glücklich hat Shakespeare im
Coriolan, im Cäsar gegriffen! Dagegen haben die antiken Stoffe den Nachtheil,
daß die Charaktere und Culturformen für das Drama zu typisch
einfach sind. Jm Mittelalter ist es umgekehrt; diese sind colorirt, aber die
sittlichen Kräfte handeln zu dunkel und unbewußt. Dieß ist besonders der
Fall in dem wilden und blutigen Auflösungskampfe des Feudalstaats, wie er [1422]
namentlich in England so belehrend über das innerste Wesen und der nothwendige
Gang dieser Zustände sich entwickelt hat: ein ebenso gewaltiger,
als durch seine Massenhaftigkeit und Rohheit schwieriger Stoff, dem Shakespeare
trotz allen zugegebenen Mängeln jenes Cyclus doch die tragische
Jdealität abgewonnen hat, daß die rauhen Kräfte als die verstockten Werkzeuge
eines ungeheuern Schicksals erscheinen und so ihren Gipfel in der
dämonischen Gestalt Richard's III finden, in welchem ihre ganze Wildheit
sich zum gründlich Bösen ansammelt, hiemit aber auch sich zerstört und der
neuen Staatsordnung Platz schafft. Einen klaren Prinzipienkampf stellt
der Kampf des Pabstthums und Kaiserthums dar, es fehlt ihm aber im
Einzelnen und Ganzen doch zu sehr an wirksamen Schlußpuncten. Der
günstigste Stoff der Tragödie liegt offenbar in den großen Gährungsmomenten
der neueren Zeit; die radical einschneidenden Naturen sind häufiger
und handeln nicht nur mit hellem Bewußtsein, sondern haben auch das
tiefer in sich concentrirte, der Einfachheit typischer Objectivität entwachsene
Leben, dessen das Drama bedarf. Als Göthe und Schiller nach Egmont,
Fiesko, Don Carlos, Wallenstein, Maria Stuart griffen, zeigten sie dem
neueren Drama den richtigen Weg (vergl. Gervinus a. a. O. S. 492. 493).
Allerdings werden, je näher die moderne Zeit rückt, die Culturformen um
so ungünstiger, doch lockert sich in den Tagen der Auflösung und Prinzipienkämpfe
auch die prosaische Ordnung der Dinge.


Jn der dritten Sphäre soll durch den Ausdruck: bürgerliches und
Privatleben derjenige Stoff, der soziale Fragen, Conflicte, die sich um die
Einrichtung der Gesellschaft drehen, als dramatischen Jnhalt mit sich bringt,
von dem reinmenschlichen unterschieden werden, dessen Jnteresse in den großen
Empfindungsmotiven der Liebe, der Pietät, der Freundschaft liegt. Wir
kommen auf diesen Punct bei der Unterscheidung von Prinzipien= und
Charaktertragödie zurück. Jm ungenaueren, gewöhnlichen Sprachgebrauche
nennt man das ganze Gebiet das bürgerliche Drama. Beiderlei Stoffe haben
nicht die monumentale Großheit wie jene ersteren; sie nähern sich aber derselben,
wenn das Geschichtliche, Oeffentliche so den Hintergrund bildet, wie
in Romeo und Julie, im Othello. Es ist die ähnliche Erhöhung, wie sie
W. Scott dem Romane, Göthe in Hermann und Dorothea der Jdylle
gegeben hat. Der Dichter wird hier meist aus zufälliger Kunde oder aus
poetischer Ueberlieferung, namentlich Novellen schöpfen. ─ Der Begriff des
Historischen steht zu dem des Bürgerlichen und Privaten zunächst nicht im
Verhältniß einer logischen Unterscheidung; doch erhellt, daß es sich dort um
die großen Gegenstände handelt, welche die Geschichte mit Nothwendigkeit
aufzeichnet, hier aber um Solches, was sie je nach Umständen aufzeichnet
oder nicht. Gegen völlig freie Erfindung brauchen wir uns nach dem,
was die Lehre von der Phantasie aufgestellt hat, nicht mehr auszusprechen; [1423]
dagegen kann die Erfindung ganz wohl von einem kleinen Puncte ausgehen,
der in der vollständig entworfenen Handlung nur einen untergeordneten
Theil bildet, vergl. §. 393, Anm. 1.


§. 911.


Das zweite Eintheilungs-Moment liegt in dem Unterschiede der Seite,
von welcher der Stoff aufgefaßt wird. Der Dichter legt das größere Gewicht
entweder auf den Conflict der ethischen Grundmotive an sich oder auf
das Bild des Charakters und der Sitte. Der Gegensatz von Prinzipien-
Tragödie
und Charakter- (Sitten-) Tragödie, der hiedurch entsteht,
kommt zurück auf die Unterscheidung im Tragischen §. 131 ff. 135 ff. Derselbe
kann jedoch nur ein relativer sein. Die zweite Art theilt sich wieder nach
§. 105 ff. in ein Drama der Leidenschaft, namentlich der Liebe, des bösen
und des guten Willens.


Was Hettner (a. a. O. S. 38) Prinzipientragödie nennt, ist nach
unserer Unterscheidung in der Lehre vom Tragischen die Tragödie des sittlichen
Conflicts, und was er Charaktertragödie nennt, Tragödie der einfachen
Schuld; es ist aber zweckmäßig, im concreten Gebiete jene einfacher
bezeichnenden Namen zu brauchen. Es handelt sich hier von einer wichtigen
Unterscheidung, die aber durchaus nur relativ sein kann; würde sie absolut
genommen, so wäre entweder der Satz umgestoßen, daß im Drama nicht
der Charakter, sondern die Handlung das Wesentliche ist, oder umgekehrt:
es würden sich Conflicte bekämpfen, die wie Platonische Jdeen als Wesen
für sich in der Luft schwebten. Die Prinzipientragödie ruht auf Conflicten,
die nach der Trennung, die in den menschlichen Dingen das ewig Zusammengehörige
erfährt, wirklich unversöhnlich sind, aber die Einseitigkeit der
Trennung muß in schroffen und heftigen Charakteren ihre lebendige Realität
haben, so daß der Eindruck bleibt, bei größerer Nachgiebigkeit würde allerdings
der Conflict sich schmerzloser lösen, nur fiele dann eben die Kraft der
Einseitigkeit in den Charakteren und die Lösung wäre eine matte, schlaffe.
Die classische Mustertragödie des Conflicts, die Antigone des Sophokles,
kann daher allerdings auch so gefaßt werden, daß die Starrheit und Heftigkeit
der beiden Hauptpersonen die Angel der Handlung sei und daß wir
aus dem Schlusse die große Lehre von der Mäßigung zu ziehen haben,
aber es ist dieß nicht die ganze Erklärung, sondern nur Hervorhebung
ihres einen, hier des untergeordneten Moments. So sind in Shakespeare's
Jul. Cäsar die Charaktere typisch einfacher, als in irgend einem
andern Drama Shakespeare's, schlicht erhabene Träger der sich bekämpfenden
Jdeen der Republik und Monarchie, das Gewicht fällt auf diese, aber der [1424]
Jdeenkampf ist doch wesentlich lebendiger Personenkampf. Der Charaktertragödie
darf umgekehrt, obwohl das Gewicht auf die andere Seite gelegt
ist, ein Pathos von allgemeiner, objectiver Wahrheit nicht fehlen. Nach
der Auffassung von Gervinus, der das tragische Ende durchaus nur aus
dem Uebersturz heftiger Leidenschaft ableitet (Shakespeare B. 4, S. 380 ff.),
gäbe es nicht blos nur eine Charaktertragödie, sondern auch nur eine solche,
die keine Allgemeinheit enthält, als die Lehre von der Pflicht der Mäßigung,
die als ein abstracter Satz der Moral nie einen großen poetischen Jnhalt
begründen kann. So predigt Gervinus dem Romeo Mäßigung, wohl mit
Recht, Lorenzo thut es auch; wäre er aber besonnen, so wäre er kein liebender
Jüngling und wäre im Drama nicht die Liebe in ihrem ganzen
Feuer, ihrer ganzen Unendlichkeit dargestellt; ein andermal mag man bedenken,
daß es noch andere Dinge auf der Welt gibt, Rücksichten, Pflichten;
hier aber, dießmal gilt es der Göttlichkeit der Liebe, dießmal muß sie absolut
dastehen, eine ideale Leidenschaft; die Welt außer ihr besteht auch jetzt
und es wäre Pflicht des Liebenden, sie nüchterner zu berücksichtigen; es ist
Schuld und nicht Schuld, daß Romeo es in rascher Uebereilung unterläßt; in
dieses Zwielicht mitten hinein stellt sich die Tragödie. Alles aus der bloßen
Jndividualität und der Natur des menschlichen Herzens entwickeln heißt
der Tragödie sowohl das wahrhaft Allgemeine, als das wahrhaft Concrete
nehmen. Selbst wilde und rohe Charaktere dienen, das muß uns der
Dichter zeigen, einem geschichtlichen Gesetze, selbst ein Richard III ist Werkzeug
eines solchen, Makbeth's mörderischer Ehrgeiz ist Verkehrung des moralischen
Anrechts heroischer Größe und hohen Geistes an die Krone und
Wallenstein führt den Anspruch des genialen Feldherrn auf unbegrenzte
Vollmacht in Kampf gegen das Recht der kaiserlichen Macht, das aber durch
kleinliche Ueberwachung zum halben Unrechte geworden ist. Kurz, das
Pathos muß immer objective Allgemeingültigkeit haben, das Gewicht der
Behandlung kann aber mehr auf diese oder mehr auf das subjective Leben
des Pathos im Charakter fallen. Jm letzteren Falle wird allerdings immer
die Spannung gegenüberstehender Rechte weniger nothwendig und unvermeidlich
erscheinen, und dieß ist es, was in §. 131 ff. das Tragische der
einfachen Schuld heißt. ─ Die Charaktertragödie nun wird mehr oder
weniger von der strafferen Zusammenfassung eines Pathos in der energievollen
Hauptgestalt hinausweisen auf die sittlichen Gesammtzustände gesellschaftlicher
Kreise; je mehr dieß der Fall ist, desto mehr wird das Charakterdrama
zum Sittenbilde. Dieß geschieht im edelsten und höchsten Sinne,
wenn das Gewicht auf das Bestehen und Wachsen der reinsten Humanität
gelegt wird wie in Göthe's idealen Sittengemälden Jphigenie und Tasso;
das tragische Schicksal geistiger Naturen, wie Philosophen, Künstler, Dichter,
gehört in dieses rein menschliche Gebiet, doch nehmen wir unser Bedenken [1425]
gegen solche Stoffe nicht zurück. Ein trivialeres Sittenbild, dem holländischen
Genregemälde ähnlich, eine schwunglose Darstellung des Familien=
und Stände-Lebens war das bürgerliche Drama der Lessingisch-Jfflandischen
Zeit. Man könnte diese sittenbildliche Wendung der Charaktertragödie nach
Aristoteles (Poetik C. 18) die ethische nennen, wiewohl er nicht ganz denselben
Begriff mit dem Worte verbindet, sondern mehr ein Gemälde passiver
Seelenzustände im Auge hat gegenüber der starken, heroischen Leidenschaft,
die den Jnhalt der Art der Tragödie bildet, welche er die pathetische nennt.
Was wir unter Charakter im stricten Sinne des Wortes verstehen, ist allerdings
auch in der letzteren Art nicht befaßt, denn es ist ein moderner Begriff.
─ Zur weiteren Eintheilung der Charaktertragödie ziehen wir aus
dem ersten Theile die dort unterschiedenen Formen des subjectiv Erhabenen
herauf. Demnach wäre die erste Form die Tragödie der Leidenschaft.
Sie unterscheidet sich von den andern dadurch, daß die Leidenschaft mit reifem
und geschlossenem Charakter zwar zusammentreffen kann, aber nicht muß.
Das Pathos der Liebe, ein Hauptmotiv im modernen Drama, wie dieß
im Wesen des modernen Jdeals begründet liegt, fordert jugendliche Naturen,
die noch nicht zum Charakter geschmiedet sein können, das Pathos der verletzten
Familienpietät findet im König Lear einen Greis, der hohe Eigenschaften,
aber nicht Charakter im engeren Sinne des Wortes hat; dagegen
vergiftet die Eifersucht im Othello einen Charakter, der wirklich zur vollen
Reife gelangt ist. Die Tragödie der Leidenschaft wird häufig zugleich Sittenbild
im kräftigsten Sinne des Worts; so sehen wir im König Lear eine
ganze Generation entartet. Die Tragödie des Bösen hat Shakespeare
geschaffen; was auch immer nach ihm in dieser Richtung noch entstanden
ist oder entstehen mag: Richard III und Makbeth (der aber noch
andere Seiten hat, die in andern Zusammenhang gehören,) sind einzelne
Werke, die den absoluten Werth von Gattungen haben. Daß und wie die
Tragödie des Bösen und der Leidenschaft sich naturgemäß verbindet, zeigt
Othello und Lear. Die Tragödie des guten Willens ist natürlich nicht
ein Bild der fleckenlosen Tugend, sondern des edlen Strebens und Wirkens
mit Schuld, wenigstens nicht ohne innern Kampf, wie ihn Göthe's Jphigenie
gegen die Versuchung zur Lüge und zum Undank besteht. Diese
Gattung ist jedoch in der ächten Poesie schwach vertreten, weil es sehr
schwer ist, reine Charaktere zu behandeln, ohne ihnen den Schatten zu entziehen,
den das Tragische fordert, und sehr leicht, in ein Gemälde der platten
Rechtschaffenheit und das falsche Bild des Tragischen zu verfallen, wie dieß
im bürgerlich rührenden Schauspiele der Fall war.


Es entsteht die Frage, ob nicht noch eine weitere Form aufzustellen
sei, nämlich eine Tragödie des Bewußtseins. Jm Makbeth fällt schließlich
das stärkste Gewicht auf das Gewissen, seine Phänomene, Bewegungen, [1426]
Geschichte; im Hamlet liegt es von Anfang bis Ende auf der Reflexion,
die den Willen nicht zum Handeln kommen läßt. Es ist aber bedenklich,
eine eigene Classe solchen Jnhalts einzuführen; man kann nur sagen: es
gibt Dramen, in welchen der Haupt-Accent so eben aus der Handlung
und dem Thatsächlichen sich herauszieht und auf die innerlichen Kämpfe
legt; wo aber diese zum ganzen Jnhalt werden, da sind sie theoretisch und
solche Werke, wie Göthe's Faust, behalten ihren unendlichen Werth, sind
aber schwebende Formen, die zu wenig Handlung und festen Körper haben,
um eigentliche Dramen genannt zu werden.


Wir haben die neuere Schicksalstragödie als eine Verirrung erwähnt.
Jst es aber nicht logisch gefordert, daß auch eine Form unterschieden
werde, die diesen Namen ohne Tadel trägt? Wenn nach der Seite
der Auffassung eingetheilt und danach eine Prinzipien- und Charaktertragödie
unterschieden wird, so scheint ein dritter Fall übersehen, wo das
Hauptgewicht auf den tragischen Gang der Handlung fällt. Die Alten
hatten eine solche Gattung; Aristoteles (a. a. O.) nennt sie die verwickelte
und erklärt dieß dahin, daß hier das Ganze in Erkennung und Umschwung
bestehe. Der König Oedipus ist das reinste Bild derselben. Allein dieselbe
kann nur in der Poesie des classischen Alterthums auftreten, und zwar deßwegen,
weil nur diese ein vorausgesetztes, neidisch auflauerndes, nicht aus den Handlungen
der Menschen sich entwickelndes Schicksal kennt. Was den Griechen
normal war, ist uns abnorm, daher ist eine moderne Schicksals-Tragödie eine
schlechte Tragödie. Anders verhält es sich, wie wir sehen werden, in der
Komödie; hier kann der Gang, die Verwicklung, die Bewegung zum Schlusse
so das Uebergewicht über das komische Pathos und die Charaktere haben,
daß darauf eine durchgreifende Eintheilung zu gründen ist.


§. 912.


Der Unterschied der Auffassung verhält sich zu dem des Stoffes so, daß
am bestimmtesten der historisch politische Schauplatz die Bedingung zu der Prinzipien-Tragödie
enthält, wogegen der sagenhaft heroische und der bürgerliche,
das Privatleben mehr auf das Charakter- und Sitten-Drama führt; jedoch
beides keineswegs ausschließlich, denn im bürgerlichen Gebiete treten Conflicte
tiefer und allgemeiner Art auf, welche die soziale Prinzipientragödie begründen,
im historisch politischen kann sich der Nachdruck doch dem Charakter zuwenden
und das sagenhaft heroische lädt zu einem gewissen Gleichgewichte von Prinzipien-
und Charakter- (oder Sitten-) Tragödie ein.


Daß der historisch politische Stoff am entschiedensten zur Prinzipien=
Tragödie führt, bedarf keines Beweises; dagegen arbeitet die umbildende [1427]
Sage aus den Ereignissen und Thaten eines noch unbefestigten öffentlichen
Lebens das allgemein Menschliche heraus; es ist in den classischen Tragödien,
im Lear, Makbeth, Hamlet nicht gleichgültig, daß es sich um Heroen,
Fürsten, Völker, Staaten handelt, das menschliche Pathos gewinnt andere
Bedeutung auf dieser monumentalen Höhe, aber den Mittelpunct bildet
doch nicht ein Kampf zwischen einer bestehenden politischen Ordnung und
einer Jdee, die sie zu stürzen, organisch umzugestalten strebt, sondern Charakter,
Grundempfindungen des menschlichen Lebens, innere Zustände des
Gemüths, Sitten. Die Stoffe der bürgerlichen Gesellschaft haben wir
in §. 910, Anm. von denen des Privatlebens dadurch unterschieden,
daß sie soziale Fragen enthalten. Doch führt dieß noch nicht unmittelbar
zu der Prinzipientragödie; auch so kann der Nachdruck auf Leidenschaft und
Charakter liegen, und daß ebendieß der Sphäre des engeren Privatlebens
natürlich ist, erhellt von selbst. Allein diese Sätze gelten keineswegs unbedingt.
Daß der historisch politische Schauplatz je nach seiner Beschaffenheit
auch zur Charakter-Tragödie führt, beweist Shakespeare's Coriolan, Antonius
und Cleopatra, Heinrich V. Weichen und passiven Naturen, leidenden
Frauen, wenn sie Hauptpersonen sind, ist tragische Würde nur dadurch zu
geben, daß ihnen um so mehr menschliche Theilnahme gesichert wird; so neigen
sich Shakespeare's Richard II und Schiller's Maria Stuart von prinzipiell
politischen zu Charakter- und Sittentragödien. Die schneidenden Conflicte
der bürgerlichen Gesellschaft führen nicht nothwendig, aber doch entschieden
drängend zu einer Behandlung, welche das Jnteresse an den prinzipiellen
Conflicten des Rechts, des Herzens, der Ehre, des Anspruchs auf Glück
und Besitz mit festgewurzelten Vorurtheilen der Gesellschaft, Einrichtungen,
Vorrechten, Stände-Unterschieden stärker betont, als das Jnteresse an den
Charakteren und Leidenschaften: eine Form, die in der modernen Zeit zu
großer Bedeutung berufen ist. Schiller erhob das bürgerliche Charakterstück
durch Kabale und Liebe in diese Sphäre. Daß wir die Absichtlichkeit der
eigentlichen Tendenz auch hier, wo sie am nächsten liegt, aus der wahren
Poesie wegweisen, folgt aus allen Vordersätzen des Systems. Hettner
(a. a. O. S. 86 ff.) nennt diese Gattung das Drama der Verhältnisse und
will strenge zwischen Conflicten mit vorübergehenden Vorurtheilen, Einrichtungen
der Gesellschaft und mit bleibenden unterscheiden. Allein die
Grenze ist kaum zu ziehen; der menschliche Geist schafft sich in der Gesellschaft
immer neue Formen und verhärtet sich dann in ihnen, so daß sie zur
Grausamkeit werden, bis er sie endlich stürzt; mag je für die Gegenwart
auch eine solche Form ganz veraltet sein, so erkennen wir doch darin ein
Bild derselben Verhärtung, die in anderen Formen auch heute da ist und
stets wiederkehrt, und das allgemeine, bleibend menschliche Jnteresse wird
daher nicht fehlen, wenn nur nicht ganz zufällige und unserem Bewußtsein, [1428]
unserer Cultur allzufern liegende Collisionen statt tiefwurzelnder behandelt
werden. ─ Die Tragödie des engeren Privatlebens endlich kann sich doch auch
zur Hervorstellung des Prinzipiellen hinneigen, wenn z. B. in Collisionen wie
zwischen Liebe und Ehre, Liebe und Kindespflicht das Gewicht von der besondern
Färbung der Charaktere mehr auf das allgemein Sittliche verlegt ist.


§. 913.


Die classisch ideale Stylrichtung steht in natürlichem Anziehungsverhältniß
zu den sagenhaft heroischen und historisch politischen Stoffen, die naturalistische
und individualisirende zu denen des bürgerlichen und Privat-Lebens.
Allein auch dieß Verhältniß ist kein ausschließliches; insbesondere ist im letzteren
Styl eine dem idealen Schwunge des ersteren bei allem Gegensatze tief verwandte
oder durch Aneignung desselben erhöhte Form von einer im engeren
Sinne naturalistischen zu unterscheiden, die sich zu den Stoffgebieten so verhalten,
daß jene auch den großen Gegenständen der zwei ersten, diese nur den
weniger erhabenen der andern Sphären angemessen ist.


