Ernst Adolf Willkomm
Die Europamüden

Erster Theil

1. An Ferdinand
[1] 1.
An Ferdinand.

Am Bord des Dampfschiffes Herkules.

Ende Juli, 18–


Die Angabe des Ortes sagt Dir, daß meine Wünsche in Erfüllung gegangen sind. – Ja, ich bin frei, zum ersten Male, seit ich mir des Lebens bewußt geworden. Keine Schranke drückt meine Gedanken mehr todt, kein sogenanntes Pflichtgefühl martert mich in eine Ergebenheit hinein, die ich nie gekannt habe. Und dies sage ich Dir, dem Friedsamen, hier am Fuße der dampfenden Esse, deren nachtdunkle Rauchwolken die Freiheit und ihre unzerstörbare Kraft beurkunden! Wahrhaftig, es klingt fast lächerlich, das Edelste, was sich ein Menschenleben bewahren kann, in einer Maschine finden zu wollen. Und doch ist es so. Die ewige Himmelstochter hat sich der Zeit ergeben müssen, und erscheint in einem Gewande, das ihr den leichtesten Eingang bei der argwöhnischen Menschheit sichert. So tief herabgesunken [1] ist das Jahrhundert, daß sich sein Genius bequemen muß, eine heuchlerische Hülle anzulegen, um nicht abgewiesen zu werden wie ein lästiger Bettler. Ich sehe Dich lächeln und die Achseln zucken, aber ich kehre mich nicht daran und fahre fort, mein Herz auszuschütten. Die Last, die wie eine zertrümmerte Welt auf mir liegt, muß ich von mir schleudern, wenn ich fernerhin noch leben soll in dieser fluchschwangern Gegenwart. Danke Gott, daß ich mich entschlossen habe, weit hinauszuschwärmen in die Welt. Die Heimath hauchte mich an mit der Pestluft des Drachen in der Fabel, die eng gezogenen Grenzen stillen Lebens mit ihrer gehäbigen Gutmüthigkeit und dem freundlich lächelnden Gott eines verkümmerten Friedens weckten Gelüste in mir, deren Befriedigung im Buch geschriebener Gesetze blutige Marksteine bezeichnet. Es war hohe Zeit, Ferdinand, daß ich floh, zwar nicht mehr rein und schuldlos im Gedanken, aber noch unbefleckt durch eine That, die der stille Weise verflucht, während der Schmerzenssohn einer gährenden Weltepoche sie bekränzt mit dem ernsten Laub der Eiche oder dem dunkeln Zweige des Lorbeers. –

Du siehst, meine Dämonen, wie Du die verschwiegenen Folterqualen des Herzens nennst, haben mich noch immer nicht verlassen. Auch auf dem schimmernden, goldgrünen Spiegel des Rheines [2] arbeitet mit gleichem Ungestüm die Welt in meinem Innern. Die Natur, die mich in diesem Moment umgibt, löset nicht die Fesseln, in denen ich verschmachte. Eben rundet das Schiff um die Krümmung an der Marksburg, die Ufer des Stromes verengern sich, romantisch stürzen die Berge in hundert Thäler ab, und tauchen ihre grünen Gewänder in die krystallenen Zauberwellen. Fernab schimmert Lahneck mit seinen Trümmern, auf dem hohen Stolzenfels flammt der Freibrief aller Welt, besiegelt vom Glanz der niedergehenden Sonne. Ein wolkenloser Himmel zittert im dunkeln Blau, wie ein Baldachin, über diesem paradiesischen Erdabriß. Am Horizont, aus silbernem Nebelglanz, steigt, ein bleicher, eingeschlummerter Geist des Krieges, der Ehrenbreitstein, und wieder verbirgt sich stumm und schüchtern der momentan freigegebene Gedanke.

Meine Stimmung ist bei aller Freude, die mich bewegt, eine schmerzliche. Mir scheint, ich bin nicht der Einzige, den, verfehmt und verspottet von der bürgerlichen Friedsamkeit, dieses Schiff beherbergt. Unter dem lustigen Zelt treiben sich die Kinder von sechs bis sieben Nationen herum. Jedes lallt in seinem Sprachidiom – ein buntes Allerlei des Gedankenausdrucks – und Alle sind vielleicht gerade jetzt glücklich, nicht weil der Augenblick gekommen, wo die verschiedenartigsten [3] Wünsche sich erfüllen, sondern weil die Außenwelt mit dem Friedensblick ihrer Reize den Schmerz in der Tiefe schweigen läßt. – Und dennoch bin ich unter diesen etwa hundert Menschen, die zugleich mit mir von Mainz absegelten, ein paar Gesichtern begegnet, die, wie der Abgrund einer versunkenen Welt, geisterhaft mich anstarrten. Hier nun löse ich mein Dir gegebenes Wort, auch auf die Gefahr hin, von Dir mißverstanden oder als ein abenteuernder Sonderling verlacht und bemitleidet zu werden. –

Auf Reisen wird man schnell mit einander bekannt. Die Barrieren der Etiquette und lächerlicher Convenienz sinken zusammen, sobald wir den barkettirten Salon mit der Heerstraße vertauschen. Man sucht sich, weil Reisende in irgend einer Weise immer mit einander sympathisiren. Meine unglückselige Neigung, mich abzusondern, wenn der Strom freier Weltbewegung seine Wellen um mich peitscht, ist Dir bekannt. Eben so gut weißt Du, daß nicht in aristokratischem Stolze die Ursache dieses Vereinsamens liegt, sondern ganz allein in dem Ekel, immer und immer nur dem Gewöhnlichen wieder zu begegnen. So kommt es, daß ich mich suchen lasse, oder in stiller Beobachtung mir wenigstens erst aus der Ferne Denjenigen herauslese, an den mich ein etwaiges Interesse fesseln kann. –

[4] Der Morgen war heiter, der Rheingau, im Schmuck der Frühlingszier, breitete sich längs dem mächtigen Strome hin aus. Links dunkelte der Niederwald und barg in seine historischen Schatten die versunkene Größe Karls des Großen, der fast zur Fabel geworden ist wie sein Prachtpalast zu Niederingelheim, von dem man auch vergebens eine Spur sucht. O, wenn ich zurücksehe in dieses Chaos todter und begrabener Jahrhunderte, dann bricht erst recht mit vernichtender Gewalt ein lauter Hohn in mir aus, der Alles verspotten möchte, was je geschehen ist auf Erden! Dann könnte ich nicht etwa vor Schmerz, sondern vor bitterer, blutiger Wuth Thränen vergießen über die Narrethei der Welt, zu deren winzigem Complement auch ich gehöre. Da seufze, ringe und rase ich nur nach einer That, dem Einzigen, was der Zeit noth thut; und ein Blick auf die Geschichte, die mit gebrochenem Auge um uns den ewigen Schlaf der Vergessenheit träumt, genügt doch schon mich selbst von der vielleicht lächerlichen Thorheit dieses glühenden Wunsches zu überzeugen. – Was nützt jetzt Karls Streben und Mühen? Es ist langst vergessen und eingesargt in den Staub der Bibliotheken, oder wol gar verstreut in alle Winde. Die Sohle des Wanderers nimmt ein Atom seiner sichtbaren Thaten mit sich hinweg, damit es vielleicht am andern Morgen der [5] Schuhputzer abstäube. – Und doch, lebt der Name nicht? Hat er nicht für ein ganzes Jahrtausend geschaffen, und sind wir nicht zum Theil ein Product seiner Thaten? Da werden die Felsentrümmer um mich her lebendig, die grauen Ruinen, die den ewigen Strom bewachen, zeigen wie verwitterte Fragezeichen gen Himmel, als wollten sie dort Lösung des Räthsels suchen, dessen Deutung auf Erden keiner mehr unternehmen mag. Sind dies nicht alles Anmahnungen zu neuem Beginnen? Stottert nicht der Geist der Vergangenheit in diesen Leichensteinen seiner Helden die zornige Frage: ob denn Alles vorüber sei auf ewig, und die Kraft völlig erlahmt, die sie zu herausfordernden Wahrzeichen aller Jahrhunderte gemacht hat?

Gefoltert von solchen Gedanken, Träumen, Empfindungen, hatte ich mich an das Geländer gelehnt und starrte in die frühlingglänzende Gegend. Der Taunus legte den dunkelblauen Gürtel seiner Berge um die Hüften des jungfräulichen Gaues. Biberich, die alte Abtei Erbach, der Johannisberg mit dem Gold seiner Reben, wallfahrteten vorüber an meinem Auge. Mainz sank in die silbernen Fluthen und der Rochusberg mit Bingen und dem alten Drususkastell, demKlopp, drängten sich näher in den Gesichtskreis. Das Verdeck füllte sich mit Neugierigen, die alle das[6] Bingerloch von fern schon bewundern wollten. Es ist viel Langweiliges in diesen Passagieren. Die Meisten sind Engländer, die sich mit breiter Verdrossenheit auf die Bänke werfen, oder an die aufgeschichteten Koffer lehnen und die Gegend mit ihren Herrlichkeiten nur im Buche bewundern. Das nennen nun diese Menschen reisen! Einer saß mit übereinandergeschlagenen Beinen auf dem Kajütenfenster, die Rheincharte vor sich, das Reisehandbuch daneben. »That is Johannisberg,« sagte er phlegmatisch-theilnamlos, und »that is Geisenheim!« Er hob kalt das Auge, sah wieder in's Buch und fuhr fort zu murmeln »a very beautiful country!« Andere hüllten sich in ihre barocken Reisemäntel, oder promenirten wie toll auf dem Verdeck umher. Man mußte sich vorsehen, um nicht von ihnen umgerannt zu werden. Einige Franzosen waren vergnüglicher. Sie schwatzten ohne Ende von den Schönheiten der untern Seinegegenden, und stießen zuweilen einen komischen Sehnsuchtsseufzer nach Paris aus. Munter bewegten sich ein paar junge Holländerinnen unter der Gesellschaft. Die nette, reinliche Kleidung, das zierliche Mieder, der graue, an unsere Tyrolerinnen erinnernde Hut mit den bunten hellfarbigen Bändern gaben den freundlich offenen Gesichtern einen doppelten Reiz. Sie schwatzten allerliebst in ihrer weichen Muttersprache und waren nicht spröde. [7] Es ist ein gutmüthiges Volk die Holländer, so lange man ihrem Gelde nicht zu nahe kommt. Ich sah aber alle diese Gestalten nur Schatten gleich an mir vorüberwandeln. Fest das Auge auf die satanische Krone des Dampfschiffes geheftet, klang die Außenwelt mit ihrem bunten Tongeräusch nicht in reiner Wärme an mein Herz. Unheimliche Gefühle beschlichen mich, mir war, als säh' ich den Teufel triumphiren über das wunderliche Menschengeschlecht. Die Riesenkrone drohte auf dem Schlot wie ein Siegerkranz. Das böse Princip hatte gesiegt, alle Welt fuhr sicher unter seinem Geleit. Die Satanskrone war das allgemeine Weltpanier geworden, vor dem sich die Flagge jeder, auch der stolzesten Nation, willig zusammenfaltete. Eben wollte ich laut ausrufen: »Der Teufel ist Capitain auf der Fahrt durch Welt und Leben, und doch gelingt uns keine That mehr!« – als ein lauter Aufschrei mich aus meinen überspannten Träumereien emporschreckte. Ich kehre mich um und gewahre eine zarte Frauengestalt von den schönsten Formen weit hinausgebeugt über das Geländer und ein feines Umschlagetuch von dem Schaufelrade in die Wellen hinabschleudern. Die Gewalt des Rades, die Schnelligkut des Umschwunges hätten sie beinahe über das Geländer gerissen, ehe sie Zeit gewann, das herausflatternde Tuch vollends zu lösen. Einer [8] Ohnmacht nahe sank sie in meine Arme, die Gesellschaft drängte sich um uns, zerstreute sich aber sehr bald wieder, als die Gerettete die Augen aufschlug. Das Dampfschiff legte vor Bingen an und nahm neue Passagiere an Bord.

»Haben Sie meinen Fächer?« fragte mit zitterndem Silberklang das schöne Weib, auf dessen Stirn noch die Blasse der Angst lag. »Ihren Fächer? Ich habe keinen bemerkt.«

Ein peinliches Lächeln küßte die schönen Lippen. »Er liegt im Rhein,« sagte sie kaum vernehmbar, »Bald wäre ich ihm gefolgt. Sie haben mich gerettet, nehmen Sie meinen Dank, obwol es vielleicht besser gewesen, ich wäre mit ihm hinabgesunken in den schönen Strom.«

Mir starb das Wort auf der Zunge, ich konnte nur durch einen starren, fragenden Blick antworten. Die schöne Frau mußte ihn bemerkt haben, ihre Wangen überzog ein leises, duftiges Roth. Sie reichte mir den Arm, der noch zitterte und führte mich dem Steuerrade zu. Die Passagiere hatten sich meist nach dem Vordertheil des Schiffes gedrängt, wir waren allein. Die Fremde setzte sich, ich nahm Platz an ihrer Seite. Da sie schwieg, hatte ich Zeit genug, sie zu betrachten. Ich schämte mich vor mir selbst, daß ich erst jetzt durch einen Zufall diese Frau bemerkte. Sie konnte für ein Ideal moderner Weiblichkeit gelten, [9] denn sie war in Allem, auch dem Aeußern, ein vollkommener Gegensatz der antiken. In dieser hohen, bleichen Stirn, an deren Schläfen die blauen Adern wie hüpfende Schlangen bebten, lag alles Leid, Sinnen und Träumen moderner Weltbewegung. Das Auge schwamm in feuchtem Glanz und verrieth ebensowol eine unbegrenzte Hingebung an die Seligkeit der Liebe, als der Ausdruck schwärmerischer Andacht in ihm zitterte. Und nun diese schlanke Gestalt, der blühende Leib, umhüllt von dem schillernden Seidengewande, das sich verrätherisch schmeichelnd an die üppigen Formen legte!

Du schüttelst mißbilligend den Kopf. Deine Unempfindlichkeit, Dein unerschütterlicher Gleichmuth begreifen nicht, wie die Schönheit des Weibes den Mann zu schwärmerischer Gluth hinreißen kann. Bleibe Dir treu, Rigorist, nur lasse mir die Seligkeiten des Augenblicks! Mein Himmel kettet sich um die Erde nicht in der gläubigen Schönheit und Kindesanmuth Deiner Dogmen, sondern angethan mit der Fülle natürlicher Grazie. Auch in ihm ist die Liebe das höchste Gesetz, nur nicht vereist und versteinert in der Kaltwassertaufe heilig gehaltener Askese.

Meine Schützlingin schwieg noch immer, das Dampfschiff flog, gejagt von dem keuchenden Element, dem Bingerloch zu. Die Wellen tanzten [10] in weißen Schaumbüscheln um den fabelhaften Mäusethurm, überall strudelte der grüne Strom an den Felsenriffen, und Alt und Jung wollte die Gefahren der berühmten Passage mit Augen sehen.

Ich fragte meine schöne Nachbarin, wie weit sie den Rhein hinabzufahren gedenke.

»Bis Köln.«

»Werden Sie sich lange in der alten Stadt aufhalten?«

»Es ist mein Wohnort,« gab sie freundlich lächelnd zur Antwort. »Und Sie?«

»So lange es mir gefällt. Ich bin an keine Zeit gebunden.«

»Dann müssen Sie glücklich sein.«

»Die Ungebundenheit ist oft der Dieb des Glückes.«

»Das sind Gedanken, die ein Mann von Ihrem Alter mit Gewalt verscheuchen sollte. Will die jugendliche Manneskraft schon ihr tiefstes Leben der Laune hingeben, so wird ihr das spätere Lebensziel in unerreichbare Ferne gerückt.«

Ein Dritter unterbrach die Ermahnungen der liebreizenden Lehrmeisterin. Wir kehrten dem Schiffsschnabel den Rücken, um die verschwindende Gegend besser übersehen zu können. Eine sonore starke Mannesstimme sprach:

»Das ist eine bloße Schwachheit mein Herr! [11] Sobald ein vernünftiger Mensch die Ueberzeugung gewonnen hat, daß für ihn auf Erden nichts mehr zu thun sei, ist es Pflicht, die Welt zu verlassen.«

»Ja, wenn dies in seiner Gewalt stände,« versetzte sein Begleiter. »Leider oder vielmehr glücklicherweise können wir den Tod nicht commandiren, wenn es uns aus Spleen etwa gerade beliebt, mit ihm Bekanntschaft zu machen.«

»Ich bin kein Englander, mein Herr,« gegenredete der Erste. »Was ich sage, ist immer Ausdruck tiefster Ueberzeugung. Ich hasse das Schwatzen und Bramarbasiren.«

»Dann werden Sie mir auch Recht geben.«

»Recht geben! Als ob es mir nicht frei stände, mich hinabzuschwingen über das Geländer, und diesem Dasein thatenloser Langweiligkeit ein schnelles Ende zu machen!«

»Richard,« rief das Weib an meiner Seite, und ergriff des Redenden Hand. »Sprich nicht so, Du weißt, es ängstigt mich!«

»Warum thun Sie es denn nicht?« fragte der Andere.

Der Fremde von meiner schönen Geretteten mit »Richard« Angeredete zeigte auf die reizende Gestalt und winkte seinem Begleiter, ihn allein zu lassen.

»Daß es noch solche Affen geben muß,« fügte [12] er hinzu. »Es thäte noth, ihnen zu Gefallen allemal die Probe auf jede Behauptung, die man aufstellt, gleich mit in den Kauf zu geben.« – Die junge Frau suchte den Blick Richards aufzufangen, er zog ihre Hand an seinen Mund, und schien sein Auge versenken zu wollen in den feuchten Glanz ihrer braunen Pupille.

Mir ist noch kaum eine Gestalt so aufgefallen, wie dieser Richard. Denke Dir einen jugendlichen kräftigen Mann, Ferdinand, tief in die dreißig, hoch gewachsen, muskulös, aber hager. Eine Salonfigur seinem Aeußern nach; die Kleidung aus den feinsten Stoffen, nach dem elegantesten Schnitt, nur mit einem Anfluge genialer Negligenz. Die blüthenweißen Manschetten lose herabfallend über die schöngeformten, weißen Hände. Ein buntes Tuch leicht um den Hals geschlungen, das ovale Gesicht von einem dichten, schwarzen Bart umflossen. Aber welch' ein Gesicht! Kaum kann ich es glauben, daß eine Stirn, weiß geglüht von der verzehrenden Flamme des Gedankens, auf so fashionable Hüllung herabschauen mag. Es ist kein Blutstropfen mehr in diesen bleichen, marmorbleichen Wangen, und dennoch flackert in der Sonnenhelle seines Auges nicht das ungewisse, irrende Licht, das gewöhnlich seinen falben Todtenschein über die Trümmer eines verwüsteten Lebens wirft. Erschreckend freilich fliegt die finstere Wolke [13] unergründlicher Melancholie um das tiefliegende Auge, wie die Motte um ein Licht, oder der stille Nachvogel um den kalten Schimmer einer offenen Gruft. Noch weiß ich nicht, was dieser Richard, dessen Geschlechtsname Bardeloh ist, für eine Rolle spielt in der großen Welt. Meine schöne Gerettete ist sein Weib, sein glückliches Weib, und doch scheinen Beide sehr unglücklich zu sein. Ich hielt ihn anfangs für einen Diplomaten, dem aber widerspricht die Offenheit seines Auges, der ehrliche Schnitt seines Gesichtes, wie die Verachtung aller Heuchelei, die darin sichtbar ist.

Nach den ersten Begrüßungen entspann sich bald ein Gespräch zwischen uns, das schnell an Interesse gewann und für mich eine Hinneigung zu den kaum gesehenen Fremdling zur Folge hatte. Seine Gattin Rosalie scheint ihn zu umschweben wie ein Genius. Sie allein scheint er zu achten, aber glücklich ist er dennoch nicht.

Und kannst Du glauben, daß gerade diese Entdeckung mich ruhiger gemacht hat? So erbärmlich ist der Mensch, daß er immer und ewig an den jüdischen Trost Tubals: »Andere Leute haben auch Unglück,« die elende Hütte seines Glückes anlehnt. Doch zu meiner eignen Ehrenrettung muß ich gestehen, daß meine Beruhigung ihren Grund nicht in einer so gemeinen Gesinnung hat. Nur daß ein gleicher Schmerz diesen Bardeloh [14] das Gemüth belastet, und auch er bei äußerem Glück ruhelos umhergetrieben wird, tröstet mich, weil es einen Beweis für meine Behauptung abgibt, die Welt sei lahm und schwach geworden, und ersticke unter dem Ekel erregenden Dunst einer raffinirten Civilisation. –

»Watt und Fulton waren doch zwei große Männer,« begann nach einiger Zeit Bardeloh. »Diese Menschen brauchen sich nicht der Jahrzehnte zu schämen, in denen sie gelebt haben. Ihrer Thatkraft ist es gelungen, eine totale Umbildung zweier Hemisphären vorzubereiten. Dampfschiffe und Dampfwagen sind eine Erfindung, die ihrem Werthe nach nur der Buchdruckerkunst gleichgestellt werden kann. Haben Sie in Mainz den Gutenberger Hof besucht?«

Ich bejahte die Frage, worauf Bardeloh fortfuhr: »Nun dieser Gutenberg war ein ganzer, vollendeter Mensch. Das ist genug. Mehr darüber sagen zu wollen, wäre Frevel. Ich hasse das Zerfasern einer Wahrheit. Aber unsere Zeit will Alles spinnennetzfein haben. Für jeden Ausspruch muß der Grund angegeben, mit der Sonde und nötigenfalls auch mit dem Senkblei untersucht werden, um zu sehen, ob er denn auch wirklich gleich sei dem Boden; und erst dann, wenn man sich durch Fühlen und Rechnen hinreichend davon überzeugt [15] hat, begnügt man sich. Was halten Sie von unserer Zeit?«

»Sie ist nichts und kann Alles werden.«

»Da treffen Sie zum Ziele,« versetzte Bardeloh. Rosalie trocknete ihm mit ihrem Taschentuche die Stirn, auf der große Schweißtropfen standen. »Richard,« bat das herrliche Weib, »Du bist noch unwohl und gerade diese Gespräche solltest Du vermeiden. Hast Du die Vorschriften des Arztes schon wieder vergessen?«

»Erinnere mich daran, mein Herz,« erwiederte Bardeloh, indem er einen Kuß auf Rosaliens Hand drückte. »Uebrigens ist es Bedürfniß, mich wieder einmal auszusprechen.« Er wandte sich abermals zu mir und fuhr fort: »Man spricht heut zu Tage viel von neuen Lebensbahnen, unerhörten Umgestaltungen, großen Epochen. Man hat Recht, aber nur bedingt. Ich meines Theils bin überzeugt, dieser Erdtheil, auf dessen einer Ader wir eben wie ein rollender Pulschlag fortgetrieben werden, gebiert nichts, oder doch nur wenig von alle dem, was erst spät hineinleuchten wird in den dunkeln, annoch unerhellten Weltenbau. Europa kommt nicht heraus aus dem ancien régime; der Fluch klebt ihm an und hält es darnieder in einem halben Todesschlafe, wie der Fluch des kreuztragenden Gottes das Volk des Unglückes, auf das er herabsank. Wie dieses [16] Volk jetzt noch seufzt unter der Schattenlast jenes Kreuzes, dessen Bürde es dem schuldlos Verurtheilten nicht wollte ablegen lassen; so hinkt das mattgehetzte Europa schwindsüchtig in seinen Gedanken, mit verpesteter Lebenskraft immer und ewig um sein offenes Grab, und schaufelt es täglich um einige Fuß tiefer. Es hat der Einfachheit der Natur die Thür gewiesen, und an deren Statt das Raffinement der Gelüste eingelassen. Dieser Unhold wird es umbringen und den erdrosselten Leichnam seines Opfers dann hinwerfen zum Fraß für hungerige Wölfe. Dieser Tag aber wird der Anfang sein einer neuen Epoche, das Grabgeläute übertünchten Elends, die Wiedergeburt frischer Thatkraft! Nur fürchte ich, es sterben zuvor noch einige Jahrhunderte, aufgezehrt von Gram und Schwäche wie wir, der Einzelne so gut als die Gesammtheit, d.h. diejenigen, die befähigt sind, den Jammer zu fühlen, weil sie sich einen Rest gesunder Urkraft aufbewahrt haben.«

»Ist Ihnen ein Rettungsmittel bekannt, das man den Wenigen bieten könnte?« unterbrach ich hier den Unzufriedenen, »oder meinen Sie, es sei blos die Rache des herausgeforderten Schicksals, gegen die Niemand ankämpfen dürfe?«

»Was thaten Cato Uticensis und Brutus? Was so viele Andere alter und mittler Zeit?«

»Einen freiwilligen Austritt aus dem Leben [17] zählt unsere Religion unter die ärgsten Verbrechen. Sie können unmöglich wünschen, daß ein Gedanke, verpestend und entsittlichend, sich festsetzen solle in dem Gemüth unserer Jugend, der leider ohnehin schon mehr als wünschenswerth ist, die Herzen derselben umstrickt hat. Mit der Gleichgiltigkeit gegen das Leben zerfällt jede moralische Regung. Predigen wir den Selbstmord als eine Tugend, so sehe ich nicht ein, wie Rettung kommen soll für die Unmündigen.«

Bardeloh war aufgestanden, seine Gattin saß in schmerzliches Sinnen verloren am Schiffsspiegel und starrte gefühllos in die grüne, schäumende Fluth. Das Schiff flog an Bacharach vorüber der Pfalz zu. Längs dem Ufer an die niedrigen Hügel lehnten sich alte Römerthürme in großer Anzahl und erzählten, wie umhergestreute Todtenschädel, von dem regen Leben früherer Zeiten. Bardeloh zog mich an's Schiffsgeländer. »Junger Mann,« sprach er, »es gibt keusche, heilige Sünden und daneben auch Tugenden, vor deren roher, schmutziger Unkeuschheit jedes Herz, das noch im Zustande republicanischer Einfachheit sich selbst bewacht, erröthen und zusammenschrumpfen muß. Sind Sie so bewandert in der heiligen Geschichte des Menschenherzens, daß Sie wagen, dieser gegenüber die Satzung frommer Willkür zu erheben? Den möchte ich sehen, junger Freund, der [18] sein Herz zerschmetterte, wenn er es retten könnte durch einen zornigen Ausruf gegen dasjenige Wesen, dem wir die Ehre der Schöpfung zugegestehen. Ich weiß, daß die Masse lieber die Perle ihres Rosenkranzes küßt, als den süßen Mund der Geliebten; daß sie frivol wird auf Kosten sanctionirter Untugenden, ehe sie frei und muthig in dem ewigen Lebenselemente die geschwächten Glieder badet. Halten Sie dies für Religion, so fürchte ich sehr, Sie reden oder fühlen sich nur aus Langweiligkeit gewaltsam in ein Weh hinein, von dem Ihr rein menschlicher Theil nichts empfindet. So lange Sie fest kleben an der Convenienz irgend einer Societät, entschlagen Sie sich des Gedankens, als seien Sie mit berufen, den Opfertod zu sterben für die Befreiung eines Geschlechts, das nur noch ein Flechten- und Moosleben führt. Sehen Sie hinüber an das Ufer! Dort liegen die zersprungener Glieder jener großen Thatenkette, womit die Römer das Schicksal einer ganzen Welt an sich banden. Was hat sie zersprengt und rostig umhergestreut in allen Ländern, wo Civilisation herrscht? Nichts als die That, die man ihnen entgegenstellte. Wären unsere Vorfahren elende Schwächlinge gewesen, wie wir, entsittlicht durch das Gift des feigen Gedankens; sie hätten nie der Thatkraft Roms sich widersetzen können! Wer etwas vollbringen [19] will, mein Freund, der darf sich durch die winzigen Scrupel der Gewissenhaftigkeit nicht beengen und abschwächen lassen.«

»Sie sind also in der That willens, den Mord, und zwar Selbstmord, als Rettungsmittel zu empfehlen für unsere jetzigen Zustände?«

Bardeloh lächelte mitleidig-ironisch. O, könnte ich Dir sagen, wie mich dieses Lächeln zugleich entzückte und zermalmte! Nur die Weltheiligkeit, umflossen von der Glorie eines Märtyrthums, wofür die Geschichte bis jetzt noch keine Belohnung erfunden hat, vermochte sich in diesen Schmerzenszuckungen um Mund und Kinn zu flechten. Ich beneidete den gedankenbleichen Mann in seinen mephistophelischen Qualen. Ein Anderer vielleicht wäre schüchtern mit dem Beben tugendhaften Abscheu's davon geschlichen, indem er in Bardeloh die Gestalt des ewigen Verführers erblickt hätte; mir aber, – ja Ferdinand, ich rufe Dir's zu unter dem Purpurmantel, den eben die Sonne mildthätig über die entzückenden Gefilde dieser Rheinlandschaft faltet – mir erschien er als ein Prophet, als ein Johannes der Täufer, der vorausgesandt worden dem Christus des neuen Jahrhunderts! – Da stand der bleiche Mann an dem keuchenden Schlot, unter ihm seufzte die dämonische Maschine, der schwarze Rumpf des Schiffes durchbrach die wallende, grüne Fluth des [20] Stromes und stürmte, wie ein infernalischer Vogel, mit seinen blutrothen Flossen durch das schimmernde Krystall. Da stand er, der bleiche, unglückliche Sohn unsres Jahrhunderts, das in unnatürlicher Brunst die Keuschheit seines Herzens abgetödtet an sich selbst. Ich sank auf das Kajüttenfenster, denn es war mir nie klarer geworden als jetzt, daß Tausende und Abertausende mit diesem Bardeloh sich nicht emporarbeiten können zum frohen, lichten Thatendrange, weil die Kette der Ohnmacht angeschweißt worden an das warme Fleisch ihrer Herzen!

Nach langem Schweigen trat Bardeloh wieder zu mir und legte seine Hand auf meine Schulter. »Sie sind noch ein schuldloses Kind in Ihrem Jammer,« sprach der seltsame Mann. »Ich würde mit Ihnen sprechen von meinen Hoffnungen und Befürchtungen, aber ich muß ausrufen wie Christus: ›Ihr könnt es noch nicht tragen!‹«

»Mord, Selbstmord!« stammelte ich halblaut vor mich hin, während Bardeloh's Worte klagend durch meine Seele schrien.

»Wer spricht von Selbstmord?« erwiederte mit der Sicherheit des klarsten Bewußtseins mein neuer Bekannter. »Eine That ist kein Mord. Thun Sie etwas, geißeln Sie die Menschen bis auf's Blut zur That, sein Sie ein Despot der Freiheit, und lassen Sie die scharfen Drachenzähne [21] der Freiheitspeitsche tief einhauen in das Fleisch der Sklaven fluchwürdiger Erschlaffung; so morden Sie nicht, sondern befreien blos. Hat ein Mensch die Rückenmarkschwindsucht, weckt nur der glühende Stahl das verdorrte Lebensmark, oder glauben Sie, daß eine schwindsüchtige Welt mit Pfefferkuchen und Marzipan zu heilen sei? Schlagt sie in die glühenden Ketten der Scham, so wird sie gesunden!«

Hier klang wehmüthig klagender Hörnerruf von dem linken Rheinufer herüber und hüpfte von Fels zu Fels, von Berg zu Berg, vielfach gebrochen auf der Tonleiter des Echo in die Ferne. Das Schiff steuerte vorüber an den Klippen des Lurlei. Bardeloh's Auge schien die Töne zu trinken; er horchte lange den fernzitternden Schwingungen der beschworenen Rheinnymphe, sah stumm und kalt das Schiff über den Strudel des wilden Gefährts brausen und stieg dann hinab in den unteren Raum zur Maschine, in dessen glühender Atmosphäre die Arbeitenden wie Kyklopen von Gluth und Asche gebräunt die bewegende Flamme unterhielten. –

Rosalie hatte keinen Theil genommen an meinem Gespräch mit ihren Gatten. Schweigend genoß sie die vorüberziehenden Reize der Ufer und schien übrigens viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als daß sie dem lebhaften Verkehr der manigfaltigen [22] Fremden hätte Interesse abgewinnen können. Durch mein Bekanntwerden mit ihr hielt ich mich für berufen, sie als eine Schutzbefohlene zu betrachten und nahm wieder Platz an ihrer Seite. Sie gewahrte mich kaum, als sie theilnehmend und bewegt nach Richard fragte. Beruhigt durch meine Antwort fuhr sie fort, mir einiges Nähere über ihren Gatten mitzutheilen, wobei sie jedoch mit weiblichem Zartsinn Alles umging, was mich tiefer in die geheimeren Verhältnisse ihres gegenseitigen Lebens hätte blicken lassen. Ich erfuhr, daß sie aus Wiesbaden zurückkehrten, wo sie während eines Monates die Heilquellen gebraucht, um ihre beiderseitig wankende Gesundheit wieder herzustellen. Ihr sei dies so ziemlich gelungen, bei Richard aber, meinte sie, träfen zu viele Uebel zusammen, um eine Heilung des Körpers in so kurzer Zeit bewerkstelligen zu können.

»Richard,« sprach sie, »leidet weniger körperlich als geistig, und auch dieses geistige Leiden ist nicht wie gewöhnlich ein Symptom seelischen Krankseins, sondern eher der Beweis überkräftiger geistiger Gesundheit. Es wird Ihnen dies sonderbar vorkommen, sollten Sie aber durch ein längeres Zusammenleben mit uns Richard näher kennen lernen, so werden Sie meine Behauptung bestätigt finden.«

[23] Rosalie schien sich zu erheitern, ich war daher bemüht, den Moment aufknospender Gemüthsfreudigkeit festzuhalten und wo möglich zu verlängern. Ich that einige unbedeutende Fragen, die jedoch selten bei einem weiblichen Gemüth ihres Zweckes verfehlen. Ich gedachte der Häuslichkeit und der Rückkehr zu gewohnten, liebgegewonnenen Oertlichkeiten.

»Das wäre gewiß mein süßestes Vergnügen,« erwiederte Rosalie, »wenn für Richard nicht gerade daraus der Giftquell neuen Schmerzes träufelte. Alles Gewöhnte und Stillebehagliche haßt er mit einem Abscheu, der mich oft besorgt macht um seinen Geist. Wohl begreife ich, woher sich dieser Haß schreibt, aber es ist Unrecht, der stillen Freude, die lieblich und mit dem Friedensblick eines Kindesauges voll gewinnender Unschuld sich uns anschmiegt, bitter entgegenzutreten. Man soll den Himmel nicht verhöhnen, wenn er uns nur den Glanz der Sterne gönnt, nicht die Flamme selbst, die jene Welten belebt. Warum einen Frevel begehen an seinem Glück und an sich selbst unter Verhältnissen, deren Aenderung nicht in die Hand Eines Individuums gegeben ist? Mir scheint es immer, als schwelle die Qual der Seele zur unerträglichen Bergeslast an, wenn wir zu stolz oder zu hart sind, den Moment zu erfassen, in dem oft ein wunder barer Zauber der Beschwichtigung [24] liegt. Noch hat es – dies ist meine Ueberzeugung – keine Zeit gegeben, in der sich alle Wünsche erfüllten. Hart freilich drückt der Zwang der Verhältnisse auf die freie und glückliche Entfaltung unserer Lebenskeime. Die Gegenwart ist zum Alp geworden, der uns ängstigt und selbst den schönen Frieden eines kindlichen Herzens zerquetscht. Immer jedoch bleibt noch eine Hoffnung, die zur Rettung werden kann bei sicherem Wagen und vorsichtigem Umhertasten. Möchte nur die schroffe Männlichkeit, die in vielen unserer bedeutenderen Menschen zu ungebunden hineinschlägt in das Getriebe des Weltlebens, sich enger verschwistern mit dem weiblichen Theile des Daseins. Der starke Geist sollte eine stille, heilige Ehe eingehen mit der hingebenden Sanftmuth weiblicher Empfindung. Wie das Streben so vieler tüchtiger Männer auf Freibleiben zielt, so verachten sie auch eine geistige Ehe. Man trennt zu viel, zu schroff, in der Absicht, durch unerbittliches Scheiden die zerrissenen Theile zu freiwilliger Einigung zu nöthigen; aber ich fürchte, aus diesem Zerspalten entwickelt sich ein Cölibat, dessen Folgen mit Vernichtung der urewigen sittlichen Weltordnung endigen werden.«

Wahrlich! das Weib sprach so ruhig und wahr, daß ich mich einen Augenblick vor mir selbst schämte, und nahe daran war, Bardeloh zu zürnen. [25] Rosalie hatte Recht. Dieses weibliche Element, das sie der modernen Welt gerettet sehen will, läßt man allerdings zu sehr außer Acht, allein wer mag denn die Frage beantworten, ob es wol jetzt auch schon an der Zeit sei, Rücksichten zu nehmen auf das sanft Begrenzende, jetzt, wo es ja wesentlich auf ein Niederreißen alles Begrenzten, Abgeschlossenen und Hemmenden ankommt? Nur so viel scheint mir einleuchtend, daß dieser weltstürmende Bardeloh in Rosaliens liebreizender Engelsgestalt eine Beschützerin zur Seite hat, die den Ungestümen nicht wird sinken lassen in den Abgrund eines völligen Unterganges.

Mich ergreift ein unaussprechlich schmerzhaftes Weh, ich möchte es das Weh eines ganzen Welttheils nennen, wenn ich die Zukunft hineinrechne in die Gegenwart. Zwar sollte ich diese Klage nicht vor das Forum Deines Herzens bringen, das keinen Puls, kein Gefühl kennt für dies mein Leid. Indeß ich will es wagen und appellire an Deine Diskretion oder Toleranz, wie Du es nennen magst. Bist Du bemüht, Proselyten zu machen, so wirst Du mir gewiß auch das Recht zugestehen, das für wahr Erkannte dem Opponenten gegenüber zu vertheidigen. Ist es nicht ein wahnsinniges Beginnen, frische Lebenswege nach dem Todten, Vergangenen abzumessen? Unsere Zeit siecht an der Epidemie, unsere eigenen Lebenswirren nach [26] Art langst in Staub zerfallener Epochen schlichten zu wollen. Darüber ist sie in Streit gerathen mit dem ewigen Geist der Geschichte und dem Gott der Welt. Sie hat nicht bedacht, daß ein Vervollkommnen alles Seins auch alte Zustände vernichtet. Nun ringt der Geist, eingesunken in den Schlamm und Moder vieler Jahrtausende, ohne Rast und Erfolg, weil er zu bedenklich ist, einen Frevel zu begehen, der in sich selbst keiner mehr wäre, sobald der Gedanke sich consolidirte zur That. In diesem Schwanken und Zaudern besteht die Unmoralität der Gegenwart wie aller Geschichte. Brechen wir los mit einer ganzen vollen That, die in ihrer Offenbarung schon sich als Sieg darstellt, so erkennt alle Welt das als bloßen Wunsch für Unmoralität Verachtete in seinem Gelingen als einen moralischen Fortschritt, und folgt willig dem Vorausgegangenen. Moral ist ein vager, leerer Begriff, die That erst gibt ihr den Freibrief der Göttlichkeit. Aus den Conflicten fällt die Wahrheit dem zu, der mit dem letzten Wort den Gegner zum Schweigen bringt. Dies ist das Recht des Stärkeren im Reich der Geister. Es wird gelten, so lange es eine Welt gibt, und darin besteht das eigentliche Kriterium alles Wahren und Guten, das nur insofern ein absolutes sein kann, als es sich in den verschiedensten Modificationen nicht als ein Vernichtetes, Absorbirtes verliert. Die [27] Form allein ändert sich, der Kern bleibt immer derselbe, aber die Form ist kein Willkürliches, denn sie entspringt aus der Nothwendigkeit gegebener Begriffe, die ihrerseits wieder von der jedesmaligen Lage der Societät und der Welt bedingt und bestimmt werden.

Sollte denn in unsern Tagen die Nothwendigkeit, alles bisher Dagewesene zu ignoriren und es mithin zu vernichten, nicht klar bemerkbar sein? Warum also noch länger zaudern und die Menschheit hinhalten, bis ein gewaltsamer Stoß sie hinreißt zu unerhörten Greueln? Hätte man immer darauf geachtet, so würde die Geschichte weniger Blutbäder aufzuweisen haben, aber freilich auch an Interesse verlieren. Es scheint, das Juste milieu ist verhaßt im Cabinet des Weltregierers. Dort herrscht der Radicalismus mit seinen freien, bewegten Formen, die nie veralten, weil sie sich immer verjüngen.

Ich breche ab, Coblenz liegt vor uns, hinter den weinumzogenen Hügeln der Mosel sinkt die Sonne. Lichte Schatten flattern herüber von den Bergen über die schimmernde Fluth. Die Glocken läuten, an den mosaikartigen Mauern des Ehrenbreitstein rinnt, wie ein Blutstrom, der letzte Schein der Sonne nieder. Ein Dampfboot segelt den Strom herauf, das Verdeck füllt sich, die Brücke fallt. Das hervorstürzende Leben verscheucht [28] den stillern, verschlossenen Unmuth des Herzens. Bardeloh ist wieder heraufgestiegen aus dem Raume. Was er dort gebrütet haben mag! Sein Gesicht bedeckt eine fast noch tiefere Blässe als zuvor; er sieht krank, lebenskrank, erdenmatt, europamüde aus. Nur sein Blick liegt auf Welt und Menschen um ihn her wie ein Fernrohr, das die stille, sinnende Sphinx der Zukunft gerichtet hat auf die Gegenwart, dieses colossale Grab alles bisherigen Lebens, über dessen Hügel der finstere, blutbefleckte Schatten eines ungeheuern Kreuzes schwankt. Aber der Leichnam ist herabgestürzt von diesem Kreuze und nur die Nägel starren noch aus dem Holz. Man sieht nicht mehr den Umriß des hingeopferten, zur Versöhung, gestorbenen Gottes, nein, nur seine Marterbank. Und zu ihr – o Gott, zu ihr allein richtet die blödsüchtige Welt ihr scheues Gebet? – –

Es ist finster, die Passagiere haben großentheils das Schiff verlassen. Die Nothwendigkeit zwingt mich, zu schließen. Könnte ich mich doch, ein Geist, hüllen in den silbernen Nebelglanz, der vom grünen, stillen Strome die Rebenhügel hinanklimmt! Ach, diese Welt wäre schön, betete sie nicht größtentheils nur an am nackten, morschen Stamme des Kreuzes! –

2. An Ferdinand
[29] 2.
An Ferdinand.

Köln, am letzten Juli.


Seit drei Tagen bin ich hier in dieser ehemaligen Reichsstadt, deren Anblick schon imponirt und die Thaten vieler Jahrhunderte erzählt. Wie ich geahnt, hat mich das Verlassen der heimathlichen, stillen Thäler nicht der Beruhigung hingegeben, vielmehr stürmt mit lauterem Getöse als je die fremde unbekannte Welt auf mich ein. Nur das Terrain ist ein anderes geworden. Früher wühlte ich mich still und verschwiegen in den Gram meines eignen Herzens, und pflegte die Angst sorgsam wie eine liebende Mutter ihr Kind, jetzt hat sich das Leid des Allgemeinen mir zu Füßen gestürzt und es sind mir Menschen theuer geworden in ihrer Qual, denen ich nur verwandt bin durch ein gleiches, menschlich reines Mitgefühl.

Ich habe viel erlebt in diesen kurzen drei Tagen. Eine Recapitulation desselben wird eine [30] heilsame Medicin für Dich sein und mir selbst vielleicht einen Ausweg zeigen, so bald es gut ist, dieses Labyrinth eines unheimlichen Lebens zu verlassen. Ihr Friedsamen und in diesem Frieden so Glücklichen seid mit all Eurer Toleranz ungerechter gegen die Welt, als Ihr meint. Freilich ist das nicht sowol Eure Schuld, als die der Zustände, der Verhältnisse. Herz und Geist des Menschen sind zwei wunderliche Polypen. Sie wachsen und dehnen sich aus, je öfterer sie verwundet und blutig geritzt werden, aber sie schrumpfen zusammen und werden eng, wenn sie in steter Sicherheit nur den kleinen Gram ihres eigenen stillen Selbst zu verarbeiten haben. Will man Gerechtigkeit lernen und Duldung üben, so muß man die Springfluth des jubelnden Lebens eben sowol, als das dumpfe Grollen des trauernden, um sich her toben gesehen haben. Ich fühle jetzt erst, wie erbärmlich wir denken und urtheilen in der Sicherheit unserer kargen Beschränktheit. Diese Enge, dieses ungetrübte Stück des Friedenshimmels macht uns frivol aus Gutmüthigkeit und purem Biedersinn. Gerecht gegen uns selbst zupft unser Eigendünkel die ewige Weltgeschichte bei der Nase, und meistert Gott und Schicksal. Es ist nichts so entsetzlich, als ein musterhaftes Leben in der Stille der Abgeschlossenheit. Darin liegt abermals ein Grund für unsern [31] Untergang, namentlich für uns Deutsche. Es seufzt keiner mehr nach der gehäbigen Ruhe des Hauses als der Deutsche; es ist keiner mit größerer Mühe herauszuhetzen aus seiner Friedenshütte, als abermals der Deutsche. Wo denn um des Himmelswillen soll Rettung herkommen, wenn der große Sinn für Allgemeinheit unerschløssen bleibt? Nur Erdbeben, Zusammensturz der Himmelsdecke, können uns noch ermuntern und durch Vernichtung gegenwärtiger Ruhe eine schönere Zukunft sichern.

Von dem Verlauf der Reise von Koblenz bis hierher will ich schweigen. Ich gedenke noch mehrere Ausflüge zu machen an den Rhein und seine Umgebungen, und werde dann vielleicht nachholen, was von einigem Interesse für Dich sein dürfte. – Nur die Ankunft in Köln selbst darf ich nicht mit Stillschweigen übergehen. Sie war bedeutend, weniger für mich, als für meinen Begleiter Bardeloh, in dessen Hause ich wohne, wie Du Dir leicht denken kannst. Es schwankt ein düsteres Geheimniß um die Person dieses Mannes, und mein Herz zittert wie galvanisirt, so oft der entsagende Flammenblick seines Auges mit dieser unaussprechlichen, tief ironischen Melancholie auf mir ruht. Das Gefühl, unwillkürlich, wie durch Zaubergewalt, in die Lebenskreise eines Fremden hineingerissen zu werden, hat etwas entsetzliches, und doch liegt in der Tiefe der Verborgenheit auch [32] wieder ein Reiz, der mit süßem Beben die Seele erfüllt. Nicht Neugier möchte ich diesen Rausch der Erwartung nennen, lieber ein schweigsames Forschen, ein psychologisches Experimentiren einer Seele mit der andern.

Die Fahrt, mannigfach belebt durch Menschen und Gegenstände, ward für mich zu einem Ereigniß. Rosaliens keusche Anmuth trug zu meiner Erheiterung eben so viel bei als der Zauber, womit Bardeloh sein Wort zu umspinnen versteht. In feenhafter Lebensbewegung quellen die Gedanken aus dem kristallenen Born seines Geistes herauf und schleichen sich mit hinreißender, ungesuchter Beredsamkeit in das Herz jedes Hörers. Wir sprachen viel, Heiteres, Scherzhaftes und tiefere Fragen der Zeit Berührendes. Bardeloh zeigte bei Allem gleiche Theilnahme; ein hoher, freier Weltton umhüllt mit hinreißender Grazie sein zwangloses Benehmen. Die Welt mag ihm viel gegeben haben und er ihr viel schuldig geblieben sein. So verstrich der Tag, das Bild von Köln dämmerte in duftiger Schöne am Horizont auf, als eben die Sonne tiefer hinabsank. Um den ungeheuren Torso mittelalterlicher Thatkraft, dem Coloß des Domes, flammte zitternd bewegt, gleich Tagfaltern mit purpurnen Schwingen, die Abendröthe. Mein Auge hing mit jener unerklärlichen Sehnsucht an dem halbverwitterten Gestein, die [33] immer das Ungeheure gegen unsern Willen in uns zu wecken pflegt. Da lief das Schiff in den Hafen. Geschrei, wildes, hastiges Durcheinanderrennen, Eigennutz und Geldgier tobten, schlugen, schimpften vom Quai in buntem, unterhaltenden Gemisch. Holländische Schiffsknechte, Hafenarbeiter und Packträger rumorten mit Püffen und Stößen durcheinander. Kaufleute und Aufseher bemühten sich Ruhe zu stiften und wurden verlacht. Dazu ein Dialect, den, gemischt aus einigen Sprachen und gründlichem Unsinn, nur ein Eingeweihter verstehen kann.

Mehrere Waarenkrahne mit ihren weit hinausragenden Tragebalken sind am Ufer erbaut und geben, fast immer in Thätigkeit, ein erfreuliches Bild regen Gewerbes. Es fiel mir schon von fern auf, daß auf einem dieser schieferbedeckten, hervorspringenden Arme ein colossaler Mensch von wildem Aussehen in völliger Unthätigkeit saß, um dessen wettergebräuntes Gesicht das Haar verworren hing und seine grotesken Züge zum Theil verdeckte. Große Wasserstiefeln an den Füßen war er nur bemüht, zu dem Geschrei der Lastträger und Hafenbeamten den Tact damit zu baumeln und jedem Ausgeschifften einen Gruß mit seinem formlosen Hut zuzuwinken.

Nicht fern von diesem Schifferknechte lehnte zwischen Ballen und Fässern die hohe Gestalt [34] eines Juden, dessen feine, halb orientalische Tracht ihn als einen der Begünstigten seines Volkes bezeichnete. Theilnahmlos, mit gekreuzten Armen, den breitkrämpigen, feinen Castorhut auf dem Kopf, betrachtete er die Ankommenden. – Nach einigem Zanken und Schimpfen hatten sich die Lastträger endlich in unsere Koffer und Schachteln getheilt, Bardeloh wandte sich mit Rosalie und mir der Stadt zu, als mit einem Male, wie vom Wahnsinn ergriffen, der Schifferknecht herabstürzte von seinem Krahn, links und rechts mit Riesenkraft die Menschen auseinander warf und in wenig Augenblicken vor Bardeloh's Füßen niedersank. Mit der Inbrunst eines Büßenden küßte er Fuß und Kleid meines neuen Freundes, drückte dessen Hand an seine Lippe, und ein Blick – o Ferdinand! ein Blick flackerte aus dem Auge des Knieenden, der wie ein lautes Wehgeschrei gellend an mein Herz schlug und das Blut erstarren machte. Der knieende Mann sprach schnell einige Worte, aber in einem Jargon, der mir eben so unverständlich als das Arabische war. Bardeloh schien betroffen, sein blasses Gesicht röthete sich einen Augenblick, er hob den Armen liebreich auf und reichte ihm eine ansehnliche Gabe. Rosalie ergriff krampfhaft meine Hand. Sie zitterte heftig. Der Fischerknecht schwenkte johlend seinen Filz, und ehe ich mich noch recht besinnen konnte, saß die groteske Figur [35] schon wieder auf dem Krahnarm, grüßte die Vorübergehenden und war bemüht dann und wann durch Ziehen an der Kette eine Art von Thätigkeit zur Schau zu tragen. Dieser seltsame Auftritt erregte einiges Aufsehen, obwol sehr Viele, namentlich von den Knechten und Matrosen, den ganzen Act mit lautem Gelächter begleiteten. Bardeloh suchte möglichst bald dem Gedränge zu entkommen. Schon hatten wir den Lärm hinter uns, da trat der Jude vor und grüßte Bardeloh mit herzlichem Händedruck.

»Der Friedrich kann's noch immer nicht begreifen,« sprach er, »daß ein Unterschied sein soll zwischen Mensch und Mensch. Wäre er ein Israelit, wie ich, er fände sich besser zurecht mit Zufall und Unglück.«

»Sie besuchen mich doch bald, Mardochai?« warf hastig Bardeloh ein. »Mein Haus, Sie wissen es, steht Ihnen jederzeit offen. Sie entschuldigen, meine Gattin ist angegriffen von der Reise – wir müssen uns beeilen. Auf Wiedersehn!«

»Ich werde nicht warten lassen auf mich,« erwiederte Mardochai, »und erlauben Sie es, so bringe ich den Friedrich mit. Es ist eine ehrliche Haut, und eine Seele steckt in ihm, die voller Narrheiten ist, wenn man ihm gestattet, sie herauszulassen. Der Gedrückte wird schüchtern, der [36] Mensch zur Maus. Die Naturgeschichte hat überall einen auffallend engen Zusammenhang.«

Bardeloh gab durch ein stummes Zeichen seine Einwilligung und beschleunigte noch seine Eile. Vergebens richtete ich mehrere Fragen an Rosalie – ich erhielt keine Antwort. Nach ziemlich langem Herumgehen in die Kreuz und Quer erreichten wir Bardeloh's Wohnung, ein alterthümliches Gebäude, dessen Aeußeres mit der Miene des vierzehnten oder funfzehnten Jahrhunderts auf das Grellste contrastirte mit seinem ganz nach dem modernsten Geschmack eingerichteten Innern.

Du kannst leicht ermessen, daß dies neue Begegniß am Hafen meine Theilnahme an Bardeloh und seiner Gattin noch vermehrte. Zwar weiß ich bis jetzt noch nicht, welcher Zusammenhang besteht zwischen diesem gebildeten Weltmanne und dem rohen Schifferknechte. Eben so wenig habe ich ermitteln können, was den Juden an meinen Gastftreund fesselt, daß aber ein geheimes Band, vielleicht gewunden aus Schmerz und Gram, diese Menschen sehr innig vereinigt, scheint mir gewiß.

Der Eintritt in Bardeloh's Haus war geeignet, die Welt nur von der glänzendsten Seite kennen zu lernen. In diesen saalähnlichen Gemächern weht eine aristokratische Luft, die schreiend contrastirt mit der republikanischen, bittern Skeptik [37] ihres Besitzers. Gallonirte Diener empfingen uns, und – seltsam! – Bardeloh spielte mit so graziösem Anstande den vollendeten Aristokraten, daß eine argwöhnische Scheu höhnend an mein Herz rührte, als wolle sie mich mahnen vor dem Geheimnißvollen Dies Alles hätte ich jedoch gern und leicht übersehen, wäre nicht dies zersplitterte Dasein von dem grausamsten Miston der eigensten Art noch unbarmherziger zerrissen worden. Die breite, glänzende Treppe herab hüpfte jubelnd in seliger Freude ein bildschöner Knabe von etwa neun bis zehn Jahren. Dunkle, kastanienbraune Locken fielen in natürlichen Ringeln und dichter Fülle auf den antiken Nacken. Leben und Geist, Kindlichkeit und muntrer Jugendsinn leuchteten aus dem hellen Auge. Mit übersprudelnder Freude warf sich der Knabe in die Arme der Mutter, die ihn mit Küssen bedeckte, und riß sich ungeduldig wieder los, um wie ein Eichhörnchen an dem Vater hinaufzuklettern, und sich jauchzend wie die ewige, verkörperte Freude an seinen Hals zu hangen. –

Da zuckte wieder der mephistophelische Zug wie ein Giftzahn um den festgeschlossenen Mund Bardeloh's, und mit kaltem, schweigsamen Kuß der stürmischen Liebe des Kindes begegnend, riß er es von sich los und rief, den Knaben mir fast gewaltsam entgegenschiebend: »Da! dies ist ein [38] liebes, frommes Kind, das meine Gattin mir geboren hat unter Schmerzen der Liebe. Und doch kann ich mich dieses Geschenkes des gütigen Gottes nicht freuen, weil meinen Ansichten zufolge dem Kinde die Gewißheit einer schönen Zukunft fehlt. Und das drückt schwer, sehr schwer einen liebenden Vater.«

Ich erschrack über diesen Seufzer, der Knabe schmiegte sich liebevoll an meine Seite, indem er ängstlich stotternd sprach: »Lieber Vater, Du brauchst nicht böse zu sein, ich habe den ganzen Hafen gezeichnet und auch den närrischen Friedrich mit seinen großen Stiefeln. Auch von den Aepfeln habe ich nicht mehr genascht, die mir doch so gut schmecken.«

Es gehört zu den Eigenthümlichkeiten Bardeloh's, Gegenstände, die bei genauerer Besprechung nur dazu beitragen können, eine Spaltung der Meinungen hervorzubringen, selten mehr als einmal zu erwähnen, so nahm er auch jetzt die Miene an, als habe er die Antwort seines Kindes gar nicht gehört, ertheilte den verschüchterten Dienern mehrere Aufträge und suchte sich in seiner Wohnung heimisch zu machen.

Felix, so heißt der anmuthige Knabe, vergaß bei seiner Lebhaftigkeit schnell die fast lieblose Aeußerung seines Vaters. Beschäftigt der schweigenden Mutter beim Auspacken zu helfen, schwatzte [39] er ununterbrochen von dem, was ihm seither begegnet, oder merkwürdig erschienen war, und vermochte durch diese unschuldvolle Heiterkeit auch den verdüsterten Sinn Rosaliens etwas zu erhellen.

Bardeloh hatte sich sogleich in sein Zimmer zurückgezogen, das abgesondert von den übrigen nach dem freien Platze hinaussieht, über dem der ehrwürdige Dom heraufragt. Schon während der Rheinfahrt hatte ich dem geheimnißvollen Manne versprechen müssen, längere Zeit in Köln zu verweilen, und in dieser Zeit sein Haus als das meinige betrachten zu wollen. Lag dies auch nicht in meinem ursprünglichen Reiseplane, so ward ich doch durch die Art und Weise der gemachten Bekanntschaft an Bardeloh so innig gefesselt, daß es mir erwünscht schien, die Einladung wenigstens so lange zu benutzen, bis ich auf irgend eine Weise etwas Näheres über die Verhältnisse des Geheimnißvollen erfahren würde. Ohnehin vermag Köln mit seiner großen Vergangenheit, mit den Trümmern ehemaligen Glanzes und unermeßlichen Reichthums mich im Gedanken hinlänglich eine geraume Zeit zu beschäftigen. So entsagte ich denn meinem früheren Entschlusse nach England zu gehen, und überließ den ferneren Wechsel meines unruhigen Lebens ganz dem Zufall.

Bardeloh ließ mich bald durch einen Bedienten [40] ersuchen, auf sein Zimmer zu kommen. Es geschah diese Einladung aber in einem Tone, der nicht geeignet war mich zu erheitern. Mein Stolz regte sich, ich war im Begriff, verneinend zu antworten. Rosalie ergriff meine Hand und flüsterte mir schnell zu:

»Kein hartes Wort, lieber Freund! Gehen Sie. Dieser Ruf beweist, daß Sie ganz besonders hoch in der Gunst meines Gatten gestiegen sind. Gewöhnen Sie sich an seine Wunderlichkeiten; dadurch ist es Ihnen vielleicht vergönnt, vielen Menschen nützlich zu werden.«

Den Bitten einer schönen Frau habe ich nie widerstehen können. Hier knüpfte sich noch die Ahnung zukünftiger Rettung daran, der sich – ich will es nicht leugnen, ein Schimmer von neugierigem Egoismus zugesellte. Ich trat in Bardeloh's Zimmer. Wie im ganzen Hause glänzte auch hier Reichthum mit Geschmack gepaart aus allen Ecken. Die Wände waren mit modernem Luxus decorirt, die Meubeln nach der neuesten Facon, englisches Comfort bot dem Leben jede Bequemlichkeit.

Grell stach dagegen die düstere Gestalt Bardeloh's ab, die bleich wie ein Geist unter den Trümmern zerstörter Ueppigkeit umherwandelte. Wir setzten uns. Da Keiner zuerst sprechen wollte, [41] herrschte geraume Zeit ein ängstliches Schweigen. Endlich begann Bardeloh.

»Nicht wahr, es gefällt Ihnen in meinem Hause?«

»Selbst der verwöhnteste Aristokrat,« versetzte ich, »würde alle Gelüste befriedigt finden, die Erziehung und Vorurtheil ihm unentbehrlich gemacht haben im Leben.«

»Sehr wahr! Ein Aristokrat von Geburt würde so sprechen und danach handeln. Bei mir aber bringt es die entgegengesetzte Wirkung hervor.«

»Dann sehe ich nicht ein, weshalb Sie sich mit dem Glanz aller nur ersinnlichen Modeartikel umgeben?«

»Warum? – Hm! Sie sind ein sonderbarer Mensch.«

»Dasselbe würde ich von Ihnen mit Recht behaupten können.«

Bardeloh stand auf und drückte gegen eine Tapetenwand, die ohne Geräusch eine Thür öffnete. In der Nische brannte eine bläulich-rothe Spiritusflamme aus einem Todtenschädel; daneben lagen verschiedene Waffen.

»Das werden Sie weder modern noch aristokratisch-genußsüchtig finden,« sagte Bardeloh, indem er wieder neben mir Platz nahm.

Die Thür blieb jetzt geöffnet, die Spiritusflamme[42] wehte ein unheimlich falbes Geisterlicht herein, und spottete mit dem Todenfahl ihres Flackerscheines das Leben weg aus unsern Mienen. Ich fragte, wozu diese Gegensätze dienen sollten.

»Sie enthalten die Doctrin des Hasses,« versetzte mit einiger Bitterkeit mein Gastfreund. »Liebe ist eine heilige, göttliche Lehre, aber auf Erden nicht jederzeit angewandt, so lange es noch Benennungen gibt, die einen Unterschied bedingen zwischen der ewigen Gleichheit des Menschen. Darum übe ich hier in stiller Abgeschlossenheit das Hassen, im Fall ich es für mich allein einmal nöthig haben sollte. Denn ohne die Möglichkeit des Hasses ist die Liebe bedeutungslos. Ich verachte und verspotte alle Launen, die der Aristokratismus mit raffinirtem Schönheits- und Geschmackssinn eingeschmuggelt hat in die Gesundheit des natürlichen Daseins. Darum umgebe ich mich damit, so viel es meine Mittel erlauben, und studire die Niedrigkeit dieser Gesinnungen in der Hoheit äußeren Scheines, womit der kahlgewordene Verstand prunkt, wenn er kein Urtheil mehr besitzt über Fragen, die das Leben mit allen seinen Zeugungsepochen an die Ewigkeit weltlicher und menschlicher Bildung stellt.«

»Diese Lebensansicht und Beurtheilung unserer Zustände ist eine outrirte,« entgegnete ich, »sie wird und muß Sie elend machen.«

[43] »Sehr wahrscheinlich! Glauben Sie aber ja nicht, daß mein etwaiger und möglicher Untergang den Beweis für die Thorheit meiner Ansichten abgeben würde. Es müssen überall Märtyrer sein. Darum haben Sie Unrecht, wenn Sie meine Ueberzeugungen outrirt nennen, sie sind nur ungewöhnlich.«

»Wozu aber diese gespenstische Lampe, diese Spiegelfechterei, die das Nervenleben stachelt und matt kitzelt? Wollen Sie etwa durch dergleichen Vorrichtungen ebenfalls eine wollüstige Verspottung aristokratischen Sinnenreizes nachäffen?«

Der Blitz jenes mephistophelischen Lächelns setzte abermals momentan das ganze Gesicht meines so zweideutigen Freundes in Flammen: »Sie sollen beruhigt werden,« sprach er, und drückte die Tapetenthür wieder zu. »Ich kann es Ihnen nicht verargen, daß Sie einige Abneigung gegen so tödtlich drohende Vorrichtungen zeigen. Sobald wir uns näher kennen, will ich Sie über dieses unter Schloß und Riegel gelegte Geheimniß belehren.«

Er schellte, ein Diener zündete die Gaslampe an, die in geschmackvollen glänzenden Messingröhren das Zimmer mit feenhaftem Glanz erleuchtete. Bardeloh zog die rothseidenen Gobelins vor die Fenster und langte einige Productionen der neuesten Literatur aus einem Mahagonischranke.

»Diese Werke kennen Sie ohne Zweifel,« fuhr [44] er fort mit einer Ruhe, die eben so natürlich zu sein schien wie Alles an diesem außerordentlichen Menschen. »Um sie aber ganz zu verstehen, müssen Sie in Köln bleiben. Hier ist der Ort, dem Leben in's tiefste Herz zu blicken, vorausgesetzt, daß überhaupt ein Organ in Ihnen vorhanden ist, welches diesen Dienst verrichtet. Die Autoren dieser Bücher eifern gegen Gebrechen der Societät, die allgemein gefühlt, aber schwer geändert werden können. Man sollte nicht gegen Windmühlenflügel zu Felde ziehen, denn man macht sich lächerlich und verhaßt. Um die Wunden zu heilen, die an diesem Erd- und Menschenkörper aufklaffen, bedarf es zuerst des brennenden Eisens, damit das Gift verzehrt wird, das sie verursacht. Was helfen alle Medicamente und Binden der ganzen Welt, wenn man dem Uebel nicht auf den Grund geht? Ich kenne ein Mittel für all' diese Gebrechen. Wollte man es anwenden, so wäre der Gesellschaft geholfen.«

»Und dies besteht?« –

»In Vernichtung unserer Selbst.«

»Gewiß,« erwiederte ich bitter-verdrossen, »eine solche Radicalcur müßte zum Ziele führen. Wer den Menschen ausrottet, wird auch die Gesellschaft vertilgen; nur ist schwer zu begreifen, was an die Stelle der so exstirpirten Menschheit treten soll.«

»Sie sind von schweren Begriffen,« sprach [45] Bardeloh. Wer verlangt Vertilgung alles Lebens? Niemand und ich am allerwenigsten! Nur ein halbjähriges Ruhen der fortwachsenden Menschheit gebe ich zu bedenken; die Folgen würden nicht ausbleiben, und der Gesundheitszustand einer sehr merklichen Veränderung unterliegen.

»Die Ausführung ist nur unmöglich.«

»Weil Ihr Weichlinge seid, gegenredete mit schlechtverhehlter Heftigkeit der außergewöhnliche Weltverbesserer, warf die Bücher ungeduldig in den Wandschrank und wünschte mir eine glückliche Nacht.«

So endigte meine erste Unterredung mit einem Manne, der ohne Widerrede einer der complicirtesten Charactere ist, den die Neuzeit aus den Conflicten ihres Wollens und Nichtkönnens geboren. Ich habe Dir mit Vorbedacht dieses Gespräch ausführlich erzählt, weil es mir zu bedeutsam schien für den Widerstreit in Bardelohs Brust. Ein solches Schwelgen in Glanz und Herrlichkeit der Welt aus reinem Ekel an der schimmernden Schale ist neu und charakterisirt das Carikirte an unserer Epoche. Es sucht Jeder seinen Gram auszutoben, aber die Wege und Mittel, die man ergreift, sind in der That noch unerklärlicher als das Uebel selbst. Nie bin ich einem solchen Gegner der Civilisation begegnet, wie er sich in diesem Bardeloh darstellt. Selbst gebildet bis auf den Gipfelpunct [46] der feinsten Weltsitte, verachtet und haßt er diese Bildung, man möchte fast meinen, aus Idiosynkrasie. Ich will nicht zweifeln, daß Bardeloh alle Kraft in sich besitzt, Großes zu wirken, sich aber gelähmt fühlt in dem Zwange äußerer Schranken. Es gibt Geister, die nur dann in der Sonnenhelle ihrer innern Reinheit heraustreten können in die Welt, wenn auch der leiseste Schimmer eines behindernden Ansichhaltens verglommen ist. Sie sind zu klar in sich, um im Sturme eines wilden Genies, unbekümmert um den Erfolg, die flimmernden Meteore ihres Gedankenlebens von sich zu schleudern, und müssen dann leider eingesenkt in die Qual des schaffenden Gedankens, mit der unbezwinglichen Gluth einer großen Lebenskraft sich selbst elend verzehren. Unter diese Unglücklichen rechne ich Bardeloh. Seine ganze Gestalt, die verglühte Blässe des in Traum gestürzten Gedankens auf seinem Gesicht sind laute Verkündiger der Pein, die ihn sicher vernichtet. Und so muß ich ihm recht geben, wenn er, von sich auf Andere schließend, das Leben nur wie einen Fluch betrachtet, den das wandernde Geschlecht noch nicht völlig zu sühnen vermocht hat.

Mit dem Gefühl der Ohnmacht entfernte ich mich und schlich zurück auf mein Zimmer. Die Unterredung gab Stoff genug zu stillem Denken, und ließ ich einen Blick durch's Fenster auf den [47] Dom fallen, der im Mondglanz still und hehr in den dunklen Nachthimmel emporstieg, ward die Geschichte lebendig in jedem Schnörkel und Säulenschaft, an denen Jahrhunderte mit derselben Sonne auf und niedergegangen sind. Wieder rief es laut in mir nach einer That, diesem einzigen Retter aus der Verwirrung gegenwärtiger, schlaffer Zustände. Möchte nur das Wie herabfallen in die Gemüther der Menschen wie ein schöner froher Traum! Denn mit all unserm Ringen wird der heilige Moment nicht erhascht, der doch unentbehrlich ist zum Gelingen.

Die Doctrin des Hasses baut Bardeloh an in der verschlossenen Einsamkeit seiner Zelle. In sie vergräbt er sich, wenn die Nacht mit heiligem Düster die halbzertrümmerte Stadt umfängt. Dann sitzt der äußerlich kalte, innerlich aber glühende Mann vor dem geöffneten Tapetenschranke und rechnet der Welt, beim Geistesflackern seiner Todtenlampe, die Secunden ihres armen Lebens nach. Dann brütet er still über der Möglichkeit einer That, die ihn und, wie er meint, auch die Gesammtheit retten könnte. Und draußen schleicht und klimmt der Mond wie das verspätete Grubenlicht des ewigen Bergmannes um die Ruine des Domes, diese im Entstehen zusammengebrochene That von sechs langen Jahrhunderten. Mein Gott, was keuchen wir Menschen des neunzehnten [48] Säculums denn mit der Hast der Begehrlichkeit nach Thaten? Lehrt uns denn nicht der Spukgeist der Weltgeschichte da draußen, wohin es gekommen mit allem Ueberschwenglichen? Warum klettert von Jahrhundert zu Jahrhundert der Maurer um diese verwitterten Zinnen, wie der wimmernde Geist des ersten Baumeisters, der keine Ruhe findet im Grabe, weil er den riesigen Wunsch nicht ausführen konnte, und er nun unvollendet bleiben muß, bis ihn das Alter zerstört oder eine neue Erdrevolution? – Mich dünkt wir könnten etwas lernen aus diesem Torso einer Menschenthat, wir könnten auf weise Beschränkung hingewiesen werden, wenn ein genialer Uebermuth uns quälend Herz und Seele beengt! –

Bis tief in die Nacht hinein saß ich am offnen Fenster und lüftete alle Falten, die das Leben gebrochen hatte in mein Innerstes. Ich wollte mich bis in die geheimsten Tiefen durchforschen, um meines eignen Selbst habhaft zu werden. Nur den Menschen wollte ich rein behalten für mich und Alles von ihm ablösen, was Satzungen, Lehren und Leben als störenden Rost an ihn angesetzt hatten. Mir will es immer scheinen, als sei blos deshalb das Glück einer erfreulichen That von uns gewichen, weil wir uns an zu viel Fremdartiges hingegeben. Betrachte diese Demuth des Einzelnen wie der Gesammtheit einmal recht [49] genau und vorurtheilsfrei, Ferdinand, und frage Dich dann, wo die Wahrheit und Tugend liegt, ob im Verschmähen des aus der Fremde Verabreichten oder im Annehmen desselben? Wir lassen die Kraft und tauschen dafür die Fürbitte, die Oberherrlichkeit einer demüthig scheinenden Maxime ein. Wie der Indianer den Rum ergreift, um die Freiheit seiner vollen Männlichkeit dem weißen Manne zu überlassen, und die grünen Jagdgründe für einen seligen Rausch aufopfert; so begeben wir uns der Selbstständigkeit und Gottähnlichkeit aus einer misverstandenen Demuth. Indem wir uns geistig für unmündig erklären, machen wir uns selbst zu Knechten. Diese von Kindesbeinen an nachäffende Gesinnung stürzt uns in's Unglück, schwächt die Kraft und erstickt alle Keime großer Thaten. – Ich fürchte Bardeloh hat ein wahres Wort gesprochen. Er grübelte noch, wie ich aus dem Lichtschimmer seiner Fenster vermuthete, als mich bereits Schmerz und Unruhe antrieben, in der Vergessenheit des Schlummers einen verdienstlosen Frieden zu suchen. –


Den 1. August.


Hättest Du mir auch nur scherzend zugerufen, daß sich hier die Fäden meines Lebens in ein dunkles Gewirr zusammenflechten würden, ich [50] hätte es lächelnd hingenommen und wäre um so sehnsuchttrunkener fortgeeilt. Aber dem Menschen stürzt sich meist Leben und Geschichte unaufgefordert vor die Füße, und zwingt ihn selbst die Umrisse seiner Biographie zu schreiben oder durchzuleben, bis er geworden, wozu er bestimmt ist in dem Kettengliede der Geister.

Bardelohs Haus ist der Sammelplatz alles geistig Regsamen in Köln und der Umgegend. Hier finden sich die heterogensten Elemente zusammen, und ich bewundere den Gleichmuth oder vielmehr die jesuitische Freisinnigkeit meines Wirthes, womit er jede Meinung ruhig hinnimmt, und sich bis zu einem gewissen Grade die Freundschaft Aller zu erwerben weiß. Der Mann hätte am Ende doch Diplomat werden sollen. Bei seiner republikanisch-radicalen Grundgesinnung müßte ihm durch Ausbildung weltlichfeinen Umgangstones Alles möglich werden. Denn daß er es mit sich selbst und der Partei, dessen starrer, marmorgleicher Repräsentant er ist, ehrlich meint, davon bin ich fest überzeugt.

Seine Rückkunft aus dem Bade war kaum bekannt geworden, als eine Unzahl Besuchender ankamen, sich nach seinem Befinden zu erkundigen. Protestanten und Katholiken drängten sich im Vorzimmer, die höchsten Beamten fanden sich ein, und der Reichthum blieb eben so wenig aus [51] als die Armuth, für die Bardeloh große Summen ausgeben soll. Auffallend war mir bei diesen Besuchen, daß nie auf den Rang Rücksicht genommen ward. Die Anfragenden folgten wie sie gekommen, und ich bemerkte, daß ein hoher Geistlicher bedeutend lange warten mußte, ohne sich dadurch beleidigt zu fühlen.

Bardeloh ist Katholik, von edler Abkunft, man sagt, der Neffe eines zum Christenthum übergetretenen Juden. Ich habe zwar noch keine Gewißheit darüber, aber ich glaube es, und kann mir in der Phantasie ein groteskes Bild seltsamer Schicksale construiren. Du kennst diese meine Liebhaberei an dem Phantastischen und wirst meinen Glauben sehr natürlich finden. Mich reizt nur die Möglichkeit einer poetischen Lebenslage; die erkannt poetische macht mir schon Langeweile. Wie unglücklich eine solche Manie für mich ist, fühle ich selbst, doch hat sie das Treffliche, daß sie mich jeden Moment glücklich benutzen läßt, und oft aus einem bloßen Traumbilde den bleibenden Trost kräftiger That gestaltet. Kann man sich anders retten aus dem Wirbel und Strudel des Tages? Ich lasse meine Sehnsucht sich ansaugen an den Stumpf einer fast zurückgelegten Epoche, und die spärlichen Tropfen gierig schlürfen, die Schmerz und Zukung ihr auspressen. Diese Art das Leben zu fesseln, hält mich allein [52] noch über Wasser, und bildet selbst aus der Dunkelheit der um mich her taumelnden Gestalten etwas süß Bezauberndes, woran ich mich aufrichte. Ich werfe den Zahlpfennig meines individuellen Lebens in den großen Losungstopf des allgemeinen und hoffe dabei keine Niete zu ziehen.

Die Anzeigen sind vielversprechend, nicht günstig, aber interessant. Mein Herz klopft heftiger, denke ich an den gestrigen Abend, dessen mährchenhafte Glanzesfülle mich immer noch wie ein brandendes Lichtmeer umschäumt Die Zukunft greift sich seltsam heran und spinnt an die Gegenwart ihre bestimmenden Fäden. Auch mich will sie nicht verschonen, und so werde ich hineingerissen in diesen Taumel nur schwach bewachter Leidenschaften, die, würgten sie ihre Wächter, in wilder Raserei das Leben unter die Guillotine schleppen könnten. –

Bardeloh's Reichthum läßt den Meinungsverschiedenheiten keinen freien Spielraum, daher kann man in seinem Hause die unversöhnlichsten Feinde ruhig und anscheinend in brüderlicher Liebe neben einander sehen. Ein solches Versöhnungsfest des weltlichen Gottes ward gestern Abend gefeiert. Die alte Stadt ließ alle Elemente einer gründlichen Weltbewegung in den schimmernden Sälen des Bardeloh'schen Hauses zusammenfließen. Der Anblick war seltsam genug, und streifte an eine [53] rührende Komik. Dieses Selbstverleugnen und Beherrschen, dieses meinungslose Eingehen in die Ansicht jedes Dritten, dem es gerade passend schien ein Wort von sich zu geben; und nun dazwischen die diabolisch lächelnde Figur des bleichen Wirthes, dem es Vergnügen macht, Alle zu ärgern, und doch von Allen wie ein Gott verehrt zu werden, – wahrlich, es war zu abstoßend für einen der glücklicheren Gewöhnlichkeit angehörenden Menschen! –

Da Bardeloh Katholik ist, so fehlte natürlich die hohe Geistlichkeit nicht. Allein mein Gastfreund ist zu sehr Weltmann, als daß er dem Bekenntnisse die feine Sitte, den Anstand opfern sollte. Auch der Protestantismus ward durch mehrere Anwesende repräsentirt. An ihn schloß sich die Lehre Mosis – es fanden sich Juden ein in der halborientalischen Tracht, wie man sie auf Messen allerwärts erblickt. Schwerlich würde der Islam gefehlt haben, hätte sich ein Vertreter desselben in Köln gefunden. Unter diesen nun drängten sich wieder die Anhänger der neuen, unseligen Weltreligion, die Nichtgläubigen, während der Sectengeist in Pietisten und supernaturalistischen Schwärmern, nur mit Mühe gedämpft, den Anforderungen einer Salon-Andacht entsprach. Eine Schaar junger Mädchen, voll rheinischer Lebendigkeit und jener elastischen Grazie, die ihren Gliederbau [54] vor andern ihres Geschlechts auszeichnet, scherzten mit naiver Bonhomie unter dieser barockernsthaften Gesellschaft, nur dem Uebermuth des Augenblickes sich hingebend.

Gewiß, Ferdinand, Du würdest von einem sinnlichen Taumel ergriffen worden sein, hättest Du zugleich mit mir nur diesen Reiz weiblicher Schönheit, diese Gotttrunkenheit eines weltlichreinen Glücks in dem gewölbten Himmel so vieler Jungfrauenaugen genießen können. Mir gebrach es nur an einer Kleinigkeit, oder vielmehr, ich hatte etwas Geringes zu viel, ich kannte Bardeloh! – Du lächelst und nennst mich wieder einen seltsamen, abenteuernden Phantasten. – Immerhin! Meine Ahnung war ein untrügliches Thermometer für die gemischten Empfindungen, die sich unter dem Deckmantel zahmer Geselligkeit feindselig genug stießen.

Es mochten schon einige Stunden unter Gespräch, Spiel und Gesang vergangen sein, als mich die Unruhe in eines der Nebenzimmer trieb. Hier fand mich bald darauf Rosalie, meine glühende Stirn in die Polster des Sopha gedrückt. Sie setzte sich zu mir.

»Was treibt Sie aus dem lustigen Getümmel so vieler Glücklichen in diese Einsamkeit?« redete sie mich an. »Ein junger Mann sollte sich nie zurückziehen, nie abschließen. Es wirkt nachtheilig, [55] mein theurer Freund. Auch Sie werden dies zeitig genug erfahren.«

»Lieben Sie Maskenbälle, verehrte Frau?«

»Als ein Kind dieser Stadt muß ich daran Gefallen finden. Die Gewohnheit, alle Narrethei, die man während eines ganzen Jahres aufgestapelt hat, auf einmal in vollen Strömen überschäumen zu lassen, ist ein Vermächtniß mittelalterlichen Gutes, das man, wie manches andere in der Gegenwart, zu wenig achtet.«

»Es kann keinen größeren Verehrer alles Narrenthums geben auf Erden als mich, nur habe ich bisher an der Möglichkeit gezweifelt, auch ohne Kostüm eine Gesellschaft schreckenerregender Charaktermasken zu versammeln.«

Rosalie entfernte sich. Dumpf rauschte aus den nahe gelegenen Sälen das Leben der maskirten Menschheit, an die verschlossene Thür klopfte der Argwohn charakterloser Gesinnung.

Die Töne eines Fortepiano klangen in gedämpften Accorden herüber zu uns, eine schöne volle Mädchenstimme sang mit hinreißender Gluth die kunstlosen Verse eines Volksliedes.

»Gibt Bardeloh öfters ähnliche Gesellschaften?« fragte ich mehr aus Instinkt als aus Bedürfniß, denn eine doppelt drückende Atmosphäre wirkte betäubend auf alle meine Sinne.

»Das ist seine Schwäche,« seufzte Rosalie. [56] »Ohne diese leidenschaftliche Lust, die haut volée der Stadt immer um sich zu versammeln, würde er glücklicher sein, und selbst den verderbten Grundsätzen alter Lebensweise mehr Gleichgiltigkeit als schweigende Wuth entgegensetzen. Diese Gesellschaften, zusammengeweht aus allen Winkeln der Stadt, verbittern ihm sein heiligstes Leben. Mit der Wollust eines Rasenden sucht er umher nach immer grelleren Gegensätzen, und je verbissener die Wuth der Geladenen sich in feiner Schmeichelei begegnet, desto glücklicher fühlt er sich in dieser Vernichtung alles Edlen im Menschen.« – »Mein Freund,« fuhr sie fort, »was Sie bei uns sehen, ist nur ein Experiment, an einem auserlesenen Gliede der Menschheit gemacht.«

»Getroffen!« unterbrach Bardeloh's sarkastisch schneidende Stimme dies Bekenntniß eines Wesens, das mit reinstem Edelmuth die versöhnende Liebe eines Engels verband. Er war von uns unbemerkt durch die Seitenthür eingetreten. Verwirrt stand ich auf, die Ueberraschung ließ mich umsonst nach einer Antwort suchen.

»Halten Sie mich für ein Kind,« sprach Bardeloh, als er meine Verwirrung bemerkte, »daß Sie zusammenfahren wie ein Knabe, weil ich Sie im Gespräch treffe mit meiner Frau? Nicht dieses Alleinsein, Ihr Stolpern über sich selbst könnte mich zornig machen. Wissen Sie, [57] junger Mann, daß ich kein Purist bin, wie Sie einige finden dort in meinem großen Studirzimmer der Menschheit. Kommen Sie, mein Freund, und machen Sie mit mir einen Gang durch jene Schatten, die trotz aller Verstellung ihre Seelen doch nicht verstecken können. Ich halte allwöchentlich über Sie Revüe und erfreue mich meines Generalats. – Rosalie, besorge für mich und unsern Freund ein Glas Limonade.«

Wir traten in den Gesellschaftssaal, Bardeloh stellte mich den ausgezeichnetsten Personen vor und ergetzte sich merklich an den Komplimenten, die mir nach dem Gesetz der Convenienz gemacht wurden. An den Saal stieß ein halbkreisrundes Cabinet, von dem aus man das Gewühl der Anwesenden übersehen konnte. Dies kleine Apartement ward durch eine Glasthür von dem Saale geschieden, war nicht erhellt und lag in desto größerem Dunkel, je blendendere Lichtfülle die Gasflammen durch die übrigen Räume wehten. In dies kleine Gemach führte mich Bardeloh. Ungesehen von Andern konnten wir genau jeden Einzelnen beobachten.

»Hier, mein Freund, befinden wir uns in meiner psychologischen Warte,« begann Bardeloh und warf sich in die Polster einer Ottomane mit einer verächtlichen Lebensmüdigkeit. »Sehen Sie,« fuhr er fort, »sehen Sie nun einmal unverwandt [58] auf diese gebildete Menge, beobachten Sie ihr Mienenspiel, ihr Muskelzucken, ihr Augenverdrehen, und sagen Sie dann noch, daß wir im Zeitalter der Civilisation leben.«

Er schwieg, ich antwortete nicht und beobachtete mit klopfendem Herzen die Gesellschaft. Da stand der stolze Prälat im traulichen Gespräch mit dem Mennoniten; daneben betete eine pietistisch gesinnte junge Dame mit dem Madonnaschnitt ihres Gesichtes zu der jugendlichen Kraft eines schönen Mannes, während der begehrerische Blick vergeblich nach jener süßen Andacht haschte, womit die geübte Sünderin die Natur eines gesunden Lebens zu bemeistern versteht. Am glänzend polirten Ofen lehnte der Jude Mardochai mit dem bleichen Ernst seiner Züge den orientalischen Tiefsinn schweigend hinaussendend in die um ihn rauschende Menschenwelle. Er stand allein und höhnisch flog zuweilen eine lächelnde Weltverachtung um den stolzen Mund. Dann griff er mit der schöngeformten Hand in den faltenreichen Talar von schwerer Seide, und warf spielend eine Menge neugeprägter Goldstücke in die sonnenhelle Atmosphäre. Der Verachtete zeigte kaum die Hostien aus der Monstranz des Gottes der Welt, so sanken auch schon die Herzen der Versammlung auf die Knie, und die civilisirte Menschheit betete an vor der Majestät moderner Weltheiligkeit. Viele traten [59] an Mardochai heran und suchten mit ehrerbietigem Lächeln seine Unterhaltung. Aber der Sohn des Orients blieb ruhig und ernst. Er spielte von Zeit zu Zeit mit seinem Golde, antwortete höflich, erniedrigte sich aber nicht, dem zu schmeicheln, was er haßte. Einige katholische Patres drängten sich um einen protestantischen Geistlichen, den ich an den feingestickten Ueberschlägeln erkannte, die als Zeichen seiner Würde ein durchbrochenes Kreuz zur Schau trugen. Mit diesem ausgehängten Christenthume contrastirte die weltliche Tournüre und der mephistophelische Blick seines schwarzen Auges, das aus den tiefen Höhlen des eingesunkenen Gesichtes dialectische Fragen an alle Anwesende that. Dieser Mann ward mir unheimlich, weil ich den Schmerz um die verlorne Weltheiligkeit aus der dunklen Gluth des eingestürzten Auges herausflackern sah. Doch schien er froh, heiter gelaunt und voll Befriedigung mitten im Verkehr mit der glänzenden Welt. Seine pikanten Bemerkungen, nicht selten tiefdunkle Rosen auf die Wangen vorbeiwandelnder Mädchen zaubernd, sammelten stets einen bunten Kreis begieriger Hörer um ihn. Einige stille Jünglinge drängten sich sehr in die Nähe einer ältlichen Dame, die eben so bekannt war durch ihre Heiligkeit wie durch den Besitz zweier Nichten, deren Schönheit mehr Verehrer zu finden schien als ihre strengen Blicke. Die Jünglinge waren gut geschult, [60] auch der Orthodoxeste hätte nichts an ihrer Haltung, Handbewegung, an Auge und Mund, aussetzen können. Weniger auffallend zeigten sich die jugendlichen Gestalten der anwesenden Damenwelt. Hier wetteiferte meistens nur die angeborne Koketterie des Geschlechts mit unverwüstlicher Herzlichkeit und sprudelnder Laune. Necken und Kichern lauschte aus den schönen frischen Augen, und die blühenden Lippen mochten nur dann stumme Lügen zerdrücken, wenn sie sich weigerten, einen begehrten Kuß zu erwiedern.

»Haben Sie die Menschheit gefunden in diesem Geschlecht?« unterbrach Bardeloh mein Schweigen. Rosalie brachte uns Limonade. »Unterhalte die Gesellschaft«, wandte er sich an die Gattin, »ich werde mit unserm Freunde bald folgen.«

»Sei nicht grausam, Richard,« bat das schöne Weib und verließ uns.

»Zweifeln Sie wol,« hob Bardeloh abermals an, »daß Sie da draußen im Saal die Blüthe europäischen Geistes versammelt sehen?«

Ich seufzte.

»O, schämen Sie sich, mißmüthige Seufzer auszustoßen, wenn die Freuden der Gesittung im schönsten Jubel um uns scherzen!« – Er schwieg und schlürfte die Limonade. »Mir wird immer seltsam lächerlich zu Muthe,« fuhr er fort, »wenn ich Gelehrte und Ungelehrte sich braunroth streiten höre [61] und sehe über den Werth der Universitäten in unsern Tagen. Mein Gott, der Gegenstand ist ja nicht der Rede werth! Schickt die jungen Leute zu mir und gebt mir den zehnten Theil dessen, was nur eine Universität Deutschlands jährlich kostet, so unterrichte ich Euch die strebende studirende Jugend zehnmal besser als all' Eure Professoren. Hier, dies ist mein Katheder, dort das Auditorium. Eine Nacht – ich lese blos Nachts – in diesem Hör- und Sehsaale zugebracht, wiegt zehn Jahre mühsamen Studirens auf.«

»Ist es nicht ein niederschlagender Anblick, den Menschen auf der Höhe der Cultur doch so tief gesunken zu erblicken? Diese Vornehmigkeit der Civilisation, die Sie dort draußen sich tummeln sehen, repräsentirt den Zustand unseres socialen Lebens. Sie finden dort alle Tugenden beisammen, die im Katechismus eines wohlgesitteten Menschen aufgezählt werden, und doch bleibt Alles blos Lehre, Satzung, glänzende Angewöhnung. Die Natur ist dadurch verloren gegangen im Menschen, und er hat sich bewußtlos herausgehoben auf den Gipfel der Gesellschaftlichkeit. Der Mensch ist dem Benehmen gewichen, die Natur der Schule!«

Soll man nun nicht darüber trauern und ernster, als es gewöhnlich ist, in die Zukunft blicken? Ist es die Aufgabe der Civilisation, das Geschlecht zu vervollkommenen, so darf in der [62] Vervollkommnung selbst kein Rückschritt gethan werden. Lücken sind nirgends zu vermeiden, auch füllt die Lücke sich aus von selbst. Die Geschichte handelt hier instinktartig. In unserm Leben aber gibt es nicht bloße Lücken, hier sind tiefe Schlünde, über die man vergeblich die cultivirte Epoche Sprünge machen heißt. Der Mensch würde es wol versuchen, wenn anders die Kleidung, in die er sich selbst schnürte, es nur erlauben wollte. Oder meinen Sie etwa, dieser hehre Gott der Schöpfung werde unsere Gesellschaftsmenschen für sein Ebenbild anerkennen? Mit Seufzen muß ich meinen bescheidenen Zweifel in dieser Hinsicht gestehen. – Gut freilich hat man nachgeformt, Zwirn und Steifleiwand sind nicht gespart worden, um dem Urbilde eines Menschen analog sein nachgeahmtes auszustaffiren.

»Und auf diese Blüthe wollen Sie wirklich die schönere Zukunft der Welt basiren?« fuhr bewegt mein Gastfreund fort. »Wollen Sie mich noch der Unmoralität bezüchtigen, wenn ich behaupte, dieses Geschlecht sei nur zu erretten durch gewaltsames Aufschütteln des Menschlichen, das sich in leisen Funken noch erhalten hat zwischen den Trümmern, um die sich schmarotzend ein unbeachtetes Verderben rankt? Um die Welt verstehen zu lernen, müssen Sie die Meinungen zusammen sperren wie ich dort draußen. Dann erst erkennen [63] Sie, wie selten eine hohe Gesinnung sich findet. Nicht die Hartnäckigkeit der verschiedensten Meinungen will ich tadeln, die farblose Charakterlosigkeit nur erbarmt mich, die zu schwach ist, um eine Meinung öffentlich auszusprechen, wenn der Andere ihr gegenüber mit einer heterogenen Ansicht debütirt. Dies nenne ich unmoralisch. Zusammengetrieben durch Visitenkarten rennen jene Gebildeten hin, wohin ich sie haben will, überall voll Heuchelei, voll Characterlosigkeit, voll Schmeichelns und Begutachtens, und nur darin einander gleich, sich selbst mit lächelndem Munde Buben zu schimpfen, ohne es zu bemerken. Sollte der tiefere Denker nicht aufgefordert sein, auf ein Mittel zu sinnen, um diesen Krebsschaden am allgemeinen Körper des großen europäischen Weltlebens operiren zu helfen, ehe er völlig unheilbar geworden ist! Es ist hart, daß eine Welt nicht eher todt ist, als bis auch das letzte Atom des Lebens in unsichtbaren Staub zerfällt. – Sind Sie davon überzeugt, und wünschen Sie einen Kranken zu heilen, selbst wenn er, dem Schwindsüchtigen ähnlich, das Umsichgreifen des Uebels für Gesundheit halten sollte, so sammeln Sie Ihre Gedanken und wagen Sie Alles daran, den Getäuschten eine richtige Ansicht von seiner Lage beizubringen. Das ist jeder Edle seinem irrenden Bruder schuldig. Und ich meines Theils will [64] nicht müßig bleiben, sonst würde ich vor Schmerz sterben.«

Richard stand auf und trat in den Saal, wo die erwähnte Krankheit in Gestalt liebreizender Masken, anmuthig scherzend, geistreich witzelnd, umhertobte.

Ein dumpfer Gram raubte mir fast die Besinnung. Bardeloh wandelte draußen im Saal unter seinen Gästen herum wie ein vor Zorn schweigender Gott. Jede Meinung zerfiel vor der seinigen, wenn es ihm beliebte, eine andere aufzustellen; denn der außerordentliche Mann hatte großes Vermögen. Ich kann diese Manie, sich selbst im tiefsten Elend der Zeit unterzutauchen, kaum begreifen. Mit einer Art Wollust sammelt dieser Mensch alle Strahlen der Lebenssonne und badet sich in ihrer fieberzeugenden Hitze. So viel unbestreitbar Wahres Bardeloh auch aussprach, und so gut es sein mag, die Schlechtigkeit der Welt kennen zu lernen, so ist es doch auch rathsam, sich vor raffinirter Lust daran zu hüten.

Ich bin wahrhaftig nicht glücklich und so manche Schmach des Jahrhunderts treibt mir die Schamröthe auf das Gesicht, das einzige Abendroth, das bei den Besseren noch als verklärender Schimmer über das Grab ihrer sterbenden Mutterwelt zittert. Doch so elend als Bardeloh bin ich noch nicht! Gottlob, noch wäre es mir [65] nicht möglich, mein Kind dem Tode verfallen zu wünschen, noch eine so grauenhafte Gesellschaft zu bitten, blos um mich zu sättigen am Ekel. Ich fürchte, dieser große edle Geist kann verrucht werden aus Edelmuth. Er will sich anspornen zur That, und wählt, wie es scheint, ein gefahrdrohendes Mittel. Möge ihn die ewige Liebe beschirmen, die belebend durch die Nerven der Geschichte geht und noch keinen verlassen hat, der mit der Andacht tiefster Humanität sich ihr unbedingt hingab! –

Es war mir unmöglich, nach dieser Lection meines Wirthes in den Gesellschaftssaal zurückzukehren. Mir fehlte die Kraft der Heuchelei und Verstellung, die Bardeloh in einem bewundernswürdigen Grade besitzt. Diese Moral der Unmoralität ist leider ein Product der Civilisation, sobald sie zur Caricatur ihrer selbst geworden. Sie muß, wie die Verhältnisse sich gestalten, freilich vorhanden sein, nur soll man sie nicht als Mittel anwenden, um das wahrhaft Moralische wieder zu Ehren zu bringen. Dazu kann nur die reine Unschuld, die Zauberruthe des ewig Heiligen, gebraucht werden.

Wieder zu mir selbst gekommen, verließ ich die psychologische Warte Bardeloh's und ging auf einem Umwege in Rosaliens Zimmer zurück. Ich traf sie am Arbeitstisch Spielmarken zählend. [66] Mit dem Lächeln einer tugendhaften Resignation reichte sie mir die Hand.

»Sie sind blaß,« sprach sie, »Richard hat Ihnen gewiß eine seiner Phantasien erzählt.«

»Es war mehr als bloße Phantasie, theure Freundin!«

»Werden Sie spielen?«

»Ich pflege es nicht zu thun.«

»Dann werden Sie eine Gesellschaft junger Damen unterhalten müssen. Ich will unterdeß zum Rechten sehen als Hausfrau, die auch bei den Studien ihres Mannes die Pflicht über sich hat, dem Störenden eine Seite abzugewinnen, die nicht aller Anmuth entbehrt.«

Rosalie verließ das Zimmer und trat in den Saal, dessen bisheriges Geräusch bald in eine flüsternde Stille zusammensank. Ich blieb einige Zeit allein, dann kam Felix, der schöne Knabe, hereingesprungen, dessen Name wie eine Satyre auf sein Leben klingt.

»Bist Du da, Sigismund?« rief er aus und kletterte behend an mir empor, um mit dem Zeigefinger mir sanft nach den Augen zu stechen. Ich weiß nicht, worin der Reiz dieser unschuldigen Spielerei für ihn liegen mag, er thut es aber bei Jedermann, dem er meint vertrauen zu dürfen, und je geduldiger man sich der sanften Berührung hingibt, desto fröhlicher wird das holde [67] Kind. Als ich ihm seine Augenvisitationen endlich untersagte, war er sehr vergnügt, küßte meine Hand, und sprach: »Dich hab' ich gern, Sigismund, weil Du mich immer thun läßt, was ich muß.«

»Ei, wer treibt Dich denn zu Deinen wunderlichen Unternehmungen?«

»Das kann ich so eigentlich nicht sagen. Der Vater spricht: es sei das Gift der Civilisation, ich glaub's aber nicht, denn ich kenne dieses seltsame Gift nicht. Und der Vater mag sich's wohl auch nur einbilden, denn letzthin, als ich Rattengift in der Apotheke holen mußte, fragte ich nach dem Civilisationsgifte, sie lachten mich aber nur aus und meinten, in ihrer Apotheke gäbe es keins.«

»Schuldloser Engel!« rief ich und drückte den braunlockigen Knaben an mein Herz.

»Höre, Sigismund, ich wollte, Du würdest mein Vater,« schwatzte der gemüthliche Kleine fort. »Das ist mir noch nicht passirt, daß der Vater mich so geherzt hätte wie Du. Und nach den Augen läßt er mich vollends gar nicht stechen, obgleich ich Niemand damit wehe thue. Die Mutter hat nichts dagegen, auch die hübsche Tante mag's gern leiden, wenn ich ihr ein bischen nach den Augen steche.«

»Wer ist denn Deine Tante?«

[68] »Kennst Du meine Tante noch nicht? Wart', die soll gleich herkommen, und Du wirst nur sehen, wie hübsch sie ist. Ihr Beide solltet Euch eigentlich heirathen, weil Ihr so ganz nach einem Sinne seid. Laß mich! Gleich komme ich wieder mit Tante Auguste.«

Der allerliebste Schwätzer hüpfte mit einer Zierlichkeit hinaus, als ob er auf elastischen Sohlen ginge und kehrte auch sehr bald mit einer jungen Dame wieder zurück, deren Schönheit von dem süßen Zauber jungfräulicher Befangenheit noch erhöht ward.

»Der da ist's, Tantchen,« rief mit schalkhaftem Lächeln der Knabe, »den sollst Du zu Deinem Mann machen, so hab' ich mir's ausgedacht, und das wird gewiß ein prächtiges Brautpaar geben. O, wie freue ich mich, wenn Euch der Bischof mit dem schönen blauen Bande die Hände zusammenbinden wird!«

Ich kann Dir gestehen, Ferdinand, daß ich nicht weiß, wer von uns Beiden durch diese naive Prophezeiung mehr in Verlegenheit gesetzt wurde. Mein erstes Begegnen mit Auguste war sehr seltsam. Ich vermochte weder zu sprechen noch aufzusehen, aus reiner Albernheit präsentirte ich der jungen Dame einen Stuhl. Indeß verflog der Rausch momentaner Betäubung, und wir mußten beiderseits unsern sorgfältig verheimlichten Empfindungen [69] Luft machen in einem herzlichen Gelächter. Felix war darüber ganz glücklich und hätte uns durch seine wiederholten Ausbrüche kindischer Freudigkeit bald auf's Neue in Verlegenheit gesetzt. Unablässig klatschte er in die Hände und rief mit kindlicher Innigkeit: »Sie lachen schon, Sie lachen schon! und Mutter sagt, was sich anlacht und neckt, das liebt sich.«

Auguste ist Rosaliens Stiefschwester und wie diese katholischer Religion. Noch ganz Mädchen besitzt sie nicht die stille Sanftmuth, die mehr ein Product weiblicher Ergebung in das Schicksal als reine Ausgeburt sittlichen Bewußtseins ist. Rosalie fesselt gleich der Madonna durch den lächelnden Schmerzenszug, der um die bleiche schöne Stirn einen Kranz weißer Rosen flicht, und mit verborgenem Stachel die schöne Dulderin verwundet; Auguste dagegen reißt hin durch die hohe Unschuld der Weiblichkeit, deren bewältigende Kraft alles Spröde glättet und ein geschworner Gegner des Gemeinen ist. Je länger ich in diese braunen Sterne blicke, die unter dem zarten Seidenflor der Wimper im milden Feuer hervorbrechen, desto fester wird in mir der Glaube, daß nur dem Weibe die Erlösung möglich werden könne im Leben. Eine unerschöpfliche Fülle von Kraft und Stärke liegt in dem keuschen Blick des Weibes, und ich möchte jedem feindlich gegenübertreten, [70] der frech oder gemein genug ist, der Weiblichkeit die süßesten Reize zu rauben, und sie nur dann als begehrenswerth zu schildern, wenn die Psyche in ihr mit halbgebrochenem Fittig ein Emporschwingen zu erringen sucht. Das Weib ist die Erlösung, und so wenig ich mich einen Anhänger nenne alles dessen, was Dogma und Tradition im religiösen Leben als errettend aufgestellt haben, die weltpoetische Mythe von der Geburt des Erlösers könnte ich zum lebendigen Glauben erheben selbst als Muhamedaner. Nur die keusche Jungfrau konnte in der Poesie der Mythe Mutter werden des Welterlösers, nur sie kann auch in unser Tagen, welche die Uebergesittung und der skeptische Hang des ausschweifend gewordenen Jahrhunderts zu dem blendenden Licht der Ungläubigkeit hinreißt, einzig wiederum Gebärerin werden des rettenden Erlösers! – Dürfte ich doch diese für mich zum Glaubensartikel gewordene Mythe ausbilden in meinem Sinne, unangefochten von dem Splitterrichter der Bigotterie oder der Angst des Diplomaten und Staatsmannes, die in jedem ausgehauchten Kusse des Herzens einen Dolchstoß fühlen, der die kalte Berechnung des Verstandes mordet! Mir, Ferdinand, ist die Erlösung keine abgeschlossene, sondern eine ewig fortdauernde. So lange das Weib noch webt in dem Himmelsäther ihres keuschen Daseins, zeugt sich in erhabener [71] Sabbathstille von selbst die Welterlösung fort. Jeder Mann, den die Huld und Wonne des reinen, in junger Liebe erzitternden Weibes fesselt, baut an dem Dom dieser Erlösung. Das Weib allein in seiner Unschuld kann dem irrenden Geschlecht, dem zerrissenen Jahrhundert, wiedergeben, was es verloren hat. Darum heiligt die Liebe, die im Moment der Begeisterung die Gottheit zwingt, herabzusteigen auf die Welt! Scheidet zwischen dem Gelüst, das Abtödtung sucht, und der heiligen Gluth, die den sterbenden Gott beleben will und aus dem todähnlichen Schlummer küssen im Arm der Keuschheit! Lasset dem Weibe seine heiligen Schauer, seine ehrfurchtgebietenden Schutzengel – die Anmuth, die Grazie und die Sanftmuth, denen jede Kraft sich gern hingibt. Das Moralische des Weibes ist nur die Liebe, und die Liebe ist die Moralität aller Welt! –

Soll ich mich entschuldigen, daß die Einführung einer schönen Jungfrau mich hinriß zu einem Glaubensbekenntniß, dessen religiöse Weihe zwar noch keine Kirche sanctionirt hat? Ich überlasse es Deiner Discretion, entschuldigend oder verdammend darüber zu Gericht zu sitzen, hoffe aber, daß sich auch in Dir das menschliche Herz regen und von selbst eine Antwort geben wird auf Fragen, die in allen Sprachen auch ohne Dolmetscher verständlich sind.

[72] Es war ein Glück für mich, daß nach dieser Introduction bald mehrere junge Damen eintraten. Einige Männer folgten, weniger vielleicht aus Neigung als um der Convenienz zu genügen. Von scherzenden Gesprächen, in die Felix seine naiven Burleskerien wie zischende Schwärmer warf, ging man zu geselligen Spielen über. Es mangelte nicht an beziehungsreichen Zufälligkeiten, die ein klopfendes Herz so gern für glückverheißende Zeichen hinnimmt. Der verhaltenen Stimme im Innern folgt der Blick, der mit sanft verschämtem Licht hinabsteigt in den feuchten Himmelsglanz des bewegten Auges. Es herrschte eine freudige Ungebundenheit in unserm Zirkel, die von ergreifender Wirkung gewesen sein würde, hätte man die ängstliche Hast dagegen gehalten, mit der im anstoßenden Saale Leidenschaft und Heuchelei die Karten zerknitterten.

Der muntere Felix scherzte von Mädchen zu Mädchen, hielt sich aber vorzugsweise an Auguste, die seinen Eigenthümlichkeiten am besten zu begegnen verstand.

»Ihr Andern,« sagte er, »seid mir zu geziert! Ihr lacht, wenn's gar nicht paßt, und bedankt Euch, wo ich lieber vor Aerger weinte. Tante Auguste aber spricht immer, wie's ihr im Auge liegt, und Sigismund hält's eben so. Darum nenn' ich sie Mann und Frau, was sie auch werden [73] sollen, selbst wenn's der Vater zu seinem Gift der Civilisation rechnete.«

Es war uns Beiden sehr zu wünschen, daß der kleine Redner die Aufmerksamkeit Aller im hohen Grade erregte. Die Mädchen stritten sich um den braunlockigen Burschen und fragten ihn, welche von ihnen Allen er zur Frau haben wolle?

»Gar keine,« erwiederte er sehr bestimmt, »Ihr müßtet Euch denn ändern.«

Diese entscheidende Antwort brachte einen allgemeinen Aufstand unter den muthwilligen Mädchen hervor. Man haschte und jagte sich gegenseitig, um den Knaben zu fangen, und da sich Felix aus dem Staube machte, so war das Zimmer in kurzer Zeit leer. Ich saß allein neben Auguste, vertieft in ein Gespräch, dessen Inhalt sich schwerlich angeben ließe. Das Weib ist nie schöner, als wenn es sich ganz dem Liebreiz angeborner Natürlichkeit überläßt. Diese graziöse Negligenz, in der doch wieder so viel Würde und Zurückhaltung liegen, ist Augusten in hohem Grade eigen. Wenn sie spricht, theilt jedes Glied ihres Körpers die Bewegung, die aus der erregten Tiefe der Seele heraufzittert. Es ist eine Melodie der Schönheit im Körper des Weibes, die tönend herausbricht, sobald der Sonnenstrahl stillen Glückes mit goldenem Glanz Gesicht und Nacken übergießt. Auguste neckt und lockt wie der schmelzende [74] Laut einer Nachtigall, wenn sie Erinnerungen der Kindheit in leisem Gespräch erweckt. Dann fluthet wie eine verdichtete Welle des Rheines das grünseid'ne Gewand um die schönen Formen, und die langen dunkeln Locken, die das Oval ihres Gesichts halb verstecken, ringeln sich schmeichelnd um den lebendigen Marmor des Nackens. Dann küssen unsichtbare Grazien ein lächelndes Lippenpaar in die vollen Schultern, und der Zug des Herzens verbindet der Enthaltsamkeit die Augen und läßt den Mund nach dem Geschenk der schalkhaften Göttin ein glückliches Suchen anstellen.

Bardeloh's Eintritt, der meist unerwartet und mit geisterhafter Geräuschlosigkeit erfolgt, störte unser Gespräch, von dem ich nichts mehr weiß, und ich hatte kaum Zeit Augusten einen Besuch in ihrer Wohnung zu versprechen.

»Wieder so ganz allein?« fragte mein Gastfreund. »Man wird sie künftig an Ketten in die Welt hineinziehen müssen.«

»Das wird nicht schwer sein,« antwortete Auguste, »denn unser Freund ist von ungemeiner Elasticität.«

»Da haben Sie mehr entdeckt in wenig Stunden als ich seit mehreren Tagen.«

[75] »Sie wissen ja, daß Entdeckungen meine Force sind,« fiel Auguste lächelnd ein, »und sind Sie es zufrieden, so nehme ich die Verpflichtung über mich, unsern Freund in jede Gesellschaft zu führen, sei sie nun in der großen oder kleinen Welt. Ich glaube, Sigismund wird diesen Antrag nicht unbedingt von sich weisen.«

Bardeloh sah mich mit seinem durchbohrenden Blicke an, der glühend und kalt zugleich ist. Ich führte Auguste's Hand an meine Lippen. »Der Antrag ist gut,« sagte Bardeloh, »nur seid keine Närrchen!«

Er reichte seiner Gattin, die eben eintrat, den Arm, ich fühlte Auguste's Herz an meiner Seite klopfen.

»Ersticken Sie die Gemüthlichkeit, diese Kleinbürgertugend aller Deutschen,« sprach Bardeloh zu mir »und sein Sie einmal ein kalter Verstandesmensch. Wer seine Zeit und Zeitgenossen will kennen lernen, muß das Thermometer seines Herzens in der Gewalt haben.«

Wir traten in den Saal, die Gasflammen warfen blendende Helle auf die verschiedenen Gruppen der Gesellschaft.

»Spiel vereinigt,« flüsterte mir Bardeloh zu, »Spiel ist ein Versöhner alles Zwiespalts, weil es sicher neuen zu erwecken versteht. Als Gott [76] die Versöhnung stiftete, erfand der Teufel das Spiel. – Mir rast allemal der Schauer wehmuthsüßer Verzückung durch Mark und Bein, wenn ich des Würfelspiels der Kriegsknechte gedenke unter dem Kreuze, an dessen Holz der blutende Versöhner Barmherzigkeit und Vergebung mit brechendem zum Himmel gerichteten Auge predigte. – Daß die Weltgeschichte so witzig, so grauenhaft witzig ist! Hier der sterbende Gott, dort der lachende Teufel, dessen Freude aus jedem Würfelauge triumphirt! – Sigismund, geben Sie Acht, ob das Spiel am Kreuzesstamme mehr Anhänger gefunden hat, als die weinende Mutter und das Stammeln um Vergebung!«

Wir gingen unbemerkt an den Gruppen der Spieler vorüber. Die katholische Geistlichkeit hatte sich zusammengesetzt. Sie war sehr vergnügt, das unsichtbare Haupt ihrer Kirche schien sie zu einigen. Diese Menschen spielten mit der Ruhe todtgeschlagener Leidenschaftlichkeit.

»Ich beneide diese Herren, weil ich ein Bedauern für sie empfinde,« sagte Bardeloh. »Wo sich dies regen kann, hat das Glück noch immer einen Stein im Bret.«

Jetzt standen wir in der Nähe des Tisches, an dem jener kleine, blasse protestantische Prediger Platz genommen hatte. Neben ihm saß die personificirte [77] Heiligkeit in Gestalt eines demüthig frivolen Frömmlers. Gegenüber dem Geistlichen der Jude Mardochai. Auguste's voller Arm zitterte in dem meinigen. Ich drückte ihre Hand und suchte fragend ihr dunkles Auge.

»Diese drei Menschen sind entsetzlich,« rief sie mit unverhehltem Abscheu. »Wenn es deren viele in der Welt gäbe, würde gewiß in kurzer Zeit keine Tugend mehr zu finden sein.«

Bardeloh stieß mich an. Die drei Spieler waren so tief in ihre sogenannte Zerstreuung versunken, daß die Außenwelt für sie nicht vorhanden war.

»Diese Dreimänner lieb' ich,« sagte mit unverkennbarem Vergnügen Bardeloh. »Sie haben Charakter und repräsentiren die drei furchtbarsten Parteien der jetzigen Weltbewegung. Hier der Pietist mit seinen aphoristischen Bestrebungen, den Himmel zum Wohnort geistiger Invaliden zu machen, – er saugt seine religiösen Bedürfnisse aus dem Unterleibe, und redet nicht mit Engelssondern mit ganz andern Zungen. Daneben der Unglaube, das Kind einer wilden Ehe, die das Raffinement der Civilisation eingegangen ist mit der Dialektik des ultrarationalen Protestantismus. Gegenüber endlich der Radicalismus religiösen Hasses, ein Produkt fanatischen Bekehrungseifers. [78] Dieser Haß ist der Vater jener unerbittlichen Rache, die mit Schlangenklugheit und der Scheu einer schuldlosen Taube mittelst Küssen und Händedrücken am Christenthume nagt. Mardochai, ein Sohn des Orients in seinen Leidenschaften wie in seinen glühenden Phantasien, ist er doch immer ein Kind der Zeit, worin er lebt. Er wuchert heut' mit dem Aberglauben, nach dem die Bigotterie der orthodoxen Lehre Verlangen trägt, und verkauft das Bild des Gekreuzigten, an dessen Stamm seine Nationalität unter der Verwünschung des neuen Gottes in sich selbst zusammenbrach; und schachert morgen mit den Zetteln, worauf mitleidige Christen für die Emancipation des gottverfluchten Stammes stimmten, während er übermorgen die Ideen in seinen Bettelsack schnürt und damit hausiren geht vor den Thüren seiner Unterdrücker. Dies Alles thut er aus Consequenz, aus Haß, aus unergründlich blutigem Haß. Alles bringt ihm Gold – Gold, den Christus aller Welt! Wenn der Ostermorgen mit harmonischem Glockengetön den Auferstandenen verkündigt und die noch Gläubigen zur Anbetung ruft, schleicht der orientalische Rachegeist an die Pforten der Münsterkirchen und erhandelt von dem blöden Kinde des Glaubens für seine erschlaffende Demuth den Klang des Goldes, das ihm neue Rache erkauft, und auf dem gekrümmten Finger mit schmelzendem [79] Kindeslaut das Geläut der Glocken travestirt. – Diese Dreimänner, junger Freund, sind die Stützen unserer Epoche, weil sie die Schöpfung der Zukunft vorbereiten helfen. Wie gesagt, ich liebe sie. –«

Bardeloh zog die Uhr, Mitternacht war vorüber. Ein Zeichen des Aufbruches ließ die Gesellschaft schnell das Vergnügen einer stillen Raserei vergessen. Man empfahl sich. Bardeloh war wieder der liebenswürdige Wirth, der mit aristokratischer Feinheit sich in die weltliche Etiquette hineinzuleben verstand. – Der Jude Mardochai entfernte sich zuletzt, ich folgte dem Halborientalen, um Auguste nach Hause zu geleiten. Beim Weggange reichte mir Bardeloh den Hausschlüssel.

»Dies ist ein Instrument, das Sie von heute an brauchen werden,« sagte der wunderliche Mensch. »Köln hüllt sich in hellen Mondnächten in eine mährchenhafte Pracht. Ich hoffe, Sie werden nicht versäumen, in diesem Genusse zu schwelgen. Gute Nacht! –«

Da stand ich, den Schlüssel in der Hand, ehe ich noch recht begriff, wie ich dazu gekommen war. Auguste stützte sich schüchtern auf meinen Arm. Vor uns gaukelte, vom Monde verlängert, der riesenhafte Schatten des Juden, der [80] dem Dome zuwanderte. Mir schien es, als breche ein höhnisches Lachen aus der tiefen Nachtstille und klimme verhallend an den Säulenschäften des gothischen Riesenbaues hinan. –

Was konnte wol Bardeloh für Absichten haben, mir einen so gefährlichen Freundschaftsdienst zu erweisen? Halbträumend, halb in süßem Entzücken schwelgend, geleitete ich meine schöne Begleiterin nach Hause. Ihre Wohnung liegt dicht am Rhein, mit der Aussicht auf den breiten, belebten Strom, das Städtchen Deutz und zur Seite auf die duftige Kette des Siebengebirges mit dem Drachenfels.

Als ich Abschied von meiner Begleiterin genommen, hörte ich vom Hafen her in zitternden Klänge eine Violine, die eine lustige Tanzmusik mit einer hinreißenden Virtuosität in die feierliche Nacht hineinjauchzte. Ich horchte lange und ängstlich. Das Licht erlosch im Fenster, an dem ich zuvor noch die Umrisse von Auguste's Gestalt vorüberschweben sah. Es ward still. Leise rauschte der Strom durch die Schiffsbrücke, ungewisse Töne schwirrten wie Gedanken, die leise Freiheitswünsche stammeln, vom andern Ufer herüber. Das Mondlicht schlief gaukelnd auf den Blüthen der Wellen, die lustig schaffend die Fluth aus der Tiefe hob. Ein feierlicher Friede zog durch die [81] alt-katholische Stadt, nur in mir war es nicht still. Ich ging noch lange in den engen, winklichen Straßen umher, erst als der Tag im Osten das durchsichtige Augenlid zitternd aufzuschlagen suchte, trat ich den Fußweg an. In Bardeloh's Zimmer flatterte noch der bläuliche Glanz seiner melancholischen Lampe. Obwol ich eine unruhige Nacht verlebte, war ich doch sehr, sehr glücklich. –

3. An Ferdinand
[82] 3.
An Ferdinand.

Köln, den 4. August.


Mit jedem Tage spannen sich hier meine Erwartungen höher. Ich selbst gewinne an Individualität unter diesen geheimen Stößen, seit ich mir nicht mehr allein angehöre. Es ist Alles anders geworden in mir seit dem Abende, wo Bardeloh's Haus jene wunderliche Gesellschaft versammelte. Noch dämmert jene stille Mondnacht wie ein glückliches Mährchen in meiner Seele, in der mir zum ersten Male das Geheimniß gelöst ward, von dem Niemand eine Ahnung spürt als diejenigen, in denen es selbst in seligen Räthseln das Leben erzählt. Fürchte nicht, daß ich dich mit Liebesgeflüster langweilen werde. Du sollst von meinem eignen Sein nur dann etwas erfahren, wenn es sich mit dem Geschick von Personen verflicht, die in ihren großartigeren Eigenthümlichkeiten einen Theil des Weltlebens umfassen.

In den letzt vergangenen Tagen war ich bemüht, das Innere der Stadt genauer zu besichtigen. Köln [83] ist häßlich, eng, finster. Ein dunkler Schatten, den die Bigotterie des Mittelalters zurückgelassen hat, kriecht rastlos über die Stadt fort und will sich nicht von ihr scheiden. Diese alt-katolische Atmosphäre hat für einen Protestanten immer etwas Beängstigendes.

In Köln fehlt es weder an Kirchen noch Klöstern. Auf allen Straßen ragt ein solcher steinerner Zahn gen Himmel, halb zertrümmert oder doch dem Zerbrechen nahe. Und in dem hohlen Gehäuse betet einsam die Andacht ihren Rosenkranz, Weihrauch dampft als eine Ergänzung des ambrosianischen Lobgesanges um den Hochaltar, und die Kerzen dunkeln dem Erlöschen zu, wie geschwächte Augen, die das blendende Licht des hereinbrechenden Tages nicht mehr ertragen können.

Ach, mir ward schwer und bang auf meinen einsamen Wanderungen! Gedanken, vielleicht mehr als groß und unnennbar, weil zu neu, wühlten sich aus dem Schutt der alten Religiosität hervor, und klopften mit dem hellen Puls jugendlich stürmischen Lebens an das bemooste Herz des so verständig still gewordenen Menschengeschlechts. Wie mir da seltsam zu Muthe ward! Wie mir in diesem weiten, eigentlich öden Köln die Religion unsers Jahrhunderts so verlassen, beinahe verfallen erschien! Diese Stadt, noch voll innigen Glaubens an die Lehren des katholischen Kirchenthums, [84] kommt mir vor wie ein großes, gothisches Grabgewölbe, das die Entwickelung der Jahrhunderte auseinandergesprengt hat. In den Riß hinein stürzt ein milder Freudenblick des heitern Lebenshimmels und erhellt den weihrauchstillen Raum, in dem der einbalsamirte Leichnam des Gottes schläft, dessen Andenken die Welt mit vollstem Recht zur Religion erhob. Aber Himmel, wie hat sich dieser duldende Versöhner verwandelt! Das edle Gesicht ist zusammengesunken und darauf liegt der bunte Moderstaub von achtzehn langen Jahrhunderten! Um den Gesalbten aber kniet, betet, stammelt und röchelt das ungläubige Kind der armen Gegenwart, und ist erfreut, wenn der feuchte Stern der Fäulniß, der auf der verwesten Pupille sein dämmerndes Licht anzündet, es anstrahlt mit der Bewußtlosigkeit des Todes! – Ja, Ferdinand, komm hierher, in diese heilige Stadt, da kannst Du erkennen lernen, wohin es gekommen ist mit unserm verkannten Christus! Ich habe heute gekniet an seinem moderbedeckten Leichnam, und bin aufgestanden mit gebrochenem Herzen und dem zitternden Lebensweh: o daß doch Rettung erschiene vom Himmel oder der Hölle für die verlornen Völker Europa's!

Ob du mit mir fühlst, was mich beängstigt? Ob du begreifst, wie in der Vernichtung des Göttlichen, das so grell überall heraustritt, auch ein [85] Zusammenbrechen menschlicher Lebenszustände gegeben sei? Es wird mir immer gewisser, daß alle unsere modernen Verwirrungen nicht von Grund aus zu lösen sind, wenn wir nicht zugleich die religiösen Elemente von dem angehängten Schmutze zu reinigen suchen. Ein Heimweh des Geistes zieht den Menschen in das Heiligthum seines Schmerzes, das durchduftet ist von einem Aether, dessen verschiedene Bestandtheile sich consolidiren zur Religion. Nennt diesen Aether des Geistes, wie Ihr wollt, es kommt nichts dabei heraus. Immer wird er Religion bleiben, wo er sich auch zeigen, wie er sich auch gestalten mag. Erscheine ich unreligiös, so ist es nicht die innere Nothwendigkeit, die mich dazu antreibt, sondern eine unerklärliche Scheu vor diesem äußerlich Bindenden, die mir Herz und Seele in einen Sklavenring zwängt. Wenn ich beten will, so brauche ich keine Vorschriften. Die Lettern meines Gemüths sind dem Gotte verständlich, zu dem die Begeisterung meine Worte hinweht. – Freilich ist es mir wohl bekannt, daß Ihr, Du und deine Anhänger, immer nur behauptet, ohne Schale verderbe auch der Kern; ich möcht' aber nur den Beweis dafür sehen. Gleichnisse führen hierbei zu keinem Ziele, und ich bin gewiß, daß ein der Ueberzeugung des Individuums völlig frei gegebener Cultus trotz seiner äußerlichen Verschiedenheit der [86] innerlich geeinteste sein würde. Das Herz ist sich immer gleich, und betet man blos an, wenn es das Bedürfniß erheischt, so gibt es auch nur eine Art der Anbetung. –

Es kommt vielleicht sehr bald eine Zeit, wo ich Dir Ausführlicheres über dieses Thema mittheilen kann. Durch den Kirchenbesuch zufällig darauf geführt, kehr' ich jetzt wieder zu meiner Berichterstattung zurück. Auch ohne das stillere Gedankenleben drang so Vieles mit wundersamer Gewalt auf mich ein, daß ich mich veranlaßt fühle, davon zu sprechen. Es geschieht nichts ohne Einfluß auf das Ganze, und so trägt auch das kürzlich Gesehene und Erlebte bei, Dir jenes Bild ergänzen zu helfen, zu dem sich mein kleines Leben formt im Zusammenstoßen mit dem anderer und bedeutenderer Individualitäten.

Ich besuchte zuvörderst mehrere katholische Kirchen, unter denen ich als die historisch merkwürdigsten nur die Peterskirche mit Ruben'schen Gemälden, die Gereons-, Apostel- und St. Ursulakirche nenne. Letztere fesselt viele Fremde, da in ihr die Schädel der 11,000 Jungfrauen aufbewahrt werden. Wie gewöhnlich jagte mich von dannen, was Andere hält. Die Todtenschädel mochte ich nicht bewundern. Ich liebe das Leben, das mir ohnehin noch zu todt ist, und Jungfrauenschädel habe ich lieber in lebendiger Frische. Interessanter [87] als diese Schädel war mir daher auch eine in dunkle Seidengewänder gehüllte Gestalt, die in einer Seitenkapelle anscheinend in Andacht versunken auf den Knieen lag. Die Welt sprach zu lockend aus den edlen Formen, die unter der dunkeln Verhüllung hervorschimmerten, als daß ich unbeachtet der Betenden hätte vorübergehen können. Ein Altargemälde betrachtend war ich bemüht, den herabfallenden Schleier mit dem Blick zu durchforschen. Dies schwierige Experiment gelang mir nur zur Hälfte, doch glaubte ich zu bemerken, daß ein paar funkelnde, rheinische Augen sich mehr der Außenwelt zuwendeten, als in innere Tiefen blickten. Das schlanke Mädchen erhob sich, ein Fehltritt machte es schwanken, es wäre beinahe die Stufen herabgefallen. Behend erfaßte ich es am Arm und verschob dadurch den Schleier. Ein weltlich-frohes Gesicht von dem lieblichsten Oval, das ein Stumpfnäschen noch mehr verschönte, lächelte mit naiver Verschämtheit mich an.

»Danke dem Herrn,« lispelte das holde Kind, zog, als wolle es mich necken, den Schleier wieder herab und verschwand im Schiff der Kirche. An der Thür trat ein junger Mann zu der Beterin, der lebhaft sprechend mit ihr fortging. Ich folgte dem Paare durch einige Gassen und merkte mir das Haus, in dem es verschwand.

Müde des katholischen Wesens, und von Glück[88] und Unglück gleichermaßen gefoltert, trat ich in die protestantische Kirche, weniger, um in diesem Augenblicke meinem Bekenntniß ein Genüge zu thun, als den Contrast recht innerlich durchzufühlen, der in einer ächt katholischen Stadt immer grell dem Protestantismus gegenüber sich heraushebt. Die Kirche war einfach und gänzlich schmucklos. Es mußte eine Frühpredigt oder ein Gebet gehalten worden sein, denn ich bemerkte den Pastor noch in der Sakristei. – Es gehört mit zu meinen Liebhabereien, die Prediger aller Secten möglichst zu beobachten. Daraus läßt sich oft ein ziemlich genauer Schluß folgern auf das Bekenntniß selbst, dessen Vorsteher und Vertheidiger wir in ihnen erblicken. Als der Mann aus der Sakristei durch das Schiff der Kirche ging, traute ich kaum meinen Augen. Es war die Gestalt, Haltung, Physiognomie des hagern, erdfahlen Mannes mit den gestickten Ueberschlägeln, der mir in Bardeloh's Hause so widerlich aufgefallen, vor dem sich Auguste entsetzt hatte und dessen ausgeprägte Charakterschroffheit Bardeloh mit Entzücken erfüllte.

Unbemerkt wollte ich mich entfernen, der Geistliche hatte mich gesehen und redete mich an.

»Sie sind fremd in Köln, nicht wahr?« – Ich bejahte die Frage.

»Irre ich mich nicht,« fuhr der Prediger fort, »so haben wir uns schon im Vorübergehen kennen [89] gelernt. Waren Sie nicht vor einigen Tagen in der Abendgesellschaft bei dem Particulier Bardeloh?«

»Ich erfreue mich seiner Freundschaft und wohne in seinem Hause.«

»Das ist viel behauptet! Bardeloh kennt keine Freundschaft. Dazu ist er zu gebildet.«

»Aus dem Munde eines evangelischen Geistlichen ein solches Wort zu vernehmen, kommt mir seltsam vor.«

»In der That? Nun wenn Sie ein Freund des Seltsamen sind, so können Sie bei mir Befriedigung finden. Mein Haus steht Ihnen jederzeit offen. Ich wohne gleich neben an und stehe zu Diensten. Jetzt entschuldigen Sie – meine Amtstracht –«

Mit einer stummen Kopfbeugung, begleitet von jenem Glitzern des Auges, das eben sowol Geist als Geringschätzung wo nicht Verachtung der Welt ausdrückt, verließ mich der Prediger. Die wenigen Worte, die er an mich richtete, waren ganz geeignet, eine nähere Bekanntschaft mit ihm zu wünschen. Ich entschloß mich der Einladung zu folgen, sobald als möglich.

Die Mittagszeit war bereits herangekommen, als ich den Rückweg antrat. Noch zu wenig orientirt, verlief ich mich in dem Gewirr enger, dunkler Gassen und kam in die Nähe eines der Klöster, die es hier gibt. Die grauen Mauern, [90] die schleichende Stille, die aus jedem Steine seufzt, ließen mich das alte, finstere Gebäude eine Zeit lang betrachten. Das Leben schien ausgestorben um diese Wohnungen des Friedens, wie die Gutmütigkeit religiös-barocker Gemüther die Marterkammern des vom Geschick verfehmten Menschen genannt hat. Gerade über mir in bedeutender Höhe vor einem schmalen Fenster blühte ein dürftiges Röschen, ein Paar Vergißmeinnicht neigten die verweinten Augen schüchtern in das klare Sonnenlicht, dunkle Winde rankte an dem Fensterstock hinan, Epheu mit dem finstern, scheuen Laube griff sich phantastisch herab vom verwitterten Schieferdache und umspann zur Hälfte die enge Oeffnung. Dumpfe, hohle Todtenstimmen begannen die Hora zu singen. Dieser Jammerlaut der Entsagung klang wie der Verzweiflungsruf und das wüste Pochen eines Lebendigbegrabenen an den mitleidslosen Sarg. Kein lebendiges Wesen außer mir war zu erblicken; am hellen Tage schrie im Thurm die Eule. Der angeborne Abscheu gegen Klöster und Zellen stürzte über mich, wie der Schauer eines kalten Bades; ich wollte forteilen, als plötzlich mit humoristischem Tone in den fernen Horagesang eine schreiende, lustige Männerstimme einfiel. Horchend blieb ich stehen. Der Ton kletterte an den Wänden herab, ich sah hinauf nach dem Fenster – ein eingefallnes, [91] bleiches Mönchsgesicht leuchtete wie ein gefangener Geist durch das Gewebe des Epheu, das die Winkelspinne der Weltgeschichte anheftet überall, wo die Dunkelheit über das Licht triumphiren will. Anfangs konnte ich nur einzelne Worte verstehen, da aber der singende Mönch sich selbst zu erheitern schien an seinen Versen, den wahrscheinlichen Productionen hirnverzehrender Einsamkeit; so gestaltete sich bald in der Wiederholung ein Ganzes aus den Bruchstücken. Ich möchte Dir gern eine Probe dieser Klosterzellenpoesie geben, wenn ich nicht fürchten müßte, Dich dadurch zu verwunden. Klöster sind ganz besondere Verwahrungsorte. Ich möchte sie als die Büchsen in der Weltapotheke betrachten, in denen unter hermetischem Verschlusse das potenzirte Gift des Geistes verwahrt wird, wenn die Heiligkeit des reinen Menschen in ihm zu Tode gekitzelt worden ist. Doch ich bin still und füge nur noch bei, daß der Mönch in seinem Liede weltlich frivole Ausdrücke, die an die tiefste Gemeinheit grenzten, so barock, so furchtbar ergreifend mit den feierlichernsten Worten der Hora und des erschütternden alten Kirchenliedes »dies irae, dies illa« zu verschmelzen wußte, daß auch der kälteste Mensch mit Entsetzen vor diesem Gesange zurückschaudern würde. Dabei hielt er die Melodie des angeführten Liedes mit einer wunderlichen Lustigkeit fest, was dem [92] Ganzen ein unaussprechlich grelles Gemisch von dämonischem Hohne und verrückter Brunst verlieh. Nur des letzten Verses kann ich mich noch ziemlich deutlich erinnern. Ich glaube er schloß ungefähr, wie folgt:


»Lustig, lustig, hört Ihr's girren?

Ingemisco, tanquam reus

Dirnen lachen, schäkern, kirren

Heil'ge Brüder – mit Monstranzen

– Stürzen hin im wilden Tanzen –

Culpa rubet vultus meus.

Lustig, lustig, hört Ihr's girren?

Preces meae non sunt dignae

Sei gegrüßet, holde Schöne!

Dich, Maria, mit Gestöhne

Bet' ich an – 'nen Kuß, 'nen Kuß! –

Sed tu, bonus, fac benigne,

Ne perenni cremer igne.

Deinem Leib fall' ich zu Fuß.

Heisa, lustig! dies illa – in favilla – in favilla!«


Wie gefällt Dir das Lied, Ferdinand? Schüttle nicht den Kopf, verhülle nicht Dein Auge! Immerhin laß die Thräne rinnen vor dem Angesichte der Welt in den Kelch der Gnade, den der sterngeschmückte Himmel allnächtlich dem Menschen herabreicht. –

Noch zittern mir die Glieder, wenn ich des singenden Mönchs gedenke, dessen grauenhaftes Lied wie ein Abriß des Weltgerichts hereinheult [93] in die vollen, heiligen Stunden des Lebens. Hättest Du ihn singen hören, diesen Mönch, dessen leise Umrisse ich kaum auffangen konnte! Ist er krank, ist er toll, oder verpestet die Seuche des vom Gelübde der Keuschheit ausgemergelten Leibes ihm den Sternenhimmel des Gedankens, der fleckenlos bleiben muß, wie sein Ebenbild, wenn er in den bald stillen, bald von Leidenschaften erbebenden Dom der Menschenbrust seine heiligen Schauer senden soll? –

Das sind Entdeckungen, die gewaltig viel dazu beitragen, mich auf die sündhafte Trennung hinzuführen, die leider noch immer besteht zwischen Fleisch und Geist. Auch dies gehört zu den Folterqualen des europäischen Lebens. Man ist so human gewesen, Daumschrauben, spanische Stiefeln und Hexenproben für unvernünftig zu erklären und doch noch nicht darauf gefallen, jener geistigen Folter ein Ziel zu setzen, die nur Schwärmerei und Bigotterie zu einer Gott wohlgefälligen Uebung erheben konnten. Sobald einmal etwas erfunden wird, sind die Menschen wie toll, es sich zuzueignen, tritt aber der Fall ein, daß eine neue Zeit die Nichtigkeit des ehemals Erfundenen erkennt und auf Entfernung desselben dringt; hält man es fest mit hundert Händen, sollte dabei auch die liebe Vernunft in hunderttausend Fetzen zerreißen. Ach, es ist schwer, ein Mensch zu bleiben!

[94] Das Kloster suche ich nächstens wieder auf, vielleicht auch erfrage ich etwas Näheres über den Mönch von Bardeloh oder dem protestantischen Mephistopheles. Heut Abend habe ich große Dinge vor. Würde ich so glücklich, als ich in diesem Augenblicke vernichtet bin! –


Nach Mitternacht.


Nur in der verschwiegenen Nachtstille kann ich Dir vertrauen, was ich in den letzten Stunden erlebt habe. Man darf es nur darauf anlegen, Erfahrungen machen zu wollen, und die Sammlung dieser herzzerreißenden Raritäten wächst an zu einem großartigen Kabinet. Schade, daß die Mitwelt so stumpf ist, wenig darauf zu achten! Einer, der es sich vornehmen wollte, sein Leben mit Ausstellungen so gesammelter Seltenheiten zu fristen, würde schlechte Geschäfte machen. Der Gedanke wäre zu poetisch und im Grunde ist doch nur die verloren gegangene Poesie in Wissenschaft, Leben und Religion das Aufreibende, Vernichtende im modernen Dasein.

Als ich von meiner Morgenwanderung zurück kam, fand ich Bardeloh in einer ungewöhnlich heitern Stimmung. Felix war bei ihm und konnte sich ungestört seinen naiven Scherzen überlassen. Dies war ein Blick des geöffneten Himmels in [95] meine gequälte Seele. Ich drängte den individuellen Schmerz zurück, ließ die hinter jedem civilisirten Menschenkopfe herabflatternde Lachmaske – diese Kaputze des Jesuitismus – über mein Gesicht fallen und spielte eine erträgliche Humoreske.

»Sie müssen unser Nest gut durchstöbert haben,« sagte Bardeloh. Seit Tages Anbruch fort kommen Sie eben jetzt erst zurück? Nicht wahr, Köln hat auch einige Seiten, von denen es fesselt, lange, lange fesselt?

»Das Alterthum« versetzte ich, »hat es den Deutschen angethan, und mehr oder weniger hat Jeder von uns seine alterthümlichen Gelüste.«

»Mich dürfen Sie davon ausschließen.«

»Nicht ganz. Ihr Reservoir dort hinter der Tapete fällt mit diesem nationalen Hange der Deutschen zusammen.«

Bardeloh verfärbte sich und an dem Spiel seiner Finger, das bei jeder Aufregung sehr lebhaft wird, bemerkte ich ein innerliches leidenschaftliches Toben.

»Sie müssen Unterschiede machen, lieber Sigismund,« erwiederte mein Gastfreund, die vorige Haltung frischer Ruhe wieder annehmend. »Ich sammle nicht, ich forsche blos; und wenn ich aus der Augenhöhle eines Todtenschädels so glücklich bin, den Lebenslauf eines Jahrhunderts herauszulesen, so werden Sie diese Fähigkeit nicht zu den [96] Liebhabereien eines Alterthümlers zählen können. Wo das Lebende nicht ausreicht, psychologisch die Menschheit zu erforschen, zwingt uns die Noth, das Todte zu Hülfe zu nehmen. Und ich sehe nicht ein, warum nicht in einem hohlen Schädel so viel Witz stecken soll als in einem mit Gehirn erfüllten.«

Felix, der unterdeß an der Fensterscheibe den preußischen Zapfenstreich getrommelt hatte, jauchzte hier laut auf, riß die Fensterflügel aus einander und rief einmal über das andere: Guten Tag, guten Tag!

»Was fällt Dir denn ein, Junge?« wandte sich der Vater an den Knaben.

»Ach, da hat sich der Friedrich mit seinen großen Wasserstiefeln uns gegenüber an die Laterne gelehnt und stimmt seine Geige!« erzählte Felix. »Eine ganze Schaar Gassenjungen sammelt sich um ihn und gib Acht, Vater, Friedrich wird einen Tanz loslassen, daß die Häuser wackeln. Im Geigen thut's ihm nur der Paganini zuvor.«

»Was Du bewandert bist,« versetzte Bardeloh. »Weiß der Junge schon, daß es einen Paganini gibt.«

»Ja das kommt von deinem Geplauder, Vater. Du hast den Paganini immer gelobt und nanntest ihn dazumal den Satansfiedler. Nun der Friedrich [97] bringt's doch noch weiter. Der wird Dir noch den Todtentanz streichen.«

»Still!« gebot Bardeloh auf diese Bemerkung. Felix verließ das Fenster und suchte verschüchtert Schutz bei mir. »Nun hab ich's wieder ganz versehen beim Vater,« flüsterte er mir zu, »denn wenn er mich so kalt ansieht, hat er mich nicht lieb. Du bist aber immer sanft, Dein Auge strahlt blos. Das lieb' ich weit mehr, als das knisternde Brennen, was ich beim Vater ordentlich hören kann, wenn ich ihn recht genau ansehe. Hörst Du? Nun geigt der Friedrich.«

Es bedarf wol kaum der Bemerkung, daß jener Friedrich kein Anderer war, als der Schifferknecht, dessen Erscheinung mir am Hafen schon aufgefallen. Die Art und Weise, die Violine zu handhaben, der Strich des Bogens, die Tanzweise, Alles ließ mich augenblicklich errathen, daß ich den Virtuosen vor einigen Tagen in der stillen Nacht am Hafen gehört hatte. Wer dieser Friedrich sein mag, will mir Niemand verrathen. Gewiß hat er bessere Zeiten gekannt, und Felix hat in seiner kindischen Unbefangenheit, ihn Paganini an die Seite zu stellen, nicht ganz unrecht. Friedrich spielt die Violine nicht nur meisterhaft, sondern sogar genial. In manchem Tone sieht man das Auge einer lang getäuschten Welt brechen und ein Schluchzen, wie es aus diesen abgerissenen [98] Tönen klingt, kann nur die Melodie eines verkümmerten Genius aus der seelenlosen Saite weinen lassen.

Bardeloh's Mienenspiel bei dieser wahnwitzigen Tanzmusik kann ich Dir nicht schildern. Ein solches Gemisch von Ingrimm, tiefem Weh, frivoler Wollust, grauenhafter Weltverachtung und fashionablem Anstande habe ich noch in keines Menschen Gesicht in solch' trauter Innigkeit sich paaren sehen. War dies Muskelzucken ein Schatten der Vibrationen, die Bardeloh's Herz folterten, so liegt in diesem Menschen eine Welt verschlossen, die in ihrer naturgemäßen Entfaltung geeignet sein würde, Alles zu vernichten, was ihr entgegenträte und über Europa die Sonne einer neuen Thatenära aufglänzen zu lassen.

Eine Zeit lang hörten wir schweigend zu, ich zu gleich meinen Wirth, wie den Spieler beobachtend. Die Gassenjugend benutzte die Gelegenheit und sprang nach Herzenslust um den fidelen Geiger. Bardeloh nahm einen Beutel aus dem Secretair und rief den Buben zu, auseinander zu gehen; er wolle Jedem vier Groschen schenken. Dem Versprechen folgte die That auf der Stelle. Jubelnd empfing die Gassenjugend die verheißene Gabe und zerstreute sich. Den Rest des Beutels warf er dem Geiger zu. »Hier, Friedrich,« rief er mit kaltem Tone, »trinke meine Gesundheit [99] und spiele nicht auf den Straßen. Merke Dir's, Friedrich, sonst lasse ich Dich einsperren.«

Friedrich nahm den Hut ab und küßte den Beutel. Er trat dem Hause näher. Sein gutmüthig-schlaues Gesicht wandte sich dem Sprecher zu, indem er antwortete: »Die Erde lebt vom Sonnenschein. Es hat sich noch keine Maus vom Speck gemästet, wenn die Katze im Speisegewölbe Reveille schnurrte. Mein Herr und mein Meister, wäre ich nicht arm, so würde der Himmel ein paar Zwillinge mehr in seinem Busentuche hätscheln.« Nach dieser Antwort lief er so eilig als möglich mit den knasternden Theerstiefeln in die nächste Gasse.

Ist das nicht eine Shakspearesche Narrenantwort? Wer kann hinter ihren wahrhaftigen Sinn kommen? – Bardeloh hatte den Kopf sinnend an den Fensterstock gelehnt, es vergingen fünf peinliche Minuten. Gern hätte ich gesprochen, aber eine unerklärliche Scheu verhinderte mich daran. Selbst Felix, sonst immer unbefangen, bedeckte mit beiden Händchen sein Gesicht, als fürchte er einem Geheimniß in die geisterhaften Augen zu sehen. Der Eintritt Rosaliens unterbrach diese peinliche Ruhe. Wir gingen zur Tafel, an der eine unerquickliche Einsilbigkeit heimisch blieb. Erst bei dem Desert und als der schäumende Moselwein ein künstliches Leben in [100] uns angeregt hatte, begann Bardeloh ein Gespräch, in das bald der kindlich heitere Felix seine Bemerkungen mischte. Bardeloh brachte mich abermals auf meine Excursionen, und einmal in's Erzählen gerathen, erwähnte ich meines Irregehens und des Klosters. Schnell dazwischen geworfene Fragen Bardeloh's verriethen ihm bald die Lage desselben und ehe ich noch selbst das Gespräch auf den Mönch hingeleitet, hatte er mir bereits ein unfreiwilliges Geständniß entrissen.

»O, daß die ewige Gerechtigkeit des Weltenschöpfers Feuer vom Himmel regnen ließ,« rief er wie verstört aus, »damit doch endlich diesem Unsinn ein Ziel gesetzt würde!«

»Gottlob, er ist's!« seufzte Rosalie dazwischen. – Ich saß wie versteinert, mein Blut gefror in den Adern; mich zu erwärmen stürzte ich ein Glas Wein nach dem andern hinab.

»Was ist's mit dem Mönch?« fragte ich endlich.

»Eine bloße lustige Geschichte,« versetzte mit lächelnder Weltverachtung mein Gastfreund. »Wenn Sie bibelfest sind, wie ich, so werden Sie sich erinnern, daß Christus die Krämer gelegentlich einmal aus dem Tempel geißelte. Der Brut geschah ohne Zweifel sehr recht, und es war verdienstlich von unserm Herrn, daß er sich zu dieser Charge selbsteigen degradirte; wissen möchte ich nun aber [101] doch, was dieser selbige Herr Christus mit dem Gezücht anfangen würde, das sich jetzt und zwar seit Jahrhunderten mit seinem vermaledeiten Schacher eingenistet hat in den Kirchen. Sonst verkaufte man doch nur Tauben und Opfervieh, jetzt aber legt man sich mit allem Raffinement pfiffiger Entsittlichung auf den Handel mit Tugend und Moralität. Setzt sich die heilige Gesellschaft hin und scheert sich den Kopf halb kahl, um der Erleuchtung nachzuhelfen, und ist doch nicht klug genug zu bemerken, daß zum Gedeihen des Fettwerdens ein Capaunerschnitt unerläßlich! Und wenn's nun einen muntern aufgeweckten Menschen zu Kopfe steigt und das Fett, statt im Wanst sich anzusetzen, nach den Gehirnkammern treibt; steckt man einen solchen misrathenen Halbkapaun in ein enges Gemach, damit er sich die unnatürlichen Fettwammen abwimmern kann.«

»Es sind fast zehn Jahre, seit wir ihn vermissen,« fiel Rosalie dem Erbitterten in die Rede. »Es wäre entsetzlich, wenn dies die Rache des Geschickes für eine unzeitige, bigotte Rechtgläubigkeit sein sollte.«

»Mir wär's angenehm,« versetzte Bardeloh und hob die Tafel auf. »Ohnehin muß man ja immerfort gestachelt werden, wenn's frisch bleiben soll hier in dieser Tropfsteinhöhle.«

Er legte die Hand auf's Herz und maß das [102] Zimmer mit großen Schritten. »Morgen, mein theurer Sigismund,« fuhr er zu mir gewandt fort, »morgen müssen Sie mich zum Prior jenes Klosters begleiten. Dann will ich Ihnen eine Geschichte erzählen, die Ihnen beweisen soll, daß ein Mensch wie ich in Europa nöthigenfalls wol als Gestorbener aushalten kann, bei Lebzeiten aber den Leichentuchgeruch doch zu aromatisch findet, um ihn zu ertragen, und wäre er mit kölnischem Wasser versetzt. Einstweilen haben Sie Dank für die Nachricht. Ich wußte wol, daß ein Hausschlüssel in ihrer Hand zum Dietrich für Himmel und Hölle sich gestalten würde.« –

Damit endigte unser Gespräch und Beisammensein. Neue Zweifel, neue Erwartungen waren in mir angeregt worden. Bardeloh schloß sich in seinem Zimmer ein und hielt Zwiesprache mit der List seines Gedankens. Neugier und Unruhe jagten mich hinaus an den Strom, der, ein ewig strahlendes Hoffnungsauge, aus der heiligen Grotte der Alpen hervorblickt mit der Verheißung großer Thaten, und mit bewegtem immer heller schimmerndem Lid durch Deutschlands Auen schweift, sie deckend, schirmend und beschattend mit weinthauender Wimper. O, wer nie hineingeschaut in den goldgrünen Himmel dieses Auges, der kennt nicht den Schmerz und die Freuden der Hoffnung! Ich habe die flüsternden Wellen über [103] mir zusammenschlagen lassen und mich gebadet lange Tage in dem Glanz der Verheißung. Bis tief hinein in das Farbenchaos der Nacht stand ich am Bord der zuckenden Fluth und harrte des Momentes, wo der Puls des Weltalls durch die Schlagadern des Himmels die funkelnden Stunden der Freude trieb und ihren matteren Abglanz aus dem Kristall unter meinen Füßen vorüberjagte. – Ob ich auch nur eine dieser glänzenden Stunden herausschöpfen werde aus meinem Lebensbrunnen? Ob ich erhasche, was jedem Europäer die Geburt verheißt, ein befriedigtes Alter nach bitterm Kindesschmerz und verwüstenden Lebensstürmen? – Sei's und werd' es, wie das Recht der Geschichte will, meiner Hand soll weder Schwert noch Kreuz vor der geeigneten Stunde entfallen! –

Die Dämmerung wob ein warmes, farbenschillerndes Netz über die Trümmer der vielen Thürme und Kirchen. Ich war den Rhein entlang hinausgegangen bis an den äußersten Thurm, dessen Fuß in den Strom hinabsinkt. Duftig lag auf dem Azur des Himmels das vom Abendroth umflammte Siebengebirge am Horizont, wie das zerrissene Herz Deutschlands, dem Himmel dargereicht auf blauem Kissen, und bluttriefend starrte daraus empor der Drachenfels als seine letzte verstümmelte Schlagader. Dunkler und[104] glühender stürzte der Abend herab und der Strom trieb wie auf grünen Muscheln mit weißen Perlen gestickt das eingeschlürfte Blut des Herzens dem Ocean entgegen. Ich wandte mich der Stadt zu. Aus dem vergitterten Thurmfenster klagte ein armer Gefangener. Es war schon dunkel als ich an der Wohnung des protestantischen Predigers stand. Der Besuch ängstigte mich und doch konnte ich kaum den Eintritt erwarten. Ich mußte mehrere Male läuten, ehe geöffnet ward. Pastor Gleichmuth war zu Hause. Ich ließ mich anmelden und ward vorgelassen.

Der Prediger empfing mich in einem comfortable eingerichteten Zimmer, dem es jedoch keineswegs an den Insignien der Gelehrsamkeit gebrach.

»Es ist mir sehr erfreulich, Sie als Mann von Wort kennen zu lernen,« redete mich der Pastor mit zuvorkommender Freundlichkeit an. »Lassen Sie uns ein Stündchen in traulichem Gespräche zubringen und die Störnisse vergessen, die sich so gern an glückliche Momente wie neidische Schwämme ansetzen.«

Mit einer civilen Artigkeit, wie das Herkommen eine zur Gewohnheit gewordene Lüge schmeichlerisch nennt, setzte ich mich neben ihn auf's Sopha. Er ließ Licht bringen und eine zwar interessante aber körperlich verkümmerte Dame, die [105] mir als Frau Pastorin vorgestellt ward, bereitete im Nebenzimmer vortrefflichen Thee.

»Gedenken Sie längere Zeit in Bardeloh's Hause zu bleiben?«

»Wahrscheinlich so lange, als mein Aufenthalt in Köln dauert!«

»Und darüber dürften noch verschiedene Wochen und Monate vergehen, nicht wahr?«

»Schwerlich; doch kann ich darüber selbst nichts Genaues bestimmen. Hätte ich immer eine Gesellschaft, wie Sie mir sie bieten dürften, so würde ich wol auf längere Zeit gefesselt.«

»Sehr verbunden!« lächelte mit verachtender Höflichkeit mein Sophanachbar. »Eine Tasse Thee? – Bitte, bedienen Sie sich.« – Wir tranken und waren sehr still. Ich beobachtete den Prediger, auch sein kleines, tief eingesunkenes Auge funkelte, wie das einer Klapperschlange, aus der braunen Höhlung.

»Bardeloh ist ein guter Mann,« begann Pastor Gleichmuth, indem er sich das Ueberschlägel abband, »ein sehr guter Mann,« fuhr er rascher, belebter, ungenirter fort und in sein ganzes Wesen schien ein elektrischer Funke gefahren zu sein. »Ich liebe diesen Menschen, wie er mich, denn er verachtet Alles, was nur leise zusammenhängt mit einer Doctrin der Willkür.« Sein Auge [106] fixirte mich bei diesen Worten mit der Schärfe eines Tigerblick's.

»Aus Ihrem Munde, Herr Pastor, klingt dies paradox.«

»Ich bin nicht Pastor,« sagte ruhig, fast kalt der Prediger.

»Wie? Nicht Pastor!«

»Der Pastor hat Abschied genommen mit diesen Läppchen,« versetzte Gleichmuth mit einer Ruhe, die seinem Namen Ehre machte. »Sie wundern sich, wasich sehr begreiflich finde. Indeß mache ich Ihnen bemerklich, Herr Sigismund, daß ich im Priesterrock und Ueberschlägel Amt und Würde eines evangelischen Predigers bekommen und übernommen habe. Der Mensch saß während der Ordination freilich unter der Hülle, ich glaube aber nicht, daß er bei mir etwas von den Gelübden wußte, die der Pastor that. Ich schwor, gelobte, versprach als Maske – und was ich als solche Maske geschworen, gelobt und versprochen habe, das werde ich als Maske auch immer zu halten wissen. Jetzt sehen Sie in mir den Menschen demaskirt, suchen Sie auch den Geist, der die Maske belebt, da, wo jene liegt.«

Der Pastor trank eine zweite Tasse Thee, ich folgte seinem Beispiele und hielt Rath mit meiner Vernunft, die wie ein erschrockenes Kind im Hintergrund meiner Seele saß.

[107] »Wie gleicht sich denn bei einer solchen Gesinnung der Zweifel zwischen Glauben, Lehre und Ihrer eigenen Ueberzeugung aus?« fragte ich den unheimlichen Mann.

»Sehr bequem. Als Pastor bin ich nicht mehr Ich. Mein Individuum ist aufgegangen in den Falten des schwarzen Talars, der Mensch schläft in dem gestickten Kreuze, das meinen Hals ziert. Nicht das Wort des Menschen, sondern des Priesters spricht aus meinem Munde. Ich thue nicht mehr und nicht weniger, als was die Kirche verlangt, ich bin ein Diener, einδοῦλος τοῡ Ἰησοῦ Χριστοῦ. Wer Knechtsdienste verrichtet, müßte sehr bornirt sein, wollte er dabei zugleich auch seine eigenen Angelegenheiten verhandeln.«

»Dem läßt sich weniger logisch widersprechen als menschlich,« versetzte ich, »nur bin ich der Meinung, Sie selbst leben in einem Irrthume, der Ihnen weder ein reines Glück, noch eine wahre Freude vergönnen wird. Als praktischer Theolog müssen Sie unglücklich sein, da Sie immer lehren, was Sie nicht achten.«

»Einbildung, Grillenfängerei! Das Kleid docirt, nicht mein chI, oder wenn Sie lieber wollen, der in das Kleid eingenähte Geist. Diese feine Substanz kann nicht heraus, und ängstigt sich ab im Bemühen, zu entfliehen. Die Stoßseufzer, [108] die er vernehmen läßt, sind die Tröstungen wenigstens meiner Religion.«

»Achten Sie sich noch selbst?« fragte ich.

»Ich hoffe ein menschliches Antlitz zu tragen, wie Sie, mein Verehrtester.«

»Und im Priesterrocke –?«

»O, der Geist hat viele Gestalten, in die er zu Nutz und Frommen der Menschheit sich hüllen kann.«

»Ich beneide Sie nicht um Ihr Amt, Herr Pastor.«

»Bitte sehr, nennen Sie mich schlechtweg Gleichmuth. Der Pastor hängt dort, das Kreuz und seine Lehren liegen unter meinem linken Ellbogen.«

Gleichmuth's Gattin brachte Backwerk, mir dunkelte es vor den Augen. Einen solchen Diener des Herrn hatte ich noch nicht kennen gelernt. Ruhig fuhr der Prediger fort:

»Consequenz, mein Theurer, ist das große Geheimniß, das Alles zum Ziele führt. Die Welt im Allgemeinen ist viel zu gutmüthig-bornirt, als daß sie an einer schlau durchgeführten Consequenz im Geringsten zu zweifeln wagte. Alle Staaten hielten sich, so lange eiserne Consequenz der Verkündiger ihrer Tugendhaftigkeit war, sie fielen langsam oder schnell, je nachdem ein unvorsichtiger Moment die Maske verrückt oder gelüftet [109] hatte. Dies erleidet auf alle Religionen genau dieselbe Anwendung. Ich frage nicht nach dem Werth einer Religion – denn es taugt keine sehr viel, sobald sie zu einer unwandelbaren Norm und Form erhoben wird – sondern immer nur nach der Weisheit ihrer Maximen. Dem zufolge nun ist heut zu Tage der Islam die beste, dem sich am engsten im christlichen Bekenntniß der Katholicismus anschließt. Der Protestantismus taugt am wenigsten, weil er das Menschliche gutmüthig einigen wollte mit dem Priesterlichen. Das führt nur zu Spaltungen, zu Unglück der Einzelnen, wie der Völker, und geistigpolitische Gährungen sind unvermeidliche Folgen. Soll ein Cultus frommen, so muß er äußerlich phantastisch sein und innerlich hohl, oder der Fanatismus der Leidenschaft, zur Moral erhoben, muß ihn beseelen. Beides fehlt dem Protestantismus, der in kindischem Wahne das Gesetz der Liebe erfüllen will, während die Skepsis seiner Verständigkeit ihm doch beweist, daß man Schmetterlinge nicht angreifen darf, wenn sie den Schmelz der Farben nicht verlieren sollen.«

»Wie pflegen Sie es denn bei solcher Ueberzeugung zu halten?«

»Ich trenne, weiß zu scheiden und bin nicht so thöricht bigott oder tief religiös verbinden zu wollen, was Gott selbst lächerlich finden müßte. [110] Die Consequenz des Schweigens ist der Talismann meines Erfolgs. Meine Gemeinde achtet mich und ich dulde sie. Was ich als Mensch, d.h. ohne Priesterrock, thu' und denke, wird mir nicht eingerechnet in mein Amt.«

»Hier freilich nicht« bemerkte ich, »sollten Sie aber nicht zuweilen in sich selbst ein Warnen hören, das mit unwiderstehlichem Zittern durch Ihre Seele bebt?«

»Treffliche Anlagen zu einem Bußprediger! – Nein, Sigismund. Diese Qual eines mißrathenen Gewissens kenne ich jetzt nicht mehr. Dieser Livreebediente der ewigen Gerechtigkeit hat bei mir von Jugend auf eine sehr gute Erziehung genossen, was mir ungemein zu Statten kommt, da er allen Fieberanfällen und seelischen Epidemien ungehindert widersteht. In mancher Hinsicht freilich reut mich diese strenge Erziehung, da sie Ursache ist, daß ich Vieles an mir jetzt muß vorübergehen lassen, was doch zum Ausleben des menschlichen Daseins meinen Jahren erst gehört. Ich zähle zweiunddreißig (ein bleicher Schatten wehte, wie die rächende Hand der Sünde über sein eingestürztes Gesicht) und sehe für dieses Alter etwas zurückgekommen aus. Wäre ich in der Jugend eben so Herr meines Denkens gewesen, wie jetzt, so dürfte dies leicht anders sein. Meine Wünsche aber tanzten nach der Wünschelruthe älterlicher [111] Machtvollkommenheit. Der Theolog war geachtet, ein leidliches Auskommen ward jedem gesichert, sobald ein regerer Lebenssinn ihn nicht hindrängte zu Genüssen, die in keinem Verhältnisse stehen mit der Oekonomie seines Haushaltes. Dies bedachte ich frühzeitig und richtete darnach mein Leben ein, was mir in meiner jetzigen Würde einen ungeheuchelten Ernst oft wider Willen sichert und meine Gemeinde nicht auf den Gedanken bringt, ich huldige dem Studium der heiligen Geschichte zu wenig. –«

Der Theolog schwieg einige Augenblicke, in mir stritten sich Verachtung und Bewunderung dieses Mannes um den Vorrang. Ein Zug um den Mund verrieth mir jedoch das Vorhandensein eines Grames, dessen tiefes Weh nur zu scharf beobachtet ward, um laut aufzuschreien in der Qual seiner Fesseln.

»Sie scheinen Theil zu nehmen an mir,« fuhr der Pastor fort, »und nicht unempfindsam zu sein gegen den Menschen, der sich als Geistlicher erlaubt, einen Unterschied zu machen zwischen Beiden. Ich will offen sein, um Ihnen nicht verachtungswürdig zu erscheinen. Schenken Sie mir Ihren tiefsten Haß, so sollen Sie dagegen von meiner verborgendsten Liebe getragen werden!«

Er stand auf und öffnete einen Wandschrank. Aus einer sorgfältig mit vielen Schlössern verwahrten[112] Schatulle nahm er ein neunfach versiegeltes Manuskript.

»Hier, mein Theurer,« sagte er, die Rolle mir zeigend. »Unter diesem neunfachen Siegel (ich würde deren sieben darauf gedrückt haben, wenn ich, der Ungläubige, aus Aberglauben diese Zahl nicht haßte) liegt der Schmerz eines dreißigjährigen Lebens. Lesen Sie diese meine Lebensgeschichte, und lernen Sie aus ihr die geheime Biographie des theologischen Menschen im Allgemeinen kennen. Doch versprechen Sie mir, die Siegel nicht am Tage zu lösen, sondern nur unter dem Schatten der Nacht. Die Keuschheit des Gedankens entsetzt sich vor diesen Bekenntnissen, und selbst die Pracht der Sterne könnte verschießen und der Baldachin des Himmels zum Garderobestaat für die Fastnacht der Erde herabfallen, wenn Sie nicht behutsam umgehen mit diesem Vermächtniß eines auf dem Altar des Gehorsams geopferten Herzens.« –

Gleichmuth stieß das Fenster auf. Sternschnuppen, wie umhergestreute Schwärmer spielender Engel, stürzten in schöner Silbergluth über das Steingeripp des Domes, der sich vor meinem Auge in der vollendeten Schönheit des ersten Riesenentwurfes dunkel am Himmel abzeichnete, als wäre es eine fata morgana, aus dem Todtenauge des Werkmeisters heraufzitternd in die Nacht. Gleichmuth [113] ergriff meine Hand und führte mich an's offene Fenster.