Die Stylfrage, deren geschichtliche Beleuchtung wir vorangeschickt haben,
tritt also jetzt als ein Moment in der Eintheilung der Formen ein. Der
erste Satz des §. bedarf keiner Erörterung und wir wenden uns sogleich
zu dem tiefen Unterschiede innerhalb des charakteristischen Styls, den der
Schlußsatz zugleich mit seiner Beziehung zu den Stoffgebieten hervorhebt.
Es ist klar, daß unter der Gestalt dieses Styls, die als eine bei allem Gegensatze
doch dem classisch idealen tief verwandte bezeichnet wird, der Shakespeare'sche
verstanden ist. Er steht auf schroff gegenüberliegendem Gipfel
und trägt doch einen Kothurn, der ihn den Griechen ganz ebenbürtig macht.
Er kann und soll sich aber, wie wir gesehen haben, mit dem Formgefühle
des classischen verbinden, noch inniger, als bei Schiller und Göthe. Dieser
geläuterte germanisch charakteristische Styl gehört nun ganz den historischpolitischen
Stoffen; er kann sich aber auch den Stoffen des bürgerlichen
und Privatlebens zuwenden, wie wir an dem reinen Sittenbilde, Göthe's
Tasso, sehen, worin der Umstand, daß der Schauplatz ein Hof ist, an dem
Begriffe der Sphäre nichts verändert, denn mit der politischen Seite des
fürstlichen Standes hat dieß Drama nichts zu schaffen, nur mit der menschlich
sozialen. Jm Großen und Ganzen aber, namentlich wenn es nicht
durch solchen Hintergrund der edelsten Blüthe der Humanität auf den Höhen
der Gesellschaft gehoben ist, führt dieß Gebiet allerdings so viel Nöthigung
mit sich, in die realen, harten, selbst prosaischen Lebensbedingungen tief einzugehen,
daß hiedurch der charakteristische Styl im engeren Sinne der Naturwahrheit
bedingt ist und hiemit auch die prosaische Sprache.

[1429]

§. 914.


Sämmtliche Stoffgebiete, Auffassungen und Stylrichtungen können sich im
negativ oder positiv Tragischen bewegen und es läßt sich nur bedingt
aussprechen, daß der Schauplatz des bürgerlichen und Privatlebens im Allgemeinen
mehr die zweite Form zu begründen geeignet sei. Wichtig ist neben
der größeren oder minderen objectiven Härte des Conflicts der Unterschied der
Charaktere, indem der freiere, sittlich harmonische das Mittel ist, auch den
schwereren Conflict glücklich zu lösen. Je fühlbarer dieser Schluß von Anfang
an gesichert erscheint, desto stärkere Einmischung des Komischen ist gerechtfertigt;
womit aber auch der Uebergang in die Komödie eintritt.


Es ist wiederholt gesagt worden, daß ein Drama tragisch zu nennen
ist, mag der Ausgang auch ein glücklicher sein, wofern nur der endliche
Sieg einer guten Sache als Werk einer Weltordnung sich darstellt, die den
Helden durch Leiden führt, in denen er als ein nicht schuldloses, vielmehr
der Prüfung und Läuterung bedürftiges Werkzeug derselben erscheint. Es
bleibt aber dennoch dabei, daß das negativ Tragische die wahrere, tiefere,
bedeutendere Form ist. Die Geschichte hat Momente, wo sie einer versöhnten
Weltanschauung, dem Glauben an den Sieg des freien und guten
Geistes schon durch den Stoff entgegenkommt; ein solcher Stoff ist der des
W. Tell. Allein die Dichtkunst faßt die Geschichte als bewegtes Ganzes auf,
behält im Auge, daß es kein ruhendes Vollkommenes gibt, und premirt auf
diesem Standpuncte das negative Moment der Bewegung, den Kampf,
worin jede einzelne Kraft im Leiden bekennen muß, daß sie nicht rein, daß
sie nicht das Ganze ist, und darum zieht sie es vor, den ewig neuen Sieg
im ewigen Kampfe nur in der Perspective zu zeigen. Die dramatische
Literatur hat daher nur wenige bedeutende Dramen mit glücklichem Ausgang
aufzuweisen. Daß die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft und des Privatlebens
zu einem solchen eher neige, läßt sich nicht objectiv, sondern nur
subjectiv behaupten; d. h. sofern die weniger heroisch gehobene Stimmung
dieser Stoffe es mit sich bringen mag, daß der Dichter den schneidenden
Conflicten aus dem Wege geht, an denen es natürlich in beiden Gebieten
nicht fehlt. Das im engeren Sinne sogenannte Schauspiel, das bürgerliche
Rührstück, bedurfte den glücklichen Schluß, nachdem es seinen Standpunct
in einer trivialen Ansicht von der göttlichen Gerechtigkeit genommen hatte,
als wäre sie juristische Belohnung und Bestrafung (vergl. §. 128, Anm. 2.).
Sie kannte keine wirkliche, nothwendige Conflicte, dieß und die in's Kleine
malende Art des charakteristischen Styls war eigentlich komödisch und es ist
nur Schade, daß so viel Gutes, wie es sich in jener Literatur findet, nicht
im Zusammenhange von Komödien steht. Jn seinem Nathan vergißt Lessing,
welchen schweren Conflict zwischen dem Fanatismus des Christenthums und [1430]
der reinen Humanität er angelegt hat, und schließt die Handlung schlecht
im Sinne des bürgerlichen Familienstücks. Der Patriarch mußte zum
Aeußersten schreiten, der Templer in einem spannenden Momente furchtbarer
Gefahr als Retter Nathan's auftreten und dadurch seine Erhebung aus
dem Dunkel des Vorurtheils vollenden; dann möchte dieses Drama immer
glücklich schließen, nur nicht mit einer Erkennung, worin Liebende zu Geschwistern
werden müssen. Es ist hier vor Allem der freie, klare, harmonische
Charakter des Nathan, der ein positives Ende fordert; so in Göthe's
Jphigenie der Charakter der Heldinn, von dessen himmlischer Reinheit
heilende, sittliche Wirkungen nach allen Seiten ausgehen, so Heinrich V in
Shakespeare's Drama, ein Held, der von Anfang an gegen H. Percy die lichte,
elastische, freie, zum Sieg über sich und dunkle, blinde, wilde Kräfte berufene
Kraft darstellt. Die Charakter-Auffassung ist die eine der spezielleren Grundbedingungen
glücklichen Ausgangs; sie kann mit der andern, der minder
schneidenden Härte des Conflicts, Hand in Hand gehen oder, was jedoch
natürlich das Seltnere ist, in siegreichen Widerspruch mit schroffem Conflicte
treten. Zu den leichteren Conflicten gehört eine Situation wie die in Heinr.
v. Kleist's Prinzen Friederich von Homburg, es ist der Widerstreit zwischen Subordination
im Krieg und jugendlichem Heldenmuth; er wird gelöst durch die
schlichte Weisheit und Größe des Kurfürsten; dagegen in Göthe's Jphigenie
sehen wir eine Collision von furchtbarer innerer Schwere, den Kampf zwischen
Bruderliebe und zwischen der Pflicht der Dankbarkeit und Wahrhaftigkeit
nur durch tiefes, inneres Ringen eines idealen weiblichen und humanen
männlichen Charakters (des Thoas) sich lösen. ─ Wir kommen nun auf
das zurück, was zu §. 909 über den Eintritt des Komischen bei Anlegung
auf glücklichen Schluß bemerkt ist. Shakespeare gibt der Gewißheit eines
glücklichen Ausgangs, wo sie sich schon in der Anlage der Handlung ankündigt,
immer die Folge, daß er das komische Element weit über den Grad
verstärkt, den der charakteristische Styl auch im negativ Tragischen zuläßt, und
zwar bis dahin, daß selbst Heinrich V eine Komödie hieße, wenn er seine
Stelle nicht in einem Zusammenhang hätte, der den Namen historisches
Drama begründet. Es wäre gut, wenn ihm mehr gefolgt würde, aber es
verdient allerdings nicht durchaus Nachahmung, denn es muß ernsten Zusammenhang
geben, der glücklichen Ausgang bedingt und doch gebietet, das
Komische, mag es sich auch hervorthun, zu mäßigen, ihm namentlich in der
Nähe der schweren Entscheidungsmomente Schweigen zu gebieten; es muß
namentlich dem direct idealen Style der modernen Dichtung unbenommen
bleiben, eine lichte Weltanschauung in Dramen mit positiv tragischem Ausgang
so niederzulegen, daß er dabei seine „folgerechte, Uebereinstimmung
liebende Denkart“ (wenn sie nur übrigens nicht ungerecht urtheilt, wie Göthe
über die komischen Figuren in Romeo und Julie) behauptet.

[1431]

§. 915.


Die Komödie unterscheidet sich dem Stoffe nach wie die Tragödie in
eine politische und eine solche, die im bürgerlichen und Privatleben
spielt; die Natur des Komischen bringt es mit sich, daß die letzteren Sphären
die dauernder und fruchtbarer angebauten sind und daß die Leidenschaft der Liebe
den Mittelpunct des Jnhalts bildet. Das Mythische kann sich mit beiden
Hauptgebieten verbinden, ist aber in der Komödie weit mehr Sache der freien
Erfindung, als in der auf sagenhaft heroischem Grunde ruhenden Tragödie.


Die ausführliche Darstellung des Komischen nach allen seinen Momenten
und Hauptformen, die im ersten Theile gegeben ist, enthebt uns der Obliegenheit,
Allgemeines über das Wesen der Komödie vorauszuschicken. Auch
dieß ist schon nachgewiesen, daß das Wesen des Komischen in keiner Kunstform
zu so voller und erschöpfender Gestalt gelangt, wie im Drama; das
Weitere über spezifische Bedingungen der dramatischen Gestaltung des Komischen
bringt die Darstellung der verschiedenen Arten von selbst hinzu. ─
Das Komische führt seinem innersten Wesen nach in die Stoffwelt des
sozialen und Privat-Lebens mit seiner ausgebildeten und in der Spezialität
der Motive vom Auge der Bildung belauschten Subjectivität. Die colossale
politische Caricatur der Aristophanischen Komödie ist eine durchaus großartige
Erscheinung, steht aber auch in dem Sinn einzig da, daß diese ganze
Form bis jetzt nicht wiedergekehrt und daß es zweifelhaft ist, ob sie wiederkehren
kann. Die Schwierigkeit der Frage liegt darin, daß sie nicht nur
ein wahrhaft politisches Leben und volle demokratische Freiheit voraussetzt,
sondern wirklich auch nur da möglich zu sein scheint, wo der Sinn für das
Subjective, das Privatleben überhaupt noch nicht erschlossen ist: so wie
dieser aufgeht, wirft sich als Lustspiel auf die belauschte Kleinwelt und nach
dieser Seite war der Uebergang zur neueren Komödie in Griechenland ein
Fortschritt. Es kann nicht die Meinung sein, daß das Wichtige und Große,
Gesetz, Staat, Religion, bedeutender Moment der geschichtlichen Politik nicht
der Komik unterworfen werden dürfe oder könne, aber wie die neuere Zeit
diese Stoffe anfaßt, so hören sie im Grund auf, eigentlicher Gegenstand
des dargestellten komischen Vorgangs zu sein: die kleinen Leidenschaften und
Zufälle, die Gespinnste der List, aus denen die große Politik in Stücken,
wie jene zierlichen französischen Lustspiele, das Glas Wasser von Scribe und
and., abgeleitet wird, treten in den Mittelpunct, werden der positive Jnhalt,
wogegen bei Aristophanes freilich auch der Egoismus mit allen seinen
Niedrigkeiten es ist, worin das Große, Oeffentliche, Monumentale sich
ironisirt, aber nicht so, daß das Kleinliche neben den politischen Zwecken
seine Rolle spielt und diese zu blos scheinbaren herabsetzt, sondern, daß es
doch mit diesen Ernst ist, die Verkehrtheit sich wirklich in sie selbst legt und [1432]
so als große politische Narrheit auftritt. Darf man hoffen, daß eine solche
Form wieder aufstehe, so ist es nur möglich in einem großen politischen
Moment, etwa einer siegreichen Revolution, wo Alles politisch gestimmt ist,
wo das Treiben der Besiegten als ein großartiger, tragikomischer Wahnsinn
erscheint und wo der Sieger zugleich großmüthig und klar genug ist, sich
selbst, seine Sünden und Schwächen mit in den Taumel des Humors zu
werfen. So talentvolle Versuche wie die politische Wochenstube von Prutz
sind ein Beweis, daß wenigstens den Deutschen die Ader nicht fehlt. Der
größere Theil des Jnhalts in diesem Versuch ist allerdings literarische Satyre.
Wir haben die Literatur nicht als Stoffquelle im §. aufgeführt; denn
die unbedingte Popularität und Oeffentlichkeit, die Verwachsung mit dem
politischen Leben, deren sie sich in Griechenland erfreute, kann nicht wiederkehren
(vergl. Hettner D. moderne Drama 162); Komödien wie Tieck's
gestiefelter Kater können daher in der neueren Zeit schon aus diesem Grunde
nur Lesedramen für wohlbewanderte Kreise sein. ─ Die Sphäre der sozialen
Komödie unterscheiden wir wie in der Eintheilung der Tragödie als die
bürgerliche von der des eigentlichen Privatlebens: es handelt sich von Verkehrtheiten,
welche durch bestimmte Einrichtungen, Gewohnheiten, Verhältnisse
der Gesellschaft bleibend gegeben sind und aus welchen Typen entstehen,
wie der Adelstolze, der bürgerliche Emporkömmling, der Heuchler (Tartuffe),
der Charlatan, der Büreaukrat, der Philister, der geplagte Ehemann u. s. w.
Das Gebiet liegt innerhalb des nicht politischen Stoffkreises zunächst an
der Grenze des letzteren und nimmt historisch=politische Zustände gern zum
Hintergrund. Man kann allgemeiner sagen, die Komödie lege es oft mehr
auf ein Bild der gegebenen Zustände, der Sitte, als der besondern Fabel
an, und die unbestimmte Masse, die unter diesen Standpunct fällt, zur
sozialen Komödie rechnen. Spielt ein solches Stück in der feineren Gesellschaft,
so ist es sehr natürlich, daß sich die Handlung an dem Faden der
geistreichen, witzigen, beweglichen Conversation verläuft und das Hauptabsehen
sich auf diese richtet: das Conversationslustspiel, worin begreiflich
die Franzosen ihre Hauptstärke haben. ─ Das Lustspiel des gemeinen
Privatlebens lehnt sich wohl an Verhältnisse und Sitten, nimmt
aber sein Motiv nicht aus den chronischen Verhärtungen, welche hier eine
Welt des Unbequemen und Verkehrten hervorbringen, sondern aus der
menschlichen Natur wie sie an sich und jederzeit beschaffen, zu bestimmten
Leidenschaften, Verirrungen geneigt ist und in unendliche Collisionen mit
der Wirklichkeit geräth. Daß die Liebe in beiden Sphären die Hauptrolle
spielt, bedarf nach den Andeutungen des §. 322 keiner weiteren Erklärung;
knüpfen sich im modernen Jdeale die Metamorphosen der sich entwickelnden
Persönlichkeit im ernsten Sinn an diese innigste Genugthuung der Subjectivität,
so wird die Parodie des Ernstes, die wesentlich das Subjective [1433]
aufsucht und dem Menschen in sein Geheimstes nachschleicht, dasselbe Motiv
mit der größten Vorliebe ausbeuten und die Noth der Liebenden lustig mit
einer Heirath oder mehreren schließen. ─ Jn der Tragödie haben wir eine
Form unterschieden, die auf sagenhaft heroischem Grunde ruht; in der
Komödie kann von solch' großem Jnhalte nicht die Rede sein; zwar hat
das Satyrspiel, zum Theil auch die griechische Komödie den komischen Keim,
der in den Göttern und Heroen lag, kühn ausgebeutet, im Ganzen und
Großen aber kann es nur die Verwendung mythischer Motive zu einer frei
ersonnenen phantastischen Fabel sein, was der sagenhaft heroischen Tragödie
logisch an die Seite zu stellen ist; dem griechischen Komiker diente die
mythische Anschauungsform überhaupt, Alles zu personificiren und sich eine
tolle Wunderwelt jenseits des Naturgesetzes zu schaffen; den neueren steht
die Poesie des romantischen Aberglaubens zu Gebote, wie Shakespeare die
Elfen, den Zauber in heiterer Weise verwendet; er hat aber freie Hand,
auch in den classischen Mythus zu greifen, ja diesen und den mittelalterlichen
in humoristischer Willkür zu vermengen. Man erkennt jedoch, daß
wir hier aus der Eintheilung, wie sie sich zunächst rein auf den Stoff
gründet, heraustreten: das Komische bringt es mit sich, daß das Gewicht
sogleich auf die freie Willkür in Ausspinnung der durch Glauben und Sage
gegebenen Motive fällt; da entsteht die Frage, wie weit eine hierauf gebaute
Fabel noch zeitgemäß sei, und wenn, mit welchen Stoffen sie sich am naturgemäßesten
verbinde u. s. w.: diese Frage gehört aber in andern Zusammenhang.


§. 916.


Der Seite der Auffassung nach kann es im komischen Gebiete nicht
einen ebenso bestimmten Unterschied von Prinzipien- und Charakterdrama geben,
wie in der Tragödie, dagegen tritt mit entscheidender Kraft ein anderer auf,
der darin besteht, daß das Komische entweder aus den Charakteren oder dem
Schicksale, d. h. hier, dem Spiele der List und des Zufalls, entwickelt wird:
Charakter- und Jntriguen-Lustspiel. Jene Form ist die tiefere, diese
mehr Sache des formellen, doch spezifischer dramatischen Talents; der Gegensatz soll
nicht einseitig, sondern bloßes Uebergewicht der einen oder andern Auffassung sein.


Es bedarf hier keiner besondern Bestimmung darüber, wie sich die
vorliegende Eintheilung zu der ersten verhält, denn es leuchtet ein, daß der
eine oder andere Stoff nach Beschaffenheit oder Auffassung im Sinne der
Charakter- oder Jntriguen-Komödie behandelt werden kann. Diese Unterscheidung
ist es, welche im komischen Gebiete an die Stelle des Gegensatzes
von Prinzipien- und Charakterdrama tritt. Die politische Komödie des
Aristophanes und die moderne soziale kann zwar in entfernter Bedeutung
Prinzipienkomödie heißen, da sie ein Bild der Endlichkeit und Verkehrung [1434]
objectiver Lebensmächte gibt, allein das Gewicht fällt doch in allem Komischen
so stark auf das Subjective, auf die Willkür, Narrheit, Schwäche
und Eitelkeit als den Grund jener Verkehrung, daß der Unterschied dieser
Form von der ganzen übrigen Masse viel zu relativ ist, um einen stehenden
Gegensatz zu begründen. Dagegen konnte im ernsten Gebiete der Unterschied
von Charakter- und Schicksals-Drama keine eingreifende Bedeutung
gewinnen: nur entfernt kann man eine Tragödie der grausamen Gewalt
der Verhältnisse Schicksalstragödie nennen und was in der modernen Poesie
gewöhnlich so heißt, hatten wir nur als eine Verirrung aufzuführen. Jn
der Komödie verhält sich dieß anders, hier kann der Nachdruck der Behandlung
ganz entschieden auf die Seite des Ganges der Handlung, auf die
dramatische Bewegung fallen. Zunächst bildet hier ein Hauptmoment die
List und diese fließt allerdings aus dem Charakter, doch nicht aus der Tiefe
der Jndividualität, sondern einfach aus der untergeordneten Sphäre der
Jntelligenz, welche im Lustspiel eine natürliche Herrschaft behauptet. Es
ist aber nicht die List an sich, sondern ihre Kreuzung mit den frappanten
Schlägen des Zufalls, was die Form des Jntriguenlustspiels begründet.
Die Zufälligkeit ist im Komischen berechtigt, ihrem ganzen Umfange nach
losgelassen (vergl. §. 150); sie tritt an die Stelle des Schicksals. Jm
Tragischen ist ein Schicksal, das sich nicht aus den Handlungen entwickelt,
das wie aus einem Hinterhalte dem Menschen auflauert, ein Fehler; das
Komische dagegen als durchgeführte Handlung, als Drama, ist gerade
seinem Wesen nach ein Spiel zwischen der Freiheit und einer Macht, die unvermuthet,
unberechenbar von außen eingreift, überrascht, neckt, völlig irrational
und doch wieder wie ein kluger, neckender Dämon erscheint, ganz ähnlich
dem Verhältnisse von Zufall und Berechnung im Kartenspiel (vergl. St.
Schütze, Vers. einer Theorie d. Kom. S. 76). Negativ rechtfertigt sich
diese Macht des Zufalls dadurch, daß sie kein ernstliches Uebel bewirkt,
positiv aber dadurch, daß im Komischen der Mensch selbst als relativ unbewußt,
hiemit als bloße Natur gesetzt ist, daher er dem Naturzufall nicht
zürnen kann. Nun bietet er allerdings seinen Verstand auf, alle Mittel der
List, je feiner, desto besser; zunächst kämpft List mit Unverstand, größere
mit geringerer auf der menschlichen Seite, aber alle Kämpfenden miteinander
schwanken zwischen Vernunftwesen und bloßen Naturwesen, weil die List,
so fein sie sein mag, eine mehr thierische Kraft bleibt; dieser Kampf zwischen
Mensch und Mensch nun wiederholt sich im Verhältniß der Menschen zum
Zufall, dem unwillkürlich ebenfalls List untergeschoben wird. Die Unterschiebung
ist im komischen Drama noch spezieller begründet, als im Komischen
überhaupt, weil hier Alles Handlung und Berechnung ist, daher ganz
natürlich diese Auffassung auf den Zufall übergetragen wird, als wäre er
ein Mitspieler, der Gegner im Schachspiele; sie hat aber auch eine Wahrheit: [1435]
was der Mensch durch den Zufall erlebt, bleibt imputabel, weil er
sich mit seinen Wünschen, Gelüsten, Wollen und Berechnen ganz in das
Element einläßt, worin der Zufall waltet; die eigene Zurechnung aber legt
dem Zufall naturgemäß einen Zurechner unter. Alle ächten, glücklichen
Lustspielmotive drehen sich um einen schlagenden Moment des neckenden
Spiels zwischen Berechnung und Zufall. Allein dieß Verhältniß kann auch
so behandelt werden, daß es das Motiv bildet, um die Aufmerksamkeit auf
das Spiel des Hellen und Dunkeln, des Bewußten und Unbewußten im
Jnnern des Menschen hinzuleiten, und darauf gründet sich das Charakterlustspiel
im Unterschiede vom Jntriguenlustspiel. Es ist kein Zweifel, daß
dasselbe die tiefere Seite der Komik ergreift; das Zwielicht im Geiste, die
wunderbaren Verschiebungen und Reflexe des Vernünftigen und der Grille,
des festen, klaren Wollens und der Schwäche, des dunkeln Triebs, der
Selbsterkenntniß und der Blindheit, des Sinns im Wahnsinne, des Wahnsinns
im Sinne, alle die irrationalen Brüche im originellen Menschen und
die Widersprüche des Humors: da liegt ohne Frage eine tiefere Komik, als
in dem mathematischen Witze der Kreuzungen von List und Zufall. Wir
haben schon in der allgemeinen Erörterung der Stylgegensätze den romanischen
Völkern, namentlich Spaniern und Franzosen, vorherrschend das Talent
für diese zweite Seite zugesprochen (vergl. §. 908). Die spanischen Mantel=
und Degenstücke, so weit sie zur Komödie gehören, sind wesentlich Jntriguenstücke;
Moliere ist als Charakterzeichner berühmt, aber seine Charaktere sind
nicht Jndividuen, sondern Typen, und der komische Accent fällt daher nicht
auf verschlungene Tiefen der Subjectivität, sondern auf die Situation, worin
der Charakter seine stehenden maskenhaften Züge entwickelt; die ganze neuere
Lustspiel-Literatur der Franzosen aber zeigt, daß es das Spiel der Jntrigue
ist, was ihrer zierlichen Hand, ihrem disponirenden, mathematisch witzigen
romanischen Geiste besonders ansteht. Niemals haben wir sie in ihrer leichten,
schwebenden Bewegtheit, ihrem heiteren Witze der komischen Schläge im Gange
der Handlung erreicht. Witz ist allerdings weniger, als Humor. Der germanische
Geist ist stets der concreteren Komik des Charakterlustspiels nachgegangen;
von Shakespeare's Komödien sind eigentlich nur die Jrrungen ein
Jntriguenstück zu nennen; aber Shakespeare hatte zum Humor, der eine
komische Charakterwelt erfand, den leichten Witz der Composition einer
Handlung, welche mehr oder minder Jntrigue ist, und hier fehlt es den
Deutschen. Der Grund, warum wir so arm sind an Komödien, liegt zum
Theil allerdings in dem Mangel einer Gesellschaft, einer großen Tonangebenden
Hauptstadt mit der gleich fließenden Stoffquelle komischer Typen,
komischer Verhältnisse, zum Theil auch im Mangel politischer Freiheit, weit
mehr aber in einer Einseitigkeit des Talents, die wir zu §. 899 schon erwähnt
haben: der deutsche Genius besitzt alle Tiefe für die inhaltsvollere [1436]
Seite, die humoristische Charakterschöpfung, und entbehrt die Leichtigkeit
für die formellere Seite, für die Composition der Handlung, die ja eben
irgendwie immer Jntrigue sein muß. So kommt es, daß der tiefer begabte
Geist nichts machen kann, weil ohne Handlung kein Drama denkbar ist,
und vom leichteren überholt wird, der frischweg eine Handlung erfindet
und oft mit nichtigen, Schablonenhaften, selbst frivolen, nicht komischen
Charakteren wie mit Rechenpfennigen witzig spielt, und daß wir in unserer
Armuth noch an einem Kotzebue dankbar zehren müssen. Wir haben ähnliche
Trennungen des an sich Zusammengehörigen in aller Kunst, namentlich
auch in der bildenden beobachtet. Es gilt auch hier, was von allem Dramatischen
gilt, daß das Talent für die Composition der Handlung, wenn auch
das weniger tiefe, doch das von der Gattung spezifischer geforderte ist.
Freilich dürfen wir uns mit unserem Sinne für Charakter-Tiefe auch nicht
zu sehr brüsten, er verläuft sich in eine fatale Neigung, das Seltsame,
Grillenhafte, was auch nicht komische Wahrheit hat, für Tiefe der Jndividualität
zu geben. ─ Der Unterschied des Charakter- und Jntriguenstücks wird und
soll bleiben, aber das letztere mit leeren, blos schematischen oder blos skizzirten
Charakteren ist hohl und das erstere mit schwacher Fabel bewegt sich nicht, klebt,
wird bloßes Lesedrama.


§. 917.


Der Unterschied der Style ist in der Komödie von ungleich geringerer
Kraft, als in der Tragödie, da die ganze Gattung vermöge der Natur des
Komischen zum charakteristischen Style drängt. Der classisch ideale äußert sich
theils durch mehr generalisirende, typische Behandlung der Charaktere, theils
durch phantastische Personificationen und Handlung, daher das Mythische (§. 915)
eigentlich hier seine Stelle findet; diese Art der komischen Jdealität fordert zugleich
rhythmische Sprachform, während dem entgegengesetzten Style die Prosa
angemessen ist; ursprünglich hat sie sich mit dem politischen Stoffe verbunden.


Der Styl-Unterschied ist schon in §. 906 in Beziehung auf den Uebergang
von der alten zur neuen Komödie in der griechischen Poesie berührt
und gesagt, daß derselbe nach der einen Seite ein Fortschritt sei, weil das
Wesen des Komischen auf die ausgebildete Kleinwelt des Privatlebens führe.
Es folgt dieß einfach aus der Begriffs-Entwicklung dieser Grundform des
Schönen im ersten Theile des Systems; der Komiker spezialisirt, detaillirt,
weil er das unendlich Kleine gegen das Erhabene in den Kampf führt; was
durch die Würde der tragischen Jdee auch im charakteristischen Style nothwendig
gebunden und gedämpft wird, die Naturwahrheit, die Einzelzüge menschlicher
Eigenheit, die Härten der Existenz und jedes geselligen Verhältnisses, das
eben entbindet er und sein Blick ist ein mikroskopischer. Der Gegensatz eines [1437]
charakteristischen und eines classisch idealen Styles ist daher für die Komödie
ein im engsten Sinne nur relativer und Aristophanes selbst im Vergleiche
mit Sophokles so naturalistisch und individualisirend, als Rembrandt und
Teniers im Vergleiche mit Raphael. Trotz dieser Relativität ist der Styl=
Unterschied vorhanden. Der §. setzt ihn zunächst in die Behandlung des
Charakters. Die Komödie der romanischen Völker hat denselben, wie in
anderem Zusammenhang schon öfters gesagt worden ist, von jeher typisch
behandelt: es sind die Masken=artig scharfgeschnittenen Figuren des zärtlichen
Vaters, gutmüthigen Polterers, schelmischen und dummen Bedienten,
Geizhalses, Charlatans, Hypochondristen, Heuchlers, Jntriguanten, Renommisten,
Biedermanns u. s. w., die in der Schauspielkunst Rollen-Fächer
heißen. Die Typen sind durch ihre Einfachheit schlagend, entschieden ausgeprägt
wie das Bild menschlicher Eigenschaften in den Charakteren der
Thierwelt, aber es sind keine wahren Jndividuen mit der verwickelten, unausmeßbaren
Vielheit von Eigenschaften, die das wirkliche Einzelwesen, so
bestimmt auch Eine Eigenschaft in ihm herrschen mag, charakterisiren. Diese
Richtung des Geistes der romanischen Komödie stammt durch verwandte
Anschauungsweise und wirkliche Nachahmung von der neueren Komödie der
Alten; ihre Charaktere sind die reinen Abkömmlinge der letzteren, und diese,
obwohl sie in anderer Beziehung den Aufgang des charakteristischen Styls
darstellt, ist doch in der Charakterbehandlung auf ihre Art einfach und uncolorirt
wie die Statuen=artigen Gestalten der antiken Tragödie; es sind
ungleich mehr empirische Züge aufgenommen, aber weit nicht so viele, als
der porträt=artige Blick der germanischen Auffassungsweise ergreift und aufnimmt.
Dieß läuft denn schließlich auf den Standpunct des mythischen
Bewußtseins zurück, dem doch auch die neuere Komödie des antiken Theaters
noch angehört: die Gewohnheit, die allgemeinen Grundzüge des Lebens,
herausgehoben aus der Verwicklung des Empirischen, in absoluten Personen
zu objectiviren, wirkt vereinfachend, nur die wesentlichen Züge entwickelnd
auf die Charakterzeichnung in der Kunst. Sie äußert sich aber auch in
der besondern Form: in der Person des Narren, des Hanswursts, der in
der neueren Komödie der Griechen und bestimmter in der römischen schon
auftaucht, im Mittelalter fortlebt und in den Anfängen der modernen
Komödie, wie noch heute im Volkslustspiel, seine große Rolle behauptet. An
dieser Figur kann man recht den Unterschied der Style erkennen, denn im
charakteristischen ist Alles gegenseitig bedingt, die Komik liegt im dialektischen
Zusammenhange des Ganzen und ist an die Einzelnen nach Maaßgabe
ihres motivirten Verhältnisses zu der Handlung vertheilt, der Narr dagegen
hat in der Handlung nur eine scheinbare Rolle und ist eigentlich die Persongewordene,
für sich herausgestellte Komik des Ganzen, ein komischer Gott.
Neben ihm treten in der italienischen Volkskomödie, wo er wirklich auch [1438]
noch die Maske trägt, die Masken=artigen stehenden Figuren des Stotterers
u. s. w. auf. Shakespeare hat den Narren noch; er ist aber im Lustspiele wirklich
nicht ebenso der Urheber des charakteristischen Styls wie im ernsten Drama;
wenigstens nur sofern das Charakteristische in der humoristischen Tiefe der
Personen liegt: seine Fabel führt nicht so eng in die Wirklichkeit des Lebens,
als der moderne Realismus es mit sich bringt, er liebt phantastische Situation
und Handlung. ─ Dieß führt uns auf einen weiteren Grundzug des
komischen Jdealstyls, wie er in seiner reinsten Gestalt allerdings nur in der
alten, der Aristophanischen Komödie gegeben ist: jenes Gegenbild des Mythischen
in der Handlung, die wesentlich wunderbar komisch (vergl. §. 915),
also grottesk ist (vergl. §. 440, 3.). Der neueren Zeit steht hiefür statt des
classischen Mythus der romantische Glauben, die Elfen=, Feen=, Zauber-Welt
des Occidents und Orients, Himmel und Hölle, Engel und Teufel zu Gebote:
freilich ein anderes Element, das mit einem vertieften Gemüthsleben
zusammenhängt; dennoch wird auch hier, wo es eingeführt wird und eine
phantastische Fabel begründet, niemals der Grad von Detaillirung der
menschlichen Verhältnisse eintreten können, welche der charakteristische Styl
mit sich bringt, denn alles Herausstellen der Motive in der Form wunderbarer
Personification führt irgendwie auf die einfachere Jdealität des classischen,
plastischen Styls. Wie die typische Charakterbehandlung und die
phantastischen Motive in der Fabel sich naturgemäß anziehen, zeigt Gozzi
in der Vereinigung der italienischen Masken mit dem dramatisirten Feen=
Mährchen; es war der Versuch einer Verjüngung der Volkskomödie, die
in Gefahr stand, von dem charakteristischen Style der Kunstdichtung (Goldoni)
verdrängt zu werden, ähnlich den späteren Bestrebungen Raimund's
in Wien. Es ist wahr, daß die moderne Zeit diese phantastische Komödie
der Volksbühne und der Verbindung von Poesie und Musik, der höheren
komischen Oper und der volksmäßigen, musikalischen Zauberposse überlassen
hat, daß jene Versuche der romantischen Schule, auf den Spuren von
Shakespeare's Sommernachtstraum und Gozzi's Stücken, keine gedeihliche
Folge haben konnten (vergl. Hettner a. a. O. S. 165. 166); doch haben
wir bereits die Meinung ausgesprochen, daß die phantastisch mythische Komik
sich unter günstigen Verhältnissen wieder erheben und mit großem politischem
Stoffe verbinden könnte (auch Hettner läßt diese Aussicht unbenommen,
S. 176 ff.); dieß geschah in den Bemerkungen zu §. 915 und
es bestätigt sich nun, was dort gesagt ist, daß die Frage über das Mythische
in der Lehre von der Komödie nicht zu den Unterschieden des Stoffs,
sondern des Styls gehört. ─ Endlich erhellt von selbst, daß der classisch
ideale Styl, so weit er in der Komödie sich entwickeln kann, rhythmische
Sprachform mit sich bringt; als komisches Gegenbild der Götterwelt, das
die Wirklichkeit aus den Bedingungen des prosaischen Zusammenhangs [1439]
heraushebt, wird er auch nach dieser Seite der Stimmung jenen Ausdruck
geben, daß wir in einer andern, als der gemeinen Welt, uns befinden. Ein
Wechsel kühner Versformen wird sich einer modernen hohen Komödie ebenso
natürlich darbieten, wie der Aristophanischen. Der charakteristische Styl
spricht dagegen zwar nicht nothwendig, aber mit Fug und Recht, je enger
er in die Zustände der wirklichen Gesellschaft hereintritt, in Prosa. Er ist
und bleibt der höher berechtigte und herrschende, genau, wie in der Malerei,
ja noch um so viel mehr, als die Poesie das Komische tiefer erschöpfen, in
seine engsten Falten verfolgen kann und muß.


§. 918.


Die moderne Komödie liebt, namentlich um der Bedeutung willen, die sie
der Leidenschaft der Liebe beilegt, einen im ernsten Sinne spannenden und rührenden
Mittelpunct und je nach der Jntensität und Ausdehnung dieser Seite
entsteht daher ein fließender Unterschied zwischen Werken, die der Tragödie mit
glücklicher Lösung verwandt sind, und solchen, die sich in ungetheilterer Komik
bewegen (vergl. §. 914).


Es ist hier nicht die Rede von jenem Ernste, der den Einen Pol im
Wesen des Komischen überhaupt und mit besonderer Tiefe im Humor bildet,
sondern von einem bestimmten Jnhalte der Fabel, der eine Spannung für
sich in Anspruch nimmt, die sich Furcht- und Mitleid=erregend anläßt. Das
Eindringen solcher Motive in das moderne Lustspiel ist zunächst aus demselben
Grunde zu erklären wie die Polymythie der modernen Tragödie: wir
wollen eine colorirtere, vielfacher gebrochene, eine contrastreichere Welt, und
so denn auch hier eine Wirkung der Folie, eine Schärfung des Scherzes
durch ernste Unterlage. Dieß hat namentlich in der Composition den Dualismus
von zwei Handlungen oder Gruppen zur Folge gehabt, wovon die
eine die Jronie der andern ist; eine Anlage, wie sie die Spanier und Shakespeare
nicht nur in derjenigen Gattung lieben, die wir nicht hieher zählen,
nämlich im Tragischen mit glücklichem Ausgang, im Schauspiele, sondern
auch im Lustspiele, wo denn die parodirte Seite entweder im strengeren
Sinn ernstes Jnteresse in Anspruch nimmt oder von der parodirenden wenigstens
durch erhöhende Sitte und Bildung absticht. Der speziellere Grund
der Einführung rührenden Ernstes liegt in dem unendlich vertieften Jnteresse,
das die Persönlichkeit und ihr subjectiver Lebensgang für den modernen
Geist gewonnen hat; namentlich ist es die Liebe, die für uns mit der Entwicklung
des ganzen Menschen in so ernstem Zusammenhange steht, daß
wir uns einen spannenden, sentimentalen Grundton im Lustspiele nicht gern
nehmen lassen. Damit ist natürlich nicht die breite Phantasielosigkeit gerechtfertigt, [1440]
die keinen ganzen Humor versteht und nichts zu greifen meint,
wenn ihre plumpen Finger nicht ein solides Stück nackter Wahrheit fassen
und eine Moral ad saccum schieben können; der verbreitetere Grund des
in Rede stehenden Bedürfnisses ist leider dieser prosaische Sinn, der die
Wahrheit, daß unsere Komödie in prosaischen Verhältnissen spielt, aber eben
aus ihnen ihre komischen Contraste zieht, in die Unwahrheit der Forderung
eines prosaischen, stoffartig berechneten Jnhalts verkehrt. Da kann freilich
die Shakespeare'sche Komödie nicht mehr verstanden werden, die nicht nur
eine Welt phantasiereicher, flüssiger, jeder lustigen Grille Luft lassender Sitte
zum Schauplatz hat und daher die Tiefen der Komik aus dem ungehemmt
waltenden Charakter schöpft, sondern selbst den schweren Ernst, wo sie ihn
einführt, mit dem ganzen übrigen Jnhalt in leichten, perlenden Champagnerschaum,
in stofflosen Aether des Humors auflöst. ─ Dieß führt uns
in entgegengesetzter Richtung zu dem Puncte zurück, zu dem uns die Tragödie
mit glücklichem Ausgang in §. 914 führte. Es ist ein schwankender
Unterschied verschiedener Annäherungsgrade an diese Form des Tragischen,
der sich aus jener Mischung erzeugt und der sich am besten an Shakespeare's
Stücken aufweisen läßt, auf die wir zurückkommen, nachdem wir
ebendort bereits gesagt, daß wir ihm nicht schlechthin Recht geben, wenn
er eine Tragödie mit glücklichem Ausgang anders, als mit so starker Einmischung
des Komischen, daß eine Komödie entsteht, gar nicht kennt. Wir
untersuchen hier nicht, ob er im einen oder andern der folgenden Dramen
nicht besser das Komische mehr gespart und so das daraus gemacht hätte,
was wir gewohnt sind ein Schauspiel zu nennen, sondern sagen nur, daß
die verschiedenen Stufen der Annäherung an dieses, wie sie hier sich darstellen,
überhaupt möglich sind und bleiben. Die eine steht durch besondere
Stärke und Ausdehnung des Ernstes in der nächsten Nachbarschaft des
Schauspiels; so der Kaufmann von Venedig, Ende gut Alles gut, Viel
Lärmen um Nichts, Sturm, Cymbeline, Maaß für Maaß, das Wintermährchen.
Shakespeare hat eine eigene Kraft, das Peinliche, Furchtbare,
Schauerliche in ganze und anhaltende Wirkung zu setzen und ihm doch
einen leichten, schwebenden Charakter zu geben, so daß man es von Anfang
an nur wie einen bösen Traum fühlt; ein Reich des Lichtes, Gewißheit
des über Dämonen siegenden Geistes, gießt seine Strahlen darüber aus,
gesammelt in Charakteren wie Porzia. Nach dieser Form folgt eine zweite,
worin das Komische entschiedener überwächst, aber ein rührender, sentimentaler
Hauptfaden hindurchgeht; hieher gehören H. Dreykönigsabend, So
wie es euch gefällt, hieher auch die ganze Hauptmasse des neueren Lustspiels,
nur daß kaum irgendwo das Sentimentale in jenen tiefen, fließenden,
immanenten Zusammenhang eines humoristischen Charakters gestellt ist wie
namentlich in dem letzteren Stücke Shakespeare's und dessen Hauptfigur, [1441]
der herrlichen Rosalinde. Endlich öffnet sich ein Feld, worin auch das
Rührende vorneherein so leicht genommen, in so heitere Bedingungen hineingestellt
ist, daß wir uns von Anfang bis Ende in der Sphäre des reinen
Spiels befinden; Shakespeare's Der Liebe Müh' umsonst, Gezähmte Böse,
Sommernachtstraum gehören hieher. Wir enthalten uns, aus der Masse
des Modernen weitere Beispiele einzureihen, aber wir wiederholen die Klage,
daß uns die unendliche Poesie der Heiterkeit abgeht, die den stoffartigen
Ernst des spannenden Theils unserer Fabel in die leichten Lüfte der humoristischen
Jdealität erhöbe. Wir haben sehr lustige Jntriguenstücke, aber keine
tief humoristische Charakterlustspiele, die zugleich in der Fabel sich leicht und
geistreich bewegten. Es ist freilich schwer, die Prosa der Lebensverhältnisse
zu bezwingen, nachdem der moderne, ausgebildet charakteristische Styl sich
doch in sie einlassen muß; ähnlich schwer wie im Roman. Shakespeare
war, wie wir vorhin angedeutet, durch die gelüftete, phantasiereiche, das Leben
mit unendlichen Maskenscherzen schmückende, jeder Originalität und Narrheit
freien Raum gönnende Sitte seiner Zeit unterstützt; das hochgestimmte, in
allen Nerven bewegte sechszehnte Jahrhundert hat ihm den Weg in die
Seligkeit des komischen Olympus geöffnet, wo er mit Aristophanes weilt.