»Es ist finster, der Mond wenigstens scheint nicht. So darf ich mich zeigen vor dem vielleicht Schuldlosen, weil er glücklicher war als ich.« – »Ein unentweihtes Kreuz,« fuhr er fort, »steht am Zenith. Sehen Sie hinauf. (Er zeigte nach dem Sternbilde des Schwanes, dessen helle Welten ein Kreuz gestalten.) Um diesen Stamm zittert in schwärmenden Meteoren eine Krone. Bei diesem Kreuz, umwunden von jener Krone, schwören Sie mir, Ihr Wort nicht zu brechen!«

Er hielt das Manuscript dem Himmel entgegen. Ich schwur in dumpfen Sinnen. Ueber dem Krahne des Domthurmes zerschmetterte mit Knistern eine Leuchtkugel. Gleichmuth schloß das Fenster, wir traten zurück, die Rolle lag in meiner Hand.

»Narr!« sprach er, die Hand an die gerunzelte Stirn legend. »Hätte ich mich doch kaum selbst für so kindisch gehalten.« – Halb bewußtlos eilte ich hinaus in die weiche, warme Sommernacht. –

Auf den weniger abgelegenen Straßen war es noch lebendig. Menschengruppen, denen nur der Thyrrsusstab und die Weinranken im Haare fehlten, um für jubelnde Bacchanten gelten zu können, durchstreiften singend und scherzend die [114] Stadt. Ungeachtet der nördlichen Lage hat das Volksleben hier, wie den ganzen Rhein hinab, eine südliche Färbung. Die Rebe rankt sich mit ihrem saftigen Freudenauge hinein in das verschwiegnere Leben und bringt den Strom der Rede in freieren Fluß.

Es gehört zu meinen Liebhabereien, an fremden Orten das Leben überall zu fassen. Nacht und Tag sind mir gleich, und ist der Mensch in mir aufgeregt zu üppigem Genuße, mäkele ich auch weniger an der Genossenschaft. Wie überall ist es auch hier nur der Moment, der mich bestimmt, zum Glück oder zum Unglück, zu Freude und Lust, oder zu Leid und Trübsal hinreißt. Hätte nicht ein zu tiefer Eindruck die Lebenswoge meines Herzens zertrümmert gehabt, ich würde mich dem göttlichen Leichtsinn angeschlossen und das Glück geschöpft haben aus reinstem Kristall. Die Unterredung mit Gleichmuth, das Manuscript, dessen Convolut ich in der Brusttasche fühlte, zogen mich dem Schatten entgegen. Dennoch wagte ich nicht, schon in dieser Nacht die Siegel zu brechen. Ich wollte mich erst laben am Sonnenblick der Liebe, stürzte die steilen Gassen hinab zum Rhein und stand mit klopfender Brust an der Wohnung Auguste's. Ihr Fenster war erhellt, ein Zug an der Klingel öffnete mir den Eingang zum Paradiese.

[115] Die Hausflur war finster. Ich griff mit umherfahrenden Armen nach der Treppe, stieß aber überall an und fiel endlich polternd über altes Gerümpel.

»Ephraim!« rief eine warme Frauenstimme von Oben herab, in der ich sogleich den silbernen Ton Auguste's erkannte. »Ephraim Klapperbein, so laß doch Dein Singen und leuchte hinab! Die Menschen zerstoßen sich ja Köpfe und Beine an Deinen Korbflechtereien.«

Während ich mich wieder aufzuraffen suchte, schimmerte ein Lichtstreif die Treppe herab und mit ihm zugleich stolperte die lustige Sangesweise eines jovialen Liedes an mich heran. Meine Lust am Gesange ist Dir bekannt, so wenig auch meine eigne Kehle gesangsfähig erfunden wird. Ein lustiges Lied läßt mich auf Augenblicke den Untergang einer Welt vergessen. Mit kindischem Kosen hänge ich mich in die Locken eines singenden Greises, dessen Jugend glücklicheren, heiteren Zeiten angehörte, als die unsern sind. Ephraim Klapperbein, ein Mensch, so curios, wie sein Name, schlappte in Holzpantoffeln langsam die Treppe herunter, und ließ sich nicht im geringsten dabei in seiner Gesangübung stören. Von seinem Liede verstand ich nur folgende Verse:


[116]

»Fehlt' mir's nicht an Geld und Wein,

Möcht' ich ewig leben,

Auf und ab den goldnen Rhein

Mit dem Schifflein schweben.


Müßt' ein muntres Dirnlein auch

Frei den Mund mir reichen.

'Sist ein guter alter Brauch,

Lockt zu losen Streichen.


Küssen, lieben, trinken, Geld –

Das ist mein Vergnügen.

Und wer's mit der Erde hält,

Dem wird's auch genügen.


Bleibt mir mit dem Himmel fort!

Kommt zurecht noch immer.

Selig bin ich hier und dort

Blinkt mir Weingeflimmer!«


»So,« sagte Ephraim Klapperbein, ein alter rüstiger Greis von einigen siebenzig Jahren, und beleuchtete mich von allen Seiten, »so! Also in meine Körbe ist der Herr gefallen? Wunderliche Zeit, fremde Leute zu besuchen. Nachts in der neunten Stunde! Als ich jung war, gingen nur junge Bursche an's Fenster der Liebsten. Was will der Herr?«

»Lieber Alter, meldet mich bei dem Fräulein vom Hause.«

»Fräulein vom Hause!« wiederholte der schlaue Fuchs. »Ein ganz neues Geschlecht; gibt keins dieses Namens in ganz Köln. Vor alter Zeit [117] könnt' es sein, es wäre so 'was von dieser Ausländerei hier zu Lande vorhanden gewesen, dazumal, als das römisch Zeugs sich mausig machte am Rhein. Heut zu Tage aber ist's ausgestorben ganz, rattenkahl, auf Ehre!«

»Ich frage nach Fräulein Auguste.«

»Ist mir ganz unbekannt.«

»Ephraim!« rief es von Oben wieder in demselben lieblichen Flötentone. »Was schwatzest Du denn?«

»Gleich, gnädiges Fräulein,« antwortete Klapperbein.

»Das ist die Jungfrau, der ich eine wichtige Nachricht zu bringen habe,« fiel ich ein, »ich kenne sie an der Stimme.«

Oberhalb der Treppe ward ein zweites Licht sichtbar, ich drängte den Alten zur Seite und flog eilig die Treppe hinan. Unten hörte ich den Korbflechter noch murmeln: »Kennt meine Herrschaft an der Stimme! Ueber die Einbildungen! Und ist doch der Mensch ganz gewiß nicht mehr der Jüngste. Saubere Geschichten! Ephraim, Ephraim, Du kömmst in die Jahre und magst Dir den Witz schleifen lassen, wenn er künftig hin noch schneiden soll!«

Auguste empfing mich mit banger Verschämtheit. Sie machte mir Vorwürfe über mein spätes [118] Kommen und geleitete mich mit sanfter Eile in ihr liebliches Zimmer. Der Genius weiblicher Ordnungsliebe waltete in diesem zierlich ausgeschmückten Raume. Ein Fortepiano stand am Fenster, darüber hing eine Mandoline. Vor dem einen Fenster duftete ein kleiner Blumengarten. Die warme Nachtluft wehte leis durch die geöffneten Flügel. Ueberall sprach sich ein süßes Behagen aus und reizte zu stillem, verschwiegenem Genusse. Schon wollte ich mich dem ungebundenen Geschwätz überlassen, als ich bemerkte, daß eine dritte Person gegenwärtig sei. Wie ein plötzlicher Nebel den Himmel, störte diese Erscheinung meine aufspringende Freude. Mein innerstes Leben, die Ufer übersprudelnd, ebbte zurück in die Borde zahmer Gewöhnlichkeit. Doch nur Minuten dauerte mein Unmuth. Es war eine volle, verführerisch üppig gebaute Mädchengestalt, die Auguste in die Arme schloß und mich mit lächelndem Gruß bewillkommte. Ein Blick genügte, mir zu sagen, daß dieses Mädchen meine jüngst durch Zufall neu erworbene Bekanntschaft aus der Kirche der heiligen Ursula sei.

»Bist Du doch glücklich, Auguste!« rief die Fremde mit einem fast komischen Seufzer aus. »Dein Geliebter läßt nicht auf sich warten, während mein Oskar grausam genug ist, oft einen ganzen Tag nichts von sich hören zu lassen. Seit [119] gestern ist er wie verschwunden. Ich glaube, er ist in den Rhein gesprungen. O Auguste!«

Sie schlang in komischer Angst ihren Arm um Auguste's Nacken, die ihrerseits durch die naive Vermuthung ihrer Freundin mit schöner Purpurgluth übergossen ward. Auch mir stieg das Blut in's Gesicht.

»Lucie, Du bist närrisch,« sagte Auguste, die Ungestüme von sich losmachend.

»Freilich,« erwiederte das lebhafte Mädchen, »das ist ja eben das Unglück. Ich wollte lieber ganz toll sein!«

Sie riß alle Fenster auf und setzte sich dann an das Fortepiano, auf dem sie Töne anschlug, die im Reich der Harmonie noch kein Bürgerrecht erlangt haben.

Auguste saß neben mir. In unsern Blicken lag tausendmal mehr Melodie als in dem Geklimper Luciens. Die sanfte Gewalt, mit der uns ein jungfräuliches Auge in seinen Kreis zu bannen weiß, hat für mich immer mehr Reiz gehabt, als die momentan hinreißende Gluth, die aus Wesen, wie Lucie ist, uns überfluthet. Lucie ist verführerisch, Auguste liebenswürdig. In Lucie jauchzt der Triumph, der Liebe seine vorüberrauschenden Dithyramben, durch Auguste's Wesen klingt ein feierlicher Hymnenton, der den Genuß erhebt zur Innigkeit eines dauernden Glückes. Wie Lucie [120] nur den Moment, der in seiner keuschen Entschleierung heilig ist, zur Erscheinung bringt, so feiert in Auguste die unschuldige, ewig reine Weiblichkeit in nackter Schönheit ihre Apotheose. Lucie besitzt nur die neckende Launenhaftigkeit dessen, was liebenswürdig ist am Weibe, Auguste aber verhüllt diesen bleibenden Reiz unter einer Zurückhaltung, die eine intensivere Wärme verräth.

Ich will Dich nicht mit dem unterhalten, was wir mit einander plauderten. Dazu taugt weit besser die halb natürliche, halb kokette Unruhe Luciens. Denn diese Art der Liebe ist phantastisch und spricht in ihrer Launenhaftigkeit weit mehr an, als jene stille Poesie der Liebe, die mit dem Senkblei tieferer Seelenbeschauung herausgehoben sein will aus dem Perlenmutterschrein der Keuschheit.

»Oskar ist ein ekelhafter Mensch!« sagte Lucie und schlug einen noch nie gehörten Accord auf dem Fortepiano an, in dessen herzzerreißendem Gewimmer wirklich ein paar Saiten im Herzen des Instrumentes zersprangen. »Sobald er zu mir kommt, geb' ich ihm Nasenstüber.«

»Daran thust Du ganz recht,« sprach Auguste. »Besser aber wär' es noch, Du ließest ihn gar nicht mehr herein. Wirklich, glaube mir! Der Mensch ist Deiner Liebe nicht werth.«

»Nein, das geht nicht, Auguste; ich muß ihn doch ärgern. Das kann ich nur mündlich.«

[121] »Wenn Sie ihm einen Kuß geben,« fiel ich ein.

»Da möchte er lange warten müssen. Ich hasse das Küssen.«

»Immer?« fragte ich. »Die Erfahrung wäre ganz neu.«

»O, mein Bester,« sagte Lucie, sich vor mich hinstellend, »glauben Sie denn die ganze Welt von Erfahrungen schon hinter sich zu haben?«

»Sie beweisen mir das Gegentheil, Fräulein Lucie.«

»Bei mir sollten Sie zu rathen bekommen!«

»Wenn Sie es zufrieden sind, wollen wir einen Versuch mit einander wagen.«

Hier schlug mich Auguste auf den Mund und meinte, ich sei ein unausstehlicher Mensch. Lucie lachte und ließ die Mandoline wie einen Perpendikel an der Wand hin und herschwanken.

»Mein Gott,« rief sie wieder aus, die Hände angstvoll über den Busen kreuzend, »wenn er nun aus purem Wahnsinn in den Rhein gesprungen wäre! Herr Gott, was sollte ich anfangen! Gestern schlug ich ihn so heftig mit dem Fächer auf die Stirn, daß er bös ward und von mir ging. Ich wollte doch lieber, ich hätt' ihn todt geschlagen, als –«

Auf der Straße ward ein lustiges Lied gesungen. Lucie sprang an's Fenster, warf ein paar [122] Blumenstöcke, die ihr im Wege standen, in das Zimmer und rief laut und vernehmlich »Oskar!« hinunter.

»Was Du für eine wilde Hummel bist!« schalt Auguste, die zerbrochenen Töpfe aufhebend. »Vor Dir hat nichts Ruhe. Erst das Unglück wird Dich vernünftig machen.«

Lucie hörte nichts mehr. Sie griff nach Hut und Shawl, und hätte diesen im Augenblick zerrissen, als ich ihr beim Umschlagen helfen wollte. »Gute Nacht, Auguste,« sprach das wundersamlebhafte Mädchen, die Freundin flüchtig küssend. Dann riß sie an der Klingel, daß die Glocke gar nicht läutete und rief dreimal in einem Athem nach Ephraim.

Der Alte war sehr schwer aus seiner Ruhe zu bringen. Ehe er erschien, hatte das muthwillige Kind schon wieder sechsmal vergeblich gerufen und auch eine Art Dialog mit Oskar auf der Straße improvisirt.

»Du bist also nicht ertrunken?« Fragte sie hinunter.

»Ertrunken?« wiederholte verwundert Oskar.

»Nun ja doch. Ich dachte, Du hättest Dich in den Rhein gestürzt.«

»Nein, theuerste, süße Lucie, nur in sein glühendes Rebenblut.«

»Gut, gut, Oskar! Aber ich war recht böse [123] auf Dich und hatte große Lust Dir die Lippen blutig zu küssen.«

»O die Nacht ist noch lang, mein süßes Leben! Komm nur herab, so wollen wir nachholen, was wir seit gestern versäumt haben.«

Endlich trat Ephraim ein. »Wer ist denn die leibhaftige Ungeduld,« fragte der Korbflechter. »Das hat ja ein Mündchen und eine Kehle, wie gebohrt. Als ich noch jung war, mußten wir Geduld haben. Ist das Jüngferchen bereit, so will ich ihr den Arm reichen.«

»Ueber den alten Gecken!« rief Lucie, warf uns Beiden ein Kußhändchen zu und hüpfte zur Thür hinaus.

»Was? Alter Stecken?« wiederholte Ephraim. »Mein allerliebstes Kind, zwar heiße ich Ephraim Klapperbein, aber so gar steckenartig sehe ich doch noch nicht aus. Und hören Sie, Jüngferchen, wenn Sie einmal in mein Alter getreten sein werden, so wird sich's auch nicht mehr so rund und voll herumspringen lassen.«

Für Lucie ging diese Rede verloren. Sie war schon die Treppe zur Hälfte hinunter. In der Thür drehte sich Ephraim noch einmal um. »Und der Herr? Gehen der Herr mit? Es ist ein Thüraufmachen und so ziemlich an der Zeit, nach Hause zu gehen. In fünf Minuten gehe ich zu Bett und kein Nachtschwärmer soll mich wieder [124] herausbringen, so wahr ich Ephraim Klapperbein heiße und in einem Jahre zehn Eimer Wein getrunken habe.«

»Geh nur, Ephraim,« sagte Auguste, »meinen Gesellschafter werde ich schon selbst über die schwierigsten Passagen unserer Treppe hinwegbringen.«

Wir blieben allein. In den Duft der Blumen mischte sich das Aroma der säuselnden Sommernacht, Feuerfliegen schwärmten herein und glänzten in den aufgelösten Locken Auguste's wie dunkle Rubinen. Bei allen Schrecken, die über mir hingen, verlieh mir doch diese Nacht auch die seligsten Augenblicke. So verketten sich die Ringe von Glück und Unglück, wie zwei Schlangen, farbenschillernd, giftschäumend und doch bezaubernd im wandelnden Feuer, das auf ihren Schuppen spielt. –

Es schlug Mitternacht, als ich Auguste verließ, reich, wie ein Nabob, denn ich war im Besitz ihres Herzens! – Du fragst, ob dies Alles sei? Ob mich der heilige Rausch nicht hingerissen habe in seiner glücklichsten Betäubung und ich mich gebadet in der Flammengluth des Fleisches, über dessen zitternde Wogen die Psyche mit keuscher Hand den Himmel ihrer Flügeldecken wirft? – Ach, Ferdinand, Du kennst sie nicht, die wunderlichen Launen der Weiber! Auguste hat mir Alles [125] gegeben, ihr Herz, den Glanz ihres Auges, in dessen lichter Wölbung ich die wundersamste Sterndeuterei begann, Lust und Umarmung, aber die Seligkeit auf Erden –? Das holde Kind meinte, nur die Verheißung sei beseligend. Sie entriß sich mir; es gab noch mehr Unglück unter den Blumenstöcken, ich mußte mich beruhigen. –

Du kannst es ebenfalls. Dein Begriff der Tugend und Unschuld, von dem ich nie viel gehalten, steht noch sehr leserlich auf meiner Brust geschrieben. Bis Du Dich an den Gedanken der Vernichtung dieser wundersamen Gottheit gewöhnt haben wirst, soll er Dir bewahrt bleiben. Dann aber will ich ihn ausbrennen und dennoch mich nicht schämen vor Deiner schneckenkalten Sittlichkeit. –

Sieh! die Sommernacht neigt sich wieder dem Ende zu. Eine Welt in Trümmerschutt ihres Chaos habe ich hingeworfen auf das geduldige Papier. Was sich daraus formen wird, wer mag's bestimmen? Ueber eins aber freue ich mich. Dies ist der alte Ephraim, der erste rein vergnügliche Mensch, der mir seither begegnet ist. Dieser brave Greis weiß nichts vom Schmerz des jugendlichen Europäers. Seine Zeit ist mit ihm alt geworden und die schöneren Erinnerungen aus der Sonnenwelt der Jugend trägt er wie Reliquien mit sich herum, in deren Kusse er die [126] welke Lippe des Alters frisch badet. Wir Andern alle, die wir uns hier getroffen, sind mehr oder weniger dem Ungemach der Gährung hingegeben. Selbst Auguste und Lucie, gewiß noch die Fleckenlosesten aus meiner Bekanntschaft, fühlen dunkel die Qual, die mit dem Fortwandeln der Tage wie eine dunkelgefleckte Boaschlange sich auf den Ast des Weltbaumes aufrollt, um sich auf ihre Opfer zu stürzen.

Der morgende Tag soll neue Räthsel lösen, vielleicht auch schürzen. Die Geschichte der Ewigkeit ist über und um mir, wie der ferne, grause Donner des Malstromes. In seinen Schlund hinab fährt, dünkt mich, das Schiff der Europa. Uebermuth mit Schwäche und feigem Alter gepaart ist sein Kapitän, Koketterie und Bedientendemuth sein Steuermann. Glück auf die Reise, du europäischer Koloß mit dem Colosseum deiner tausend und abertausend Heldengräber! Erweckt die alten Schläfer das Donnergebraus' des Weltenstrudels, so wird dir ein Todtentanz aufgeführt, der selbst den Schatten deines versunkenen Leibes noch einmal zur Welt beleben könnte. Vergessenheit, zerdrücke den Docht meines Geistes, damit ich nicht gegenwärtig sein darf bei der Grablegung Europa's! –

4. An Raimund
[127] 4.
An Raimund.

Köln, den 6. August.


Es ist sehr unrecht von Dir, mich der Saumseligkeit zu beschuldigen. Weiß ich doch, daß Ihr Brüder so eng in einander verwachsen seid, als wäret Ihr Zwillinge. Nicht nur besteht Gütergemeinschaft zwischen Euch, die Ihr doch sonst jeden Saint Simonistischen Gedanken unerbittlich verdammt, sondern auch Euer tieferes Leben mündet sich gegenseitig in die Seele des Andern. Ich lobe und achte dieses brüderliche Vertrauen, wiewol es nicht immer klug sein mag. Briefe wenigstens sollte man nicht behandeln, wie ein gedrucktes Buch. Ein Brief ist ein in Aufwallung aller Gefühle, Empfindungen, Leidenschaften verrathenes geheimes Liebesgeständniß an ein Herz, dessen Puls sympathisirende Vibrationen mit dem unsern haben muß. Hast Du Dich übrigens vernachlässigt geglaubt, so wird Dich dieser lange Brief von dem Gegentheil überzeugen.

Meine bisherigen Erlebnisse sind Dir bekannt.[128] Dein hohes Intresse an dem Weltbewegenden, das sich darin ausspricht, wie Du meinst, bewegen mich, an das schon Gegebene Eröffnungen zu knüpfen, die das Ansehen von Herzen haben, welche im Sehnsuchtsdrange nach Thaten zerbrachen. Das ist das Tragische in unserm Leben. Es kann einer heut zu Tage ein ganz tüchtiger Kerl sein, die Conflicte, das Aufgelöste, Zerrissene, machen ihn doch zum Lump. Darum ist nur der Philister glücklich, dessen Horizont begrenzt wird vom Rande seines Kachelofens. O, diese süß-behagliche Kleinbürgerlichkeit des Deutschen, welch' tiefe, unergründliche Schmach hat sie über die ganze Nation gebracht! –

Mit neugierigem Verlangen folgte ich an voriger Mittwoch Bardeloh. Meine Mittheilungen hatten ihn ernsthaft beschäftigt. Er verließ den ganzen Tag über nicht einmal sein Zimmer und schrieb viel. Von Rosalie erfuhr ich zufällig Abends beim Schachspiel, daß er Schriftsteller sei und zwar mit großem Glücke. Mehrere seiner Bücher waren sogar verboten worden, was ich aber grade nicht mit zum Glück rechnen möchte. Der Name schien ihm dabei gleichgiltig zu sein, denn er hatte sämtliche Schriften anonym herausgegeben. Vielleicht auch war es Klugheit, die ihn dazu veranlaßte. Ueber den Inhalt von Bardeloh's Büchern konnte ich nichts erfahren, glaube jedoch [129] zum Ziele zu treffen, wenn ich behaupte, es seien wichtige Besprechungen europäischer und vorzugsweise deutscher Zustände in poetischem Gewande, d.h. in einer Prosa, die den kühnsten Gedanken in poetischen Formen leicht und graziös den Lebenden in den Schooß wirft. Ebenso bekannte sie mir, daß er jetzt eben wieder schon seit längerer Zeit an einem neuen, großen Werke arbeite, das einen dialektischen Angriff auf das Kirchendogma der Liebe, insofern es Anwendung erleiden will auf die Praxis im socialen und politischen Leben, enthalten wird. Es trifft diese Vermuthung sehr genau mit Bardeloh's eigenen Aeußerungen zusammen und ich wünschte sehr seine tieferen Gedanken über dieses Thema kennen zu lernen.

»Ich muß mir heut erst eine Zerstreuung machen,« sagte Bardeloh, »angestrengtes Arbeiten hat mich abgemattet. Lassen Sie uns rudern.«

Wir gingen an den Hafen und bestiegen einen Nachen, der leicht wie ein Vogel über die stille, hellgrüne Fläche hinflog. Wir trieben den Kahn erst stromaufwärts und ließen uns dann von der Gewalt des Wassers hinab zur Schiffsbrücke schaukeln. Bei unserer Zurückkunft saß Friedrich wieder auf dem Krahnbalken und strich seine Geige. Er hatte uns kaum erblickt, als er johlend herabsprang, uns zuwinkte und an Bord stieg. Dann [130] ergriff er zwei Ruder auf einmal und arbeitete mit einer Kraft den Nachen quer durch den Strom, die mich in Erstaunen setzte. Dabei wiederholte er mit herzbrechendem Lächeln von Zeit zu Zeit nur das einzige Wort »Lebensfahrt.« Was er damit meint, ist schwer zu errathen. Bardeloh versank, wie immer, wenn er diesem Menschen begegnet, in sein quälerisches Brüten, saß stumm und bleich im Kahn, und spielte mit seinem Siegelringe.

Dieses Wasserexercitium hatte etwa eine halbe Stunde gedauert, als es Bardeloh mit dem Worte »in den Hafen« unterbrach. Friedrich nickte mit dem Kopf und landete. Ein Geschenk von Bardeloh nahm er mit seiner gewöhnlichen, excentrischen Freudigkeit hin, schleuderte dagegen das von mir dargereichte in den Rhein. Bei unserm Abgange saß er schon wieder auf dem Krahn und spielte die Violine. Der Unglückliche hat etwas Grausenerregendes für mich, das durch ein hartnäckiges Stillschweigen über ihn noch mehr Wirkung erhält.

Bardeloh führte mich über den Heumarkt dem Dome zu. Noch hatte ich mich aus einer Art heiliger Scheu nicht in die Majestät dieses Riesenbaues gewagt. Alles Kleinliche, Beengende wollte ich zuvor beseitigen, um mit reinem, heiterem Geist eintreten zu können in das Pantheon mittelaltlicher Gedankengröße.

[131] »Hier gibt es auch noch etwas zu sehen,« sagte mein Begleiter. »Sobald Sie Stimmung haben, wollen wir uns einmal in dieser monströsen Unmoralität untertauchen. Man darf jetzt nichts unversucht lassen.«

Diese trockene Bemerkung war mir zu seltsam, um bei meiner damaligen Stimmung mich in ein Disput mit Bardeloh einlassen zu können. Der Dom zu Köln »eine monströse Unmoralität!« Das ist zu rund, um es begreifen und fassen zu können.

Nahe dem Dome befindet sich das berühmte Wallraffsche Museum. Dorthin führte mich Bardeloh. »Es ist nicht, um Ihnen große Merkwürdigkeiten zu zeigen,« sagte er,»sondern blos der Anregung wegen. Alles, was in diesen Sälen gesammelt ist, trägt mehr den Stempel der Liebhaberei eines vermögenden Privatmannes, als den einer wahrhaften Kunstsammlung. Aber es rüttelt doch auf, und das ist Grund genug, ihm ein paar Stunden zu opfern.«

Schnell durchwanderten wir die ersten Zimmer, in denen römische Vasen, Alterthümer verschiedener Art und einige merkwürdige Gemälde aus der frühesten Zeit der deutschen Malerkunst aufbewahrt standen.

»Das sind Alles sehr schöne Sachen für einen Kunst-Enthusiasten,« sagte Bardeloh »ein Mensch[132] aber mit dem Orden des Weltschmerzes in der Brust kann unmöglich großes Behagen daran finden. Zu Alterthümlern sind wir Modernen verdorben.«

Ein anderes Zimmer ward geöffnet und Bardeloh blieb auf der Schwelle stehen. Der Koloß des Domes warf seine Schatten herein und hüllte die hier aufgestellten Gemälde in ein Dunkel, das dem Beschauer keineswegs günstig war.

»Was halten Sie von diesen Gemälden, Sigismund?« fragte Richard und lehnte sich an die Thürpfosten, die Arme über der Brust kreuzend.

»Jenes uns gegenüber ist ein großes Meisterwerk,« erwiederte ich und deutete auf ein Gemälde, das mehr als die halbe Wand einnahm und dessen Figuren eine fast übermenschliche Größe hatten. Die Dämmerung ließ im Anfang Licht und Schatten sich nicht genau scheiden und ich bemerkte nur, daß ein paar Mönche die Hauptfiguren bildeten.

»Betrachten Sie es genauer,« sprach Bardeloh. »Sie müssen aber hier stehen bleiben.«

Ich befolgte seinen Rath und erkannte bald aus Farbenton und Auffassung den Pinsel Rubens.

»Es ist die Bekehrung des heiligen Franz von Assisi,« versetzte Bardeloh, »ein Werk, das viel zu wenig beachtet wird von Künstlern und sogenannten Kunstkennern. In diesem Gemälde liegt eine [133] ganze Welt. Rubens hat sich selbst übertroffen, ohne daß er es geahnt. Das Bild ist weit mehr werth, als die Kreuzigung Petri in der Peterskirche, von der jeder Commis voyageur ein Langes und Breites faselt. Jenes ist ein gutes Experiment, dies ist eine That. Der ganze religiöse Wahnsinn mittelalterlicher Heiligkeit ist mit den genialsten Schlaglichtern in dieses Gemälde verwebt, und Alles, was späterhin Möncherei und jesuitischer Unsinn über die getäuschte Welt verhängten, das kann man herauslesen aus diesem zusammenstürzenden Franz und seinen Begleitern. Will einer erfahren, was es heißt, eine weltgeschichtliche Epoche moralisch auffassen, und an ihr die Unmoralität der Zukunft nachweisen, der darf nur dieses Gemälde mit productivem Gemüth betrachten.«

Bardeloh ließ mir jetzt hinlängliche Zeit, von allen Seiten aus dem Rubens'schen Gemälde die nöthige Aufmerksamkeit zu schenken. Ich will nicht läugnen, daß es dem Künstler gelungen ist, mit großer Genialität der Menschengeschichte die verschwiegensten Seelentöne abgelauscht zu haben, um sie als Harmonie durch Auflösung der grellsten Dissonanzen in diesem Gemälde zusammenzustellen; aber es gehört eine Bardeloh'sche Art und Weise dazu, die Dinge zu betrachten, um zu finden, was ihm bedünkte. Mir ist es genug, [134] eine That in dem Gemälde zu erblicken, die, bestehe sie, worin sie wolle, als Schöpfung an sich immer moralisch ist. Das Werden, das Gestalten kann sich dem Unmoralischen annähern, das Gewordene aber muß, als ein Fertiges, immer moralisch bleiben. Freilich wird man dies vielfach bestreiten wollen und daraus die Moralität von Jedem und Allem ableiten; es soll mich aber nicht irren. Die Kraft ist immer gut, und die That als Manifestation der Kraft kann auch nur gut sein. Erst der Conflict mit Zeit und Umständen erklärt sie für moralisch oder unmoralisch, wozu als Ergänzung nicht wenig Vorurtheile, Gewohnheiten, Sitten, Meinungen und Satzungen beitragen, mit Einem Worte: die Philisterei des zahmen Gedankens gibt den Ausschlag.

Gesättigt von Kunst und Ideen verließen wir das Museum.

»Nun führen Sie mich nach dem Kloster, wo es so gesangreiche Mönche gibt,« sagte Bardeloh. »Ich bin doch neugierig, wie sich ein Mönch des neunzehnten Jahrhunderts im Gegensatz zu dem in Andacht aufgelösten Francesco ausnehmen wird.«

Einige Gäßchen führten uns zu dem Gebäude. Dieselbe Stille wie vor einigen Tagen! Grabesruhe lag um das öde Gemäuer, Todesröcheln schien aus jedem Quadersteine heraufzustöhnen.

[135] »Hier also sitzt der fidele Vogel?« fragte Bardeloh. »Der Ort ist passend. Die heilige Schaar ist so klug wie der profane Diplomat.«

»Dort an jenem Fenster sah ich den Mann,« versetzte ich und deutete nach dem engen Spalt. – Es blieb Alles still wie ausgestorben. Vor der Pforte wuchsen Gras und Nesseln.

»Unkraut,« murmelte Bardeloh. »Gleich und gleich gesellt sich gern. Lassen Sie uns läuten.«

Die Glocke dröhnte wie ein lauter, wehmüthiger Lebensschrei in den weiten Gewölben. Ein heiseres Lachen schallte von Oben herab. Es dauerte eine geraume Zeit, ehe der Pförtner öffnete.

»Ist der Prior zu sprechen?« fragte Bardeloh.

»Tretet herein in das Haus des Herrn,« erwiederte der Pförtner, eine Gestalt, in der das Menschliche, wie es schien, ohne Widerstreben der Regel unterlegen war. Dieser Mensch konnte für eine simple Null gelten. Er führte uns in das Sprachzimmer und entfernte sich dann, um den Prior zu rufen.

Individuen, wie dieser Pförtner, taugen ins Kloster, überhaupt zu gewöhnlichen Pfaffen. Es kommt ihnen nicht schwer an, Thoren zu werden und bei der nothwendigen Metamorphose, die sie innerlich erleiden, geht es ab ohne Todtschlag, ohne Seelenmord. Muß aber ein ganzer, voller [136] Mensch sich dem heiligen Wahnsinn der Satzung, des Dogma's fügen, so bleibt diese sogenannte Moralität immer ein unmoralisches Factum. Verfehmung der Menschheit in uns, um sich den sogenannten Himmel zu sichern, ist unsittlich.

Der Prior trat ein. Bardeloh schrack gleich mir zusammen, als er in dem Oberen des Klosters einen seiner Abendgäste erblickte. Auch dem Prior schien diese Entdeckung zu geniren. Es war der gewandteste Weltmann im Salon des Particulier's.

Durch seine stets lächelnde Miene war er mir schon damals aufgefallen, doch hatte ich nicht mit ihm gesprochen.

»Was verschafft mir die Ehre Ihres werthvollen Besuches?« fragte etwas verschüchtert der Prior.

»Ei,« erwiederte Bardeloh, »ich konnte doch nicht unterlassen, Ihnen meinen herzlichsten Glückwunsch zu Ihrer Versetzung abzustatten.« – Der Prior horchte mit offenen Ohren und Augen. – »Ihr Avancement vom Weltgeistlichen zum segenverheißenden Vorsteher eines Klosters ist für mich ein zu bedeutsames Ereigniß.«

»Sehr verbunden, sehr verbunden!« erwiederte der Prior, mit schlauem Tact in Bardeloh's Gedanken eingehend. Er drückte meinem Begleiter [137] die Hand, die dieser mit ächt katholisch-andächtiger Grazie an die Lippen führte.

»Als alten Bekannten werden Sie mir gewiß einen kleinen Gefallen erweisen,« fuhr Bardeloh fort.

»Sie haben zu befehlen, trefflicher Mann, so weit Ihre Wünsche nicht gegen die Ordensregeln verstoßen, die ich als neugewählter Prior mit großer Vorsicht beobachten muß.«

»O, es ist nur eine Kleinigkeit, Hochwürden! Mein Freund hier, ein ferner Anverwandter, hat gehört, es soll sich in diesem Kloster ein Mönch aufhalten, der aus hohem Stande entsprossen, sich den Unwillen seiner Familie zuzog und um ihren Verfolgungen zu entgehen, die Priesterweihe empfing. Familienverhältnisse machen ein Zwiegespräch unter vier Augen nöthig.«

»Dann würde ich den Herrn um Mittheilung des Namens bitten.«

»Doch nicht! Ein Muttermal wird sicherer zum Ziele führen, da die Hartnäckigkeit dieses Menschen bekannt ist und ihn wahrscheinlich aus Argwohn abhalten dürfte, seinen Namen anzugeben. Ein Besuch der Zellen ist gewiß nicht verboten?«

»Keineswegs, nur muß es in meiner Begleitung geschehen.«

[138] Ein Lichtglanz, wie auf dem Ruben'schen Gemälde, umfloß Bardeloh's Gesicht. Er schien gerade diese Begleitung zu wünschen. – Stillschweigend traten wir unsere wunderliche Wanderung an. Die meisten Zellen waren leer, das Kloster schien aussterben zu wollen, wie die bigotte Andacht.

»Treten oft neue Mitglieder in den Orden?« fragte ich.

»Seit zehn Jahren ist kein Novize mehr aufgenommen worden.« Jetzt kamen wir an die bewohnten Zellen. Die Mönche begrüßten uns mit dem scheuen Argwohn, der Menschen eigen ist, die nie oder höchst selten in die Welt kommen. Es lag in ihren blassen Gesichtern mehr Stupidität, als vergramtes Leben. Sie zu beherrschen konnte nicht schwer sein für Einen, der nicht ganz an Geist verwahrlost war. – Unsere Musterung ging zu Ende. Wir verließen die letzte Zelle, das Gesicht dessen, den wir suchten, war uns noch nicht vorgekommen.

»Es muß eine Täuschung sein,« sagte Bardeloh. »Wir bitten um Entschuldigung, Ew. Hochwürden gestört zu haben.«

Der Prior sagte eine verbindliche Schmeichelei und ward beredt. Er erzählte verschiedene Wundersagen, die im Kloster seit Jahrhunderten heimisch geworden waren. Die Gänge auf und [139] abwandelnd schlug Bardeloh mit diplomatischer Feinheit immer diejenigen ein, die wir noch nicht betreten hatten und war so vorsichtig, bei jeder neuen Wendung einen seinen Röthelstrich unbemerkt an die Wand zu machen, indem er sich den Anschein gab, als halte er sich daran. Der Prior bemerkte diese strategische Vorsicht nicht. Plötzlich ward das Gespräch unsers Führers durch ein lautes Lachen unterbrochen, dem unmittelbar eine Strophe aus jenem mir schon bekannten Liede folgte. Wir waren am Ziele. Dieser Ton wahnsinniger Lust brach dumpf aus einem Thurme, der vor uns den Gang schloß und mit einer ei- senbeschlagenen Thür wohl verwahrt wurde. Der Prior erbleichte, biß die Lippe ein und wollte umkehren.

»Was haben Sie denn da für einen lustigen Vogel?« sagte nachlässig lachend mein Gastfreund. »Lassen Sie uns doch näher treten. In meinem Leben habe ich noch kein so vergnügliches, frivolwitziges Lied in Klostermauern gehört.«

Der Prior konnte uns nicht hindern. Wir standen an der eisernen Thür. »Es ist ein Toller,« sagte unser Führer, »den wir der Sicherheit wegen in diesen engen Gewahrsam gebracht haben.«

»Ach Tolle, Sie wissen es, Hochwürden, Tolle sind meine wahre Passion!« rief wie verzückt und [140] in ganz verdachtloser Vergnüglichkeit Bardeloh aus. »Ich bitte, lassen Sie mich das seltsame Menschenkind sehen! Ohnedies beschäftige ich mich jetzt mit dem Studium der umgekehrten, will sagen, der rückwärts sich entwickelnden Menschheit, und da könnte mir der Anblick einer solchen Curiosität von ganz besonderm Nutzen sein. Bitte, Hochwürden, lassen Sie die Thür öffnen!«

»Nur auf einen Augenblick,« versetzte der Prior, aus seiner Ordenstracht einen Schlüssel hervorziehend. »Ich muß hier immer selbst Pförtner sein,« setzte er hinzu, »damit keine Unordnung geschieht.«

Die Thür drehte sich in ihren Angeln, eine abgemergelte Menschengestalt, in die zerfetzte Ordenstracht gehüllt, saß auf einem Block. Eine starke Kette schmiedete sie an die Mauer. Mehr aber noch als die Gebrechlichkeit seines Körpers und die irre Gluth, die aus dem tiefliegenden Auge brach, entsetzte mich eine blutrothe Narbe, die von der linken Schläfe in Form eines Halbmondes bis auf die Mitte der Stirn herab lief. Gram, Angst und die Zerstörung des Wahnsinns hatten den Scheitel fast aller Haare beraubt. Der Mensch glich einem lebendig gewordenen Todtenkopfe.

»Er ist es!« rief Bardeloh aus und packte zugleich mit Riesenkraft den Prior. »Sieh mich [141] an, Schurke!« fuhr er fort dem Erschrockenen in's Gewissen zu donnern, »und läugne, daß wir Brüder sind.« Er riß den Hut vom Haupt und strich von der linken Schläfe die Haare zurück, die eine eben solche Narbe, nur weit kleiner und blässer verdeckten. »Das ist mein Zwillingsbruder. Wir tragen das Schreckenszeichen, dessen Anblick unsrer Mutter das Leben kostete. Ich fordere das Leben dieses Unglücklichen von Deiner Seele!«

Der Mönch lachte zu diesem Austritt und sang in kurzen Zwischenräumen Strophen aus seinem Liede. In der Kirche begann eben wieder die Hora. »Ja singt nur, Ihr Heuchler,« schrie Bardeloh und warf sich auf die Ketten des Wahnsinnigen, die seiner Kraft wichen und, morsch wie sie waren, zersprangen, »singt nur und ruft die Strafe des Himmels herab auf die gottverlassenen Gewölbe, wo die gesunden Sinne zur Tollheit erzogen werden.« –

Entsetzen lähmte den Prior. Der entfesselte Mönch stand mit einem schluchzenden Gelächter auf, ergriff seine Ketten und umschlang, ehe wir es hindern konnten, mit den rostigen Gliedern den Prior. Dann fiel er in seinen Gesang und raste im wilden Tanze unter dem Sterbegeläute des Kettengeklirrs mit seinem Opfer in der Zelle umher. [142] Mir vergingen die Sinne, ich hörte nur noch die gräßlichen Worte:


»Sei gegrüßet, holde Schöne!

Dich, Maria, mit Gestöhne

Bet' ich an – 'nen Kuß, 'nen Kuß! –

Sed tu, bonus, fac benigne,

Ne perenni cremer igne! etc.«


»Da haben Sie die Moral der Rache,« sagte Bardeloh, zurückgesunken in die vernichtende Ruhe eines Menschen, der im Weh des Lebens das Glück verloren hat, den Schmerz sichtbar werden zu lassen in seinen Mienen. Noch eine kurze Zeit und der Mönch stürzte mit sammt dem Prior zu Boden. Eine bange Stille trat ein. Die Jammergestalt des Unglücklichen zuckte fieberisch, der Prior, dessen Nacken von der Kette des Wahnsinnigen umschlungen ward, hob und senkte nur noch die Augenlider. Fester schnürte sich die Kette um seinen Hals. Das brechende Auge schleuderte einen ewigen Fluch auf Bardeloh. Der Wahnsinnige ermattete mehr und mehr, er wiegte sein haarloses Haupt hin und her und stammelte mit lächelnder Lüsternheit die Sylben seines unsittlichen Gesanges.

»Wie wird das enden?« seufzte ich aus meinem brechenden Herzen, als die Blässe des Todes wie ein Leichentuch über das Gesicht des Priors fiel.

[143] »Sehr gut,« sagte mit unerschütterlichem Gleichmut Bardeloh. »Bleiben Sie hier. Ich gehe zu den Confratres, erzähle ihnen, was sie zu wissen brauchen und legitimire mich bei der geistlichen Behörde. Wieder Mensch gestorben, kann ein unmündiges Kind begreifen.«

Bardeloh ging fort, ich blieb bei dem Leichnam und dem in Ohnmacht gesunkenen Mörder desselben. Es war die entsetzlichste Stunde meines Lebens, die an mir vorüberzog. O, könnten wir einen Seherblick thun in die geheime Geschichte klösterlichen Lebens, es würde die blutigste Biographie des Menschenherzens sich herausheben aus verschwiegenem Schutt und Moder, und der Anfang des Weltgerichts hereinbrechen über die Erde! Nur der Gedanke, daß in der Gesammtgestaltung des innern Weltlebens ungesucht sich ein Frieden begründet, welcher den bittern Widerstreit zwischen dem lauschenden Skepticismus des Verstandes und den Irrungen des nach Heiligung trachtenden Menschenherzens ausspricht, kann uns beruhigen.

In kurzer Zeit erschienen die Brüder und knieten in stummen Gebet um ihren todten Prior. Bald darauf kam Bardeloh zurück mit den Behörden. Die Legitimation war schnell geschehen, über die Todtesart des Prior konnte kein Zweifel [144] aufkommen. Bardeloh erzählte den Vorgang der Wahrheit getreu mit Verschweigung Alles dessen, was nachtheilig für ihn hätte werden können. Der Wahnsinnige, behauptete er, habe seine Ketten selbst zerrissen. Dies mußte er auf das Kruzifix beschwören, was er ohne Widerstand that und mit großem Ernste. Er verlangte hierauf Auslieferung des Bruders, die man ihm um so weniger verweigerte, als sorgsame Pflege sehr wahrscheinlich das einzige Mittel zu seiner Genesung werden konnte. Alle Anzeichen, auch die Aussagen der ältern Brüder, bestätigten, daß der Wahnsinnige gegen seinen Willen in's Kloster gebracht und darin festgehalten worden sei. Wie weit der Prior daran Theil gehabt, war schwieriger zu ermitteln, doch schien aus Allem hervorzugehen, daß eine unerbittliche Feindschaft zwischen dem Todten und dem Mönch bestanden habe, und die Einkleidung des Letzteren eine Art Rache von Seiten des Priors gewesen sei. Bardeloh beobachtete, wie gewöhnlich, ein hartnäckiges Stillschweigen, wie es schien, weil er selbst über die ächten Beweggründe nicht im Klaren war.

Nach einer halben Stunde kehrten wir in Bardeloh's Wohnung zurück, etwas später ward der Bruder meines Gastfreundes in einer verschlossenen Kutsche, gefesselt an Händen und [145] Füßen, dem Verwandten übergeben. Ein festes Zimmer ist seitdem sein Aufenthalt und seine Kräfte nehmen sichtlich zu. Er ist geduldig wie ein Kind und spielt mit unverkennbarer Hinneigung zu Felix mit diesem. Ueber den unglücklichen Tod des Priors gehen zwar verschiedene Gerüchte, doch entfernen sie sich alle weit von der Wahrheit. Bardeloh ist seitdem noch viel schwermüthiger und schweigsamer geworden, behandelt mich aber mit der freundschaftlichsten Aufmerksamkeit. Ich habe ihm versprechen müssen, das ganze Jahr und auch den Winter hindurch bei ihm zu bleiben. –

Dies waren die Folgen eines unschuldigen, harmlosen Spazirganges Wie seltsam sich die Schicksale verketten! Fremd, ohne wahrhaftige Freunde zu besitzen, muß ich die Veranlassung geben zu einem Morde, aber auch einen Unglücklichen befreien, vielleicht um ihm zu einer nur mäßigen Gerechtigkeit zu verhelfen. – So Außerordentliches kann sich nur in einer katholischen Stadt ereignen, in deren rostigen Fesseln die Geschichte immer des Augenblicks harrt, der sie wieder austreten laßt als Schöpferin einer That. Der Zwang ist unser Befreier, die Kette der Laufring, worin die Tugend gehen lernt. Und nebenher trottet die ewig geduldige Zeit, als gutmüthige Amme, die besorgt um das lebhafte Kind [146] den Ring immer enger zieht, wenn es stolpert. Wann werden wir endlich aufhören zu stolpern? Gott des Himmels, laß uns doch nicht mehr stolpern, sondern kräftig wie junge Löwen umherspringen! Vielleicht macht das Alter die Amme blind. Dann wird sie sich freuen ihrer Ziehkinder, die Thaten vollbringen, um der Blinden des Abends, wenn sie ruhen, die Zeit durch Erzählungen zu vertreiben. Eine That, ach eine That, die ganze Welt für eine That! –


Den 7. August.


Es ist wieder Nacht, ich habe das neunfache Siegel gebrochen und einen Theil von Gleichmuth's Lebensgeschichte gelesen. Wenn der unsicher zitternde Buchstabe Dich anstarrt aus diesem Briefe, wie das Bangen eines Geheimnisses, so wundere Dich nicht darüber. Selten ist es uns vergönnt, im Herzen des Fremden eine Lösung für Räthsel zu finden, die mit ertödtendem Nachsinnen eine halbe Welt von der heitern That zurückhalten. Ich habe den Prediger schwören müssen, nur in der Einsamkeit der Nacht Umgang zu pflegen mit seinem Leben, als wäre es eine verschämte Geliebte, die sich nur im Dunkeln dem Freunde hingeben will. Das Versprechen habe ich gelöst. Ob er auch Verschwiegenheit verlangt? Schwerlich! [147] Denn die Art seiner Erzählung klingt wie ein Aufruf an alle Welt und kann, verbreitet, Tausenden zur Rettung gereichen. Außerdem scheint es mir, als wolle der fernere Verlauf dieser Mittheilungen sich in die Maschen des Lebensnetzes verwickeln, das der Zufall auch über mich geworfen hat. Nimmst Du Theil an den Leiden eines strebenden Geistes, so lies die folgenden Blätter, fürchtest Du aber den Unmuth, der wie ein finsterer Geist Dich umkreisen wird bei dieser Lectüre, so überschlage sie. Nur für den Bewegten, Freundlosen und vom Weh des Lebens Gequälten können diese Eröffnungen einen Trost enthalten. Hier der Anfang.

Bekenntnisse eines durch Zeit, Menschen, Lehre und Streben Irregeleiteten.

»Meine Kindheit war ein langer Fluch in Mandelmilch aufgelöst. Ich trank den süßen Saft, ohne zu merken, welches Gift ich genoß. Erst im dreizehnten Jahre zeigten sich fühlbare Spuren der verschlungenen Mixtur. Dieser Fluch war die übertriebene Frömmigkeit meiner Aeltern, wie man damals die Unbewußtheit zu nennen beliebte, die sich in unbedingter Hingabe an Altüberliefertes ausspricht. Dagegen hatte ich selbst nichts einzuwenden gehabt; denn dasjenige, was durch Gewohnheit überzeugende Kraft gewonnen, [148] läßt sich schwer ausrotten. Der Fehler lag nur in meiner unglücklichen Constitution. Mein frommer Vater hatte, unbeschadet seiner Frömmigkeit, der Liebesgöttin zu tief in die feuchten Augen gesehen, als der Himmel sein gnädiges Gedeihen gab zu einer ungleichen Liebe in rechtmäßiger Ehe. Das Kind der Ehe ward – seltsam genug – als ein Kind der Liebe geboren, und kam auf die Welt mit farbigen Flügeldecken, die nur nothdürftig den Muth des Lebens und die Freude an heiterem ungenirten Genusse dieses Erdenlebens verbargen.

Die Liebe ist blind, selbst bei frommen Aeltern. Die meinigen bemerkten zu spät, daß ihre Liebe zu mir sie das Berupfen meiner Schwungfedern hatte vergessen lassen. Man wollte nachholen, was nur ineinem einzigen glücklichen oder unglücklichen Augenblicke gelingt; es war zu spät, die Federn ließen sich nicht mehr ausziehen! Meine Aeltern gingen fleißig zu Kirche und Abendmahl und schenkten dem heiligen Geiste zwei silberne Leuchter, wahrscheinlich, damit er mich gnädig mit dem sanften Licht seines Taubengesichtes erleuchte. Diese heilige Kur schien aber bei mir schlecht anzuschlagen, wie alles Heilige. Von Stund an wuchs meine Lebenslust, die Gedankenzwiebel fing an zu keimen und ihr narkotisches, neunhäutiges Gewand duftete so stark, daß meine [149] Aeltern Kopf- und Verstandesschmerzen davon bekamen. Ich dachte schon damals Dinge, die vor zweihundert Jahren in der Schmelzgluth eines Scheiterhaufens geläutert worden wären.

Diese Wahrnehmung brachte große Besorgniß in unser Haus. Es ward ein Rath versammelt und die Friedenspfeife angezündet. Als ihre heiligen Dampfwolken einen dichten Nimbus im Zimmer bildeten, beschloß man, mich der Kirche zu offeriren. Dieser Beschluß ward mir bekannt gemacht und ich nahm ihn hin, wie jeden andern. Konnte ich doch nebenbei thun und denken, was ich wollte. Das Bewußtsein der Göttlichkeit hoffte ich mit der Zeit ebenfalls in mich hineinzubringen.

Dreizehn Jahre alt ward ich in die Schaar der erwachsenen Christen aufgenommen. Die Confirmationshandlung unterhielt mich. Es vereinigte sich dabei viel unnöthiger Flitter und einige Repräsentation. Ich hatte selbst eine Art öffentlicher Charge, konnte mich zeigen, und diese erste Probe von Ostentation schmeichelte meinem ruhmsüchtigen Herzen. Das Heilige, wovon mir zwar endlos vorgeschwatzt worden, dessen Wichtigkeit Lehrer und Aeltern mir salbungsvoll eingeredet hatten, ohne mir doch das Warum? desselben auch vernunftgemäß darthun zu können, dieses Heilige blieb mir leider völlig unbegreiflich! Auch lebe ich noch heut [150] der festen Ueberzeugung, daß alle jene andächtigernsten Gesichter selbst nichts davon ahnten. Ihre Gutmütigkeit, ihre Glaubensschwäche oder Stärke, ihre gottserbärmliche Gabe, sich an etwas Gegebenes eher anzuschließen, als aus sich selbst etwas Neues, diesem Gegebenen Entgegengesetztes zu entwickeln, vermochte sie dazu.

Unter solchen Verhältnissen nöthigte mich die Confirmation zu einer Art Meineid und die erste Abendmahlsfeier konnte ich – entsetzlich genug – späterhin nur als meine erste Gotteslästerung betrachten. Sicher aber wird der gnädige Gott mir diese Todsünde nicht hoch anrechnen. Wie konnte auch der weltlich gesinnte Knabe mit der schäumenden Sinnenlust Geheimnisse begreifen, die ein in Heiligkeit und beschaulichem Leben abgetödteter Mensch noch dunkel und räthselhaft genug findet! Mein einziger Genuß bei dieser kirchlichen Feierlichkeit war, daß ich Zeit dabei gewann, mich recht innerlich in meinen eignen Gedanken zu ergehen. Nach der Handlung selbst wollte ich eine lustige Geschichte erzählen; da nahm mich der Vater bei der Hand und sagte feierlich-ernst: bedenke, was Du heut vorgehabt, mein Sohn! Ach, du lieber Himmel, ich hatte ja gar nichts vor, und das war eben die Ursache meiner kindlich-frommen Heiterkeit. Indeß schwieg ich und war [151] im Ernst bemüht, mich hineinzuheucheln in den feierlich-trübseligen Ton der Uebrigen.

Es vergingen Jahre, ehe mir der heilige Wahnwitz dieser Menschen deutlicher ward. Noch aber weiß ich mich des Tages sehr wohl zu erinnern, weil an ihm die Urkunde meines ferneren Lebensunglückes von mir selbst besiegelt wurde. Ich gelobte nämlich mei nem Vater, ein Gottesgelehrter werden zu wollen, ein Versprechen, das ich bitter bereut habe, weil meine innerste Natur in einer feindseligen Verfassung gegen dasselbe sich befand, und dadurch genöthigt ward, zum Schlimmen zu kehren, was unter anderen Umständen das Herrlichste hätte entwickeln können. ›Gut, mein Sohn‹ sagte der bewegte Mann, ›Du hast mein Herz beruhigt, stärke Dich an heiliger Stätte.‹ – Ich ging zur Beichte, und Tag's darauf zum Tische des Herrn. –

O wie brach an jenem Tage der Himmel über mir zusammen und bedeckte mich mit dem Funkennebel seiner zertrümmerten Sterne! Von nun an sollte ich ja ausschließlich mein ganzes Dasein diesem geschäftigen Dunkel widmen, das ich nie begreifen konnte, und grübeln über unbewußten heiligen Tand! Ich fühlte, daß der Drang meines Herzens nicht dahin sich wendete, sondern der entgegengesetzten Seite zu, wo das heitere Leben sich bewegte mit dem blühenden Scherz und [152] der offenen, unverhüllten Menschlichkeit! Ich begann zu sinnen und durfte nicht lange nach einem Ausgange aus diesem Labyrinthe suchen. Beruhigt that ich fortan, was man gewöhnlich Pflicht nennt und war dabei weder kalt noch warm. Es war der erste Moment, wo ich anfing, im schlimmen Sinne ein Protestant zu werden. In dieser Zeit bildete sich stillschweigend in mir ein eigenes philosophisches System aus, das sich wesentlich von allen andern, ältesten und neuesten, unterschied. Es ist zwar nicht gedruckt worden, doch sicher unter vielen meiner lieben Amtsbrüdern sehr bekannt. Dieses System ist das jenes Protestantismus, der nie gepredigt wird. –

Abermals war eine kleine Reihe von Jahren an mir vorübergezogen. Sie verwandelten nicht meine Denkart, sondern boten nur Stoff zu deren eigenthümlicher Ausbildung. Im Streit mit Allem, was Verjährung und altgewohnte Sitte zum Gesetz gestempelt hatte, ward ich ein Sohn jener freieren Weltbewegung, die erst zehn Jahre später Europa durchzitterte. Nur mit Mühe und der Angst stiller Selbstbeherrschung konnte ich die Lehren ohne Widerspruch hinnehmen, die uns als die alleinige Wahrheit von verschiedenen Seiten her geboten wurden. Es war sogar wenig Fruchtbringendes in diesem schalen Einerlei. Die Gedanken[153] schwammen mit gebrochenen Augen darauf herum und wurden still begraben im Zuguß des neuen, wasserdünnen Nichts. Mir hüpfte das Herz vor Freuden, als die Hochschule endlich meinen Forschungen einen größeren Spielraum für Befriedigung meiner geistigen Gelüste verhieß.

Strotzend von gesunder Lebenskraft betrat ich den Schauplatz der Welt. Mein Geist schlief nicht, er tobte mit Ungestüm gegen die Fesseln, die Schulzwang, unverständige kindliche Liebe und gepredigter Gehorsam wohlwollend ihm angelegt hatten. Sie zersprangen von selbst, als die erste Welle des freien Lebens die rostigen Glieder berührte. Es begann ein schönes Leben, voll blühender Hoffnungen, voll süßen Glückes. Das Reich des unerschöpflichen Gedankens schlug seine Flügelthore mit zauberischem Klange aus einander und neugierig, erkenntnißsüchtig stieg der unbefangene Sohn der Natur in diese reichen Gänge voll unbekannter, seltsam gestalteter Erze. Wie mit tausend Geisteraugen stammte die neue Geheimnißwelt – ein zweiter Sternenhimmel – um mich und über mir; aber auch dieser sollte bald getrübt werden durch die Doctrin neuer Satzungen.

Hatte mich in der frühesten Jugend das Gemessene im Betragen, das Verlangen, jede Regung einzudämmen in die eng gezogenen Grenzen [154] des sogenannten Schicklichen, erbittert, und dem Erfinder solcher Widersinnigkeiten fluchen lassen; so wandte sich jetzt mein Zorn mit dem ganzen Grimm der erwachenden Männlichkeit gegen ein Dogma, das, so fühle ich, dem Menschen seine Würde, dem Herzen seine seligsten Freuden raubte. Der Mensch, immer geneigt, dem Scheine zuerst zu huldigen, ehe die gesunde Vernunft ihm das Unhaltbare desselben zeigt, hatte dem Vernichtenden die Hand gereicht, und im Lauf der Jahrhunderte auf zwei Doctrinen, die allbekannt sind, das ganze Gebäude der neuen Religion gestützt. Die Hauptlehre des Christenthums ›die Liebe‹ ward unerbittlich, obwol unmerklich, aufgehoben durch jene beiden. Eigennutz und Ehrsucht ermangelten nicht, daran zu bilden und zu feilen, bis ein künstliches Netz entstand, in dem sich bequem der Mensch gefangen nehmen und die Heiligkeit seines Wesens einspinnen ließ unter der Vorspiegelung, er werde dadurch gottähnlicher gemacht.

Früher, mehr beschäftigt mit der Profangeschichte als dem Kirchenleben, war mir dies so gut wie unbekannt geblieben. Nun aber schlug mit der Kirchengeschichte sehr oft ein zweitausendjähriger Jammer sein wahnsinniges Gelächter vor mir auf, und alle Völker Europa's wimmerten im Chor das Echo dieses entsetzlichen Weh's. Umsonst schloß [155] ich die Augen, umsonst trocknete ich den Schweiß von der erbleichenden Stirn, das Weh gebar sich immer wieder von selbst aus jedem hinsterbenden Jahrzehnd, und wucherte fort, je dichter die Leichname über einander hinstürzten. Ist denn das Christenthum? fragte ich laut und leise den Gram meiner Seele, und sollst denn Du ein Lehrer werden dieses Wahns? – Aber es erfolgte keine Antwort auf meine Fragen, nur das Aechzen der sterbenden Jahrzehende weinte aus der weiten Todtenhalle, und der Duft der modernden Jahrhunderte hing seine feuchten, glänzenden Siegesfahnen in kaltem Farbenschmuck über den hinsterbenden Völkern auf. – Dort auf dem Katheder aber standen die schwarzen Männer mit den verwimmerten Gesichtern, in denen kein frisches, fröhliches Leben mehr seine heiligen Rosen erblühen ließ, und docirten als geschichtliche Facta, als heilige Vermächtnisse großer Vergangenheiten, was mein seltsam gebildeter Verstand nicht fassen konnte.

Nie war ich unglücklicher gewesen, nie grimmiger im Leben.– Das also sollte ich mir aneignen, um eine Carriere zu machen? Das war der tiefe Sinn einer Wissenschaft, die sich in terroristischer Demuth eine heilige nennt? –

Ueberall sprach man von dem Gesetz der Liebe und nirgends fand sich eine Anwendung [156] desselben in der Praxis. Diesem zur Seite stand die Toleranz, die aber nur geübt ward in dem unmoralischen Sinne, der versteckt liegt in ihr. Ueber beiden aber schwankte triumphirend das Gespenst der Ascese.

Das Unglück macht den Menschen eben so oft verschlossen als gesellig. Man will die Last abwerfen in der Rede zu Anderen, die gleiches Bedürfniß haben, und mit dem Lichte des Verstandes beleuchten, was der Glaube in seinen dunstigen Schleier hüllt. Nach langem, einsamen Denken schloß ich mich an einige Menschen an, die ich bald kennen gelernt hatte und deren Wesen mich anzog, ohne daß es mich gerade hinriß zur innigsten Freundschaft. Diese jungen Männer waren von den verschiedensten Naturen, alle mehr oder minder geistig begabt, aber in ihrem Denken eben so getrennt, als in den religiösen Bekenntnissen, denen sie angehörten. Um eine klare Darstellung von dem zu geben, was als Folge aus diesem Umgange für mich nothwendig hervorgehen mußte, sehe ich mich veranlaßt, meine damaligen Freunde einzeln zu charakterisiren.

Am nächsten stand mir in früherer Zeit ein katholischer Jüngling, dessen tiefes Gefühl wohlthätig auf mich wirkte durch den Contrast, welchen es bildete, mit meiner Superiorität des Verstandes. [157] Eduard gehörte keineswegs jenen bigotten Alltagsmenschen an, die man noch immer häufig genug unter Katholiken jedes Ranges und Standes trifft. Er hatte sich aus Neigung dem Studium der Medicin ergeben und würde dadurch allein, auch ohne ein tiefer liegendes Bedürfniß, zu einer Anschauung von Welt und Zeit gekommen sein, die einem hoch ausgebildeten geistigen Liberalismus entsprechend gewesen wäre. Eine derbe gesunde Sinnlichkeit, die wol im Scherz die Grenzen der Convenienz übersprang, machten mir ihn besonders werth. Es war nichts in ihm krankhaft, und wo ihm nur die Ahnung einer Schadhaftigkeit beschlich, war er gewiß sogleich auf die Vertilgung derselben ernsthaft bedacht.

Bei dieser Freisinnigkeit war mir auffallend, wie er unerbittlich an der Vortrefflichkeit der katholischen Kirchenlehre festhalten und diese sogar mit Geist und schlauer Dialektik vertheidigen konnte. Am meisten Streit verursachte zwischen uns die Lehre von der Ascese, deren beseligende, sittliche Kraft Eduard unablässig anpries, ohne doch, wie ich gewiß glaube, von der Wahrheit seiner Behauptung überzeugt gewesen zu sein. Er war unerschöpflich in Aufzählung von Gründen und Beispielen, die alle dahin zielten, die Abtödtung des Fleisches zu apotheosiren. Die ganze Geschichte der Heiligen wurde durchgegangen und [158] an ihr scharfsinnig nachgewiesen, wie ohne Ascese ein gottgefälliges Leben unmöglich sei. Um ihn zu ärgern oder mindestens zu einem Ziele zu drangen, ermahnte ich zur Nachahmung solcher Werkheiligkeit, und bestürmte sein Gemüth so lange und heftig, bis ein unverkennbarer Trübsinn ihn befiel, seine Besuche seltener wurden und fast jede Spur früherer Gesundheit sich gänzlich an ihm verlor.

Von meinen sonstigen Freunden hörte ich, daß er seit einiger Zeit engen Umgang pflege mit einem katholischen Theologen, dessen Ruf ein höchst zweideutiger war. Man nannte mir damals den Namen dieses Mannes, die Zeit aber hat ihn aus meinem Gedächtnisse verwischt. Die allgemeine Stimme Aller, die ihn kannten, vereinigte sich dahin, daß jener Theolog ein vollendeter Jesuit sei und eine glänzende Laufbahn ihm wol nicht entgehen werde.«

Eines Tages kam Eduard verstört zu mir. »Gleichmuth,« redete er mich an, »bist Du noch immer nicht überzeugt von dem Werth der Ascese, wie ihn die katholische Kirche lehrt?«

»Nein, Liebster,« versetzte ich, »vielmehr sehe ich immer mehr die Unmoralität dieser Doctrin ein, und sieht man Dich an, Eduard, so könnte man sehr leicht auf den Gedanken kommen, Du seist seit einiger Zeit von der Theorie zur Praxis [159] übergegangen. Eduard, Du siehst sehr krank aus.«

»Ich bin es, weil ich erkannt habe, daß die Sünde an mir haftet.«

»Du bist ein Narr!« fuhr ich heraus.

»Womit willst Du diesen Beweis führen?« fragte Eduard, anscheinend gleichgiltig.

»Den Beweis Deiner Narrethei?«

»Ja, wenn ich bitten darf.«

»Es gilt!«

»Nun?«

»Wenn ich verlange, Eduard,« fuhr ich fort, nur mit Mühe ein sardonisches Lächeln unterdrückend, »Du sollst die Moralität Deiner so gepriesenen Ascese durch Selbstausübung derselben an Dir darthun, bist Du dann geneigt, dieser Forderung zu entsprechen?«

Eine hohe Röthe überflog Eduards Gesicht. Ohne Antwort zu geben, riß er die Kleidungsstücke von sei nem Körper und zeigte mir eine Schulter, die von Geißelhieben grausam zerrissen war. »Du siehst,« setzte er hinzu, »Charlatanerie liegt nicht in meinem Charakter. Was ich behaupte, kann ich auch beweisen, und damit Du diese Pönitenz nicht etwa bloß für eine vorübergehende Grille hältst, verspreche ich Dir, fünfzehn Jahre lang der Welt zu entsagen und in einem Kloster die Frivolität meines früheren Lebens zu büßen.«

[160] Vergebens bot ich jetzt meine ganze Beredtsamkeit auf, um den Unglücklichen von diesem Entschlusse, den ich großentheils veranlaßt hatte, zurückzubringen. Eduard beharrte darauf, berief sich auf die heiligen Ermahnungen eines wohlwollenden Priesters seiner Kirche und schied, meiner verhindernden Maßregeln ungeachtet, in wenig Tagen aus dem Kreise meiner Bekannten, um als Novize in ein Kloster zu treten. Nach fünfzehn Jahren wollte er mir Nachricht geben und durch die gewonnene Seelenruhe und Herzensheiterkeit meine Zweifel für beseitigt erklären. – Er verschwand und ich habe seitdem kein Wort mehr von ihm gehört. Seine Verwandten hielten ihn für todt; Allen blieb sein Verschwinden ein Räthsel, mir aber gab es genug über den Wahnwitz schwärmerischer Gemüther zu denken.

Von ganz entgegengesetzter Denkart und fast roh in Allem, was er that, war ein Anderer meiner Freunde, Casimir. Selten ist mir ein Mensch von so urkräftiger Natur wieder begegnet. Ihm galt nichts Fremdes, nichts Erworbenes, nur das Eigenthümliche hatte Werth für ihn und war sein Gott. Ohne viel zu sprechen, gab er doch durch das Wenige, was er in geselligen Zirkeln etwa äußerte, dem Gespräch damals noch eine glänzende Färbung; späterhin, wo sein Denken sich wüster gestaltete, verlor sich dies. Jedes seiner [161] Worte war ein geborner Gedankenriese, oft wunderlich verwachsen, die ungeheuern Glieder noch wild durch einander geschlungen. Casimir war Dichter und einer von denen, die schon damals einen Ekel an dem Bestehenden offen aussprachen und ohne Anhänger demokratischer Regierungsmaximen zu sein, Rettung europäischer Zustände nur in völligem Umsturz des Alten für möglich hielten. Seine riesenkräftige Natur verlangte nach raffinirten Genüssen, und konnte eine Scheidung des Menschen in Geist und Materie durchaus nicht vertragen. Es grenzte an das Colossal-Burleske, wenn er von dem Genießen des Lebens sprach, was immer in den abenteuerlich genialsten Bildern und Gleichnissen geschah. Jedem Anderen würde ein ähnliches Gebahren als Münchhauserei vorgehalten worden sein, bei Casimir aber verknüpfte sich der Gedanke immer mit der That. Er lebte genau, wie er sprach. Sein Leben war so colossal, wie sein Wort.

Dieser grauenhaft-erhabene Mensch fesselte mich wie ein Dämon in den Ring seines Zaubers. Jeder, auch nur mäßigen Enthaltsamkeit Feind, verfluchte er die Ascese in nicht zu wiederholenden Ausdrücken, und entwarf ein Bild von den Folgen derselben, das geeignet gewesen wäre, einem nervenschwachen Menschen Convulsionen [162] zuzuziehen. Auch lebte er selbst in der That nichts weniger als ascetisch und verlockte durch seine Ausschweifungen viele Schwache zu großen Extravaganzen. Machte man ihm darüber Vorwürfe, so erwiederte er ganz gleichgiltig: »Laßt die Ratten umkommen, so zernagen sie nicht den großen Herzbeutel der Welt, die Erde.« – Einige Jahre währte unser Umgang, Casimir machte sich bekannt durch originelle Dichtungen, verlor sich aber in späterer Zeit ganz aus dem Gesichtskreise und ist gegenwärtig für mich so gut als gänzlich verschwunden. Starb er, so ist sein Tod gewiß eben so originell gewesen, als sein ganzes übriges Leben, und sollte er noch leben, so fürchte ich, hat die zu große Originalität seiner Natur das Nivellement der neuesten Zeit kaum ertragen können. Casimir war prädisponirt zu jener Göttlichkeit des Wahnsinnes, die bei ausgezeichneten Geistern immer durch die Monstrosität der Erscheinung selbst wie ein vulkanischer Gluthstrom hindurchleuchtet.

Durch Eduard lernte ich noch einen Dritten kennen, dessen hohe Eigenthümlichkeit in der Consequenz lag, womit er das an sich Unmoralische zur Doctrin und damit selbst zu einer Art Moral erhob. Dieser Mann, ebenfalls Mediciner, war ein Jude und hießMardochai. Später fanden wir uns wieder, er mich als protestantischen [163] Geistlichen, ich ihn als Handelsmann. Unsere Freundschaft besteht jetzt, wie damals, in bloßem Beharren auf den Principien unserer gegenseitigen Systeme. Diese durchaus morgenländische Erscheinung verschmolz das Charakteristische ihrer Nation mit der verderbten Schlauheit, wozu tausendjährige Verfolgungen sie gezwungen, zu einem höchst pikanten Allerlei, an dessen Duft man sich berauschen konnte. Mardochai stellte der Hauptlehre des Christentums, der Liebe, die Süßigkeit des Hasses entgegen, und verstand die Heiligkeit seiner individuellen Doctrin, an deren Verallgemeinerung ich freilich nicht ganz zweifeln will, mit so diabolischer Dialektik durchzuführen, daß Mancher verstummte und der Jude als Sieger das Feld behauptete.

Mit mir hatte dieser Todfeind alles christlichen Lebens und Denkens manchen harten Straus zu bestehen. Mardochai versäumte nie, das Christenthum die Religion des Blödsinns, der Schwindsucht, der Schwäche, des geistigen Miswachses zu nennen, und beantwortete unsere heftigen Einwürfe nur mit einem zuckenden, halb mitleidigen Lächeln.

Ihm zur Seite in sehr innigem Verhältnisse stand ein Musiker, Friedrich Saindorf. Dieser Mensch, der mit schwärmerischer Liebe an Beethoven hing, hatte sich so ganz in Mardochai's [164] Wesen hineingelebt, daß er mir oft wie eine Schmarotzerpflanze erschien, die ohne den Stamm, um den sie sich rankt, kein selbständiges Leben zu führen vermag. Wenig thätig bei unseren häufigen Disputationen, war er nur unablässig geneigt, auf seiner Violine Töne hervorzuzaubern, die mir oft wie ein Tanz nackter Mädchengestalten alle Sinne betäubten und mich in eine Gedankenwollust hinrissen, die mir wahrhaft gräßlich erschien. Bemerkte nun Mardochai die Wirkung dieses Spiels, so rieb er sich lachend die Hände und überließ mich dem Stachel der aufgeregten Sinne, indem er sagte: »Nun bleiben Sie doch einmal ein moralischer Rigorist! Nehmen Sie Ihre christliche Liebe zur Stütze und bändigen Sie die Rache der Natur, die wüthend all' Ihre Nerven zerreißt.«

Beide Männer verloren sich erst später aus meinem Gesichtskreise, und als ich ihnen wieder begegnete, war, wie bemerkt, der Eine ein jüdischer Handelsmann, der Andere ein blödsinniger Schifferknecht geworden. Das Warum? habe ich nie erfahren können, wenigstens nicht die Veranlassung zur Verstandesabwesenheit des Letzteren. –


[165] Hier breche ich einstweilen ab und verschiebe die Mittheilung des Ferneren auf ein andermal. Ist es aber nicht seltsam, daß ich hier mit Männern bekannt werden muß, die außergewöhnlich in ihrem innern und äußern Leben mich unwillkürlich zum Mitwisser schmerzlicher Geheimnisse machen. Mardochai und Friedrich, diese beiden Gestalten, sind bereits in den Kreis meines Lebens getreten, nicht um ihn zu erhellen, sondern nur dunkle Schlagschatten über die wenigen Lichter zu decken, die etwa noch darin aufflackern. Wer mag enträthseln, ob nicht auch noch die übrigen Figuren, die Gleichmuth mit leichten Pinselstrichen entwirft, mir begegnen in diesem verwirrten Aufenthalt? Eine drückende Ahnung beschleicht und hindert mich, weiter zu lesen in dem verhängnißvollen Manuscript. Die ganze Gesellschaft haucht mich an, wie die Atmosphäre um ein Pesthaus Es' ist nichts Gesundes in ihr, es ist der Schmerz und Gram einer müden, dem Leben schon halb abgestorbenen Societät. Daß ich Aehnliches fühle, kann mich nicht veranlassen, in engere Bekanntschaft mit ihr zu treten, nur die Theilnahme an Gleichmuth's Schicksal, das tragisch ist in seiner stillen Größe, und eine Art Neugier, von der sich Keiner ganz freizusprechen vermag, zwingen mich, fortzufahren in der begonnenen Lectüre.

Das sind nun die Glanzseiten unseres gesitteten [166] Lebens! Müssen wir uns nicht schämen gegenüber der gesunden Kraft, die in Afrika's Wüste sich entwickelt zur plastischen Schönheit? Oder in Arabiens Felsenklüften sich die Unabhängigkeit des Geistes mit der körperlichen Kraft und Gewandheit bewahrt? Würde nicht der dunkle Sohn in Amerika's Urwäldern den Giftschaum seiner Rede aussprudeln über die Entartung unserer Sinnesweise, sähe er die Natur in ihrer heiligen Schöne zusammenbrechen unter der zierlichen Last der Convenienz, der Bildung, der unächten Civilisation? Warum opfern wir der Einbildung so viel auf von unserer Göttlichkeit? Sind wir denn wirklich so ertrunken in dem Parfüm der Cultur, daß wir keinen Sinn mehr haben für das ewig Schöne, Große und Herrliche? Erst der Vergleich unseres armen Glanzes mit dem Reichthum jener natürlich großen Einfachheit läßt uns die Versunkenheit erkennen, in die uns die Verweichlichung hinabgestürzt hat. Es ist kein Wohlsein, kein wahres Behagen, in dem wir uns bewegen. Künstlich nur erhebt sich der gefallene Geist auf dem Aroma der Verfeinerung, weil seinen überreizten Nerven die Gesundheit nicht mehr genügt. Politik, Religion, sociales Leben, diese große Dreieinigkeit, aus der alles Volksglück erwächst, ist in Europa zum Raffinement geworden, und wer dies erkannt hat, ist müde dieser unnatürlichen Zustände.[167] Die Zahl der Europamüden wird sich vermehren von Monat zu Monat, und wohl denen, die alsdann in der Tiefe ihres Geistes ein Mittel entdecken, daß sie diesem Müdesein an dem Welttheile entreißt, bevor es ausartet in eine Weltmüdigkeit!

Da singt der verrückte Mönch wieder sein tolles Lied in die stille Nacht hinein, diese bleiche Sphinx, deren beredte Zunge vielleicht das Dunkel erhellen könnte, das über meiner eigenen Zukunft liegt. – Bardeloh hat seit zwei Tagen sein Arbeitszimmer nicht mehr verlassen, Rosalie, eines jener schweigsamen Gemüther, die Alles über sich ergehen lassen, ohne zu murren und den Schmerz nur einsenken in ihr großes Herz, bewacht in lautloser Stille den Lebensgang ihres Gatten.

Soll ich auch schweigen, verkümmern, hinsiechen in unbekannter Stille? – Vielleicht! Doch jetzt lockt mich die Verheißung der Liebe zur Stärkung meiner Kräfte. – Auch ich, Raimund, bin matt und müde dieser europäischen Versumpfung, aber ich habe einen Rettungsstern am Himmel der ewigen Gerechtigkeit erkannt – und gewiß, er wird mich nicht täuschen! – O, könnte ich es hineinrufen in die Herzen aller Zerrissenen, vom Weh der Gegenwart Verstörten und Niedergedrückten, daß es für jeden größern Erdenschmerz nur eine lindernde Arzenei gibt, bereitet[168] von der Welt – die versöhnende Liebe! Die heilige, keusche, kindlichreine Unschuld des Weibes! Nur die Liebe kann uns herausheben aus dem Strudel moderner Lebensverschlammung. Drückt ein liebendes Weib an Euer Herz, ihr europamüden Märtyrer, und die Dornenkrone wird Rosen treiben, deren süßer Liebesathem sich befruchtend um die arme Erde legen und sie einhüllen wird von neuem in das junge Morgenroth Eurer Kraft! Mag von Auguste's Munde die gleiche Kunde sich in meine Seele einschmeicheln! Ihr Kuß soll mir die Gewißheit stammeln von der nahen Welterlösung; an ihrem Busen will ich mich zum Leben wieder hinanfühlen, das mir entflohen ist unter der Angst verborgener Stürme. Heiligt die Weltheiligkeit mit dem Kusse der Liebe, so wird sich die alte Europa wieder erheben in jungfräulicher Schönheit, und als ewige Jungfrau den blühenden Kranz der Unvergänglichkeit unverwelkt auch hinübertragen in die dereinstige Geschichte der Zukunft! –

Der Mond weht seine kühlen Strahlen herein in mein Gemach, ein hoher Friede stickt am Königsmantel der Nacht seine flammenden Gebilde. – Ob nicht noch schönere Sternbilder am dunklen Himmelsbogen in Auguste's Auge für mich aufsteigen sollten? – – Ich will heut keine Blumenstöcke zerbrechen, mein Mund nur soll, [169] ein sanft schmeichelnder Meißel des Phidias, um den Marmorglanz ihres Nackens gleiten und eine Kette brennender Rosen darein graben. Sie bat mich letzthin um einen Rosenkranz – o, wie will ich lauschen, wenn sie an meinem Geschenk den süßen Fehl eines weltheiligen Lebens abbüßt! »Ave Maria! Heilige Mutter der Liebe, bitte für uns!« –

5. An Ferdinand
[170] 5.
An Ferdinand.

Köln, den 19. August.


Heut ist der Geburtstag des muntern Felix und ein origineller Genuß wartet mein. Ich schreibe diese Zeilen aus der psychologischen Warte Bardeloh's, die ich mir zum Aufenthaltsort von ihm erbeten habe für die Dauer des heutigen Abends. Es ist große Gesellschaft geladen, und eingeweiht, wenigstens zum Theil in die Geheimnisse des hiesigen Lebens, will ich Beobachtungen anstellen, deren Erfolge für mich eben so belehrend als genußreich sein werden. Du kannst auf ein lebensvolles Bild mit Sicherheit rechnen, denn ich werde mit Gewissenhaftigkeit aufschreiben, was mich der Fernblick durch diese Spiegelfenster erkennen läßt.