§. 919.


1.

Der Unterschied der Hauptformen des Komischen fordert, was die
unmittelbarste und einfachste derselben betrifft, eine besondere Neben-Eintheilung,
welche sich darauf gründet, daß im Gebiete der Komödie die naive Poesie eine
dauernde Rolle spielt: das Volkslustspiel bewegt sich rein auf dem Boden
des Burlesken, die Kunstpoesie ist ihm fremder, am meisten hält sie ihn
2.in einer Gattung kleineren Umfangs, der Posse, fest. Jm Uebrigen zieht sich
diese Form des Komischen wie die des Witzes und des Humors in unbestimmbaren
Verhältnissen durch die verschiedenen Arten der Komödie, wie dieselben
nach den andern Eintheilungsgründen sich unterscheiden, und es läßt sich
nur so viel aufstellen, daß das Jntriguen-Lustspiel mehr Sache des Witzes,
das Charakter-Lustspiel mehr Sache des Humors ist und daß, was den Stylgegensatz
betrifft, der letztere seine entschieden angewiesene Stelle in der phantastischen
Fabel der idealkomischen Richtung hat und eben hier zugleich in der
Form des Burlesken sich ausspricht (vergl. §. 214).


1. Hier, wo es sich von der Anwendung der großen Unterschiede des
Komischen auf die Eintheilung der Komödie handelt, müssen wir noch einmal
auf die Volkspoesie zurückkommen. Wir haben sie im Epos, in der
lyrischen Dichtung thätig und am entschiedensten in der letzteren ihr Feld
behaupten gesehen; aber auch das Drama ist ihr nicht verschlossen, der natürliche [1442]
Spieltrieb als subjectiver Nachahmungstrieb (§. 515, 2.) kommt ihr
hier zu entschieden zu Hülfe, als daß sie nicht der kunstmäßigen Poesie ihre
naiven Erzeugnisse voranschicken sollte. Die Mysterien waren die Vorläufer
der modernen Tragödie, die Fastnachtsspiele der Komödie. Allein auf jenem
Felde konnte sich die naive Dichtung neben der entwickelten Kunstpoesie nicht
fortbehaupten; im ernsten Gebiete kennt das Volk keine andere Jdealität,
als die mythische, und bringt es nie vom halb Epischen zum ächt Dramatischen;
die Hoffnungen, die man an die Festspiele im bairischen Gebirge
knüpfte, waren irrig. Dagegen hat gerade das Volk den rechten Sinn der
Realität für das Komische und der Vorgang seiner naiven Erzeugnisse in
diesem Gebiete war ungleich wichtiger und fruchtbarer, als der im ernsten;
daher hat sich neben der Komödie der Kunstpoesie und ihrem Theater das
Volkslustspiel mit der Volksbühne mitten in den Städten erhalten längst
nachdem die erstere recht in Opposition gegen sie und ihren Cynismus die
feinere Komik ausgebildet hatte. Es bewegt sich naturgemäß im greiflich
Komischen, wie wir es in §. 188 ff. dargestellt haben, und an diese Form
knüpft sich daher die hier erwachsende Neben-Eintheilung der Komödie. Wir
haben dem derben Geiste des Possenhaften sein gutes Recht zuerkannt und
die Komödie der Bildung dürfte sich an dieser Quelle recht wohl erfrischen,
Geist des gesunden und ungetrübt heiteren Lachens schöpfen, wie die lyrische
Poesie ächtes Gefühl aus dem Brunnen des Volkslieds. Die Objectivität
des Naiven geht hier so weit, daß die Rede entbehrlich wird und die Pantomime
hinreicht; die alten italienischen Scherze des Pierro, Arlechino,
Pantalone, der Colombine u. s. w. haben sich gerade darum auch wirklich
am reinsten in ihrem Element erhalten, denn mit der Rede sind viele zersetzende
Stoffe in das Volkslustspiel eingedrungen, wie S. Carlino in Neapel,
die Volkstheater in Wien allerdings leidig beweisen. Raimund führte Romantik,
directe Moral, Politik, Sentimentalität hinein, blieb aber in den
Grundlagen noch ächt volksthümlich komisch, mit Nestroy und And. aber
beginnt die Gemeinheit und die Corruption. ─ Wir haben im ersten Theile
das naiv Komische durch den Namen Posse bezeichnet; der §. setzt dafür
nur darum den Namen Burleske, weil im gegenwärtigen Zusammenhang
der erstere eine besondere Form bezeichnet, und zwar diejenige, welche im
Gebiete der Kunstpoesie am verwandtesten dem Volkslustspiele gegenübersteht.
Es ist eine kleine Form, die gewöhnlich einer Tragödie oder einer Komödie
mit rührendem Mittelpunct an Einem Theater-Abende nachfolgt, die Farce
der Franzosen und von diesen mit besonderer Zierlichkeit angebaut. Sie
verhält sich wie die Novelle zum Romane, sie entwickelt mit schlagender
Kürze eine komische Situation. Sie mag dieselbe aus den raffinirten Zuständen
der modernen Gesellschaft nehmen: auch diese laden sich in unendlichen
Verlegenheiten, Contrasten aus, die sich derb in der Körperwelt niederschlagen, [1443]
und davon handelt es sich, denn die Posse spielt eben wegen ihrer
Kürze nothwendig in dem Elemente der greiflichen Komik, des Burlesken,
und liebt denn bei aller Kunstform der Behandlung auch vorneherein in
der Fabel den Boden der sinnlichen Contraste. Jhr entspricht das Satyr=
Drama
der Alten. Es war vom Volke gefordert, das sich die Lust des
Dionysos-Festes nicht ganz durch die Tragödie nehmen lassen wollte, sondern
eine Erholung von ihrem strengen Ernste bedurfte, und diese Bedeutung
hat auch die moderne Posse. Das Komische ist unendlich mehr, als bloße
Erholung, aber es ist doch wesentlich auch Erholung, und wenn der deutsche
Ernst es verschmäht, jener wehmüthigen Beruhigung, welche im Schlusse der
ächten Tragödie liegt, noch das derbe Gelächter folgen zu lassen, so mag er
doch dem leichteren französischen Blute darum, weil es solche Abspannung
liebt, so wenig zürnen, als dem griechischen.


2. Jm Uebrigen kann der Unterschied der Hauptformen des Komischen
keine Eintheilung begründen; die verschiedenen Arten der Komödie, wie sie
sich uns nach andern Eintheilungsgründen ergeben haben, stellen sich sämmtlich
bald mehr auf diesen, bald mehr auf jenen Boden, und Bestimmteres
läßt sich nur so viel sagen, was übrigens schon in unsern frühern Erörterungen
mehrfach von selbst hervorgetreten ist: das Jntriguenspiel mit seinen
Schachzügen gehört mehr dem Witze, das Charakterspiel, nur nicht jenes,
das den Charakter typisch behandelt wie Moliere, dem Humor an. Daß
der hochkomische Styl, wie er sich bei Aristophanes mit dem politischen
Stoffe verbunden hat, im großartigen mythischen Wahnsinn seiner Fabel
humoristisch ist, haben wir ebenfalls schon früher ausgesprochen; daß aber
der Humor gern in die Posse heruntergreift, die Keckheit seiner Weltverkehrung
in ihre Form gießt und sie so zur Grotteske auftreibt, ist in §. 214
gezeigt.


§. 920.


Dem Werthverhältnisse nach steht die Komödie insofern über der Tragödie,
als sie freiere, in Gemüthsgleichheit über dem Gegenstand sich erhaltende Subjectivität
fordert und das Erhabene, das den Jnhalt der Tragödie bildet, als
das eine ihrer Momente mitumfaßt. Allein in dieser Stellung wird das Erhabene
nur von einer Seite, der verständigen, beleuchtet und kommt nicht zur
Entwicklung, die Gemüthsfreiheit aber ohne die Aufgabe, in der Gewalt der
substantiellen Aufregung Stand zu halten, wird leicht zur Jnhaltslosigkeit oder
zum grillenhaften Spiele der willkürlichen Subjectivität.


Man muß sich natürlich auch hier hüten, ein abstractes Verhältniß
von Geringer und Besser anzunehmen, auch hier wohl bedenken, daß der
Gewinn im Fortschritte zu einer reicheren Stufe immer zugleich Verlust ist. [1444]
Schiller (Ueber naive und sentimentale Dichtkunst S. 256 ff.) spricht den
Vorzug der Komödie in folgenden Sätzen aus: „die Tragödie fordert das
wichtigere Object, die Komödie das wichtigere Subject; dort geschieht schon
durch den Gegenstand viel, hier nichts durch ihn und Alles durch den
Dichter. Den tragischen Dichter trägt sein Object, der komische muß durch
sein Subject das seinige in der ästhetischen Höhe erhalten. Jener darf
einen Schwung nehmen, wozu so viel eben nicht gehört, der andere muß
sich gleich bleiben, er muß also schon dort sein und dort zu Hause sein,
wohin der Erstere nicht ohne einen Anlauf gelangt. Es ist der Unterschied
des schönen und des erhabenen Charakters: dieser ist nur ruckweise und nur
mit Anstrengung frei, jener ist es mit Leichtigkeit und immer. ─ Die Tragödie
ist bestimmt, die Gemüthsfreiheit, wenn sie durch einen Affect gewaltsam
aufgehoben worden, auf ästhetischem Wege wieder herstellen zu
helfen; in ihr muß daher die Gemüthsfreiheit künstlicher Weise und als
Experiment aufgehoben werden; in der Komödie dagegen muß verhütet
werden, daß es niemals zu jener Aufhebung der Gemüthsfreiheit komme.
Daher behandelt der Tragödiendichter seinen Stoff immer praktisch, der Komödieendichter
den seinigen immer theoretisch, jener muß sich vor dem ruhigen
Räsonnement in Acht nehmen, dieser muß sich vor dem Pathos hüten und
immer den Verstand unterhalten; jener zeigt also durch beständige Erregung,
dieser durch beständige Abwehrung der Leidenschaft seine Kunst. Das Ziel
der Komödie ist einerlei mit dem Höchsten, wonach der Mensch zu ringen
hat, frei von Leidenschaft zu sein, immer ruhig um sich und in sich zu
schauen, überall mehr Zufall, als Schicksal, zu finden und mehr über Ungereimtheit
zu lachen, als über Bosheit zu zürnen oder zu weinen.“ ─
Schiller hat nicht bemerkt, daß diese Sätze in Einem Zuge mit der Behauptung
auch deren Einschränkung enthalten. ─ Daß zunächst die Komödie in gewissem
Sinn höher steht, folgt für uns prinzipiell aus dem innersten Wesen des
Komischen, wie es in der Metaphysik des Schönen entwickelt ist. Das
Komische hat sich erwiesen als Act der reinen Freiheit des Selbstbewußtseins,
das den Widerspruch, womit alles Erhabene behaftet ist, sich in
unendlichem Spiel erzeugt und auflöst. Es enthält also das schlechthin
Große, welches eben das Tragische ist, als das eine Moment seines Prozesses
in sich, hat somit mehr, ist darüber hinaus. Man kann so zunächst
immerhin sagen, das Tragische sei stoffartiger, in dem allgemeinen Sinne
nämlich, daß der Dichter von der Wucht eines Gesetzes hingenommen sei,
das, aus einer Welt aufgewühlter Leidenschaft aufsteigend, furchtbar, obwohl
gerecht, durch die Welt geht und keinen Vollgenuß des Lebens, keine subjective
Genüge gestattet. Die Leichtigkeit und Freiheit des von dieser Schwere
entbundenen Geistes, der in der Komödie waltet, gleicht jener, die wir bei
dem epischen Dichter gefunden haben; es ist das verwandte freie Schweben [1445]
über den Dingen, deren Gegensätze, von solcher Höhe, mit so gelöstem
Sinne betrachtet, gleich werden. Allein in der Verwandtschaft steht die
geistige Freiheit des Komödien-Dichters um so viel höher über der des epischen,
als sie mitten in der ergreifenden Gegenwärtigkeit der dramatischen
Handlung sich zeigt, im Elemente der Erschütterung sich behauptet. Die
schwere, substantielle Aufwühlung der Tragödie hat sie hinter sich, die Form
der Spannung hat sie behalten und bewahrt in ihr den ungetrübten Gleichmuth.
Die Komödie gehört daher auch dem späteren Alter männlicher Reife,
das aus Stürmen zur Ruhe und Heiterkeit gediehen ist, von keiner Gewalt
der Erfahrung aus dem Gleichgewichte gebracht wird und mit klarem, heiterem
Blicke Großes und Kleines als die ungetrennten Seiten Eines Weltwesens
erfaßt. Allein der Fortschritt ist auch Verlust, die Leichtigkeit und
Freiheit wird bei näherem Anblick selbst wieder einseitig. Sieht man auf
die Tragödie zurück, so darf der Dichter doch natürlich nicht im gewöhnlichen
Sinne des Wortes sich stoffartig verhalten. Schiller stellt zwei Sätze,
die einer Vermittlung bedürfen, ohne solche nebeneinander: nach dem einen
scheint die Tragödie Pathos und Affect unmittelbar aus ihrem Jnhalte zu
empfangen, nach dem andern ist es nur des Dichters freier Kunstzweck,
Experiment, daß er die Gemüthsfreiheit aufhebt, um sie wieder herzustellen.
Das Wahre wird sein, daß gleichzeitig ein aus dem Stoff aufsteigender
pathetischer Schwung und eine freie Beherrschung desselben und Leitung
zum Kunstziele zusammentreffen müssen. Dem unreifen Jüngling scheint
jener Schwung leicht das Ganze der poetischen Begeisterung, aber die ächte
Jronie ist ihre andere, wichtigere Seite. Wenn wir nun vom epischen
Dichter sagten, er habe seine Ruhe noch nicht auf dem stürmischen Meere
bewährt, so gilt vom komischen Dramatiker, daß er sie nicht mehr auf
diesem Schauplatz bewähre; oft, weil er es nicht will, oft auch, und, so
lang er es (durch Tragödieen) nicht gezeigt hat, immer vielleicht, weil er
es nicht kann. Die Komödie enthält das Erhabene, das Tragische in sich,
aber nur um es, noch ehe es sich entwickelt, an seiner Einseitigkeit zu fassen
und in sein Gegentheil mit plötzlichem Umschlag überzuführen. Sie muß
verhüten, daß wir uns in seinen Ernst vertiefen, sie darf daher alles Erhabene
nur von der Seite des Verstandes auffassen, wie in §. 179 gezeigt
ist und auch Schiller weiß. Der Humor gründet tiefer, als der Witz, er
hat eine Wärme, ein Pathos zur Voraussetzung, aber auch er eilt von
dieser Vertiefung fort zu der blos theoretischen Auffassung, wie Schiller es
nennt, er muß es, um die Verkehrung alles Erhabenen als bloße Ungereimtheit,
Narrheit belächeln zu können. Die Leichtigkeit ist also um den
Preis erkauft, daß das, was den großen Jnhalt des ernsten Drama bildet,
wirklich auch zu leicht genommen wird; jetzt, dießmal, auf diesem Standpuncte
mit Recht, aber nicht mit Recht, wenn man das ganze Schöne im [1446]
Auge hat, das auch den andern Standpunct fordert, welcher in die reine
Form den ethischen Ernst einschließt. Es ist im Erhabenen, sagt §. 229,
dem ganzen Schönen ein Unrecht geschehen, indem das Moment der Sinnlichkeit,
Einzelheit, Gegenwärtigkeit negirt wurde; das Komische ist auch
ein Unrecht, indem es die Jdee negirt. Die humoristische Subjectivität
weiß sich als Hort und Bürge der Jdee, nur darum wagt sie, in jeder
Gestalt sie zu verflüchtigen und aufzulösen, aber sie behält sich ebendarum
die wahre Wiederherstellung derselben stets nur vor, ist mit keiner Wirklichkeit
derselben zufrieden, gönnt keiner, sich auszubreiten. Und das ist der
gute, der höchste Fall. Verbirgt sich unter dem substantiösen Pathos der
Tragödie leicht die überschauende Weisheit und den Stoff beherrschende Jronie,
lockt daher diese Dichtart Geister an, die es nie über das Pathologische
bringen, so ist die leichte Luft der Komödie auch das Element für die windigen
Geister, für die leere Subjectivität im sublimeren und im niedrigeren
Sinne: jene kennt nicht den Ausgangspunct vom Ernst im komischen
Prozesse, verflüchtigt geistreich Alles im Schaum des inhaltslosen Spiels,
wie unsere Romantiker es als Prinzip aufgestellt und geübt haben; was
sie noch Stoffartiges bewahrt, ist die reine Grille, die Caprice, die so wenig
komisch, als ernst motivirt ist; diese zerrt an den Lachmuskeln um jeden
Preis und meint, das Komische dürfe gemein sein, weil es sich mit dem
Gemeinen befassen muß. Da verlangt die positive Jdealität des Ernstes
wieder ihr volles Recht und man sehnt sich, daß sie mit dem strengen Antlitz
unter die Narren trete. Shakespeare hat in seiner letzten Periode nur Komödieen
mit besonders starker Grundlage des Ernstes geschrieben: Cymbeline,
Wintermährchen, Sturm, Maaß für Maaß (die gallige Satyre Timon
von Athen nicht zu rechnen); aber, was wichtiger ist, er hat den Hamlet
vollendet, Julius Cäsar, Antonius und Cleopatra, Coriolan, Makbeth,
Othello gedichtet, gedankentief, stahlhart, gedrängt und gesättigt von finsterer
Kraft und furchtbarem Schicksalsgefühle, doch aber ohne die Freiheit des
Gemüths in die Gewalt des Affects zu verlieren und ohne stoffartige Bitterkeit
in der Schlußempfindung.

[E1447]

Anhang zur Lehre von der dramatischen Dichtkunst.
Die Schauspielkunst.

§. 921.


Die Dichtkunst hat die sichtbare und hörbare Welt nur der innern Vor-1.
stellung wieder eröffnet. Bis zur vollen Gegenwärtigkeit, aber zunächst in derselben
Grenze, ist dieß im Drama geschehen; hier aber wird diese Grenze nothwendig
durchbrochen, die innere Gegenwart geht in die äußere, sinnliche über,
indem die lebendige Persönlichkeit mit den Mitteln der Darstellung für das
Auge und Ohr, Action und Declamation, als Material herbeigezogen wird,
um das Werk der Poesie zur Anschauung zu bringen. Die Schauspielkunst,
welche dieß leistet, ist zwar blos anhängend, aber, weil die Reproduction des
Dichtwerks productiv künstlerischen Geist fordert, die höchste unter den anhängenden
Künsten. Jhre Geschichte zeigt in entschiedener Gestalt den Gegensatz2.
des direct idealen und des charakteristischen Styls.


1. Daß nicht bloß die sichtbare, sondern auch die hörbare Welt
von der Dichtkunst für die innere Vorstellung wieder aufgethan ist, muß
hier ausdrücklich noch aufgenommen werden. Diese Kunst spricht, aber sie
spricht nicht nur selbst, sondern führt uns durch ihr Sprechen das Sprechen
der dargestellten Personen vor und bringt uns überhaupt die Tonwelt vor
den inneren Sinn. Nur in der lyrischen Form fällt das Sprechen als Vehikel
der Kunst und als Jnhalt, den dieses Vehikel uns mittheilt, einfach zusammen,
denn der Dichter spricht hier im eigenen Namen; das Epos
meldet uns vom Sprechen und von Tönen, und kann allerdings, doch ist
dieß nicht wesentlich und nothwendig, die Personen auch in directer Rede
sprechend einführen; in der dramatischen Dichtkunst dagegen spricht der
Dichter als objectiv gewordenes, in seine Personen auseinandergelegtes
Subject so, daß man vielmehr nur diese vernimmt und daß sie gegenwärtig
sprechend die Handlung erwirken. Dieß Alles also zunächst nur für die
innere Vorstellung. Die Poesie hat auf alle Sinnenwirkung, bis auf das [1448]
dünne Band des (zunächst nicht mimischen, nicht künstlerischen) Vortrags verzichtet.
Was dadurch gewonnen ist, haben wir gesehen; aber der unendliche
Gewinn ist auch ein wesentlicher Verlust. Das Schöne will auf die wirkliche,
eigentliche Sinnlichkeit, nicht blos auf die innere wirken, es will sein, die
Kunst ist nicht umsonst höhere Einheit des Naturschönen und der Phantasie.
Die Poesie kann nicht aus sich selbst das Band mit der wirklichen Sinnlichkeit
wieder aufnehmen, sie bewegt sich rein in der innerlich gewordenen,
ideal gesetzten; sie muß sich, wenn sie den Schritt thun will, anhängend,
aber doch innig mit andern Formen verbinden. Gegeben aber ist der Schritt
auf der Spitze der Dichtkunst, im Drama. Die innerlich vorgestellte Gegenwärtigkeit
ist hier so stark, so voll bis an die Schleuse gedrängt, daß sie mit
Macht durchbrechen, sich auch als äußere erschließen muß. Geschichtlich verhält
sich dieß sogar so, daß das Drama als Dichtwerk aus der sinnlichen Darstellung,
der Mimik, zunächst als Spiel des subjectiven Nachahmungstriebs,
auf den wir (§. 919 Anm. 1.) schon zurückgewiesen haben, erwachsen ist;
nur hindert dieß nicht, die wirkliche dramatische Poesie als das logisch
Voraufgehende hinzustellen, das als bestimmendes Subject eines Ganzen
das Element, aus dem es naturalistisch erwachsen ist, sich künstlerisch nachbildet
und zu sich heraufnimmt. Wir haben in der Lehre vom Wesen der
dramatischen Poesie durchaus die gegenwärtige Lebendigkeit der Handelnden
als Grundbegriff aufgestellt und doch die wirkliche Aufführung noch ausgeschlossen.
Dieß war wissenschaftlich nöthig, um die Begriffe in ihrem Unterschiede
rein zu halten, und die Forderungen der Gattung lassen sich fest
begründen, wenn auch nur an die Schaubühne in der Phantasie der Leser
gedacht wird. Nun aber ist es Zeit, es auszusprechen, daß hiemit die
Gegenwärtigkeit auf dem Puncte der äußersten Reife und Sättigung angekommen
ist, wo sie zur äußern werden muß. Die blos innere Schaubühne
leidet wieder an den Mängeln der bloßen Phantasie vor der Kunst,
für den Leser wie für den Dichter. Wir haben gesagt, es stelle sich der
dramatische Charakter mit greiflicher Deutlichkeit vor unser inneres Auge;
aber dabei war von dem Maaßstabe der Deutlichkeit abgesehen, den die
wirklich sinnliche Erscheinung abgibt. Erst durch diese, erst in der Aufführung
erkennt Dichter und Zuschauer die Lücken und Mängel des erst
noch innerlichen Phantasiebildes. Die Execution ist dessen Probstein, ja,
wie alles Material durch seine festen Bedingungen (vergl. §. 518, 1.), ein
auf die Erfindung rückwirkender, durch die an ihm gemachten Erfahrungen
Motive hervorrufender Hebel. Es ist bekannt, wie manche große Charakter=
Rollen in Berechnung für bestimmte Schauspieler geschaffen sind; namentlich
erkennt der Dichter selbst an der wirklichen Aufführung erst, was ächt
dramatisch, d. h. schlagend, packend ist. Die dramatische Poesie kann nur
an einem Orte gedeihen, wo Theater ist. Die Entfremdung von der [1449]
Bühne, die Einschließung in die Studirstube und an den Theetisch hat uns,
und zwar vor Allem uns innerliche Deutsche, mit der Fluth der bloßen
Lesedramen beschenkt. So nennen wir das Drama, das entweder Seelenleben
mit zu wenig Handlung darstellt oder Handlung in rascher, abgebrochener,
die äußern Bedingungen der Bühne überspringender Folge, oder
beides mischt, wie Göthe's Faust. Es wird immer solche Dramen geben und
darf sie geben; die Poesie hat Manches dramatisch zu sagen, was sich den
Schranken und der Flüssigkeit der Bühnendarstellung nicht fügt, aber das
Ueberhandnehmen dieser Gattung weist bedenklich auf den Ueberschuß an
Reflexion in unserer Zeit. Das reale Leben des Drama's schwankt aber um
den Pol, auf welchem geistige Tiefe und Bühnenhaftigkeit zusammenfallen, so,
daß nicht weniger massenhaft auf dem andern Extrem eine Literatur sich ausbreitet,
die auf Kosten der geistigen Tiefe bühnenhaft wirkt, und hier besonders
ist der schwache Punct dieser Dicht-Art, wie die epische den ihrigen in der
platten Unterhaltungsliteratur und in der ermüdenden didaktischen Breite hat.
Die Kräfte sind so vertheilt, daß tiefere Geister oft nicht verstehen, was wirkt,
und die Andern, die es verstehen, keine Tiefe, keinen Gehalt haben. Doch
auch hier muß man billig sein; auch Bühnendramen ohne bleibenden Anspruch
an Gediegenheit des Textes muß und darf es immer geben, die Fürsten
müssen ihr Gefolge haben, die Bühne will leben und kann nicht lauter
Classisches auf ihr Repertoire setzen.


Die Schauspielkunst ist blos anhängend, weil sie lebendigen Stoff als
Material verwendet (§. 490). Es ist derselbe Stoff wie in der darstellenden
Gymnastik und der Orchestik, nämlich die eigene Person des Darstellenden,
zwar in ungleich größerem Umfang und ungleich vielfältigerer,
geistigerer Anwendung ihrer Ausdrucksmittel, als in diesen Künsten, aber
nur um so fühlbarer den Störungen, Zufällen, Unangemessenheiten des
Naturschönen ausgesetzt: dieselbe Gestalt, Stimme, Physiognomie soll abwechselnd
für die verschiedensten Charaktere als Material dienen, die Person
ist dabei abhängig von ihren Stimmungen, Körperzuständen u. s. w. Ja die
ungleich tiefere und ausgedehntere Bedeutung, worin hier die eigene Person
als Darstellungsmittel verwendet wird, ist gerade der Grund, warum der
Schauspielerstand so lange gegen die öffentliche Mißachtung zu ringen
hatte: denn um jederlei Ausdruck an seiner Gestalt zu zeigen, muß sich
der Mimiker in jederlei Charakter und Stimmung künstlich versetzen, muß
den Zustand, in den er sich so versetzt hat, durch den vollen Schein
äußerer Zeichen darstellen, die sonst durchaus unwillkürlich und unbewußt
den wirklichen, nicht nachgeahmten Zustand begleiten, und so liegt es nahe,
den ästhetischen Standpunct mit dem moralischen zu verwechseln, den Künstler
als handwerksmäßigen Lügner anzusehen, der die Gewohnheit, Stimmungen
auszudrücken, in die er sich nur mit Absicht hineinversetzt, auch auf sein [1450]
Leben außer der Kunst übertrage; man denkt, er habe zu oft geweint, gelacht
u. s. w. auf der Bühne, als daß man sein Weinen und Lachen außer derselben
für Wahrheit nehmen könnte. Es ist zunächst richtig, daß die Versetzung des
Schauspielers in die Stimmungen ganz anderer Natur ist, als die des Dichters
(wie des Bildhauers, Malers, Musikers); bitterer, stoffartiger Ernst ist
es natürlich auch diesem mit dem Zustande nicht, den er uns darstellt,
er ist darin und er schwebt doch frei darüber; die dramatische Dichtung
setzt mit doppelter Stärke dieß Schweben voraus, weil sich da der Poet in
verschiedene Charaktere direct und abwechselnd verwandelt, allein derselbe
fingirt nicht mit der vollen Stärke sinnlicher Gegenwart, als sei der dargestellte
Zustand der seinige, er tritt nicht vor uns hin und gibt die ganze
Wärme der Unmittelbarkeit des Zustandes vor, als durchdränge derselbe
sein Wesen bis auf jeden Nerv; der Schauspieler thut es und darum fällt
auf die künstlerische Absicht und Versetzung, womit er es thut, ein geschärfter
Accent des bloßen Scheins. ─ Jm Verhältnisse zum Dichter liegt nun die
andere Seite der Abhängigkeit, wodurch die Schauspielkunst zur blos anhängenden
wird: der Jnhalt der Darstellung ist von jenem vorgezeichnet,
der Schauspieler kann als solcher nicht zugleich der Erfinder sein, denn er
kann ja in einer Handlung nur Einen Charakter, ein Glied derselben darstellen,
nicht sein Subject, wie der Dichter im Acte seiner Phantasie, in
viele zerlegen und verwandeln (daß ein Schauspieler oft mehrere Rollen
in einem Stück übernimmt, wäre lächerlich hier geltend machen zu wollen).
Es ist bekannt, wohin das Schauspiel durch Jmprovisiren versinkt. Eben
hier liegt nun aber auch der Punct, von dem die Ehrenrettung der Schauspielkunst
ausgeht. Um die Schöpfung des Dichters in den vollen Schein
der Wirklichkeit zu übersetzen, muß ihm der Mime, wie Eckhof sagt, „in
das Meer der menschlichen Gesinnungen und Leidenschaften nachtauchen,
bis er ihn findet“. Hier ist eine Reproduction gefordert, wie in keiner
blos nachbildenden, vervielfältigenden, exequirenden Kunstübung, eine Reproduction,
die zur Production wird. Hat der Schauspieler dem Dichter
in seinen Geist, so hat er ihm auch in seinen Gehalt, seinen Ernst, seine
Jdealität nachzutauchen und es gilt nichts Geringeres, als den hohen Zweck,
Menschen, Menschenleben, Menschenschicksal darzustellen. Er bildet auch
nicht blos nach, er entwickelt, ergänzt, füllt aus; neben dieser Erfüllung,
dieser Herausführung in die volle Farbe erscheint das Werk des Dichters
wieder als bloßer Entwurf, ist, wie wir gesehen, blos innerliches Phantasiebild,
dem es an Fülle und Schärfe fehlt. Der ächte dramatische Dichter
rechnet auf diese Ergänzung, führt nicht bis in's Kleinste aus, läßt Einzelnes
relativ skizzenhaft, schneidet dem Schauspieler die Selbstthätigkeit nicht
ab. Der Act der Versetzung in das Werk des Dichters fordert also in
erster Linie verwandtes Genie, Jntuition; dazu aber den Ernst und Fleiß [1451]
des Denkens, des Einarbeitens, und derselbe hat sich nicht nur auf die einzelne
Rolle, sondern auf das Ganze zu erstrecken, denn sie ist Glied des
Ganzen, und auf dieses muß also auch die geniale Jntuition sich ausbreiten:
der Schauspieler muß die Jdee seiner Rolle ebensosehr aus der
Jdee des ganzen Drama, als aus dieser selbst sich erzeugen. Hier liegt
denn zugleich ein wesentliches Moment der Kunstmoral für diesen Stand:
die Pflicht der Einreihung in das Ganze, der Unterordnung unter dasselbe,
die Bezwingung der Eitelkeit im Dienste des Ensemble. Zwischen dem
geistigen Eindringen in die Rolle und der Ausführung liegt nun die Nothwendigkeit
eines umfassenden Studiums des hiehergehörigen großen Gebietes
des Naturschönen: des physiognomischen, pathognomischen Ausdruckes
(vergl. §. 338 ff.), des Menschenlebens überhaupt im weitesten Sinne.
Der Schauspieler, welcher der Reflexion mehr, als dem Talente, verdankt,
setzt Einzelzüge aus den Erwerbungen dieses Studiums musivisch zusammen,
dem genialen schießen dieselben von selbst organisch an das mit Einem inneren
Wurfe der Phantasie dem Dichter nachgeschaffene Charakterbild an,
und die Mühe des Denkens und Uebens ist getragen von dem magischen
Zuge dieses Schauens. ─ Jn der wirklichen Ausführung ist das nächste
Moment die Herstellung der sog. Maske; es ist von Wichtigkeit, weil es
hier gilt, der Schauspielkunst im Mittelpunct ihrer Schwäche, der Jncongruenz
der lebendigen Persönlichkeit zu dem geistigen, concret gedachten Bilde des
Dichters, mit allen Mitteln der Kleidung, Behandlung der Haare u. s. w.
nachzuhelfen. Was aber von Unangemessenheit zurückbleiben mag, wird
durch ächte Kunst im wirklichen Spiele momentan verwischt; denn der fortgerissene
Zuschauer erzeugt sich das Bild der Erscheinung aus dem geistigeren
Theile der Darstellungsmittel und die Phantasie hat die wunderbare
Fähigkeit, darüber wirklich die Gestalt anders, namentlich heroisch größer
zu sehen, als sie ist. Diese geistigeren Mittel bestehen denn in der Activität
der Gestalt für Auge und Ohr, Action und Declamation: jene
umfaßt Gesichts-Ausdruck, Gesticulation der Hände, Bewegung der Füße
und des ganzen Körpers, wobei das Verweilen in einer Geste, das Verhalten
in der Ruhe so wesentlich ist, als die Reihe der wirklich bewegten
Momente, das stumme Spiel so wichtig, als das mit der Rede verbundene;
diese erhebt die unendliche Tonwelt der Sprache nach Höhe und Tiefe,
Stärke und Schwäche, Beschleunigung und Langsamkeit zum künstlerischen
Ausdruck des Charakters und jeder seiner innern Bewegungen. Die letztere
Unterscheidung ist namentlich für den Schauspieler wichtig: der Charakter
bleibt sich im Wechsel der Stimmungen und Affecte gleich, sein stehendes
Gepräge soll aber ebensowenig den letztern ihre momentane Gewalt und
Wärme entziehen, als von denselben überwachsen und aus den Fugen seiner
Grundzüge getrieben werden. Die Deutschen sind bessere Darsteller des [1452]
(ächt individuellen) Charakters, Jtaliener und Franzosen der Leidenschaft.
Wir müssen uns versagen, den ganzen Reichthum wichtiger Begriffe und
Bobeachtungen zu entwickeln, der in den hier angedeuteten Hauptseiten der
Darstellungskunst eingeschlossen liegt, verweisen statt dessen auf Rötscher:
„Die Kunst der dramatischen Darstellung in ihrem organischen Zusammenhang
wissenschaftlich entwickelt“ und bemerken nur noch, daß vermöge der Aufgabe
des Ensemble der einzelne Mime auch das Einzelne seiner Mittel auf die Zusammenwirkung
mit den andern zu berechnen hat: die Lehre von der Schauspielkunst
hat es wesentlich auch mit dem Einklange des Zusammenwirkens
zu thun, nicht nur im tieferen Sinne, sondern im Heraustreten für das
Gehör und namentlich für das Auge in der Gruppirung des Personals
und ihrem Wechsel. ─ Jst es nun allerdings wahr, daß die Gewohnheit
der Versetzung in Charaktere und Stimmungen und der künstlichen Annahme
des vollen, unmittelbaren Scheins dieser Versetzung eine Gefahr mit sich
bringt, den Menschen auszuhöhlen, auf den eiteln Schein zu stellen, so
hat der ächte Mime in dem hohen und würdigen Begriffe der Bedeutung
seiner Kunst, eine Jnterpretinn der Dichtkunst und durch sie der ewigen
Wahrheit des Menschenlebens zu sein, in dem Ernst und Fleiß, den dieser
Begriff fordert und mit sich bringt, das sichere Gegenmittel und ist der
Stand großen Versuchungen ausgesetzt, so ist er nur um so achtungswerther,
wo er ihnen widersteht. ─ Eine weitere Schwäche dieser Kunst,
welche unmittelbar damit gegeben ist, daß sie in lebendigem Stoffe darstellt,
besteht in der Flüchtigkeit ihrer Wirkung; sie „schreibt in's Wasser“. Ein
Streben nach um so stärkerem momentanen Erfolg, Empfindlichkeit über
Tadel, gereizte, nervöse Stimmung wird dadurch erklärbar, selbst entschuldbar,
den höheren Künstler stärkt dagegen das Bewußtsein der Jntensität und
des stillen Nachwirkens der Wirkung.


2. Der Gegensatz der Style in der Poesie spricht sich so schlagend in
der Schauspielkunst aus, daß er durch sie in volles Licht tritt, an ihr auf's
Belehrendste nachgewiesen werden kann. Dem plastischen Charakter des
antiken Drama's entsprach die Maske, der Kothurn, die feierlich typische
Kleidung, das einfach große System der Bewegungen, wodurch der Schauspieler
als wandelnde Statue erschien, der recitativartige, stellenweise in
Gesang übergehende Vortrag. Hier galt es nur die substanziellen, gewaltigen
Grundzüge; die Durchführung in das Spezielle und Jndividuelle, die
feinere Schattirung war ausgeschlossen. Es hieng dieß Alles mit der
Scenerie, zu der wir erst im folg. §. übergehen, namentlich dem Spiel im
hellen Tageslichte zusammen. Jn Allem ist das moderne Spiel das gerade
Gegentheil, das volle Bild des malerischen Styls im Gegensatze des plastischen;
hier wird durchaus spezialisirt, detaillirt, während dort generalisirt
wird, hier ist Alles porträtartig, physiognomisch. Allein der Gegensatz [1453]
erneuert sich innerhalb dieses Styls; theils ist er ein nationaler ebenso wie
in der Poesie: Jtaliener und Franzosen haben in der hohen Tragödie immer
noch etwas Gesang=artiges, Recitativ=ähnliches im Vortrag, strenge, gemessene
Regel, einfach große Bewegung, plastisches Verweilen im Spiel, in der
Komödie bringt wenigstens die generelle Behandlung der Charaktere eine
geringere Jndividualisirung mit sich. Die französische Art war mit der
poetischen Dramaturgie und gesammten conventionellen Disciplin in Deutschland
eingedrungen und ward von Eckhof gestürzt, der die wahre und individuelle
Sprache und Tonleiter der Natur zum Gesetz erhob. Nun aber
riß mit dem bürgerlichen Drama und seiner prosaischen Redeform, dann
mit dem wilden Schrei der Sturm- und Drang-Periode ein Grad des
Naturalismus ein, der eine neue Reaction des plastischen, classisch idealen
Styls hervorrufen mußte: er knüpfte sich an Göthe's und Schiller's classische
Werke, man führte sogar wieder französische Tragödieen in den Kampf.
Dieß führte abermals in gleichtöniges Pathos, jambische Modulation ohne
Naturwahrheit des Tonfalls, kaltes Anstands-System; die entgegenstehende
Richtung mußte abermals ihr Recht zurückfordern. Seither suchen wir einen
charakteristischen Styl, der naturwahr individualisirt und doch ideal ist, wie
in der Poesie und in allen Künsten, aber dem richtigen Begriffe des Zieles
bringt die Zeit nicht die hinreichende Kraft und Frische entgegen, den falschen
Ueberschuß der Reflexion fühlt man nirgends mehr, als auf diesem Gebiete. ─
Statt alles Weiteren beschränken wir uns hier, auf das treffliche Werk von
Ed. Devrient: „Die Gesch. d. deutschen Schauspielkunst“ zu verweisen.

§. 922.


Die Schauspielkunst setzt die Bühne voraus: die Baukunst, die Malerei
und als Stimmungsmittel die Musik verbinden sich mit ihr und es entsteht
eine Vereinigung aller Künste, in welcher die Poesie der bestimmende Mittelpunct
ist (vergl. §. 544 3.). So kehrt denn diese zu der bildenden Kunst im
eigentlichen Sinn, hiemit die gesammte Kunst auf ihrer Spitze zur Unmittelbarkeit
zurück und erreicht hiedurch eine ästhetische Wirkung auf die Gemüther,
welche auch zu einer sittlich politischen Macht wird.