Schon ist es Abend, die gallonirten Diener Bardeloh's gleiten, wie gewichste Gespenster, in den Sälen auf und nieder, fegen und putzen, zünden die Kronleuchter an, und ordnen Stühle und Ottomanen. Bardeloh und Rosalie sind bemüht, [171] zum Rechten zu sehen, Ersterer mit der Miene einer weltverachtenden Ironie, Letztere nur den Dank erfüllter Mutterwünsche auf den Zügen der Entsagung. Es bettet sich auf dieser sanften Stirn die Anmuth des Weibes mit allen verwandten Tugenden in die Kissen der Versöhnung. –

In den letzten Tagen war Bardeloh ausschließlich mit Durchsicht der Papiere beschäftigt, die sich in dem Klosterarchive fanden und etwa Aufschluß über das Schicksal seines Bruders geben können. Der unglückliche Mönch lebt still hier im Hause. Noch hat er kaum ein Wort gesprochen, nur zu Felix scheint er ein unbegrenztes Vertrauen zu haben. Dieser bringt oft stundenlang bei ihm zu und erzählt, was ihm eben in den Sinn kommt. Dann lacht der Unglückliche vergnügt, summt die Melodie seines unseligen Liedes und zählt die wenigen Haare, die ihm, wie Dornenbüschel, über die Stirne herabhängen. Die Dienerschaft ist verschüchtert durch diesen neuen Hausgenossen und hält sich möglichst fern von dem Zimmer, das er bewohnt. Mich selbst, ich läugn' es nicht, überläuft zuweilen ein Frostschauer, wenn ich alle die Möglichkeiten durchdenke, die ein etwaiger Ausbruch wilder Raserei bei dem Mönche zur Folge haben könnte. Bardeloh wird ohnehin noch manchen Angriff abwehren müssen, den offen [172] und versteckt die erbitterte Geistlichkeit gegen ihn leiten dürfte. Zwar fürchtet man die Verbindungen des geheimnißvollen, reichen Mannes nicht minder, als seine geistige Ueberlegenheit; dennoch aber kann es den jesuitischen Ränken und Kniffen gelingen, ihn zur Verantwortung zu ziehen. Der Pförtner des Klosters scheint Zeuge gewesen zu sein von dem unseligen Auftritte, und die beleidigte Kirchenautorität wird gewiß nicht säumen, Rache dafür zu nehmen. Man sagt, das außerordentliche Ereigniß werde genau untersucht werden und dann könnten sich große Schwierigkeiten für Bardeloh ergeben, wenn nicht etwa Furcht vor Entdeckung mancher Geheimnisse Kirche und Geistlichkeit zu großer Vorsicht nöthigt. –

Es gibt kein größeres Unglück, Ferdinand, als das Vermögen zu tief in die Welt und ihre Geschicke blicken zu können! Das ist der wahre Gram des Lebens, der Alles, auch das Schönste gänzlich vernichtet. In dem süßen Namen Vater schließt sich gemeiniglich die irdische Seligkeit ein. Der Geburtstag eines Kindes ist der Sonnenblick im Leben. Er glättet die sorgenvolle Stirn des Vaters und um die schmerzentstellte Lippe legt sich sanft lächelnd der Rosenkranz junger Hoffnungen. – Aber glaubst Du, daß Bardeloh Aehnliches empfinde? Gott im Himmel, diesem Manne des Geschickes ist der heutige Tag blos ein neuer, [173] gewaltiger Schlag auf sein blutendes Herz! Unter seiner Last schleicht er geistig gekrümmt einher, wie die verkörperte Buße der Welt. Seine ganze Erscheinung ist ein einziger, entsetzlicher Seufzer!

Hättest Du das Auge gesehen, als ihn heut Morgen beim Frühstück das glückliche Kind begrüßte. Die schuldlose, strahlende Hoffnung beugte sich vor dem Modergeruch des Grabes. Rosalie küßte den Knaben mit der Innigkeit mütterlicher Liebe und schenkte ihm Blumen und andere Kleinigkeiten, Bardeloh aber faßte die Hand seines Sohnes und fragte ihn, ob er sich freue. Auf das Bejahen dieser wunderlichen Frage versetzte der Vater: »Nun, so wisse, daß ich mich nicht freue! Zwar ist mir es lieb, daß Du mein Sohn bist, besser aber war' es, Du hättest das Licht der Welt nicht erblickt! Denn so lange die Zeit Zeit bleibt, ist Fluch und nur Fluch der Segen für ein europäisches Menschenleben! Dies bedenke, Felix, und nimm die Zeit wahr. Damit Du es kannst, empfange diese Uhr. Je kürzere Zeit Du davon Gebrauch machen darfst, desto besser wird es sein für Dein eignes Heil.« –

Mit diesen Worten überreichte ihm Bardeloh eine werthvolle, goldene Uhr. Felix nahm sie, zitternd vor Angst, hin und küßte die Hand des Vaters. Große Thränen hingen an seinen kastanienbraunen [174] Wimpern, er eilte fort und erst Mittags sahen wir ihn wieder.

Nach diesem unerhörten Auftritte hatte ich eine Unterredung mit Bardeloh. »Warum können Sie sich noch wundern über meine Aeußerungen,« sagte er, »da Sie doch von meiner Weltansicht einen hinlänglichen Theil kennen?«

»Nicht die Aeußerung, nur die Grausamkeit derselben dem Kinde gegenüber entsetzt mich.«

»Schwachheit! Der Junge muß bei Zeiten erkennen lernen, daß Leben nichts ist, als eine Uebung in allen Arten von Qualen.«

»Felix ist noch zu sehr Kind, um dies zu begreifen.«

»Es gibt kein Kind in Europa!«

»Ein starkes Paradoxon, dessen Beweis Ihnen schwer fallen würde.«

»Mir? Lieber Sigismund, mir fällt nichts schwer, was sich mit einem bloßen Beweise abthun laßt. Ich will Ihnen so strict und firm beweisen, Sie seien ein Grashüpfer, daß Sie sich nur darüber wundern sollen, wie Sie schon nicht längst selbst zu dieser Einsicht gekommen sind.«

»Sie lächeln,« fuhr er nach kurzem Schweigen fort, »und doch ist noch nichts Wahreres als jener Ausspruch behauptet worden. Europa kennt [175] weder Kinder noch Menschen, es trägt nur noch Caricaturen. Wie also wollen Sie von Unschuld reden und mir Vorwürfe über meine Grausamkeit machen? Nichtgeborensein ist jetzt das einzige Glück, was sich ereignen kann in Europa.«

»Daran sterben wir ja eben,« fiel ich ein. »Es wird keine That mehr geboren.«

»Freilich,« versetzte Bardeloh, »ich sprach aber von Menschen. Ein nichtgeborner Mensch ist Alles, ist glücklich, weil er nichts ist. Für die That wird gesorgt werden.«

»Haben Sie Hoffnung auf Erfolg?«

»Genug.« – Der Mönch ließ seinen Gesang in diesem Augenblicke erschallen, Bardeloh erhob die Hand. »Hören Sie's? Dort lallt die Hoffnung. Macht aus dem alten Welttheil ein solch fideles Ungethüm und Ihr habt Alles errungen. In geistigem Todtschlage liegt die neue Zeugung.«

Damit verließ er mich und verschloß sich wieder in seinem Zimmer. Es nimmt Alles mehr und mehr die Form der Zerrissenheit in ihm an. Selten gibt er einen ganzen, ausgeborenen Gedanken, es sind bloße Gedanken-Embryone. Diese Verwüstung seines tiefsten Lebens muß zu irgend einer gewaltigen Eruption führen. Es keucht und tobt Alles in Bardeloh nach einer That, und ich glaube mich nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß er mit sich zu Rathe geht, um diese vorzubereiten. [176] Er schreibt und liest viel. Oefters hört man ihn auch laut mit sich selbst reden, namentlich des Nachts; dann dringen die Laute seiner abgerissenen Gedanken, wie irreguläre Pulsschläge eines Fieberkranken, bis in mein entlegenes Zimmer. Eben jetzt sitzt er noch emsig an seinem Pult. Der geheime Wandschrank steht offen, die fahle Lampe loht empor aus dem weissen, glänzenden Schädel, und in einem Doppelkreuz darüber senkt sich eine Menge glänzender Dolche. Schwerlich ahnet er, daß ich ihn beobachte. Ein kleines Fenster in der Thür, die aus der Warte nach Bardeloh's Studirzimmer führt, ist wahrscheinlich durch ein Versehen offen geblieben. Vor ihm liegen mehrere Bücher und eine Menge Manuscripte. Alles um ihn ist so geordnet, daß es eine künstliche Aufregung der Seele verursachen muß. Weihrauch steigt, wie bei der Messe am Hochaltar, von einem Kohlenbecken aus der geheimen Nische auf und bildet seltsame Formen. Aus dem mephistophelischen Zuge um Bardeloh's Lippen läßt sich schließen, daß auch dieses nur eine Mummerei sei, angestellt, um den Ekel an dem zu vermehren, was er nicht mit Unrecht die verstandesschwache Nachgeburt des übercivilisirten Europa nennt. Nochmals sage ich, wir sind Alle europamüde, Bardeloh aber ist unter den Müden der Müdeste und darum auch der Thätigste! [177] – Jetzt erlischt die Lampe, Richard hat seine weltverfluchenden Studien beschlossen.


Zwei Stunden später.


Die Säle füllen sich, die blendenden Gasflammen strömen Tageshelle weit umher. Flüsternd schleicht das in die Seidenstoffe der Convenienz gehüllte Europa über das Parquett, weich und biegsam, bleich und schmiegsam wie eine Seele, die ihre Zeugungskraft abgetödtet. O, ich könnte hier einen Vergleich hinschreiben, der treffend wäre und zerschmetternd, wie ein Donner in den Hochgebirgen Mexikos, aber ich muß schweigen aus Etiquette. Bardeloh und Rosalie spielen die graziösen Wirthe. Für jeden Ankömmling ist eine neue Redeblume bereit, wie ein abgewürgtes Leben wirft man sie den Gästen vor die Füße, die ihrerseits die Schuhsohlen daran putzen. Es liegt eine höllische Malice in diesen Empfangsfeierlichkeiten! – Verdient es aber das befrackte Geschlecht anders? Kann man wol einen ganzen Menschen herauslesen aus diesem verstümmelten Habitus, der nichts weiter ist, als ein trefflicher Schnitt für den zusammengeschrumpften Geist?

Wenn diese Menschen wüßten, daß ein Geheimschreiber ihre Physiognomien belauschte und auf die Lippen achtete, an deren Bewegung die [178] Heuchelei saugt, wie ein Blutegel! Das ist ja nothwendig die Folge der Unmoralität, daß sie Alles um sich her mit hineinreißt in ihre Strudel, und die Menschheit zur Huldigung zwingt, um das Gefühl der Versunkenheit wieder in ihr zu wecken. –

Buntgeschmückte Damen flattern, wie farbige Schmetterlinge, um die strahlenden Lüstres. Auch Lucie und Auguste sind bereits eingetreten. Lucie ist die scherzende Nymphe, die sich auf der sprudelnden Silberpalme der Freude und Lust hinaufschaukeln läßt in die zusammenstürzende Krone, und jauchzend wieder herabfällt, um das süße Spiel von Neuem zu beginnen. Auguste scheint verstimmt. Ihr braunes Auge fliegt, ein fragender Liebeskuß, von Gruppe zu Gruppe; es klopft mit flüsterndem Licht an die trügerische Spiegelwand und bricht, wie ein zu früh ausgesprochener Wunsch, schüchtern zusammen, um in sich selbst einen Ausgang über gegenwärtige Hindernisse zu finden.

Gleichmuth, das Kreuz am Halse, wie eine Kette, die ihn hinrichten soll, bringt seine frommen Wünsche dem überraschten Felix. Ihm folgt der fromme Pietist, Steinhuder, dann der junge Mann, an dem Lucie ihr lustiges Herz verschenkt hat, der Mennonitenprediger und Mardochai, der morgenländische Rachegott in einem abendländischen, christlich frivolem Salon. Eine Fluth von [179] Dandies und lieblichen Grazien schwärmen überall umher, während Bardeloh mit diplomatischer Schlauheit den Heitern spielt, und Rosalie das Glück erfassend, über den Moment die düstre Leerheit eines langen Lebens vergißt. – Jetzt muß ich lauschen, vielleicht errathe ich die hohe Gesinnung eines gebildeten Publicums im Prachtsalon eines feinen Europäers.

»Fräulein N. hat heute Abend eine sehr anmuthige Toilette gemacht,« sagte ein junger Mann seinem Nachbar in's Ohr. »Ich finde, daß fallende Locken sie besser kleiden, als festgesteckte.«

»Ja, Fräulein N. weiß, wodurch sie fesselt,« antwortet der Nachbar. Beide gehen vorüber, eine Gruppe Mädchen drangt sich nach dem Spiegelfenster und kokettirt im Vorübergehen mit ihren Fächern.

»Als mich Otto jüngst auf dem Rhein nach Mühlheim hinabfuhr, war er wirklich ganz allerliebst.«

»Ich begreife Deinen Geschmack nicht, Marie,« erwiederte ihre Gefährtin. »Otto geht nie nach der neuesten Pariser Mode gekleidet.«

»In der That, vier Wochen ist er immer zurück in der Weltgeschichte,« fallt eine dritte, allerliebste Blondine ein.

»Das ist gerade meine Passion,« betheuert [180] Marie. »Nur das Augenblinzeln sollte er sich abgewöhnen.«

»O, er geht auch mit einwärtsgewandtem Fuß!«

»Darum gewiß tanzt er nie eine Francaise.«

»Ja es hat Alles seine Ursachen.«

Sie gehen vorüber, Matronen wallfahrten an meinem Dionysiusohr vorbei, sie näseln, aber so geheimnißvoll, daß ich nichts verstehen kann. Abermals ein Trupp verliebter Dandies, fashionable gekleidet und gebürstet, vom Wirbel bis zur Zeh.

»Es wird getanzt, Mardochai sagt' es und der weiß immer, was vorgeht im Hause dieses Nabob.«

»Wenn er nicht so reich wäre, möchte ich ihn am liebsten nasenstübern,« versetzt ein junger, neidblasser Mensch mit gelddummem Gesicht. Ich glaube der Laffe ist Zahlbrett in einem Wechselgeschäft, denn seine ganze Physiognomie ist eine abgegriffene Münze, die das Aussehen eines tombackenen Zahlpfennigs hat. Pfui! steckt eine Menschenseele in dem ausgebügelten Schneidergeschöpf? – Die Lüstlinge haben eine Entdeckung gemacht am andern Ende des Saales, sie drängen sich mit civilisirter Anmuth durch den bunten Menschenwald. Gern möchte ich diese Kreuzritter in einem amerikanischen Urwalde sich winden und wenden [181] sehen; was sie wol für affenverwandte Gesichter schneiden würden! –

Hinweg jetzt mit Scherz und Bitterkeit! Mardochai kommt Arm in Arm mit Bardeloh herauf, die übrige Gesellschaft stärkt sich in umhergereichten Erfrischungen. Felix hat sich an Auguste geschmiegt, die Unschuld an den Engel. Der Mensch ist immer glücklich, kann er sich und die Welt vergessen mit all' ihren Schmerzen in der Erinnerung an das Lallen der Kindheit, und ihren schönen, heiligen Zaubermährchen.

»Sie haben also meinen Bruder gekannt?« fragt Bardeloh den Juden.

»Wir waren oft beisammen. Unsere Studien und Neigungen ließen uns bald enger mit einander bekannt werden und es entstand eine Art Freundschaft, die der Blutsverwandtschaft nahe kam, wodurch unsere Vorfahren sich früher berührten.«

»Dies ist vorbei, Mardochai. Ueberdies wissen Sie, daß ich jedes Bekenntniß hasse, wenn es bevorzugt sein will.«

»Ich auch, Richard, das meinige ausgenommen!«

»Gut. Davon ein andermal. Wie zeigte sich mein Bruder in jener Zeit?«

»Wie ein Mensch von gesunder Vernunft. Er [182] haßte Europa, als die Made, die sich selbst verzehrt.«

»Weiter, Mardochai.«

»Wir hatten oft lange Gespräche über die Wiederbelebung des Fleisches im Geiste. Woher kommt es, sagte Eduard, daß Ihr Juden Alle regsamer, spekulativer und in einem gewissen Sinne auch productiver seid als wir Christen? Daher, antwortete ich, weil wir gedrückt und gegeißelt von Euch, die Kraft in uns zusammenraffen und nur einen einzigen Zweck bei allen unsern Handlungen haben, den Haß! Wir Juden setzen die Consequenz des Hasses dem Terrorismus entgegen, und dieser Haß wird siegen, weil er ein Kind der Liebe unserer sechstausendjährigen Nationalität ist. Ein Jude ist immer Jude, ein Christ aber ist nur Christ, wenn er Appetit dazu hat.«

»Sehr schön, Mardochai. Wie kam es denn aber, daß Eduard so plötzlich seine Gesinnungen änderte?«

»Es gab damals einen jungen Mann in Bonn, der hinsichtlich seines Geistes nur Ihnen gleich kam. Dieser Mann hielt sich eng an Eduard, weil sein Widerspruchsgeist die Skepsis seiner eigenen Brust schärfte und seine Seele geißelte. Auch ich lernte ihn kennen, gewann ihn lieb, weil ich ihn gern gehaßt hatte – denn wir lieben, wenigstens [183] unter den Männern, nur die, welche wir hassen möchten – und so entdeckte ich in ihm alle Anlagen zu einem Reformator. Dieser Mann unterhält sich eben mit dem frommen Kopfhänger dort. Es ist der Pastor Gleichmuth.«

Bardeloh fährt zusammen wie vom Blitz getroffen. Schon haben sich beide unter die Gesellschaft gemischt. Das fernere Gespräch ist mir entgangen. – Die Feder schwankt hin und her in meiner zitternden Hand, der Vorhang, der bisher die schlafenden Dämonen verhüllte, ist plötzlich gerissen. Der unglückselige Mönch ist jener Eduard, der, verlockt durch die Schlauheit eines jesuitischen Priesters, die entsetzliche Wette einging mit Gleichmuth. Tausend Zweifel legen sich wie gefleckte Schlangen um mein Herz, ich muß hinaus, muß Bardeloh, muß Gleichmuth sprechen, und wenn ich zur Entdeckung der priesterlichen Schleichwege beigetragen habe, dann fort aus dieser blendenden Pracht. In Auguste's Armen will ich wieder finden den Menschen, den ich verliere, sobald der gleißnerische Basiliskenblick des siechen Europa mich anlächelt, wie das sündengeschwächte Auge einer verbuhlten Dirne. Gib mir Leben, Liebe, Seligkeit, Du Himmelsglanz, der in Deinen Augen zittert, bebt, flammt und Frieden webt über jedes Erdenleid! Bedecke mich, Auguste, mit den dunklen Flechten wie mit den [184] Schatten der Liebe, und laß mich mitten in dieser schmachvollen Zerrissenheit erkennen, daß es einen Frieden gibt im Kuß der Geliebten! –


Gegen Morgen.


Endlich haben sich die Stürme wieder gelegt, es ist still, todtenstill um mich. Nur in mir klingen die erregten Töne im schmerzlichen Vibrationen aus. Ich möchte schweigen, um nicht die Unschuld des jungen Morgens zu entweihen mit Dingen, die besser nie hereinbrächen in den vollen Tag des Lebens; aber mein eignes Herz zwingt mich, die Qual von mir zu stoßen, soll es nicht brechen und sich selbst verzehren. Es ist eine niederschlagende Erscheinung, daß sich Lust und Leid im modernen Dasein so grauenhaft eng verketten! Bald wird es kein Fest mehr geben, wo nicht die Sorge verstohlen umherschleicht, und die stillgenährte Sünde ihr kahles Haupt ausruht auf dem Polster schuldloser Freuden.

Die Verkettungen, in denen mich ein seltsames Ungefähr zu handelndem Mitgliede ausgesucht, spornten mich an, Bardeloh's Verhältniß zu dem Juden Mardochai näher zu erforschen. Das gesellschaftliche Umhertreiben verliert bald seinen Reiz, wenn nicht Schönheit und Grazie ihren Doppelkranz unablässig darüber schwingen. Das [185] Leben in dem Salon meines Gastfreundes bot zu so enger Verschwisterung dieser beiden Erdengöttinnen wenig Gelegenheit. Ein finsterer Unhold kroch durch den bunten Tand; er zerdrückte jede Freude, die jubelnd aufspringen wollte, und verzerrte den Nachtigallenschlag der Liebe in das Wimmern eines Gefolterten. Wenn das Leben in Gesellschaften zu ernst wird, zerbrechen die Staubfäden der Freuden in sich selbst. – So bei Bardeloh. Das Heitere, Ungenirte, Harmlose zog sich bald zurück in enger begrenzte Räume, nur dem lächelnden Verdacht blieb das bunte Parquett. Die Schlange mit dem civilisirten Gebiß kokettirte im Schillern ihrer Farben auf der gefleckten Haut der künstlichen Erde, von der allein sie ja nur leben kann.

Bardeloh war nicht habhaft zu werden. Mit der leichten Tournüre eines Weltmannes hatte er Angst, Sorge, Verdacht und Verachtung schnell aus seinen Zügen entfernt, und den Sonnenstrahl gutmüthiger Gastlichkeit in den lebenswilden Falten sich anhängen lassen. Ich suchte die frohe Geschwätzigkeit der jungen Damenwelt. In einem Nebenzimmer, den glücklichen Geburtstäger in der Mitte, überließ sich das lustige Völkchen den Eingebungen anmuthiger Scherze. Felix hüpfte, froh, des Zwanges überheben zu sein, von Einer zur Andern und übte sein wunderliches Augenstechen.

[186] »Wer am längsten ausdauert,« sagte er, »der hat das meiste Herz.«

Es war leicht zu begreifen, daß Alle gleich viel Herz haben wollten. Der Knabe konnte seine Liebhabereien bis zur Ausgelassenheit treiben. Das Schauspiel war amüsant und wurde desto interessanter, je mehr Männer sich nach und nach um den Herzensprüfer versammelten. Als der kleine Held des Tages sein Müthchen gekühlt hatte, wurden Spiele vorgeschlagen und Schabernack getrieben nach Herzenslust. Wir vergaßen das Beengende, Rosalie gesellte sich von Zeit zu Zeit zu uns, und bald verbreitete sich eine allgemeine Heiterkeit. Man gab das Zeichen zum Tanz. Rosalie spielte das Fortepiano. Mit dem Springquell der Musik stiegen die Empfindungen auf den Gipfel der Verzückung. Ich war sehr glücklich, zog mich aber nach einigen Touren wieder zurück in Bardeloh's Warte. Es war keine Absicht in diesem Absondern, nur der Trieb, eine Welt, berauscht im Aether der Musik und dem Zittern aufgeregter Gefühle, sich buntfarbig durch einander winden zu sehen, wie einen brennenden Blumenkranz, ließ mich den Tummelplatz lautklopfenden Lebens verlassen, um zu beobachten. Auch im Tanz lassen sich Studien machen.

Ein unterdrückter Ausruf des Erstaunens im Nebenzimmer wandte meine Aufmerksamkeit ab [187] von dem Gewimmel der Tanzenden. Ich erblickte durch das schon erwähnte Fenster Auguste vor dem geöffneten Wandschranke in Bardeloh's Studirzimmer, mit neugieriger Hast die ungewöhnlichen Dinge betrachtend. Die Gasflamme goß ihren vollen Glanz herab auf die schlanke Gestalt, die ein dünnes Rosaseidenkleid, wie das Morgenroth der Liebe, durchsichtig umflatterte. Der schöngeformte Nacken stieg blendend weiß aus der blassen Rosenwelle, die schlanke Schulter winkte zum Kuß mit süßem Beben. Das dunkle Haar legte sich in zierlich losem Gelock um Nacken und Schultern und ein heimliches Verlangen hob in fröhlicher Bewegung den sanft verhüllten Busen. Instinct trieb mich vom Beobachten zum Handeln. Meine Hand suchte das Schloß zur Tapetenthür, ein leiser Druck öffnete es – ich stand hinter der in süße Träume Verlorenen. Wenige Augenblicke und eine heiße Umarmung weckte sie aus den beschaulichen Sinnen. Sie wollte rufen, aber das bange Sehnen der Liebe bog mit schalkhaftem Finger das gefaltete Rosenblatt ihrer Lippe zum reizenden Lächeln der Vergebung. Wir hatten keine Worte, die Flügeldecken der Liebe drückten uns mit sanfter Gewalt schmeichelnd in die schwellenden Kissen. Wie eine volle Rose brach die weiche Frische der reizenden Körperfülle aus den zuckenden Gewändern. Unter uns sank die Erde [188] ein mit ihrer irdischen Qual, der Himmel warf seinen Sternenschleier auf uns herab. Wir glaubten selig zu sein, als eine kalte, dürre Hand an meine glühende Brust klopfte. Todesschauer durchrieselte mich, der Frost des Entsetzens setzte sich wie Reif an in den Kanälen des Lebens. Ich schreckte empor, Auguste sank mit verdecktem Auge zurück wie vom Schlage getroffen. Hinter mir stand das bleiche Geripp des Mönchs. – Die Kutte hatte sich verschoben, eine knöcherne, von Geißelhieben in tausend Narben zerwühlte Brust, ward sichtbar – das unfruchtbare Ackerfeld blöder, grauenhaft misverstandener Demuth! – Auf seinem fahlen Gesicht stand das versteinerte Lächeln jahrelang einsam gehegter Wollustgedanken. Die Runzeln der Haut buhlten blutschänderisch mit der Ohnmacht ihres ausgemergelten Lebens. Sein Blick, starr, bleich, von momentanem Glühen gräßlich erleuchtet, schien uns durchbohren zu wollen, die Lippen, zwei über zu früh begrabenem Leben eingebrochene Sargwände, bebten wie im stummen Gebete, und wie aus weiter Ferne wimmerte aus der öden Brusthöhle die Melodie des bekannten frechen Liedes.

Der Entsetzliche würde in der Raserei des Augenblicks, die ihm übermenschliche Kräfte verlieh, viel leicht mir und Auguste gefährlich geworden sein, hätte nicht ein abermaliges Ungefähr – Du [189] wirst es die ewige Vorsehung nennen – mich und die Geliebte gerettet. Eine Violine, durchdringend, jauchzend in klagender Wehmuth, weinte herüber aus dem Saale. So konnte nur ein Einziger den Bogen führen und die leblosen Saiten ertönen lassen. – Der Mönch stutzte, er ließ den Dolch, nach dem seine Knochenhand schon gegriffen, wieder fallen, und laut den letzten Vers seiner unkeuschen Dichtung wiederholend, stürzte er fort – ein Bild des wahnsinnig gewordenen Todes. –

Auguste lag regungslos, die vollen, weißen Glieder quollen marmorrein aus den aufgelösten Seidengewändern. So steigt der Tag aus dem Flammenbade des Morgens! Eine unwillkürliche Bewegung bedeckte die keusche Aphroditengestalt. Ich beugte mich über sie, meine Küsse weckten sie auf zu neuem, warmem Leben.

»Haben Sie schon die neun Siegel des anvertrauten Manuscripts erbrochen?« fragte eine bekannte Stimme, die selbst in ihrer stillen Sanftmuth wie das Grollen eines fernen Donners klang. Pastor Gleichmuth stand neben mir; auf den schwarzen Rock fiel das weiße, kreuzgeschmückte Zeichen seines Standes. Ich fand keine Worte und nahm Auguste am Arm.

»Lassen Sie das jetzt, mein Bester,« fuhr Gleichmuth fort. »Es wird besser sein für Sie, [190] wenn Sie sich entfernen und das Fräulein meiner zärtlichen Sorgfalt anvertrauen.«

»Ihnen!« rief ich mit schlecht verhehltem Unmuth, in dem sich ein leiser Abscheu mischen mochte.

»Ja mir, lieber Sigismund. Fräulein Auguste ist sicherer bei mir, als bei Ihnen. Denn von mir hat kein Weib, und wär' es das schönste, das Geringste zu fürchten. Lesen Sie das Manuscript!«

Ich verstand den Unglücklichen. Sein wehmüthiges Lächeln, in das der Triumph der Hölle seinen faunischen Hohn, wie zuckende Lichter, verstreute, ließ mich das Entsetzliche errathen. Im Saal entstand ein wilder Lärm, Frauen schrien laut auf, Männerstimmen tobten dazwischen, die Tanzmusik verstummte, nur die Violine jammerte, johlte, sprang und raste in allen Tonnüancen, wie der tollgewordene Genius der Musik, durch den hundertstimmigen Lärm.

Ich trat in den Salon und noch jetzt, indem ich mir das Bild allgemeiner Bestürzung zurückrufe, lähmt Entsetzen all meine Kräfte.

An eine Thürpfoste gelehnt stand Friedrich, der blödsinnige Virtuos. Seine Tracht war die [191] gewöhnliche; große, betheerte Wasserstiefeln reichten weit über die Knie herauf, schmutzige Matrosentracht deckte den übrigen Körper, ein breitkrempiger Hut, gestaltlos, beschattete das Gesicht. Anscheinend unbekümmert um den Wirwarr, den sein Erscheinen in der Gesellschaft angerichtet hatte, spielte er den schreiendsten Wahnsinn heraus aus der Violine, in genialer Wildheit aus einer Tonart überspringend in die andere. Es war kein Spiel mehr, es war ein Wühlen und Rasen in allen Tönen und Accorden. Auf's Rad der Folter geflochten wurden den Aechzenden die Herzen gebrochen und zuckend vor den sterbenden Augen hin und hergeschwenkt. Es war der Ausbruch einer neuen Revolution; die Schreckenszeit begann im Reich der Musik, und Friedrich war Richter und Henker zugleich, und mordete mit kaltem Gleichmuth Alles dahin.

Neben ihm stand, ein neuer Mephistophiles, Mardochai. Behaglich strich er sich mit der Hand den vollen Bart, das einzige Stück Vaterland, das sich das Volk der Unruhe gerettet hat aus dem allgemeinen Untergange. In seinem dunklen Auge glaubte ich die Sättigung einer langgenährten Rache lesen zu können. Shylock konnte nicht mit größerer Begier auf den Moment harren, wo des Richters Wort ihm das bedungene Pfund Fleisch zuerkennen werde, als Mardochai auf das [192] Schauspiel höhnisch lächelnd herabsah, das seine suffisante Schlauheit angerichtet hatte. – Denn während Alles unstätt und verstört durcheinander rannte, Frauen und Mädchen, wie verscheuchte Rehe sich flüchteten, und umsonst an den wie durch Zufall verschlossenen Thüren rüttelten, tobte ganz allein in der Brunst fleischlicher Lust die Gestalt des wahnwitzigen Mönch's mit Luciens voller Körperschöne in abenteuerlicher Tanzimprovisation durch die gasbestrahlte Halle des Salons. Spieler und Tänzer schienen zu wetteifern in der Poesie der Raserei. Töne, die kein Mensch gehört, weinten aus den Saiten der Violine, Accorde, die grell und doch harmonisch in das Wirrsal dieser unkeuschen Belustigung hereinschrieen, lösten sich in den süßesten Wohllaut auf. Wie glühende Küsse schwammen sie durch den Saal und fielen als Rosen der Scham nieder auf Nacken und Busen der unfreiwilligen Tänzerin. Die eisernen Glieder des Mönchs hielten die Ohnmächtige umschlungen und zerrten die leichten Gewänder in eine bedenkliche Unordnung. Entfesselt wogte die milchweiße Welle des Busens und schaukelte wie in gaukelndem Scherz eine duftige Rosenknospe. Darein fiel in Pausen die parodirte Hora des Mönchs, dessen Lebenskraft zu wachsen schien mit den Klangen der Musik.

Nach langem vergeblichen Mühen gelang es [193] endlich Luciens Geliebten, mir und Bardeloh dem Rasenden seine Beute zu entreißen. Oskar schäumte, man mußte ihn halten, um Blutvergießen zu verhindern. Der Mönch ward gleichfalls überwältigt und in seinen Gewahrsam zurückgebracht. Zum ersten Male sah ich Bardeloh herausgerissen aus seinem felsenfesten Gleichmuth. Er wollte wissen, wer Eduard's Gefängniß geöffnet habe – Alles schwieg. Da trat mit der Offenheit bewußter Schuldlosigkeit Felix zum Vater und bekannte sich als den Thäter. »Der arme Mann rief mich,« sagte der Knabe, »und als ich die Thür aufschloß, und die Musik im Saale begann, vergaß er mit mir zu spielen und lief singend davon.«

Bardeloh schwieg und stieß den Knaben von sich. Er trat zu Lucien, die todtenblaß, ohnmächtig in meinen Armen hing. Mehrere Frauen schafften sie in ein Nebenzimmer. Gleichmuth trat ein und lispelte mir in's Ohr »Auguste ist geborgen. Sie können Sie in ihrer Wohnung besuchen, zuvor aber – lesen Sie das Manuscript.«

In einer Fensterbrüstung stand der Pietist und brach die Hände. Der gute Mann konnte nicht begreifen, daß die Welt an seltsamen Conflicten eben so reich ist, als an religiösen Narren. Er [194] sprach vom Untergange Sodoms und Gomorrha's, von der Rotte Korah und vielen andern alttestamentlichen Raritäten. Der Mönch war mir furchtbar, der Violinspieler ergriff mich dämonisch, dieser Pietist aber regte meinen ganzen Abscheu gegen alles frömmelnde Sectenwesen bis zum Ekel in mir auf. Erst später erfuhr ich, daß er Luciens Onkel ist und Oskar als einen Freigeist wie die Pest fürchtet. Dabei steht er mit den bigotten Katholiken auf freundschaftlichem Fuße.

Bardeloh setzte sein Examen fort und begehrte zu wissen, wer die Thüren zu den übrigen Zimmern so plötzlich verschlossen habe? Frauen und Mädchen entfernten sich eiligst, bald waren nur noch lauter Männer zugegen. Friedrich spielte, aller Verbote spottend, unablässig seine infernalische Geige.

Mardochai hatte bisher einen stummen Zuschauer abgegeben. Jetzt verließ er seinen Platz und trat in die Mitte der Männer zu Bardeloh.

»Richard,« sagte er, die Hand fest auf seine Schulter legend, »Richard, das war ein amüsantes Stück Christenarbeit. Ich bin zwar nur ein elender Jude, aber ich muß gestehen, daß mir bis heut Ihre Religion noch nie in so schöner Märtyrerglorie erschienen ist.« Der furiöse Mensch [195] war ein guter Christ – wer will's läugnen? – Die hübsche Tänzerin war eine schöne Christin – habt Ihr 'was dagegen? – Der händeringende Mann dort am Fenster ist ein frommer Christ. – Wer kann sagen: Nein! – Pastor Gleichmuth muß ein außerordentlich trefflicher Christ sein – wer möchte daran zweifeln, da er Priester ist? Und der arme Mensch dort, das Geigengenie mit dem hirnverrückten Schädel – ist's nicht ein Christ nach Noten? – O, ich beuge mich tief in den Staub vor der Majestät Eurer vielfaltigen Religion! Sie hat viele, große Tiefen; es liegt ein unergründlicher Abgrund der Tiefsinnigkeit in ihr, den ich erst heut Nacht erkannt habe. Seltsam, daß sie verschlossene Thüren so nackt zeigen und brünstig machen!

»Mardochai,« sprach Bardeloh, »hast Du die Thüren verschlossen?«

»Ich mußt' es, Richard,« versetzte mit der Ruhe eines Geschäftsmannes, der einen Handelsbrief unterschreibt, der Jude, »sonst wäre ich in Gefahr gekommen, für den engagirten Violinisten dort mein Geld umsonst ausgegeben zu haben. Der Schwank trägt mir überhaupt keine reellen Zinsen.«

»Du hast also auf ideelle gerechnet?« fragte zitternd mein Gastfreund.

[196] »Du sagst es!« sprach kalt Mardochai. »Sie sind mir in der That reichlich geflossen!« »Sieh« fuhr er fort, und streckte die lange, weiße Hand aus wie ein Prophet über die schweigenden Männergruppen,»sieh! Das ist Europa, umarmt vom Christenthume, und hier steht eine Trümmer meines von diesem Christenthume zertretenen Stammes. Bardeloh, ich rufe Dich auf zum unparteiischen Richter! Wer ist der Gesündere? Ich bin ein Jude und versammle ich hunderttausende meiner Brüder um mich, so ist jeder Einzelne ein Jude, wie ich; keiner mehr, keiner weniger. Wir sind krank, tief krank, wir kranken noch an dem ›Kreuziget ihn!‹ unserer Vorfahren. Wo ist hier die Consequenz? Ist Eure Liebe so arm, daß sie sich nicht auch erstrecken kann über das kleine Häuflein eines sterbenden Volkes? Und wo ist Eure Einheit in Liebe? Hier stehen dreißig Christen und mehr. Wer ist gleich dem Andern? Wer glaubt und vertheidigt in seinem Glauben, was sein nächster Bruder lehrt? Und doch nennt Ihr Euch Christen? Wehe, wehe, Eure Religion ist verkäuflich! Wer da zahlt am glänzendsten, dem ist der heilige Geist am gnädigsten! Das beweist der Katholicismus auf eine grauenhaft prägnante Manier. Und wollt ihr entgegnen: hier steht der Protestantismus, so strecke ich meine Hand auch aus über ihn, und frage: Wo ist in ihm die [197] Liebe, das weiche Sterbekissen Eurer ganzen Religion? Die Liebe grübelt und läugnet nicht, sondern glaubt und sättigt sich an der stillen Hingebung zu dem aufflatternden Himmel. Eure Religion aber ist nicht belebt von der Liebe, die Ihr predigt; der Gleichmuth nur, die Kette des Verstandes, sind es, die sie erhalten haben bisher. Was Ihr so nennt, das ist die Religion der Welt, wenn sie herabsinken wird zum bloßen Wechselgeschäft. Sie wird zur Weltreligion aufsteigen, wenn das letzte Herz verwelkt ist in der Welt. Ich beneide Keinen darum, der es erlebt, zuvor aber will ich sterben als Jude, in mir ein Herz bewahrend, das zwar gebrochen wurde von der Perfidie der Weltgeschichte, aber doch noch frisch genug blieb, um bis zum letzten Schlage mit Liebe zu verehren den Stolz seines Volkes. Werdet stolzer, ihr Christen, und Eure Religion wird gewinnen an innerem Leben. Der Bettlermantel der Demuth, der Euch um die dürren, lieblosen Schultern flattert, deckt nicht mehr Eure Blößen! – Schlaft wohl, christlich liebende Brüder! Mardochai, der arme, vernachlässigte Jude wollte nur sehen, wie eine im Christenthum geborne Civilisation sich gebehrde, wenn bei verschlossenen Thüren ein durch die sogenannte Liebe gebrochenes Herz spiele, ein anderes tanze und ein drittes in wahrhafter Liebe weinendes dirigire. Mardochai hat genug gesehen. [198] Der Jude bleibt immer noch stolz auf sein armes, verspottetes Bekenntniß; er mag nichts wissen von Eurer Religion der falschen Liebe!«

Still und stolz wie ein Prophet ging der Sohn des Morgenlandes durch die verblüfften Secten der Christenheit. Ihm folgte spielend der blödsinnige Friedrich. Bardeloh und Gleichmut waren die Einzigen, welche dem Verschwindenden in unterdrückten Seufzern den Hauch der Versöhnung nachsandten. Die Uebrigen sprachen, nickten und blickten ein finsteres Anathem über und auf ihn herab.

Fünf Minuten später war ich mit Bardeloh allein, die Diener löschten die Lichter. »Sigismund,« sprach Richard, »Gleichmuth hat Ihnen seine Lebensgeschichte gegeben, wie er mir sagte. Wir wollen diese zusammenlesen, aber nicht hier. In ein paar Tagen reisen wir den Rhein hinaus. Ich muß Luft schöpfen, wenn ich nicht ersticken soll im Gram dieses schmachvoll costumirten Europäismus!«

Auf der Straße weinte Friedrich's Violine noch immer ihre dämonischen Accorde. Wir schieden. Das Resultat meines nächtigen Lebens ist in diesen Blättern bewahrt. Denke der Liebe, wenn Du sie gelesen und schleudere keinen Fluch, auch nicht einmal im Gedanken, auf denjenigen, der zu [199] schreiben wagt, was das Leben sich nicht schämt zu gebären. Ist die Geburt erlaubt, so konnte auch die Zeugung nicht sündhaft sein. Warum also davon schweigen? Wahrlich, das Unmoralische wird nur in der Jämmerlichkeit unseres abgestumpften, demuthfrechen Geistes geboren! –

6. An Raimund
[200] 6.
An Raimund.

Köln, den 21. August.


»Haben Sie schon das Innere des Domes gesehen?« Mit dieser Frage brachte mir gestern Rosalie ihren Morgengruß. Ich war verstört und wüst von den Erlebnissen der vergangenen Nacht und konnte mich kaum besinnen. »Der Bischoff liest heut die Todtenmesse für den verstorbenen Prior,« fuhr Rosalie fort, »finden Sie Vergnügen an der Kunst, so begleiten Sie mich. Des Cultus halber, den Sie gewiß längst genau kennen, will ich Sie nicht bemühen.«

Ich sagte dankend zu. Der schmerzliche Vorwurf in den letzten Worten des duldenden, schönen Weibes traf mich hart, weil unverschuldet. Es scheint, Rosalie lebt des Glaubens, ich verachte jeden Cultus. Das ist eine Täuschung. Mir kann der Cultus heilig werden, nur verlange ich mehr Innerlichkeit, weniger Tand! Und gesetzt, ich wieß jede Erinnerung daran als Individuum von mir, so will ich damit nicht die Aufhebung [201] des Cultus für die Gesammtheit ausgesprochen haben. Laßt der Gemeinde, was ihr frommt, aber bekehrt Euch selbst zuvor und anathematisirt nicht den Eklektiker!

Wir frühstückten ganz allein mit Felix. Bardeloh erschien nicht. »Er arbeitet sich zur Ruhe,« sagte Rosalie, »unter ein paar Tagen wird er sich schwerlich sehen lassen.« Felix war der unbefangene Knabe wie immer.

»Sigismund,« sprach er und kletterte auf meinen Schoos, »nun bin ich schon zehn Jahre und einen halben Tag alt, wenn ich noch einmal so lange gelebt habe, werde ich ein Märtyrer sein.« Lächelnd, ohne den tragischen Sinn des Wortes zu fassen, grub er seine zierlichen Finger in meine Augen. »Das blitzt!« fuhr er fort. »Wenn Auguste hier wäre, kriegte ich gewiß einen Kuß von ihr; denn das närrische Mädchen behauptet, jeder Kuß sei ein Blitz der Liebe. Da muß die Liebe oft blitzen.«

Ich fragte, warum er denn in zehn Jahren ein Märtyrer zu sein glaube.

»Das ist so ein Einfall des Vaters,« erwiederte Felix mit rührender Harmlosigkeit. »Auch will ich's ihm gern zu Gefallen thun, wenn's nun eben sein muß, nur mag ich mich nicht auf dem Rost braten lassen, wie's ehemals Sitte gewesen sein soll im Märtyrerleben. Kann man [202] denn nicht lustig bleiben und lachen, wenn man ein Märtyrer wird?«

Mir war es unmöglich, dies Gespräch ohne Erschütterung fortzusetzen. Die letzte Frage blieb ich dem Knaben schuldig und suchte seine Aufmerksamkeit auf etwas Anderes zu lenken.

»Begleitest Du die Mutter in die Messe?«

»Ich soll, lieber Sigismund« oder »Mund des Sieges,« wie Auguste spricht (ich hätte den Knaben vor Seelenfreudigkeit mit Küssen ersticken mögen für seine kindische Offenheit. Die Verrätherei eines Kindes ist erhaben und heilig!) »aber ich will nicht.«

»Und warum denn nicht, mein Herzenskind?«

»Weil ich zu oft fromm sein muß.«

»Wie denn das?«

»O Du stellst Dich entsetzlich albern,« lächelte Felix. »Weißt Du denn nicht, daß in einem Todtenamt aller zwei Minuten ein- und mehrmal geläutet wird zum Niederknieen und Bekreuzigen? Das aber ist mir langweilig, denn ich bin oft gar nicht betselig, wenn die steinerne Kuppel so sinnend über mir hängt. Da hat der Vater einmal Recht! Der spricht, wenn der Weihrauch dampft und die Glocke ruft, schmoren die Sünder ihr Gewissen.«

»Du könntest Dir ganz andere Lehren des Vaters merken,« fiel Rosalie ein, »aber Du hast [203] nur Ohren für die Bitterkeiten, die der Vater nicht Dir, sondern mir sagt.«

»Ja, siehst Du, Mutter, das ist wieder nicht meine Schuld. Du gibst mir immer nur Süßes und Angenehmes zu hören und zu essen, und wenn nun der Vater zu uns kommt, merke ich mir immer blos das Bittere und Wunderliche, weil mir das etwas ganz Neues ist. Versuch's einmal und kehre die Gewohnheit um, da wirst Du Dich ganz wundern, wie ich mich dann über Deine Süßigkeiten erfreuen werde.«

Rosalie küßte des Knaben Stirn und entfernte sich, um Toilette zu machen. »Da siehst Du's,« wandte sich Felix an mich, »war das nicht hübsch von der Mutter? Hätte ich dem Vater so was gesagt, so würde ich blos ein finsteres Gesicht dafür gekriegt haben. Ach, Sigismund, wenn Du den Vater heiter und lustig machen könntest, ich wollte Dich küssen, so herzlich wie Auguste.«

Der tiefgefühlte Schmerz des so gut als verwaisten Kindes ergriff mich tiefer als manch' anderes, allgemeineres Weh. Es ist hart, daß ein schuldloses Kind in den Blüthenmonaten seines Lebens so gewaltsam hineingerissen werden muß in den großen Trauerzug, der eine halbe Welt zu Grabe geleitet. Dieses Ertödten der zarten Kindlichkeit erscheint mir grauenhafter als Alles, was [204] uns bedrückt, und wollte man unsere Zustände durch alle ersinnlichen Fechterstreiche der Dialektik zu rechtfertigen suchen, ein einziges Kindesherz, das gebrochen und zerquetscht wird von den stillen, innerlich wühlenden Kämpfen, beweist die Verdorbenheit unseres Lebens. Jetzt erst fasse ich den Gram Bardeloh's, der ihn wie ein Erzittern der Nerven an der galvanischen Batterie durchbebt beim Anblick seines Kindes. Er fühlt, daß keine Rettung gegeben ist für ein harmloses Kindesherz, und daß die Pflicht, der Allgemeinheit zu Hilfe zu eilen, mächtiger ist als die specielle Vatersorge. Ein Mensch wie Bardeloh sollte nicht Vater sein! Dieser ironische Zufall kann den großen Menschen zu einer That verleiten, die gewiß immer eine unsittliche bleiben würde, wenn auch der Conflict, aus dem sie geboren wird, ein milderndes Urtheil fällen möchte. Versetze ich mich an Bardeloh's Stelle, nehme ich mit seinem Geist und seiner Stellung auch all' seine Schmerzen in mich auf, so fühle ich tief, daß ich als Vater entweder ein Tyrann aus Liebe sein könnte gegen mein Kind, oder freiwillig aus dem Leben zu scheiden für die größte meiner Pflichten ansehen würde. – Wahrhaftig, kann der Einzelne, dem im Tiefblick seines Geistes die Monstrosität der Weltlage in zwerghafter Verkrüppelung klar geworden ist, nichts thun zur Errettung des Ganzen,[205] so ist es wol an der Zeit zu sterben. Ach, es ist weit gekommen in Europa! –

Felix begleitete uns nach dem Dome. Eine unzählbare Menschenmenge drängte sich durch das Portal, den langen Gang hinab, dessen linke Seite von riesenhaften Fenstern durchbrochen wird, die uns in den brennendsten Farben die Kunst der Glasmalerei bewundern lassen. Man fühlt sich niedergedrückt, vereinsamt in diesem gigantischen Baue. Der ungeheure Raum verschlingt den Blick, das Oede, Trümmerartige weckt tragische Empfindungen. Ein Gebäude wie der kölner Dom ist eine Tragödie des Mittelalters, die nicht fertig geworden und nun von allen Jahrhunderten besprochen und befühlt wird, ob sie sich wol vollenden lasse. Es ist aber eine abgeschmackte, gotteslästerliche Thorheit, sich mit einem solchen Gedanken nur zu tragen. Unserer Zeit fehlt die religiöse Begeisterung zur Vollendung, ja zum Verständniß eines solchen Baues. Unsere Dome sind langgestreckte, dünnleibige Fabrikgebäude. Die Begeisterung für das Materielle, reell Nutzbare harmonirt wenig mit dem erhabenen Schwung einer mittelalterlichen Phantasie. Dazumal hatte der productive Mensch in seinen Gedanken noch etwas Riesenmäßiges, Himmelstürmendes. Er baute seine Wünsche aus zu Himmelsstiegen, die auch in ihrer Zertrümmerung noch großartig genug [206] sind, um den nachgebornen Geschlechtern Stoff zu klugen und unklugen Diatriben zu geben.

Wir traten in den hohen Chor, den einzigen vollendeten Theil des Domes. Wie heiße Dankgebete stürzen sich aus der Tiefe der Muttererde die Springquellen der Säulen hinauf zum Himmel und vereinigen sich in tausend auseinander wachsenden Armen zur Palmenkrone des Gewölbes. Ein religiöses Gemüth muß beten können unter dieser steinernen Himmelsdecke, wem aber die Seele erkaltete in der Mattherzigkeit des Weltlebens, oder, wer sich mit Ekel abwendete von der Profanation des Göttlichen, die wol auch hie und da Jahrhunderte lang vollzogen ward in solchen Tempelräumen; der fühlt sich wie unter einem steinernen Sargdeckel begraben.

Ich weiß nicht mehr, mit welchen Empfindungen ich diesen Chor betrat, aber eine unaussprechliche Angst ergriff mich, als die Bigotterie kniebeugte und Kreuze schlug, und an dem Hochaltare, von tausend Kerzen erhellt, in den Nimbus des sündenverdeckenden Weihrauchduftes gehüllt, der amthaltende Bischoff sein lateinisches Formular herlallte Der Opferduft stieg hinauf in den ungeheuern Raum und kräuselte in blauen Wolken an der Wölbung.

»Macht uns denn dieser Rauch andächtiger?« fragte Felix.

[207] »Gewiß, wenn wir glauben. Darum, Kind, bestrebe Dich nur zu glauben, so wirst Du Dich nie unglücklich fühlen.«

»Da sprichst Du grade, wie der Vater,« meinte der Knabe.

Ein Kirchendiener stieß mich an und fragte, ob ich das Grab der Heiligen drei Könige sehen wolle. Diese Menschen haben eine merkwürdige Gabe, die Fremden aus Hunderten und Tausenden heraus zu erkennen. Ich bemerkte, daß uns das Hochamt wol daran verhindern möchte.

»Keineswegs, Herr Baron,« versetzte der Cerberus der heiligen drei Schädelknochen, »ich bin jederzeit zum Herumführen disponirt.«

Das,»Herr Baron,« kitzelte zwar meine echt deutsche Seele, dennoch ließ ich mich nicht verführen. Ich wieß den dienstfertigen Geist ab und suchte eines andächtigen Gedankens habhaft zu werden.

»Gib acht, Sigismund,« sprach Felix, »der Bischoff hat schon die Monstranz in den Händen.«

Der aufmerksame Knabe hatte richtig prophezeit. Lautes Geläut brach sich an dem Gewölbe, die Menge stürzte blindlings auf die Knie, wider Willen ward ich mit niedergerissen. Als wir uns wieder erhoben, fuhr Felix fort zu plaudern:

»Wissen möchte ich doch, ob im Himmel auch Messe gelesen wird?«

»Es kann uns gleichgiltig sein,« versetzte ich.

[208] »Nein, Sigismund,« erwiederte der Knabe, »mir wär's gar nicht gleichgiltig. Denn ich sehe nicht ein, wo die Menschen alle hinsollten mit dem Kniebeugen, und wenn sie übereinander fielen, müßt's doch recht curios lächerlich sein im Himmel.«

»Ist das Dein Ernst, Felix?«

»Ja, Sigismund, man darf's aber nicht laut sagen.« –

Mir ward zu eng. Der dampfende Weihrauch erregte mir Schwindel, ich wandte mich dem Ausgange zu. »Mutter,« rief Felix leise, »wir gehen fort, ich mag den Leib des Herrn nicht räuchern sehen.«

Rosalie lag in Andacht hingesunken im Betstuhl. Sie hörte die kindische Bemerkung ihres Sohnes nicht, sie war in der That noch glücklich! Nur das Weib in der Reinheit seines geistigen Seins, auch hier die Empfangende, kann sich ohne Argwohn der Innigkeit einer künstlich erregten Begeisterung überlassen. Dem Manne, diesem suchenden, forschenden und zerstörenden Ableger der Gottheit, sind jene künstlich-stillen Freuden des Seelenlebens nicht mehr verstattet in der Gegenwart. Ich meines Theils glaube sogar, es gibt von Natur gar keinen religiösen Mann mehr, und was sich in ihm noch dafür halten läßt, ist zur Religion gewordene Gewohnheit oder ein Aufnehmen [209] des Weiblichen durch Entsagung kräftiger Männlichkeit. Auch besteht die Religion des Mannes jetzt mehr in der That, als im Gebet, und nur, weil unsere Zeit zu weibisch geworden, ist sie zu schwach zur Production einer gewaltigen That. Der Mann, welcher den Dom zu Köln erbaut hat, ist gewiß kein Frömmler, kein religiöser Beter im Sinne der Gewöhnlichkeit gewesen. – Niedergeschlagen, schweigsam, und fast, möcht' ich sagen, zerrissen, weil ich nicht glücklich sein konnte, wie Rosalie, kehrte ich an ihrer und Felix' Seite nach Hause zurück.

Es war gut, daß der Knabe mich durch sein kindisches Plaudern unterhielt.


Des Nachts.


Indem ich jetzt in heiliger Nachteinsamkeit das heut Morgen an Dich Geschriebene wieder überlese, beschleicht mich der Gedanke, ich sei zum Gotteslästerer, zum Heretiker geworden, ohne es zu wissen und zu wollen. Die Unergründlichkeit unserer geistigen Natur ist die Säugamme unseres Elends! Wir Alle suchen umher in den verstecktesten Winkeln des Lebens nach einem Rettungswege aus diesen dunklen Labyrinthen, die Weltirrthum und Weltforschung über uns hingebreitet. Der Zorn über unsere eigene Ohnmacht zupft die [210] liebe Vernunft bei der Nase, und im liebevollen Hingeben unseres Selbst an das vermeint Göttliche brechen wir die Säulen wie der blinde Simson und begraben uns unter ihren tönenden Trümmern. Es muß, scheint mir, noch viel gelästert werden, Raimund, ehe der Tag neuer Weltheiligung über unser unglückliches Jahrhundert heraufleuchten wird. –

Wenn ich hinausschiele durch das Fenster und die graue Masse des Domes emporsteigen sehe in den sternenbesäten Nachthimmel; so beugt sich der friedliche Gott meines Herzens vor dem Heiligenschreine, den sich eines großen Mannes Begeisterung ausgemeißelt hat für seinen Gott. Dieser Bau weckt große Gedanken; der Angstruf einer verschütteten Welt stammelt wie ein Sterbender in mir, ich möchte gern helfen und retten in dem allgemeinen Unglück, aber die Kraft will sich nicht erheben, weil der Einzelne in sich zu keiner Selbstbegeisterung mehr emporwachsen kann. Diese Impotenz ist entsittlichend und verweichlichend, weil durch sie die Männlichkeit anschwillt zur trägen, phlegmatischen Fettmasse. Bleibt wol noch etwas anderes übrig, als Bardeloh's verzweifelnde Verachtung, Mardochai's auflösender Haß, des Mönches Wahnwitz, Friedrich's Blödsinn oder Gleichmuth's raffinirte Selbstentweihung? Hier liegt der Todtschlag des Jahrhunderts, der Mord unserer[211] Kinder, die Selbstentleibung eines müden, lebensmattenund satten Welttheils! O mir stürzen die Thränen über die Jammergestalt unserer Zeit, über mich, ihr unseligstes Kind, in die überwachten Augen! –

Es ist an der Zeit, Dir wieder ein Bruchstück aus Gleichmuth's Lebensgeschichte mitzutheilen. Anatomischer hat noch kein Gelehrter sein Seelenleben zergliedert. Daß es mir vergönnt wäre, diese Biographie von Religion, Cultus und kräftiger Menschlichkeit aller Welt in die tauben Ohren zu schreien! Vielleicht lernte sie wieder hören und bekäm' ein helles Auge und besseren Geschmack. Eine Restauration der gesunden fünf Sinne könnte ihr nur von Nutzen sein.

Bekenntnisse eines durch Zeit, Menschen, Lehre und Streben Irregeleiteten.

(Fortsetzung.)


»Das Verschwinden Eduard's stimmte mich anfänglich überaus lustig. Es war mir neu, zu sehen, wie ein Mensch, hingerissen von der finstern Macht einer fixen Idee, die heitere Welt mit ihren spielenden Freudenklängen verlassen und freiwillig einer funfzehnjährigen Sklaverei sich hingeben konnte, aus der die Rückkehr zu den größten Unwahrscheinlichkeiten gehörte. Viele meiner sonstigen Bekannten [212] spotteten gleich mir über den bigotten Schwärmer, waren aber in's Geheim der Meinung, der Verschwundene werde einmal unversehens in unserm lustigen Kreise wieder erscheinen. Das Letztere traf nun zwar nicht ein, wol aber erhielten wir unsichere Nachrichten von Eduard, die uns seinen Eintritt in ein Kloster sehr wahrscheinlich machten.

Die Jugend hält sich nicht gern an Vergangenes; ihr größter Reiz liegt im Erfassen des Augenblicks, der sie hinweghebt über Angst und Sorge des Lebens. Nach einigen Wochen war Eduard vergessen, nur meine Wette trieb unruhig, wie ein Nachtvogel, in düstern Träumen um meine verdämmerten Sinne.

Die Notwendigkeit oder, wenn man lieber will, ein ironisches Pflichtgefühl, zwang mich, dem Studium der Theologie Zeit und Kräfte zu opfern. Anfangs vermeinte ich noch immer, es würde sich, aller Widersprüche ungeachtet, die der wahrhafte Mensch in mir gegen die starre Inquisitionsmiene dieser und jener Lehre erhob, ein Weg stiller Vereinigung ausmitteln lassen, doch mein Hoffen blieb vergeblich und erfolglos. Die Lehrer waren zu sehr befangen in Engherzigkeit. Das, was ich das Urmenschliche nennen möchte, und was zugleich der glänzendste Abdruck der Gottähnlichkeit in uns ist, war längst erblindet von unablässigem Gebrauch, den die solide Gewöhnlichkeit[213] davon gemacht hatte. Mangel an schöpferischer Gedankentiefe und ein Hang zur Bequemlichkeit, die jedem Gelehrten anhängt, ließen sie nicht den Zwiespalt erkennen, der zwischen dem Gelehrten und dem Angeborenen entstehen mußte. Freilich war auch die Mehrzahl derer, an die das todte – gewöhnlich sagt man das ›lebendige‹ – Wort gerichtet ward, von zu gemeiner Constitution, um zu erkennen, woran es gebreche. Die Masse der Menschen, auch der gebildeten, will nichts, als sich Fremdes zu eigen machen. So Zugeeignetes, wenn es das Aussehen geistiger Färbung hat, nennt man Gelehrsamkeit, und wer die größten Schober davon um sich aufhäuft, erhält den Beinamen eines tüchtigen Kopfes, eines talentvollen Menschen. O, der Schmach und Verläumdung des Heiligsten in uns! Als ob der Esel, welcher vermöge seines Knochenbaues im Stande ist, die größere Last zu tragen, dadurch auch befugt werde, einer höhern Ordnung der Geschöpfe anzugehören. Wahr ist es freilich, er bekommt weniger Püffe! –

Mir regte diese Art, Vorgetragenes als wahr hinzunehmen oder durch öfteres Betrachten dafür zu halten, die Galle auf, und je deutlicher ich sah, daß, wie fast in allen Wissenschaften – die Medicin etwa ausgenommen – nur das Mechanische als das Große und Wahre auch in der Theologie docirt, abgefragt und geachtet werde, [214] desto heftiger ward die Opposition dagegen in mir. Da ich keinen fand, der mir Rede stehen wollte, meine Zweifel löste und die verzehrende Unruhe stillte; so ging ich mit mir selbst zu Rathe. In stiller Einsamkeit fand ich nun geschieden den reinen Menschen von dem starren Theologen, und in wie fern dieser als bevorzugter Repräsentant aller christlichen Lehrsätze betrachtet ward, zugleich auch von dem gewöhnlichen Christen. Denn es konnte mich nicht beruhigen, daß Reinchristliches von dem Dogmatisch-Begründeten eben so weit abstehe, als die Sonne von der Erde.

Ich empörte mich oft vor mir selbst, wenn ich meine gesunde Vernunft hinableuchten ließ in diesen Wust von Satzungen, wo jede Gesundheit des Geistes verkümmert. Ich konnte mich eines bitter-wehmüthigen Lachens nicht enthalten, wenn ich das Auge aufschlug zu dem blauen Himmelsgewölbe, das tiefsinnig wie das niedergeschlagene Augenlid der Gottheit über mir hing, sich schämend der Geschöpfe der Erde! – Gern wäre ich umgekehrt und hätte einen Weg verlassen, der nach allen Seiten hin mich nur zu einem abgeschwächten, eingebildeten Glück, oder zu einem elenden Untergange führen mußte. Schon war ich entschlossen, ihm zu entsagen; da bedachte ich, daß es wol größer und edler sei, darauf zu verharren, vielleicht wäre ich bestimmt, beizutragen [215] zur Aufklärung dunkler Zustände. Der böse Geist eines zweideutigen Ruhmes umdüsterte mich, ich gab nach, ich sah mich als Märtyrer für das geistige Wohl einer halben Welt dastehen, und schwur Treue dem, was ich doch von ganzem Herzen nicht achten konnte.

Dies war meine erste Ordination zum Geistlichen, zum Gottesgelehrten. Mein Entschluß stand fest – ich wollte ganz Mensch sein und ganz Theolog – wie sich beides bei meiner zerbröckelnden Characteranlage mit einander werde in Einklang bringen lassen, blieb mir noch unklar.

In dieser Zeit innerer Zerrissenheit, in der die Unschuld des Menschen mit der Beflecktheit der geschichtlichen Theologie rang, trat der Jude Mardochai langsam meinen Kreisen näher. Es hatte dieser Mann mit der Jugendlichkeit seiner morgenländischen Phantasie etwas Bewältigendes für Alle, die in engere Berührung mit ihm kamen. Mardochai war voll geistiger Regsamkeit; ich habe nichts gekannt, was seiner Fassungskraft zu schwer gewesen wäre. Er liebte die Kunst, namentlich die Poesie und Musik und wählte seine Freunde so, daß diesen mannigfachen Gelüsten durch die Wahl selbst schon eine Befriedigung erwuchs. Seine unablässigen Begleiter waren Friedrich, Casimir und ich; doch schien er bei dieser Auswahl[216] sein geheimstes Augenmerk nur auf mich gerichtet zu haben, während die andern Beiden mehr das aufflackernde Kunstmoment nähren und unterhalten mußten. Mardochai war bewandert in den heiligen Büchern seines Volkes, er kannte genau die Lehren des Talmud und hielt sich streng an die Vorschriften seiner Religion. Dies fiel mir auf, da ich wol bemerken konnte, daß nicht Ueberzeugung, sondern nur Gewohnheit, wo nicht gar schlaue Berechnung, ihn zu so widersinniger Pflichtübung vermochten. Seltsamer Weise deuteten einige Bemerkungen in unsern Gesprächen darauf hin und Mardochai berührte mit frivoler Grazie Gegenstände, die eine sinnliche, leicht erregbare Natur zu wilder Gluth entstammen mußten. Der beabsichtigte Eindruck blieb nicht aus; er sah mich zittern, vernahm meine Seufzer, die mehr unterdrückten Flüchen als Gebeten um Abwendung der Verführung glichen. Seine Ruhe blieb dieselbe, nur einzelne, wie zufällig hingeworfene Fragen, mußten mich beredt machen und ihm das Geheimniß entlocken, an dem mein begehrerisches Leben freudlos verkümmerte.

Wir hatten unsern gewöhnlichen Spaziergang angetreten, die dunklen Kastanienalleen entlang, die nach Poppelsdorf führen. Der Kreuzberg lag, gehüllt in sonnige Nebelschleier, vor uns, die Kapelle glänzte wie ein ins Grab stürzendes Kreuz. [217] Wir stiegen den Berg hinan, immer tiefer in ernste Gespräche uns versenkend.

›Sind Sie ein wunderlicher Mensch,‹ sagte Mardochai, als ich offen die Ursache meines gramvollen Lebens ihm enthüllt hatte. ›Nichts leichter, als hier Einigung und Befriedigung. Sie kennen gewiß die Geschichte ihrer Kirche besser, als ich, der Jude, Sie werden auch als Protestant nicht fremd sein in der Geschichte der katholischen Kirche. Sagen Sie mir doch offen, was Sie von den Heiligen dieses christlichen Bekenntnisses halten?‹

Die Frage war mit so liebevoller Harmlosigkeit gestellt, daß ich ohne Argwohn meine Meinung dahin gab. Ich erklärte die gesammte Geschichte für ein Denkmal bald aufrichtiger, bald erheuchelter Schwärmerei und bedauerte nur, daß bei so viel Poesie, die unbestritten darin liege, so wenig Erklekliches für die Menschheit daraus hervorgegangen sei. ›Wäre ich Dichter,‹ fügte ich noch hinzu, ›so würde mein tiefstes Bemühen darin bestehen, das Weltpoetische in dieser Erscheinung menschlich zu lösen. Es gibt kein reicheres Feld, Ruhm zu ärndten, und Großes und Bleibendes zu wirken für den Dichter, als ein Aufsuchen und künstlerisch-poetisches Ordnen der seinen psychologischen Fäden, die verborgen liegen in der Geschichte der Heiligen. Daraus [218] würde eine Geschichte des Menschenherzens sich gestalten, an der sich der sinnende Mensch eben so erfreuen als belehren könnte.‹

›Darin will ich Ihnen recht geben,‹ versetzte Mardochai, ›nur glaub' ich die Heiligkeit selbst auf ganz andere Gründe zurückführen zu müssen.‹

Wir standen an dem Kloster, die Sonne neigte sich dem Untergange zu, der Rhein quoll, ein dunkelgrüner Königsmantel, aus der Schlucht des Siebengebirges in die freie Ebene, die wie ein Unterthan seinen Saum mit liebender Lippe berührte. In der Kapelle ward die letzte Messe gesungen.

›Da drin,‹ fuhr Mardochai fort, ›lebt auch noch ein Rest aussterbender Heiligkeit. Was gibt ihnen das Vorrecht zu diesem Titel?‹

›Ihr Gelübde.‹

›Freilich! Wenn man nur nicht wüßte, warum das Gelübde dem Menschen verbietet, sein Herz als Herz schlagen zu lassen.‹

›Diese Bemerkung verstehe ich nicht.‹

›Sonderbar!‹ rief Mardochai, ›ein Theologe versteht nicht, was er selbst beklagt! –‹

Es trat eine Pause ein, ich versank über die Worte des Juden in tiefe Gedanken. Wir hatten uns auf die Treppenstufen gesetzt, die zur Klosterkirche führen. Vor uns lag das Siebengebirge [219] mit den Ruinen des Drachenfels und Godesberg. Es war ein Abend, mit Wollustreiz überströmt, und wenig geeignet für Gespräche, wie das unsrige.

›Es muß ein eigener Kitzel sein,‹ begann mein Begleiter, ›der den Geist in gänzlicher Scheidung von aller sinnlichen Erregung Befriedigung finden laßt. Ob nur diese Menschen keine Sinne besitzen?‹

›Wer weiß,‹ erwiderte ich, ›welch' Unglück die Meisten zur Verläugnung irdischer Freudigkeit getrieben haben mag!‹

›Ja, wer weiß es!‹ wiederholte Mardochai und schwieg abermals. Einige Zeit darauf fuhr er fort: ›Bei alle dem hat das Klosterleben doch mancherlei für sich, z.B. ist es gar nicht zu tadeln, daß dem Weltmüden ein Asyl geboten wird, wenn er, geschwächt vom Genuß, sich einem stillgeweihten Leben in Gott überlassen will. Und meiner Ansicht nach kann ein Leben in Gott, ja überhaupt ein theologisches Leben erst nach vorhergegangenem Schwelgen in allen Freuden der Welt wahrhaft fruchtbar werden.‹

›Glauben Sie das wirklich?‹ fiel ich dem Redenden mit einiger Heftigkeit in's Wort.

›Wahrhaftig! Auch habe ich an mir selbst [220] schon erfahren, daß Einigung des geistigen und sinnlichen Menschen nicht denkbar, Scheidung beider aber vernichtend ist. Sollte es da nicht weise sein, der Natur freien Lauf zu lassen und diese geschiedenen Elemente für das Leben aufzufassen jedes zu seiner Zeit? Namentlich hart ist mir es erschienen, daß die Kirche von dem Gottesgelehrten eine immerwährende Enthaltsamkeit oder doch große Mäßigung fordert, die gewöhnlich nachtheilig selbst auf die freisinnige Entfaltung des Geistigen einwirkt. Ich habe immer gefunden, daß die unbedeutendsten kirchlichen Lehrer auch die enthaltsamsten waren. Sehr natürlich! Es kann Einer leicht, was man sagt, fromm sein, wenn keine Leidenschaft ihn verzehrt und der Leidenschaftslose ist immer ein Simpler. Kommt es aber zufällig vor, daß ein geistig lebendiger, gedankenreicher Mensch sich dem heilig genannten Studium hingibt, so muß er auch dem sinnlichen Lebensreize auf irgend eine Weise den natürlichen Tribut zollen, oder es entstehen unnatürliche Laster. Mir als Juden werden Sie es verzeihen, wenn ich alle Klöster die versteinerte Lasterhaftigkeit der gegen den Willen der Natur unterdrückten Sinnenlust nenne. Diese Mauern sind stumm, aber ein geistiges Ohr kann sie seufzen hören.‹

›Was folgern Sie daraus?‹ warf ich ein, denn eine bange Scheu hielt mich zurück, das [221] selbst zu sagen, wonach mein eignes Leben doch verlangte.

›Folgern!‹ lächelte Mardochai. ›Ich bin Arzt und verweise aus Gewissenhaftigkeit den Menschen immer an die Natur. Was die Natur verlangt, ist, jedem Sittengesetz oft zum Trotz, immer das Weltmoralische. Man versuche es und zwinge ihr Fesseln auf, sie rächt sich früher oder später! Gibt es nun Satzungen in der Welt, die Klugheit und Politik für nothwendig erachteten, oder an deren Befolgung gegenwärtig das Geschick ganzer Nationen gebunden ist – gut: so befolge man sie als öffentlicher Mensch! Die Natur hat ihren Tempel für sich, ihre Priester und Priesterinnen. Habt Ihr keine Scheu, dem Gesetz der Klugheit die verborgene Sittlichkeit Eures individuellen Menschen aufzuopfern, so sehe ich nicht ein, was Ihr anstehen wollt, im vollen Arm der Natur einen Freudenbecher zu leeren, der Euch die Leiden und Mühen eines erkünstelten, angelernten Lebens leichter ertragen läßt. Scheidet das Gesetz, sei's heilig oder profan, den Menschen in zwei Wesen, so ist es Pflicht der Natur, die Geschiedenen in neuer Schöpfung zu vereinigen. Als Theolog – das Bekenntniß wäre für mich kein Hinderniß – würde ich in den Jahren, wo es meine Kraft erlaubte, den Reiz der Weltlust, dem sinnlichen Leben geben, was es [222] verlangt, um später desto freier, umsichtiger, durchlebter, der stillen Gottesbetrachtung obliegen zu können.‹

›Die Liebe ist das höchste Gesetz unserer Religion,‹ seufzte ich laut in die dunkler herabstürzende Dämmerung.

›Das ist's, was mich von jeher zum Christenthum hingezogen hat,‹ versetzte Mardochai. ›Wäre ich nur nicht ein wunderlicher Kauz, so würde ich mich taufen lassen, allein – ich halte nichts von Ceremonien bei einem Religionswechsel. Ohne Taufe will's nicht gehen, gut, so bleib' ich Jude.‹

›Ich fürchte, Mardochai, Sie verwechseln den Begriff der christlichen Liebe mit dem der weltlichen.‹

›Diesen Einwurf konnte ich erwarten, ich will Sie aber beruhigen. Scheinbar mag ein Unterschied bestehen zwischen geistiger oder christlicher und weltlicher oder sinnlicher Liebe. Der Unterschied liegt aber nur in der Einbildung. Scheidet nicht, so habt Ihr Einigung, und wollt Ihr consequent sein in der Befolgung Eurer Vorschriften, so müßt Ihr auch sinnlich lieben können mit einer Andacht und Inbrunst, die der geistigen Liebe nichts nachgibt.‹

›Daraus würde eine wollüstige Religion entstehen.‹

[223] ›Nichts weniger,‹ fuhr Mardochai fort. ›Liebt Ihr Euren Nächsten wie Euch selbst, so werdet Ihr doch wohl auch die Nächste nicht ausschließen von dieser demokratischen Gesinnung. Liebe ist Hingebung, Aufgehen des. Einen in den Andern, sei's im Geist, sei's in der Gluth sinnlich zitternder Andacht! Und wäre ich ein christlicher Lehrer, ich würde mich hineinstürzen in die glühendste Woge der Liebe, um in der Lust bebender Sinne, in Kuß und Umarmung einen Maßstab zu finden für meine dereinstige geistige Liebe, die ich predigen soll dem Volke der Verblendung. O, daß ich kein Christ bin, ich Elender! Daß ich nur die Eine Liebe kenne und nicht die Seligkeit der Andern, die erst emporsteigt aus dem Genuß, der ihre Mutter ist! Das ist der Fluch Eures Gottes oder Propheten, der jeden Einzelnen meines Volkes verfolgt bis an das verachtete Grab. Danken Sie Ihrem Gott, daß er Sie zum Christen erschuf und Ihnen das Glück der Liebe eröffnete in all seinen entzückenden Reizen!‹

Während dieses Gesprächs waren wir langsam wieder herabgestiegen von dem Kreuzberge. Die gesunde Begehrlichkeit meiner Natur regte sich immer lauter und forderte ungestüm Gehör. Mardochai erbarmte mich, ich ließ mich hinreißen von unzeitiger Weichheit und forderte ihn mit fieberischzitterndem Händedruck auf, fortzufahren. [224] Die Dunkelheit der Nacht verbarg mir sein Mienenspiel, ich hörte nur den Sohn des räthselhaften, ewig jungen Morgenlandes. Er sprach, was ich längst mir zu gestehen nicht gewagt, aber von einem Dritten zu hören sehnlichst gehofft hatte.

›Sie werden es erfahren in Ihrem spätern Leben,‹ fuhr der Jude fort, ›daß beinahe alles Verbotene das Erlaubte ist, nur hingestellt, um den Muth des Menschen zu erproben. So war's schon zur Zeit der Schöpfung. Ohne den berüchtigten Apfelbiß fehlte uns alle Geschichte, mindestens alle Romantik des Lebens. Das für sündhaft Gehaltene ist das Poetische, die Schallheit der tagesflachen Wirklichkeit Heiligende. So auch mit der Moral. Versuch' Einer erst, diese Moralität in schönen Leichtsinn seines göttlichen Bewußtseins einzuhüllen und mit ihr davon zu laufen; glauben Sie wohl, es erfolge irgend eine Reue darauf? Nur die Schwäche bereut, weil sie nicht productiv ist in sich und das Erschaffen eines Neuen weder begreifen noch ertragen kann. Wollten wir moralisch, tugendhaft, religiös sein im strengen Sinn dieser Worte; so wäre jede Productivität des Geistes eine Sünde, weil sie immer eng verknüpft ist mit dem Zertreten eines Festen, Gegebenen. Jeder Fortschritt wäre dann unmoralisch, denn in ihm liegt die Verachtung des eben Geltenden; jede neue That wäre eine Lästerung[225] der Geschichte, weil sie so frei ist, ohne Compliment sich neben oder über das Vorhandene zu stellen. Es dürfte überhaupt nichts Gedankliches mehr geduldet, alles eigentlich Lebendige müßte todtgeschlagen werden, und heilig allein, tugendhaft und religiös wäre nur der Automat und die Maschine. – Dies führe ich nur an, um zu beweisen, daß jedes Verbot eine versteckte Aufforderung ist, es zu übertreten. Seid muthig, keck, dreist und Niemand wagt es, Euer Thun unmoralisch zu nennen; wollen Sie mir aber Einwürfe machen, so bin ich so frei, Ihnen zu sagen, daß alsdann Ihre ganze Religion, das Christenthum mit seinen hundert Ablegern und Aesten, als die consequenteste Unmoralität in der Geschichte der göttlichen Schöpfung dastehen würde, weil grade durch diese größte That des Geistes alles früher für heilig Geachtete umgestoßen und vernichtet wurde. Es ist nichts leichter als dies, aber auch nichts wahnsinniger, als ein solcher Einfall. Nur im ewigen Umsturz des als absolut moralisch Hingestellten und von den Schergen des Verstandes, der Orthodoxie und Bigotterie, gehüllt in die aschgraue Livree der Bornirtheit, Vertheidigten, liegt die ewig wandelbare und eben nur im Wandel heilig bleibende Moralität der Weltgeschichte.‹

›Diese Deduction, mit der schlauen Unbefangenheit jüdischer Skepsis vorgetragen, entschied über [226] mich. Mardochai dolmetschte meine Gedanken, Gefühle, Empfindungen. Die Sinnlichkeit brach wie ein Orkan in mir an und eh' eine Stunde verging, lag ich zum ersten Male vor dem Altar einer Gottheit, dessen Namen zur Bezeichnung leiblicher Schönheit in allen Welttheilen bekannt ist. Vielleicht wäre ich nicht gefallen, hätte nicht Mardochai den Stachel der Lust listig zu schärfen verstanden durch die Poesie der Situationen. Als es längst zu spät war, begriff ich erst, mit welchem Vorbedacht mich dieser schweigsam zürnende Mensch verführt hatte.‹ –

Eine dämmernde Mondnacht zitterte über Flur und Stadt. Mardochai sprach mit so folternder Ruhe, daß ich ihn vor Ungeduld hätte ermorden können. Er führte mich in ein abgelegenes Haus. Ringsum die geheimnißvollste Stille. Ein Zimmer, klein, reinlich, von Ambraduft durchzogen, öffnete sich. Auf dem Ofen, der in Adlergestalt sich erhob, glommen noch die Ueberreste der Kohlen, von denen das Räucherwerk verzehrt ward. Kein Licht brannte, nur der Mond dämmerte still und heimlich durch die halbgeschlossenen Jalousien. Am Fenster stand ein Bett, mit weißem Seidenstoff überzogen.