Der ganze Jnhalt unserer Kunstlehre erspart uns eine Widerlegung der
R. Wagner'schen Theorie von einer Verbindung sämmtlicher Künste im
Theater, von einem Kunstwerke, das Drama, Oper, Tanz und hiemit
lebendige Plastik, Gemälde und architektonische Schönheit gleichzeitig in der
Art sein soll, daß wenigstens die ersteren dieser Künste zu gleichen Theilen
in der Verbindung wiegen. Jede Kunst hat das ganze Schöne auf ihre
Weise und es gibt daher keine andere richtige Verbindung von Künsten, [1454]
als eine solche, worin entschieden Eine Kunst herrscht, die andere, oder die
andern nur mitwirken; die Verschüttung dieser festen Gesetze ist moderner
Ueberreiz und führt praktisch zum überladenen, phantastischen Opernpompe. ─
Auf die untergeordneten Formen, worin Poesie mit Gesang und Musik
wechselt, die Mischgattungen zwischen Oper und Drama: Melodrama, Singspiel,
Vaudeville konnten wir uns bei dem Umfang der großen Aufgabe
nicht einlassen. ─ Die Musik wirkt denn in dieser Verbindung der Künste
nur als Stimmungsmittel vor und zwischen den Acten, vorbereitend, auflösend
mit. Was die Bühnen-Einrichtung betrifft, so können wir nur im
Ganzen und Großen hervorheben, wie sich der Gegensatz der Style auch
hier ausspricht. Das Tageslicht gehört wesentlich zu dem plastischen
Style der antiken Mimik; das Lampenlicht ist malerisch, wird auf die
Bühne concentrirt und beleuchtet mit berechneter Sammlung der Strahlen
das detaillirende Spiel. Malerisch ist auch die größere Tiefe der modernen
Bühne und ihre vollere Scenerie; die antike kannte nur offene Räume,
diese stellt ebensosehr, ja häufiger innere Wohnräume dar und weist dadurch
Hand in Hand mit der Poesie auf die Ausbildung des Jnnerlichen im
Privatleben. Von den Extremen der Dürftigkeit und des falschen Pomps
auf unsern Theatern ist in Kritik und Aesthetik oft und hinreichend gesprochen.
Uns beschäftigt hier die wesentliche innere Bedeutung einer Anstalt,
welche alle sinnlichen Mittel zusammenfaßt, um den geistigen Gehalt
der Poesie mit der Macht des Augenblicks und den Wirkungen für Auge
und Ohr in tausende von Gemüthern zu werfen. Wir haben schon die
dramatische Poesie an sich als die Spitze aufgefaßt, mit welcher das System
der Künste in sich zurückläuft und seine Gegensätze in erfüllte Einheit zusammenschließt
(§. 895); in ihrer Verbindung mit Schauspielkunst und
Bühne gestaltet sich dieser Zusammenschluß noch spezieller, indem das subjective
geistige Weltbild nicht nur für die innere Vorstellung, sondern auch
für die äußeren Sinne objectiv wird, und auch dieß nicht in unbewegter
Ruhe, sondern mit wirklicher Bewegung und wirklich tönender Sprache.
Da diese nun wesentlich ist, da nicht mehr, wie in der Poesie an sich, die
Schrift genügen kann, so ist das Element der Musik, der Ton, wiewohl
in der veränderten Potenz der Sprache, im eigentlichen Sinne des Worts
mit der Dichtkunst vereinigt, und ebenso, was wichtiger ist, in Architektur
und Scenerie die bildende Kunst mit ihrer eigentlichen Wirkung auf das
äußere Auge. Durch die theatralische Execution des Drama's biegt sich
also die Kunst auf ihrem geistigsten Gipfel auch in dieser unmittelbaren
Bedeutung zu ihrem Anfang, zu ihrer ersten Hauptform um. So entlädt
sich nun hier der höchste Kunst-Jnhalt als Blitz der augenblicklichen, vollen,
ganz geistigen und ganz sinnlichen Wirkung und hiemit öffnet sich wie in
keiner andern Form die Kunst in das Leben. Sie kann nicht weiter innerhalb [1455]
des eigenen, rein ästhetischen Cirkels, sie hat Alles durchlaufen, erfüllt,
zusammengefaßt, sie durchbricht den Kreis und ergießt sich in die Wirklichkeit
des Menschenlebens. Es kann auch hier nicht ihre Absicht sein, direct
sittlich, politisch zu wirken, wenn sie ächte Kunst bleiben will, aber die rein
ästhetische Wirkung des Drama's auf der Bühne läßt ungesucht und mit
innerer Nothwendigkeit unendliche Wirkungen im Menschen und Bürger
zurück, wie kein anderes Kunstwerk, Wirkungen, welche sich durch die Gewalt
der gemeinschaftlichen Erschütterung, die in Einem Momente ganze
Massen durchzittert, in jedem einzelnen Zuschauer so verstärken, als erweiterte
und vervielfachte sich sein Herz um so viele Herzen, als hier gemeinschaftlich
schlagen und pochen. Wenn man von Schiller's Abhandlung:
„Die Schaubühne als moralische Anstalt betrachtet“ die unrichtigen Begriffe
von direct sittlichem Berufe der Kunst abzieht, so bleibt immer noch diese
große Wahrheit zurück. Hier, vor diesem majestätischen Thore, das sich
nach dem wirklichen Leben öffnet, ist das System der Aesthetik zu Ende;
das andere Grenzgebiet, das wir noch zu betreten haben, liegt schon entschieden
außerhalb.

[E1456]

Anhang zur Lehre von der Dichtkunst überhaupt.
Satyrische, didaktische Poesie, Rhetorik.

§. 923.


Außer dem Schritte, wodurch die Poesie schließlich innerhalb der reinen
Kunstsphäre sich mit andern Künsten verbindet, ist nur noch der eine möglich,
wodurch sie sich nach dem fremden geistigen Gebiet öffnet, woran sie am nächsten
grenzt: der Prosa (vergl. §. 848). Es entsteht eine Mischung des Schönen
mit dem Wahren und Guten, welche, obwohl nicht rein ästhetisch, doch von
großer allgemein menschlicher, geschichtlicher Bedeutung ist. Jn keiner andern
Kunst ist dieß Grenzgebiet so ausgedehnt und mannigfaltig.


Die Kunst kann innerhalb ihrer selbst nicht weiter, sie tritt über ihre
Grenze hinaus und geht verschiedene Mischungsverhältnisse mit der scheinlosen,
von der ästhetischen Einheit mit dem Bilde gelösten Jdee, mit der reinen
Darstellung des Wahren und Guten ein. Von anderem Standpuncte, vom
Boden der Prosa gesehen, ist es umgekehrt ein Uebergreifen dieses Gebiets in
das ästhetische, eine Vermählung der nackten Wahrheit mit dem Schönen, eine
Erhebung, wenn man will; „die Fußgängerinn Prosa entlehnt das Fuhrwerk
der Dichtkunst“ (Plutarch V. d. Lect. d. Dichter C. 2). Diese zwei
Auffassungen widersprechen sich nicht, sondern heben sich in den Begriff
eines Entgegenkommens beider Sphären auf; praktisch findet in unbestimmten
Uebergängen bald der eine, bald der andere Standpunct seine Anwendung,
denn bei dem einen Poeten ist es mehr Nachlassen der Dichterkraft, bei
dem andern Aufstreben vom Abstracten zum Anschauungsvollen, was dem
Prozesse zu Grund liegt, durch welchen lehrhafte oder satyrische Erzeugnisse
entstehen. Das Wesentliche ist immer, daß von der Jdee, vom Allgemeinen
aus das Bild gesucht und äußerlich hinzugezogen wird, es gibt aber unendliche
feine Unterschiede der Jnnigkeit oder Aeußerlichkeit im Anklingen und
Mitklingen des ästhetischen Elements und die Grenze, wo das reine organische
Band der Bestandtheile bricht oder die Kraft nicht reicht, es zu [1457]
knüpfen, ist so zart, daß sie nur im Einzelnen am concreten Kunstwerk aufgedeckt
werden kann. Daß wir den Werth der Formen, welche hier noch
zu betrachten sind, darum nicht überhaupt heruntersetzen wollen, weil wir
sie, wenn der rein ästhetische Maaßstab angelegt wird, als blos anhängende
bestimmen, dieß ist bereits in §. 742, Anm. 1. ausgesprochen, wo von den
verwandten Seitenzweigen der Malerei die Rede war, der einzigen Kunst,
welche mit der Poesie den Uebergang in ein gemischtes Grenzgebiet von so
großer Ausdehnung und Fülle theilt. Das ästhetische Urtheil zieht seine
Strenge zurück, sobald nur zugestanden wird, daß das Gemischte eben nur
gemischt ist; das Leben ist reich an Formen und gerne leiht die eine der
andern ihre Mittel. Satyre und Didaktik nebst Rhetorik gehören zu den
gewaltigsten Hebeln des ethischen, politischen Lebens und die Bewegung der
Geschichte wäre ohne sie nicht zu denken. Jhr Wesen und ihre reichen,
gerade durch ihre gemischte Natur schwierigen Formen sind daher der gründlichsten
Untersuchung werth, aber in gesonderter Behandlung oder als Anhang
einer Poetik; die Aesthetik ist durch den großen Umfang ihres Ganzen
zur Kürze genöthigt. Daß aber dieses Gebiet nur einen Anhang der Lehre
von der Poesie, nicht einen Theil derselben bilden kann, bedarf längst keines
Beweises mehr; eher wäre es der Mühe werth, zu erklären, wie es kam,
daß man so lange die grobe logische Sünde der Eintheilungen übersehen
konnte, die das Didaktische und Verwandte dem Epischen, Lyrischen, Dramatischen
coordinirten. Schon der erste Blick zeigt, daß eine Erscheinung,
welche, außer andern, unbestimmteren Formen, wechselnd die Gestalt des
einen oder andern dieser drei Zweige annimmt, nicht einen Zweig neben
denselben bilden kann. Der innerste Grund lag in der Verkennung des
reinen Wesens der Poesie; diese geistigste aller Künste, die als solche am
nächsten an dem Gebiete der Prosa liegt, verbarg dem noch ungeübten Auge
den unendlichen Unterschied des Wahren, das ganz in reinen Schein verwandelt
ist, von dem Wahren, das sich nur nebenher mit dem Scheine
bekleidet. Man sah, wie die Dichtkunst nach allen Seiten vielfacher und
massenhafter, als es irgend einer andern Kunst möglich ist, in dieß gemischte
Gebiet übergeht, und man übersah die feine, aber scharfe Linie, welche auf
allen Puncten dieses Austretens überschritten wird. ─ Uebrigens ergibt sich
nun (vergl. §. 546. 547) eine merkwürdige Parallele mit derjenigen Kunst,
welche, die entfernteste von der Poesie, am Eingange des Systems der
Künste liegt, mit der Architektur. Wie jene mit dem ethischen Gebiete, so
ist diese mit dem des Zweckmäßigen durch die engsten Bande verflochten.
So mündet die Kunst an ihrem Anfangs- und Endpuncte in das außerästhetische
Gebiet: dort erhebt sich ihre Basis auf dem breiten Boden des
praktischen Bedürfnisses, hier streckt sich ihr Gipfel in die Luft der schmucklosen
Wahrheit.

[1458]

§. 924.


Am nächsten der reinen Poesie steht die Satyre. Sie unterscheidet sich
innerhalb ihres allgemein negativen Charakters in eine negative, indirecte und
eine positive, directe. Beide wenden komische Mittel an, die erstere aber erhebt
sich je nach Geist und Stimmung in das Gebiet der rein ästhetischen Komik
(vergl. §. 547). Sie folgt in ihren bestimmteren Bildungen den Gebieten der
reinen Poesie, liebt, wie die verwandte Richtung der Malerei (vergl. §. 742),
die Caricatur und erzeugt auf diesem Wege komische Gegenbilder der großen
Hauptzweige (bei speziellerer Richtung auf die Form Parodie und Travestie).
Die zweite Art der Satyre ist prosaischer und versinkt in das Dürftige und
Gemeine, wenn sie nicht, obwohl zunächst immer auf Einzelnes gerichtet, in das
Allgemeine und Große geht und aus dem Pathos der Jdee fließt.


Wir stellen die Satyre vor das Didaktische, da der Gang, der sich
schrittweise vom rein Aesthetischen entfernt, hier der natürlichere ist. Es
kann nicht auffallen, wenn der Grund ihres engeren Verhältnisses zur
ächten Poesie in die Negativität ihres Verhaltens gesetzt wird; denn negativ
ist seinem Wesen nach das ganze Gebiet der komischen Dichtung, an welches
sich die Satyre lehnt, sofern alles Komische das Bewußtsein des wahren Verhältnisses
von Jdee und Bild aus dem schlagenden Widerspruche seiner Verkehrung,
also durch eine Negation erzeugt. Der Unterschied, wie er schon bei
Betrachtung der Caricatur in der Malerei (§. 742, Anm. 1.) hervorgehoben ist,
beruht darin, daß die Phantasie in Erzeugung des rein Komischen dennoch
naiv, harmlos zu Werke geht, also das Verfahren positiv ist, während die
Satyre, geführt von stoffartigem Unwillen gegen die verkehrte Wirklichkeit, an
die sie mit Bewußtsein den Maaßstab der Jdee hält, auch in der Grundstimmung
ihres Verfahrens negativ ist. Hier aber macht sich ein Unterschied
geltend: eine im engeren Sinne negative Form stellt sich mit entschiedenem
Anspruch auf höheren poetischen Werth neben eine solche, die,
unbeschadet der negativen Natur des ganzen Gebietes, also nur beziehungsweise
positiv verfährt und prosaischer ist. Man bezeichnet den Unterschied
gewöhnlich als den der lachenden, harmlosen und der strafenden, scharfen
Satyre. Der Sprachgebrauch ist nicht passend; die negative oder indirecte
Satyre ist immer gewaltsamer, als es scheint, und geht zu sichtbar gewaltsamer
Form über, und die directe, positive Satyre kann auch mild predigen.
Es fragt sich nun, wie und warum die erstere der reinen Komik näher
steht. Zunächst, wenn man nicht die Grenze zwischen dieser und der
Satyre verwischen will, muß man als das Spezifische der letzteren jene
Grundlage des Unwillens, der Bitterkeit gegen die Welt, die dem Maaßstabe
der Jdee widerspricht, die unpoetische Grundstimmung festhalten. So [1459]
ist ein Schelten und Schimpfen auf das griechische Leben, wie es geworden,
der Grundzug der Aristophanischen Komödie, so beginnt J. P. Fr.
Richter mit Ergießung Swift'scher Galle. Dieß Aussprechen der Bitterkeit
ist eigentlich positive, directe Satyre, allein bei ruhigerem, objectivem
Ueberblick und reicher Begabung entwickelt sich von solchem Ausgangspunct
eine andere Form des Verhaltens. Die Jdee, der Maaßstab der Dinge,
wie sie sein sollen, wird nicht mehr ausdrücklich fixirt und für sich hingestellt,
sondern als eine verhüllte Macht, als verschwiegen wirkende Folie
den Dingen untergeschoben; nun wird nicht mehr direct gesagt: so sollte
die Welt sein und so ist sie doch nicht, sondern die geschilderten Gegenstände
selbst müssen dieß durch ihre Widersprüche, ihre Mißgestalt bekennen. Hier
verändert sich denn Grundstimmung und Verfahren. Jene ist nicht mehr
die ausschließlich bittere, denn dem Unterschieben liegt ein Gefühl der
Wahrheit zu Grunde, daß doch wirklich die Macht der Jdee selbst in der
argen Welt nicht zu Grunde gehen kann; wie tief der Zorn und Aerger
sein mag, er wendet sich doch unwillkürlich zum freieren, unbefangeneren
Lachen; er ist geneigt, das Böse für Thorheit zu nehmen, wie die ächte Komik;
das Verfahren, die Darstellung wird anmuthig, leicht, spielend, liebenswürdig,
nachläßig, geht in das objective Verfahren über, gibt ein Weltbild,
und dieß wirkt wieder zurück auf die Stimmung, denn der Dichter muß Liebe
für seine Narren gewinnen, wenn er in längerer Beschäftigung, wie sie
ein ausführlicheres Gemälde, z. B. die bestimmte Form des Romans mit
sich bringt, mit ihnen umgeht. Nur darf man immer nicht ohne Weiteres
von Harmlosigkeit reden, denn mag auch das ganze Bild mit Liebe gepflegt
sein, die Bitterkeit und das Schelten bricht doch im Einzelnen herb
genug durch. Die Satyren des Horaz gehören der sogenannten lachenden
Form an, aber von durchgehender freier Komik ist doch auch hier nicht die
Rede. Ein Hauptmerkmal des Unterschieds von der freien Komik ist
nun immer die Neigung zum Uebertreiben, zur Caricatur. Der Prozeß,
welcher dem Wirklichen die Jdee als Folie unterlegt, hat im rein Komischen
nicht ebenso nothwendig diese Wirkung, weil es nicht von derselben bewußten
Schärfe der Entgegensetzung ausgeht. Auch die lachende Satyre faßt
die Wirklichkeit hart und gewaltsam mit dem Maaßstabe der Jdee an und
zwingt sie, ihre Verkehrtheit durch Ueberladung des Häßlichen zu bekennen;
auch die Sittengemälde eines Horaz sind Caricaturen. Wie die Malerei
(vergl. §. 742, 2.) steigert nun auch die Poesie diese Form bis zum phantastisch
Ungeheuren. Die wild gährende Phantasie eines Rabelais und Fischart
gibt eine Anschauung davon. Aristophanes ist trotz seinem phantastischen
Bilden nicht ebenso frazzenhaft, ordnet seine grottesken Schöpfungen zu
gerechten Kunstwerken und erhebt sich daher von der Grundlage der satyrischen
Caricatur unzweifelhafter zur reinen Komik. Ein anderer Zug der [1460]
Satyre im Unterschiede von der ächten Poesie ist ihre Neigung, einzelne
gegebene Formen und Erzeugnisse der Poesie in's Komische zu ziehen, sei
es durch Unterschiebung eines kleinen Subjects unter die Prädicate des
großen und heroischen im parodirten, sei es durch Belassung des Subjects
und Vertauschung der großen Prädicate mit kleinen und ungereimt
modernen im travestirten Originale. Der ächte Komiker beschenkt statt
dessen die Literatur mit einer neuen Form: Cervantes parodirte oder
travestirte, wie wir schon zu §. 882 hervorgehoben, nicht die Ritter=
Romane, sondern schuf in seinem ironischen Bilde des Zusammenstoßes der
ritterlichen Romantik mit der wirklichen Welt den modernen, realistischen
Roman. Gerade die Geschichte des Romans zeigt übrigens belehrend die
mancherlei Uebergänge zwischen Satyre und Komik. So erschien in Deutschland
manches Satyrische in Romanform gegen den puritanischen Geist
der Romane nach Richardson, gegen den Jdealismus Klopstock's, gegen
Physiognomik, gegen Geniewesen, Orthodoxie, Excentricität aller Art, bis
diese unreifen Bildungen unter wachsendem Einfluß der englischen Humoristen,
welche selbst von der Jronie gegen Richardson's absolute Tugendmuster
ausgegangen waren, in J. P. Fr. Richter einen relativen, an
unzweifelhaft ächter Komik jedenfalls reichen Abschluß fanden. ─ Hiemit
sehen wir bereits, wie die Satyre den Zweigen der reinen Poesie folgt,
zunächst dem epischen. Das komische Epos, das nichts als eine Parodie
oder Travestie der Gattung ist, haben wir bereits hieher verwiesen. Das
Lyrische muß einem Verhalten, das am liebsten mit wiederholten einzelnen
Stichen sich gegen die Welt wendet, natürlich eine besonders angemessene
Form sein. Daß die Lyrik der Betrachtung und in dieser vorzüglich das
Epigramm ihr natürlicher Boden ist, ergibt sich von selbst, aber darum
ist ihr doch das leichte Lied nicht verschlossen; je mehr sie sich allerdings in
dessen Ton versetzt, um so mehr erhebt sie sich auch in den Humor. Ein
schönes Beispiel hievon sind Göthe's „Musen und Grazien in der Mark“;
man sieht hier recht, welche freie Leichtigkeit in dieser Hand Alles, selbst
die harte Waffe des Spottes, gewinnt. Das politische Spottlied muß
freilich schwerer wiegen, doch gibt es auch hier einen reichen Unterschied
von Formen bis zu der Heiterkeit der ächten Komik. Zum Dramatischen
kann die der Satyre beliebte Gesprächsform gezogen werden. Lucian hat
das Muster gegeben, wie man das Ausgelebte und Verkehrte in eigener Person
auftreten und in der Dialektik der Wechselrede seine inneren Widersprüche
naiv bekennen lassen muß; Horaz geht vielfach in diese belebte Form über.
Das sechszehnte Jahrhundert hat sie rüstig aufgenommen; wir erinnern
nur an U. v. Hutten's Gespräch: die Anschauenden. Auch die Briefform
nähert sich, wenn sie verschiedene Personen auftreten läßt, dem Dramatischen;
Meisterwerk für alle Zeit bleiben die Epistolae obscurorum virorum. Je [1461]
mehr sich aber die Satyre zum eigentlichen Drama entwickelt, desto mehr
ist ihr der Aufschwung zum ächt Komischen gesichert, ja mehr noch, als im
Epischen, weil die Selbstverwandlung des Dichters in seine Personen ihn
entschiedener aus dem Standpuncte der Entgegensetzung gegen die Welt, der
seine Grundlage bildet, in die Trunkenheit des wirklichen Humors hineinreißt.
Auf Aristophanes haben wir in dieser Beziehung schon öfters hingewiesen.


Die directe oder positive Satyre hält das Jdeal ausgesprochener Maaßen
an den Gegenstand, zeigt dessen Schlechtigkeit in offenem Angriff auf und
gehört also entschiedener dem Boden der prosaischen Trennung zwischen der
Jdee und der Welt an. Sie verfährt daher auch meist monologisch, tritt in
Briefen, Abhandlungsform u. dergl. in der eigenen Person auf. Es ist
damit zugleich gesagt, daß, wie in der Stimmung die freie Heiterkeit, welche
ihre Narren liebt und geneigt ist, das eigene Jch unter den komischen
Widerspruch zu subsumiren, so im poetischen Acte die Objectivirung nicht
eintritt; daher in Vergleichung mit den Zweigen der Poesie nur eine Verwandtschaft
mit dem Lyrischen übrig bleibt. Die directe Satyre wäre daher
überhaupt nicht ästhetisch, sondern ethisch, wenn sie nicht im Einzelnen
komischer Mittel, natürlich im Wesentlichen des Witzes, sich bediente, und
da die objectivste Form des Witzes die Jronie ist (vergl. §. 201─204), so
folgt, daß ihr Verfahren, wenn sie zu dieser greift, am nächsten an die
höhere und freiere Natur der indirecten Satyre grenzt. Das Lob der Narrheit
von Erasmus und die ironischen Abhandlungen von Liscow mögen
als Beispiele genannt werden. Allein hier schwächt sich auch die praktische
Gewalt einer Aeußerung des Geistes ab, die als beißendes Salz der trägen
Masse des geschichtlichen Lebens unentbehrlich ist. Verdorbene Zustände
wollen nicht mit der versteckt lachenden Jronie, sondern mit der äzenden
Schärfe einer gründlichen Erbitterung bearbeitet, durchbohrt sein, der ästhetische
Standpunct weicht dem ethischen, dem das Verhüllte zu matt, zu schwächlich
ist. Fortgesetzte Jronie ist daher etwas Veraltetes, ist Rokoko, wir
ertragen das schleppende Hinterhalten nicht mehr. Es versteht sich, daß, je
mehr bei diesem positiv satyrischen Verhalten der ästhetische Standpunct hinter
den ethischen zurücktritt, desto ausdrücklicher ein reiner Haß gefordert werden
muß, der aus der Jdee fließt: „die Abneigung könnte auch eine blos sinnliche
Quelle haben und lediglich in Bedürfniß gegründet sein, mit welchem
die Wirklichkeit streitet, und häufig genug glauben wir einen moralischen
Unwillen über die Welt zu empfinden, wenn uns blos der Widerstreit derselben
mit unserer Reigung erbittert; ─ die pathetische Satyre muß jederzeit
aus einem Gemüthe fließen, welches vom Jdeale lebhaft durchdrungen ist“
(Schiller Ueber naive und sentim. Dichtung. Werke B. 18, S. 252. 254).
Die Satyre hat von einem durchaus persönlichen, wilden Schimpfen und [1462]
Schelten in der jambischen Poesie der Griechen (Archilochos) ihren Ausgang
genommen; als eine Art von Vorübung für die Komödie hat das seine
natürlichen Wege, aber fixirt, wie in den späteren Satyren der Jtaliener
und in den Gemeinheiten eines Murner, wird es abscheulich. Nicht die
Einzelheit, Persönlichkeit des Objects ist das Verwerfliche; was packen will,
muß einen greiflichen Gegenstand haben, und soll der Gegenstand gründlich
durchbeizt und durchpfeffert werden, so kann der Satyriker nicht genug spezialisiren,
auch die Farben mögen grell sein, wenn nur das Häßliche nicht die
furchtbare Erdenschwere behält, wie in einem Juvenal. Das Wesentliche
aber ist, daß das nächste Object immer nur der Punct sein soll, an welchem
ein allgemeines Uebel angefaßt wird, und wir werden den Satyriker um
so mehr achten, wenn dieses Uebel zugleich mit Macht bekleidet ist, wenn
es Muth fordert, es zu bekämpfen. ─ Die Satyre fällt im Ganzen und
Großen naturgemäß in Zeiten der Auflösung; die späte Zeit Roms und
das sechszehnte Jahrhundert, dieses freilich so viel frischer und von Morgenluft
bewegt, waren ihre Blüthe-Perioden.

§. 925.


1.

Der eigentlich didaktischen Poesie gehen mit dem Charakter ungeschiedener
Ursprünglichkeit in Epos und Drama Erzeugnisse voran, welche den
2.Lehrgehalt als religiöse Thatsache aussprechen. Jn ausgebildeter Gestalt schließt
sie sich an die epische Dichtung als Beispiel, Parabel, Fabel und beschreibendes
Gedicht.
Die naivste unter diesen Formen, verwandt mit
3.dem Thier-Epos, ist die Fabel. Zu der lyrischen Dichtung gesellt sich die
lehrende Ballade und Romanze, das Spruchgedicht oder die Gnome,
Sprichwort, Näthsel,
zu der dramatischen der lehrhafte Dialog und alle
4.die Formen, welche den Charakter pathetischer Monologe tragen. Daneben
breitet sich ein unbestimmtes Gebiet aus, das bereits der prosaischen Abhandlung
verwandt ist und seinen Zusammenhang mit der Poesie nur durch Schilderungen
des Naturschönen rettet, durch die es mehr oder minder dem beschreibenden
Gedichte sich nähert: das eigentliche Lehrgedicht.


1. Wir haben die Theogonie und das ursprüngliche religiöse
Epos,
das vor der Ausbildung der Kunstpoesie liegt, nicht in der Lehre
von der epischen Dichtung, die gottesdienstlichen Acte, aus
denen das griechische Drama hervorgieng,
die Mysterien des
Mittelalters und die religiösen Dramen der Spanier, die zwar der Kunstpoesie
angehören, aber doch von jenen naiven Anfängen sich ableiten, nicht
in der Lehre von der dramatischen Dichtung als bleibende Arten aufgeführt.
Darstellungen des absoluten Religions-Jnhalts in Form von Ereigniß, [1463]
Handlung, Leiden, kurz reiner Mythus, nicht blos eingewoben in menschliche
Handlung und Leiden, sondern als eigentlicher und wesentlicher Stoff, ist
niemals ungemischte Poesie, sondern Lehrpoesie. Es verhält sich anders in
der bildenden Kunst, hier ist das Vorführen der göttlichen Personen ein
lebendiges Motiv, um rein und allgemein Menschliches darzustellen, weil
es mit der sinnlichen Erscheinung Ernst wird; in der Poesie dagegen, wo
das Anthropomorphische nur durchsichtige Vorstellung bleibt und doch die
Gestalt in durchgeführte Handlung gesetzt wird, fällt hier die überzeugende
Kraft der Lebenswahrheit weg; diese kann einem Ganzen von
fast lauter transcendenten Gestalten und Begebenheiten nicht zukommen,
menschliche Sympathie ist nicht möglich, wo es keine Schuld, kein eigentliches
Glück und Unglück gibt, und wo diese nicht möglich ist, bleibt nur
das Verhältniß des Bewußtseins zu reinen Jdeen, die ihm unter poetischer
Hülle eingeprägt werden. Freilich aber ist bei diesen primitiven Erscheinungen
des religiösen Epos der Unterschied von eigentlicher Lehrdichtung nicht minder
einleuchtend: ehrwürdiger, fester Glaube hält die großen Wahrheiten noch
unbefangen in sinnlicher Form fest und ist wirklich überzeugt, Thatsachen,
Geschichte und Handlung vorzutragen, zu vernehmen. Es ist dieß der
Antheil der Phantasie an der Religion, durch welchen diese die zweite Stoffwelt
schafft (§. 416 ff.), und darin eben ruht die innigere Verwandtschaft
dieser altehrwürdigen Lehrpoesie mit der ächten Dichtkunst; der Unterschied
aber liegt, wie gesagt, darin, daß diese niemals die zweite Stoffwelt ohne
die ursprüngliche gibt und immer irgend einen Grad von ästhetischer Lockerung
des unfreien Scheins voraussetzt (vergl. §. 417. 418).


Die eigentliche Lehrpoesie dagegen hat entweder bei übrigens phantasieloser
Bildung den unfreien Schein in religiösen Dingen behalten, aber
auf Verstandsgründe gestützt und das ist ebenso gut, wie wenn sie ohne
diesen prosaisch geretteten Phantasie-Antheil bildlose Wahrheit vortrüge,
oder sie hat ihn aufgehoben und dann tritt eben der letztere Fall ein, die
Zuthat der Phantasie aber legt sich nachträglich an den so getrennten und
für sich bewußten Gehalt. Eine genauere Erörterung der Hesiodischen
Theogonie und des Verwandten in der griechischen Literatur gehört nicht
hieher; dieselbe hätte übrigens Alles, was die orientalischen Religions-Urkunden
von ausdrücklich und zusammenhängend vorgetragener Götterlehre,
Göttergeschichte enthalten, ebenfalls zu berücksichtigen. Aus der nordischen
Welt reihen sich daran die Edda-Lieder mythischen Jnhalts und aus der
althochdeutschen die Evangelien-Harmonien Otfried's und die altsächsische,
der Heliand. Dante, Milton, Klopstock dagegen gehören der Kunstpoesie an
und sind in der Darstellung der Formen des Epos beleuchtet worden, es
weisen aber die Bemerkungen in jenem Zusammenhang herüber in den Begriff
des Gebietes, in welchem wir uns nun befinden. So hat denn auch [1464]
das Drama ursprünglich vermeintliche Geschichte, absolute Geschichte, Glaubensgehalt
als Thatsache dargestellt und das moderne Schauspiel ist aus den
Mysterien, wie das antike aus den Dionysischen Fest-Aufführungen, hervorgegangen;
die geistlichen Dramen der entwickelten Kunstpoesie aber, wie sie
eigentlich nur in Spanien (vidas de Santos und autos sacramentales) geblüht
haben, weben zwar den christlichen Mythus in menschliches Leben, Schuld
und Schicksal ein, entziehen aber diesem die rein menschliche Wahrheit und
Sympathie und sind wirklich Nachkommen der Mysterien bei einem bigotten
Volke, die keine Stelle in der Lehre von der Poesie als ächte, des Bleibens
werthe Formen finden können. Wir haben sie bereits als Spezialitäten bezeichnet.
─ Eigentlich könnten wir nun zu der elementarischen, großartig unbefangenen
Lehrpoesie auch das aus den dunkeln Zeiten vor der Kunstdichtung
überlieferte Gnomische, alle poetisch vorgetragene, noch immer an den religiösen
Glauben geknüpfte ethische Wahrheit ziehen: einen Theil der sogenannten
Orphischen Poesie, die Sprüche der sieben Weisen, das entsprechende Orientalische,
wie es in poetischer Spruchform sich durch die Religionsbücher der
Jnder und Perser zieht, älteste deutsche Spruchweisheit; allein wo immer
Lebenswahrheit, nicht oder nur als Hintergrund der Anlehnung vermeintliche
Thatsache vorgetragen wird, ist die wirkliche Scheidung von Jdee und Bild
vorhanden und spricht sich denn auch in der Zerstücklung des Vorgetragenen,
der Einzelheit der Sätze aus.


2. Wir haben schon bei der Satyre gesagt, daß es mancherlei Stufen
und Mischungsformen zwischen den beiden Enden: der organisch bildenden
Phantasie und dem die ästhetischen Elemente nur äußerlich verknüpfenden
Verfahren gibt. Die didaktische Poesie geht immer vom geistigen Jnhalt
aus und von da erst zum Bilde fort; sie unterscheidet sich von der satyrischen
dadurch, daß sie zwar voraussetzt, das Leben entspreche noch nicht dem,
was es sein soll, der Jdee, aber es bei der bloßen Voraussetzung beläßt,
nicht die Anschauung des Verkehrten und Erbitterung darüber zu Grunde legt.
Es fehlt ihr daher die Leidenschaft, welche die Phantasie zu jenem negativen,
komischen Acte aufbietet, den wir kennen gelernt haben; aber von der einen
Seite belebt sich ihre größere Nüchternheit durch die Wärme der Ueberzeugung
und Gesinnung, von der andern kann leicht und unbefangen ein
Anschauungsbild an die Jdee, welche den Lehrgehalt bildet, anschießen und
innig damit zusammenwachsen, so daß die Lehre als das posterius erscheint,
das nur so von selbst aus der Anschauung hervorspringt. Dieß liegt denn
am reinsten vor in den Formen, die sich an die epische Dichtung anschließen.
Das Beispiel (nicht im mittelhochdeutschen Sinne, wo es Fabel und
jede didaktische Erzählung bedeutet, sondern im gewöhnlichen modernen Sprachgebrauche
verstanden,) bringt zum Beleg einer Wahrheit einen Fall, eine
Erscheinung aus dem Leben ohne Fiction herbei, worin diese Wahrheit real [1465]
geworden ist oder immer auf's Neue wird; es gehört eigentlich ganz in
die Prosa und wird hier nur erwähnt als belehrende Stufe der Leiter, die
von da zur Parabel und Fabel führt. Jdee und Bild fallen in dieser einfachen
Form gar nicht und ebensosehr ganz auseinander: gar nicht, weil
die angeführte Erscheinung eigentliche Wirklichkeit der vorgetragenen Wahrheit
ist, ganz, weil diese Wahrheit in unbestimmt vielen andern Erscheinungen
ebenfalls wirklich ist, woraus sogleich folgt, daß doch die Wahrheit,
der allgemeine Begriff und das zu seinem Belege beigebrachte Einzelne sich
nicht decken, denn sind deren viele, worin jener realisirt ist, so sind es auch
vielerlei (verschieden nicht wie Jndividuen einer Gattung, sondern Jndividuen
aus verschiedenen Gattungen), so sind in ihnen auch noch andere
Wahrheiten wirklich; die Güte eines Beispiels besteht nur darin, daß die
vorgetragene Wahrheit den wesentlichsten unter den Zügen des angeführten
Wirklichen bildet. Die Parabel dagegen fingirt einen Hergang für
ihren Zweck, hebt als Band zwischen ihm und der Wahrheit, die sie vortragen
will, das tertium comparationis heraus und knüpft an dieses die letztere.
Hat sie sich ihren Fall erfunden, so ist er eben ganz auf dieß tertium angelegt,
und daß in solchem Hergang auch noch andere Gesetze, Wahrheiten
liegen können, geht sie gar nichts an. Der Zusammenhang zwischen Jdee
und Bild ist daher loser, als im Beispiel, aber loser im Sinne des Freien, was
sich das zweckmäßigste Anschauungs-Bild selber mit Phantasie schafft, und
ebendadurch straffer. Die Parabel ist demnach eigentlich ein Gleichniß, aber ein
entwickeltes, zur Erzählung ausgebildetes, episch gewordenes Gleichniß und
diese Entwicklung hat ihren Grund darin, daß die vorzutragende Lehre nicht
einfach, sondern vielseitig ist, eine Reihe von belegenden Momenten, eine
Reihe von Vergleichungspuncten fordert (vergl. Babrios Fabeln übersetzt,
nebst einer Abhandlung über die Fabel u. s. w. v. W. Hertzberg S. 93 ff.).
Es ist in der Sache begründet, daß der Parabeldichter am liebsten einen
Vorgang aus der Menschenwelt erdichtet, weil er hier die reichsten Vergleichungspuncte
für seinen vielseitigeren Lehrgehalt findet. Dieser bewegt
sich weniger im untergeordneten Gebiete der Lebensklugheit, als in dem
hohen und ernsten der Ethik; die Parabel ist eine Bilderschrift, welche kindlichen
Menschen erhabene und ehrwürdige, auf die Religion gegründete
Wahrheiten des sittlichen Lebens einprägt und ihren frischen Geist durch
die einleuchtende Zweckmäßigkeit erfreut und erfaßt. Der Lehrgehalt wird
direct ausgesprochen: „das Himmelreich ist gleich“ u. s. w.; der Parabel=
Erzähler gesteht offen, daß das Bild blos Mittel ist; Nathan in der Parabel
von den drei Ringen thut es zwar nicht ausdrücklich, aber es liegt im
Anlasse, daß der Lehrzweck seiner Erzählung kein Geheimniß ist. ─ Jn der
Fabel nun scheint auf den ersten Blick das Verhältniß zwischen dem Bild
und dem Gehalte viel lockerer zu sein, als in der Parabel. Das Gleichniß [1466]
wird auch in ihr zur Erzählung, diese aber ist Fiction in viel engerem
Sinne, denn sie leiht der unbeseelten Natur, Pflanzen, Bergen, Gewässern,
einzelnen Organen des Körpers, vor Allem aber der Thierwelt Bewußtsein,
Vernunft, Sprache und verlegt so Handlung in ein Gebiet, wo es nach
Naturgesetzen keine gibt, freilich eine Handlung, die dem beobachteten Charakter
der Naturwesen entspricht. Producte der menschlichen Kunst treten ebenfalls
auf und werden wie beseelte Naturwesen aufgefaßt. Lehrhafte Fiction auf
Grundlage der Naturbeobachtung ist also das Wesen der Fabel, nicht blos
der Aesopischen, sondern der Fabel überhaupt. Daß auch geisterhafte Gestalten,
Riesen und Zwerge, Götter, allegorische Personen auftreten, ändert
nichts an diesem Charakter, denn sie werden in diesem Zusammenhange
ganz ähnlich wie typisch einfache Thiercharaktere verwendet; daß sich die
Fabel in Sammlungen jederzeit mit Parabeln gemischt hat, welche mit
ihr unter Einem Namen befaßt werden, kommt nur von der nahen Verwandtschaft
beider Formen und der Ungenauigkeit gewöhnlichen Sprachgebrauchs.
Die Fabel vereinigt also Wunderbarkeit und Natürlichkeit. Die
erstere Eigenschaft scheint denn eine Absichtlichkeit des Bildes, eine Aeußerlichkeit
seiner Beziehung zu seiner Jdee, einen Verlust an Einfachheit und schlichter
Angemessenheit in Vergleich mit der Parabel zu begründen. Allein umgekehrt:
der Vergleichungspunct ist durch die geläufige Einfachheit und Entschiedenheit
der Züge, die von dem Naturwesen entlehnt werden, namentlich
die schlechthin einleuchtende Analogie der allbekannten Thiercharaktere zu
menschlichen Eigenschaften, Gesinnungen, so ganz schlagend, daß er mit
voller Ungesuchtheit hervorspringt. Es ist nur ein unmerkbarer Ruck, der
das Menschenähnliche zum Scheine des wirklich Menschlichen erhebt, ein
augenblickliches scheinbares Ernstmachen aus einer Unterschiebung, die jedes
lebendigen Menschen Phantasie leicht und gern mit den Naturgebilden vornimmt,
am meisten die kindliche, und der Fabel gehört ursprünglich ein
Auditorium, das wie die Kinder gewohnt ist, Bäume, Steine, Flüsse, Tische,
Messer und Gabel, Fuchs und Wolf sprechen zu lassen. Es ist nichts zu
verwundern, es versteht sich von selbst. Die Beziehung der vertrauten und
einleuchtenden Eigenschaften der Naturwesen auf das tief verwandte Menschliche
liegt nun eben schon in diesem Rucke zum scheinbar wirklich Menschlichen;
der Dichter braucht daher die Moral gar nicht herauszustellen, sie
wird, wenn er richtig und lebendig erzählt, in der Handlung selbst von den
Acteuren ausgesprochen. Ja die Lieblichkeit und der Humor der Erzählung
gewinnt unter der Hand ein Jnteresse für sich, einen selbständigen Werth,
und die Fabel, indem sie mit dem Lehrzwecke spielt, hebt sich dadurch näher
an die selbständige Poesie. Es hängt aber die Entbehrlichkeit des Epimythions
noch anders zusammen: die Fabel stand ursprünglich nicht für sich,
sondern gehörte dem Leben an, wurde bei Anlaß einer Situation, einer [1467]
Thatsache vorgetragen (Fabel des Menenius Agrippa) oder war Theil eines
größeren Gedichts und dieser Zusammenhang gab von selbst die Beziehung,
den Sinn (vergl. Hertzberg a. a. O. S. 128, dessen scharfsinniger Untersuchung
wir überhaupt in diesen Erörterungen folgen). Erst die historische
Aufbewahrung, die Nachahmung in der Kunstpoesie hat sie vereinzelt, ihr
diese Beziehung genommen und dafür das ausdrückliche fabula docet aufgedrängt.
Dadurch ist sie zugleich um ihren Grundzug, die Naivetät gekommen
und selbst Lessing konnte epigrammatische Kürze mit kindlicher Einfachheit
verwechseln. Es mag eine witzige, pointirte, satyrische Fabel berechtigt
sein, aber sie ist ein später, moderner Ableger der wahren. Diese ist Eigenthum
des frischen Auges, das die Natur liebevoll und unbefangen belauscht,
das Thierleben nicht in der Studirstube, sondern in Wald und Feld, Stall
und Hof beobachtet hat. Die Fabel ist im besten Sinne ein Stück rechter
Bauern-Poesie. Daher ist sie auch nicht eigentlich ethisch; die Bauernklugheit
entnimmt praktische Sätze, Regeln des Lebensverstands aus dem verwandten
Naturleben, namentlich aus dem Egoismus, der Sinnlichkeit, der
List des Thieres. ─ Parabel und Fabel sind demgemäß von so ursprünglichem
Charakter, daß wir sie zu jenen unbefangenen, altehrwürdigen Urformen
der Lehr-Poesie hätten stellen müssen, wenn sie nicht doch durch die
Jsolirung einer einzelnen Lebenswahrheit sich von einem Gebiete sonderten,
das noch im großen, monumentalen Zusammenhange des mythischen Glaubens
und seiner Phantasiewelt liegt. ─ Auf einen größeren Zusammenhang
anderer Art weist allerdings die Fabel hin. Dieß ist die Thiersage.
Sie belauscht die Thiere und hebt wie die Fabel das Menschenähnliche ihres
Thuns in die Form des wirklichen Bewußtseins, der Sprache, allein sie hat
nicht daneben den Menschen im Auge, um, was sie an den Thieren beobachtet,
nun mit Lehr-Absicht auf ihn zu beziehen, das Jnteresse bleibt ihnen
ungetheilt und sie werden zu freien, selbständigen Wesen, Personen für sich,
wie in der Heldensage die Helden, daher auch mit Eigennamen, die ursprünglich
Charakterbezeichnungen sind, wie diese ausgestattet. Es ist daher natürlich,
daß die Hauptpersonen freie Waldthiere sind, Raubthiere von fest ausgesprochenem
typischen Charakter, und die Thiersage weist auf die ältesten
Zeiten des deutschen Volkes, dem sie ausschließlich eigen ist, auf frisches
Wald- und Jägerleben zurück, das „die Heimlichkeit der Thierwelt“ belauschte,
sie athmet „Waldgeruch“ (J. Grimm. Reinhart Fuchs Einl.). Nun kann
aber der Mensch, der ein so nahe Verwandtes in der Natur liebend
beobachtet und dichtend umbildet, nicht völlig sich selbst neben dem Gegenstande
vergessen; er kann nicht dauernd in das Thier den Menschen ganz
hineinsehen; der Mensch ist außerdem noch da und die Hinüberziehung
muß eintreten, es muß einleuchten, daß ja dieß Alles ein sprechendes Bild
des Menschenlebens ist; das Bewußtsein der Beziehung wächst mit dem [1468]
Verfolgen, dem Ausspinnen der einzelnen Abenteuer und endlich springt ─
nicht Lehrabsicht wie in der Fabel, aber Satyre als Bedeutung des Ganzen
hervor, Satyre von jener negativen Art, die nur im Sinne der untergelegten
Folie verfährt. Die Thiersage steht ursprünglich nur an ihrer Schwelle, sie
bewegt sich aber nach und nach nothwendig über dieselbe; das Ausspinnen
äußert sich zugleich als der Trieb, ein zusammenhängendes satyrisches Weltbild
zu schaffen, daher ein Zug zur Verbindung der einzelnen Erzählungen,
der ganz wie in der Heldensage endlich zu einem Epos führt. Dieß Epos
ist denn die vollendete Jronie des Heldengedichts, ein Bild der Welt, wie
sie ist, wenn man das Gewissen daraus wegläßt, ein Streit der allgemeinen
Selbstsucht, worin die listigste jede andere überholt. Seine Vollendung fällt
natürlich in eine ungleich spätere Zeit, sie fällt zusammen mit der Epoche,
da die Nation jenes bittere Ding, das wir Erfahrung nennen, um eine
Welt von Jllusionen erkauft und da sie begriffen hat, was eigentlich Politik
und was Pfaffenthum ist, da „Reineke Fuchs wirklich zum Kanzler des
Reichs geworden ist“ (Rosenkranz Gesch. d. deutsch. Poesie im Mittelalter
S. 611). Es ist eine etwas schwierige Frage, wohin man das Thier-Epos
stellen soll: in die Lehre vom Epos, von der Satyre, oder neben die Fabel.
Nur die innige Verwandtschaft des bildlichen Stoffes entscheidet uns für
die letztere Anordnung. Vermöge derselben ist es nur natürlich, daß sich
Fabeln unter den Thiersagen finden, ja es fragt sich, ob die Fabel nicht
eine degenerirte, didaktisch gewordene, zerstückelte Thiersage sei, wie J. Grimm
annimmt; sie ist aber wohl vielmehr ursprünglich eine selbständige Schwester
derselben. ─