›Treten Sie näher,‹ sagte Mardochai, ›wenn es Ihnen hier gefällt.‹ Mit sanfter Gewalt stieß er mich hin zum Lager. Eine geschickte [227] Handbewegung schlug die Jalousien am Fenster zurück, das volle Mondlicht erleuchtete Zimmer und Bett, ich erblickte in stillem Schlummer eine schöne Frauengestalt. ›Eu genie!‹ rief Mardochai laut. Die Schlummernde regte sich, im nächsten Augenblick umschlang sie mich mit warmem Arm – ich erlag der Aufregung – Eugenie, das schönste Weib, das je mein Auge erblickte, gab mir den Himmel, um mein Herz der Hölle als Pfand zu überreichen. – Mardochai war verschwunden. Ich hörte seine Stimme erst wieder, als die Morgenröthe mich übergoß mit dem erborgten Purpur der Scham, die ich nicht mehr kannte. Eugenie ruhte neben mir; – es hätte ein Gott straucheln können bei diesem Reiz der Schönheit! –

›Mardochai!‹ rief ich, ›Mardochai, wo bin ich!‹

›Wo Sie fortan immer sein können, wenn Sie in dieser Nacht gefühlt haben, daß ein muthiges Uebertreten weniger schmerzhaft ist, als ein feiges Folgen.‹

Und von Stund' an ward Eugenie, Mardochai's Geliebte, wie ich erst späterhin erfuhr, auch die Meinige. Die Eifersucht kannte Mardochai nicht, ob aus Klugheit, Diplomatie oder sonstigen Gründen, habe ich nie ermitteln können. – Das sinnlich glühende Fleisch ward nunmehr meine [228] Speise, die ich von Stund an in weltheiliger Begeisterung mir reichen ließ von der schönsten Priesterin der Natur. Ich hing in süßer Verzückung an den Brüsten, die Weisheit spendeten in der Gluth ihrer schwellenden Bewegung. Ich betete an in Liebe die Schönheit fleischgewordener Göttlichkeit und suchte den Himmel mit seiner ätherischen Liebe zu begreifen in auflösender Umarmung. Ich ward ein Schüler Mardochai's und folgte doch nur meiner Ueberzeugung. Die Lehre der Ascese zu verstehen, das Geheimniß heilig gewordener Menschen zu fassen, lebte ich wie ein Bacchant in unstetem Rausche. Kein Gedanke der Reue warnte mich vor diesem gefährlichen Dasein. Es war Liebe und nur Liebe, die mich führte, trieb, geißelte von Genuß zu Genuß. Ich glaubte tief zu fühlen, daß nur derjenige das Leben verstehen könne, der es genossen habe wie ich; ob ich nach solchen Wollustbädern auch ein Lehrer der Liebe würde sein können, daran dachte ich nicht, wenn die schäumende Fluth des Genusses in tausend scherzenden Perlen über mich zusammenstürzte. –

Es lag eine hohe Poesie in diesem Leben. Keine spätere Zeit hat mich so duftig umhaucht, wie jene, ganz an die Unschuld der entfesselten Leidenschaft hingegebene. Mich riß nicht die Gemeinheit an den wollüstigen Leib der Schönheit, [229] sondern eine Anschauung der Welt, die irrig sein mochte, aber mir doch erhaben schien. Erst später, als sich eine Art Besonnenheit, wie der Spion umherschleichender Satanstücke in den Rausch mischte, ergriff mich ein Schwindel der Feigheit. Ich sah mich umgeben von ähnlich Handelnden, aber anders Denkenden. Da schauderte ich, zog mich zurück, ward schwermüthig. Der Leichtsinn meiner Genossen suchte mich auf, es kam zu Erklärungen. Meine Fragen wurden mit bornirter Gutmüthigkeit beantwortet oder mit ekelhaft gemeiner Frivolität. Diese Rotte schnobberte am sinnlichen Leben umher, wie ein Hund, der die Küche wittert am Duft der Speisen. Das war keine Poesie, kein süßes zauderndes Entschleiern der Geheimnisse der Menschennatur – das war nur gemeines Schwelgen in grober, entarteter Sinnenlust. –

›Man muß sich's mitnehmen, weil es Gelegenheit gibt, später tritt die Ernsthaftigkeit und die Strenge der Lebensregeln ein.‹

So sprachen Hunderte der Jünger des Herrn, unbewußt den Fluch ausstoßend über sich selbst und ihre Genossenschaft. Es war die nackte Wahrheit, nur in grasser Wirklichkeit hingestellt wie ein Skelett! –

Betäubung, Ekel, Widerwillen am Leben und Forschen hielten mich lange in tiefster Einsamkeit. [230] Mardochai rüttelte mich endlich aus diesem dumpfen Hinbrüten auf.

›Geht Ihre Poesie schon zu Ende?‹ redete er mich mit derselben zurückgehaltenen, leidenschaftlichen Wärme an, die ihm eigen war. ›Sie fangen an zu karthäusern, ein unpassendes Spiel für einen Protestanten.‹

Ich erzählte ihm meine Erfahrungen und legte offen und blos den mit Asche bedeckten Heerd meiner Gedanken. Das ist ein Gemälde unserer christlichen Welt, schloß ich, ›an solch wurmgefräßiges Holz lehnt sich die Kirche.‹

›Diese Entdeckung ist nicht neu,‹ erwiederte Mardochai. ›Betrachten Sie die Sache jedoch ruhig, als Christ, mit Liebe, Duldung und unparteilichem Auge! Gehen Sie Lehre und Leben durch und ziehen Sie Parallelen zwischen beiden. So lange Sie trennen, wird keine Einheit geboren. Das Leben im Genuß sinnlicher Lust, ist's etwas anderes, als die in heiliger Umzäunung verrückt gewordene Liebe? Mögen Sie's dem Menschen verdenken, daß er an der Natur sich erheben will, wenn ihn zuvor die Unnatur herabgewürdigt hat durch Demuth zur Carikatur des Hundes? Lieber Freund, ich finde, Sie sind ungerecht! Harte Gesetze verlangen raffinirte Witze, um sie unschädlich zu machen. Besäße ihre Kirche keine [231] Wissenschaft der Moral, so hätten Sie keine Unmoral zu bekämpfen; ohne Ascese gäb' es keinen outrirten Wollustgenuß. – Wo wollen Sie hin mit Ihrem Seufzer über Sündhaftigkeit? Es ist keine Sünde, was sich der gesunden Vernunft als nothwendige Folge einer thörichten Vorschrift zeigt. Auch der begabte Mensch thut aus Instinkt, was aus Freiheit zu thun ihm seine papiernen Herrscher verbieten. Es ist blos das jus talionis, das er an sich selbst, dem ursprünglichen Frevler, vollzieht. Daß Untergang des Gestraften oft eng damit verknüpft ist, gehört unter die vielen tragischen Witze, die der Schalksnarr Gottes oft auf Kosten seiner eigenen Ehrlichkeit an dem Rande der Weltgeschichte reißt. Auch Gott ist humoristisch, wenn er verdrießlich wird! –‹

Mit diesem vernichtenden Troste verließ mich Mardochai. Ich begann zu feiern in der Poesie des Liebesgenusses und suchte mein gefoltertes Herz im Forschen nach Wahrheit zu erfrischen. Das Leben der Vergangenheit und Gegenwart brachte ich unter die Lupe meines vernichtenden Gedankens. Beide nahmen gleiche Gestalt an, die Geschichte war und blieb Kokette von Anfang bis zu Ende, das christliche Element schmückte sie nur aus zu haltbarer Liebenswürdigkeit. Mardochai's Worte fanden Bestätigung in allen Nuancen – ich war beruhigt; denn geschieden auf [232] immer ward von Stund an in mir Mensch und Priester.

Die Liebe lag, wie eine Jungfrauenleiche mit gebrochenen schönen Augen auf dem blutrothen Sarge meines Herzens. Ueber sie gebeugt streute die Unschuld die letzten Sonnenfunken ihrer Herrlichkeit, dann sank sie zusammen, ein farbloser Schleier. Sie ward zum Grabtuch für Liebe und Herz. Eins verging und verweste mit dem andern.

Von jener Zeit an datirt sich die Zeit meines ungetrübten Glücks. Leidenschaftlich bewegt für alle Interessen der fortschreitenden Menschheit, war ich theilnahmlos als Lehrer derselben. Ich konnte nicht mit Ueberzeugung Christ sein, weil ich ohne Ueberzeugung Kirchendiener war. Das Menschenthum stand ausgeschlossen von beiden, wie ein betender Zöllner an der Schwelle des Tempels. Ein dumpfer, schrillender Ton fuhr wie Memnonsklingen durch die gewitterschwüle Luft meiner Gedanken, und schlug die Rosenflügel eines neuen Morgens auf in meinem Herzen. ›Heuchele,‹ sprach die Stimme des Gottes der Welt in mir, ›heuchele der Moralität zu Liebe und erringe auf protestantisch-jesuitischem Wege der Zukunft und ihren Kindern, was Offenherzigkeit dem bornirtem Umherblinzeln der Gegenwart [233] nicht anbieten darf. Schicke dich in die Zeit, sei klug und in der Klugheit glücklich!‹

Es fehlte mir nicht an Gelegenheit, die Trefflichkeit dieses Grundsatzes praktisch zu erproben. Die Meisten von denen, welche sich der Theologie ergaben, waren geistesarme, beschränkte Menschen, denen eine dereinstige Anstellung und leiblich solides Auskommen das höchste Ziel aller Wünsche blieb. – Glückliche Einfalt, Göttin der Dummheit, warum verehrst du nicht Jedermann bei Zeiten eine warm wattirte Schlafmütze, dieses Ruhekissen der Gedanken, unter deren Knistern wohlthätiger Schlaf auf die armen Schlucker herabfallt? – Die Wenigen, deren gleiche Zweifel die Seele zerrissen, wußten nur auf ähnlichem Wege mit mir Befriedigung zu finden. –

Immer damit beschäftigt, ein Mittel ausfindig zu machen, das geeignet sein könnte, die Welt aus jener mißlichen Lage zu befreien, in die sie gerückt worden ist durch verstellte Frömmigkeit und unbegriffenen Bekehrungseifer, glaubte ich es gefunden zu haben in dem stillen Untergraben der Gläubigkeit. Man darf nur gleichgiltig, theilnahmlos auftreten, um Kälte zu erzeugen. Das tödtet, das mattet wenigstens ab, und wo Schlaffheit eintritt, ist der umgestaltenden Kraft bedeutend vorgearbeitet.

Mit dieser Ueberzeugung ward und blieb ich [234] Theolog. Mein Leben unterwarf ich keiner Aenderung. Ich setzte es jetzt aus Verachtung der zukünftigen Abgeschlossenheit fort, wie ich es früher begonnen in begeisterter Liebe. Seltsam nur und bitter ironisch war mir der Gedanke, daß ich gerade im Gegensatze von dem, was Eduard als Heiligendes und Vollendendes anerkennen zu müssen glaubte, meine Heiligung und Vollendung ohne langes Suchen gefunden hatte. Ich sehe mit Verlangen dem Ablaufe des fünfzehnjährigen Cyclus entgegen, um Gewißheit darüber zu erlangen, wer von uns beiden der Glücklichere geworden sein wird.« –


Hier breche ich abermals ab, Du wirst ohnehin genug zu denken finden an dem Mitgetheilten. Der Arme, er ahnt noch nicht, daß ein unseliges Geschick ihn selbst triumphiren ließ über den frommen Wahn des Andern. Eduard ist jener tolle Mönch Bonifacius, den ich aus dem Kloster gerettet habe, den die rasend gewordene Sinnlichkeit, zum Mörder seines Priors gemacht, in dem ich seinen Verführer zu erkennen glaube.

Mardochai aber, Mardochai, Du bist ein entsetzlicher Mensch! Denn glaube mir, Raimund, daß nur Rache an dem Christentum diesen stolzen Geist einen Glauben erfinden ließ, der bei [235] einzelnen Wahrheiten ein blendendes Gewebe verführerischer Dialektik ist! Ich kann nicht glauben, daß Gleichmuth, dieser Mensch der Besonnenheit, jetzt den Betrug nicht merken sollte. Mardochai hat sich in der That Shylok zum Muster genommen und sein Pfund gerissen aus der Brust des Christenthums als Zinsen der Rache. Er hat einen seiner edelsten Söhne an den Rand des Verderbens gelockt und als Aschenhaufen mit kümmerlicher Flamme wie ein Irrlicht daran herumgaukeln lassen, um ewig zu zittern vor der Angst des Todes! Es ist eine große, poetische Rache des Judenthums, aber dennoch entsetzlich! Und nun ist dieser Mardochai ein Handelsmann geworden! Wie liegt hier Ironie neben Ironie; wie springt ein verzweifelter Humor mit hellem Gelächter durch die Lebensgeschichte zweier Religionen in ihren Repräsentanten!

Morgen oder übermorgen verlasse ich diese Stadt der Dumpfheit auf einige Tage. Unterwegs will ich Bardeloh das Manuscript mittheilen, er soll mir enträthseln, was noch im Dunkeln liegt. Das Ende dieser Verkettungen, alle geboren aus der Unnatur europäischen, religiösen, socialen und politischen Lebens, kann kein friedliches sein. Ich beklage mich oft selbst, daß ich ein Kind heiße dieser Zeit und dieses Erdtheils! – Aber wohin fliehen, um dem Gift misverstandener [236] Civilisation, verkannter Glaubenslehren und boshaft verdrehter Menschenrechte zu entgehen? Kein Land ist so rein und heilig, daß die Gemeinheit sich nicht anranken könnte mit dem kletternden Finger ihrer reizenden Frivolität. Wie die Einfachheit das Bezaubernde der Tugend, so ist die Grazie das Verführerische des Lasters. Unschuld besticht durch Natürlichkeit, Sünde und Verderben durch den Glanz einer erheuchelten Natur, der Koketterie! Dieser Verführerin entgeht kein Land und kein Volk, nur der sittliche Gedanke, dieser Augenstern der wahren Gottheit, mag sie verscheuchen, so lange er nicht ganz verdunkelt wird von der Trunkenheit des Augenblicks. –

Da erhalte ich einen Brief – er ist von Auguste! – Alles Elend wird mir entrückt, in weite, weite Ferne. Wie ein Wüstenbild nur steht es drohend am Horizont der umwälzenden Zeit, und wieder als leitender Magnet, zitternd bewegt und doch friedlich still, glänzt die Liebe mir entgegen und hüllt mit tausend süßen Träumen mich ein in das beseligende Sterbekissen aller Welt! – Ja, es ist und bleibt wahr – die Geliebte ist mein Erretter! –

7. An Ferdinand
[237] 7.
An Ferdinand.

Köln, den 23. August.


Sind die Weiber doch wunderliche Geschöpfe! Wenn sich alle Gefühle in ihnen nach Hingebung an den Geliebten sehnen, springt die Laune, dieser unablässige Begleiter aller Weiblichkeit, herbei und dictirt Bedingungen, Vorschriften, Verhaltungsregeln, als gälte es die Erhaltung eines künstlich regierten Staates. Glaube aber Niemand, daß in solchem Thun Enthaltsamkeit liege; es ist nur Steigerung des Reizes, Vorgenuß der heiligsten Lust.

Die Weiber sind die Götter der Erde, die lebendig gewordenen Gesetze jener schönen Religion, die allein unangefochten bleiben wird für immer. Unsere Religion nennt sich die Religion der Liebe. Seltsam! »Die Religion der Kälte« würde zuweilen bezeichnender sein. Liebe ist nicht denkbar ohne Hingebung, und wo diese möglich sein soll, muß Gluth, Begeisterung und Auflösung in heilige Lohe als erstes und letztes Gesetz [238] anerkannt werden. Gibt es eine Religion, die uns dies gewährt, die sich die Schönheit der Form zum Muster genommen für innere und äußere Ausbildung? Mir scheint, dem Gesetz der Liebe fehle zuweilen das Ueberzeugende. Die Sucht, recht ätherisch und erhaben zu werden, hat die Flachheit geboren; es ist Alles kahl, glatt, sogar solid langweilig geworden! Nur die pulsirende Wärme des Fleisches kann Leben und Seele diesem zu geistigen, idealistisch-todten Wunderbau wieder einhauchen. – Aber höre, was mir Auguste schreibt, das seltsame Mädchen, voll unschuldiger Koketterie, ein Weib in jedem Gedanken!

Auguste an Sigismund.

»Wir werden uns nicht wiedersehen, trauter Freund, bevor Du nicht Buße gethan hast. Du sollst zwar immer wissen wo ich bin, meine Thür aber wird für Dich verschlossen sein. Bist Du böse, mein Geliebter? Ich küsse das Wort, um Dich zu versöhnen. Aber was denkst Du von mir, daß es Dir in den Sinn kommen konnte, unter heidnischem Jubel und Wahn so mir nichts Dir nichts meinen vollen Besitz erstürmen zu wollen? Jedes Mädchen ist ein verschleiertes Bild zu Sais. Kein Ungeweihter darf mit roher Gewalt den Schleier lüften, er sinkt sonst ohnmächtig zu Boden und seine Ruhe ist dahin für immer. –

[239] Es ist unglaublich, Sigismund, was ich mir Alles einbilde. Was glaubst, was denkst, was räthst Du wol? – Ich will Dir helfen. Da halte ich mich zum Beispiel für recht hübsch und stütze mich dabei auf Dein eignes Urtheil; auch klug bin ich zuweilen, schlau immer und boshaft nicht selten. Am meisten übe ich diese letzte süße Tugend meines Geschlechts Dir gegenüber, trauter Freund! Ich muß necken, stacheln und reizen können, was ich lieben soll. Ihr Männer ärgert Euch freilich darüber, und das ist mir gerade recht. Dir, Geliebter, mache ich gewiß das unbedeutenste, ungraziöseste Compliment in Gesellschaft, weil mich's ergötzt, ein eifersüchtiges Grübeln über Deine Mienen hinwegklettern zu sehen. Ein Fegefeuer vor dem Eintritt in den ganzen Himmel unserer Gunst ist Euch harten Seelen sehr zuträglich. Eure Küsse sind dann wärmer, dauernder, beseligender. Es sind Sterbekissen unserer Seelen mit Goldfunken umsäumt. Auch die meine hofft sich darauf einzuwiegen in den wonnedurchflüsterten Traum des reinsten, glückseligsten Lebens! –

Nun, wirfst Du mir jetzt noch Zurückhaltung vor, Du böser Verführer? – Sieh, wenn ich des vorgestrigen Abends gedenke, so schlägt die Gluth meines brennenden Herzens hell leuchtend an den bleichen Himmel meiner Stirn, und die [240] Jungfräulichkeit meiner Empfindungen versteckt sich in die tiefsten Falten des Mieders, wie ein Kind, das sich vor der Strafe fürchtet. Es war sehr, sehr bös von Dir, Sigismund, daß Du Deinen Mund so misbrauchen konntest und bald eine neue Firmelung für Dich nöthig gemacht hättest! – Aber ich kann Dir nicht lange zürnen, schmollen ist langweilig und mein ehrenwerther Cerberus, Klapperbein, hat einen so richtigen Blick, daß er sogleich weiß, ob ich auf der rechten oder linken Brust Schmerzen empfinde.«

»Willst Du mich besuchen, Sigismund? – Bitte, komm, aber nur bis an die Thürschwelle. Wart', ich will nachsehen im Kalender, wie lange Deine Buße dauern soll. Nicht barfuß im Schnee und im Hemd sollst Du Buße thun, sondern recht anständig verhüllt, ganz sittsam und in der verzehrenden Gluth der Erwartung. – Sehr gut – sechs Tage dauere diese Qual, mein geliebtes Herz! Dann will ich den Riegel, wie von Geisterhand gelüftet, niederklirren lassen und farbiger Dämmerschein, wogend auf dem Blüthenaroma meiner Lieblingsgewächse, soll Dich umschmeicheln. Dann suche, suche und irre umher in der durchdufteten Halle! Du stehst am Hochaltar der Liebe, die Natur schwenkt in ihren Blumenkelchen tausend Weihrauchfässer, und die glimmernden Kerzen der Feuerfliegen leuchten mit sanftem Glanz zu [241] dem heiligen Lebensfest. – Der Hohepriester aber legt das Gewand der Hohheit an. In stiller Andacht, wonnebeglückt, sehnsuchtumrauscht, wirst er das schwellende Gewand der Menschheit um sich. Es verschwindet die hemmende Sitte und nur die Natur waltet frei. – Es ist Alles bereit zum erhebendsten Liebesdienst, und es liegt nur an Dir, mein Sigismund, wenn Du nicht hinsinkst in die Andacht des Genusses, betäubt, ohnmachtsüß, wonneschwelgend.«

»Hinweg mit aller Heuchelei zwischen Herzen, die ihren Pulsschlag schon gefühlt in unmittelbarster Berührung! Prüderie ist der Tod aller Liebe – Willst Du mein Glaubensbekenntniß hören? Es ist einfach, so einfach wie ich, der Abdruck meiner innersten Gedanken. Nicht wahr, Sigismund, Du bist, was man so Protestant nennt? Versteh' ich das Wort recht, so bin ich eine sehr starke Protestantin, obwol ich mich für eine gute und fromme Tochter der alleinseligmachenden Kirche halte. Ich protestire eifrig gegen alle zierlichen Verührungen und liebe die Freigeisterei, die Keckheit in der Liebe. Freilich ein sonderbares Gemisch von Rechtgläubigkeit und Frivolität, die mir aber ganz wohlgefällt, weil sie reizt.«

»Liebe, mein glühender Freund, heißt das erste und letzte Wort meines Katechismus. Das ist ein vieldeutiger, schwer zu interpretirender [242] Ausdruck, und dennoch bin ich so leicht damit fertig, wie mit einem Kusse Kann dieser nicht die Stelle eines langen Commentars vertreten? – Ach, ist dies ein langweiliges Leben jetzt! Und nun vollends, seit ihr Männer so trübsinnig zerfallen seid mit dem Dasein und an nichts mehr eine heitere Freude findet! Was sucht ihr denn, Thörichte? Freiheit, Ausgleichung verworrener Zustände, politische Reformen, eine Umbildung des socialen Lebens. Ich glaube, so ungefähr lauten die Titel zu den Klageliedern, die Ihr nun schon seit Jahren in verschiedenen Tonarten variirt. Sigismund, ich sage Dir und Allen, die Dir gleichen, daß ihr Thoren seid, rechte blöde, mondsüchtige Thoren! – Liebt, und Ihr seid frei, aber liebt menschlich-natürlich, nicht weltlich-frivol. – – Ach Du lieber Himmel, da hab' ich so eine Art Lästerung geschrieben, ich kann sie aber unmöglich wiederrufen, wenn ich ehrlich bleiben soll. Und nicht wahr, Ehrlichkeit gehört auch zu den Tugenden der Frauen?«

»Hast Du mich verstanden, Sigismund? Ich bin ziemlich unerfahren, schlicht und wenig bekannt mit der Qual des männlichen Lebens, aber eben deshalb glaub' ich ein Recht zu haben, schuldlos und unparteiisch meinen Rath hinwerfen zu dürfen in dieses freudenlose Schwanken und Irren. Versucht zu lieben, ihr Unglücklichen, liebt mit [243] aller Genialität des Geistes, der in Euch bewegter ist, als in früheren Geschlechtern, und Ihr werdet gesunden!

Wir Weiber sind seltsam, wir fühlen auch das Unglück der Zeit, aber uns drückt es nicht nieder, wie den Mann. Das Weib hat Kraft, Alles zu ertragen, so lange sie lieben kann; nur mit der Fähigkeit zu lieben endigt ihr Dasein. Frevelt nicht, ihr europamüden Männer, an der Allmacht der Liebe, sonst vertilgt Ihr Euch selbst und Euren Thatendrang. Frei werdet Ihr sein, sobald Ihr es wagt, frei zu lieben.«

»Die Liebe ist die Religion der Welt. Dies sollst Du lernen, Sigismund, nach abgelaufener Bußezeit. Warum schlingt sich diese Weltreligion so fest an einen gemachten Himmel, jenen unbestimmten Begriff alles Ungewiß-Schönen, Traumhaft-Erhabenen? Warum ist die Liebe so feig gewesen, sich binden zu lassen mit dürren Binsen versengter Gesinnung? Warum hat sie sich erniedrigt und ist hingesunken unter das kalte Douchebad verständiger, gut gemeinter Gesetze? Das Leben bewegt und gestaltet sich am schönsten, wenn ihm wohlwollend alle Wege der Entwickelung geöffnet werden, und jede Schranke fällt, die nicht begründet ist in der Natur. Ist Liebe etwas anders als die Umarmung zweier Flammen, die sich auflösen in eine? Bedarf ich [244] Ermahnung, wo Alles glüht? oder Mäßigung, wo sie allein sittenlos, fluchwürdig und Lästerung des Lebens wäre? Sieh, mein Geliebter, das ist es, was ich der Männerwelt rathe zu bedenken. Genialität in der Liebe gebiert Genialität im Leben. Aus der Gewohnheit, und hätte sie sechs Weihen empfangen, wird kein Sprößling erwachsen, von Sonnenduft und Aetherglanz umwallt. Nur die Freigeisterei der Liebe erzeugt den Heroen der Freiheit!«

»Ach, was ich muthig bin und doch so traurig! Sigismund, mir bangt, wir werden uns nicht gar lange besitzen. Dringe nicht in mich, verlange nicht zu schnell das Band der Ehe um meine auf freien Flammen sich wiegende Seele gelegt! Nicht etwa, daß ich etwas gegen die Ehe habe, ich achte und ehre sie und wünsche dereinst ihr Glück zu genießen, aber die Erinnerung an die freie Vergangenheit würde meine Liebe schwächen und die Begeisterung herabsinken zu gewöhnlicher Liebelei. Und wäre dies nicht entsetzlich, entwürdigend? – Sei nur nicht böse über meine Zweifel. Es kommt mir nun einmal so vor. Irre ich, so belehre mich eines Besseren!«

Die Menschen haben wunderliche Begriffe von Wahrheit, Tugend, Religion und Sittlichkeit. Ich fühle, wie ich blutdürstig werden könnte als Mann, wenn mir das Gesetz die Heiligkeit des [245] Lebens vorschreiben oder zum Verbrechen machen wollte, sobald ich unbegrenzt forderte, wozu die Vernunft ein Recht hat! Gottlob, daß ich ein Weib bin und nicht zurechnungsfähig! Stimme nicht für die Emancipation der Frauen, Sigismund, ich gebe Dir statt hundert Küssen hundert Ohrfeigen, die Zinsen nicht mitgerechnet! Ich mag nicht emancipirt sein zur Gebundenheit männlicher Qual! Ich will kindisch bleiben und eigenwillig, um lieben zu können, frei, begeistert, ohne Maß, genial, wie der Augenblick es heischt, der mein Gott und mein Heiland ist! Sigismund, tausend Küsse Deinem Sieg begehrenden Munde! Diese Rosenblätter hier nimm statt verkörperter Liebeshauche. Ich habe sie alle geweiht im Duft meiner heißesten Gedanken. Wenn Du ein liebendes Auge besitzest, findest Du in jedem ein getreues Conterfei des Lippenpaares, dem Du vertraut hast, daß es keinen Gott gibt im Himmel und auf Erden, ohne die Liebe. Es war ein süßes Geständniß, es hatte meinen Beifall. Nicht allein »Gott ist die Liebe,« sollte es heißen, sondern auch: »die Liebe ist Gott!« –


Deine Auguste.


Nein, Raimund, noch bin ich nicht unglücklich. Wer ein Wesen an seiner Seite fühlt, wie dieses Mädchen, der hat noch zu hoffen Großes, Schönes, [246] Ewiges in der Welt. Auguste hat recht, sie löst spielend, wie die Unschuld immer, die schwierigsten Probleme weltlicher Gestaltung. So lange die Weiblichkeit rein bleibt und frei, steht der Menschheit mit ihren tausend Schmerzen noch kein Untergang bevor. Wäre uns nur vergönnt, das auch eben so leicht zur Allgemeinheit der Anschauung zu erheben, was die Genialität des liebenden Weibes in ihrer göttlichen Unmittelbarkeit erkennt. Aber das ist es ja eben! Wir verkümmern in der Einsamkeit unseres Wunsches, dem kein Hebel gegeben zur Thatgestaltung. Es fehlt an einer Basis, die Frucht jahrhundertlangen Denkens groß zu wiegen zur Jugend. Die Kinder der Thaten sind vorhanden, aber sie ersticken am Zulp, den ihnen das Zeitalter der Priesterherrschaft, mit saurem Brei gefüllt, in den Mund gedrückt hat. Die Zeit kriegte die Schule davon und stirbt nun an Krämpfen. –

Während ich dies schreibe, fühle ich im Stillen, daß nur die Schrift der Weg ist, über dem die Verdorbenheit und Unnatürlichkeit der Gegenwart das neu zu gebärende Leben hinüberführen muß in den Paradiesesgarten der neuen Unschuld. Sperrt die Gedanken in eherne Laternen mit geschliffenen Gläsern, damit sie leuchten, wie Gasflammen in einem Mikroskop, und sendet sie hinaus auf den Markt der Nationen. Es wird [247] nicht an Buben fehlen, die mit den Kieseln der Gemeinheit nach den hellen Lichtern werfen und die Laternen zertrümmern. Aber kümmert Euch nicht um die Brut, das Licht ist eben so ewig, als die Wahrheit. Verdämmern könnt Ihr es, aber nie ganz verlöschen.


Am 14. August.


Mir ist ein großes Unglück begegnet. Die Verheißung hoher Seligkeit in Auguste's Brief versetzte mich in eine der Trunkenheit verwandte Stimmung. Wer mag auch ruhig und gemessen bleiben, wenn tausend Freuden unser Herz beengen? Ich vergaß Alles um mich her, nur der warme Himmel, der sich herabstürzen zu wollen schien, lockte mich, denn er war gleich mir, trunken von Liebesbegeisterung. Ich eilte hinaus, unbekümmert um Offenes und Geheimes. Gleichmuth's Manuscript, dieses vieldeutige Räthsel einer verkümmerten Societät, lag auf dem Tisch; ich vergaß es einzuschließen – es ist entwendet, verschwunden! – Zwar will es Niemand gesehen, Keiner mein Zimmer betreten haben, um die kostbaren Blätter zu erbeuten, aber ich traue Keinem, am wenigsten meinem Gastfreund Bardeloh. Sein Läugnen macht ihn nicht ehrlich in meinen [248] Augen. Der Wahrheit zu Liebe befiehlt uns die gesunde, natürliche Vernunft, hundert Lügen zu ersinnen, und wir freuen uns nur über unser eigenes Poetentalent. – Auch kann ich mich unmöglich grämen über den Verlust; denn ich besitze ja ein Herz, das Herz Auguste's, diesen sprudelnden Brunnen unerschöpflicher Liebe! Was geht mich im Genuß dieser Gewißheit die Welt noch an mit ihren großen und kleinen Erbärmlichkeiten? Ach, ich fühle es, die Liebe macht egoistisch, rigoristisch, aristokratisch, Alles, Alles, nur nicht kosmopolitisch! Ich werde ganz irre am Laufe der Welt, an Demokratie und Freiheit. Ich weiß nicht mehr, was ich halten soll von mir und dem Streben derer, denen ich so gern meinen brüderlichen Kuß eindrücken möchte in ihr tiefstes Herz! Ach, Auguste, ich werde Dich noch hassen, weil Deine Liebe mich zur Apostasie verführt! –

Eben komm' ich zurück von meiner zweiten Bußfahrt, gestern hielt ich die erste, die süßeste! Glaubst Du, Raimund, daß mich Hunderttausende beneiden würden, könnten sie nur im geringsten ahnen, mit welchen tönenden Fittigen die Stunden um mich fliegen, die Nachtigallen der Zeit, während eine ewige Dämmerung um Himmel und Erde ihre heiligen Grotten baut? Erst im Zaudern der Geliebten lernen wir das Glück kennen. Die Erwartung ist der schöpferische Gott, der [249] Genius aller Begeisterung, das Erlangen ist nur süße Ermattung, keine reine, ewige Freude!

Aber Auguste ist consequent, reizend consequent, eine Philosophien nach allen Regeln der Logik, die im Katheder ihres Herzens der wunderliche kleine Professor, Eigensinn und Laune, mit meisterhafter Virtuosität vorträgt. Ephraim Klapperbein begegnete mir auf der Flur, sein Lächeln weissagte nichts Gutes. Er flocht einen Korb und hielt ihn mir, ziemlich fertig, entgegen, ein lustiges Lied vor sich hinbrummend. Eine halbgeleerte Flasche Moselwein stand auf einem umgestürzten Fasse, beinerne Würfel lagen daneben, Karten, Spielmarken, Bohrer und Pfriemen bunt unter einander. Mir ward gar seltsam- unheimlich, als ich den halbfertigen Korb erblickte. Gebe der Himmel und die Liebe, seufzte ich in der stillen Kirche meines Herzens, daß diese Symbole keine Bedeutung für mich haben mögen! Ephraim mochte meine Gedanken errathen, er biß die Lippen und lud mich ein, mit ihm auf die Gesundheit des Fräulein Auguste zu trinken.

»Wollen Sie eins riskiren?« fragte Ephraim, griff nach einem Stückchen Weißbrod und drehte die Krumen zu Kügelchen. Dazwischen flocht er an seinem Korbe, trank Wein und brummte sein joviales Lied.

»Was soll ich denn riskiren?«

[250] »Nur 'nen Wurf. Mögen sehen, ob Sie Kreuz kriegen oder keins.«

»Gott behüte mich; es ist ohnehin Kreuz genug in der Welt! Wir schleppen seit Menschengedenken entsetzlich viel Kreuz mit uns herum, und werden weder froh noch satt davon.«

»Schaun's!« rief Ephraim, »ich hab' doch 'n Kreuz geworfen und das freut mich, der Korb wird allerliebst werden!«

»Hole der Teufel Dich und Deinen Korb!« sprach ich im Stillen und griff nach den Brodkügelchen. Denn jetzt erst fiel mir's ein, daß es mit dem Kreuzwerfen eine ganz eigene Bewandniß habe. Am Rhein werfen alle Mädchen ihre Wünsche in Kreuze, und geht's nicht, rücken sie die verzogene Figur sehr naiv in die rechte Form. Das ist allerliebst von den rheinischen Mädchen. Wer doch so harmlos sein und auch Kreuze werfen könnte, um aus den gelungenen, graden oder schiefen die Erfüllung seiner heißesten Wünsche zu lesen! – Nun ich warf lauter schiefe Kreuze von der curiosesten Art; es wollte keins nach Wunsche gelingen, und doch fehlte es wahrhaftig nicht an Wünschen. Von Oben herab hörte ich Auguste's Silberstimme singen:


»Kommt er nicht, so läßt er's bleiben

Gräm' ich mich doch nicht zu todt,

Andern auch gefällt mein Füßchen,

Meiner Wangen duftig Roth.«


[251] »Es ist gut, daß mein Korb bald fertig ist,« sagte Ephraim. »Ich will mich dazu halten, damit Sie nicht warten dürfen. Denn Sie kriegen im Leben nicht, was Sie wünschen.«

Ich stieß das Faß um sammt Würfeln, Karten, Wein und Gläsern und stürzte die Treppe hinauf. Ephraim lachte, jeder Andere würde geflucht haben. Die Rheinländer sind aber gebildete Leute, sie trinken keinen Schnaps, und das schützt sie vor brutaler Gemeinheit. Grob sind sie dessenungeachtet, aber es ist eine aromatische Grobheit. Sie duftet immer nach einer Art Grazie.

Vor der Thür angekommen, klopfte ich. Niemand rief, »herein!« auch die muntre Sangesweise war verklungen. Ich rief Auguste's Namen. »Sigismund?« flötete die Stimme, deren Echo nie verklingt in meinem Herzen, des Nachts die wunderlichsten Variationen anstimmt und klimpert auf dem Harmonikord meiner zitternden Seele, »Sigismund, willst Du Buße thun?«

»Nein,« rief ich, »küssen will ich Dich und nicht büßen!« Ich rüttelte an der Thür, sie war verschlossen. Meine lose Peinigerin lachte und sang wieder:


»Kommt er nicht, so läßt er's bleiben.«


Beinahe hatte ich angefangen zu schimpfen, doch hielt ich es für angemessener, mich auf's [252] Bitten zu legen. Ich drückte meine fieberglühende Stirn an den Messingbeschlag der Thür und bat in den beglückendsten Schmeichelworten um Erlaß der Buße. Nur den Hauch ihres Mundes sollte sie mich fühlen, ihre Lippe sehen lassen, den Blick ihres Auges untertauchen in den sich trübenden Schimmer des meinigen!

»Das ist billig,« kicherte die Muthwillige, der Schlüssel klirrte im Schloß, mir ward ein Blick vergönnt in das blumendurchduftete Heiligthum. Niederknieend verdammte ich hundertmal alle Schlosser in den Abgrund der Hölle, der Lichtschimmer erlosch, Auguste legte den Mund an die Oeffnung; nur unser Athem berührte sich warm und lind. »So, nun ist's genug,« sagte Auguste und ich sah, wie sie im durchleuchtenden Kleide von Rosaseidengaze durch das Zimmer hüpfte, und sich in die Kissen des Sopha warf in der reizendsten, kindlich unbefangensten Stellung. Ein liebendes Mädchen ist grausam, je liebgeglühender desto grausamer! Auguste verschloß mir nicht die Einsicht in ihr Zimmer, sie marterte mich mit dem hingebendsten Lächeln, aber sie ließ mich draußen vor der Thür warten, seufzen, bitten! »Buße muß sein!« lallte sie liebreich vergebend, »nach sechs Tagen erhöre ich mich selbst.«

Sie löste die blauseidenen Schuhe, die mild und warm, wie ein Stück Frühlingshimmel ihren [253] schönen Fuß umspannten. Sinnend grub sich die weiße Hand in ihr dunkles Haar. Mit dem nackten Fuß zeichnete sie meinen Namen auf den buntfarbigen Teppich, legte sich dann zurück in das Sopha, und ließ die warmen Lüfte mit den Blumenstaubfächern sie einwiegen in sanften Schlaf. Ein Luftzug spielte in wunderlichem Necken mit der leichten Kleidung. Eine unschuldige Venus lag sie in der Fülle jugendlicher Schönheit wie unter Rosen begraben. Dann tauchte ein zweiter Hauch die schlummernde Anadyomene wieder in den Rosenschaum der schmeichelnden Gewänder.

Glücklich, sie doch gesehen zu haben, schlich ich die Treppe hinunter. Ephraim überreichte mir den fertigen Korb, den ich zum Dank unter meinen Füßen zerbrach und die Stücke dem alten Manne recht derb auf sein graues Haar drückte. Ephraim versteht Scherz; er lachte und hieß mich wiederkommen, denn über Nacht sei der Schade schon wieder herzustellen. Zwar ist mir der schadenfrohe Wächter heut nicht begegnet, aber der Verlauf meiner Bußfahrt blieb ziemlich derselbe, nur ward ich nicht durch eine gleich reizende Ein- und Aussicht wie gestern entzückt. Auguste ist unerbittlich; sie hält erstaunlich viel auf ihre eigenen Gesetze. Dabei unterläßt sie nicht, für Andere zu denken. Sie ist zärtlich besorgt für das Wohl ihrer Freunde [254] und Freundinnen, und erinnerte mich an eine Pflicht, deren Vernachlässigung ich nur dem Drange meiner Liebe Schuld geben muß. Auguste trug mir auf, Lucie zu besuchen, von deren Zustande ich seit dem verhängnißvollen Abende nichts mehr gehört hatte.

Eine Viertelstunde später ließ ich mich anmelden. Ich ward vorgelassen und traf außer Lucien ihren Geliebten Oskar, den Pastor Gleichmut! und jenen Pietisten, dessen ich schon einmal Erwähnung gethan habe. Diese Gesellschaft fiel mir auf. Was suchte der Pietist bei Lucien, der Katholikin? Oskar erklärte mir mit wenig Worten den Zusammenhang. Der Pietist, ein reicher Kaufmann, Namens Steinhuder, ist Luciens Vormund, gleich bewandert im Wechselgeschschäft des Himmels wie der Erde, und ein Todfeind des reinen Protestantismus. Ich begreife recht wohl, wie der bigotte Katholicismus und der evangelische Pietismus sich umarmen können. Sie haben beide ein Ziel, wenn sie es auch nicht immer ahnen.

Lucie hatte sich längst wieder erholt. Sie war flatterhaft, von schalkhafter Laune, wie immer, und ich kann nur nicht begreifen, wie der verständige Oskar, ein junger Jurist, dieser heiteren, gesunden Sinnlichkeit genügen kann. Doch ist mir Oskar noch zu fremd, als daß ich ein bestimmtes Urtheil über ihn fällen könnte. In seinem [255] Auge glüht Leidenschaft, nur der Nebel der Vorsicht scheint blöd und gleichgiltig darüber hinzustreifen.

»Wie geht's denn meinem unberufenen Chapeau d'honneur?« fragte Lucie, indem sie mir den Arm reichte. »Ich möchte nicht zum zweiten Mal eine Extratour mit ihm tanzen, er ist zu feurig, zu wild, flammender als Ihr jungen Herren, die Ihr Euch schämen solltet!« – Sie gab mir mit dem warmen, feuchten Händchen einen Schlag auf die Wange. Ich küßte ihr die Hand.

»Das ist gut,« fuhr sie fort. »Aus Ihnen kann noch etwas werden; ich an Ihrer Stelle hätte mir jedoch die Lippe zum Ruhepunkt gewählt.«

Oskar stand am Fenster und warf heimliche Blicke auf uns. Die beiden christlichen Männer saßen am runden Tisch und disputirten eifrig über Sein und Nichtsein des Himmelreiches.

»Lieber Sigismund,« sprach Lucie, was halten Sie denn um der Liebe willen von dem Himmelreich? Seit drei langen Stunden brechen sich diese beiden vortrefflichen Menschen im Geiste die Hälse und zwar um die liebe Zukunft nach dem Tode! Ich muß zwar lachen, aber 's wird mir auf die Dauer doch gefährlich; und wenn nun gar der sehr ehrenwerthe Steinhuder Recht hat, so bin [256] ich in großer Versuchung, mich ganz gehorsamst für dies sein Himmelreich zu bedanken. Will der Mann nichts wissen von einem liebevollen Leben in seinem Himmel, nur gebetet, gesungen, gekopfhängert, und in einem fort biblische Geschichte soll darin gelesen werden.

Ich suchte sie dadurch zu beruhigen, daß ich ihr versicherte, eben so wenig in diesen Himmel der Frömmler zu kommen, als sie, deshalb würde Gott wol ein Einsehen haben und den Himmel in zwei Theile zerfallen lassen, um die allzustrengen Anhänger einer immerwährenden kalten Ernsthaftigkeit von den Verehrern einer freudigeren Art von Seligkeit zu scheiden. Denn anders wäre es, menschlich betrachtet, kaum möglich, einen fortdauernden Frieden aufrecht zu erhalten.

Lucie bekreuzte sich aus purer Gewohnheit, denn sie mußte lächeln über meine Interpretation des Himmelreichs. Scherzend hüpfte sie durch's Zimmer, küßte in ausgelassener Freude ihren Oskar, und er klärte ihm rund und nett, daß er ganz und gar nicht auf eine langweilige Liebe bei ihr rechnen sollte. »Sigismund gefällt mir,« sagte sie, »und wer mir gefällt, den lieb' ich. Wie lange, geht mich nichts an. Heut bin ich gut, wen ich morgen hassen kann. Wie mein Puls geht, schlägt meine Liebe. Der Puls ist der Stundenzeiger und Thermometer meiner Leidenschaft. [257] Ich habe große Lust, den Sigismund einmal von ganzem Leibe zu lieben.«

Oskar mochte wol wissen, daß Luciens Worte keine Thaten seien, denn er mußte nur lachen über die drollige Betheuerung. Das verdroß aber seine Verlobte. »Mein lieber, holder Junge,« sagte sie und klopfte mit ihrem heißen Finger die Lippe des jungen Mannes. (Pfui, wer wird so unanständig sein und Alles beißen und essen wollen, wie die Kinder!) Wenn ich nur Zeit hätte und nicht gar so aufgeregt wäre, so machte ich meine Worte wahr, blos um Recht zu haben. Ich will Recht haben, mein Bester! Nicht wahr, Du lieber, allerwunderlichster, verliebtester Oskar, ich habe immer Recht?

Es ist gefährlich, mit einem geliebten Mädchen rechten zu wollen. Die Liebe ist der parteiischste Richter und der schlechteste Advocat von der Welt. Wenn Auguste von mir verlangte, ich sollte Seiltänzer werden und mit verbundenem Auge auf einem Seile über den Rhein laufen, so würde ich sagen: Närrchen, das ist unmöglich, ich purzele hundertmal in den Strom; beharrte sie aber darauf und betheuerte, daß es ein Leichtes sei oder ich liebe sie nicht, so würde ich unter hundert Küssen bei ihren leuchtenden Augensternen schwören, daß sie Recht habe, und wir wären gegenseitig zufrieden und lachten uns zwei Frühlinge[258] mit allem Schmelz ihres klingenden Lebens in die lichtfunkelnden Augen hinein.

Gleichmuth's unerschütterliche Ruhe hatte das Himmelreich des Pietisten zum Wanken gebracht. Steinhuder stand auf und schlug mit der Faust auf die aufgeschlagene Bibel. »Das ist Ketzerei, Herr Pastor!« rief er aus, »gottverfluchte, in alle Ewigkeit vermaledeite Ketzerei! Was! Keine Engel sollte es geben?« Und doch steht's klar und deutlich geschrieben: »ich werde aussenden meine Engel. –«

»Nun denn,« fiel Gleichmuth ein, »wenn Sie durchaus ohne Engel kein Himmelreich haben wollen, so mögen sie Ihnen bleiben, nur muß ich Ihnen bemerklich machen, daß mit diesem Beweis auch zugleich die Nichtexistenz der Pietisten im Himmel klar dargethan ist.«

»Das möcht' ich wissen!« rief Steinhuder. »Bin ich nicht, und ist mein Sein nicht gewichtiger als das von tausend Andern?«

»Alle Achtung vor Ihrer Gewichtigkeit! In der Bibel, Ihrer einzigen Autorität, ist aber weder der Pietisten, noch Ihrer, Herr Steinhuder, jemals Erwähnung gethan worden, also –«

»Ha!« seufzte der Frömmler und sank in der Positur eines vollwichtigen Wollsackes auf seinen Sitz. »Engel gibt's doch und ich werde auch einer werden –«

[259] »Und sollen die Posaune blasen beim jüngsten Gericht,« fiel Lucie ernsthaft ein. »Sie haben ohnehin immer eine Anlage zu solchen Instrumenten gehabt, das wird sich dann vollends ausbilden zur wahren Virtuosität. Ach, wie freu' ich mich darauf, wenn mein lieber Vormund mit muntern Bausbacken seine himmlischen Fanfaren wird erschallen lassen!«

Die Frömmigkeit der recht eingefleischten Pietisten ist immer bis auf einen gewissen Grad dumm. Steinhuder war sehr vergnügt über den freundlichen Trost seiner Mündel, streichelte sie herzlich und wandte sich triumphirend gegen Gleichmuth, indem er ausrief: »der Sieg ist mein, Herr Pastor, denn was ein unschuldiges Kinderherz spricht, das ist Wahrheit und der ewigen Göttlichkeit Stimme! Abgemacht – es gibt Engel und ich werde die Posaune blasen!«

Gleichmuth hielt eine Antwort für überflüssig. Ich empfahl mich dem Frömmler, und führte Luciens Hand an meinen Mund. »Das ist ungezogen,« sprach sie, »wenn Sie wiederkommen, geben ich Ihnen zur Strafe den Backen zu küssen. Nicht wahr, Oskar, Du erlaubst es?«

»Buben und Unzüchtige!« rief Steinhuder dazwischen. »Habt Ihr vergessen, was da steht im Worte des Herrn?« »Die Unreinen lassen sich betasten die Brüste etc.« Küsse sind sündlich; [260] Liebe ist eine Schändlichkeit der Natur, eine bloße, dumme Affenwirthschaft, die sich der gefallene Mensch nebenbei angewöhnt hat.

»Sie sind sehr gütig,« sprach Oskar dazwischen.

»Ein reiner Mensch,« fuhr Steinhuder fort, der nun einmal wieder im Zuge war, »ein frommes Geschöpf liebt Niemand als Gott, den Heiland, und die heilige Jungfrau Maria. Ein Mensch nach dem Herzen Gottes küßt nur fein sittsam, zierlich und mit sanftem Erröthen sein rechtmäßiges Ehegemahl, mit andächtigem Aufblick zum Himmel und innigem Dankgebet zu Gott, dem Allmächtigen, für solch große Gnade!«

»Da thut er sehr recht dran,« brummte Oskar und zog Lucien an sich.

»Gehen wir?« fragte Gleichmuth. »Es ist schwer, ruhig zu bleiben, wenn man die Tollheit so sanftmüthig rasen sieht.«

Im Weggehen warf mir Lucie eine Menge Kußhändchen zu trotz dem hochrothglühenden Posaunenengelgesicht ihres Vormundes. –

Es war ein schöner, weicher Sommerabend. Die Lust wehte sanft und lind; weiße, leichte Wolken zogen über den Himmel, die Sonne sank glühend hinter dem Dome hinab und hüllte ihn in einen dunklen Purpurmantel. Wir gingen über die Rheinbrücke hinüber nach Deuz.

»Diese Menschen,« sagte Gleichmuth, »sind [261] wie das Ungeziefer. Sie buhlen mit ihrer eigenen Frömmigkeit und diese Art ist fruchtbar wie Froschlaich.«

Nach mancherlei Gesprächen fragte mich der Pastor nach seinem Manuscript; ich versprach es ihm nächstens wiederzugeben.

»Behalten Sie es an sich,« entgegnete der Geistliche, »ich glaube, dies Vermächtniß guten Händen übergeben zu haben, und sind Sie der Meinung, es könne durch Mittheilung meiner Lebensgeschichte der Menschheit ein wesentlicher Dienst geleistet werden, so soll es Ihnen unverwehrt sein, der Offentlichkeit davon zu übergeben, was Sie wollen. Nur Verschweigung meines Namens bedinge ich mir aus. Es ist der Sache, nicht meinetwegen.«

Ich war sehr erfreut durch dieses Vertrauen. An Bardeloh's stillem Hause schieden wir. »Ich bin neugierig,« sagte Gleichmuth, »wie unser beiderseitiges Leben endigen wird.«

»Ruhiger als wir vielleicht meinen.«

»Sehr möglich; doch wünschte ich das Gegenteil. Denn sterben wir einmal sanft und selig, so hat die Welt wieder umsonst Hoffnungen gehegt, die im Thau des Himmels ertränkt worden sind. Irdische Seligkeit ist unter Verhältnissen, wie die der Zeit, eine Perfidie des eigenen Geistes. Ich wollte Niemand gelänge es mehr, sich diese [262] zu erwerben, so wären wir reif zu neuen Schöpfungen!«

Er sah hinauf nach Bardeloh's Zimmer. »Der Mann dort oben,« fuhr er fort, »ist der Einzige, von dem ich gewiß weiß, daß er nicht selig stirbt. Darum ist er der Größte. Sein Andenken verflucht zwar vielleicht die zahme kopfhängerische Nachwelt, Alles das aber macht ihn nur größer. Geben Sie ihm Terrain und er wird ein moderner, zeitgemäßer Napoleon. Jede That von ihm wird eine Schlacht sein. Wie abgeschmackt, daß die blasirte Sittlichkeit der Civilisirten von einem großen Manne verlangt, er solle gleich dem dümmsten Leinweber auch ein gutmüthiger Hansnarr, ein fideler Kerl und ein regulärer Kirchgänger sein! Als ob das Große je Brüderschaft machen könnte mit der vergnüglichen Gutmüthigkeit des Kleinen!«

Meine Hand heftig schüttelnd versank die dürre Gestalt in den Schatten der hohen Häuser. Es ist ein seltsam-mystisch-dämonischer Mensch, dieser protestantische Gottesgelehrte.

Indem ich dies schreibe, entsteht ein heftiges Hin-und Herlaufen der Dienerschaft. Bruder Bonifacius singt wieder einmal den Rachegesang seiner Sinne, Bardeloh gibt laut und stürmisch Befehle!

Neben mir hör' ich, wie Rosalie ihrem schönen[263] Sohne Felix mit mütterlicher Liebenswürdigkeit Unterricht in der Geographie ertheilt.

»Gibt's in Amerika auch so große und alte Städte wie Köln?« fragt das glückliche Kind.

»Nein, mein Liebling,« erwiedert die Mutter, »dort ist Alles jung, neu und frisch; aber die Menschen haben keine Herzen.«

»Wie fangen sie's denn da mit dem Leben an? Kann man denn auch leben ohne ein Herz zu haben?«

»Weit besser, mein Sohn, als mit einem Herzen. Menschen ohne Herzen fühlen nichts. Sie empfinden keine Schmerzen und keine Freuden; sie haben keine Poesie und keine Kunst, nur Dampfboote, große Schiffe, Wälder und Wildpret die Menge und sehr, sehr viel Geld.«

»Da können sie sich ja wol ein Herz kaufen? Warum kommen sie nicht herüber zu uns nach Europa, wo es so viele Herzen gibt, die nichts haben und gewiß recht gern einiges Geld für ihr armes Herz geben würden?«

»Lieber Felix, das Herz ist Niemand feil für Gold.«

»Vater sagt aber doch, uns Allen wäre geholfen, wenn wir den Verstand Amerika's hätten.«

»Und der Vater hat Recht, wenn er hinzusetzt, ›und unser europäisches, durch eine sechstausendjährige Geschichte erprobtes Herz behalten.‹«

[264] »Das ist närrisch Mutter! Ich möchte doch gern einmal so einen herzlosen Amerikaner sehen. Wie kann man frei und froh sein ohne Herz, ohne einen alten Dom und ohne die wunderlichen Geschichten, die mir so warm und süß im Herzen liegen?«

Ich hörte, wie die glückliche Mutter das harmlose Kind mit Küssen der Liebe bedeckte. Meine Thür ward heftig aufgerissen, Bardeloh trat ein. Verstört stammte sein dunkles Auge, er war bleich, wie immer, die seine Kleidung in Unordnung.

»Sigismund, halten Sie sich bereit, Morgen reisen wir. Ich habe vor kurzem einen Brief erhalten, der mich zwingt, schnell den Rhein hinauf in einer ehemaligen Abtei einen Besuch zu machen. Sie werden sich europäisch dabei amüsiren, denn unser Besuch steht in innigem Zusammenhange mit dem, was diese Blätter enthalten.« Lächelnd legte er hierbei Gleichmuth's Manuscript auf den Tisch.

»Also Sie hatten doch« –

»Ja, ich fand das Manuscript auf Ihrem Pult. Geheimnißkrämereien lieb' ich nicht; es gibt deren ohnehin schon viele. Gleichmuth ist ein Mann nach meinem Sinn. Werden Sie schlecht, wie er, so zwingen Sie die Menschheit, gut zu werden! Das ist der einzige Weg, Leben und Gesundheit in ein blos noch vegetirendes Geschöpf zu bringen. Ehe ein Jahr vergeht, bin ich im Sinne [265] der Alltagswelt grundschlecht, ein Verbrecher – und das wird gut sein für das Allgemeine. Die Tüchtigsten müssen alle Begriffe umändern, wenn die große Maschine, die man Welt nennt, großentheils nur von Miasmen lebt, welche entstehen aus den Ausdünstungen der Gesinnungslosigkeit und der Schwüle des zürnenden Gedankens. Gute Nacht! Morgen um sechs besteigen wir das Dampfboot.«

Eine schlaflose Nacht gab mir hinlänglich Zeit, über Bardeloh's fast an Wahnsinn grenzende Worte und den stillen, sanftmüthigen Unterricht Rosaliens nachzudenken.

8. An Ferdinand
[266] 8.
An Ferdinand.

Bonn, im August.


Ueber Deine Antwort habe ich recht lachen müssen. Bist Du doch ein sonderbarer oder vielmehr, ordinärer Mensch! Ist es denn sogar schwer, herauszutreten aus seinem engen Kreise und zwei Schritte in die Welt zu thun? Wie kannst Du mir ein sündhaftes Leben vorwerfen, weil sich die Liebe mit heiligen Küssen in mein Herz drängt? Und auch Auguste wagst Du zu schmähen! Wisse, daß ein Liebender jede Gotteslästerung gering zu achten im Stande ist, den zweideutigen Tadel seines geliebten Gegenstandes aber nie vergibt. Ich bin ganz wie ein Anderer, nur etwas heftiger. Ich räche mich an Dir für Dein schlechtes Zutrauen, und zwar auf eine Art, von der ich weiß, daß sie Dich am tiefsten ärgern wird. Ich setze einen Brief her, den ich an Auguste schrieb. Dies sei Deine Strafe für Deine böse, bornirte und deshalb, trotz der sittsamen Verhüllung, sehr unsittliche Meinung. Wenn Du nicht so gar [267] fromm wärst, so würde ich Dich dumm nennen. Zur Dummheit aber gehört auch eine Art Genialität, wenn's auch nur eine umgekehrte ist. Sei nicht bös, lieber Ferdinand, ich bin Dir doch gut blos der Solidität wegen, die Dich nie zum Schuldenmachen hat kommen lassen. Lies diesen Brief und nimm Dir ein Exempel daran, wenn Du so unsittlich sein solltest, Dich vor lauter Sittlichkeit zufällig einmal zu verlieben. Ein Schema ist gar nicht zu verachten, das hilft aus vielen Verlegenheiten.

Sigismund an Auguste.

»Meinen Kuß zuvor, holdselige Schwester in der Liebe! Du hast mich verdammt zu sechstägiger Buße für meinen begangenen Frevel, ich verdamme mich aber selbst zu einer zwölftägigen und hoffe Dir damit zu zeigen, daß ich nicht aller Geschicklichkeit ermangle, Deinem seidenen Pantoffel zu entgehen. Du bist zwar allerliebst anzusehen, wenn Du den Scepter Deines Hausrechtes auf dem Goldfinger der linken Hand balancirst, und ich verstehe mich lebensgern zum Pantoffelkuß, weil ich immer so klug bin, statt des Absatzes die warme Muskel Deines hübschen Ballen zu küssen. Dabei weiß ich auch noch andere Künste in aller Geschwindigkeit zu üben, denn ich habe früher Unterricht genommen bei einem Taschenspieler. [268] Lachen magst Du, nur nicht weinen; denn dann flattern die Amouretten um Deinen schwarzbraunen Lockenkopf wie arme, verscheuchte Nachtvögel, wiewol Deine schlanke Schulter beim Schluchzen ein allerliebstes Grübchen bildet, um, wie ich mir einbilde, meine Liebesseufzer aufzufangen.

Ich gehe auf Reisen, mein süßes Leben, aber ich vergesse nicht, Dich ganz und gar im Schrein meines Herzens mitzunehmen. Ach, bin ich ein arger Götzendiener! Da kniee ich nieder vor Dir, wie weiland vor dem silbernen Kruzifix in der Pfarrkirche, wo ich confirmirt und unter die guten Christen aufgenommen wurde von der segnenden Hand des Priesters!

Wo ich hingehe, möchtest Du wissen? Fort in die Welt, um zu sehen, ob Du mir lieb bist. Und verlasse Dich darauf, ich kehre nicht heim, ohne mit zwanzig hübschen Mädchen gescherzt zu haben; denn ich weiß, daß Du mich deshalb nur noch lieber hast. Ein Mädchen, das von ihrem Geliebten verlangen kann, er solle mit keinem anderen tändeln und kosen, ist eine christliche Kokette, die widerlichste Creatur, die sich denken laßt. Die Geliebte muß den Schönheitssinn lieben an ihrem Geliebten. Küßt er sie nur am öftersten, inbrünstigsten und kehrt immer mit größerer Lust zum Spiel dieser Seelenmundharmonika zurück,[269] so muß sie glücklich sein, weil sie öffentlich als eine Göttin der Schönheit von ihm hingestellt wird. Und die Liebe ist der Weihrauch, der aufdampft um die angebetete Schönheit. Küsse sind die läutenden Chorknaben, die den stillen Weltdienst der Liebe ansagen den betend hingebeugten Empfindungen. In Andacht zitternd liegen alle schönsten Gefühle auf dem pulsirenden Mosaik des Herzens, und die Seele spielt in leisen Zaubertönen die Orgel, und Hymnen und jauchzende Dithyramben springen herab aus dem Irisbogen der beschwingten Psyche in die aufflackernde Wolke des Weihrauchs. Und erst, wenn durchduftet von dem Aroma der Liebe auch die rosigen Chorknaben gebeugt niederstürzen vor dem Altar der Lippen, verstummt in heiligster Feier des Hochamtes Orgelton und Glockengeläut, und geweiht und versühnt im Opfer der Liebe erhebt sich die Schönheit zu neuer Anbetung.

Freue Dich, Auguste, auf diese Feier! Geschmückt mit den schönsten Gaben unbegrenzter Verehrung hebt sich der Tempel in meinem Innern empor. Seine Baumeister sind Schönheit und Liebe. Heiterkeit wird wohnen in seinen lustigen Bogenschwingungen, alle Düsterheit dieser oder jener Sectenvorschrift wird verdrängt von Scherz und Glanz eines freien menschlichen Lebens. – Du mußt aber nicht blöde sein, Auguste! [270] Deine braunen Augen müssen überall hin als lächelnde Sonnen fliegen und einen Kranz munterer Sterne flechten um die dunkelglühende Kuppel unserer Liebeskapelle Besinne Dich auf eine recht auserlesene Forderung, die schwer von mir zu leisten ist, und wenn ich nicht thue, was Dein fragender Liebesstern verlangt, so verwandle Dich in einen Basilisk und blicke mich zu Tode!

Die phantastischen Morgenländer haben eine Sage, nach welcher die höchste Liebe im Stande sein soll, den Gegenstand ihrer Leidenschaft auseinander zu blicken. Ja, das ist lächerlich, mein süßes Leben, aber ich wollte doch, es wäre wahr, und ich könnte, wie ich nun hier sitze, durch die Mauer hindurch bis in Dein Zimmer hinein blicken, und Dich mit liebe- wüthendem Auge zerreissen und heranziehen an mein Herz! Es soll gar nicht schmerzhaft sein, Gustchen, die ganze morgenländische Operation soll auch morgenländisch wollüstig, mährchenhaft- süß und beglückend sich vollziehen lassen. Wahrhaftig, ich bedauere von ganzem Herzen, daß ich kein morgenländisch-magnetisches Auge besitze und kein so phantastischer Narr bin! Wir Abendländer sind viel zu kalt, nur braune Augen, von dem perlenden Blut der Rebe mit sonnigen, belebten Gardinen umhangen, wie die Deinigen, könnten vermögend sein, mich aus einander zu reissen, wenn ich nicht so gar leicht [271] wäre. Das ist ein glückseliges Unglück und hat mich ganz in Dein Herz hinein gebracht. Sieh nun zu, wie Du noch Platz darin behältst, die Lebenselemente zu ordnen. Denn Ordnung, mein Auge, muß sein, sonst gibt's einmal eine schlechte Haushaltung.

Wirst Du denn milder geworden sein bei meiner Rückkunft. Ich werde Deines Zuspruchs bedürfen; denn ich fürchte, diese improvisirte Reise wird mich viel am Stege reif gewordenes Unglück sehen lassen. Darauf bin ich gar nicht begierig, denn Gottlob, für Unglück darf ich kein neues Gebet ersinnen! Das ist mir von jeher ganz unvermuthet unter die Beine gesprungen. Neugierig bin ich aber dennoch, weil es mein fester Glaube ist, daß Deine Liebe mich retten wird aus aller Kreuzes- und Lebensnoth. Der Jammer soll zwar erst recht angehen, da ich vorläufig noch nicht einmal in Gethsemane bin. Heut Abend ist diese Mission angesagt worden. Nun nimm Vernunft an, Auguste, ich bitte Dich, und schicke mir keinen neuen Judas auf den Hals, denn ich wäre ohne Zweifel zu wenig christlich- sanftmüthig gesinnt, als daß ich dem Kußräuber nicht den Hals durch einen raschen Griff umdrehen sollte. Bitte für mich, kleine Heilige, mit dem klugen, bewegten Gazellenauge; zur nächsten Frühmesse [272] bringe ich Dir ein in lebendigem Feuer brennendes Herz.

Bleibe treu und untersage dem alten Ephraim das Korbflechten! Ich mag's nicht leiden, daß in Deinem Hause, wo die Liebe ihre genialsten Gedanken gebiert, und in der schönsten Gestalt ihrer ewigen Poesie den Morgen einer schönern und menschlicheren Welt verkündigt, die Prosa des Lebens ein so fatales Geschäft betreibt.

Lucie ist munter; in ihrer Ausgelassenheit gefällt sie mir momentan besser, als Du, meine Schönste! Dann küsse ich Sie und bin ihr gut. Mache Du's eben so mit Oskar, wenn Du Flecken finden solltest an mir. Diese poetisch gehandhabte Eifersucht wird uns zu sehr guten Menschen und unwandelbar treu Liebenden machen. Nur kein Erkalten des Herzblutes zu ekler Prosa! Laß' Deine Sonnen leuchten, Auguste, Du heilige Göttin der duftig umsponnenen Welt, und glühend herabsinken ihre Strahlen auf die Reben unserer sich umarmenden Herzen, damit in purpurner Pracht der schäumende Perlenthau sich in den Kelch unseres Lebens stürze! Hebe die Schale, Auguste, und genieße Himmelsfunken, Erdenglück, Lebensschaum! Genuß ist Alles, Genuß ist Himmel, Genuß ist Gott! Hätte Gott nicht genossen und sich berauscht im Aether seines heiligsten Gedankens, so gäbe es keine Welt, keine Sterne, [273] keinen Tag und keine Nacht! Es gäbe keine Liebe, diesen ewigen entzückenden Rausch des Gottes in seinem geliebtesten Kinde, dem Menschengeschlecht!

Ohne Maß und Ziel, unaufhörlich schwelgend im Rosenduft Deines Mundes, umarmt Dich


Dein Sigismund


Solltest Du dies etwa blos für Tirade halten, wie meist alles poetisch Empfundene, so nimm den Fond meiner ganzen aufgeregten Bosheit zu unvergänglichem Erbe dahin, denn ich kann eben so unbegrenzt hassen als lieben. –

Bardeloh vergaß nicht, mich zur festgesetzten Zeit abzuholen. Felix begleitete uns mit einem Diener bis an den Hafen und bedauerte nur, daß er daheim bleiben müsse. »Komm hübsch wieder, Sigismund,« sprach er, »sonst gibt's bei uns lauter Elend.« Er schwenkte sein Hütchen so lange, bis das Dampfboot aus dem Gesichtskreise verschwand.

Der Morgen war heiter und warm. An den Ufern des breiten Stromes zogen die Landleute der Stadt zu. Die Landmädchen sind in diesen Gegenden meist von hoher Statur und vereinigen mit gesunder Grazie etwas Majestätisches in Gang und Haltung. Viel mag dazu die Gewohnheit thun, Alles in zierlich geflochtenen Körben [274] auf dem Kopfe zu tragen. Ein voller schlanker Wuchs, gehoben durch eine gefällige Kleidung, gibt einer solchen Mädchen-Caravane einen phantastisch- heiteren Anstrich. Die Rheinländerinnen sind weder wortkarg noch blöde. Die Traube der Mosel lacht in jedem Mädchenauge, ihr leichter süßer Schaum perlt in der rosigen Wange, und freundlich geben sie den Gruß des Fremden zurück. Am liebsten scheinen diesen Hebegestalten die strohhuttragenden Fremden zu sein. Scherz und Gruß springt von Gruppe zu Gruppe, man vergißt die tieferen Aengste des Lebens und glaubt wieder an ein heiteres, freudenerlaubtes Dasein.

Ein Musikchor auf unserm Schiff spielte lustige Sangesweisen, die Reisegesellschaft, wieder bunt zusammengewürfelt aus allen Nationen, um nicht zu sagen Welttheilen, summte erst leis dann lauter die Melodie, als aber das Rheinweinlied mit vollem Jauchzen der Instrumente: »Am Rhein, am Rhein, da wachsen unsr'e Reben etc.« angestimmt ward, fiel jeder deutsche Passagier lustig in den beglückenden Gesang, und eilte auf dem dämonischen Wasserroß den grünen Rebenhügeln zu, die nah und fern schon ihre lockenden Ranken uns entgegenstreckten. Ein paar Citronen- und Pomeranzenbäume, am Mast aufgestellt, grüßten mit dunkelglühender Frucht die laute Freude, der Süden schien sich vereinigen zu wollen mit dem [275] Norden. Ein Lorbeerbaum stieg zwischen beiden ernst und sinnend in die Luft und darüber hisste die Industrie die schwarze Todtenflagge auf, als wolle sie die Vergangenheit sühnen mit ihren stilleren uneigennützigen Bestrebungen. Die Morgenlerchen warfen ihre gellenden Triller in den Gesang der Menschen herab, die Sonne steckte hellfarbige Rosenbänder halb lächelnd halb verdrüßlich um ihre goldenen Locken und zerbrach die rasche Fluth in funkelnd dahinrollende Erzstufen. Ein ungeheuerer Chrysopras schimmerte der Strom, eingefaßt in den Reif silbernen Nebels.


In wenig Stunden lag Bonn vor uns, das Siebengebirge mit seinen romantischen Thälern in blauen Duft gehüllt am Horizont, der Drachenfels starrte hinein in die Gegend, wie das blöde Auge eines greisen Burgwarts. Was würde ein solcher Thurm erzählen können, dürfte er auch nur beim Frühroth ertönen auf wenige Secunden! Die zahlreichen Ruinen am Rheim erscheinen mir immer wie verzauberte Seufzer, die vergeblich von Jahrhundert zu Jahrhundert auf den Erlöser warten. Einzelne Pulsschläge der Vergangenheit, die sich bei dem entfliehenden Leben verspätet haben und in Stein verwandelt worden sind. O, es ist nicht gut, wenn irgend ein Mensch oder eine Sache zu lange lebt! Je früher [276] gestorben, desto süßer und traumloser ist die Ruhe! –

Als das Schiff bei Bonn anlegte, vermißte ich Bardeloh. Ich fand ihn, dem Ansehen nach eingeschlafen am Vordertheil auf dem Glockengestell sitzen, aber er grübelte nur über Gedanken der Zukunft, wofür die Gegenwart noch keine Furche zur Aussaat aufgerissen hat. Er hatte nicht den geringsten Antheil genommen an Freude und Lust der übrigen Reisenden. Mich beschäftigte die naive Laune eines hübschen Landmädchens mit frischem Gesicht und muntern lebenslustigen Augen. Sie erzählte mir, daß sie einen Schatz habe, der Winzer sei, aber gar jammervoll arm und so blieb's immer nur bei einem Kusse, den er ihr Sonnabends regelmäßig mit herzlicher Freude gebe. Das sei aber langweilig, meinte Nanette, und ich gab ihr recht. Zur Abwechselung bot ich ihr auch einen Kuß. Sie lachte hell auf, ich ließ nicht auf mich warten und sie schien über meine Freiheit nicht eben sehr böse zu sein. Bei der Einmündung der Sieg ließ sich Nanette ausschiffen, ich versprach sie zu besuchen und das liebe Kind lachte und grüßte mich noch aus der Ferne, bis sie an's Ufer gestiegen war. Es haust ein munterer, natürlicher Menschenschlag an dem glücklichen Strome.

Bardeloh fragte gleichgiltig, ob wir schon in [277] Bonn seien, und verließ mit mir das Schiff. Wir bezogen einen freundlichen Gasthof und gingen dann aus, ich um die heitere Lage der Stadt mir einzuprägen, Bardoloh mehr aus Gewohnheit und um doch sprechen zu können, wenn die Stunde der Mittheilung für ihn kommen sollte. Oft scheint es mir, als sei Alles an diesem Menschen Instinct, aber ein höherer, intensiverer. Es hat selbst das Seltsame, Abschreckende in seinem Handeln etwas Göttliches. Es ist das Abnorme vermenschlichter Göttlichkeit, was bald laut und offen, bald geheimnißvoll verschwiegen, wie das dumpfe Donnern einer Lawine, losbricht in dem Eisgletscher der Brust dieses Menschen. Doch glaube ja Keiner, Bardeloh sei herzlos! Sein Herz ist nur so dicht mit Wunden bedeckt, daß Niemand die ursprüngliche Gestalt aus dieser zitternden Muskel des Schmerzes erkennen kann.

Durch Gleichmuth's Selbstbiographie war mir Bonn merkwürdiger geworden als durch seine Sehenswürdigkeiten. Daß Beethoven hier geboren, wußte ich, die Stadt selbst aber mit ihren Bewohnern schien wenig Notiz davon zu nehmen. Die uralte gothisch- byzantinische Münsterkirche mit der vortrefflichen Statue der Kaiserin Helena, die ihre Gründerin gewesen, mag für Liebhaber der Baukunst interessanter sein, als für einen Menschen, der dem Leben abzugewinnen sucht, [278] was ihm bisher entzogen blieb – freie Bewegung. Freundlich stürzt uns die Natur in die Arme auf der prachtvollen Rheinterrasse, zum alten Zoll genannt. Hier wirst der verschwenderische Rheingau die letzten Blüthen aus seinem Füllhorn der Landschaft zu Füßen, und der Strom ergießt sich mit königlicher Pracht in die weite Ebene.

Bardeloh führte mich nach Poppelsdorf hinaus, dem Kreuzberge zu. Das Schloß Clemensruhe liegt wie schlummernd unter dem Schirmdach hundertjähriger Kastanien, hinter ihm steigt der Weg an zum Theil niedergestürzten Stationenbildern den Berg hinan. Die Kapelle liegt friedlich in heiterer Lust.

»Das ist ein verhängnißvoller Weg,« sagte Bardeloh, »wenn Pastor Gleichmuth Wahres erzählt in seinem Manuscript. Sie haben es doch gelesen?«

»Noch nicht ganz; der Lebensabschnitt, welcher sich eng anschließt an diese Partie, ist mir bekannt.«

»Es ist Kraft in Gleichmuth, wenn auch keine gesunde. Was überhaupt kann jetzt noch gesund sein! Wir athmen ja lauter bösartige Dünste; ist's da ein Wunder, wenn die Seele Pestbeulen treibt und der Schweiß des Geistes krystallisirtem Arsenik gleicht?«

[279] »Gleichmuth muß sehr unglücklich sein,« versetzte ich, »wenn er auch das Gegentheil versichert.«

»Wie Sie wollen! Oder meinen Sie, er würde glücklicher sein, wenn er weniger gesündigt hätte, wie die gewöhnliche Welt seine moralische Experimentalphysik nennen würde? Das kann Ihnen nicht einfallen. Sind Sie glücklich, der gegen jenen Mann Unschuldige? Bin ich es, weil ich nur sündige im Zorn und Fluch meines stillsten Gedankens? Es ist gleich, wie wir leben, thun wir es nur für einen Zweck!«

»Das sind jesuitische Grundsatze, die Sie selbst verwerflich finden müssen.«

»Nichts finde ich verwerflich, mein moralisirender Freund. Gott hassen ist bei mir eben so erhaben, als Gott lieben – es kommt dabei nur auf die Zustände an. Ich möchte ein Buch schreiben ›himmlische Zustände.‹ Das sollte sehr belehrend sein, aber bitter wie Galle und kitzelnd wie Nießwurz. Die Welt ist verschnupft, gebt ihr starke Priesen, das ›Prosit‹ wird sie sich selbst rufen.«

Die Kapelle lag vor uns, ein milder Wind spielte auf der schönen Höhe. Die Aussicht war bezaubernd. Ein Heller Himmel breitete sich sanft und wärmend über das Land, Fernen und Nähen lagen in scharf gehobenen Tinten, glänzend bewegt, um und unter uns, ganz fern ragte Köln mit [280] seinen vielen Thürmen und dem Bruch des schöpferischen Menschengedankens, dem Dom, aus violettem Duft und weißlich glimmernden Nebelstreifen. Die ganze Stadt ist ein zerbrochener Satz von Typen, der von der religiösen Begeisterung des Mittelalters auf das Gedenkbuch des Herrn, die Erde, gedrückt wurde. – Es liegt viel Beruhigendes, aber auch nicht minder Entnervendes in solcher Betrachtung. Unser eigener geistiger Tod tritt vor den Blick, grell, ohne Schminke, ein Fratzenbild des Geistes, der sich gern jugendlich maskirt. Meine Hoffnung fliegt allemal auf wie eine verschüchterte Taube, wenn die Vergangenheit mit ihrem Gelächter, das sich nur in der veränderten Miene kund gibt, mein Ohr zerreißt.

In der Kapelle war Alles still. Keine Hora, wie vor zehn Jahren, erklang in der Kirche. Die Heiligkeit schien ausgestorben zu sein mit den Mönchen, die sie herumtrugen und wiegten unter ihren Kutten. Was soll auch ein Klosterbruder anders thun? An Etwas muß die Liebe sich anhangen; hat das Vater stammelnde Herz kein Kind zu wiegen, so hegt und pflegt es irgend einen Gedanken als todten Balg verkümmerter Vaterschaft! Ach, es gibt viel, sehr viel Elend auf Erden!

Auf den Stufen der Kirche saß ein steinalter Greis. Weißes Haar umfluthete das freundliche [281] Gesicht, wie zu Schaum geschlagene Gedanken von Sanftmuth und Liebe. Ein Krückenstab lag neben ihm, er spielte mit einem jungen Dachshunde, der sich kläffend gegen uns wandte, sogleich aber wedelnd zu seinem Herrn zurückkehrte.

Wir grüßten den Alten und fragten, ob wir das Innere der Kapelle sehen könnten.

»Gleich, gleich, meine Herrn,« versetzte der Greis und erhob sich mühsam mit Hilfe des Krückenstabes. »Es geht langsam bei mir,« fuhr er fort, »aber desto sicherer. Ich bin dreiundneunzig Jahre alt und hab's noch nicht satt das lustige Leben. Zehn Jahr seh' ich mir's noch mit an. Ich möchte schon wissen auf meine alten Tage, was das junge Geschlecht noch anfangen wird mit dem Bischen Leben.«

»So alt und so neugierig!« sagte Bardeloh. »Grelle Gegensätze, die man nicht erwarten sollte unter dem silbernen Käppchen, das Euer Haupt bedeckt.«

»Ja, ja, mein Herr,« lächelte der Alte, dessen obwol etwas gekrümmte Gestalt doch noch Rüstigkeit und Lebenskraft beurkundete. Alles, wie's Gott will und die Natur. Das Kind ist neugierig, der Greis ist's – ein allerliebstes Gespann. Kinder und Greise vertragen sich am besten bei allen Spielen. Ich hab' noch den Vortheil, daß ich glücklich genug bin, mit mir selber spielen zu [282] können. O, meine Gedanken sind lustige, purzelbäumig gesinnte Bursche! Laufen herbei, wenn ich sie rufe und wir kollern eins zusammen, ich alter Narr und meine Kindeskinder, das luftige Volk des Gehirns –, daß es eine Lust ist! Mein Haar aber, setzte er ernster hinzu mit einem zufriedenen Lächeln, »das ist ehrlich verdientes Silber und ich bin wahrhaftig stolzer darauf, als mancher junge Mann es sein kann auf seine Brille und geborgten Locken. – Bitte, liebe Herrn, treten Sie ein.«

Der Mann gefiel mir. Das Alter, blickt es zufrieden und ohne Schmerz zurück auf ein bewegtes, lang hingestrecktes Leben, ist ehrwürdig, rührend, beneidenswert! Das eben ist der Fluch unserer Zeit, daß sie zu carikirt, zu spirituell-besoffen und materiell-dickwanstig geworden ist, um eine reine Freude aufkommen zu lassen in der Jugend. Wir müssen unglücklich werden schon frühzeitig, weil uns das Glück, zur Ruthe geflochten, gepeitscht hat. Es liebt keiner ein Instrument, das ihn züchtigte.

»Ob es nur wirklich noch Menschen geben kann, die von jetzt an gerechnet neunzig Jahre erreichen möchten, ohne wahnsinnig, dumm, niederträchtig oder Götter zu werden?« rief Bardeloh aus. Gib mir Vernunft, Vater der Skepsis, [283] damit der Docht nicht einst noch fortglimmt, wenn die Speise der Flamme längst schon verzehrt ist!

Der Greis war auf einen Augenblick in sein Zimmer gegangen, um die Schlüssel zur Kapelle zu holen. Er kehrte zurück mit einem brennenden Lichte.

»Gab's hier nicht Mönche in früherer Zeit?« fragte ich den freundlichen Kastellan.

»O ja, genug! Aber seit ein paar Jahren ist's aus mit dem Mönchthum Sie sind alle gestorben und ich hab' sie alle in den Sarg gelegt, ihnen Rosenkranz und Kruzifix in die Hände gegeben und sie begraben helfen drin in der Kapelle?«

»Seid Ihr denn Todtengräber?«

»So ein Stück davon; ich thu', was verlangt wird, d.h. wenn's manierlich geschieht und wie sich's gehört.«

Er schloß die Kirche auf, und führte uns in den stillen, friedlichen Raum. »Da ist was gebetet und gesungen worden,« fuhr der redselige Greis fort, »und manch Gelübde hat junges, frisches Blut gethan hier am Altar, daß mich's manchmal dauerte, wenn das Auge des Novizen halb brach in Verzückung, halb in Schmerz und Gram über die verlorene Welt!«

[284] »Habt Ihr dies oft erlebt?«

»Ost genug, um eine Chronik davon zu schreiben. Es war aber nie meine Passion, über Dinge nachzudenken, die ich nicht ändern konnte; auch bin ich ein gut katholischer Christ.«

»Sind Alle bereits gestorben, die ihr Gelübde hier ablegten in die Hand des Priesters?«

»Die Meisten, lieber Herr, die Meisten; und nun ruhen sie da unten aus von der überstandenen Drangsal des Heiligseins – Gott hab' sie selig!« Er stampfte mit seinem Krückenstocke auf eine hölzerne Thür zu unsern Füßen. »Mancher freilich mag wol auch noch leben,« erzählte der Kastellan weiter, »wenn ich's auch nicht gerade behaupten will. Nur wissen möcht' ich gern, was aus dem Einen geworden ist, der vor zehn Jahren ungefähr, ja richtig! an Maria Reinigung waren's runde, glatte zehn Jahre – hier am Altar das Gelübde that. Liegt mir doch das Gesicht des jungen Mannes noch so deutlich vor Augen, als hätt' ich ihn gestern erst gesehen.«

»Warum nehmt Ihr so großen Antheil an dem gelobenden Mönche?« fragte ich.