Aus diesen uralten, ursprünglichen Gebieten führt uns nun ein freilich
rascher Sprung, wie ihn die Mannigfaltigkeit der Formen in diesem gemischten
Gebiete mit sich bringt, zu dem beschreibenden Gedichte. Es
blühte im achtzehnten Jahrhundert, als die Poesie mit allen Kräften nach
der Natur, nach der Anschauung drängte, aber das Grundgesetz, daß sie
nicht malen darf, als hätte sie ein räumlich Festes vor sich (vergl. §. 847),
noch nicht begriffen hatte. Nun gab man Naturschilderungen ohne Handlung;
hiemit war der ideale Gehalt in das unorganische Verhältniß gestellt,
daß er nicht als immanente Bewegung in den Darstellungsstoff selbst eindrang,
daher als Lehre neben denselben treten mußte, und so kann keine Frage
sein, daß Werke wie Thomson's Jahreszeiten, Brocke's irdisches Vergnügen
in Gott, Haller's Alpen, Kleist's Frühling in das didaktische Gebiet gehören,
und zwar des objectiven Charakters der Schilderung wegen in dessen
epische Sphäre. ─ Noch ist kurz ein Ausläufer der Poesie nach einer andern
Art der Prosa, nämlich der historischen Wahrheit zu erwähnen: die
Reimchronik, ein Werk der Kindheit der Geschichtschreibung im Mittelalter;
die Geschichte ist mit der Sage vermischt und ladet so zur Bearbeitung [1469]
in Versform ein. Von dem Verhältnisse der reifen Kunst der Geschichtschreibung
zur Poesie ist in §. 848, Anm. die Rede gewesen.


3. Andere Formen der didaktischen Dichtung schließen sich dem Lyrischen
an und am nächsten der ächten Poesie stehen offenbar die erzählenden lyrischen
Formen, die bei unverhülltem Lehrzweck doch den indirecten Weg einschlagen,
die Lehre in den Körper des Stoffes, etwa als Ausspruch in den Mund
einer handelnden Person zu legen. Welcher Anmuth die didaktische Dichtung
fähig ist, wie verkehrt es wäre, ihren Werth zu verkennen, wenn er nur an
seinen Ort gestellt ist, zeigen so treffliche lehrende Balladen oder Romanzen,
wie Göthe's Schatzgräber, Schiller's Theilung der Erde, Pegasus im Joche.
Der Zauberlehrling neigt entfernt zum Didaktischen; es gibt unendliche
Uebergänge. Dagegen dehnt sich nun das weite Gebiet des direct Didaktischen,
das dem Lyrischen parallel läuft, in dem einfachen, unmittelbaren
Aussprechen und Hinstellen ethischer, überhaupt praktischer Wahrheit, wobei
das ästhetische Element nur als Gleichniß, Metapher u. s. w. seine dienende
Rolle spielt
Note: Metapher als ästhetisches Mittel der didactischen Dichtung : es ist das Gnomische, herausgenommen aus seinem Verhältniß
als bloßes Moment im Lyrischen (vergl. §. 885, 1.): Spruch, Xenie, oder
unter welchen Namen es auftreten mag, der Ausläufer der Lyrik der Betrachtung
(vergl. §. 894), in kürzerer Fassung, einfachem Hinstellen einer
Wahrheit dem Epigramm, in vollerer, aber an eine Situation geknüpfter
Entwicklung der Elegie nachbarlich verwandt, ja mit ihr zusammenfließend.
Es ist der reiche Schatz seiner Lebensweisheit, den ein Volk in der Form
schöner Gedankenpoesie an den Grenzlinien seiner höheren, rein ästhetischen
Dichtung aufhäuft; alle ächten National-Literaturen, vor Allem die hebräische,
griechische, deutsche bieten eine Fülle der gediegenen Nahrung für Geist und
Charakter, die in diesem einfachen, gesunden Brode liegt. Wir dürfen jene
Dichter-Naturen nicht gering anschlagen, die, nachdenklich, wie Walther von
der Vogelweide, zwischen der reinen lyrischen Stimmung und der strengen
Betrachtung sich bewegen und alle Verhältnisse ihrer Zeit mit dem Salze
des ernsten Gedankens durchdringen, noch dürfen wir dem vollen Genius
unsere Liebe entziehen, wenn im Alter seine Phantasie nachläßt, sich zersetzt
und den Gehalt einer langen Erfahrung und Geistes-Arbeit nach allen
Lebens-Beziehungen in sinnvollen Sprüchen widerlegt, wie Göthe in seinen
zahmen Xenien. Aber auch in seiner besten Zeit hat er und Schiller zwischen
dem scharfen Hagel der satyrischen Xenien die reinsten Goldkörner, ja volle,
aus Gold getriebene Kränze gnomischer Poesie ausgestreut. ─ An diesen
Zweig der lehrhaften Kunstpoesie reiht sich als Ausdruck der praktischen
Volksweisheit das Sprichwort. Es liegt weiter ab von der Dichtung,
es ist gangbare Münze mitten im wirklichen Leben, daher es zwar gern,
aber nicht wesentlich und nothwendig rhythmische Kunstform und Reim annimmt.
Doch ist es meist (nicht immer, denn es kann auch nackt und [1470]
direct eine Regel, Rath, Lehre in kurzem Satz aussprechen) poetisch durch
sein eigenthümliches bildliches Verfahren. Es liebt nämlich, eine allgemeine
Erfahrung aus dem Natur- oder Menschen-Leben als einen Satz hinzustellen,
der eigentlich die figürliche Seite bildet, aus welcher durch den
Vergleichungspunct die beabsichtigte Lehre erst zu ziehen wäre, die wirkliche
Ziehung derselben aber dem Leben selbst, dem jeweiligen Falle zu überlassen
(z. B. Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, eine Hand wäscht die
andere u. s. w.) Gerade daß es die Anwendung nicht selbst übernimmt,
darin liegt sein Charakter, für den Hausbrauch des wirklichen Lebens bestimmt
zu sein. Wird das Bild aus den menschlichen Zuständen und
Thätigkeiten genommen, so ist es natürlich eine greifliche Sphäre derselben,
organisches Leben, Handwerk u. s. w. Es kann übrigens auch humoristisch
die transcendente Welt verwendet werden, als wäre sie so vertraut und nahe
wie die menschliche (z. B. wenn der Teufel hungrig ist, frißt er Fliegen). ─
Endlich verläuft sich die fragmentarische Form der didaktischen Dichtung in
das Gebiet des Spiels durch die verschiedenen Arten des Räthsels. Es
wird aufgegeben, ein Wort zu errathen und das Finden (in der gewöhnlichen,
allgemeinsten Form) dadurch erschwert, daß solche Eigenschaften des
Gegenstands angegeben werden, die er mit andern gemein hat, und daß
sie der Räthseldichter gerade mit der Absicht, nach andern Gegenständen irre
zu führen, bezeichnet und zusammenstellt, während er doch zugleich dunkle
Winke einflicht, die auf den rechten Weg leiten. Das Räthsel ist enge mit
der Allegorie verwandt, aber es ist ehrlicher, als diese: es gesteht, daß es
blos Spiel ist und hilft dem verlegenen Rather durch schließliche Nennung
des Worts oder Zugeständniß des richtigen Funds aus der Noth. So verhält
es sich z. B. mit den Allegorieen im zweiten Theile von Göthe's Faust
nicht; wir sollen rathen und werden nie wissen, ob wir richtig gerathen
haben.


An die dramatische Form findet begreiflich in der didaktischen Poesie
weniger Annäherung statt; das forttönende Aussprechen des directen Pathos
(wie in Tiedge's Urania) gemahnt nur ganz entfernt an den Monolog und
der Dialog bringt, da er nicht zur Handlung fortschreiten kann, ungleich
weniger ästhetisches Leben herzu, als das schildernde Element in den Formen,
die sich an die epische Poesie anlehnen. Die strenge Wissenschaft hat, angelockt
von dem Scheine natürlicher Zweckmäßigkeit, welchen der Dialog
nach der subjectiven Seite für das Verhältniß zwischen dem Lehrer und
Schüler, nach der objectiven für das Verhältniß von Satz und Gegensatz,
Grund und Gegengrund, überhaupt für das Dialektische entgegenbrachte,
diese Form geliebt, aber die Erfahrung gemacht, daß die Zuthat der Poesie,
die Zerfällung in Personen, die nothwendigen Anknüpfungen an Zufälligkeiten
der Situation u. dergl. ihr nicht förderlich, sondern nur hinderlich, [1471]
störend sind. Wo die Wissenschaft auf ihrem eigenen, strengen Boden
steht, soll ihr die Poesie nicht folgen wollen; sie lenkt vom Wahren als
blos Wahrem ab und die Mischung verwirrt durch die Theilung unseres
Jnteresses an den Selbstzweck des Schönen und an den Selbstzweck des
Wahren.


4. Endlich gelangen wir zu dem äußersten breiten Rande dieses Gebietes,
dem Lehrgedicht im engeren Sinne des Worts. Es
nimmt eine bestimmte Materie vor und handelt sie nach ihrer innern,
gegenständlichen Ordnung ab; der ausgesprochene Lehrzweck, die logische
Ordnung und die ausgedehnte Durchführung sind seine Merkmale. Hier ist
die Grenze, wo die Poesie in die Abhandlung übergeht und das Aesthetische
am entschiedensten nur äußerlich anhängt. Es ist klar, daß dieses sich in
dem Grade verstärkt, in welchem der Gegenstand naturvoll ist, innige Beziehung
des Menschen zur Natur enthält: dann nähert sich das Lehrgedicht
in seinen epischen und lyrischen Elementen der Jdylle; so vor Allem in den
Gedichten vom Landbau. Jn Hesiod's Werken und Tagen besitzt auch diese
Gattung ein Gedicht jenes ursprünglichen, ehrwürdigen Charakters, der
allerdings die idyllische Wirkung nur für uns hat, denn hier ist das Bild
eines Zustands, der weit hinter der Trennung der Kräfte und Zerspaltung
des Lebens liegt, die den müden Menschen treibt, in der ländlichen Natur
die verlorene Einfalt zu suchen, hier ist ursprüngliche Einfalt, die einfache
Thätigkeit in Feld und Haus mit ihren Regeln und Gesetzen bildet Einen
ungetrennten Kreis mit den höchsten ethischen Pflichten und mit der Religion;
wogegen Virgil's Georgica ihre Anleitungen mit einer Naturschilderung
schmücken, die schon den elegischen Charakter einer Welt tragen, wo das
Gemüth die verlorene Natur wieder aufsucht, um sich in ihr zu erholen. ─
Ein Reichthum poetischer Motive liegt in den Heilkräften, die aus dem
Schooße der Natur sprudeln; Neubeck hat in seinen „Gesundbrunnen“ einen
glücklichen Stoff glücklich behandelt. ─ Jn anderem Sinn erwärmt sich das
Didaktische, wenn eine Seite des menschlichen Lebens ergriffen wird, die
dem Affect angehört und an sich keine Methode kennt, wie in Ovid's Kunst
zu lieben; hier entsteht durch das Lehrhafte, das Abhandelnde eigentlich eine
freie und heitere Jronie des Lehrgedichts. Das ethische Lehrgedicht, sei es
ermahnend oder tröstend (Opitz: von der Ruhe des Gemüths, vom wahren
Glück, Trostgedicht in den Widerwärtigkeiten des Kriegs), hat neben der
Poesie der Schilderungen seine ästhetische Stütze auf die Energie des Pathos
zu stellen. Die farblosesten Bildungen entstehen natürlich, wenn rein wissenschaftliche
oder technische Materien behandelt werden. Noch einmal ist allerdings
naiv alterthümliche und moderne Form des Bewußtseins zu unterscheiden:
der poetische Vortrag der Philosophie im Mund eines Parmenides
und Empedokles ist etwas Anderes, als die Gedichte eines Lucretius und [1472]
gar der Neueren von der Natur der Dinge. Die Stubenpoesie hat sich
denn über alle möglichen Zweige der Wissenschaft verbreitet bis zu den
anmuthigen Sphären der Medizin (Bilderdyk über die Krankheiten der Gelehrten);
sie hat höhere, künstlerische (ars poetica des Horaz u. s. w.) und
niedrige Technik, bis zur Seidenspinnerei, in ihr Bereich gezogen: aus dem
ästhetischen Jnhalt der ersteren ist ihr geringer Gewinn an poetischem Werth
erwachsen, denn die Wohlweisheit des Recepts, so viel Verständiges dasselbe
enthalten mag, sinkt an dem freien Geiste des Jdeals, über den sie sich
ergießt, als mattes, laues Wasser hinunter.

§. 926.


Die Tendenzpoesie verhüllt die unorganische Verbindung der ästhetischen
Elemente, welche in der didaktischen zu Tage liegt, unter der Energie des
pathetischen Hindringens auf den Zweck und nähert sich dadurch einem andern
Grenzgebiete der Poesie, der Rhetorik. Diese greift vom praktisch ethischen
Boden in die Dichtkunst herüber, indem sie zum Zweck einer bestimmten Wirkung
auf den Willen Gefühl und Phantasie aufbietet und diese Mittel mit denen der
Ueberzeugung zu einem künstlerischen Ganzen verarbeitet.


Die Lehrpoesie im Großen und Ganzen will allerdings nicht blos auf
den theoretischen Geist wirken, sondern auf das sittliche, politische Leben
(vergl. §. 547), aber doch nur mittelbar und unbestimmt eben durch jenen.
Die Tendenzpoesie (vergl. §. 547. 484) hat den bewußten Zweck, sich direct
in das Leben hineinzuarbeiten, die Gemüther zu bestimmen, daß sie durch
den Willen die Jdee, für welche der Dichter begeistert ist, realisiren, und
indirect verfährt sie dabei nur sofern, als sie diesen Zweck unter den poetischen
Mitteln verhüllt. Sie ist in §. 848 als Fehler besprochen; hier, im Anhang,
wo es sich von berechtigten Nebenformen handelt, muß sie noch einmal, und
auch nach ihrer begründeten Seite zur Sprache kommen. Sie steht über
und unter der didaktischen: über ihr, sofern das Pathos für ein bestimmtes
reales Sollen gedrängter, acuter, feuriger ist, als die stille Wärme, die eine
Betrachtung begleitet, unter ihr, sofern die Betrachtung, welche die Welt
nicht unter dem Standpuncte des Sollens ansieht und nicht das pathologische
Jnteresse hat, auf sie direct einzuwirken, idealer ist und wenn sie die
höchsten Sphären zum Jnhalte nimmt, dem Gebiete des absoluten Geistes
angehört; man kann hinzusetzen, daß die geständige Lehr-Absicht weniger
unbehaglich stimmt, als die versteckte des Wirkens, die man wittert und der
man auf die Spur kommt. Je nach Standpunct und Situation wird man
die eine der andern vorziehen und am leichtesten sich mit dem Tendenziösen
versöhnen, wenn man sieht, daß es nur die schwächere Seite eines Dichtergeistes [1473]
ist, der in seinen Weihestunden das Feuer seiner Begeisterung in
den wahrhaft ästhetischen Prozeß der Phantasie zu erheben vermag. Das
Tendenziöse ist besonders in der dramatischen Poesie zu Hause, weil diese
sich am entschiedensten gegen das wirkliche, sittlich politische Leben öffnet,
und die Form, worin es sich äußert, wird am richtigsten hier rhetorisch
genannt. Dieser Zug hat sich bei uns vorzüglich in Nachahmung Schiller's
festgesetzt, von welchem nach dieser Seite in §. 896, Anm. die Rede war. ─
Jm Uebrigen ist es auch hier in der Ordnung, daß man sich nicht immer
auf die Höhe des strengsten ästhetischen Maaßstabs stellt, sondern zu rechter
Zeit auf den praktisch ethischen herüberneigt und zufrieden ist, wenn ein
Tendenz-Roman, lyrisches Tendenzgedicht, namentlich aber Tendenzdrama
einmal die trägen Gemüther mit starken Hebeln faßt, erschüttert, für große
Jdeen der Humanität, der Nationalität, der Freiheit und Gerechtigkeit
begeistert. ─


Wir sind aber hier wirklich zu der letzten Grenzmarke gelangt, mit
welcher sich die Aesthetik zu beschäftigen hat, zu der Rhetorik. Jhr Grund
und Boden ist der praktisch ethische: der Redner hat direct den Willen einer
Versammlung zu einem Entschlusse zu bestimmen; nur die religiöse Rede
und noch mehr die sogenannte Schaurede unterscheidet sich dadurch, daß sie
nicht einen einzelnen Entschluß, sondern eine bleibende Stimmung hervorzurufen
sucht, aber auch diese soll in den Willen übergehen und so ist eben
Willensbestimmung der spezifische, allgemeine Zweck des Redners. Für diesen
Zweck werden nun neben dem theoretischen Mittel der Ueberzeugung nothwendig
solche in Bewegung gesetzt, welche der Poesie angehören, denn die
Ueberzeugung soll durch Entzündung des Gefühls, Affects und der Phantasie
zum Willens-Acte, zum Beschlusse werden. Das Epische tritt in der
Schilderung, das Lyrische in der directen Gefühls-Erregung, sofern sie noch
vom Affecte, d. h. der Spannung gegen den Willen hin zu unterscheiden
ist, das Dramatische in den starken schlagartigen Wirkungen auf diese Kräfte
hervor. Wirklich liegt nun aber in dieser Verbindung poetischer Elemente
mit der Prosa entschieden nicht mehr eine Auflösungsform der Poesie vor,
sondern ein Herübergreifen eines andern Gebiets in diese, mag auch in der
Persönlichkeit des gebornen Redners gemäß den unendlichen Mischungen,
welche die Natur hervorbringt, die Verbindung der Elemente eine ganz
flüssige, lebendige sein. Wir haben also den Boden der Aesthetik unzweifelhaft
verlassen und blicken bereits von einem andern nach ihr herüber. Zwar
ist auch die Anordnung der Rede keine Aufgabe des prosaischen Denkens,
nicht rein logisch, sondern die bestimmte Energie seines Zwecks gebietet dem
Redner, die Ueberzeugungsgründe, die positiven und die negativen (widerlegenden),
mit den poetischen Mitteln im Ganzen und im Einzelnen so zu
disponiren, daß diese sämmtlichen Kräfte steigend zu einem Strom anwachsen, [1474]
der endlich reif ist, durch die Schleusen zu brechen, d. h. als Entschluß der
Versammelten, als That in die Welt hinauszufluthen. Die eigenthümliche
Mischung der Elemente bringt es mit sich, daß der Accent einseitig auf den
Kunstbegriff gelegt werden und diese formale Auffassung sich mit praktischer
List und Partei-Jnteresse zu der Ausbildung einer perfiden und doch höchst
wirksamen Schein-Rhetorik verbinden kann. Dieß hat aber eben nicht die
Aesthetik, sondern die Ethik zu rügen, soweit sie nicht als Politik Ursache hat,
den Unterschied der politischen Moral von der Privat-Moral entschuldigend
anzuwenden. Die wahre Beredtsamkeit aber theilt mit der Poesie die Lauterkeit
der Jdee.

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TextGrid Repository (2016). ePoetics_Vischer. ePoetics. . https://hdl.handle.net/11378/0000-0005-E7BC-3