»Je nun, 's ist so 'ne Art Liebhaberei bei mir aus dem Blick beim Schwur die Zukunft zu lesen. Lacht immer, lieber Herr, lacht, ich habe so meine [285] Art zu prophezeien, die nicht ohne Vernunft ist. Und gerade jener Novize hatte Blicke, ach Blicke, lieber Herr, zum Erbarmen! Ich glaube, 's ist nicht ganz richtig geblieben unter der Stirn.«

»Wie!« rief Bardeloh dazwischen, der unterdeß die wenigen, unbedeutenden Gemälde theilnamlos betrachtet hatte, »was toll – wer soll toll sein!«

»Behüte der Himmel!« erwiederte der Kastellan! »'s war pure Schwärmerei, was man so Ideenaction nennt, weiter nichts. Toll! Wo denken Sie hin! Hunde sind toll, nicht Menschen. – Und nun vollends ein christkatholischer Klosterbruder!« Der Greis bekreuzte sich und sah mit klug lächelndem Auge in Bardeloh's bleich gegrämtes, lebenverglühtes Gesicht.

»Und doch ist die Welt immer toll,« seufzte Bardeloh.

»Wenn ich nur wissen sollte, wie ihr jungen Männer es anfangt, um so jung schon, so welk, so lebendig, und doch so matt zu werden? Das war zu meiner Zeit ganz anders, und wir lebten doch auch nicht wie die Heiligen im Himmel.«

»Wißt Ihr Euch nicht mehr auf den Namen jenes Mönchs zu besinnen?« warf ich ein, um das Gespräch nicht lästig werden zu lassen für beide Theile.

[286] »Doch, doch! Jener junge Mönch hieß Eduard und ward Bruder Bonifacius genannt in der Umfirmelung.«

»Eduard! Bonifacius!« riefen ich und Bardeloh beide in einem Moment.

»Sie scheinen den Mann zu kennen,« sagte der Greis und hob die Fallthür zur Gruft, um uns in das Todtengewölbe zu führen. Wir stiegen zitternden Herzens hinab; denn es blieb kein Zweifel, der Ort war gefunden, wo der unglückliche Eduard sein Lebenselend besiegelt hatte.

»Haben Sie etwa irgend eine Nachricht erhalten vom Bruder Bonifacius?« fragte mit freundlicher Gutmüthigkeit der greise Todtenwächter. »Freilich ist's Neugier, aber gewiß sehr verzeihliche, und es liegt mir was dran, meine Reputation zu behalten, namentlich solchen Herren gegenüber.«

»Das ist sehr kurz zu erklären,« versetzte Bardeloh, der nie Anstand nahm, das Entsetzlichste mit den bezeichnendsten Worten zu nennen, wenn er sich selbst retten wollte aus dem Druck eines zu großen Jammers. »Bruder Bonifacius oder Eduard ist toll geworden aus Heiligkeit. Er war mein Bruder.«

Dem Greise entfiel der Krückenstock, die Gebrechlichkeit [287] des Alters rüttelte an seinem morschen Körper, er sank auf die Leiche des Mönches, dessen geöffneter Sarg ihm zunächst stand. Der Staub des Todes bedeckte mit fahlem Schleier den silbernen Scheitel, die freie Stirn des Alten schlug tief in die vermoderte Brust des schlafenden Klosterbruders. Ich sprang ihm zu Hilfe und richtete ihn auf.

Eine ergreifende Wehmuth schlug ihre Wimper auf in dem Lächeln, das über des Greises runzelvolles Antlitz bebte. »Mein Gott,« sprach der wankende Mann, »wer hätte mir vor siebzig Jahren vorausgesagt, daß ich meine alte müde Stirn heut baden solle in dem Staub gewordenen Herzen dieses Mönches, des ersten, welchen ich mit eigener Hand in den Sarg gelegt habe! Grade das Herz habe ich ihm zerbrochen, und noch dazu aus Kummer über das Unglück des Letzten, dem ich die Ordenskleidung anlegen half und die Haare aufhob beim Scheeren der Tonsur! Närrisch, sehr närrisch; aber wir wollen munter bleiben, da wir ja doch nur einmal leben!«

»Das ist der erste wahrhafte Philosoph, der mir in dem philosophischen Deutschland begegnet,« sagte Bardeloh. »Und stellt ihr den Greis auf's Katheder, so lacht der ganze Schwarm der Zuhörer, [288] und nennt ihn einen verrückten Faseler. Klare Faselei gilt nicht mehr, sie muß recht compact sein in der Verrücktheit. Da bringe Beelzebub Methode hinein.«

Wir gingen durch die Reihen der Mönche, die alle in offenen Särgen wohl erhalten, nur morsch gebeizt von der Gewalt des Moders, in langen Reihen hier den ewigen Tod schlafen oder dem Aufblicken des neuen Lebensmorgen entgegenharren. Der Castelan hatte bei fast Jedem eine Bemerkung zu machen, etwas aus dem stillen Leben des Verstorbenen zu erzählen und einzelne Curiositäten einzuflechten. Die Meisten hatte er selbst begraben helfen. »Lieb wär' mir's gewesen,« schloß er seinen Bericht, »wenn Bruder Bonifacius auch noch von mir bestattet worden wäre. Da hatte ich sie doch Alle beisammen, die ich gekannt, mit denen ich gebetet, gescherzt und gelacht, die ich so oft begleitet habe in die Stadt hinunter und mit denen ich mich nicht selten neckte, wenn sie ein paar Minuten zu spät von einem Spaziergange zurückkamen. Es fehlt mir nur der Bruder Bonifacius, der gerade, weil er wirblich geworden ist – verzeih' mir's Gott! – besonders gut mit die Lücke füllen hilfe, die noch offen steht. Denn einen Verrückten suchen Sie vergeblich unter diesen Todten. Andere Absonderlichkeiten gibt's zwar! Da z.B. ist einer, der an der[289] Maulsperre starb, weil der wunderliche Narr sich vorgenommen hatte, eine ganze Nacht mit offenem Maule ein Madonnenbild anzustaunen. Der Narr meinte, das sei die ächte, heilige und gläubige Anbetung und Verehrung eines christlich-katholischen Menschen! Nun zwei Tage darauf war er verhungert, weil's Maul nicht mehr zuschnappen wollte. Der schnurrige Esel, Gott hab' ihn selig! – Und so könnt' ich Ihnen noch andere wundersame Geschichten erzählen von diesen Todten. Allein die Kirche hat's nicht gern, daß man von ihr schwatzt. Auch stört man die Ruhe der Seligen, und da mein Licht abgebrannt ist, meine lieben Herrn, so rathe ich zum Rückzuge. Wollen Sie mir die Stufen hinauf ein wenig helfen, soll's Ihnen Gott lohnen. Bei drei und neunzig Jahren sind Treppen überflüssige Erfindungen für dem, der auf ihnen wandeln soll. Wenn aber Bruder Bonifacius stürbe, ging ich doch ganz allein und ohne Krückenstock mit ihm hinab in das Gewölbe.«

Von den besten Wünschen des Greises begleitet, verließen wir Kapelle und Kreuzberg. Bardeloh hoffte bei dem hartnäckigen Schweigen des sinnverwirrten Bruders später noch Näheres über ihn von dem Castelan zu erfahren. Nach Bonn zurückgekehrt fragte mich Richard, ob ich schon in einem Irrenhause gewesen sei?

[290] Ich deutete rund um mich. »Sehr wahr,« sagte Bardeloh, »es fehlt hier nur an Intensität. Morgen wollen wir eins besuchen. Sie werden einen Bekannten daselbst kennen lernen, der Ihnen von Neuem beweisen soll, daß die Tüchtigen müde sein müssen dieses Erdtheils. Mein Gott, war's anders wo nur besser! Aber ich bin neugierig auf die unbekannte Bekanntschaft.« –

9. An Ferdinand
[291] 9.
An Ferdinand.

Bonn, im August.


Körperlich und geistig abgemattet sollte ich zwar nicht schreiben wollen, aber wohin mit der Unruhe? Wie sie bewältigen ohne lindernde Mittheilung? Hälst Du mich doch ohnehin für siech, warum also anstehen, Deine Meinung von mir bestätigen zu helfen? Was Dir ungenießbar erscheint, kannst Du ja überschlagen, wenn nicht das Interesse für die Sache der Menschheit das Unbequeme der Erzählung überwindet.

Gestern Abend verließ ich mit Bardeloh unsern gegenwärtigen Aufenthaltsort. Richard hatte einen Segelkahn gemiethet, der uns bei einem sanften Winde rasch stromabwärts führte. Die Sonne war schon untergegangen, als die niedrigen Hügelreihen am Ufer des Siegflusses mit Rosenflor und duftigem Nebelweiß umglänzt aufstiegen. Die Nacht versprach hell und warm zu werden. Das erste Mondviertel lag, wie eine zerbrochene Hostie im Heiligthum der sterngestickten [292] Weltmonstranz. Anbetend sank in demüthigem Gewande Lebendiges und Todtes nieder als knieende Schatten und wartete des vorüberwandelnden Gottes.

Bei der Einmündung der Sieg legte der Schiffer an, wir stiegen aus und gingen den Fluß entlang in das Thal hinein, dessen Hügel bald anschwellen zu niedrigen Bergen. Der Mond streute funkelnde Lichter durch die Gebüsche; auf dem Flusse gab es noch viel Leben. Heimkehrende Arbeiter grüßten freundlich und sangen muntere Lieder in einem Jargon, der, obwol sehr unverständlich, doch naiv und gutmüthig klang. An diesen Menschen war kein Lebensüberdruß, kein Weltekel zu entdecken. Ich glaubte bisweilen die Erfahrung Anderer bestätigt zu finden, daß dieser Vorzug nur den Gebildeten, der feinern Gesellschaft verliehen worden sei. Laut rief es in mir: kehrt zurück zur einfachen Natürlichkeit und ihr werdet glücklich sein, wie diese. Bildung soll nicht der Todtengräber der Herzensruhe sein, sondern ihr Brautführer.

Nach zweistündigem Gehen lag Siegburg vor uns, ein freundliches Städtchen, an dem nichts merkwürdig, als die alte Abtei, in deren Zimmern jetzt Geistesirre aufbewahrt und geheilt werden. Dieses Umkehren der ursprünglichen Bestimmung eines Gegenstandes, oder einer Sache rechne ich [293] allemal zu den Späßen der Geschichte, die unbewußt und mit einer Art vergnüglichen Blödsinn's von ihren gallonirten Bedienten, den Menschen, aufgeführt werden. Es gibt keinen bessern Ort für Wahnsinnige, als ehemalige Mönchszellen und Refectorien. Der Kreuzgang dient zur Spazierhalle, wo die neumodischen Mönche ihre Siesta verträumen. Der Irrsinn ist nur die Kutte moderner Möncherei, die der heilige Geist der Zeit über die tonsurirten Scheitel seiner liebsten Kinder stülpt. Im Wahnwitz betet der Weltwitz seine unzeitigen Geburtsschmerzen ab. Geistesirre sind Heilige der Neuzeit, Märtyrer der civilisirten Menschheit. Daß ihre Herzen im Kopfe schlugen, hat sie so elend gemacht! Deshalb müssen sie das blasse Cisterziensergewand, die schimmernde Toga des um Erhörung bittenden Geistes, über die Fetzen des weltarmen Lebens werfen. O seht, wie sie einhergehen die stolzen neuen Römer, deren Gedanken nicht Thaten werden können, weil das Tribunat jetzt unter die antiquarischen Merkwürdigkeiten gehört.

»Hier wollen wir Hütten bauen,« sagte Bardeloh und lehnte sich an eine breitästige Linde, deren duftende Blüthenlocken der Mond mit keuschen Küssen durchwühlte. Ringsum herrschte tiefe Stille. Die Sieg brach ihre hellen Wellen flüsternd an den Fischerkähnen, aus Erlengebüsch [294] und Birkenwaldung rief die Nachtigall ihre melancholischen Klagetöne herüber. Finster lag die Abtei vor uns, wie eine große Lavaschlacke. Auf dem Dach hing grünes, üppiges Moos, dies saftlose Gewächs aller Gräber. Im Schatten der Buchen bemerkte ich ein Liebespärchen schwatzend und kosend auf- und abspazieren. Einen Augenblick traten die Liebenden in das helle Mondlicht. Ich erkannte Nanette, die ein glückliches Stündchen mit ihrem Partner verlebte.

»Einem Vernunftlosen kann hier wohl sein,« sprach Bardeloh und ging in's Städchen, wo wir die Nacht ziemlich unruhig zubrachten. Noch kannte ich nicht den Zweck unserer Wanderung. Richard blieb, wie fast immer einsylbig, oder warf nur bittere Brocken in das Gespräch, als wolle er mir den Appetit damit verderben.

Im Gasthof ward eine Hochzeit gefeiert. Gesang, Spiel und Tanz währten die ganze Nacht und raubten uns den Schlaf. Bardeloh stand stundenlang am geöffneten Fenster und sah hinüber nach der ehemaligen Abtei, in dessen Scheiben sich der Mond lächelnd bespiegelte.

Am frühen Morgen ließen wir uns bei dem Irreninspector melden und baten um einen Besuch. Ich habe immer gefunden, daß Zuchthausund Narrenhaus-Inspectoren gegen Fremde die humansten Menschen der civilisirten Erde sind, [295] daß aber diese Humanität sich auch auf ihre Untergebenen erstrecke, will ich nicht behaupten. Die chronique scandaleuse erzählt wunderbare Geschichten. Man darf ihr nicht trauen; denn sie ist eine Verläumderin aller Gerechtigkeitspflege und strenger gewissenhafter Pflichterfüllung.

Bardeloh konnte nur mit Mühe eine ängstliche Unruhe bemeistern. Er hatte etwas Schweres auf dem Herzen. Der Inspector empfing uns mit der freundlichsten Zuvorkommenheit, denn wir trugen feine Kleider, hatten ein nobles Ansehen und konnten recht gut für reisende Engländer gelten. Bardeloh überreichte dem Irreninspector eine Schrift, die dieser mit großer Aufmerksamkeit las und uns hierauf bereitwillig den Narren vorstellte.

Verlange nicht etwa, daß ich Dir eine Beschreibung des tiefsten menschlichen Elends geben soll. Dies überlasse ich Anderen, die weniger fühlen, aber desto mehr schwatzen können bei dem Anblick zerrissener Menschenherzen. Geistesirre gleichen Schmetterlingen, die an den Fensterscheiben auf- und abflattern. Sie denken, das Helle sei der freie, warme Himmelsraum, und jemehr sie sich gefangen fühlen, desto heftiger mühen sie sich ab. Der heilige Staub verschwindet von den Flügeldecken, farblos, eine dunkle Ahnung des Gewesenen, hängen sie herab, nur das Flattern dauert fort, dieser bewußtlose Drang nach Leben[296] ohne die Kraft, es zu können. Geistesirre sind Psychen, die unaufhörlich mit den staublosen Flügeldecken ihres Geistes an den Fensterscheiben der Welt sitzen und sich wundern, daß die Luft so compact geworden ist und doch ihren Glanz behalten hat.

Wir gingen an verschiedenen stillen Gruppen vorüber, die uns meist ignorirten, nur Einzelne sprachen uns zuvorkommend an. Man hätte sie für gescheit halten können, wäre der Blick nicht Verräther der spukenden Seele gewesen, die in ihrer eigenen Wohnung umgeht und sich grauliche Gespenstergeschichten erzählt. Es ist unglaublich, wie groß die Productionskraft des menschlichen Geistes ist, wie unendlich viele Variationen er auf sich selbst spielen kann!

Der Inspector öffnete die Thür einer hübschen Zelle. Wir traten ein. »Das ist Herr Casimir,« sagte unser Führer. »Es steht Ihnen frei, sich ungehindert mit ihm zu unterhalten. Was man mir befiehlt, thu' ich; die Folgen fallen nicht auf mich zurück. Ich inspicire blos, ich urtheile nicht.«

Wahrhaftig der Mann war geboren zum Inspektor und nebenbei auch zum Deutschen. Gib mir Geduld Himmel, damit ich sein ruhig bleibe und nicht Lust kriege, Urtheile zu fällen. Ein Deutscher gehorcht, aber urtheilt nicht.

[297] Am Fenster saß ein Mann, dem Ansehen nach in Bardeloh's Alter. Um seine hohe Stirn legten nur wenig hellbraune Locken einen dürren Kranz. Die Lippen, fest zusammengebissen, schienen im Begriff zu fein, die Welt in einem Sturzbad von Hohn und Spott zu ersaufen. Das Auge, beschattet von dünnen Brauen, glänzte wie das Wetterleuchten eines ausgetobten Vulkans aus der schwermuthdunkeln, verachtunggesättigten Höhlung.

»Casimir!« rief Bardeloh und trat dem schweigenden Manne näher, der, ein Buch vor sich, beide Füße auf Papierbündel stützte. Sein ganzes Aeußere ließ errathen, daß Cynismus aus Grundsatz oder Misachtung ihm zur andern Natur geworden sei. »Casimir,« wiederholte Bardeloh, da der irrsinnige Mann noch kein Lebenszeichen von sich gegeben, »Casimir, kennst Du mich nicht mehr?«

Der Angeredete hob jetzt verdrossen das Auge, sah meinen Begleiter scharf an und rief: »Richard?«

»Richard Bardeloh,« sagte mein Gastfreund, »ich komme als lebendige Antwort auf Deinen Brief. Du bist frei und wirst mich begleiten.«

»Frei!« wiederholte Casimir verächtlich. In Eurer Welt ist nicht einmal der Witz frei, wenn er nicht Hosen trägt; oder glaubst Du, es sei [298] erlaubt, nackt zu sterben? Behüte, Du mußt den letzten Heller für einen Fetzen Tuch ausgeben. Eure angejackte Freiheit sollte man knuten, bis die Jacke zerriß und das Fleisch blutige Thränen für den Ritz bezahlte, durch den man hineinsehen kann in die Freiheit.

»Beruhige Dich,« versetzte Bardeloh. »Bei mir kannst Du jeden Wunsch Deines Herzens befriedigen, Niemand soll Dich hindern. Ich bin reich und brauche nicht zu sparen; ich bin gefürchtet, denn ich hasse Alles, was ein eingebildetes Wohlsein heuchelt; man gehorcht mir, weil ich Geld habe, und darum fluche ich mir selbst! Aber das Alles soll Dich nicht stören. Thue und vollbringe, wozu Dich die Neigung treibt, vielleicht findet Dein Streben Anklang.«

»Den möcht' ich hören,« erwiederte der Irre. Er stand auf und zerschlug mit der Faust das Fenster. »Sieh,« fuhr er zu Bardeloh gewandt fort, »was ist das hier herum? Wie sieht das aus?«

»Die Gegend ist schön,« sprach Bardeloh. »Nicht jeder hat eine solche Aussicht.«

»Das trifft. Nur der Todtengräber kann mich beneiden. Ich sehe immer nur einen hohlen Schädel – die Erde, die Jahr aus Jahr ein von dem Todtengräber der Zeit herüber und hinüber gekollert wird und täglich mehr schadhafte Stellen kriegt. Er hat sich den Kopf abgebissen vor Wuth [299] über das thörichte Herz. Gebleicht von der Hitze der Jahrtausende liegt er nun modernd im Weltraum, der Gott kollert ihn hinüber herüber, aber es bleibt immer ein Schädel. Schlägt er ihm die Backenknochen, so gähnt das hirnlose Ding und weist ihm die Zähne, auf denen Haare gewachsen sind, die Künsteleien des Friseurs der Verwesung. Gibt das Anklang? Hat ein hohler Schorb ein Echo? Wenn doch der Welt ein neuer Kopf wüchse!«

»Das wäre allerdings sehr wünschenswerth, lieber Casimir, indeß, da es nun einmal nicht geschieht, so laß uns mit Hand an's Werk legen.«

»Das Geschäft der Barbiere ist mir immer zuwider gewesen,« versetzte Casimir. »Ich möchte nicht einmal den Heiligen ihre Bärte verstutzen, wie viel weniger – – brr! bleib mir vom Leibe.«

»Du bist ungerecht, Casimir, und machst Dich unglücklich durch das unverhüllt Grandiose, das in Dir lebt. Schleife den Riesenedelstein Deines Geistes, so trägt Dich die Welt auf Sternenkränzen zum Himmel.«

»Soll ich eine Eisenbahn aus mir machen lassen, damit jeder Schornsteinfegerjunge Nutzen ziehen kann von mir? Das vermaledeite Nivelliren ist der Blutegel des Genie's. Geht's so fort, wird bald eine Zeit kommen, wo ein Genie so theuer ist und rar, wie eine pommerische Gänsebrust. [300] Euer demokratisches Hüsteln taugt nichts. Es ist die Schwindsuchtcur der Völker. Kranke Lungen sollen am Besten heilen im Dunst der Viehställe. Da müßt Ihr gesund werden bei Zeiten, denn Euer ganzes Treiben ist eine Viehstallwirthschaft.«

»Dich zwingt Niemand Demokrat zu sein,« erwiederte Bardeloh. »Besingst Du den Stolz und Glanz königlicher Zeiten, wird keiner Dich tadeln; aber fasse das Gold des Gedankens in einen silbernen Reif. Ohne Scheidemüuze kommt Keiner mehr durch die Welt.«

»Ei so will ich ein Goldfresser werden und mich mästen mit meinen eigenen Gedanken. Der Abfall meines Leibes wird dann die goldsüchtigen Leute gierig machen.«

»Was hast Du denn da unter den Füßen?« fragte Bardeloh.

»Meine Eingeweide.«

»Und Du zitterst nicht vor dem Gedanken dieses geistigen Selbstmordes?«

»Wer sagt das! Nicht ich! Ich mache Würste d'raus. Gedankenwurst ist noch nicht dagewesen; ein neuer Gastwirth könnte sein Glück damit machen.«

»Ich werde nicht zugeben, lieber Casimir, daß Du Dich selbst zu Tode folterst Diese [301] Papiere lasse ich drucken auf meine Kosten und Du wirst berühmt werden.«

»Am Galgen?« fragte Casimir mit wegwerfenden Lächeln. »Ich wollte« –

»Was?« unterbrach ihn Bardeloh.

»Eine Ratte wollte ich sein, und die Sterne herunterfressen vom Himmel. Durch dieses Manöver würde die Natur doch gezwungen, wieder einmal etwas Neues zu schaffen. Das Alte ennuyirt mich.« Bardeloh seufzte und lehnte sinnend am Fenster. Der Bewohner des Zimmers las wieder in dem Buche. Zufällig ward er jetzt erst mein ansichtig. »Was ist denn das für ein zweibeiniges Geschöpf?« fragte der unerbittlich Harte meinen Gastfreund.

»Ein Freund von mir und Dir.«

»Ich bin nicht so niederträchtig, Jedermann Freund zu nennen. Wer dieser Mensch ist, kümmert mich wenig.«

Jetzt hielt ich es an der Zeit, mich in das Gespräch zu mischen. Entschuldigungen, Einleitungen und andere Complimente, die unter dem Theile der Menschen, der für civilisirt gelten will, nöthig sind, waren hier nicht am Orte. Ich versuchte es daher, durch sackgrobe Dreistigkeit zu imponiren. Ohne zu wissen, ob ich wirklich jenen Casimir vor mir sehe, dessen Erwähnung gethan ward in Gleichmut's Manuscript, nahm ich es [302] auf gut Glück an und flocht in die kurze Anrede dies mit ein.

»Der Kerl ist orientirt in der Geschichte,« murmelte er halb beruhigt, halb verdrossen zwischen den Zähnen, »man muß ihn doch anerkennen.« »Nun dann guten Tag, wenn Ihr mich kennt,« fuhr er fort, »und bind' Euch der Teufel an seinen Schwanz und schleppe Euch in einer Sekunde neuntausendmal durch alle Moräste rund auf der Erde, wenn Ihr ein Lump seid, wie hunderttausend Andere. Die Menschen sind weich und matt, wie gequirlte Heringsmilch.«

Du wirst gestehen, daß dies ein Gruß ganz neuer Art war; indeß ging ich auf die Redeweise meines neuen Bekannten ein und wir wurden in einem gewissen Sinne fidel. Casimir bewies, daß er nicht geistesirr, wohl aber ein Monstrum geistiger Kraft sei, deren ungeglättete Erscheinung eine dem Wahnsinn nicht unähnliche Hülle annahm.

Der seltsame Dichter erkundigte sich nach Gleichmuth, dem Juden Mardochai und Friedrich. Bardeloh gab über jeden die nöthige Auskunft und wiederholte dem als wahnsinnig Bewachten sein Anerbieten.

»Daß ich hier fort komme, nehm' ich an,« erwiederte der Dichter, »versucht aber nicht, mich in die Uniform Eurer Cultur kleiden zu wollen [303] sonst werden die zierlichen Nähte platzen und mit den blinkenden Knöpfen werfe ich mir die Sterne vom Himmel herunter. Deinen Jungen aber will ich unterrichten, Richard, das soll ein ganzer Mensch werden und kein Wollsack für das kommende deutsche Parlament. Auch die demokratischen Mucken will ich bei Zeiten todtschlagen in seinem Kopfe. Der Absolutist allein, der strenge Monarchist, ist der ächteste Mensch!«

»Dein Glaubensbekenntniß will ich nicht corrigiren,« versetzte Bardeloh, »mein Kind aber wird entweder frei und unglücklich werden, wie sein Vater, oder als Demokrat sterben auf dem Rosenbeet der glücklichsten Jugend. Zum Hofmeister bist Du verdorben, Casimir.«

»Dummheit!« brummte der Dichter. »Ein geschichtlicher Mensch kann kein Demokrat werden, das ist nur Sache der ungeschichtlichen Ignoranz. Ich sterbe als Monarchist auf dem Throne, wenn es auch keine Kreatur glauben will. Das Ungeziefer wird nie Verstand kriegen.«

Das Eintreten des Inspectors unterbrach ein Gespräch, das unter die seltsamsten gehört, die ich je erlebt habe. »Mann des Wortes,« redete Casimir den Eintretenden an, »Du siehst, daß ich wahr gesprochen habe und mein Arm weiter reicht als Dein demüthiger Blick. Du hast blos Gallert im Auge, kein Licht; als Dich Gott schuf, [304] klebte er Dir eine herabgefallene Sternschnuppe in's Gesicht; darum phosphorescirst Du auch des Abends! Armer Mensch, ich beklage Dich Deiner Stellung wegen, denn es ist eine verwirrte Stellung. Du sollst aber einmal geheimer Finanzminister werden bei der Wiedergeburt des deutschen Reiches, wenn Dir's glückt, die große Menge pickender Uhren in diesem Gebäude tactmäßig zu tractiren und in gefälliger Einheit zu erhalten. Du sollst den Orden des durchlauchtigsten Gehorsams dafür empfangen. Bleibe treu und sei kein Hund, glücklichster, begabtester Frosch, den der Himmel geschaffen hat in Ermangelung besserer Substanzen.«

»Ist nun da Vernunft d'rin, meine Herrn?« seufzte achselzuckend der Inspector.

»Ja, piepsende Ente,« fiel Casimir ein »weit mehr Vernunft, sage ich, als in Deiner Frage.«

Kraft des Erlaubnißscheines, den Bardeloh überreichte, folgte uns der unglückliche Dichter. Seine »Eingeweide,« wie er die vorhandenen Scripturen nannte, nahm er unter den Arm. Bardeloh hatte einen Wagen besorgt, der uns schnell aus Siegburg entführte. Gegen Mittag bereits trafen wir in Bonn wieder ein. Die freie Luft, eine Art Zutrauen zu mir und die Aussicht, dem Walten seines seltsamen Genius sich hingeben zu können, machten aus Casimir [305] einen weit heiterern Menschen, als ich erwartet hatte. Er scherzte, nur etwas ungewöhnlich. Denn jeder Scherz ballte sich in seinem Munde zum Koloß zusammen, und es gehörte eine geistige Konstitution, wie die seines Erfinders dazu, um solche Scherze nur erträglich zu finden. Es ist mir nie einleuchtender gewesen, als während jener kurzen Fahrt, wie eine ganze Generation ungerecht gegen einen großen Geist sein kann, wenn er es verschmäht, den Gedanken in fashionable Formen zu kleiden. Auch der Geist bedarf der Hülle, wenn er die prüde Menge nicht zurückschrecken soll.

Casimir sah sich nicht sobald an dem Orte seines früheren kameradschaftlichen Lebens, als ihm die Jugendlust wie eine verwelkte, abgerissene Rose an's Herz sank. Eine lebendige Sphinx lehnte er am Fenster und stierte die bekannten Gassen und Plätze an. Seine Muskeln waren versteinert, das Gesicht hing wie ein in Falten gebrochener Mumienabzug gelb und nerventodt an dem fast kahlen Haupte, nur die Augen wühlten – zwei glühende Salamander – in den tiefen Schädelhöhlen, und höhnend sprang der Gott der Dichtung, als cynischer Faun gekleidet, um den einsinkenden Altar der Schönheit.

»Eduard,« rief er, im lindernden Thau der Erinnerung Herz und Auge badend, »Eduard, [306] Friedrich, Mardochai, Gleichmuth! Wo seid Ihr hin? Hat Euch allesammt die Boaschlange der Zeit gefressen, deren sterngeflecktes Abbild allnächtlich am Himmel glühend aufrollt? Was taugt eine Erde, die Menschen verschlingt wie Euch und mich langsam zerreibt, an dem doch jedes Haar ein königliches Scepter ist!«

»Das Maß ist bald voll,« sagte Bardeloh zu mir gewandt. »Das ist nun ein Mann, geschieden von allen neuweltlichen Bestrebungen, und doch ist er müde, wie wir. Es ist ihm gleichgiltig, ob Dampf die Welt bändigt und die Wuth der Elemente, oder die Geißel des Vogtes, die Kette der Gewalt. Ihm ist jeder Schmuck verächtlich, trage ihn nun die Gemeinnützigkeit, oder Eigenliebe und Selbstsucht. Die Industrie mit ihren vulkanischen Kräften der Bewegung kümmert ihn wenig. – Der neue Heuchler des Jahrhunderts, der tönende Großinquisitor aller Nationen,Gold mit seinem Schergen, dem Eisen, beide die Henker des menschlichen Herzens, sind ihm so uninteressant, wie zwei Hunde, die nach ihrem Schwanze laufen – und dennoch liegt der Fluch über dieses Dasein auf seiner dünnen Lippe giftiger zusammengekrümmt, als in unserm Gemüth. Dieser Mensch ist Royalist, Monarchist, Absolutist und doch müde Europas – denn in ihm ruft nach Freiheit der verhungernde Geist [307] eines Dichters! Sein Sie nicht ungerecht, Sigismund! Der Mann thut mit seinem stammenden Geiste nur, was Gleichmuth vollzog an der Gluth seiner Sinne – Beide stutzten sich für diese Welt zurecht und Beide gehen dabei zu Grunde. Zustutzen macht Caricaturen, keine freien Menschen.« –

Es erfolgte eine lange Pause. Ich beobachtete scharf die Figur Casimir's, der noch immer regungslos hinabsah auf die belebten Straßen. Es lag viel Modernes in diesem Dichter. Die ganze dramatische Poesie feierte ihr Leichenbegängniß in seinem zerlodderten Körper. Es war eine Hekatombe, dargebracht den Göttern in innerlichem Verbrennen eines großen Menschen.

»Wie machst Du's denn, Richard,« fragte Casimir, »daß Dich die Menschen verstehen, wenn Du schreibst?«

»Ich lüge.«

»Bist ein Lump! Hat uns der Herrgott deshalb gelaicht aus dem Schlamme der Sündfluth, daß wir Löschpapier aus unsern Herzen machen sollen, um die Tintenklekse einzusaugen, die der sudelnde Sekretair der wohl geschulten Weltordnung auf die Schreibtafel seines Herrn macht? Ich sage die Wahrheit« –

»Und wirst für einen Narren gehalten,« ergänzte Bardeloh.

[308] »Besser als Narr aufsteigen zum Olymp, als in Dampf verbraucht werden von der Speculation, weil einer Gold zu Kohlen gebrannt hat der Dummheit zu Liebe. Wenn ich sterbe, krepirst Du.«

»Das ist verständlich,« erwiederte Bardeloh, »Du kannst es aber nur einmal sagen im Salon der Welt.«

»Verdammt!« schrie Casimir. »Soll ich Respect haben vor Euren Salons, so müßt ihr sie parketiren können mit Sternen und Sonnen. Ich tanze nur auf bewegten Sphären oder auf den gaukelnden Schwibbogen meiner Phantasie. Eure Salons sind zu flach, um mich zu fassen.«

Ich schlug einen Spaziergang vor, da der Abend in Purpurglanz über das Rheinthal flog. Bardeloh war es zufrieden, Casimir respectirte die Natur unter Allem noch am meisten, so sehr er sich auch oft über sie ennuyirte. »Auch sie ist stach geworben und läßt sich alle Tage glätter rasiren!« Dies war seine stehende Redensart. Wir verließen die Stadt unter dem Geläut der fünf Münsterglocken, die einem Verstorbenen das letzte irdische Ave Maria nachbeteten in's Grab.

Casimir schlug ungefragt den Weg nach dem Kreuzberge ein. In den breiten Alleen dämmerte manch unerfüllter Wunsch, leis umschlichen uns die Abendlüfte, wie verlockende Dirnen. Ihre weichen Lippen entrissen der Seele Geständnisse, [309] die sich vor dem Tage scheuen. Schmerz und Lust sanken vereint an den Busen ihrer gemeinsamen Mutter, das in heißen Pulsschlägen schluchzende Menschenherz.

»Auf diesem Wege habe ich dem Jahrhundert Schröpfköpfe gesetzt,« begann Casimir, »das Aas aber hatte kein Blut mehr, es schwitzte nur Salzwasser.«

»Fand sich denn überhaupt ein Mensch, der mit Dir Umgang pflog?« fragte Bardeloh. »Wenn unser Einer mit bunten Steinchen spielt, nimmst Du Granitblöcke und wirfst sie Einem an den Kopf. Das nennst Du dann freundschaftliche Neckereien.«

»Es ist nicht meine Schuld, daß Andere statt Schädelknochen nur behaarte Eierschaalen tragen. Dem Schöpfer muß der Stoff ausgegangen sein.«

»Mardochai, glaub' ich, war in jener Zeit Dein Freund.«

»Was Freund! Ich hatte nie einen Freund. Der eine war mir zu rund, der andere zu dünn, der dritte zu lang. Man sah das Zeug ja kaum, wenn man's nicht unter die Lupe brachte.«

»Du mußt mit kolossalen Augen begabt sein,« meinte Bardeloh.

»Mein Auge ist das Sehrohr meines Gedankens, und wenn dieser nach ganzen Sonnensystemen umherirrt, muß ich die Atome nur für [310] Staub ansehen, der auf- und niederfällt innerhalb der bewegten Atmosphäre. – Aber Mardochai und Gleichmuth waren immer noch erträgliche Trümmerstücke. Die Kerl's konnten doch nichts sein, wenn sie wollten, und darauf geb' ich was, denn es gehört 'ne große, aschgraue Malice dazu.«

Ich würde nicht fertig werden und Dich vielleicht langweilen, wollte ich Alles wiedererzählen, was auf diesem Spaziergange Seltsames zwischen meinen Begleitern verhandelt wurde. Gespräch konnte man dies Hin- und Herspringen wild gewordener Gedanken nicht nennen. Wie rasende Bestien stürzten die kolossalsten Einfälle aus Casimir's Munde, erfreuten sich eine kurze Zeit der Freiheit und legten sich dann wie das leibhaftige Ennui müßig in den tiefsten Schmutz.

Nach Verlauf einer Stunde saßen wir auf den Stufen der Kreuzberg-Kapelle. »Was das nun für Heiligenschreine sind,« sagte Casimir, »wahre Amulets, die sich der liebe Gott an den Gürtel gehangen hat, um, die Apathie gegen seine sublimsten Geschöpfe damit zu unterdrücken. Es muß langweilig werden, immer Ein Amt zu verwalten. Ich möchte den Schöpfer einmal in einem andern Geschäft sehen, das würde ihm bei mir mehr Reputation verschaffen.«

»Warst Du vielleicht zugegen,« fiel Bardeloh [311] ein, »als mein Bruder die Weihen empfing hier in der Kapelle?«

»Der Narr!« lachte Casimir. »Kam der Mensch aus purer Commiseration mit sich selbst auf den famosen Einfall, sich die Gedanken aus zustreichen! Hat das noch eine vernünftige Menschenseele gehört in unsern Tagen? – Nein Richard, ich versprach dem Narren, zu derselbigen Zeit, wo er das Gelübde ablegen würde, mich in süßen Schlaf einwiegen zu lassen auf den Armen eines Weibes, und so gewiß ich meinen überwüchsigen Witz nicht vor Jedermann abspielen darf, ohne für toll zu gelten, ich hab's ehrlich gehalten, wie 'n deutscher Spitz! Unser Einer wird dumm vor Treue.«

»Kanntest Du den katholischen Geistlichen, der vor der Einkleidung Eduard's in enger Freundschaft mit ihm lebte?«

»'S war 'ne H .... seele,« rief Casimir, »die nur warm ward, wenn man sie kitzelte.«

»Weißt Du seinen Namen?« fragte Bardeloh gleichgiltig weiter.

»Das Wiesel schwänzelte sich bei guter Zeit in ein warmes Priorat hinein und soff der erhaltenden Weisheit die Eier aus, als wär's Moselwein. Ich hoffe, wenn die Vogelscheuche noch lebt, wird sie bald auseinander fallen.«

»Vortrefflich!« sagte Bardeloh zu mir. »Die [312] Rache hat dem Elenden die Seele bereits aus den Lumpen seines Fleisches geschüttelt. Jetzt bin ich beruhigt. Der zerschmetterte Prior war der Geistesmörder meines unglücklichen Bruders.«

An der Klosterthür erschien der Kastellan. »Guten Abend, meine Herren,« rief er uns grüßend zu. »Es ist eine sanfte, milde Luft, die einem alten Manne wohl thut. Erlauben Sie's, daß ich eins mit Ihnen plaudere? O wie schön ist die Welt! Wie herrlich, erfrischend ein einziger stiller Sommerabend! Ich möchte doch um Alles nicht sterben in der schönsten Jahreszeit, und ich denke, der liebe Gott wird ein Einsehen haben und mein Gebet erhören! Wie die Pappeln duften – die Schmetterlinge still sich wiegen auf den Strahlen der Sonne, hier tief blau, dort purpurn und sammetgrün funkelnd! Das sind gewiß umherfliegende Engelsaugen, die der heilige Gott aussendet als seine Boten, um sich zu erkundigen nach dem Befinden seiner lieben Menschen.«

»Bei meinem dürren Gebein,« rief Casimir, die Hand an die vergelbte Stirn legend, »der unverwüstliche Mensch lebt noch immer, und ist heut noch eben so versessen auf das Leben, wie vor zehn Jahren. Der Kerl muß eine Amphibie sein, halb auf Erden, halb im Himmel vegetirend. Hast's noch nicht überdrüssig, Alter?«

»Was? Ueberdrüssig? Lieber Herr, seht nur [313] hinunter, wenn Ihr noch gesunde Augen habt, (er deutete mit dem Krückenstocke rings aus die Gegend, in der hin und wieder Nebelflocken aufflatterten,) wie kann da ein Mensch aufhören zu bewundern! Meine Freude liegt hier rings um uns. Siebenzig Jahre und darüber habe ich den Strom wie einen immergrünen Lenz die Landschaft begrüßen sehen, der unerschöpflich neue Blumen brachte. Und da soll ich mich nicht freuen, Herr, so lange meine Augen frisch und kräftig bleiben?«

»Das mache den Maulwürfen weiß, die blind sind von Geburt an, weil sie so frech waren, die Augen aufzuschlagen, ehe sie aus ihrer Mutter Leibe krochen. Wenn Du siehst, ewiger Mensch, warum kennst Du mich nicht?«

»Sie?« sagte der Greis und öffnete weit das erden-und himmelgetränkte Auge. Er schüttelte das silbergelockte Haupt, rieb sich die Augen, legte die Hand an seine Stirn und fügte dann mitleidig hinzu: »es kann nicht an meinen Augen ließen, daß ich Sie nicht kenne.«

»Nun dann liegt's an der Sonne,« sprach Casimir, »denn ihr Blick lag immer wie ein fauler Bassa ägyptisch heiß auf meinem Gesicht. Davon bin ich dunkelhäutig geworden. Wenn Du mein Gesicht aber schälen kannst, wie eine Zwiebel, ohne Thränen zu vergießen, so wirst Du [314] eine europäisch menschliche Couleur darunter entdecken. Das Häuten hab' ich den Schlangen noch nicht abgelernt.«

Nochmals beleuchteten des Greises Augen die schwefelgelben Narben des Dichters, die der Meißel des Gedankens und die heisse Pulvergluth des Herzens hineingeschlagen hatten in sein Gesicht, dann sank er mit einem lauten Seufzer an die Mauer.

»Nicht wahr, es steckt etwas in mir, das sich nicht vergessen läßt?«

»Ich denke,« sagte der Kastellan, »Sie sind der Iudenfreund, der einmal Hostien aus der Monstranz entwendete, um ein paar zärtliche Briefe damit zu siegeln.«

»Du sollst Chronikenschreiber werden, wenn ich Kaiser bin, versetzte Casimir, denn Du hast ein gutes Gedächtniß.«

Der Greis stand auf und trat einige Schritte zur Seite. Um ihn dampfte das Abendroth, über dem Siebengebirge zog ein Gewitter auf und warf grelle Lichter in die Thäler. »Armer Herr,« sagte der Kastellan, auf seinen Krückenstock gelehnt, »Jugend hat nicht Tugend, ist ein altes Sprichwort, das immer eintrifft, und vergeben und vergessen ist ein christlicher Brauch, den ich gern üben will bis an's Grab; aber lieber Herr, wenn [315] Sie sich im Spiegel besehen, so fragen Sie, ob die entwendete und entweihte Hostie nicht alles Blut aufgezehrt hat in Ihrem Angesicht!«

»Lieber Alter,« versetzte Casimir, dem Greis nachäffend, »das hat der Witz gethan, der sich selbst fressen mußte.«

Der Greis schlug ein Kreuz; von fern stürzte der Donner brüllend in die Thäler und schleuderte die hundert Briareusarme seiner Blitze hell leuchtend über die Berge. Nebel flogen wie verscheuchte Nymphen an den Hügeln hin und versteckten sich hinter die grünen Schleier der Weinranken. Auf dem Strome lag tiefes Dunkel.

Bardeloh stand auf. »Hast Du einen Auftrag an Bruder Bonifacius?« fragte er den Greis.

»Ja, lieber Herr,« versetzte dieser. »Sagt ihm, er solle hierher kommen und sterben. Es ist Zeit, sich zur Ruhe zu legen, wenn die Hostien verbraucht werden, um Briefe damit zu siegeln.«

»Ich verspreche Dir wenigstens seine Leiche,« erwiederte Bardeloh. Denn ob auch unsere Ansichten eben so weit von einander abliegen mögen, als Sonne und Mond, der Zwischenraum ist geebnet und verbunden durch ein unsichtbares Band der Verschwisterung. Als Du anfingst, zu glauben, war dieses Glauben eine hohe Tugend, als [316] es aber mir gelehrt wurde, hatte man mit dem Glauben schon mancherlei Mißbrauch an geweihten Schwellen getrieben. Dieser Glaube war gefärbt und voll Unrath, wie ein Kleid, das durch langes Tragen farblos geworden. Ist es Deine Pflicht zu sterben im Anschaun Deiner unbefleckten Tugend, so ist es auch die meinige, das unsaubre Kleid abzuwerfen und ein neues, reines an dessen Statt anzulegen. Was dabei eher zerreißt, das Herz, dessen Blut keucht und stöhnt nach dem Frieden der That, oder das Kleid, welches fest geworden im feuchten Schmutz – das liegt so tief im Dunkeln, daß nicht einmal jene Blitze es hell beleuchten können. –

Wir stiegen langsam den Berg hinab und sahen noch lange die hohe Gestalt des ehrwürdigen Greises im aufflammenden Himmel stehen.

Casimir versank wieder in sein sphinxartiges Hinstieren. Es ist, als wolle er die Geburt der kommenden Geschichte herauslesen aus den Schatten, die jetzt verblaßt an dem Sonnenzeiger der Zeit vorübereilen. –

Morgen in der Frühe kehren wir zurück nach Köln. Alle Personen, die Gleichmuth's Manuscript erwähnt, sind nun vereinigt in einem stillen Kreise. Was die Confrontation Aller auf Alle und jeden Einzelnen in's besondere für eine Wirkung hervorbringen wird, sollst Du später erfahren. [317] Ich fürchte, es werden einige Herzen dabei ihr letztes Blut hinströmen müssen.


Einen Tag später.


So eben hat mich Richard über den Zusammenhang des jüngst Erlebten belehrt, und ich bin nun wenigstens im Stande durch Vergleichung und Combination das noch Fehlende zu ergänzen. – In seinem früheren Leben ward Bardeloh durch ein unruhiges Umherschweifen in der Welt angezogen, und er überließ sich diesem Hange rücksichtslos. Die Mittel, jede, auch die ausschweifendste Reiselust, zu befriedigen, fehlten ihm nicht, und fand er auch nicht hinreichende Befriedigung in dem ununterbrochenen Wechsel, so gewährte die damit verknüpfte Zerstreuung doch eine Art Befriedigung.

Auf diesen Reisen begegnete er auch Casimir, dessen groteske Erscheinung ihn fesselte. In ihm fand er, was er lange vergeblich gesucht hatte, einen Menschen, der alle Kräfte besaß, um Ungeheures zu leisten, durch die Unnatur der Verhältnisse aber an deren Entfaltung verhindert, jedes Vermögen dadurch vernichtete, daß er es im Ueberbieten zu einer colossalen Fratzenhaftigkeit verzerrte. Casimir gab Bardeloh den ersten Anstoß zu seinen nachmaligen Studien, aus denen [318] er sich nur Groll und einen langsamen, aber sicher um sich greifenden geistigen Tod sog. Der Ideenreichthum in Casimir überwog Richard's eigenen, tiefen Schatz von Gedanken. Casimir schleuderte in brockenweis verstreuter Rede Gedanken um sich, die einem Gott entsprungen schienen, aber, weil sie des Lichtes entbehrten, in zackiges Krystall verwandelt, wol blenden, nur nicht beglücken konnten.

Mehrere Tage verlebte Bardeloh in traulichem Umgange mit Casimir, der eben damals, nach Richard's Bericht, im Begriffe stand, einen Ausflug in die neue Welt zu machen. In jener Zeit hatte die Vereinsamung des Denkens, wie es sich in Casimir gestaltete, noch nicht so sehr um sich gegriffen, daß seine Erscheinung dem gewöhnlichen Menschenschlage allzu auffallend gewesen wäre. Noch wußte er sich im Fall der Noth zu zähmen, wiewol mit großer Anstrengung. Ihn konnte das allgemeine Leid stundenlang bewegen und durch Theilnahme daran von seiner colossalen Art, zu denken und zu sprechen, abhalten. Casimir war noch nicht untergegangen im Stolz auf sich selbst, wozu ihn später die Flachheit der Masse getrieben haben mag.

Schon damals hatte Casimir meinem Gastfreunde viel erzählt von Mardochai, den er ihm jedoch mehr als eine jüdische Curiosität schilderte. [319] Denn es lag nicht in Casimir's Denkungsweise, den Menschen so tief in die Seele zu blicken, daß er ihr Thun und Wollen genau hätte erkennen sollen. Richard ward durch diese Schilderung gefesselt. Er erinnerte sich eines fernen Verwandten dieses Namens und beschloß mit Mardochai in eine engere Verbindung zu treten, um, wo möglich, durch ihn für die Emancipation der Juden gemeinsame Schritte zu thun. Einen Antrag, den er dem Dichter machte, ihn zu begleiten, schlug dieser aus, und so schieden Beide von einander mit dem Versprechen, daß derjenige, welcher zuerst die Unterstützung des andern bedürfen möchte, diese Kunde davon ungesäumt entweder brieflich, oder auf dem Wege der Oeffentlichkeit an ihn gelangen lassen solle.

Die natürliche Art, sich der Gewöhnlichkeit gegenüber zu benehmen, die Ausdrucksweise und ein geflissentliches Vernachlässigen aller hergebrachten Gewohnheiten verdächtigten Casimir in den Augen Aller. Sein Reiseplan zerschlug sich; er trieb sich in Deutschland umher, von dem Wenigen, was er besaß, lebend, und als auch dies endlich aufgezehrt war, liebte er es, sich im Cynismus auszuzeichnen. Der Anstoß, den er dadurch der feinen Sitte gab, und die Art und Weise, seine unbegriffenen Gedanken an den Mann zu bringen, brachte die Mehrzahl zu der Ueberzeugung, [320] die gesunde Vernunft sei dem wunderlichen Manne abhanden gekommen. Der Staat fand sich veranlaßt, mildthätig aufzutreten, und ließ dem unverstandenen Casimir eine Wohnung im Irrenhause anweisen. Ein Jahr und drüber ergötzte sich der Dichter an den Narren, die ihn umgaben. Er machte Studien an ihren Physiognomien, notirte ihre Reden und Einfälle und schuf aus diesen und seinen eigenen ungeheuerlichgenialen Gedanken seine sogenannten »Eingeweide.« Erst, als ihm der Spectakel zu toll ward und er sich alles Ernstes unter allen Narren als den Gewichtigsten behandelt und bewacht sah, trieb ihn der Stolz auf seine geistige Größe zu dem Briefe an Bardeloh, dessen fester Aufenthaltsort ihm bekannt war. –

So brachten Zufall und eigenthümliche Schicksalsfügung eine Figur in unsern an sich schon merkwürdigen Zirkel, die gewiß auf die fernere Gestaltung dieser verworrenen Verhältnisse nicht ohne bedeutenden Einfluß bleiben wird. Ein Glück war es, daß Bardeloh zuvor Gleichmuth's Manuscript lesen konnte. Durch dieses stieg seine Theilnahme an Casimir, und ich irre mich wol nicht, wenn ich behaupte, daß Richard durch den Dichter manches zum Ziele zu drängen versuchen wird, was ohne diese Mittelsperson vielleicht sehr schwer zu erlangen sein möchte. Freilich wird[321] dieser Mensch an eigenen Fäden geleitet werden müssen! Aber Bardeloh versteht das Versteckspielen und übersieht in seiner Ruhe auch Geister, die an Schöpferkraft ihm weit überlegen sind.

Begierig fast geb' ich mich der Zukunft willenlos hin. Ich muß einmal versuchen, wohin das Folgen führt, wenn es kein knechtisches ist. Wie seltsam Casimir schon in der frühesten Zeit den Personen nahe trat und welch furchtbare, abenteuerliche Rolle er in ihren Lebensschicksalen spielte, dies lehrt der an Raimund eingeschlossene Brief, in dem sich der Schluß von Gleichmuth's Autobiographie befindet. Lies diese Blatter mit dem Willen, Versöhnung zu finden auch im Frevel. Wir Alle müssen dies, sonst würden wir uns bald gezwungen sehen, die Weltgeschichte als eine in's Unendliche hinauswachsende Unmoralität zu verdammen. Und davor behüte uns Gott und die Heiligkeit unseres eigenen Geistes!

10. An Raimund
[322] 10.
An Raimund.

Bonn, im August.

Bekenntnisse eines durch Zeit, Menschen, Lehre und Leben Irregeleiteten.

(Schluß.)


»Es gibt nichts so Seltsames, Unnatürliches, Widervernünftiges, das nicht durch consequente Skepsis zum Gesetz und dadurch zur Lebensregel erhoben werden könnte. Aeußerlichkeiten bestimmen auch hier viel, wie bei Allem, und übernehmen das Amt eines Schulmeisters oder Zuchtknechtes. Mir hat mein Lebenlang nicht in den Sinn gewollt, daß irgend ein Individuum verpflichtet sei, der Willensmeinung eines andern seine geistige Freiheit zu opfern. Und dennoch strebt unsere ganze Erziehung darauf hin, die kräftige Gottesnatur möglichst frühzeitig aus uns herauszutreiben. Die unglückliche Maxime: ›man muß dem Kinde frühzeitig den Willen brechen,‹ ist Lebensregel geworden und hat heiligende Gesetzeskraft [323] erhalten. Wir leben sehr curios, wenn wir Alles thun, was uns von Kindesbeinen an als Grundsatz vorgepredigt wird.

Für ein freies, vernünftiges Geschöpf kann es nichts Heiligeres geben, als sich einen festen Willen zu bewahren. Jedes Titelchen davon, das ihm abgeht, ist ein Verlust an seiner Gottheit. Wir dürfen, Andern zu gefallen, nichts von unserm Willen opfern, nur, insofern Beschränkung aus Ueberzeugung eine moralische Förderung sein mag, ist es uns anheimgestellt, ob wir uns freiwillig derselben unterwerfen wollen.

Es müssen sehr schwache Seelen gewesen sein, die zuerst auf den Gedanken gekommen sind, mit der Liebe zu verfahren, als sei es eine Waare. Können wir schachern mit dem Gott in uns? Darf die Erde eine Psalmensängermiene annehmen, wenn es der Sonne gefällt, einen überschwenglichen Lichtstrom auf sie herabzugießen? Es gibt nirgend etwas Uberflüssiges, nur die nackte Armuth, der beschränkte Verstand kann sich ärgern über den Reichthum und Abzugskanäle für ihn erfinden. –

Diese Gedanken wurden mir von Tage zu Tage geläufiger in dem Leben, das ich von jetzt an führte. Ich mag nicht vertheidigen, was der Taumel aufgeregter Lust in mir beging; aber ich gewann durch das Zügellose sinnlicher Bewegung [324] doch eine Freiheit des geistigen Ueberblickes, die mich selbst überraschte. Durch sie vergaß ich Druck und Gram schwacher Momente, lernte aber leider die Neue als ein lebentödtendes Ungethüm auffassen! – In meiner Stellung war dieser Gewinn offenbar ein Verlust zu nennen; denn er entzweite mich täglich mehr mit dem Gesetze, dem ich meinen Willen unterthänig machen sollte. Nach der gewonnenen Ueberzeugung konnte ich diesen Forderungen nicht entsprechen, ohne mir selbst das Verdammungsurtheil zu schreiben. Dennoch sah ich ein, daß die Gegenwart nur dauern könne, wenn sie in der schlaffen Willenlosigkeit fortgeschoben werde, die nun einmal Leiterin ihrer Schritte geworden war. Wie schon früher, führte mich auch dies wieder auf das Spalten des Menschen von dem Diener des gemachten Lebens. Ich wollte mir selbst, als einem Atom der Gottheit, den Kreis des Wirkens nicht verengern, aber dem irdischen Zwiespalt geben, was er forderte. Der Gehorsam in mir sollte Mittel werden, ihn zu vertilgen in der Menschheit. Ich wollte Theolog sein, um den Menschen zu retten, nicht durch die anerkannte Heiligkeit der Doctrin, sondern durch ein allmähliges Aufdecken des Widerspruchs, worin eine menschlich geordnete Wissenschaft mit der freien Kunst des religiösen Gemüthslebens steht. Ein Märtyrer zu werden für die Erlösung eines [325] Theiles der Gemeinde aus den Fesseln selbst auferlegter Beschränkungen ward Ziel meines Lebens.

Die Leidenschaftlichkeit meiner Natur legte mir hierbei tausend Hindernisse in den Weg. Zum Märtyrer taugt nur ein Schwärmer, wie zum Reformator Besonnenheit allein und ein fester Charakter befähigen. Ich ging still mit meinem Leben zu Rathe. Anatomisch zerlegte ich jede Faser meines Herzens, prüfte jeden Gedanken und wog ihn ab mit gewissenhafter Pedanterie auf der Wage des redlichsten Willens. Ich fand mehr spezifische Schwere in ihnen als ätherische Schwungkraft, und mein Muth wuchs, je lauter die Nothwendigkeit einer Aenderung mir aus allen Enden der Welt in die Ohren schrie. Allein Leben, Lust und Reiz hatten sich schon zu tief eingewühlt in das Mark meiner Seele, als daß eine heftige und schnelle Scheidung von diesen für mich möglich gewesen wäre. Außerdem umschlich jeden meiner Schritte ein unheimlicher Geist und maß ihn aus mit heimtückischem Lächeln, ohne daß es doch in meiner Macht stand, ihm zuzurufen: Du bist ein Schurke!

Dieser Geist war Mardochai. Er ließ nicht von mir und umkreis'te mich, wie mein eigner Schatten. Immer stand er auf der der Sonne entgegengesetzten Seite. Mardochai besuchte mich, ging in meine Pläne ein, gab vor, selbst wirksam [326] dafür zu sein und wiederholte unablässig seinen Refrain:« Wollen Sie bleibend wirken, so müssen Sie zuvor auch jede Gemeinschaft mit irgend einer Secte völlig in sich vernichtet haben. Sie müssen ein freier Sohn der Natur werden, der Alles thun kann, wenn er will, und Alles lassen, wenn er nicht will. Sie müssen auch Alles erprobt haben, weil Sie sonst in Diesem und Jenem irrige Ansichten Ihren Zwecken unterschieben könnten. Studium ist nie Sünde, und das Laster selbst, nur so lange verächtlich, als es aus den Lüsten geboren, wird Tugend, wenn es für die Tugendhaftigkeit geübt werden kann. ›Lassen Sie uns zusammen studiren, sagte er, ich halte es für die Pflicht eines aufgeklärten Juden, den Christen ihre Ungerechtigkeiten gegen unsern Stamm zu vergelten durch Liebe.‹

Ich ging darauf ein, weil es mir nicht möglich ward, den seltsamen Menschen zu entfernen. Auch würde dies wenig genützt haben, da mein ganzes Wesen schon auf das Innigste mit jener Zweideutigkeit des Genusses verwachsen war, die immer Produkt eines zerbrochenen Gewissens ist. So setzte ich meine sinnlichen Ausschweifungen fort, ohne dem Geist die üppigste Nahrung zu entziehen. Der Geist war mächtiger, als meine Sinne und fruchtbarer als sie. Die physischen Kräfte erschöpften sich nach und nach, aber die [327] geistigen wuchsen und tobten um so ungestümer, je spärlicher sie einen Gegensatz und Widerstand fanden im Tumult sinnlichen Rausches. Mardochai stand treu ausharrend an meiner Seite. In seinem dunklen Auge lag ein eigner Glanz. Nicht die Sonne der edlen Freiheit schien dieses Licht entzündet zu haben, sondern irgend ein Dämon. Die Gluth warf keinen Schimmer auf den Himmel, aus dem sie herabflammte, vielmehr spielte die Blässe eines ewiges Todes mit winterlich kältendem Hauch um das edelgeformte Antlitz. Ein abstoßender Ernst lag auf den kalten Zügen, eine zurückhaltende Scheu dämmerte oft um sein Auge und schien Traumgebilde zu formen, die nicht Leben empfangen hatten am Busen der Liebe und Schönheit.

Bald zog Mardochai auch Casimir in unsern seltsamen Bund. ›Nun ist die Dreieinigkeit fertig‹ sagte er, als wir zum ersten Male beisammensaßen und die Rettung der Menschheit besprachen aus dem Tod fesselnder Gesetze. Casimir war aber eher ein störender, als helfender Gefährte. Diesem Menschen lag in der Bizarrerie seines ganzen Daseins mehr daran, Unerhörtes vorzuschlagen, als ernstlich auf ein rettendes Mittel zu sinnen für die trübselig dahin sterbende Menschheit. Dennoch sträubte sich Mardochai immerdar, den einmal Angeworbenen wieder zu entlassen.

[328] ›Solche Käuze sind nöthig, um unsere zu große Zahmheit immer zu stacheln,‹ meinte er. ›Casimir vertritt die Stelle eines Sporns. Er haut uns die Weichen wund und treibt die deutsche Sentimentalität aus unsern Leibern.‹

Ich gab mich zufrieden und lebte dem Ziele entge gen, das ich mir gesteckt hatte. Mardochai begleitete mich überall hin. Sein Geist war unermüdlich, selbst in Dinge einzudringen, die ihm völlig fremd geblieben. Mit erstaunenswerther Pfiffigkeit erlauschte er die Schwächen der christlich- theologischen Doctrin, indem er zugleich feine, ich möchte sagen, graziöse Blicke der Misbilligung auf Christum warf. ›Ich würde mich wundern,‹ pflegte er dann wol zu sagen, ›wie es möglich gewesen, daß einer meiner früheren Stammesgenossen so leise dem Irrthum nahe treten konnte, hätte nicht die Liebe zu allgewaltig gesprochen in seinem Herzen. Liebe frommt und treibt zu bewundernswürdigen Thaten, es ist aber doch gut, sich nicht von ihr beherrschen zu lassen. Dadurch gibt man zu leicht der Rache Gelegenheit und dem Hasse, sie mindestens zu kecken Neckereien zu verlocken. Ware ich ein Prophet, die Religion meiner Liebe würde eine gepanzerte Jungfrau sein!‹

›Und ist die unsrige das nicht?‹ warf ich fragend dazwischen.

[329] ›Nein, Gleichmuth, Eure Religion ist ein unschuldiges Mädchen. Man kann es bethören durch unbefangene Zärtlichkeit. Es wäre ein tragischer Scherz, wenn ein Jude so liebenswürdig bezaubernd, so galant siegreich sein könnte, daß diese unschuldsreine Heilige seinen Einflüsterungen Glauben schenken und sich ihm in freudiger Hingebung überliefern könnte.‹

›Sapperment,‹ fiel Casimir ein, ›ich wollte die Unschuld seufzen lassen und ihr blutige Thränen auspressen. Die Lust ist eine Schraube ohne Ende in der nachgiebigen, weichen Mutter der Dummheit. –‹

»Solche Fratzenschneidereien der Gedanken würden mich verletzt haben, wären sie nicht aus Freundes Munde gekommen und ein Beweis gewesen für das Gefallensein unserer ganzen Verbrüderung. Auch trug das abgestumpfte Nervenleben dazu bei, mich vor nichts mehr erröthen zu lassen. Ich hielt für Gleichmuth weisen Ueberblick und ein grenzenloses freies Denken, was doch nur Ergebniß war einer langsam gesuchten und erlangten Entsittlichung. Die Heiligkeit des göttlichen Ebenbildes war mit Schleiern in mir bedeckt, die nur aufstiegen vor dem zitternden Auge, wenn es die Wollust berührte mit dem schmeichelnden Finger der Dunkelheit. Es war ein grauenvoller Irrthum, in dem ich mich selbst zu [330] Tode tobte, aber der Irrthum war verzeihlich, ja sogar natürlich; denn ihn hatte geboren die Unnatur des Seelenlebens, in dessen heiligen Schlingen die Religion des Herzens unter Wonneschauern abgewürgt wird.

Mardochai mochte ahnen, daß meine Physis sich erschöpfe, theils durch die Zügellosigkeit, der ich mich anfangs überlassen hatte, theils durch das geistige Ueberspannen aller Kräfte, das aufreibend wirken mußte auch auf den Körper. Ich brach zusammen, wie eine Eiche, an dessen Stamm der Zahn der Vernichtung feilt. Mardochai rieth zur Mäßigung, der er selbst sich hingab. Dieser Mensch war nie enthaltsam aber immer mäßig. Es gibt keinen mehr auf Erden, den ich so zerrüttet, so durchpeitscht gesehen habe von Leidenschaften, als diesen Juden. Die entsetzlichste seiner Leidenschaften war aber doch die Ruhe. Und nur so kann die Rache groß sein, weil sie eine Errettung erzielt.

Ungeachtet ich Mardochai's Rath befolgte, mußte ich doch mit innerm Entsetzen wahrnehmen, daß sich die Natur und Gott in ihr nur einmal foppen und höhnen lasse. Ich ward physisch, was bei geistiger Ermattung der Blödsinn ist. Die Lust der Sinne erlosch, weil die Kraft erschöpft war, aus der sie hervorgetobt. – Noch hielt ich es für Täuschung und Mardochai bestärkte mich [331] darin. Als Arzt vertraute ich ihm, bat um Hilfe, und ein Lächeln, das den bleichen Schleier seines Gesichtes zerriß, wie das Erdbeben beim Tode Christi den Vorhang vor dem Allerheiligsten des Tempels, schlug eine Oeffnung in das Herz Mardochai's, durch die ich nur einen Augenblick lang hinabschauen konnte in die unerforschten Geheimnisse, die darin ihre stammenden Häupter träumerisch zu Boden gesenkt hielten.«

»Ich kenne ein Mittel,« sagte er, »aber Sie werden sehr wahrscheinlich anstehen, es zu gebrauchen, schon deshalb, weil ein starker Glaube an die Unfehlbarkeit desselben durchaus unerläßlich ist. Sieglauben nicht mehr, da Sie wissen, darum. –«

»Der Ungläubige ist mindestens abergläubig,« fiel ich ein, »und die Verzweiflung gebiert zuweilen eine Gedankenfestigkeit, die an Glauben grenzt. Sollte sie nicht dieselbe Kraft haben?«

»Gewiß,« versetzte Mardochai, »und sind Sie im Stande sich einige Tage lang mit diesem Gedanken zu tragen, so will ich Ihnen das Mittel sagen.«

»Ich war es zufrieden. Der Schmerz, vielleicht weniger um meine Unschuld, als um die Entbehrung einer Sünde, die mich im Genusse den Ekel vergessen ließ, womit das bloße Leben mich sonst berührte, steigerte meine Ungläubigkeit [332] zu wahrhaftigem Glauben. Mit Ungeduld erwartete ich den Tag, wo Mardochai als ein zweiter Schöpfer meines Ich's mir die verlorne Hälfte des Lebens wiedergeben wollte. Der Tag erschien, es war ein Bußtag – und indem ich dies schreibe, wüthet noch die Erinnerung daran, wie ein Tiger in allen meinen Nerven, und ich flehe Denjenigen, dessen Auge zuerst diese Bekenntnisse überfliegt, in der Angst meines ohnmächtigen Gewissens an, Gott zu bitten um ein Verhüllen der Sonne und Sterne, damit Niemand belausche die Zornröthe auf seiner reinen Stirn, und ist er selbst ein Frevler, die Schamgluth, die purpurn fällt über sein Angesicht!

Mardochai trat in mein Zimmer, zum ersten Male in der Tracht des Orients, als Jude, als Hoherpriester seiner Brüder. Ihm folgten Casimir, in einem langen Mantel, unter dem er ein Harlekinskleid trug. Der Dritte war Friedrich mit seiner Geige. – Ich war verwundert über diesen Aufzug und verlangte den Grund davon zu wissen.

›Sind Sie bereit?‹ fragte der Jude. Ich bejahte dies. ›Dann kommen Sie mit uns. Unterwegs sollen Sie erfahren, was zu Ihrer Gesundheit dient.‹

Dämmerung umhüllte schon das Thal, als wir die Stadt verließen. Mardochai führte mich [333] die Allee hinaus nach Poppelsdorf. Um das Kirchlein des Kreuzberges flogen die Funken der niedergehenden Sonne, wie brennende Rosenblätter aus dem Brautkranz der Natur. Casimir und Friedrich gingen uns voran, ich folgte mit Mardochai in einiger Entfernung.

›Lieber Gleichmuth,‹ hob der Jude an, ›im Fall Sie nicht der starke Geist sind, den ich immer in Ihnen zu erblicken glaubte und der mich so fest an sich kettete, daß ich selbst Liebe und Freundschaft Ihnen gegenüber fühle; so muß ich bitten, abzustehen von dem, was ich verlange und sich in Ihr Schicksal zu ergeben. Es trägt unser jetzt durch Noth gebotenes Handeln den Schein der Sünde, doch, ruhig betrachtet, es ist keine, überhaupt nichts, als ein Hingeben an die Natur, die ja etwas Anderes nie verlangt, diese aber stets fordert. Es ist nöthig, Gleichmuth, daß Sie jetzt einmal den Glauben und die Natur des Glaubens lieben, wie Sie die Schönheit umarmt und an ihren Brüsten der Natur einen zu reichen Zoll gegeben haben.‹

›Wie soll ich dies verstehen?‹ fragte ich meinen Begleiter.

›Einfach und mystisch zugleich, wenn Sie wollen,‹ fuhr der Jude fort. ›Durch Sympathie heilt die Natur leichter und sicherer Uebel, die von einer Art Sympathie erzeugt wurden, als [334] durch andere künstliche Mittel. Diese Heilung will ich an Ihnen versuchen und sie wird gelingen, wenn Sie Glauben haben.‹

›Wahrlich den Hab' ich!‹ rief ich betheuernd aus. ›Nur schnell gesagt, wodurch mir geholfen wird!‹

›Ruhe ist auch beim Glauben zu empfehlen,‹ fiel Mardochai ein. ›Sobald wir an Ort und Stelle sind, werden Sie das Uebrige erfahren.‹

Unter zitterndem Bangen erreichte ich Poppelsdorf. Mit der Last einer einstürzenden Welt auf dem Herzen erstieg ich an Mardochai's Hand den Kreuzberg. In der Kirche hatte die letzte Messe begonnen, viele Menschen lagen vor der Kirchthür auf den Knien. Andacht senkte ihren Fittig schützend über den Tempel und die dämmernde Natur.

›Wir sind zur Stelle,‹ sprach Mardochai. Er rief Casimir herbei und flüsterte ihm einige Worte ins Ohr. Der grauenhaft-geniale Mensch lachte und ging in die Kirche. Der Jude setzte sich an die Erde neben die heilige Treppe, die nahe der Kirche liegt und von welcher der letzte Gläubige auf den Knien herabstieg.

Aus der Kirche hallte dumpf das ›Benedicite!‹ das ›Dominus vobiscum!‹ Der ganze [335] tönende Stolz der Messe zog im Echo vorüber an meinen umdüsterten Sinnen. –

Ich hörte Casimir zurückkommen, er lachte und warf einige jener colossalen Gedanken bedachtlos in die warme Abendluft, wie sie ihm nun einmal zur Natur geworden waren. Unterdeß trug Mardochai in kalten, skeptischen Reden mir die Notwendigkeit gewisser Lebensversuchungen vor, und wußte seine Gedanken dabei doch in eine so fromme Mystik zu hüllen, daß ich momentan sogar die Ueberzeugung gewann, mein geheimnißvoller Freund und Rathgeber sei, wann nicht längst schon Christ, doch nahe daran, es zu werden. Lauschend seinen mild erwärmenden Worten, ergab mein selbstständiges Denken sich dem Willen meines Begleiters. Ehe ich es noch ahnte, hatte Mardochai docirend, erzählend, Mährchen dichtend, oft seine Seele in schluchzender Wehmuth auszittern lassend, mein ganzes Wesen auch so völlig in sein goldenes Sündennetz verstrickt, daß ich zusagte und unversäumt zuletzt that, was er verlangte.

Es wäre mir eine Erleichterung, hier auszusprechen, worin dies bestand, allein auch der in den Schlamm der Verbrechen tief Hinabgesunkene bewahrt sich doch immerdar jene Weihe der Scheu, die ihn erst verläßt, wenn der letzte göttliche Funken in ihm erloschen ist. Und, Gottlob, noch [336] fühle ich, wenn auch nur schwach, das belebende Flimmern desselben still und vergebend in mir pulsen. Darum bleibe verschwiegen, was ohne mich selbst zu entweihen, meine Feder nicht aufzeichnen kann. Es gibt Thaten, die geschehen können, ohne daß die Geschichte erröthet und der Tag erbleicht, an dem sie entweihend sich einschleichen in die offenen Hallen, wo die Vergangenheit zur Auferstehung der Zukunft sich ordnet, aber ein offenes, wenn auch reuiges Wiedererzählen derselben verbreitet pestartige Dünste um sich. Darum sei mir vergönnt, hier nur schweigend zu sprechen, stumm zu bekennen, im Gebehrdenspiel einer wach gewordenen Angst abzubüßen den Frevel einer unseligen, im Rausch des Schmerzes und dem Sirenengesange der Verführung vermaledeiten Lebensstunde!

Noch lebt ein Zeuge jener That, der Kastelan, dessen Aufsicht die Kapelle anvertraut ist. Er weiß, wer an jenem Abende dem Priester administrirte, und was dieser Administrant vollzog während des erschlichenen Dienstes. Seine That und meine durch Mardochai bewerkstelligte Wiederbelebung des erschlaffenden Naturlebens hingen sehr eng zusammen. Ware Casimir noch am Leben, so würde er in der ungenirten Weise, sich zu offenbaren, dem Fragenden wol schwerlich eine Antwort versagen. Es war eine herzbrechende [337] Farce, die Mardochai, Casimir und Friedrich, diese letzten Beiden freilich, ohne zu wissen, mir zum Heil aufführten. – Genug, Mardochai kam zuseinem Ziele und ich erlangte, wonach ich begehrte. Der Jude reichte mir den Arm und führte mich langsam den Berg hinab, während Friedrich aufregende Melodien, heitere, ergötzliche Lieder zu spielen schon früher beauftragt worden war. Mardochai blieb dabei ruhig, wie immer, er sprach von Unsterblichkeit, Glaube, Liebe und andern erhabenen Gegenständen, während in meinen erhitzten Adern eine Raserei der Lust tobte, wie ich sie in diesem Grade nie gefühlt hatte.

Mein Wille war völlig gefangen während dieser Begebenheiten. Mardochai blieb mein Begleiter oder vielmehr Führer in der darauf folgenden Nacht, aber die Trefflichkeit seines Mittels ward außer Zweifel gesetzt. Ich gesundete, und erst später erlag ich für immer der strafenden Rache der Natur. O, damals ahnte ich noch immer nicht, warum Mardochai so gehandelt hatte! Die späteren Jahre erst ließen mich erkennen, daß ich Teilnehmer einer Rache geworden sei, wie sie nur ein zweitausendjähriger Haß und ein gleich langes Dulden der himmelschreiendsten Ungerechtigkeiten ausbrüten konnte.

Allein jene Rache hatte auch einen Zweck, einen heiligen Zweck, der ebenfalls, bei mir wenigstens, [338] erreicht wurde, obwol mein Handeln dafür der trotzigen, dummen Menge gegenüber nur von geringer Wirkung geblieben ist. Von diesem Zwecke zu reden, kommt jedoch nur dem zu, der für ihn keine Sünde scheute! Die Zukunft wird auch diesen dereinst bekannt werden lassen. – –

Mardochai sprach nicht mehr von dieser Geschichte, denn seine Ruhe ist gleich mächtig in ihrer Consequenz, als der Haß unaustilgbar, den er in sich nährt und dessen Befriedigung seine eigenste Religion zu sein scheint. Mardochai ist entsetzlich, aber doch ein großer Mensch! Denn er steht als strafender Rachegott auf für sein Volk, treu seiner Lehre, die in Gott ja nur einen ›starken, eifrigen Gott‹ erkennt. Obwol ich Mardochai's Opfer geworden bin, ahne ich doch in ihm den reinen Menschen und weiß ihn zu sondern von dem Henker, wozu ihn das Jahrhundert berufen hat in der Nothwendigkeit seiner läuternden Auswüchse. –

Es vergingen einige Tage und Mardochai ließ sich nirgends blicken. In mir stritten sich Ingrimm, eine lächerliche Verzweifelung und entschiedener Hohn gegen Alles, was bisher der Gewohnheit lieb und werth gewesen war, um den Besitz meines Herzens. Des Juden ausgesuchte diabolische Rache an dem Heiligsten, was unser Glaube geboren hat, schreckte mich auf aus dem Traume geistiger Vernichtung. Ich wollte [339] den Schrecklichen meiden, aber ich hatte weder die Kraft, ihm zu fluchen, noch den Muth, zu behaupten, seine Handlungsweise sei die schandbarste, welche je geschehen unter der Sonne. Und dann – hatte er mich nicht gerettet, wieder hergestellt? Ein neues Leben durchwärmte ja mein frierendes Nervenmark! Ich fühlte mich ganz wieder Mensch, frei und stolz auf die Kraft einer vollen Männlichkeit. Es war ihm leicht, mich der niedrigsten Undankbarkeit zu beschuldigen, – sich als Retter, als großmüthiger Freund mir gegenüber hinzustellen! Hätte nur der furchtbare Blick nicht noch immer meinen zerrissenen Herzenshimmel, wie ein blendender Blitz, zerspalten! Ich zweifelte an der Rache des Juden und fand mich beruhigt, indem Gleichgiltigkeit bald den tiefern Eindruck verwischte.

Als ich endlich Mardochai wieder sah, ging er gekleidet, wie am Tage der Entheiligung. Er trauerte und meldete mir ruhig, Eugenie, seine Geliebte, sei gestorben. Diese Nachricht erschütterte mich, obwol ich furchtbar drohend die Vergeltung auch hier die Fahne des Sieges schwingen sah. Mardochai zeigte sich von nun an immer auch in seinem Aeußern als Jude. Mich befremdete dies und ich forschte nach der Ursache. Mein zweideutiger Freund zuckte die Achseln und schwieg. Späterhin bemerkte ich, daß er mehr als früher mit seinen Glaubensgenossen umging. Er stand [340] in vielfachen Verbindungen und mir schien es, als betreibe er neben seiner medicinischen Praxis noch ein Geschäft.

Ich habe immer gefunden, daß Juden, wenn sie sich den Wissenschaften widmen, das Studium der Medicin erwählen. Der Grund davon ist leicht zu ermitteln. Als Arzt findet der Nichtchrist auch bei den Christen noch immer das sicherste Aus- und Unterkommen. Man vergißt über der Geschicklichkeit des zu Rathe Gezogenen den Makel des Bekenntnisses, den alle Aufklärung der Neuzeit noch immer nicht ganz zu tilgen vermocht hat. Dennoch wagt nicht jeder Ort und jede Bevölkerung, sich selbst zu diesem so beschränkt liberalen Standpunkte zu erheben. Ich habe Städte gekannt, in denen keine Familie, weder aus den höhern noch niedern Ständen sich je entschlossen haben würde, die Pflege der Gesundheit einem jüdischen Arzte anzuvertrauen. Die Tyrannei der Angst, die Geißel der Beschränktheit, sind kaum zu vernichten.

Mardochai, bereits der Praxis sich hingebend, machte aus Stolz und geistiger Ueberlegenheit kein Geheimniß von seinem Judenthume, eher setzte er eine Ehre darein, gegenüber einer oft sehr bornirten Christenheit mit den Funken seines Geistes das Jämmerliche, dem Menschen so tief Herabwürdigende gewisser moralischer Maximen so [341] stark zu beleuchten, daß sie am Ende in Asche aufgelöst niedersielen Weil er den Menschen in sich achtete und auch in Andern hervorsuchte, entzog man ihm die Gegenachtung. Viele zuckten die Achseln, wenn des geistreichen, scharfsinnigen Mardochai gedacht wurde und bedauerten, daß er ein so starrer Jude sei.

›Man muß anstehen, ihn in Gesellschaft zu bitten bei seinen Grundsätzen,‹ sagte irgend ein Kirchenrath, ›denn der sonderbare Mann ist im Stande, laut zu gestehen, daß er Jude ist. Man kommt in Verlegenheit bei Umherreichen der Speisen und möchte jedesmal Waschwasser an der Tafel herumgehen lassen.‹

Diese Stimmung ward bald allgemein. Die Weiber hatten zwar gern sein schneidendes und dabei doch galantes Wesen, allein den Juden konnten sie ihm nicht vergeben, weil er ihn nicht vergessen mochte. Mardochai sah sich außer Connexion gesetzt, eh' er selbst noch daran dachte. Die Freisinnigsten, genugsam bekannt mit seiner Gesinnung, riethen ihm zum Uebertritt, fanden sich aber sarkastisch abgewiesen.

›Mein Stamm handelt mit allen Lumpen, die es auf Erden gibt,‹ sagte er, ›mit seiner Religion aber hat er noch nie geschachert. Ein Jude wird Alles zu Gelde machen, weil er es muß. Er wird ein Hund sein, ist es seit Jahrhunderten [342] gewesen und ist es noch, aber ein Schuft ist er nicht. Christen sind Apostaten geworden aus elendem Ehrgeiz, Geldsucht und andern Erbärmlichkeiten, ein wahrer Jude aber wird als Held sterben, wenn ihm Jemand den Antrag macht, entweder seiner Religion zu entsagen, oder des elendesten Todes zu verbleichen. Ich bin stolz auf meinen Stolz.‹

Es war natürlich, daß diese Art, offen zu sein, nicht fördernd wirken konnte auf seine Carrière. Die Familien suchten sich ihm fern zu halten, man nahm Anstand, einen solchen Juden Blicke in das Hauswesen und Familienleben thun zu lassen, die Vertrauen voraussetzten, und um der unangenehmen Nothwendigkeit zu entgehen, schied man sich lieber ganz von dem Hartnäckigen und überließ ihn seinem Schicksal.

Keiner seiner nähern Freunde würde irgend etwas davon erfahren haben, hätte nicht die plötzliche Aenderung in den äußeren Gewohnheiten auf eine Revolution im Innern Mardochai's hingedeutet. Nicht allein das Anlegen jüdischer Kleidung fiel auf, auch sein Vernachlässigen der Wissenschaft mußte befremden. Er machte Reisen, blieb Wochen lang fern, kehrte dann wieder, und setzte seinen Umgang mit mir, Casimir und Friedrich fort. Unser Forschen führte zu nichts. Das Schweigen Mardochai's blieb sich gleich, seine Gesinnung [343] war unwandelbar, seine Ruhe tödtend. So oft ich auch noch mit ihm zusammentraf, immer vertheidigte er nur die Moral der Consequenz, nicht ihre Basis. Es kam ihm nie auf das Was? an, sondern nur auf das Warum? Und Mardochai war und blieb Jude, und wollte Jude sein, weil er Jude geboren war.

Mit mir stand er fortwährend in engem Verkehr und zeigte nach jener Handlung der Rettung eine zärtliche Anhänglichkeit. Dabei aber unterließ er nie, in jedem Gespräch Gift in meine Seele zu träufeln und jeden Gedanken der Reinheit in mir zu verpesten. Er erklärte mir das jüdische Gesetz mit einer Schlauheit der Ruhe, versteckter Liebe und grimmigen Hasses, die Bewunderung verdiente. Ihm entging kein Zug der Schwäche in unserm Religionsbekenntniß, und so oft er nur einen leisen Zweifel in mir aufspürte, versäumte er gewiß nicht, ihn anzuschwellen zum Gebirge, das drückend meine Seele belastete. So stieß mich dieser böse Dämon des Christenthums immer tiefer in die Entsittlichung meiner selbst, angeblich um mich zur Erlösung der gesunkenen Religiosität zu stärken, eigentlich aber zum Kampf für die Emancipation der Juden zu treiben. –

Casimir entschwand mir in dieser letzten Zeit des Zusammenlebens mit Mardochai aus dem Gesicht. Seine colossalen Sünden des Gedankens [344] gegen die Zimperlichkeit des parfümirten Zeitalters trieben ihn fort in die Welt. Ich erhielt noch einige Briefe von ihm aus der Umgegend, den letztern aus H., wo er sich eine Zeit lang aufhielt, und mir seinen Enschluß, nach Amerika zu gehen, meldete. Ich füge diesen hier bei, um einer spätern Zeit etwas von Urmenschlichkeit aufzubewahren, wenn sie längst keinen Begriff mehr davon haben wird.«


H. am Tage der lutherischen Gedankenallianz

gegen die päpstliche Heiligen .... cht 18 –


Fromme Bestie!


»Ich habe meinen Leichnam begraben unter den Schuhsolenstaub unserer Ahnen. Diese Lage bekommt ihm gut und er conservirt sich sehr wohl, namentlich gefällt der Wildleder-Duft meiner Nase ganz ausnehmend. Sonst ist es sehr langweilig hier, wie überall. Es liegt Alles krank an herrnhutischen Gedanken. – Mich hat der Teufel, will sagen, ich bin ein ganzer Kerl, und ich rathe Dir, nimm auch die neue Kokarde, damit Du Deinem ausgeschwefelten Gesicht etwas Farbe wieder eintättowirst. Ich würde Dich für den Handschuhmacher seiner infernalischen Majestät halten, wärst Du nicht englischer Schneidergeselle geworden in [345] der Werkstalt Michaels des Ewigen. Guten Appetit zum Maßnehmen! Doch paß' auf und nimm's glatt, damit die Tugendhaftigkeit nicht Falten wirst und das Laster eine Hecke d'rin anlegt! –

Ich bin ein steißiger Gott, was ich an meinem Gehirn verspüre, mit dem das des Ewigen nicht Schritt halten kann im Kreisen. Er schuf eine Welt in sechs Tagen und ich sechs in einem Tage. Das will was heißen und mattet einen ehrlichen Kerl ab, der keine Zeit hat, sich an irgend einem Fixstern den müden Leib auszuruhen. Es bedarf dessen nicht.

Das Vieh gedeiht hier zu Lande gut, wie allerwärts, am besten aber das Hornvieh. Ein Drechsler müßte gute Geschäfte machen, wenn er alle Ehemänner zu Kunden kriegte. Ich würde ihm in dieser Hinsicht sehr gute Empfehlungsbriefe mitgeben können, weil ich's aus dem Fundamente kenne. Es muß Alles einen festen Grund haben.

Morgen breche ich ein in das Allerheiligste des Sternenhimmels. Ich brauche einen Dom, der mir leicht hinfliegt über den Scheitel, da ein großes Geheimniß in ihm verborgen liegt. Ich schreibe eine Tragödie ›Besuch Gottes in der Hölle‹ und einen Roman ›Neuigkeiten aus dem Boudoir stiller Frömmler.‹ Das ist himmlisch galantes Zeug und soll meine Landsleute [346] packen. Den Pfaffen flechte ich dabei einen Knochenkranz, um ihnen ihre hohlen Hirnkasten zusammenzuquetschen Meine Seele aber träumt himmlische Träume, und säugt sich groß und reich an den Brüsten der Sternenwelt. Gestern Nacht sah ich's, daß die Milchstraße weniger hell glänzte. Mein Seelen-Soff hatte sie geebbt. Ja, Gleichmuth, Casimir wäre ein großer, erhabener Gott, wenn er nicht zufällig bei dem heiligen Geist in Ungnade gefallen wäre. – Ich gehe nach Amerika, um dort eine neue Poesie zu stiften, und schreibe ein Prairiendrama, in dem Büffel die Rolle des Narren spielen sollen. Es werden stößige Narren werden und die Erde soll zittern vor ihren Witzen.

Gott befohlen, mein lieber Hostieur – sieh das Wort recht an, denn es ist ganz buttersemmelweich – und sei kein Narr, wenn der Teufel die Meßglocke zieht.


Dein collossaler Mensch,

genannt Casimir


»Von meinen sonstigen Bekannten war jetzt nur noch Friedrich übrig geblieben. Dieser Mensch, der von Mardochai's Geist aufrecht gehalten ward, floh mich seit jener entsetzlichen Nacht, wo er die Geige spielte, während ich den sündengebrochenen Leib wieder auffütterte mit der dargereichten [347] Arzenei. In ihm hatte die Natur nicht so viel trotzige Kraft gelegt, daß vermögend gewesen wäre, jedem gewaltigen Eindrucke zu widerstehen. Er ward still und schlich um die Kirchthüren, wie die reuige Sünde, die ihren Gott sucht, an dem sie einst glaubte. Es vergingen einige Wochen und Mardochai sagte mir, Friedrich sei ein Frommer geworden, ein Pietist! Er hielt lange Reden in den Versammlungen der ›Feinen,‹ wie man die Auserwählten des Himmels nannte, und war angesehen bei ihnen. Zuweilen unterhielt er die fromme Schaar auch durch sein vortreffliches Geigenspiel, in dem allein noch eine frische Weltlust lebte.

Mardochai hätte bei diesem Abfall eines seiner vertrauten Freunde eigentlich den Kopf schütteln oder sich kräftig in's Mittel legen müssen. Dennoch geschah von alle dem nichts. Vielmehr schien diese Art, sich dem Leben zu entfremden und den eigenen Geist einzusargen in die schwüle Atmosphäre einer tödtenden Liebelei der Seele mit dem heiligen Geiste, ganz nach seinem Sinne. Der entsetzliche Mensch, glaube ich, ahnte, wohin es kommen würde mit Friedrich. Das Geschehenlassen war nur ein Grundstein mehr zu dem großen Colosseum, das sich seine raffinirte Rache erbaute auf und im Christenthume.

Mein eigenes Leben, abgeschwächt in sinnlichen[348] Genüssen, raffte sich zusammen und gebar aus Trotz eine Opposition, die selbst Mardochai gegenüber ihre Kraft bewährte. Ich war, obwol körperlich erschlafft, doch geistig regsam genug, um nun aus Verzweiflung an mir, an dem Leben, an Gott und Christenthum, ein eifriger Streiter zu werden für das, was mir doch nur als schöner Tand vor dem Auge flimmerte. Als ich nicht mehr sündigen konnte, durfte ich getrost über die Sünde zu Gericht sitzen. Ich war ein unparteischer Richter. – Todt und begraben lag in mir die Heiligkeit des ewigen Menschen. Auf seinem Leichnam schwebte hin und her, wie der ölige Dunst eines Irrlichtes auf feuchtem Moor, der Geist meines Lebens, halb beleuchtend mit dem getrübten Scheine die Grabstätte seines Friedens, und halb hinaufbetend mit flammender Zunge zu dem gnadenreichen Himmel. Ich ward ein sehr frommer Mann, weil ich ohne Leidenschaft lebte. Ich hatte ja keine Sinne mehr, nur der Geist noch tobte in wunderlichen Sprüngen durch die entweihten Zellen, in denen einst die Göttlichkeit des Menschen gebetet und geweint, geschluchzt und geküßt hatte von dem ewigen Christus die welterlösenden Thränen. – Es bedurfte keines halben Jahres, mich als Theolog auszuzeichnen. Ich ward angesehen, meine lüderliche Gesichtsfarbe machte mich interessant, der [349] Schmerz um den Verlust meiner Menschenwürde konnte für die Folge großer Studien gelten. Daß ich unglücklich geworden, weil ich geboren war in einer Zeit, die vom Christenthum nichts gerettet haben will, als den Namen und die Maske, das wußte freilich nur der Traum, dies Weltgericht Gottes, das allnächtlich sich einschlich in mein elendes Leben. –

Ich verlor Mardochai aus dem Gesicht. Als ich zufällig einmal das Bedürfniß fühlte, mich nach ihm zu erkundigen, erfuhr ich, daß er seit Wochen schon die Stadt verlassen habe. Friedrich war mit ihm gegangen, man wußte nicht, wohin. Es war mir gleichgiltig. Von Casimir hörte ich auch nichts mehr. Er, wie Eduard, waren verschollen.«

»So stand ich allein, als Ruine eines Menschen, der das Gefühl verloren hat, aber das Bewußtsein gerettet, um Zeuge zu sein von dem Einstürze einer ganzen Epoche, eines großen Erdtheiles. Ich fand, daß es überall zugehe, wie in mir selbst. Ich war der Spiegel des siechen Europa, das seine Lüste gebüßt und nur noch den frivolen Theil des Geistes gerettet hatte, um mit ihm die Blößen des geschichtlichen Lebens aufzudecken.

Der Mangel an leidenschaftlicher Kraft machte mich zum stillen Beobachter und sogar – zufrieden,[350] glücklich! Ein Mensch, wie ich, taugte in dieses Europa; ich war sein würdigster Bürger. Krank, wie das heilige Land, eine Lebenstrümmer, wie dieses, frivol witzig, raffinirt, cultivirt, geistig sublim und sinnlich ohnmächtig, ein zürnender Eunuch, der nur noch tauglich ist zum Beaufsichtiger der Tugend, die anderwärts eingesperrt wird im großen Harem der Welt. –

So war ich berufen zum Moralisten. Ich betrieb im Kleinen, was ich eben so gut in ein en gros Geschäft verwandelt haben würde, hätte sich die Gelegenheit dazu geboten. Nur so, wie ich jetzt war, konnte ich mich wohlbefinden, mich fühlen als ein europäischer Mensch. Ich durfte nicht anstehen, in mir einen Helden zu sehen, den Helden einer Carrikatur der Civilisation! Wo das Heldenthum zur Hure geworden ist, da kann der Held nur als kraftloser Wüstling ihr Liebhaber sein. Ich fühlte es, daß ich in dieser Lage wenigstens negativ beitragen könne zur Erhebung, zur Aufrüttelung des nervenschwachen Geschlechts. Ich entschloß mich dazu und bildete im Stillen den Entschluß aus zur That. Der sittenlose Teufel übernahm das Geschäft der erlösenden Kraft.

Nach zwei Jahren trat ich das Amt eines Seelsorgers an auf dem Lande. Mein Vortrag gefiel, ein leises Durchklingen von Ironie zog die gebildete Welt herbei, die sich so gern an dem [351] geistigen Kitzel erfreut. Zwei Jahre später bezog ich die Stadt und lebte nun dem heiligen Berufe, der wahrhaftigen ewigen Lehre des gekreuzigten Christus wieder Boden zu gewinnen. Mancherlei Anzeichen ließen mich hoffen, daß meine Bemühungen nicht unfruchtbar blieben. Ich that, was ein Gottesgelehrter in Europa allein zu thun hat, ich predigte das Evangelium. Ich füllte meine Zeit aus und meinen Platz, weil ich jene begriffen hatte, und ward nun glücklich, da die Kraft zum Unglücke aus meinem Körper gewichen. Ich will und werde aber auch in Europa, dem müden Welttheile, sterben und Todtengräberdienste verrichten oder Leichenrednersein so lange, bis Alles verloren oder Alles gewonnen ist. Weil ich selbst so grenzenlos glücklich geworden bin durch den Verlust des Unglücks, wünsche und flehe ich ein lautes, zerfleischendes Unglück herab auf alle meine Brüder und rufe denen, die es bereits in sich tragen, zu: Fliehet, fliehet aus dem öden, dumpfen Welttheil, wo man die Gedanken lebendig eingräbt in den Sarg des Herzens, und den Segen darüber spricht und das Rauchfaß schwenkt! Fliehet und gehet hin in alle Welt, um zu lernen von den Heiden, was ihr verloren habt in Euren verpallisadirten Lehren! –

Ich habe mich später verheirathet. Ob meine Gattin glücklich ist? Gewiß, denn sie fühlt nicht [352] in ihren Gliedern die Müdigkeit des Welttheiles, unter dessen Töchter sie sich zählt. Meine Frau ist ein tugendhaftes Weib, sie ist sehr gut, sehr edel, aber auch etwas einfältig. – Nur eine solche Frau konnte ich brauchen. Frauen von Geist und Sinnenfrische müssen eben so europamüde sein, als wir Männer, und können ihr Treibhausleben auch nur durch gleiche Mittel fristen. Die Sünden der Welt sind die Folgen der fluchwürdigen Verhältnisse, die geboren wurden aus socialer Unnatur, mystischer Heuchelei – weil man den Sinn aller Religiosität von Anfang an misverstand – schwächender Knechtsgesinnung und schlaffer Lebenssitte, die Alles mit der Schminke der Etiquette besudelte. Daran stirbt Europa, dadurch wird es der Sclave werden des Westens, in dem es zwar Sünden gibt und Laster, aber nur Sünden der Kraft und des Uebermuthes. Diese erobern und gewinnen, denn sie sind – weil zur Tugend fähig – gottebenbürtig, aber die Sünden der Schwäche – und diese gehören Europa an – bedingen den Untergang. Der Geist allein wird uns nicht retten, weil er ein Sclave geworden der Skepsis, die Natur nur kann die Unnatur bekämpfen, und sie selbst ist geflohen aus Europa! Drüben aber über den Wogen des atlantischen Oceans liegt das Land der Verheißung im heiligen Schatten des Urwalds [353] gebettet, der es umfängt und mit den Locken der Hoffnung umschmeichelt, wie eine Mutter ihr lächelndes, kraftvolles Kind! Dorthin hat sich geflüchtet die Natur, als Europa sie vertrieb. In der durchsichtigen Fluth des Ohio bespiegelt sie sich, schuldlos, weil sie stark, und fromm, weil sie frei ist. Ueber ihr aber zittert das Auge Gottes, und Freudenthränen rollen als Welten über ihr hin, und Amerika's Söhne blicken hinauf zu dem großen Tempel, den der freie Gott in ihnen gewölbt hat zur allgemeinen Verehrung. Und sie beten arbeitend und arbeiten betend, und es ist kein Elend unter ihnen, weil keine Armuth sie drückt. Sie sind froh, glücklich, fromm, gläubig, weil die Freiheit den Orden der Menschheit in sechs und zwanzig silbernen Sternen auf ihre Brust geheftet hat. Die Flagge ihrer Nation ist das Abbild des Himmels, und es muß sich schön und groß leben lassen in einem Erdtheile, wo der Himmel mild hinzieht über den Scheitel eines Jeden, und milder und sanfter noch sich wiederspiegelt in dem Herzen eines Jeden!

Ich aber bin ein Europamüder, ein protestantischer Gottesgelehrter, der die Liebe sucht und sie nicht findet, weil fein Land sie verstoßen und entweiht hat in ihm, wie in Jedem, der Treue gelobt hat der Scholle, die ihn geboren. Nur eine frische junge Natur, geholt aus Amerika's [354] Wäldern, wie wir entlehnt haben von dorther die bewegende Kraft des Dampfes – nur eine solche Natur kann Europa erlösen, und wieder zu Göttern beleben sein geschwächtes und gebrochenes, aber auch im Sterben noch edles Geschlecht! – Möge es der Reine erleben, ich der Unreine will sterben in Frieden, wenn mich das Glück Europa's zum Unglücklichsten der Sterblichen machen wollte. –


Gleichmuth


Gewahrst Du durch den dämmernden Schleier Deines Auges die Thränenflecken, die wie die Siegel des Schmerzes dieses Testament eines Herzens unterzeichnet haben, das dem Henker eines Erdtheils zum Opfer fiel? Wenn Du noch Mitgefühl hast, Raimund, so halte es fest in Dir, denn wahrlich, es ist eine Zeit, über die Gott Ursache hätte zu trauern! – Und um so entsetzlicher, als nun Tausende kommen werden, um diese Bekenntnisse zu lästern, gebe ich sie erst der Welt preis, wie ich gesonnen bin. Warum verschweigen, was ihr die Augen öffnen kann? Ist nicht Jeder berufen mitzuarbeiten an der Erlösung, die so schüchtern umherschleicht und nur im Dunste des Mondlichtes noch ungestört um das große Grab des Lebens zu wanken wagt? Aber [355] ich will nicht schweigen, ich will handeln! Und Bardeloh soll mir die Hand reichen zum Werke. – Raimund, Du wirst mich nicht wiedersehen – ich gehe nach Amerika! Bardeloh soll mich begleiten, er besitzt, was uns Unabhängigkeit verschafft in jenem Lande, wo im Anfange nur der Besitz Achtung gebietet. Meine Geliebte, der verwüstete Casimir, Friedrich, der Pietist, den die heilige Demuth geistig so impotent gemacht hat, wie Gleichmuthen physisch – sie Alle sollen mich begleiten und am Ohio genesen von dem Fieber, das Europa verpestet, seine Frechheit ihnen eingeimpft hat von Jugend auf!

Dann, Raimund, denke ich zurück in hohem, heiligen Schmerz an meine Mutterwelt, die ich fliehen mußte, um ein Mensch zu bleiben, und greife zur Feder, die ich dem Schweif des Flamingo entreiße, und schreibe die Schmerzen Europa's, decke auf seine Gebrechen, singe seinen Jammer und heile sein Weh, indem ich seine Kinder zum Bewußtsein ihres Unglück's bringe. – Schon fühle ich, wie ein neuer Tag seine tausend Küsse mir als Kreuz um mein zitterndes Herz bindet, brennend heiß und glückverheißend, wie die Küsse meines Mädchens. Fort nur trage ich aus Europa, als einzigen Raub vom Busen der Mutter, meine Geliebte. Ich will Europa's poetische Liebe verpflanzen in Amerika's poetische Urwelt. Da [356] soll ein Geschlecht entstehen mit deutschem Blut, deutscher Ausdauer, deutschem Gemüth und deutscher Glaubenskräftigkeit, das sich Leben gesogen hat aus dem unversiegbaren Born der Freiheit. Hinter mir schon seh' ich die Leuchtfeuer der Küste versinken, dunkel schattet die Nacht über dem Meere, aber der Morgen zündet an einer neuen Küste die begrüßenden Flammen an. Die Apallachen sprühen im Morgenroth wie Riesenhelme empor, zum Himmel stürmen die Zypressen am Missisippi, und tragen die stolze Frage hinauf: ob es wol erlaubt sei, auf Erden göttlich frei zu sein neben Gott? –

Raimund, ich werde glücklich sein, weil ich mein Unglück begreife. Mit Ehrfurcht küsse ich das Manuscript, in Scheu beuge ich mich vor Gleichmuth's Todtenantlitz. Genug, ich gehe nach Amerika, und will von dort herüber wirken und handeln für mein armes, geliebtes Europa, für meine unglücklichen Brüder, für mein Mutterland – das heilige Grab der modernen Welt! –

[357]

Zweiter Theil

11. An Ferdinand
[358] [3]11.
An Ferdinand.

Köln, im September.


Durch Raimund wirst Du meine Erlebnisse vom vergangenen Monat erfahren haben. Sie werden Dich, wie ich hoffe, ergreifen, aber nicht ungerecht stimmen gegen Welt und Menschen. Um zu erkennen, wie unerforschlich die Weisheit der Vorsehung ist, muß man Kleines und Großes zusammenfassen, die Lücken ausfüllen mit Ergänzungen, die erst oft die Zukunft spendet, und so weit dies Menschen erreichbar ist, von so humaner Gesinnung sein, wie Gott selbst. Oft wünschte ich mir eine Professur der Weltgeschichte, um den Wißbegierigen nachzuweisen, was eigentlich heilig und profan sei in Zeit und Ewigkeit. Ich würde aber schwerlich lange dabei aushalten, denn ich fürchte, die Masse bleibt nach wie vor roh und unbildsam, und handhabt immer nur das zunächst Liegende als Elle, um der werdenden Geschichte eine taugliche Hanswurstjacke damit anzumessen. –

Seit einem Monate bin ich wieder hier. [3] Gleichmuth's Manuscript ist der Schlüssel geworden zu einem Gewölbe, in dessen Innerm man Todte lebendig werden sieht. Dieses Spuken des Vergangenen am hellen Tage mit seinen neuen Reizen ist das wahrhaftige Weltgericht. In Bardeloh's Hause wird nun bald ein solches Tribunal seine Sitzungen halten, und es müßte eine Lust und ein Grauen zugleich sein, diesen beizuwohnen. Ein solches Parlament müßte sich dann nirgends mehr auf Erden finden.

Sie sind nun alle beisammen, die Zufall oder Schicksal oder der Geist der Vorsehung in seiner Voraussicht zusammenberufen hat, um wirksam zu sein bei der Ausgleichung moderner Wirren. Es ist eine seltsame Gesellschaft, in der sich eigentlich drei Könige bewegen, Bardeloh, Mardochai, Gleichmuth. Die übrigen drei sind Vasallen, von denen Friedrich noch immer die Schleppe des Juden trägt, der tolle Mönch sicher dem Pastor zufallen wird und Casimir in glücklich ruhigeren Momenten Bardeloh's Meinung unterstützen dürfte. Von mir selbst kann ich nicht sprechen, denn ich stehe am Ende doch allein, so sehr ich getragen werde vom Schicksal Aller. Mein minder großes Unglück berechtigt mich vielleicht, bei geeigneter Zeit noch am sichersten das Ziel zu erreichen, nach dem die Andern in leidenschaftlicher Angst streben.

[4] Um nicht zu Fremdartiges unter einander zu mischen, muß ich auf meine Rückkehr von der Reise nach Bonn zurückkommen. Casimir begleitete mich und Richard nach Köln. Mein Herz schwoll über vor Wehmuth und stolzen Gedanken. Gleichmuth's Lebensgeschichte hatte zu tiefe Wunden in mein Gemüth geschlagen. Seine letzten Seufzer schrieen noch immer laut auf in mir, und und ungeachtet mich der grelle Farbenton des ganzen Gemäldes als Mensch von dem entschieden zurückstieß, der unter dem Formellen die Natürlichkeit begraben hat, so mußte ich doch die Wahrheit anerkennen, die in der Tiefe dieser Geständnisse laut aufschrie zum Himmel um Gerechtigkeit. Mein Entschluß wurzelte immer fester, Amerika blieb der Endpunkt meiner Wünsche. Von dort herüber muß, dünkt mich, dem kranken Europa die heilende Medicin gereicht werden. Die Aerzte aber müssen Europäer sein und auswandern, um nicht zu früh zu sterben den Märtyrertod der neuen Erlösung. Denn dieser möchte jetzt nicht retten und sühnen, wie jener! Nur das Leben kann eine Besiegelung sein für die Unfehlbarkeit und Wahrheit der neuen Weltbestrebungen. Hierin liegt ein hoher Trost; denn wir mögen daraus erkennen, wie nahe die Zeit ist, wo die Gesammterlösung für vollendet betrachtet werden kann.

[5] Bardeloh war darauf bedacht, Casimir, dieses Phänomen unter den jetzt lebenden Menschen unbemerkt in sein Haus zu führen. Diese Vorsicht war nothwendig, denn eine unzeitige Begegnung mit Eduard hätte zu den unerhörtesten Scenen Veranlassung geben können. Es war tiefe Nacht, als wir unbemerkt das Haus betraten. Casimir brütete dumpf über seinen colossalen Einfällen, von denen sich zuweilen einzelne Brocken ablösten, und wie Mauertrümmer eines einst majestätischen Baues in die heimliche Stille der Nacht hinabrollten. Als er die glänzende Einrichtung in Bardeloh's Hause bemerkte, blieb er auf der Treppe stehen.

»Bei Dir riecht's königlich,« sagte er. »Das gefällt mir zwar, ich liebe es aber nicht, denn es ist Zwang dabei nöthig. Glanz und Dreck, wie in Polen, das wäre so mein Geschmack.«

»Du sollst's haben, wie Dir's behagt,« versetzte Bardeloh. »Befiehl und es geschieht.«

»Du gehst trächtig mit Complimenten, spür' ich; da sieh nur zu, daß Dir die Hagelsaat meiner Wortschlachten nicht den Schlachtplan verdirbt. Wo ist mein Stall? Ein König, voll Kraft wie ich, darf nur in einem Stalle wohnen.«

Bardeloh wieß ihm ein Zimmer an, das nur durch eine dünne Wand geschieden ward von seinem eigenen Kabinet. Auf der entgegengesetzten Seite lag Eduard's Gefängniß.

[6] »Zu nobel für einen Poeten,« sprach Casimir, als er eintrat. »Was soll nun ein Kerl von meinem Kaliber anfangen mit diesem Gepolster, das Ihr moslemitischen Gefühlsstümper Ottomanen nennt? Gebt mir einen Strohsack, damit eine solide Seele sich die unbequemen Gedanken darauf zurecht legen kann. Wer auf solchen vermaledeiten Polstern seine Knochen herumwirft, verliert alle Originalität des Gefühls. Die immenseste Größe liebt das Einfache, und ich zum Beispiel, an dem doch zwei Jahre lang gearbeitet worden ist, bin ein Freund der Lumpen. Fort also mit diesen Venuscommoditäten! Ich kenne das Alles und habe die Natur doch auf Stroh und bloßer Erde immer am schönsten gefunden in ihrer Nacktheit. –«

Der seltsame Mensch gab sich nicht eher zufrieden, als bis Bardeloh durch einige Diener die Bequemlichkeiten eines civilisirten Lebens hatte entfernen und an deren Stelle einen rohen Tisch, ein paar Schemel und einen Strohsack bringen lassen. Sobald dies geschehen war, riß Casimir das Fenster auf, daß die Scheiben in Stücke brachen und warf sich auf den Strohsack. »So ist's recht,« sagte er. »Nun will ich sehen, wer zuerst die Augen zudecken wird, ich, oder der Himmel mit seinen Wolkenwimpern! Er zeigte nach dem gestirnten Himmel, stützte sein [7] zerwühltes Gesicht auf die Hand, und starrte unverwand hinauf in den flimmernden Sternenbrand.«

»Packt Euch,« rief er uns zu, die wir dieser neuen Art sich einzuquartieren mit einigem Staunen zugesehen hatten, »oder denkt ihr, ein Kerl, wie ich, hat alle Minuten Zeit, sich mit englischer Bastardrace abzugeben? Ich bin ein Deutscher, wißt's, Einer von denen, die an keiner Grobheit ersticken. Prosit! Sobald Ihr Menschen sein werdet, bin ich bereit, Euch eine Audienz zu bewilligen. –«

Der Morgen brachte einmal eine reine Heiterkeit in unsern kleinen Zirkel. Rosalie war glücklich, den geliebten Gatten wieder zu sehen, Felix hatte viel zu erzählen, brachte mir tausend Grüße von Auguste, die er besucht hatte, und biß mir fast die Augenlider ab. »Ja das muß sein,« sagte der schöne Knabe, »Auguste hat mir's befohlen, Dich so lange zu küssen und zu beißen, bis Du ganz boshaft wirst, weil Du dann erst recht liebevoll werden sollst.« Ich hatte jetzt nichts mehr gegen seine zähneknirschenden Zärtlichkeiten einzuwenden. –

Bardeloh unterrichtete seine Frau von den jüngsten Erlebnissen, so weit sie diese wissen durfte, und suchte ihr den Character Casimir's mit möglichster Schonung zu entwerfen. Diese war nöthig, denn ich bin überzeugt, kein Weib [8] hätte Casimir in seiner barocken Genialität mehr um sich geduldet. Ein weibliches Gemüth schätzt das Seltsame und Pikante am Manne, wenn es umgeben ist mit einem idealischen Duft und getragen wird von der Schwärmerei der Lebensansicht. Ein so ungenirtes Herabfallen aber in die fast schmutzige Barbarei verwundet die Anmuth und er zeugt eher Abscheu, als Duldung.

Noch an demselben Tage besuchte ich Gleichmuth. Das verhängnißvolle Manuscript trug ich bei mir. Jetzt erst konnte ich diesen Mann des Jammers mit wahrhaftem Mitgefühl betrachten. Ich fand ihn an seinem Pult, beschäftigt mit den Vorarbeiten zu einer Geschichte der Heiligen. Helyot's Geschichte der Klöster- und Ritterorden lag vor ihm aufgeschlagen. Er las emsig in der Lebensgeschichte des heiligen Franz von Assisi und prüfte die Schlüsse, welche die Consequenz der Heiligkeit aus den ersten angeblichen Würden zu entwickeln sich berufen fühlte. Freundlich kam mir der unglückliche Mensch entgegen. Seine Hand war kalt, sein Schritt unsicher. Ich fragte, ob er krank sei?

»Nein,« versetzte er, »nur etwas aufgeregt. Sie müssen wissen, daß ich der Praxis nunmehr ganz entsagt habe. Von heut an werde ich gar nicht mehr predigen, was ich auch früher immer nur hier als Gast, ich möchte sagen, aus einer [9] Liebhaberei, die Reue in mir fühlbar zu machen, gethan habe. – Ja,« fuhr er fort, »Sie staunen, ich aber freue mich des Entschlusses. Ich habe mich selbst des Priesterrockes entledigt, den ich zu tragen nicht mehr würdig bin. Ich werde ferner nur als Theoritiker zu wirken suchen und hoffe dabei auf weit größern Erfolg. Hier liegt die Geschichte der Heiligen vor mir – ein Lächeln überflog sein Gesicht – und wahrlich, wollte ich mich zurückversetzen in das sechszehnte Jahrhundert, ich würde nicht der Kleinste geworden sein unter ihnen. Sobald der Geist sich rächt an der Natur, bäumt diese empor und gebiert monströse Formen. Die Heiligkeit ist oft nur ein gewaltiger Ueberwuchs der Natur, der an das Erhabene streift. Nun sagen Sie selbst, ob ich dann nicht der Mann dazu wäre, eine recht pikante Secte neuer Heiligen zu stiften?«

Als Antwort überreichte ich ihm das Manuscript. »Sehr gut,« sagte der ehemalige Pastor. Diese Wendung ist sein und macht der europäischen Etikette Ehre. Aber behalten Sie dies Testament eines Herzens, das menschlich genug war, um glühend zu sündigen, und nicht so ganz verlassen von der Göttlichkeit der Natur, um im Sündigen unterzugehen. – Ich weiß, was es sagen will, Lehrer zu sein, wenn man sich verworfen fühlt, aber immer noch reiner, als der[10] Gesammtinhalt von schielenden Worten, die unserer Befleckung Mutter sind. Was sie beschließen über Ihre Zukunft, darf ich nicht erfragen. Möge sich aber Ihr Leben auch gestalten, wie es immer wolle, dies Manuscript halten Sie werth, nicht heilig! Seine Benutzung kann ihm vielleicht erst später Anspruch auf Heiligsprechung verschaffen.

Unser Gespräch stieg nun in die Tiefen religiöser Anschauungen und berührte Manches, was keiner Mittheilung unterliegen kann. Sehr richtig bemerkte Gleichmuth, daß ein Befreien Europa's, solle es dauernd sein, nur durch eine neue Reformation möglich werden könne. »Denn,« sagte er, »Politik und Kirchenthum sind in der Gegenwart so fest durch ihre Auswüchse in einander verschlungen, daß sie das wahre religiöse, wie politische Leben durch die Wechselwirkung ihres Zwanges niederhalten. Darin liegt die Gedrücktheit aller europäischen Völker, die vielleicht auf den Mächtigen noch schwerer lastet, als auf den Bürgern. Ich klage nicht die Gewalt an, sondern die Verhältnisse, die sie bedingen, und nur in so fern die Macht zu bequem, oder zu furchtsam ist, sich selbst einmal geistig zu entthronen, ist sie verbrecherisch. Wollte man so kühn und frei sein, recht vollkräftig die Dämme zu durchstechen, so würde eine frische Lebensfluth durch den kranken Erdtheil pulsiren, und es wäre gerettet die Religion, [11] die Gesellschaft und der Staat! So aber feilt einer am andern und jeder an sich, und das Elend wächst nur mit der Verzweiflung. Darum wird der Verzweifeltste einmal in der Geschichte des künftigen Europa der Tugendhafteste genannt werden.«

Diese Reden führten uns wieder auf den Inhalt des Manuscriptes, auf die Personen, die eine so entsetzliche Rolle darin spielen, und ich eröffnete endlich dem Pastor, daß sämmtliche Charactere noch am Leben seien und zwar an Einem Orte mit ihm und mir.

Gleichmuths Angesicht überzog sich mit der Farbe des Todes. »Es ist nicht möglich, Sie irren sich,« sagte er. »Dieser Casimir kann nicht mehr leben und noch weniger Eduard. Die Uebrigen kenne ich, und es läuft nicht gegen die Natur, daß sie noch das Licht der Sonne schauen und trinken.«

Die Aufregung und Abspannung des siechen Mannes hielt mich ab, ihm noch mehr zu entdecken. Ich schied von ihm und bat ihn um einen baldigen Besuch. Er sagte ihn auf den dritten Tag zu. »Nun, dann sollen Sie überzeugt werden,« sprach ich und verließ ihn in einer Unruhe, wie ich sie einem durch's Leben gehetzten Menschen kaum zugetraut hätte. –

Bei meiner Zuhausekunft fand ich ein Briefchen[12] von Auguste. Sie hatte meine Ankunft erfahren und schrieb mir:


Auguste an Sigismund.


»Ich bin sehr böse, weil Du sehr garstig bist. Schon ist ein ganzer Tag vergangen und noch habe ich von Dir nicht einmal selbst erfahren, daß Du wieder zurückgekehrt bist von Deiner Entdeckungsreise. Zürnen sollte ich Dir, doch verzeihen will ich, Du sollst nicht Ursache haben, mich zu großer Schwächen anzuklagen.

Aber was ist denn das? Was habt Ihr denn wieder für neue Narrenzufuhr angeschafft? Ist's doch, als sei Bardeloh's Haus ein Sammelplatz für alle Tolle in ganz Deutschland! Hatten wir denn nicht schon übergenug solch Gelichter? Genügst Du Dir nicht selbst? Denn, sei nicht bös, mein geliebter Freund, aber Du hast eine recht ehrliche Anlage zu einem Narren, die nur ausgebildet werden darf, um sich auszuzeichnen in der Welt.

Die Zeit ist mir sehr lang geworden, holder Freund! Es ist sehr leicht Befehle zu geben, sie aber selbst halten, finde ich, bleibt eine entsetzliche Aufgabe. Sigismund, ich könnte martialische Dinge thun, wenn ich ein Gesetzgeber wäre. Oder seid Ihr Männer etwa ruhiger, als wir Mädchen? Manchmal mag's so scheinen, doch [13] Du – nun Du bist eben auch ein Schalk, wie Alle. Hätte ich Dich nur hier, wie wollt' ich Dir die Locken zerzausen und Dich strafen für Dein impertinentes Wartenlassen durch eine Lavine von Küssen.

Es muß anders werden mit uns, ich ertrage dies Leben nicht mehr! Bardeloh ist zu entsetzlich ruhig, und Rosalie, das arme Weib, grämt sich im Dulden zu Tode. Warum mußte diese Frau gerade an diesen Mann verfallen? Oft hat es den Anschein, es freue sich der schadenfrohe Zufall, die fremdartigsten, geistig verschiedensten Personen zusammenzuknüpfen durch einen Blick, einen Moment, um sie an diesem Funken langsam hinschmelzen zu lassen auf der Folterbank eines ewigen Schweigens. Das ist gräßlich, das ist lieblos, das ist europäisch, wie ich fühle. Nur hierin hat Bardeloh recht und Du oben drein. Aber ich bitte mir aus, mich nicht etwa auf gleiche Weise zu behandeln! Sigismund, Du kämst dabei ganz in das Hintertreffen! Mein Arm ist stark, meine Hand sehr elastisch, meine Lippe verführerisch – aber sie verbirgt sehr spitze Zähne. Diese fürchte, mein Theurer, und noch mehr die Angst meines Herzens. – Garstiger, warum kannst Du mich auch so lange warten lassen!

Bitte, Sigismund, heute Abend – darf ich glücklich sein im Hoffen? – Klapperbein flicht [14] heut keine Körbe. Er ist nach Mühlheim gefahren und wird uns nicht stören. Weißt Du schon die Geschichte mit Lucie? Das kommt Alles her von dem unseligen Kopfhängen. Wenn wird wol die Zeit vom Himmel herabfallen, in der es erlaubt ist, heiter zu sein ohne Entschuldigungsgründe?

Wenn Du recht liebenswürdig bist, habe ich Dir etwas Großes zu schenken. Nun rathe! – Du räthst es aber doch nicht. – So lockt man hungrige Vögel.«


Deine Auguste.


»Ich war sehr glücklich, Ferdinand, glücklicher als ich je gewesen in meinem ganzen Leben. Die wenigen Tage schienen das reizende Kind mit neuem Glanz übergossen zu haben. Diese hohe Gestalt war werth, die Königin eines Nichteuropäers zu sein. Ich war so frei, mich in dem Stolze meiner Hoffnungen als weit verschlagen aus Europa zu betrachten, und sog vom Munde der Geliebten die Kraft für ein hundertjähriges Wirken. Und Auguste hatte mir etwas Großes zu schenken und schenkte mir es. Und ich war ein Gott in ihrem Arm und der Himmel war mir zu dunkel, die Sonne zu kalt. Liebe, Ferdinand, denn Liebe erlös't! Daß wir so tief gesunken sind, daran ist nur der Verlust der wahrhaftigen Liebe in unserm Europa schuld.[15] Der Poesie der Zukunft muß es vorbehalten sein, diese wiederzugeben dem Leben. Auguste hat Recht, wie jedes Weib, das frei und rein ist in seiner unschuldigen Weltanschauung. Ehe man nicht allgemein erkannt hat, daß ohne ein unbedingtes Hingeben an die Natur der Liebe all unser Emancipationsbestreben blos eine Experimentalphysik der Weltgeschichte ist, darf keiner auf einen glücklichen Ausgang hoffen. Die Hoffnung ist überhaupt todt und farblos, nur die Liebe macht stark, ruft auf zur Handlung und schiebt der Zukunft das Polster der Freiheit unter das träumende Haupt. Rege die Hand, Ferdinand, damit Du Theil haben kannst an dem Freudenruf, der sich erheben wird beim ersten Aufblick des heiligen, lang verschlossenen Auges der Träumenden! –«


Ende September.


Gestern erhielt ich Deinen Brief, für den ich Dir eben so herzlich danke, als Dich beglückwünsche. Ich gestehe gern, daß ich Dich für weniger unparteiisch gehalten habe, als Du Dich jetzt zeigst. Es liegt aber grade in diesem Hingerissenwerden zu lauter Anerkennung der Wahrheit das größte Bedürfniß unserer Zeit. Darum gebe ich Dir vollkommen recht, wenn Du sagst: »Der [16] Irrthum Gleichmuth's würde, allein und aus dem Zusammenhange gerissen mit den Freveln seines Jahrhunderts, die unerhörteste Gotteslästerung sein, die je gewagt worden ist. Ein feiger Lügenknecht oder ein bornirter Moralist, den es nie um den Zusammenhang, sondern immer nur um die Thatsache zu thun ist, würde deshalb das Anathema aussprechen über einen solchen Menschen. Ich gestehe, daß mein eignes Bewußtsein mich kaum freisprechen möchte von einem ähnlichen, harten Urtheil, aber ich bin nicht so verwimmert in den Gebrechen meines Standes, daß ich nicht herauslesen könnte, wo hier der Grund zur Schuld und wo die Nothwendigkeit der entsetzlichen Sünde liegt. Nur dies spricht Gleichmuth frei. Er steht da als ein Mittel der Ausgleichung; denn er sündigt für die Sühne der Zukunft und Vergangenheit. Und so nehmen seine Geständnisse durchaus den Rang einer hohen moralischen Lehre ein. In ihnen enthüllen sich leicht und natürlich die Sünden eines Jahrhunderts, das sich im Streben zu leichtsinnig abzuwenden beginnt vom Geiste Christi, weil leider die Masse seiner Stellvertreter keinen Begriff mehr von ihm hat.«

So, lieber Ferdinand, drücke ich Dir von Herzen die Hand. Ich erkenne, daß die Hoffnung noch nicht aufgegeben werden darf. Brächte [17] man nun nur alle oder doch die meisten Deiner Genossen zu derselben Ansicht, so würde Alles gewonnen. Aenderung dieser oder jener Lehre, ein größeres Freigeben des Denkens in religiösen Dingen, und vor Allem ein Anerkennen der Entdeckungen des unparteiisch prüfenden Laien, ist Erhebung und ewige Befestigung des Christenthums.

Nach diesem Beweise Deiner innigsten Theilnahme an meinen Begegnissen theile ich Dir von Neuem mit, was sich hier gestaltet. Das Individuelle nimmt die Form einer Welt an. Zufall und Zusammentreffen von Umständen lassen grade auf meinem Lebenswege eine Formgebung zu, die anderwärts sehr wahrscheinlich eben so entschieden herausgetreten sein würde.

Des blöden Friedrich's Figur tauchte bisher nur in unsichern Umrissen aus dem trüben Chaos auf, das sich um mich her bewegte. Erst Gleichmuth's Manuscript stellte diesen Menschen entschiedener hin, ohne mich doch ihm selbst näher zu bringen. Ich hatte mir vorgenommen, dem Zufalle das Weitere zu überlassen, da grade diese Person mich am wenigsten fesseln konnte. Denn das Passive, selbst wenn es durch die Folgerichtigkeit des Nichtsthuns sich zum Handeln erhebt, hat mich niemals angezogen.

In diesen Tagen nun, durch Auguste's scheue [18] Eröffnungen über Luciens mißliche Lage dazu bewogen, besuchte ich das heitere Mädchen. Von Luciens Vormunde habe ich wol schon einmal gesprochen und seines bigotten Pietismus gedacht. Ich traf den reichen Steinhuder ganz allein. Rechnungsbücher lagen vor ihm, Gebetbücher, Hauspostillen und was sonst noch zur Oekonomie eines Privatfrommen gehört, auf allen Tischen und Stühlen. Abgeschmackte Bilder, die eine Parodie auf die Kunst zu sein schienen, hingen in den prachtvollsten goldenen Rahmen an den Wänden und verunzierten das Zimmer. Diese Verzerrung des Schmerzes und heiliger Andacht zur Carikatur bildete eine stumme Farce, die nur ein so befangener Pietist erbauend finden kann. Jeder wahre Mensch sieht auf den ersten Blick, daß eine solche genothzüchtigte Kunst Product der Unsichttlichkeit des pietistischen Lebens ist. Aber das Volk spürt den Teufel nie!

Steinhuder empfing mich mit einer salbungsvollen Anrede, die ich möglichst abzukürzen suchte. Lucie, im Nebenzimmer beschäftigt, hatte kaum meine Stimme erkannt, als sie in leidenschaftlicher Aufregung die Thür aufriß und laut rufend: »Retten Sie mich! Retten Sie mich!« an meine Brust sank. Ich war überrascht, in Verlegenheit. Ihr warmer Athem berührte mir Lippen, Wange und Stirn. Heftig umschlang sie [19] mich mit den vollen Armen. Ich mußte sie zum Sopha führen.

Noch hatte ich nicht Zeit gehabt, nach der Ursache dieser Scene zu fragen, als Steinhuder bereits geharnischt mit Sprüchen und Verdammungsworten auf mich und das arme Mädchen anrückte. Gott weiß, was er Alles salbaderte, Sinn und Unsinn durch einander, wie's ihm einfiel; erinnern kann ich mich nur noch, daß seine ganze Rede aus Bibelsprüchen zusammengesetzt war. Denn diese geistlosen Menschen glauben jeden Andern damit aus dem Felde schlagen zu können, und bedenken gar nicht, daß der kräftige Mensch nie sich hingibt an eine Autorität, käme sie auch unmittelbar aus dem Munde des geistvollsten Stellvertreters.

Luciens Ermattung dauerte nicht lange. Der fromme Unsinn ihres Vormund's regte ihren Unwillen auf. »Schweigen Sie,« rief sie erzürnt aus und stampfte mit dem zierlichen Füßchen heftig auf den Boden. »Sie sind ein gemeiner Mensch und so albern wie Ihre Traktätchen und neumodischen Heiligen. Ich mag keinen Narren und keinen Frommen zum Manne! Ich will einen Gottlosen, Ihnen zum Trotz, mein Herr Vormund.«

»Daß Dir die Zunge verdorrete!« rief Steinhuder. »Wer sich dem Vater widersetzet, und der [20] Mutter spottet, den werden die Raben am Bache aushacken und –«

»Genug, genug!« fiel Lucie ein. »Bleiben Sie mir vom Leibe mit Ihrem alttestamentlichen Zeter; er rührt mich eben so wenig als Ihr Augenverdrehen. Und kurz und gut, ich will nicht! – Oskar ist mein Geliebter!«

»Oskar ist Einer von denen,« predigte Steinhuder, »die da sitzen bei den Spöttern! Seine Seele wird brennen in dem Pfuhl, wo nicht aufhöret Heulen und Zähnklappen. Denn verdammt ist, wer nicht achtet des Alters und Spott trägt auf seiner Zungenspitz.«

»Sie fallen aus der Rolle, gestrenger Herr Vormund. Ihr Gedächtniß wird löchericht, die besten Bissen, womit Sie Ihre Heiligkeit nähren, fallen durch.«

»Du bist anvertraut meinen Händen, Deine Seele ist befohlen worden meinem Gewissen,« fuhr der Kaufmann fort. »Ich will wachen über Dich, wie die Henne über ihre Küchlein und der Esel über seine Füllen. Darum befehle ich Dir zu gehorchen und abzulassen von dem Scheusal, das einherschleicht, wie ein Engel in Lichtgestalt und doch ist ein Teufel, gehüllt im Pelz der Unschuld. Oskar nennet sich dieses Ungethüm, sein wahrer Name aber ist Legion, das heißt: Teufel ohne Zahl!«

[21] Mir ward drehend. Lucie tobte vor Ungeduld und Zorn gegen sich selbst. Unter ihren Händen lockerte sich das Haar und wiegte sich entfesselt in glänzend schwarzen Locken ohne Zwang auf den Schultern. An der Wand hing eine Reitgerte. Schnell riß sie Lucie herunter, schlug nach dem Spiegel, der ihr ein zornglühendes Gesicht entgegenhielt und klirrend stürzten die Stücke zu Boden.

Da ward die Thür geöffnet und wunderbar sanfte Töne zogen, wie um Friedend bittend, durch das Zimmer.

Auf der Schwelle stand Friedrich mit seiner dämonischen Geige. Das leere Lächeln des Blödsinns dehnte sich gemächlich aus auf seinen markirten, aber geistlos verworrenen Zügen, der zergriffene Filzhut hing nur lose auf dem ungeordneten Haar und der Mensch selbst schien bei seinem Spiel ohne alle Theilnahme zu sein.

Lucie sank schwer aufathmend in's Sopha, Steinhuder aber ging dem Geiger entgegen und führte ihn freundlich herein.

»So recht, spiele was, Friedrich,« redete er den Blöden an. »Es ist zwar keine Gitith des frommen David, die da vertrieb den bösen Geist vom Haupte Sauls, aber eine Geige ist doch ein Saiteninstrument, welches das Herz erquickt, und die Seele still und hungrig macht nach himmlischem [22] Manna. Komm, spiele Deiner Braut einen Psalm vor, ich will Dich begleiten mit Lispeln und Lallen. Denn Harfenspiel und Psalmgesang gefallen Gott wohl.«

Friedrich ließ sich geduldig zu Lucien führen, die ihrerseits ein paar Stühle vor das Sopha schob und sich so gegen einen etwaigen Angriff bestens vertheidigte. Ein Blick ihres schönen Auges rief mich zum Beistande auf. – Kannst Du es glauben, Ferdinand, daß der Pietist diesen blödsinnigen Friedrich alles Ernstes Lucien zum Gatten bestimmt hat? Man könnte lachen über einen solchen Einfall, wäre die Erscheinung nur nicht so betrübend. Diese flach getretene Frömmigkeit erröthet vor nichts mehr. Sie hält für unmittelbare göttliche Eingebung, was scheinbar ihr heilloses Treiben zu fördern verspricht, und es gibt nichts so Abgeschmacktes auf Erden, das ein rechter eingefleischter oder eingeseelter Pietist nicht auszuführen im Stande wäre.

Der blöde Spieler machte dem reichen Steinhuder eine tiefe Referenz. Sinnlichkeit lag nicht in seinen Mienen. Das Auge war gebadet in jener düstern Nebelwelle, die eine sichere Verkündigerin ist des gefangenen Gedankens. Und dennoch funkelte eine Begeisterungsflamme aus diesem getrübten Himmel, wie Meteorgeflimmer, wie unsicheres Umherwanken eines Nordscheines. Es [23] war der letzte Rest der Göttlichkeit, der sich in das trübe Auge rettete, wenn der Ton die Trauerklage in der besaiteten Violine weckt. Friedrich spielte – keine Psalmen, keine Kirchenlieder – nein, Dithyramben, die den Wahnsinn apotheosirten und dem Irrthum nutzloser Werkheiligkeit den Staupbesen gaben. Nackt und blos unter dem gellenden Gelächter des vergnüglichen Pöbels peitschten die Töne aus Friedrichs' Geige die seichte Tugendhaftigkeit durch die Welt, bis sie keuchend niederstürzte und die Menge achtlos über sie hinschritt. –

Ich weiß nicht, ob Friedrich auch nur dunkel eine Ahnung hatte von dem Geiste seines Spieles, doch zweifele ich daran. Und dies ist das Unerforschliche in der menschlichen Seele, daß sie, gemisbraucht und abgestumpft in ihrer vollen Thätigkeit, doch gern das tiefste Vermögen, womit sie begabt von Natur war, auch noch beim Versinken in das Gemeine allein in einen sichern Winkel zu flüchten sucht. Dort baut sie sich an, bildet heimlich und unbewußt an der eigenen Göttlichkeit und wird nicht selten zum Rächer an dem, was die Veranlassung gab zu ihrem Ruin. Thörichte, geistig schwache, verrückte Musiker sind eine gewöhnliche Erscheinung. Es ist dies nichts Zufälliges, sondern eine nothwendige Folge der geistigen Construction eines durchaus musikalischen [24] Menschen. Friedrich nun, glaub' ich, hat nur das ihm ganz und allein Ursprüngliche in den Hintergrund seines Daseins geflüchtet, als Zufälle und Lebensverwickelungen ihm den hellen allgemeinen Glanz des Geistes verhüllten. Der Blödsinn ward zur Ironie in seinem musikalischen Menschen, und wenn dieser geschiedene Gott, der wie auf einem lichten Sterne lebt in der Nacht des übrigen Daseins, sich erhebt; dann weint er die Trauer um den übrigen verlornen Menschen hinaus in die Welt, und scherzt und kos't in tollen Bajazzosprüngen um seinen eigenen Leichnam, ihn bekränzend mit Küssen und Rosen. –

Während des Spiels kam Oskar. Friedrich, ohne sein stereotypes Lächeln zu verändern, drehte sich tanzend mit den knarrenden Theerstiefeln auf der gebohnten Diele. Lucie lag, einen türkischen Schawl über das Gesicht gezogen, auf dem Sopha. Steinhuder mit salbungsvollem Blick und gefalteten Händen brummte den 109 Psalm, dessen Inhalt zu Friedrich's Musik paßte, wie ein Faunentanz zu der Arie »Wie sie so sanft ruhn.« – Käme nun Einer und veranstaltete einen solchen burschikosen Gottesdienst, so schrien alle Heiligen »Wehe!« schleicht sich aber der Schalksnarr der Weltgeschichte hinter die Perücke der Kopfhänger und treibt allerlei seltsame Dinge, so verbietet sich das Zetern von selbst. In solchen Conflicten [25] erblickt man die Gerechtigkeitspflege der Vorsehung, die gern im furchtbarsten Ernste eine spaßhafte Miene annimmt. Möchten doch unsere modernen Dichter dies der Weltpoesie ablauschen, die im Leben offen zu Tage liegt, und deren lebendiger Commentar die fortschreitende Menschheit selbst ist!

Eine kleine Weile sah und hörte Oskar dem tollen Treiben ruhig zu, als dem Gesinge und Getanze aber kein Ende ward, trat er entschlossen zu Steinhuder'n, schlug ihn derb auf die Schulter und sprach: »Treiben Sie keinen Götzendienst und schicken Sie augenblicklich diesen blödsinnigen Geiger fort, oder ich zeige Sie der geistlichen Behörde an.«

Dies half. Steinhuder'n blieb erschrocken der Mund offen, und Friedrich spielte sich tanzend selbst zur Thür hinaus, während er mit unaussprechlicher Vergnüglichkeit hohl in sich hineinlachte. Ich hörte ihn noch auf Treppe, Flur und Straße spielen, und glaube gewiß, er hat die Geige gestrichen bis in seine Wohnung am Hafen.

Lucie, von dem unheimlichen Liebhaber befreit, gab sich jetzt in der ganzen Natürlichkeit ihres Wesens an Oskar hin. Steinhuder aber begann abermals die Litanei seiner Secte abzusingen, schwor beim Wunderthier in der Offenbarung St. [26] Johannis, daß Friedrich Luciens Gatte werden solle und Oskar, als ein ketzerisch gesinnter Freigeist, nie seine Mündel heirathen dürfe. Ermattet von Zorn und Aerger verließ er endlich das Zimmer, und als Lucie alle nur erdenklichen Zärtlichkeiten an Oskar verschwendet hatte, befahl sie ihm kurz und bestimmt, jetzt solle er sich packen.

Diese Launenhaftigkeit ist bei Lucie so hinreißend liebenswürdig, daß sich niemand davon beleidigt fühlt. Ohne dieselbe würde das Mädchen matt, gewöhnlich erscheinen, und nichts Entsetzlicheres für einen Mann von Geist, als eine gewöhnliche Frau! Die Gewöhnlichkeit allein ist in der Liebe unsittlich, denn jede ächte Liebe wird als Kind eines genialen Gedankens geboren. Genialität verträgt immer nur die selbst bestimmte Schranke, wie die Gewöhnlichkeit sich, um leben zu können, anschmiegen muß an die von fremder Hand gezogene. Darum liegt das Moralische und Unmoralische von beiden gerade auf der entgegengesetzten Seite. Natürlich! Von Gott fordert man, was dem Menschen verboten wird, und das Geniale ist das Göttliche im Menschen. –

Oskar und ich mußten dem grillenhaften Mädchen nachgeben. Als ich ihre Hand küssen wollte, schlug sie mir eine sanfte Ohrfeige. »Wol etwa für den tapfern ritterlichen Beistand, den Sie mir [27] geleistet haben während der frommen Bänkelsängerei?« sagte sie. »Wenn Sie wieder kommen, sein Sie anfangs kühner, dann werde ich beim Abschiede zärtlicher sein.« Die Hand war zu weich und warm, ich konnte dem bösen Kinde nicht zürnen, und an der Thür erhaschte ich doch einen Kuß. Zum Fenster herab warf sie eine ganz frisch aufgeblühte Lilie mir in's Gesicht und wollte sich ganz außer Athem lachen, als mir der Blumenstand in's Auge flog, und mich am Sehen und Gehen eine Zeit lang verhinderte. –

Der farbige Herbstabend war mild und warm. Wir lustwandelten durch die Straßen in's Freie hinaus, durch Laubgänge dem Rheine zu. Von Holland herauf war ein Dampfboot angekommen. Der schwarze Rauch zog in dicken Wolkenwirbeln über den Strom hin. Es war mit Passagieren überfüllt, die sich am Zoll drängten und stießen. Unter den Ankömmlingen befanden sich ein paar Mohren, wie es schien, Diener reicher Amerikaner, deren das Schiff Einige in das alte Europa herübergetragen hatte. Wir erkannten sie schon von Ferne an ihrer Tracht, nach der sie Pflanzer vom Missisippi oder irgend einem Nebenflusse dieses Stromes sein mochten. Ehe wir noch den Hafen erreichen konnten, hatten sich die Fremden bereits in die Hotels zerstreut. Die Matrosen erhoben ihren eintönigen, [28] melancholischen Gesang und wogen die Waarenballen aus dem Schiffsraume herauf. Ich stellte mich mit Oskar auf die Brücke und sah dem geschäftigen Treiben in stillem Behagen zu. Als es dunkler wurde, ließ sich Friedrich's Geige wieder hören, die Hafenarbeiter, Schifferknechte und Matrosen begrüßten die willkommenen Töne mit einem Freudenruf, den Friedrich durch jenes unnachahmliche Gelächter beantwortete, vor dem die Majestät des Geistes selbst in ihrer erhabensten Sicherheit noch erschrickt. Der unglückliche Mensch saß wieder auf dem Krahnbalken, baumelte mit den Beinen und spielte Melodieen, als wolle er alles Herzeleid der ganzen Welt darin aufgehen lassen.

»Wie sind Sie doch mit diesem Thörichten in nebenbuhlerische Conflicte gerathen?« fragte ich meinen Begleiter, dem des Blödsinnigen Geigenspiel sichtbar ergriff.

»Das möchte sich schwer beantworten lassen,« versetzte Oskar. Sie kennen den alten Steinhuder und sein pietistisches Närgeln und Kopfhängen. Solche Menschen, selbst halb blödsinnig, haben oft wunderliche Grillen. Steinhuder war mir nie gewogen, weil ich ihm zu freisinnig, zu menschlich, zu modern bin, und sobald er meine Neigung zu Lucie entdeckte, begann er zu intriguiren. Nun muß der Zufall mich noch arm [29] machen, um dem Jämmerlichen eine Stütze für seine Pläne zu geben. Friedrich schien ihm der geeignetste Mensch für seine Mündel. Er läßt sich leiten, zu Allem gebrauchen und so erwählte sich der pietistische Geizhals ihn zum Mann für Lucie.

»Um des Himmels Willen,« rief ich aus, »besitzt denn Friedrich Vermögen!«

»Er ist arm wie eine Kirchenmaus. Das bringt der Pietist jedoch bei seinen sonstigen geistigen Vorzügen, wie er den dummen Glauben des Blödsinnigen nennt, nicht in Anschlag. Wäre ich dem geistigen Narrenthum so verwandt, wie Friedrich, so zweifelte ich gar nicht an meinem Glück.«

»Man könnte vor Lachen sterben,« sprach ich, »wenn eine solche Erscheinung nicht gar zu niederschlagend wäre und die Versunkenheit des Zeitalters wieder von einer neuen Seite dem umsichtigen Geiste näher brächte.«

»Ja wahrlich!« seufzte Oskar, »und gebe der Himmel, daß der Alte Vernunft annimmt, denn bei Gott, erlaubt sich der blöde Narr, in dem bei aller Dummheit zuweilen doch eine gesunde Sinnlichkeit die geistige Schwäche aufhebt, nur eine einzige Freiheit, so ist er meiner gewissesten Rache verfallen!«

[30] »Keine Uebereilung,« bat ich den Heftigen. Friedrich kann Ihnen nicht gefährlich werden.

»Doch, doch!« betheuerte dumpf der Liebende. »Wüßten Sie, was ihn thöricht gemacht hat, Sie würden meine Unruhe mit mir theilen.«

»Erzählen Sie,« bat ich, indem mein Gedächtniß Alles wiederholte, was ich jüngst in Gleichmuth's Biographie über diesen noch so räthselhaften Menschen erfahren hatte. »Sagen Sie mir,« fuhr ich fort, »was Sie von Friedrich's Schicksalen wissen, vielleicht steht es dann auch in meiner Macht, Ihnen Aufschlüsse zu geben und zu Ihrer Beruhigung beizutragen.«

»Guten Abend!« sprach dicht neben uns eine sonore Männerstimme. Die hohe, dunkle Gestalt des Juden im faltigen Kaftan strich wie ein Schatten in der Dämmerung an uns vorüber. Mardochai ging dem Krahne zu, neben dem viele mit dem Dampfboot angekommene Kisten und Ballen standen.

»Kennen Sie diesen?« fragte Oskar.

»Ich glaube genauer, als Sie, und tiefer, als er selbst es ahnt.«

»Dann wenden Sie sich an ihn. Er allein kann die Hülle von Friedrich's blödem Leben ziehen, wenn er Lust dazu hat.«

»Wollen wir ihn aufsuchen?«

[31] »Halten wir uns in seiner Nähe, bis er jene Ballen gezeichnet und in Sicherheit gebracht hat. Es sind neue Handelsartikel vielleicht aus beiden Indien und Gott weiß, woher sonst noch! Sobald er seine Geschäfte beendigt hat, folgen wir ihm auf dem Fuße nach seiner Wohnung. Ich hoffe er wird aufrichtig sein. Mardochai ist kein gewöhnlicher Jude.«

Ich wußte das Letztere genau genug und wartete mit Ungeduld auf das Ende der Besichtigung, die der Jude den Kisten und Ballen mit ungemeiner Sorgfalt zu Theil werden ließ. Die Nacht brach darüber ein, der Strom ward stiller, nur wenige Kähne gauckelten mit ihren weißen Segeln noch über die bewegte Fläche, aus der die Sternbilder dunkel heraufleuchteten. Glockengeläut scholl von Mühlheim her und ward durch den Abendwind verweht. Nur die Klänge aus Friedrich's Geige schluchzten immer lauter, greller, ungestümer, und brachten die Wirkung einer Musik hervor, deren Entstehung sich nicht enträthseln läßt. Dieses Spiel übte eine eben so dämonische Gewalt aus über die gesundesten Sinne, wie etwa ein gespenstisches Heranflattern körperloser Schatten, die ein räthselhaftes Leben in sich tragen.

Mardochai, den orientalischen Kaftan enger um sich zusammenschlagend, trat jetzt den Rückweg [32] an. Er gab mehreren Knechten Befehl, einige der Ballen sogleich in seine Wohnung zu schleifen. Als er uns noch immer an der vorigen Stelle antraf, schien er betroffen zu sein, blieb stehen, grüßte nach orientalischer Weise und sprach: »Die Nacht wird erquickend, da die Jugend sich ihr so lange aussetzt.«

»Ist dies eine so seltene Erscheinung?« entgegnete ich.

»Heut zu Tage gewiß,« erwiederte der Jude. »Wer kann auch wissen, mit welchen Stoffen die Nachtluft geschwängert ist? Vorsicht kann nie schaden, mit Vorsicht läßt sich selbst der Teufel täuschen.«

Er schritt an uns vorüber, da wir ihm aber folgten, mäßigte er die Schnelligkeit seines Ganges und war bemüht ein gleichgültiges Gespräch anzuknüpfen. Grade diese Vorsicht aber machte ihn, vielleicht zum ersten Male, unvorsichtig und brachte uns schnell dem Ziele näher, das wir erreichen wollten. Friedrich geigte noch immer und zwar in so grauenhaft-barocken Tönen, daß sie Mark und Bein, wie galvanische Schläge, durchschütterten. Auch Mardochai mußte so etwas fühlen, er seufzte einigemal tief und sprach endlich: »Der Mensch dort, wer er auch immer sein mag, spielt wie eine vor Gram und Gewissensbissen toll gewordene Seele!«

[33] »Sollten Ihnen diese Melodien so neu, ihr Schöpfer so ganz unbekannt sein?« versetzte ich, gleich ihm die Arme kreuzend und ruhig neben ihm herschreitend.

Mardochai ward zwar durch diese Frage überrascht, wußte dies aber geschickt zu verheimlichen. »Sie wohnen bei dem Particulier Bardeloh?« fragte er mich.

»Seit länger als zwei Monaten. Auch lernte ich während meines Aufenthalts einen gewissen Gleichmuth kennen, mit dem ich genauer bekannt zu werden Gelegenheit hatte. Dieser starke Mensch, der dem Geiste eines noch Stärkeren vor etwa zehn Jahren erlag, hat mir Ereignisse mitgetheilt, die geeignet wären, Himmel und Erde in Trümmer zu schlagen. Ein jüdischer Arzt war dabei im Spiele, ein Virtuos auf der Violine that zugleich mit einem barocken Dichtergenie Bajazzodienste, und jener Virtuos, glaub' ich, ist eine und dieselbe Person mit dem Spieler, dessen wahnwitzige Melodien in dunkler Nacht ihre Silenensprünge machen.«

Mardochai war stehen geblieben. Die Kärner und Träger schleppten die Ballen an uns vorüber. »Schafft sie in mein Haus,« rief er ihnen zu, »ich komme sogleich nach, den Lohn wird Euch meine Tochter auszahlen.«

Seine Tochter! Diese Entdeckung überraschte[34] mich. Als die Träger uns aus dem Gesicht waren, wandte er sich zu mir und fuhr fort: »Haben Sie über eine Stunde in Ihrer Zeit frei zu gebieten?«

»Ich bin Herr meiner Zeit, wie meines Lebens.«

»Dann begleiten Sie mich in mein Haus, falls Ihnen die Wohnung eines Juden nicht zu gering ist. Es dürfte nöthig sein, dem, was Sie erfahren haben, noch einige Worte der Erläuterung beizufügen.«

»Kann uns ein Dritter begleiten?« fragte ich den Rächer des Judenthums.

»Wenn er Mann genug ist, um nicht zu erröthen vor einem nackten Geheimniß.«

Oskar begleitete mich und den Juden, dessen Haus wir in wenig Minuten erreichten. Dunkle Gänge waren überfüllt mit Waarenballen, Kisten und Kasten. Ueberall herrschte Ordnung, aber auch eine öde fröstelnerregende Todtenstille. Ein geräumiges Gemach nahm uns auf, ausgeschmückt mit allen Luxusgegenständen modernen Lebens. Lange, niedrige Ottomanen zogen sich an den Wänden hin, mit purpurrothem Sammet überspannt, persische Teppiche bedeckten den Fußboden. Tische und Stühle waren vom feinsten Mahagony mit schwarzem Ebenholz zierlich ausgelegt. Auf einem derselben vor der Ottomane standen zwei [35] Armleuchter von gediegenem Silber, auf denen weiße Wachskerzen brannten. Das Zimmer war leer, durchduftet von einem angenehm reizenden und das Gemüth erheiternden Wohlgeruche.

Mardochai legte sich nach orientalischer Sitte auf die schwellend weichen Kissen und lud uns ein, ihm zu folgen. »Ich lebe nach den Vorschriften meiner Väter,« sagte er, »und erfreue mich so an dem künstlich geschaffenen Vaterlande der Verheißungen, die der Gott Abraham's seinen Nachkommen gegeben. Dieses Morgenland, das mich hier umgibt, läß manche andere Annehmlichkeiten vergessen. Unsere Nationalität ist hartnäckig und der Einzelne kann sich ihr nicht ganz entziehen, wenn er nicht laut als Apostat geschmäht sein will.« Er schellte, eine fein gefugte Thür öffnete sich und ein Mädchen von höchstens funfzehn Jahren, ächt orientalisch gekleidet, von den edelsten Formen, trat ein, sich vor dem Juden tief verbeugend.

»Sara,« sprach Mardochai, »bringe unsern Gästen Wasser und besorge das Nachtessen.« – Die schöne Jüdin verließ das Zimmer und kehrte sogleich wieder zurück mit einem glänzenden silbernen Waschbecken und feinen Linnen. Sie bot zuerst ihrem Vater das Becken, dieser wiß sie jedoch zurück und mir zu. Obwol ein Feind aller Ceremonien konnte ich doch der reizenden Jüdin [36] den Dienst nicht abschlagen. Ich tauchte die Hand in die krystallene Welle, aus der in zitternder Bewegung Sara's schönes Profil mich ansah. Nach der Abluition dankte ich dem holden Wesen, das in glücklicher Kindlichkeit die ganze Fülle seiner Schönheit meinem prüfenden Auge preis gab. Sara trug ganz die Züge ihres furchtbaren Vaters, nur gemildert durch des Weibes anmuthvolle Grazie und die schuldlose Sanftmuth ihres Alters. Das schwärzeste Haar quoll unter dem blau- und weißseidenen Turban hervor, und legte sich weich und schmeichelnd an den alabasterweißen Nacken. Ohrringe von orientalischen Perlen, eine unheimliche Flamme in sich tragend, schaukelten hin und wieder, wenn sie den Kopf bewegte. Das große, schwarze Auge beschatteten die längsten und zartesten Wimpern, die ich je gesehen hatte, und das feine Lid hob und senkte sich wie eine Wolkenflocke um den Glanz eines schönen Sternes. Gelbe Stiefeln schmiegten sich an den kleinen Fuß und das feine Knöchel, dessen Zartheit durch das weite Beinkleid noch mehr bemerkbar ward, das unter dem reichen Ueberwurf hervorlauschte.

»Hast Du die Lastträger abgelöhnt?« fragte Mardochai, eine lange türkische Pfeife, die neben der Ottomane lehnte, anbrennend.

»Ich bin gehorsam gewesen Deinen Befehlen,« [37] antwortete Sara und verschwand, wie sie gekommen, in der Thür. Ich glaubte in ein Mährchen aus tausend und eine Nacht versetzt zu sein, und hätte bald den Zweck vergessen, der mich in Mardochai's Zauberhöhle führte.

»Während Sara für unsern Körper Sorge trägt,« begann Mardochai, »wollen wir selbst unser geistiges Heil bedenken.« – Er blies weiße Rauchwolken aus seiner Pfeife und legte sich bequem wie ein türkischer Bassa in die Kissen. »Wenn Sie längere Zeit mit Gleichmuth verkehrt haben,« fuhr er fort, »so werden Ihnen auch die frühern Schicksale Friedrich's nicht unbekannt geblieben sein. Vieles freilich weiß Gleichmuth selbst nicht, und ich, der sich nur gezwungen, aus Noth, Politik, Vorsicht, oder wie Sie's sonst nennen mögen, in die Angelegenheiten Fremder mischt, fühle mich jetzt gedrungen, über Friedrich's Zustand ein Wort zu sprechen, um sehr nahe liegenden Verläumdungen vorzubeugen.

Wir lebten vor vielen Jahren in Bonn zusammen, ich als Arzt, Friedrich als Musiker. Gleichmuth, ein Mensch voll Leidenschaft, aber von dem launenhaften Zufall bestimmt, Theolog zu werden, schloß sich eng an uns an. Andere kamen dazu und es bildete sich ein kleiner Kreis, der originell genug war und sobald wol nicht wieder in dieser widerstrebenden Curiosität zusammentreten [38] möchte. Es ward Manches probirt, was der Gemeinheit frevelhaft erscheinen könnte. Wir studirten das Leben der Nationen, den Geist der Religionen und den Ungeist der Culte. Dabei wurden denn Entdeckungen gemacht, die nicht zu den gewöhnlichen gehörten. Auch ohne Streit und heftiges Widersprechen ging es nicht ab. Mancher schied aus, um die besprochene Theorie in die Praxis zu übersetzen, ja ein Narr war so begeistert von den witzigen Einfällen, womit einige gutmüthige Schwachköpfe vor vielen hundert Jahren einmal die Weltgeschichte ergötzten, daß er augenblicklich beschloß, ein Märtyrer zu werden.

Dies Alles gehört indeß wenig zu dem, was ich Ihnen mitzutheilen habe. Eng an mich und Gleichmuth drängte sich Friedrich und ein gewisser Casimir, der seit langer Zeit verschollen ist. Friedrich war mir nächst Gleichmuth der Interessanteste, nicht, weil seine geistige Kraft überwiegend der meinigen sich opponirte, sondern des unwiderstehlichen Hanges wegen nach tiefer religiöser Befriedigung. Es gehört zu meinen geheimen Inclinationen, dasjenige fördern zu helfen, was in irgend eines Menschen Natur sich durcharbeiten will, aber nicht genug eigne Kraft dazu besitzt. Hier trete ich gern mild helfend in's Mittel und suche durch Wort oder That die Schleußen der Natur zu öffnen, um in freiem Strome das Leben [39] sich austummeln zu lassen. Denn Leidenschaft gehört zum wahrhaftigen Leben, und ein irdisches Dasein kann nur dann dem Himmel Bürger erziehen, wenn es sich in Genuß und That selbst zu begreifen sucht. Der Erdenmensch sollte im Stillen zu der Einsicht kommen, daß er in einem gewissen Sinne mächtiger sein könnte als Gott, weil er aufhören darf, in diesem Dasein zu leben, sobald es ihm gefällt, Gott aber gebunden wird an Seine Existenz durch den errungenen Sieg der Unsterblichkeit. In dieser schaffenden Schranke aufgefaßt, könnte man, als Skeptiker, Gott wol den Diener seiner eigenen Unsterblichkeit nennen. Eben darum aber, weil Gott als ein Unsterblicher fertig ist, braucht man ihn nicht zu fürchten. Nur das Werdende bringt Gefahr, ist aufgelegt zu Revolutionen und muß daher unterstützt werden im Entfalten, nicht im Vollenden.

Nach diesem Grundsatze, der bloß ein Ergebniß meiner naturhistorischen Studien war, indem ich diese nicht als todte Sache, sondern als ein großes Leben behandelte, dessen Seelenregungen ich belauschen wollte am Tact ihres Pulses, am Tritt und Klang ihres ewigen Schaffens, suchte ich auch das Leben Anderer psychisch zu durchfühlen. Ich trieb angewandte Psychologie, wie man angewandte Mathematik lehrt. Die[40] Menschheit war das große Rechenexempel, an dem ich den Witz der Schöpfung oft zu Tode zu hetzen Lust verspürte, und der Mensch selbst diente mir zum Magister Matheseos.

Nun fanden sich grade in Gleichmuth und Friedrich zwei Individuen zusammen, die in ihrer natürlichen Opposition meine Experimentirlust reizten. Beide wurden getragen von schwärmerischer Leidenschaftlichkeit. Sie beherbergten viel europäische Poesie in sich, die aber in Keinem zu rechter Reife gedeihen konnte. Das erbarmte mich. Tyrannisch in die Brust eines Andern zu greifen und ihm zu sagen: das steckt in Dir, Mensch! diese Verfahrungsart liebe ich nicht. Semiotik war von jeher mit Eifer von mir betrieben worden, und psychische Semiotik blieb nun gar meine specielle Liebhaberei. Ich spürte bald, woran es beiden gebrach. Sie hatten sich mit der Vorsehung schon in der Wiege überworfen. Das mußte ausgeglichen und wieder ins Gleichgewicht gebracht werden. Ich that, was mir – als Arzt – oblag, und Beide gestanden mir, daß sie sich wohl befänden bei den diätetischen Verhaltungsregeln, die ich ihnen anrieth, und die, bei Moses und den Propheten! nicht gar sehr streng waren. Gleichmuth kam früher zum Ziele, als Friedrich, und da ich voraussetzen kann, daß sie ziemlich genau bekannt sind mit Gleichmuth's Lebensbekehrung, [41] so halte ich mich hier blos an Friedrich und sein Schicksal.«

Sara's Eintritt unterbrach hier Mardochai's Erzählung und gab mir Raum, die Gefühle wieder in wohlgezogene Ordnung zu stellen. Denn Du wirst es natürlich finden, daß jede unverdorbene Faser meines tiefsten Menschen in aufrührerische Bewegung gerieth bei der Erzählung dieses göttlich-dämonischen Juden. Es gehörte diese Schlauheit, diese Ruhe, diese fein nüancirte Ueberredungskunst dazu, um einen zwar leidenschaftlichen, aber geistig so hell sehenden Menschen, wie Gleichmuth ist, so consequent zu bethören. Mardochai ist wahrlich ein Gott in der Rache, und gibt es Belohnungen, Kronen für solche Thaten, so muß sie alle dieses Juden Scheitel einst schmücken. Als Sara den Tisch gedeckt und sich wieder entfernt hatte, fuhr unser Gastfreund fort:

»Friedrich betrieb, wie schon gesagt, die Musik, und zwar mit Talent und Glück. Musikalische Naturen sind immer in einem gewissen Sinne von schwärmerischer Gemüthsart, und wird dies nicht immer sichtbar, so liegt es blos an der Nichterweckung der Schwärmerei. Sie schläft in jedem Musiker, und es sollte mir, wollte ich meine Experimentirübungen fortsetzen, nicht gar schwer fallen, Diesen und Jenen zu einen vollendeten [42] Schwärmer zu erziehen. Ein Musiker ist selten ungläubig, meist abergläubig, zuweilen auch Beides. Nichts leichter nun für einen psychisch gewandten Arzt, als den Unglauben durch langsames Aufrollen des Aberglaubens zu erdrücken. Friedrich glaubte an nichts, als an die Göttlichkeit der Musik, doch konnte er meinen tieferen Blick nicht täuschen. Ich bemerkte, daß die Göttlichkeit seinereigenen Musik in der Mystik religiöser Ahnungen ruhe. Dies war mir genug; ich wartete nur auf die günstige Stunde, um ihm dies selbst fühlen zu lassen.

Sie kam, als unerwartet ein katholischer Jüngling aus unserm Kreise schied, um Mönch zu werden. Friedrich erstaunte, war tief ergriffen und schrieb auf der Stelle eine Messe, in der eine unendliche Mystik die wehmüthige Ahnung seiner eigenen Seele an meinen klaren Verstand verrieth. Als er mir diese Töne vorspielte auf seiner Violine, mit jener Begeisterung künstlerischen Aufgehens in der eigenen Schöpfung, klopfte ich dem Virtuosen auf die Schulter und sagte: ›Friedrich, das ist Dein Fach! Du mußt ein christlicher Componist werden. Schreibe, wenn ich Dir rathen darf, Messen, Cantaten – schreibe musikalische Seelenmessen; doch laß immerhin ein wenig frivoles Weltgetümmel hineinschreien in Deine [43] Melodien. Das wird Dich erst recht belehren, wie Du so ganz zur Kirchenmusik geboren bist.‹

Friedrich's Auge glänzte in Begeisterung, er sah lange Zeit prüfend in das meinige, sank dann an meine Brust und rief aus: ›Du hast immer Recht, Mardochai, man muß Dir gehorchen, ohne es zu wollen. So waltet Gott über seiner Schöpfung, und bedürfte er eines Stellvertreters, Du könntest ihm vorgeschlagen werden. Schade daß Du ein Jude bist!‹ – Es war Schade, ich muß Friedrichen noch jetzt Recht geben, aber es war auch gut. Der Jude eben befähigte mich, der Versuchung zu entgehen, die mir Friedrich's zu wohlwollende Güte zudachte.

Zu jener Zeit lebte ein wohlhabender, aber schwachköpfiger Mann in der Nähe Bonn's, der zuweilen auch mich besuchte. Dieser Mann, schon bejahrt, ward von der jüngeren Männerwelt seiner religiösen Einbildungen wegen gewöhnlich nur der ›veilchenblaue Engelhüter‹ genannt; denn er behauptete mit unerschütterlicher Festigkeit, alle Engel trügen im Himmel veilchenblaue Roben mit rosarothen Bändern, und ein ehrwürdiger Greis in weißen Strümpfen mit gelben Zwickeln führe sie früh und abends durch den Himmel spaziren. Es war mir nun zwar ziemlich gleichgiltig, was der Mann von sich hielt und den Amusements in seinem Himmel, nur durch Friedrich's Aufmerken [44] ward er mir interessant und sogar bedeutsam. Sie wissen, Christus ritt unter dem Jauchzen des Volkes, von Palmzweigen umweht, über ausgebreitete Teppiche auf einer Eselin in Jerusalem ein, um ein paar Tage später gekreuzigt zu werden von meinen harthörigen Vorfahren, warum sollte denn nicht ein moderner Virtuos an der Hand eines Pietisten dem Ziele seines Lebens entgegengehen?

Jener Mann hieß Steinhuder und hatte Geld die Fülle.«

»Steinhuder!« rief ich und Oskar zu gleicher Zeit.

»Sie haben richtig gehört,« fuhr Mardochai ruhig fort. »Der Mann ging und kam; ich vermochte Friedrichen, sich mit ihm zu unterhalten – denn Steinhuder sprach nur himmlische Dinge, und diese auch in himmlischer Weise. Bald fand Friedrich Gefallen an diesem Umgang, wie ich bestimmt glaube, weil er durch jene mystisch-dunklen Gespräche eine Begeisterung in sich aufflammen sah, die seine musikalisch schöpferische Natur zu bisher ihm unbekannten Tongebilden hintrieb. Musik will an andern Gegenständen groß gezogen werden, als die Poesie. Ein in Knechtschaft ergebenes Gemüth wird musikalisch Größeres schaffen, als die Freiheitsbegeisterung eines radikalen Republikaners.

[45] Von jetzt an componirte Friedrich die herrnhutisch mystischen Lieder des Grafen von Zinzendorf, das Monstrum aller religiösen Geschmacklosigkeit, die lächerlich-ekelhafte ›Wundenlitanei‹ und andere in ihrer Manie heilig sein zu wollen profan und frivol gewordene Gesänge z.B. ›den Seelenbräutigam.‹ Gewissenhaft theilte er mir diese Compositionen mit, und ich lobte oder tadelte seine Producte, je nachdem ich es nöthig fand. Dabei unterließ ich nie, den Virtuosen consequent fortzustoßen auf seinem Pfade, der ihm angewiesen war von der Vorsehung oder – wenn Sie wollen – von dem Zorne des Himmels. Friedrich gehorchte. Sein Gemüth erschloß sich in jener Thränenfluth, die eine misverstandene Sentimentalität in überreicher Fülle über die Erde ausgießt. Er besuchte die Versammlungen der Frommen, bei denen der reiche Steinhuder präsidirte. Die Gesangstücke wurden von Friedrichen componirt, genial-barock, mystisch-verrückt, aber mir zu unendlicher Freude! – Bleiben Sie ruhig, meine Herren, das Ende wird Ihnen die Gerechtigkeit meiner Freude schon erklären.

Während dieses allmähligen Uebertretens zum Pietismus von Seiten Friedrich's ward Gleichmuth durch ein Hineinstürzen und leidenschaftliches Durchtoben seiner Lebensphasen der Vollendung entgegengerissen. Ich konnte nur mattherzig [46] wirkend eingreifen, um ihn zu verhindern an gänzlichem Abschluß. Dazu bedurfte ich einer kleinen Charlatanerie. Friedrich mußte thätig dabei sein, bereute aber später seine Theilnahme und legte nun seine schmerzerfüllte Seele in einen Zuckerguß von pietistischer Frömmelei zur Ruhe. Ich hatte hier abermals hindernd eingreifen können, aber ich wollte nicht. Dieser Lebenslauf war Friedrich's psychische Bestimmung. Nur zur Rundung mußte ich noch Hand anlegen, und so weit meine Kräfte reichten, war ich nicht müßig. Steinhuder ward meinem Geiste zinsbar durch seinen Ungeist. Ich pfändete ihn aus, wenn er mit Friedrich nicht gebahrte, wie seine Natur es verlangte, und – Steinhuder fürchtete in mir – den Juden. –

So kleidete sich Friedrich immer tiefer ein in die Harlekinsjacke einer Frömmelei, die halb aus protestantischen Dogmenflittern, halb aus katholischer Mystik zusammengesetzt war. Sein Gemüth sank zusammen, wie ein übergangener Mehlteig auf einem heißen Ofen, er ward etwas beschränkt, schwerfällig von Begriffen, aber eminent und erhaben in Stegreifcompositionen auf der Violine. Als er ein vollendeter Dummkopf geworden, als seine Seele brach lag auf dem Acker der Weisheit und stiller Forschung; da befahl ich Steinhuder'n, er solle diesen durch seine [47] potenzirte Religiosität verpfuschten Bürger der Erde ernähren, und ich ließ mir von ihm einige tausend harte Thaler geben, um mit ihrer Hilfe für die Erlösung Israels zu arbeiten nach meiner Weise.

So ward Friedrich blödsinnig. Heilig allein und göttlich unverfälscht blieb in ihm nur die Musik. Unbewußt schafft jetzt der Genius derselben in wilden Inprovisationen, was kein Sectengeist tödten, aber wol zu sündhafter Aufreizung anspornen kann. Friedrich spielt die originellsten Parodien auf die mystische Composition seiner Wundenlitanei, und ich sporne ihn an zu immer heller aufjauchzendem Frevelspiel, weil anders für Euch und mich keine Rettung ist.«

Hier wurde der kalte Erzähler durch den Eintritt eines Dieners, der die Abendmahlzeit auftrug, unterbrochen. Sara folgte, Mardochai ließ das Thema fallen, änderte seine ganze Redeweise und ward der heiterste Wirth. Er erzählte artige Scherze aus seinem Leben als Handelsmann, Verwechselungen und Täuschungen, wie sie ihm wiederholt auf Reisen begegnet waren. Ein feiner Humor, der nur leise, aber doch treffend die bedeutendsten Fragen der Zeit berührte, würzte das Mahl. Der Ernst schien aus des Juden Gesicht völlig gewichen zu sein, und wer ihn zum ersten Male in solcher Umgebung gesehen [48] hätte, würde ihn eher für einen sanguinisch vergnüglichen Lebemann gehalten, als jenen vernichtenden Feind des gäng und geben christlichen Denkens in ihm entdeckt haben.

Mit seiner schönen Tochter scherzte und neckte er sich mit liebenswürdiger Schalkhaftigkeit. Und Sara war auch in der That so zurückhaltend launig, so lockend verführerisch, daß wol selbst ein Vater, der so hohe Zwecke in seinem Handeln verfolgte, wie Mardochai, von dem Liebreiz des schönen Geschöpfes hingerissen und dem tödtenden Ernst des täglichen Strebens entzogen werden konnte.

Es wunderte mich, daß die Speisen streng nach den Vorschriften des Mosaismus bereitet waren. Aus Gleichmuth's Lebensgeschichte hätte ich in Mardochai eher einen Verächter so nichts sagender Regeln gesucht. Der Jude mußte, gewöhnt an ein schlaues Durchforschen aller Begegnenden, etwas Aehnliches in mir argwöhnen, denn schnell sich zu mir wendend, sprach er: »Sie wundern sich wahrscheinlich, daß ich streng an dem Gesetz meiner Väter halte und es doch keineswegs verachte, in Dingen des Luxus der neuesten Zeit große Opfer zu bringen. Es ist dies nöthig, weil wir in Europa sind. Der Ekel an dem, was anbrüchig ist in dieser Zeit und Welt, treibt uns wider Willen entweder zu gänzlicher [49] Entsagung oder zu einer scheinbaren Verehrung. Da jene oft zweckwidrig bleibt, so hält man sich an diese. Ich befolge das Gesetz meiner Väter, nicht weil ich es für untrüglich halte, sondern dem Zwecke zu Liebe, den ich damit verknüpfe, und dieser ist groß und heilig! – Aber wozu solch' Geschwätz? – Lassen Sie sich's wohl schmecken bei einem Juden, und Du Sara, unterhalte die Herren mit Deinen Künsten.«

Sara stand lächelnd auf. Mit einer graziösen Verbeugung, noch gehoben durch die naive Verschämtheit, die sie begleitete, schlüpfte das reizende Kind fort und verschwand hinter einem Vorhang von schwerer grüner Seide. Bald darauf rauschte die Hülle zurück, Sara ruhte nach orientalischer Sitte in der anmuthigsten Stellung auf einem Divan von himmelblauem Sammet, über dem eine weiße Marmorbüste aus der Wand ragte. Sie schien mir Aehnlichkeit mit Moses zu haben, wie er gewöhnlich abgebildet wird. Von oben herab fiel ein blendendes Licht auf die schöne Gestalt. Sara hielt eine Zither im Arm, und spielte und sang mit gleicher Geschicklichkeit ein sanftes Lied. Als sie geendigt, sprach Mardochai: »Nicht diese melancholischen Klänge unsern werthen Gästen! Etwas Heiteres, Lustiges, und zeige, daß Du auch geübt bist in der Kunst, den Körper melodisch zu bewegen, wenn Harmonieen [50] die Luft in den vollsten Schwingungen erbeben machen.« Die schöne Jüdin schlug scherzhaftere Klänge an, ihr schlanker und doch üppig gerundeter Körper erhob sich, je mehr die Töne anschwollen, zu Lust und Scherz. Bald jubelte eine ausgelassene Freude aus den Saiten der Zither, und Sara schwebte mit Silphydenleichtigkeit nach dem Tact des Spieles in dem schimmernden Boudoir, wie eine körperlose Erscheinung umher. Auf einen Wink Mardochai's fiel der Vorhang wieder zusammen und das überraschende Intermezzo war vorüber. Sara kam wieder zur Tafel. Sie reichte eingemachte Früchte umher. Das Echauffement hatte ihre Schönheit mehr gehoben. Ich suchte ihren Blick aufzufangen, Sara unternahm ein ähnliches Manöver, und das kurze Vorpostengefecht, das sich bei diesem Wollen und Nichtsollen zwischen unsern recognoscirenden Blicken entspann, war ganz dazu geeignet, uns beide in eine bedenklich glückliche Lage zu versetzen. Sara hatte alle Leidenschaftlichkeit geerbt von ihrem Vater, und nur die empfindliche Eitelkeit ihres Geschlechtes von der Natur noch mit in den Kauf bekommen. Sie erröthete, begann zu zittern und verschüttete die Süßigkeiten, als sie mir die geschliffene Krystallschale reichen wollte und zufällig dabei meine Hand berührte.

»Du kannst uns nun verlassen, Sara,« sprach [51] Mardochai, dessen Blicke basiliskenartig Alles durchspähten. Sara gehorchte, sie schied mit einer Verbeugung, die schönen Hände auf dem Busen kreuzend. Ich folgte ihr mit den Augen. An der Thür wandte sie sich, Mardochai sprach mit Oskar, schnell warf mir das schöne Kind des Morgenlandes ein paar Kußhändchen zu und schlüpfte geräuschlos in das anstoßende Gemach. Da stand Mardochai auf und sprach laut zu Oskar. »Kommen Sie und überzeugen Sie sich, wie elend sich ein Jude behelfen muß, um sein Leben zu fristen, weil Ihr Christen immer noch kein Gehör habt für eine gänzliche Emancipation des unglücklichen Volkes.«

Mardochai ergriff einen der silbernen Armleuchter und führte uns durch lange, schmale Gänge und Gewölbe in ein Hinterzimmer. Hier standen die neu angekommenen Kisten. Die Fenster waren dicht verschlossen, so daß kein Lichtstrahl hereinfallen konnte in dieses verborgene Gemach. Rings an den Wänden hingen eine Unzahl zierlich geschnitzter Kreuze und elfenbeinerner Kruzifixe. Auch lange Tafeln waren damit bedeckt, Heiligenbilder, wie sie noch immer in katholischen Ländern von den niedern Volksklassen gern gekauft werden, lagen in hohen Stößen aufgeschichtet am Boden. Viele waren schlecht auf ganz gemeines Fensterglas gemalt, andere roh in [52] Cedernholz geschnitzt. Doch gab es auch Arbeiten von sauberster Feinheit, die wahrhaftigen Kunstwerth hatten.

Des Juden Gestalt schien sich zu heben, sobald die Thür hinter uns in's Schloß gefallen war. Er zündete mehrere Wandleuchter an, die ich ihrer Form nach für Türkenköpfe mit Turbanen umwunden hielt und den Wachskerzen zu Dillen dienten. Als nun ein magischer Lichtglanz das Zimmer erfüllte, schritt der Jude wie ein zürnender Gott durch die Reihen der Kisten und Ballen, die theils offen, theils verschlossen, den Raum des Gemaches erfüllten.

»Mit solchem elenden Schacher muß sich ein verachteter Jude behelfen,« sagte Mardochai, seine hohe Gestalt stolz aufrichtend in dem schimmernden, weißen Seidentalar, den er vor der Mahlzeit angelegt hatte. Er stand da gleich einem Hohenpriester Israels zur Zeit seines Glanzes. »Ich will doch sehen, was mir da meine Handelsfreunde zugesendet haben.«

Ein kleiner Hammer öffnete eine der Kisten mit wenig Schlägen. Wohlriechende Körner rollten am Boden. Der Duft frischer Myrrhen erfüllte das Zimmer mit süßem, betäubendem Aroma.

»Wohl bedient,« sagte Mardochai, die Körner sammelnd und sie behutsam in eine silberne [53] Schale legend. »Man muß vorsichtig mit so edlem Gut umgehen, denn wer kann wissen, ob nicht jedes dieser verdampfenden Körner eine Seele mehr hinaufkräuseln hilft zum Himmel, der minder casuistisch gesinnt ist, als die Erde.«

Die dunklen Worte lagen wie Blei auf mir, meine Zunge war gebunden, Oskar lehnte, einer Marmorgestalt gleich, an der Thür.

»Sie glauben nicht,« fuhr Mardochai fort, indem er eine zweite Kiste besichtigte, »wie gesucht meine Artikel sind. ›Der wunderliche Jude, der alle Jahre eine Reise durch Deutschland und Frankreich macht,‹ sagt man fern und nah, ›hat doch eine recht lobenswerthe Anhänglichkeit an Alles, was nur irgend dem kirchlichen Leben förderlich sein kann. Ein Wort schon genügt, und man wird versorgt, nicht direct, aber doch immer durch seine Verwendung. Der gute Mann muß recht unglücklich sein, daß ein jüdisches Kleid seine Glieder umfließt. Sein Blick ist so sanft melancholisch, sein Gesicht so bleich. Und doch bleibt er immer derselbe, immer ruhig, heiter, gefällig, ohne gehorsamst zu danken oder den Hut zu ziehen.‹ – So, meine Herren, spricht man von mir, und, ich meine, mit einigem Recht. Denn das Bischen Wohlstand, was ich mir zusammengehandelt, verdanke ich blos dem Geschäft, auf das mich ein glücklicher Gedanke[54] führte. Ohne übrigens Rücksicht zu nehmen auf den reellen Profit, sehe ich darin auch einen ideellen. Das Christenthum profitirt von dem Judenthum ein Stück geistiger Force, und das Judenthum vom Christenthum mehr klingengen Halt. So bildet sich zwischen beiden eine recht lustige Harmonie aus, die gar nicht zu verachten ist. Ein speculativer Kerl geht nie zu Grunde, wär's auch nur ein armer jüdischer Arzt, der als Mann der Wissenschaft nicht bestehen konnte, weil er seinen Appetit nicht ganz emancipiren wollte und der Humor ihm deshalb Bauchgrimmen verursachte. Der Zufall ist witzig, meine Herren, und mich hat mein Nichtappetit wohlhabend gemacht, doch bei Gott, nicht zu meinem eigenen Nutzen! Es gilt, Größeres zu vollbringen.«

Den Hammerschlägen hatte sich die Kiste geöffnet. Eine feine Substanz, von durchsichtiger Weiße, fiel über die Ränder heraus. »Halt,« sprach Mardochai und sein Gesicht zuckte zusammen in einer Mischung diabolischer Schadenfreude und schluchzender Wehmuth, »Halt! daß nichts verloren geht von dieser gebleichten Körperlichkeit.«

Ich riß die Augen weit auf, Mardochai's Blick begegnete dem meinigen, sein Auge glänzte und glühte, er griff mit der ringgeschmückten Hand in die feine Substanz und bestreute mir mit dem Mehlstaube das Haupthaar. »So,« [55] sagte er, »ich sollte meinen, eine Decke solchen Staubes müßte für jeden etwaigen revolutionären Gedanken ein undurchdringlicher Panzer sein.« – »Ich für mein Theil,« fuhr er fort, »habe dabei nur gelernt, wie leicht es ist, mildthätig zu werden, wenn der Geist der Speculation gewaltiger ist, als das Gewissen, oder der stille Groll eines tief verwundeten Volksherzens heftiger klopft, als das Rauschen der Gerechtigkeit, deren Zähne beim Kusse sich verbissen haben in die tönende Schaale! Mardochai, meine Herren, möchte gern Mensch sein, und das fällt ihm schwer! Darum wünsche ich Ihnen eine gute Nacht.« –

Unter den letzten Worten hatte er eine verborgene Thür geöffnet. Die kühle Nachtluft wehte herein. Auf den Köpfen, die sich wie jammernd hervorbäumten aus dem Wandgetäfel, und deren Turbane ich jetzt erst für Dornenkronen erkannte, stammten die hellen Kerzen. Das Wachs rann herab über sie und bohrte sich ein in die Augenhöhlen des größten Propheten. – Mein Herz schwoll auf in furchtbarem Zorn. Ich erhob die Hand, um einen heftigen Schlag gegen den Entsetzlichen zu führen, allein Mardochai war gefaßt auf Alles. Ein rasch geführter Stoß mit dem Hammer lähmte meinen Arm, der Luftzug blies die Kerzen aus, nur der weißseidene Talar des Juden flatterte gespenstisch in der dunklen Kammer. [56] Er stieß uns hinaus in's Freie und rasselnd schlug die Thüre hinter uns zu. Ich glaubte ein dämonisches Gelächter zu hören, dann ein tiefes wehklagendes Schluchzen. Doch hatte ich mich wahrscheinlich geirrt. Der Nachtwind murrte um die Giebel und das Schluchzen hallte herüber vom nahen Rhein, dessen eilende Wellen sich an den Kielen der Schiffe brachen.

Die halbe Nacht irrte ich mit Oskar, dessen ganze Seelenkraft gebrochen war, in der Stadt, am Ufer des Stromes und den einsamen Spaziergängen umher. – Ja ich seh' es, daß Gleichmuth in seinen Ahnungen mit Friedrich nahe zum Ziele getroffen hat. Mardochai ist ein Teufel unter den Göttern und ein Gott unter den Teufeln. Wer aber mag den ersten Stein aufheben gegen ihn und wer es wagen, zu sprechen: Du allein bist der Verworfene? Mardochai ist so gut, wie wir Alle, ein Kind der Nothwendigkeit. So gut es Christen gibt, die sich abwenden möchten vom Dienst, den Worte gebieten, weil blos ein finsterer Schatten den Ort bezeichnet, wo einst der wahrhaft hehre Tempel der Heiligung sich zum Himmel erhob, warum sollten sich nicht eben so gut Juden finden dürfen, die im Herzen ledig und baar ihres Mosaismus, blos durch die Schmach der Gegenwart noch zu erheucheltem Festhalten an das Gesetz gezwungen werden? Starre Juden [57] sind schon fertige christliche Proselyten. Wollten wir nur das unglückliche Volk emancipiren, so pfropften wir frische Reiser auf den welkenden Baum der Religiosität, und ein neuer, reinheiliger Geist würde die absterbende Masse wieder beseelen. Aber die solide Bequemlichkeit der Privilegirten mag nichts davon wissen. Und hätte Pilatus hundert Leben, und könnte mit tausend Stimmen fragen, er würde laufen müssen durch die ganze Welt bis zum jüngsten Tage ohne Antwort zu erhalten auf seine Frage: »Was ist Wahrheit?«

Es ergeht mir, wie Jedem mit diesem Juden. Ich hasse ihn grimmig und liebe ihn doch mit erschütternder Wehmuth. Ein Mensch wie Mardochai kann nicht Jude sein und darf nicht Christ werden. Er hat zu viel Göttliches neben dem Dämonischen in sich. Das bloße Menschenthum aber kann nicht genügen, weil es den heiligen Glanz verloren hat im Umhertoben der Geschichte. Es trägt nur noch den Kampfrock, bespritzt mit Blut und Staub, zerfetzt vom Getümmel der Schlacht. Das Menschenthum wird erst dann an die Stelle des Christenthums treten dürfen, wenn dieses zurückgekehrt ist zu seiner ursprünglichen Reinheit und in seine Lehren die Sätze aufgenommen hat, die ein zweitausendjähriger [58] Fortschritt der Geschichte unbeachtet in das Gedenkbuch des Himmels eintrug. –

Ob dies möglich ist auf europäischem Boden wie er jetzt sich gestaltet hat? – Nein, Ferdinand! Glaube an Gott, an Christum, Glaube an die Allmacht der Liebe und Erlösung, an diesen Wahn aber glaube nicht! Europa wird durch den Schmerz, den es fühlt über seine verlorene Ewigkeit und Freiheit, beitragen zur Schöpfung einer neuen, aber nur der Schleppenträger dieser Freiheit und Religion wird es sein, nicht ihr eigenster Besitzer. Und diese Freiheit ist die Freiheit von Leben und Gedanken, und diese Religion nennt sich die Religion der Humanität! Sie beide aber bringt nicht die Morgenröthe, sondern nur der duftige, warme Glanz des Westens, der die Lippe der Atlantis bewegt und tönen macht das noch ungeahnte Lied einer freien Religion und einer religiösen Freiheit – vielleicht aber auch ein neuer Stern, der mit hellem Licht bestrahlt die Trümmer der alten Burg Zion im Lande Palästina! –

12. An Ferdinand
[59] 12.
An Ferdinand.

Köln, Ende October.


Ungeachtet Deiner Verstimmung fahre ich doch von Zeit zu Zeit fort in meinen Berichten. Du hältst noch zu sehr an dem Herkömmlichen und bist furchtsam, wo Du muthig sein solltest. Grade wie es jetzt hergeht in der Welt, hat ein recht frischer Muth nichts zu fürchten. Die Hoffnung auf das Gelingen hält das zagende Herz immer aufrecht und läßt es die schweren Stunden des Kampfes vergessen. So wenigstens fühle ich, seit der Wille der Vorsehung mich in diese Wirren gestellt hat. Ich finde, daß am Ende kein Zustand völlig unerträglich werden kann, mag man sich nur im Geiste eine Aussicht in die Zukunft frei erhalten. Das ist freilich unklug gesprochen, aber die unbewußte Politik des Menschenherzens drängt früher oder später jeden Einzelnen dazu hin. Ich gehöre gewiß nicht unter die Mattherzigen, aber das immerwährende Hereinbrechen zerstörender Lebensstürme hat mich abgehärtet [60] und seit einiger Zeit mit größerer Besonnenheit dem Ziele entgegenstreben lassen.Was ich will, ist mir klar, das Wie? kann allein von den Verhältnissen bestimmt werden.

Seit meinem näheren Zusammentreffen mit Mardochai haben sich die Dinge hier fortgeschoben in dem breiten Gleis der Gewöhnlichkeit. Ein unaufmerksamer Beobachter würde nichts Auffallendes entdecken, mein Auge ist jedoch für die geheimen Lebensregungen geschärft worden, und so kann ich aus dem stillen Fortschieben der Tage eine nahende Krisis herauslesen.

Bardeloh kommt wenig aus. Er arbeitet viel, wie er mir sagt, an seinem Testamente. Dieser Ausdruck möchte wol schwerlich in dem gewöhnlichen Sinne zu verstehen sein; er schreibt an der Gestaltung der Welt, wie sein ungestümer Geist diese sich in der Zukunft denkt. Niemand darf ihn stören, selbst seine Gattin nicht, die ein wahrhaft kummervolles Leben führt. Felix nur hält das beklagenswerthe Weib aufrecht und beglückt es auf Augenblicke. Warum mußte doch grade Rosalie die Frau dieses Mannes werden! Sie wär glücklich gewesen außer der Ehe.

Eduard oder Bonifacius hat dann und wann eine Art lichter Augenblicke. Ich besuche ihn öfters und weiß man ihn zu behandeln, so ist es nicht eben schwer mit ihm zu verkehren. Nur [61] einzelner Worte darf man sich nicht bedienen, sonst kommt der Geist des Irrsinns mit Furienwuth über ihn und das Leben eines Jeden ist dann gefährdet. Diese Worte sind »Kloster,« »Liebe,« »Gelöbniß,« »Priestereid,« »Mönch« und der Name »Gleichmuth.« – Eine Zeit lang machte mich dieser Abscheu gegen den nicht minder unglücklichen Pastor unmuthig, da ich von ganzem Herzen eine Confrontation dieser beiden Menschen zu bewerkstelligen wünschte. Mich trieb nicht Neugier dazu, sondern eine Art Instinct, der mich erwarten ließ, ein plötzliches Sehen derjenigen Person, die den Armen vermocht hatte, das unselige Gelübde zu thun, werde wie eine heilsame Medicin auf den Irren wirken. Ein unerwarteter Schreck kann bei Geisteskranken Wunder thun, und grade Bonifacius schien mir seiner ganzen Natur nach geeignet, durch ein solches Mittel allein den Gebrauch seines Verstandes wieder zu erlangen. Die Gelegenheit blieb lange ungünstig, Gleichmuth begierig auf die Lösung meines gegebenen Wortes, bestürmte mich jedoch täglich, ihn der Ungewißheit zu entreissen und ich wagte endlich einen Versuch. Zuvor unterrichtete ich Bardeloh von meinem Plane und schlug vor, auch Casimir Theil nehmen zu lassen an der Erkennungsscene. Mein Gastfreund war es zufrieden und Tag und Stunde wurden festgesetzt.

[62] Du wirst Dich vielleicht wundern, daß ich hier von einer Confrontation zweier Menschen spreche, die sich schon vor längerer Zeit begegnet sind. Du magst aber nur bedenken, daß jene Begegnung zu einer Zeit sich zutrug, wo Gleichmuth wenig Acht darauf hatte und Eduard durch die lange Kerkerhaft und seine furchtbaren Seelenleiden jede frühere Aehnlichkeit gänzlich verloren hatte. Jetzt verliehen ihm Ruhe und liebevolle Behandlung wieder ein menschliches Aussehen, und ein prüfendes Auge mag wol sogar einige Aehnlichkeit mit Bardeloh in ihm entdecken, auch ohne jenes furchtbare Muttermal dabei zu Rathe zu ziehen.

Es war ein heiterer Abend, die Sonne beschien warm und malerisch die alten grauen Thürme und Giebeldächer. Aus dem Garten, in den die Fenster von Eduards Zimmer hinabsehen, stieg Blumenduft in die Atmosphäre auf. Der Mönch war ganz heiter, sein Auge bekam Leben und Licht, die Angst der Seele schien gänzlich von ihm gewichen zu sein. Guter Hoffnung voll holte ich Gleichmuth ab, der täglich siecher wird und mir ängstlicher Hast an seiner Geschichte der Heiligen arbeitet. Bardeloh war bereit; in seinem fast Jedermann verschlossenen Cabinet fanden wir bereits den dramatischen Dichter und den heitern Felix.

[63] Casimir ist nach seiner Weise zufrieden. Er schreibt an einem neuen wunderlichen Werke, lebt dabei ganz nach Belieben, cynisch, wie's ihm recht ist, und kann seinen Unmuth ungestört auslassen. Mehr verlangt dieser colossale Mensch eigentlich nicht, und ist man ihm dabei zu Willen in Kleinigkeiten, so ist schon ein Auskommen mit ihm. Er stelzte auf eine höchst scurrile Weise in dem feinen Gemache Bardeloh's umher und fluchte dabei still für sich hin, daß die Erde hätte weinen mögen. Um nur etwas zu haben, woran er sich halten konnte, ergriff er einen der drei Todtenschädel, womit Bardeloh seinen Schreibtisch verziert hat, und die ihm des Nachts zu Lampen dienen. Es ist dies nun einmal seine Liebhaberei.

»Kerl,« sagte er eben zu Bardeloh, als ich mit Gleichmuth das Zimmer betrat, »hättest Du nicht diese Gehäuse hier um dich aufgepflanzst, so hielt ich Dich für eine gewichste Lavendelseele. Daraus aber erkenne ich, daß eine solide Wildheit noch immer auf Dich wirken kann.« Kaum ward er Gleichmuth's ansichtig, als er den Schädel dem Pastor gerade vor das Gesicht hielt und fort fuhr: »So soll mich doch der Satan zu einem Mädchen machen, wenn Du nicht einer verschütteten Leichenpredigt so ähnlich siehst, wie ich einem Narren! Gelt, Du bist eine ambulirende Predigt?«

[64] »Ist's möglich,« sagte Gleichmuth, »Casimir, Du lebst noch?«

»In Sack und Hose, wie ein europäischer Kernphilister, aber weniger sauber. Urdr... ist mein Element, denn aus ihm hat – offen gesprochen – Gott die Welt gemacht.« –

»Und Du hältst Dich wol für seinen Substituten?« warf Gleichmuth fragend ein.

»Behüte der Teufel! Ich bin blos sein Spucknapf. Zu Substituten taugen nur solche Lumpensammler, wie Du, Kerl. Du bist ein wahrhaftiger Leichdorn an der kleinen Zehe des Allmächtigen!«

»Wenn Sie bereit sind,« unterbrach Bardeloh das Gespräch der beiden alten Bekannten, »so wollen wir einen Dritten besuchen. Dir, Casimir, befehle ich Ruhe, oder ich werfe Dich unverzüglich aus dem Hause!«

»Ein majestätischer Spruch wird immerdar respectirt,« versetzte Casimir. »Denkt so eine parfümirte Schneiderseele,« brummte er für sich, »sie sei reif, neue Staaten zu gründen und Republiken auszuspeien, und schleppt doch noch die Eierschalen aller aristokratischen Teufeleien an den Fersen mit sich herum. Daß Du zünftig wirst, macht Dich noch nicht groß.«

Bardeloh schickte seinen Sohn zuerst in das Gemach des Mönches. Aus den wenigen Worten, [65] die er mit dem Knaben sprach, ließ sich eine glückliche Stimmung errathen.

»Treten Sie ein, Gleichmuth,« sagte Richard, »Ihnen gebührt hier der Vortritt.« –

Der Pastor überschritt mit mir zugleich die Schwelle. Der Mönch saß am offenen Fenster, eine Laute lag vor ihm auf der Tafel, denn zuweilen verlangt ihn nach Musik und er klimpert dann ohne Harmonie auf den Saiten. Felix kniete auf einem Schemel und strich dem Wahnsinnigen die wenigen greisen Locken aus der scharf hervortretenden Stirn. Gleichmuth blieb erschrocken stehen. »Wer soll dieser Mann sein? Doch nicht etwa Einer, den ich früher kannte?«

»Fassen Sie ihn in's Auge,« sprach Bardeloh, »und wenn Sie ihn dann erkennen, so gedenken Sie nur der richtenden Geschichte!«

Gleichmuth und Eduard sahen einander unverwandt an, ohne das geringste Zeichen einer früheren Bekanntschaft zu geben. Endlich sprach der Pastor kopfschüttelnd: »Ich kenne den Menschen nicht; es muß ein Irrthum sein.«

»Dann ist Ihre Lebensgeschichte eine Lüge!« sprach Bardeloh.

»Bei Stola und Pritsche,« fiel Casimir ein, »Du hast Recht. Denn dieser von Gebeten auseinandergetriebene Schädel dort hat die Weihen da empfangen, wo ich das Tabernakel plünderte.«

[66] »Himmel und Erde!« rief zusammenbrechend Gleichmuth, »Eduard, der Vertheidiger der Askese? Er, der meine Wette annahm? – Du bist unglücklich, ich seh's an Deinem versunkenen Auge! – Du hast ein elendes Dasein hingeschleppt als Kette, die der Fluch der Natur an Deinen Eid schmiedete. Eduard, Eduard, kennst Du mich?«

Der Aufgeregte stürzte sich auf den bisher theilnahmlos gebliebenen Mönch. Er ergriff in krampfhafter Wuth seine Hand, suchte in seinen Zügen die Leiden eines mehr als zehnjährigen Lebens zu lesen und bedeckte dann, um Vergebung bittend, die Hand des Wahnsinnigen mit heißen Küssen.

Da schien eine grauenhafte Erinnerung höhnisch lebendig zu werden in Eduard's wahnwitziger Seele. Ein gellendes Gelächter lief schreiend und händeringend an den Wänden hinan; er nahm die Guitarre, griff mit den knöchernen Fingern hinein, daß schrillend die Saiten zerrissen, und wirbelnd sich im Kreise drehend, heulte er den letzten Vers aus seinem Liede, bis er ohnmächtig zu Boden sank. Felix kniete neben ihm nieder, in der Unschuld Thränen das Gesicht des Wahnsinnigen badend. Auch Gleichmuth verließen die Kräfte. Sein siecher Körper konnte wol eine in ruhiger Mäßigung genossene Seelenqual ertragen, nicht aber den Sturm aufgerüttelter Leidenschaften. [67] Er kniete auf die andere Seite des wie todt Hingestürzten, und seine Hand auf die Stirne des Mönchs legend, sprach er: »Du hast verloren wie ich, gewonnen hat allein der tragische Witz des Schicksals. Du fielst ein Opfer der Enthaltsamkeit und ich der entfesselten Begierden. Am Ende aber bist Du doch noch glücklicher als ich. Denn Dein ist nur der Wahn, und Dein Wehe kam aus einem reinen Herzen, mich aber erdrückte die Lust des Gedankens und der umherwandernde Rachegeist des gemißhandelten, urältesten Volkes der Erde.«

»Nicht doch, Hochwürden,« fiel hier eine mir wohl bekannte Stimme mit eiskalter Ruhe ein. »Es waren Studien, Experimente, angestellt mit der Physis der Seele, zu Nutz und Frommen der Nachwelt. Daß der Physiker dabei geschickter war, als sein Famulus, war Sache der Vorsehung. Wenn ich mich räche, so baue ich an der Zukunft der Welt, indem ich wohl weiß, daß das Fertigwerden dieses neuen Völkerdomes den Tod des Baumeisters bedingt. Doch haben Sie noch je ein Kind aus dem Stamme Juda's thöricht gesehen? Mardochai kann elend sein, dumm ist er nicht! Mardochai stirbt weder am Christenthum, noch unter Christen. Er stirbt allein am Tode des Mosaismus und der Unbarmherzigkeit [68] derer, die sich brüsten, das Privilegium der Barmherzigkeit zu besitzen.«

Der Jude stand hinter uns und musterte die Umgebung. »Lauter alte Bekannte, wie ich sehe,« fuhr er fort, Casimir's Hand kräftig schüttelnd, die er zum ersten Male wieder sah.

»Der Sinn ist Canaille geblieben,« sagte dieser, »nur die Jacke hat sich geändert. Nun darauf geb' ich nichts, die Hauptsache ist immer, daß einer nicht dumm wird an eingemachten Liebesseufzern. Alter, wie geht's Dir? Bist Du munter und schacherst Du noch immer mit gut angelegten Gedanken?«

»Das Gewerbe blüht,« sprach Mardochai, »aber ich hoffe, nicht mehr gar lange! Die geistigen Zungen der Völker sind gewählter geworden.«

»Bravo! Trüffelsauçen für das Pack! Jude, ich sage Dir, geh' in die Pilze. Du bist der Kerl darnach, die giftigsten herauszulesen zur Betäubung dieser sublimen Himmelsfliegen.« – Er deutete auf die kniende Gruppe.

Casimir kam immer tiefer in seine Redeweise hinein, und da Mardochai ihm keinen Widerstand leistete durch vieles Dazwischenreden, so gab uns seine Laune noch Dinge zu hören, wofür keine Schriftsprache Worte besitzt. – Der Mönch erholte sich unterdeß wieder, allein das Bewußtsein war dahin. Wilder und glühender als je, [69] irrten seine Augen in den tiefen Höhlen, er murmelte nur unverständliche Worte, Gleichmuth's Namen allein konnte man deutlich aus dem Wirrwarr heraushören. Da sich eine heftige Tobsucht seiner bemächtigte, mußte er gefesselt werden. Erschüttert verließen wir alle den Schauplatz des Jammers. Gleichmuth war wie vernichtet, Bardeloh brütete still für sich hin. Felix hing sich weinend an meinen Arm. Nur Casimir ließ sich den Humor, wie er es nannte, durch diese »gut durchgeführte Farce der unvermögenden Weisheit« nicht verderben und Mardochai stand einsam da in der Größe seiner Ruhe, wie ein prophetisches Bild, für dessen Sprache die Stunde noch nicht gekommen ist.

Meine Absicht scheiterte an der unheilbaren geistigen Zerstörung Eduard's. – Ich begleitete den Pastor nach Hause und schlich mich dann unter Sternenschein in die Nähe von Mardochai's Wohnung, um irgend wo die liebliche Sara zu entdecken. Ich hatte seit jenem Abende die schöne Jüdin nur ein einziges Mal gesprochen, konnte aber zu kurze Zeit bei ihr verweilen, um sichere Schritte für meine Pläne zu thun. Auch werde ich mich keineswegs durch vorschnelles Handeln übereilen. Ist doch ohnehin Alles bereits so weit zum Abgrunde hingerissen, daß es jetzt wahrlich nicht auf ein Dutzend Elendigkeiten mehr oder [70] weniger viel ankommt! Dem Juden kann ich nicht zürnen, so entsetzlich er mir auch ist. Sein Zweck ist vielleicht eben so edel, als der meinige, aber diese Zerklüftung des Menschen und der Secten nöthigen ihn, zu Mitteln seine Zuflucht zu nehmen, die vielleicht in der schöpferischen Begeisterung eines Gottes noch als Frevel erschienen.

Sara war nirgends zu entdecken, dagegen leuchteten die Fenster Auguste's so liebelockend und sehnsuchtswarm, daß ich nach langer Entsagung wieder einmal ganz dem ungebundesten Glück anzugehören für ein nothwendiges Opfer meiner Natur hielt. Klapperbein, schon gewohnt an mein unvorhergesehenes Kommen und Gehen, wird nach und nach gefüger. Der alte Narr macht mir Spaß, und wollen wir beide recht kindlich glücklich sein, so muß sich der alte Ephraim zu uns setzen und Sagen und Schnurren erzählen. Darin ist er denn Meister, immer vergnügt, sangeslustig und weinselig von früh bis in die Nacht hinein. Erst, wenn man eine so kernfrische Natur sieht bei der Bleichsucht, die unser ganzes Geschlecht ergriffen hat, fühlt man, wie unendlich tief uns diese künstlichen Lebensmaximen herabgestoßen haben von der reinen unverfälschten Menschlichkeit; und immer heißt der Refrain all' meines Wünschens und Denkens: Wiedereinsetzung der Natur in ihre Rechte, oder Auswanderung dahin, wo sie noch [71] thront, und lebt und schafft in ihrer ganzen, ungeschwächten, heiligen Kraft! Wüßte ich nur, wie man schnell diesem so lebenbedürftigen Europa das Nöthige wieder geben könnte! Aber hier sind wir Alle mit unserer Weisheit zu Ende, und nur die Geschichte kann retten und erlösen, was der Misbrauch derselben auf das Rad der Schmach und des Entsetzens geflochten hat. –


Im November.


Das Kirmesfest in Deuz führte in den jüngst vergangenen Tagen eine große Anzahl Fremder daselbst zusammen. Nicht allein die Bewohner Köln's wallfahrteten hinüber nach den öffentlichen Vergnügungsorten, auch die nahe gelegenen Ortschaften entsandten eine Menge fröhlicher Menschen zu dem heiteren Volksjubel. Die Tage waren warm und sonnig. Der Herbst schien in einem kurzen Spätsommer nochmals aufleben zu wollen.

Ich hatte viel reden hören von den bei dieser Festlichkeit gewöhnlichen Volksbelustigungen, und fand mich deshalb bei guter Zeit an Ort und Stelle ein. Felix begleitete mich, er war froh einmal aus der gewitterschwülen Atmosphäre des väterlichen Hauses in die freie Luft heraustreten zu können. Unterwegs begegnete uns Mardochai [72] mit seiner Tochter, die außer dem Hause die Liebhabereien des Vaters dem Modegeschmacke zum Opfer bringt. Seit unserm feindlichen Zusammentreffen hält mich ein unheimliches Gefühl ab, in engerem Verkehr mit Mardochai zu leben. Wir gingen daher ruhig grüßend an einander vorüber, nur Sara wechselte ein paar bedeutungsvollere Blicke mit mir. Das wunderliche Mädchen ist in der That zu verführerisch, um es mit kaltem Blute betrachten zu können. Es lag eine offene Einladung in ihrem Blicke, ihr ganzes Auge war eine mit Lächeln dargereichte Visitenkarte. Ein Wink von mir diente als Antwort und ruhig ging ich weiter mit dem plaudernden Felix.

»Das ist recht meine Lust,« sagte der Knabe, als wir der Bellevue vorübergingen. Unter lustigen Menschen bin ich lebensgern, lache und springe und singe mit ihnen, und vergesse alles Häßliche, was mich zu Hause immer so trübsinnig macht. Begreifen kann ich's doch nicht, warum der Vater immer so verdrießlich ist und die Mutter weinen macht. Wir könnten recht lustig sein, wenn wir viel spazieren gingen und die Natur mehr liebten.

»Freilich,« erwiederte ich, »die Natur aber kann nicht jeden Mangel ersetzen, liebes Kind, den wir im Herzen fühlen, und dessen Ursprung [73] in dem zu finden ist, was man Leben und Welt nennt.«

»Nun das mag sein, Sigismund, ich kann es aber nicht glauben, daß ein Mensch heiter werde, so lange er blos in der trüben Stube sitzt.«

»Eben darum nehme ich Dich mit in die offene Natur, unter Volksjubel und Festesfreuden. Du wirst Dir schon Heiterkeit sammeln für die nächsten acht Tage.«

»Schade, daß wir den Bruder Bonifacius nicht mitgenommen haben, fiel der Knabe ein. ›Dem würde die Luft erst recht gut thun und das Lachen und Scherzen der Kinder. Laß mich umkehren, Sigismund, ich will ihn herüberbringen.‹

Wenige Worte genügten, den gutmüthigen Knaben davon zurückzubringen. Wir hatten die Gesellschaftsorte erreicht, Spiel, Gesang, Festjubel schallte uns entgegen, bunte, lachende Menschengruppen wandelten sorglos umher, die blinkenden Römer in den Händen.

Felix war unermüdlich, er hüpfte von Laube zu Laube, knüpfte mit Jedermann ein Gespräch an und ward Allen lieb und werth. Viele der Anwesenden kannten den Knaben schon und bedauerten mit Achselzucken, daß grade Bardeloh sein Vater sei. ›Der Mann ist zwar unermeßlich reich,‹ sagten sie, ›aber nicht minder unermeßlich [74] unglücklich.‹ Das kommt heraus vom Kosmopolitismus und übertriebener Menschenliebe.«

»Ja,« fiel ein dicker Weinküper ein, »dies kosmopolitische Unwesen taugt nicht hier in unser Land. Wir wollen trinken und leben, uns nicht um die Elendigkeiten von Hinz und Kunz viel bekümmern. Reines Haus halten war immer die Hauptsache und wird's bleiben, so lange ein ehrlich gefülltes Weinglas Herz und Auge erfreut. Bleibt mir mit der Kosmopolitik vom Leibe, die pure, simple Politik macht mir schon Kolikbeschwerden.«

Es fanden sich viele solche echtdeutsche Sauerkrautphilister zusammen, und käme es bei einem wahrhaftigen Urtheilsspruch auf die Menge der Mäuler an, so würde sich die Zahl der Stimmfähigen auf ein sehr kleines Häuflein reducirt haben. – Mir lag wenig daran, Politik zu verhandeln und alle Miseren des Lebens abermals durchzukosten. Der Nachgeschmack entgeht einem ja ohnehin keinen Tag. Schon Felix zu Liebe gab ich mich der Unbefangenheit hin und war einmal kindisch froher Mensch, so weit dies in unserer Zeit möglich ist.

Gegen Abend ward das Menschengedränge immer heftiger. Bunte Laternen wurden angebrannt, die Weinlust warf Schwärmer in die Luft und ergetzte sich am Zeter der furchtsamen [75] Mädchen, die in reicher Anzahl versammelt waren. Ich zog mich zurück aus dem ärgsten Getümmel, um in der Dämmerung meinen kleinen Schutzbefohlenen nicht zu verlieren. Der Abend war warm und still. Auf dem breiten Strome schwammen unzählige Gondeln. Das Ufer entlang schwärmten singende Gruppen. Unter den Spazierengehenden fiel mir eine kräftige Männergestalt auf, die in Gang, Haltung und Tracht etwas Fremdartiges hatte. Der Mann war muskulös gebaut, hoch gewachsen, sein Haar zwischen blond und braun. Die Kleidung sehr fein, aber durchaus nicht europäisch. Dabei schien weltmännische Bildung ihm nicht fremd zu sein. Da er ohne Begleitung ging, gesellte ich mich zu ihm. Auf seinem Gesicht lag eine Heiterkeit, wie ich sie fast noch nie gesehen hatte. Es war nicht jener scherzend lose Frohsinn, wie ihn der Sanguiniker unseres Schlages gewöhnlich zur Schau trägt, es lag mehr Kraft, mehr Bewußtsein männlicher Stärke in diesen offenen Zügen. Das Gesicht war stark gebräunt, aber schön, einige leichte Falten umzogen die hohe Stirn, der Mund sprach Festigkeit aus, das Auge blickte frei und besonnen umher. Keine Tücke bog sich verstohlen in den glänzenden Himmel hinein.

Eine solche Physiognomie macht den nämlichen Eindruck, wie jene melancholisch-tiefsinnigen Gesichter, [76] denen wir, namentlich in Deutschland, so oft begegnen. Die gedankenbleichen Gesichter unserer Jünglinge ziehen an, aber wecken auch ein Schmerzgefühl in uns, das mit einem Male jede wahrhaftige Freude lächelnd umbringt. Man kann sich nicht erfreuen an diesem Tiefsinn eines grübelnden Lebens, er drückt nieder, so interessant er ist, es ist der Tod unseres Volkes, der uns auf jedem Schritte heimlich nachschleicht.

Der Fremde blieb an einer Krümmung des schmalen Fußpfades stehen und betrachtete den Strom, die Stadt mit ihren alten vielen Thürmen und dem ungewohnten Leben, das herüber und hinüber zog über die Schiffsbrücke. Sein Auge blieb heiter, ein sanftes Lächeln bewegte in glücklichem Stolz die männlich reifen Züge, die starke Brust schien nie geschwächt worden zu sein durch angstvolles, öfteres Seufzen.

»Das Volk ist heut einmal recht vergnügt,« sprach ich, zu dem Fremden tretend, »man findet eine solche ungebundene Fröhlichkeit nicht alle Tage.«

»Es ist ein mächtig lustiges Leben,« erwiederte der Fremde in reinem Deutsch, aber mit fremdartigem Accent. Das »mächtig lustig,« ließ mich sogleich den freien Sohn Nordamerika's in ihm erkennen. Eine junge Hoffnung schoß üppig auf in meinem Herzen bei dieser Wahrnehmung. [77] Es war der erste Amerikaner, den ich sprach, und die letzten Wochen hatten mir das ferne Land im Westen so nahe gebracht, so eng in den Kreis meiner Wünsche und Lebenserwartungen eingesponnen, daß ich mich selbst einen Bürger dieses fabelhaften Weltreichs fühlte.

»Haben Sie Ihr überatlantisches Vaterland schon längst verlassen?« fragte ich, in der Absicht des Fremden Stolz zu wecken und dadurch zu einem Gespräch über Amerika zu nöthigen.

»Woher wissen Sie, daß Amerika mein Geburtsland ist?«

»Ihr freies Wesen, ihr männlich froher Blick verriethen es mir.«

»Wahrlich, Sie verrathen mir gleichermaßen,« erwiederte der Amerikaner, »daß Sie ein Europäer sind. Das ist ein mächtig schmeichelndes Volk, unbehaglich für uns mehr als grade, etwas derbe Menschen. Warum schmeicheln Sie mir, der ich Sie eben so wenig kenne, wie Sie mich?«

Es ist beschämend, gestehen zu müssen, daß ich nicht im mindesten die unbewußt ausgesprochene Schmeichelei gefühlt hatte. So unnatürlich sind wir geworden durch die Verhältnisse, daß selbst die offenste Ehrlichkeit nicht mehr fühlt, wenn sie aus Ehrlichkeit unehrlich wird. Complimente sind so dicht verwachsen mit unserm Leben und Denken, daß ein glücklicher Gedanke gewiß das Halsbrechen [78] riskirte wenn er nicht in gehörigem Schritt dem Leben Reverenz machen dürfte. Es ist zum verzweifeln! Du glaubst nicht, Ferdinand, wie erbärmlich klein ich mich fühlte mit all meiner sublimen Bildung gegenüber der Gradheit dieses ehrlich stolzen Amerikaners. Ich machte keine Entschuldigung, sondern gestand offen und frei meinen Fehler. Dies gefiel dem Amerikaner. »Wie heißen Sie?« fragte er, meine Hand tüchtig schüttelnd. Ich nannte meinen Namen. »Schön,« sprach er, »und der meinige ist Burton. Ich bin aus Cincinati am Ohio. Kommen Sie. Der Rhein ist ein mächtiger schöner Strom, mit dem Ohio aber kann er sich nicht messen.«

Wir gingen den Strom entlang. Der Jubel des Volks versank in die Ferne. Die Sterne blinkten mild herab vom blauen Himmel, in stillem Glanz stieg der Mond auf und überstrahlte das alte Köln mit duftigem Schimmer. Felix, der bisher den Amerikaner von allen Seiten betrachtet hatte, ergriff jetzt Burton's Hand, indem er sagte: »Laß' mich sie küssen, Amerikaner! Vater hat immer gesagt, ein Amerikaner sei ein ganzer Mensch, und das ist einmal ganz wahr gewesen vom Vater. Ich bin Dir gut, Amerikaner, und ich möchte wol auch einer werden, wenn die Mutter es nur erlauben wollte. Du siehst grade aus, wie ein ganzer Mensch.«

[79] »Ein liebes Kind,« sprach Burton, »nur etwas idealisch. Das taugt nichts, am wenigsten für Amerika. Indeß der Knabe würde sich schon ändern.«

»Auf dem Ohio würde ich Schiffe bauen,« sprach Felix »und damit in den Missisippi fahren. Das muß ein recht großer Strom sein.«

»Es ist ein mächtig großes Wasser, der Vater der Gewässer, mein Sohn.«

Nach einigem Hin- und Herfragen erfuhr ich von Burton, daß er bereits seit zwei Jahren sein Vaterland verlassen habe, um Europa und vor allem Nordamerika's Mutterstaat, England, zu besuchen. Handelsverbindungen und die Lust, Menschen und Länder kennen zu lernen, hatten ihn jüngst nach Deutschland geführt, dessen Volk ihn vor allen europäischen am meisten anzog. Er hatte in seiner Heimath deutsche Ansiedler gesprochen und in ihrem Umgang unsere Sprache erlernt. Das tiefe Gemüth jener Menschen, die durch harte Entbehrungen und unermüdliche Ausdauer alle Schwierigkeiten siegreich überwunden und sich zuletzt zu einem Wohlstand heraufgeschwungen hatten, wie er selten in so geordneter Schönheit sich findet, weckten den Wunsch in ihm, das eigentliche Vaterland dieses im Dulden so großen Volkes kennen zu lernen. Allein noch war ihm bis jetzt jene Lebenskraft nicht begegnet, die er an den Ausgewanderten[80] bewundert hatte. Es ward ihm unheimlich unter diesem gutmüthigen Ceremonienwesen, das nicht Product einer freien Gesinnung, sondern blos Auswuchs einer schiefen Stellung zur Weltgeschichte ist. Der freie, naturfrische Sohn Amerika's konnte nicht fassen, wie es eine Convenienz geben müsse, um mühselig durch's Leben zu schleichen. Dieses hüstelnde Herumpinseln nach irgend einer lockern, schon im Entstehen aus einander fallenden That, widerstrebte dem Stolz seiner Männlichkeit, und er war nahe daran, den Stab zu brechen über die ganze Nation, weil er den Geist des Wollens so wenig sich kund geben sah in Aeußerlichkeiten. Bereits hatte er den Rhein bereis't bis Straßburg hinauf, war erst vor Kurzem wieder zurückgekehrt, und stand eben im Begriff, auf einige Zeit nach Paris zu gehen, um an den dortigen Zuständen die Zukunft des europäischen Festlandes zu erproben. Aus Allem sprach ein gesunder, heller Verstand, groß und stark geworden im Kampf mit der riesigen Natur. Kein sanftes Heucheln bog die Lippe zum Geständniß einer wohl erzogenen Lüge, wie der Europäer sie so gern hört. Das Auge heftete fest auf den Dingen und erhob aus dem kalt Reellen nur die Zukunft der Welt zu einer idealen Gestalt. Es ist wahr, Burton hatte für Vieles keinen Sinn, womit des Europäers ganzes Dasein auf das Engste [81] zusammengewachsen ist. Die Kunst schien ihm ein völlig thörichter Tand zu sein. »Das ist ein mächtig verweichlichendes Geschäft,« sagte er, »diese Kunstliebhaberei! Dabei kommt nichts heraus, das bildet weder Bürger, noch Menschen, das macht nur idealische Schwätzer.«

Man kann dies zugeben, ohne einem Amerikaner deshalb ein Recht zu überliefern, das er in Anwendung bringen könnte gegen Europa's geistige Civilisation. Es wäre sogar lächerlich, wollte man von dem jungen Nordamerika verlangen, es solle in Kunst und Wissenschaft sich messen mit Europa. Nordamerika ist frei geworden, ohne den blutigen Krankheitslauf einer tausendjährigen Weltgeschichte durchgefühlt zu haben. Es ward frei und ein Mann, als ihm die Geschichte die ersten Zähne ausriß. Es mußte dies werden, weil die Erinnerung an die europäische Weltgeschichte als drohendes Gespenst es anspornte zur That. Nun aber sollte Europa sich von ihm borgen die weise Nüchternheit des im Kampf und Freiheit erstarkten Geistes, um seiner zerbrechlichen Natur wieder aufzuhelfen, und von den tieferen, poetischeren Gütern seines Lebens hinüberflüchten in den großen Tempel der Natur und in die Walhalla der Freiheit, was in Europa nur schwächend und demoralisirend wirken, in Amerika aber dem materiell starken Leben einen heiligeren Geist einhauchen kann. [82] Europa wäre geholfen mit einem ehrlichen Tauschhondel und Amerika könnte dabei auch nur gewinnen.

Das lebhafte Intresse, welches ich an Amerika's Lebensgestaltung nehme, entging Burton nicht. Meine Theilnahme schloß sein Herz auf und ließ ihn Zugeständnisse machen, die ich kaum erwartet hätte.

»Der Europäer,« sagte er, »täuscht sich oft, wenn er unser glückliches Land betritt. An den Küsten wohnt nicht die Freiheit im schönsten Schmuck ihrer jugendlichen Unschuld. Wie das Treibholz vom Nordpol sich ansetzt an Islands kahle Küstenstriche, an die Faröer und Shetlands-Inseln, so steigen rings am Strande des Hudsons, Delaware, Susquehannah, Connectitut, die grau gewordenen Laster aus, die in Europa nicht mehr hinlänglichen Spielraum finden für ihr lüsternes Leben. Die Küstenstriche Nordamerika's sind blos die Vorhöfe der wahren Freiheit. Da treibt sich allerhand Gesindel umher, und wenn auch der Congreß des Volkes Heil beräth nahe an dem Wogenschwall der donnernden Atlantis, die wahre Wohnung der Freiheit muß man suchen im stillen unentweihten Innern Amerika's. Darum, wen aus Europa der Schmerz vertreibt und wer Heilung sucht für sein brechendes Herz, der fliehe die großen volkreichen Städte, in denen, wie überall, [83] wo die Menschheit sich stößt, der Egoismus herrscht und die Sucht nach Gewinn und eitlem Tand. Schnell dringe er vor in das Innere. Die Staaten Tenessee, Ohio, Indiana, Illinois bieten die ungeheuersten Länderstriche dar für ein glückliches Leben. Nur thätig muß Jedermann sein, das Träumen darf er nicht mir herüberschiffen über den Ocean. Wir können jetzt nur mächtig fleißige Menschen gebrauchen, die moralisch aufleben, weil sie kräftig natürlich bleiben. Vielleicht nach hundert Jahren bietet dann auch das amerikanische Familieenleben mehr Künste des Friedens dar.«

Mit Freuden hatte ich den Amerikaner sich aussprechen lassen. Wie schmerzte es mich, daß ein ähnliches Lob ohne Lüge nicht über meine Lippe gehen konnte von meinem Vaterlande! Ich eröffnete Burton, daß ich willens sei, in einiger Zeit nach Amerika zu gehen.

»Thun Sie dies,« erwiederte er. »Sie kommen fort, Sie sind noch jung und hoffnungskräftig. Ich werde Ihnen forthelfen, wenn Sie mir Vertrauen schenken wollen.«

»Ich gehe aber nicht allein,« sagte ich, »mich sollen noch Mehrere begleiten, Männer und Frauen. Es lebt hier eine Gesellschaft, die nur todt in Europa Frieden finden kann. Sie sind geistig und physisch zerbrochen worden von dem tödtenden Rade, das Europa zermalmt.«

[84] »Diese Menschen möcht' ich kennen,« versetzte Burton. »Das würde mir einen klaren Begriff beibringen von europäischer Civilisation, die mir noch gar nicht recht zu Sinne will. Die Leute sind hier mächtig gescheidt, aber doch im Grunde wenig klug. Ihr seid allesammt zu gelehrt. Ihr habt viel Geschichte, aber wenig Leben.«

Diese Distinction war amerikanisch verständig und sehr bezeichnend. Die überhand nehmende Dunkelheit hatte uns zurückgeführt nach Deuz. Das Kirmesfest ging ruhig seinen Gang, in mir aber fanden sich keine verwandtschaftlichen Regungen mehr. Ich überschritt an Burton's Seite die Schiffsbrücke. Felix merkte genau auf unser Gespräch und ließ sich von dem Amerikaner führen.

»Wo wohnen Sie?« fragte ich meinen neuen Bekannten, als wir den Brückenzoll erlegten.

»Gleich hier am Rheinberge,« erwiederte Burton, »wenn Sie aber weiter in der Stadt logiren, so begleite ich Sie noch eine Strecke. Der Abendwind wehte ein paar wehmüthig auszitternde Violinentöne vom Hafen herüber, ein Fieberfrost überlief mich kalt, Burton blieb stehen.«

»Was ist das für ein seltsamer Spieler oder Virtuos,« sagte der Amerikaner. »Beinahe alle Abende und oft tief in die Nacht hinein höre ich das Wehklagen seiner Geige, in das sich nicht [85] selten ein so überlautes Jubeln, fast ein Orgiengejauchz von wild tobenden Melodien mischt, daß ich mich einer Wehmuth nicht enthalten kann, die doch sonst meinem ganzen Wesen sehr fremd ist. Ich verstehe wenig von Musik und dennoch wittere ich etwas Geniales heraus aus diesem Spiele! Können Sie mir Auskunft darüber geben?«

»Später,« sagte ich, »nur so viel mögen Sie erfahren, daß jener Spieler einer von denen ist, die ich gern hinüber retten möchte nach Amerika.«

»Sie machen mich neugierig,« erwiederte Burton. »Ihre Bekanntschaft wird mich länger in Köln aufhalten, als ich vor Kurzem willens war.«

»Es wäre dies sehr viel Ehre für mich« – fiel ich ein, doch der Amerikaner unterbrach mich und legte seine kräftige Hand so derb auf meine Schulter, daß ich erschrack.

»Keine Ehre, Sir,« sprach der Sohn des freien Amerika. »Wenn ein Mann offen gesteht, daß ihm eines Fremden Bekanntschaft freut, so begreife ich nicht, wie dies diesem zur Ehre gereichen kann. Es ist Pflicht, Wahrheitsliebe, das zu sagen und weiter nichts. Kein Geschwätz und keine Blumen, Sir, sonst geh' ich.«

Abermals erkannte ich meinen geschminkten Men schen im Spiegel einer gesunden, urkräftigen Natur. Burton begleitete mich an Bardeloh's Haus. »Hier also wohnen Sie?« sagte er und [86] küßte den Knaben auf die freie Stirn. »Ein schönes germanisches Kind, ich beneide den Vater darum.«

»Das würden Sie nicht, wenn Sie ihn kennten!«

»Wie, ist der Knabe nicht Ihr Sohn?«

»Ach ich möchte es wol sein,« fiel Felix recht wehklagend ein, »aber Sigismund meint, es ginge nicht und der Vater hat mich doch gar nicht lieb.«

»Wie kann ein Vater sein Kind nicht lieb haben, und nun gar ein so liebes, talentvolles!«

»In Europa kann dies vorkommen. Ja, Sie zittern, Burton, und können das Entsetzliche dieses Wortes nicht fassen. Jetzt erschrecken Sie vor einer Wahrheit, die eines Europäer's Blut schon längst nicht mehr in Aufruhr bringen kann. Der Sohn wird den Vater, oder der Vater den Sohn hassen, weil es die Verhältnisse bedingen. Es ist der Wille der Weltgeschichte, gegen deren Walten Niemand auch nur einen Finger erheben darf. Bedenken Sie, Burton, daß Sie in einer zweitausend Jahr alten Stadt Europa's wandern! Da liegt viel begraben und mancher Todte könnte mit seinen Seufzern selbst das feste Amerika in seinen Grundfesten erbeben machen.«

»Ihr Europäer seid grauenhaft, wenn Ihr prophetisch werdet!« sprach Burton. »Das Prophezeihen, [87] ja, wahrhaftig, das ist Eure Stärke! Ihr seid mächtig groß im Wort und mächtig klein im Umbilden des Wortes zur That! – Nun, und wer ist denn der Vater dieses schönen Kindes?«

»Der Besitzer dieses Hauses, der reiche Particulier Bardeloh.«

»Bardeloh, Bardeloh!« wiederholte der Amerikaner. »Ist mir's doch, als hätte ich einen Gruß aus England an diesen zu überbringen gehabt. Bardeloh! Hm! Und das Geschäft des Mannes?«

»Die Erziehung des Grames über sein Volk zum rettenden Engel für dasselbe.«

»Ein europäisches Geschäft!« seufzte Burton. Ich hörte ihn zum ersten Male seufzen, man merkte dem Tone an, daß er noch nicht geübt und gebildet war zur Virtuosität. »Und das Ihrige, Sir?«

»Ich vertrete Famulusdienste bei Bardeloh und bin nebenbei Spürhund, um die Hasen aufzujagen.«

»So, so! Und Sie leben?« –

»Von unsern Renten.«

»Warum betreibt Ihr dabei kein einträgliches Geschäft?«

»Sie kennen das einträglichste für arme Europäer. Unser bestes Geschäft ist ein unablässiges Sinnen auf Erlösung!«

[88] »Ihr seid krank, Alle,« sagte Burton, »aber ich besuche nächstens Sie und diesen Bardeloh. Amerika wird Euch brauchen können!« – Wir schüttelten uns die Hände und schieden. –


Am 3. November.


Als ich am nächsten Morgen zum Frühstück kam, fand ich Rosalie in einer glücklich heiteren Stimmung. Felix kniete auf dem Tabourettchen vor ihr, und lachte die Mutter so freundlich und kindlich überzeugend an, daß es mich dauerte, diese Friedensscene abzukürzen. Felix hatte mich jedoch schon bemerkt, hüpfte auf mich zu und sprach:

»Nun, da ist ja der Sigismund. Frage ihn nun selbst, Mutter, ob es nicht wahr ist, daß mich gestern Abend ein schöner Amerikaner auf die Stirn geküßt hat?«

Rosalie zog den Knaben an sich, einen fragenden Blick auf mich heftend. »Sie bestätigen des Knaben Behauptung,« sagte sie, »wie aber kämen Amerikaner mit meinem Knaben in Berührung.«

»Ja siehst Du Mutter, das ist so meine Freundlichkeit, die mir alle fremden Menschen an den Hals wirft. Frage nur den Sigismund, der kann Dir's haarklein erzählen, wie lieb mich der [89] Amerikaner hat. Auch soll ich mit ihm nach dem schönen Lande gehen, da will er einen freien Mann aus mir machen, und mir einen Vater geben, der mich lieb hat.«

»Armes Kind,« seufzte Rosalie, »Du begreifst nicht, daß Dein Vater Dich von sich stößt aus Liebe.« – Sie wandte sich zu mir und bat mich um nähere Aufschlüsse über die neue Bekanntschaft. Ich erzählte ihr unser Zusammentreffen mit Burton und was sich daraus gesprächsweise ergeben habe.

»Ich bin neugierig den Mann kennen zu lernen,« erwiederte Rosalie. »Nach dem, was Sie mir von ihm sagen, muß er den Gebildeten seiner Nation angehören. Ich gestehe, daß mein europäischer Sinn diesem Volke nicht gern Zugeständnisse macht, die erniedrigend sind für uns selbst. Ein Mann kann anders fühlen, wir Frauen aber vermögen nicht, uns altgewohnten Verhältnissen so ganz zu entziehen, selbst wenn dies erforderlich wäre zu einer unparteiischen Gerechtigkeit. Seid Ihr oft hart und streng im Verwerfen des Verjährten, so sind wir nicht minder hartnäckig im Festhalten der Überlieferung.«

Bardeloh trat ein, still wie immer. Er grüßte mich nur im Vorübergehen, führte mehr aus Gewohnheit als Zärtlichkeit die Hand seiner Gattin zum Munde, und wehrte entschieden und kalt [90] seinen Sohn von sich ab. »Geh'«, sprach er, »was thu' ich mit Dir? wozu die Fratzen!«

Felix kam zur Mutter zurück und nahm stillschweigend das Frühstück ein. Unsere Stimmung war gestört, wie ein kältender Reif legte sich die melancholische Theilnahmlosigkeit Bardeloh's um unsere so vollen Herzen. Da mein Gastfreund in kein Gespräch zu ziehen war, hielt ich ein völliges Ignoriren seiner Person für angemessen und fuhr fort, mit Rosalie über Burton und Amerika zu sprechen. Diese Frau könnte einen jeden Mann glücklich machen, lebte sie in einer Atmosphäre, deren duftiger Hauch der Seele mehr Nahrung zuführte, als die unsrige.

»Was Sie da sagen,« sprach sie, »das würde mich beglücken, wäre es mehr als eine bloße jugendliche Schwärmerei der Hoffnung. Sie kennen mich zu genau, um in mir ein Weib zu finden, das sich der Chimäre mit Leichtsinn hingibt. Die Welt hat mich frühzeitg gefunden und durch Prüfungen mein tieferes Wollen erprobt. Ungerecht mag ich nicht sein und mich deshalb beklagen. Es gibt Tausende, die im Elende verschmachten, ich kann mich hüllen in Purpur und Seide. Und dies ist nichts werthloses in unseren Tagen. Höher als Alles muß ich aber doch den Frieden achten, welcher am Herde seine Wohnung errichtet. Dieser geht mir ab durch die Zustände, in die[91] nun einmal die ganze Zeit hinabgestoßen worden ist. Ich weiß dies ruhig zu ertragen, mich sogar zu begnügen – kann dies aber den Ungestüm der Männer zügeln? Euer stürmisches Verbessern reißt jede Stütze nieder, an der sich die allgemeine Schwäche zu einem erträglichen Ziele schleppt. Freilich nennt Ihr das kleinlich, aber seid doch nur gerecht und Ihr werdet den Menschen mit Leichtigkeit aus der Schwäche herauserkennen.«

»Haben Sie etwas von Casimir gehört?« fragte Bardeloh. »Mein Bedienter sagte mir, er sei die ganze Nacht über nicht nach Hause gekommen.«

Ich wußte gar nicht, daß er ausgegangen war. »Die alberne Festlichkeit drüben in Deuz,« fuhr Richard fort, »lockte ihn mit hundert andern Narren, und ich glaube, das ist recht sein Element, um sich zu sättigen in barocken Thorheiten.«

»Wir waren auch dabei, Vater,« fiel Felix ein, »und da haben wir einen Amerikaner gefunden.«

»So,« sprach Bardeloh. »Einen Amerikaner? Ich höre, es sind Einige angekommen. Erwecken die Menschen Interesse?«

»Es kommt auf uns an,« versetzte ich. »Ein Amerikaner sollte keinem Europäer gleichgiltig sein. [92] Sehen wir doch in ihnen die Vorbilder dessen, was wir suchen und nicht finden können.«

»Ein Narr, wer noch sucht, ein Schwächling, der nicht längst gefunden hat!« Mit dieser dictatorischen Grobheit stand Bardeloh auf und wollte das Zimmer verlassen. An der Thür stieß Casimir auf ihn in einer Verfassung, die eben nicht geeignet war, ihn liebenswürdig zu finden. Die Spuren einer durchschwärmten Nacht zeigten sich deutlich auf seinem ohnehin schon leidenschaftlich zerrissenen Gesicht. Weindunst schien noch seine Sinne zu umnebeln, er faßte Bardeloh an der Brust und taumelte mit ihm zugleich auf einen Sessel.

»Willst Du denn durchaus an der Gemeinheit zu Grunde gehen?« sagte Bardeloh, sich losmachend aus Casimirs Umarmung.

»Ich bin Casimir der Vogler,« erwiederte lallend der Dichter, »das wird mir der vermoderte Heinrich nicht übel nehmen. So lang' es Vögel gibt, müssen Vogler sein. Ich find' es richtig und wollt Ihr's nicht glauben, fragt 'mal nach bei Abrahams Schwiegersohne. –«

»Der Mensch ist weintrunken,« sprach Bardeloh und rief einigen Dienern, um ihn auf sein Zimmer zu schaffen. Casimir ließ sich fortführen, perorirte aber ungenirt weiter und rief einmal über das andere: »Mardochai ist dumm, sehr [93] dumm, und Casimir ein ungeheurer Elephant in der Klugheit. Ein Esel, wer Casimir nicht für den Fürsten der Weisheit anerkennt!«

»Was soll dies Geschwätz?« sagte Rosalie, »der Mensch scheint etwas auf dem Herzen zu haben.« – Vergeblich sann ich nach, was Casimir wol mit dem Juden verhandelt haben möchte. Von irgend Einem dieser beiden Menschen selbst etwas zu erfahren, war mehr als unwahrscheinlich, und am Ende sprach doch aus Casimir nur der Wein und seinen Worten fehlte die tiefere Bedeutung.

Richard zog sich wieder auf sein Zimmer zurück. »Kommen Sie,« sprach Rosalie, »und lassen Sie uns noch eins plaudern.« Wir setzten uns auf den Divan, Felix spielte Dame mit sich selbst und blieb natürlich jederzeit Sieger. »Sie wissen,« fuhr Rosalie fort, »daß mein Gatte Schriftsteller ist, aber pseudonym. Was er eigentlich schreibt, ist mir unbekannt, so viel aber weiß ich, daß es das Testament seines Gedankenlebens an die Zukunft Europa's enthalten wird. Von früherer Zeit her wird es Ihnen noch erinnerlich sein, daß Richard von einer ›Doctrin des Hasses‹ sprach, die er gegenüber der Doctrin der Liebe zu errichten für nothwendig hielt. Ich kenne Bruchstücke aus diesem Product, und ich muß als wahrheitliebende Frau offen bekennen, [94] daß die darin niedergelegten Gedanken eine Art Cultus begründen könnten, weil sie die Grundzüge sind einer neuen Religion. Wissen Sie, Sigismund, welchen Namen diese Religion führt?«

»Kann es einen bezeichnenderen geben, als den der modernen?«

»Man sollte daran zweifeln,« versetzte Rosalie, »Bardeloh jedoch hat einen andern zu erfinden gewußt. Er nennt diese Religion, in der Haß und Liebe gleiche Rechte haben, die Religion der Ausgleichung oder der Humanität.«

»Und wer soll ihr Verkündiger werden?«

»Europa's Tod!« hauchte Rosalie leis und zitternd. »Bardeloh sagt in seiner Doctrin des Hasses: für das Christenthum starb sein heiliger Verkündiger, Christus, für die Humanität wird auf dem Golgatha der Welt Europa seinen Geist aushauchen. Denn Europa hat Christi Kreuz auf sich genommen und es fast zertrümmert durch den Fanatismus, in welchen es die verkündigte Liebe sobald zu verwandeln suchte. Darum erhebt sich jetzt der Fluch, welcher lastet auf dem irrenden Volke Juda's, und schlägt an's Kreuz der neuen Versöhnung, die eine Versöhnung aller Völker und aller Welt sein muß, den Erdtheil, welcher frevelte am heiligen Geist der Geschichte. Und so stirbt Europa den Kreuzestod für die Erlösung [95] zweier Welttheile, und sein Opfertod ist die Besiegelung der Wahrheit derjenigen Religion, die sich mit dem Tode Europa's erhebt!«

Nicht die Wahrheit, sondern die poetische Erhabenheit dieses Gedankens riß mich hin zu einer Art gläubigen Bewunderung. Einen Welttheil zum Opferlamm zu machen für die Entsühnung der ganzen Welt, dies – Du wirst es zugeben – ist groß, und nur ein Europäer, reif und tief geworden im Schmerz seines geschichtlichen Lebens, konnte diesen Gedanken fassen. Aber es liegt auch eine jammernde Verzweiflung verborgen in dieser letzten Hoffnung, die dicht an den Wahnsinn hinstreift. Lassen wir fünf Jahrhunderte noch vergehen und in dieser Zeit den in der Einsamkeit gebornen Rettungsgedanken Bardeloh's zur Mythe sich gestalten; dann frage ich, ob diese Mythe nicht mit dazu beitragen wird dem fortschreitenden Menschengeschlecht die Göttlichkeit begreiflich zu machen, welche in der Idee der Erlösung allerwärts zur Erscheinung kommen will?

»Wie jetzt die Sachen stehen,« fuhr Rosalie fort, »kann ich kaum auf eine befriedigende Endschaft hoffen. Es ergeht Bardeloh wie Jedem, der seiner Zeit vorauseilt in Bildung und gedanklicher Weltgestaltung. Sie Alle, die sich hier zusammengefunden haben, sind entweder verloren, oder sie müssen mit dem Fluch der Vernichtung [96] sich Bahn brechen. Deshalb bitte ich Sie, Sigismund, suchen Sie Bardeloh zu bestimmen, bevor er zum Aeußersten schreitet, eine Probefahrt nach Amerika zu unternehmen! Reisen zerstreuen, Reisen können retten, Reisen sind nicht selten auch schon Bekehrer geworden. Ist Bardeloh, sind Sie krank in Herz und Geist, so werden Sie gesunden durch den Anblick einer fremden Welt. Ist es Europa und seine Völker, so haben Sie nichts verloren, wenn Sie Ihren gesunden Geist flüchten aus dem Pesthause. Ich bin bereit Sie zu begleiten. Und nun still, Sigismund. Gehen Sie, bedenken Sie meine Worte. Ich mag den Gedanken nicht fassen, daß ein Vater seinem Kinde verloren sein sollte, weil er begreift, es ist kein Boden für ein freies Leben in dem Lande, worin es geboren wurde.«

Rosalie drückte zitternd meine Hand und verließ schnell das Zimmer. Felix, ganz hingegeben an sein Spiel, hatte nicht auf unser Gespräch gemerkt und wunderte sich, daß die Mutter fortgegangen war.

»Sigismund,« redete er mich an, »wenn besuchst Du denn den Amerikaner? Nicht wahr, Du nimmst mich mit? Denn wenn Ihr nach Amerika geht, so muß ich doch auch ein Wort mit drein reden. Die Mutter sagt immer, ein Kind habe die klügsten Anschläge.«

[97] Ich versprach ihm, was er verlangte, und sann nur über die Art und Weise nach, wie Bardeloh am leichtesten zu einer Reise nach Amerika zu bewegen sein möchte. Es fiel mir ein, daß er jeden Donnerstag Abend ganz allein einen Spaziergang um die Stadt macht, und ich entschloß mich, ihn hier, wie durch Zufall zu begegnen, um mein Anliegen vorzubringen. Burton läßt sich vielleicht auch bewegen, mich zu begleiten, und ist es nur möglich, Richard's tief liegende Phantastik der Hoffnung aufzuregen, so kann ich auf einen erwünschten Erfolg mit Gewißheit rechnen.

13. An Raimund
[98] 13.
An Raimund.

Köln, den 6. November.


Die Hoffnung ist nicht ein bloßer Ersatz für ein glückliches Sein, sondern das einzige und wahrhaftige Glück. Ich habe dies früher bestritten, eifrig, leidenschaftlich, hartnäckig, wie es meinem Naturell angemessen war. Seit ich aber so tief untergesunken bin in der Trauer über das Nichtdasein des Ersehnten, fühle ich, wie nur die Hoffnung glücklich machen kann. Es wird mir wunderselig, wenn ich der Zukunft gedenke, die ich jetzt nur noch jenseits des Oceans suchen kann unter Cypressenwaldungen, im Schatten tausendjähriger Eichen, umweht vom lebendigen Gelock des wunderbaren Tillandsea. In dieser Freiheit der Sehnsucht lösen sich auch die Ketten, an denen mein heißes Herz angstvoll klopft und vergeblich der Freiheit wartet in reinem Glanze. Ich kenne kein Elend mehr auf Erden, die verworrene Societät, die unsern natürlichen Menschen erdrückt hat unter frivolen, heuchlerischen Küssen, [99] streicht unbeachtet an mir vorüber. Das politische Unwesen, eben so mannigfach zerrissen, wie die Secten, wodurch man Gott zu verehren wähnt, läßt mich kalt, weil ich in der Hoffnung bereits ein Bürger bin jenes unbekannten Landes, dessen Bestimmung die Erlösung der profanen Welt ist. Nimm auch Theil an dieser Hoffnung, Raimund, so zählt die unglückliche Welt einen Glücklichen mehr!

Und, Gottlob, die Stunden eilen vorüber in der räthselhaften Schnelligkeit, womit der Dampf die Zeit beschwingt hat. Nicht glaube ich mehr ein Jahr lang die Last des alten Joches zu tragen, das Europa's Glieder zermalmt. Es stoßen sich die Begebenheiten, wider Willen drängt Alles dem Ausgange zu, ich muß scheiden, sei's freiwillig oder als gezwungener Flüchtling; denn anders seh' ich nur Tod für mich und die, an dessen Geschick auch das meinige von jetzt an eng geknüpft ist.

Vor zwei Tagen unternahm ich eine Spazierfahrt nach Düsseldorf, um Auguste, Lucie und Oskar zu zerstreuen. Diese armen Menschen träumen auch so hin im Nichtsthun, weil eben Alles erschlaffen muß in dieser Flachheit der Gesinnung. Auguste wird zwar weniger bedrängt von der allgemeinen Noth der Ueberfeinerung. Sie ist frei, vermögend, liebt und liebt glücklich, [100] nicht weil sie mich liebt, sondern weil sie mit feinem Sinn den Geist der Liebe zu erfassen weiß. Nur, daß sie mich umstrickt sieht von den Verhältnissen, macht sie unruhig. Mit Freuden ging sie ein in meinen Vorschlag, Amerika zu besuchen. Es soll einstweilen blos eine Probefahrt werden, keine völlige Uebersiedelung, wiewol ich eine Rückkehr nicht ahne.

Gedrückter lebt Lucie, deren Unglück noch gesteigert wird durch ihre zügellose Heftigkeit. Ihr Vormund und Onkel Steinhuder hat nicht angestanden, Oskarn geheimer Verbindungen verdächtig zu machen. Der Zufall will es, daß Oskar aus jugendlichem Frohsinn früher einer erlaubten Verbindung angehörte und als Mitglied derselben mit der Burschenschaft correspondirte. Sein späteres Leben, das sich ungebundener auf Freiheitsgedanken in eine ideale Welt emporschwang, harmonirte zum Theil mit jenen chimärischen Plänen. Oskar schrieb, ließ drucken und sprach scharf über die Mißlichkeit unserer politischen Lage. Er stand mit französischen Propagandisten in Briefwechsel, flüchtige Deutsche in Paris ergriffen mit Eifer die Gelegenheit und suchten durch ihn auf ihre Landsleute zu wirken. In der letzten Zeit erregte der häufige Briefwechsel mit Paris die Aufmerksamkeit der Behörden. Oskar's Amtlosigkeit und sein starrer Sinn trugen noch [101] mehr zur Verdächtigung bei. Es ward eine Haussuchung angeordnet und seine Papiere in Beschlag genommen. Gleich nachher ergab es sich, daß Steinhuder durch Lucie's Aeußerungen veranlaßt den ganzen schlimmen Handel angestiftet hatte. Oskar war außer sich, er vergriff sich thätlich an dem Kaufmann und kam noch in der fürchterlichsten Aufregung zu Bardeloh und mir, um wenigstens für den Augenblick einer precären Sicherheit gewiß zu sein.

Dieser Handel ist schlimmer, als er scheint. Du weißt es, wie man jetzt ängstlich darauf bedacht ist, jeden den Eintritt in den Staatsdienst zu verschließen, der auch nur einmal als Knabe im Gedanken gegen die Legitimität einer Einrichtung gesündigt hat. Diese unselige Maxime, den Staat innerlich zu sichern gegen äußere Angriffe, setzt jetzt oft die besten Köpfe außer Thätigkeit. Mangel und Armuth, beleidigtes Ehrgefühl, die geschmähte Menschlichkeit empören sich und der Staat gibt auf diese Weise, ohne daß er es will und ahnt, wol gar Anlaß zu Unruhen.

So stehen die Sachen überall, im In- und Auslande. Nie sind eine solche Menge fähiger Köpfe außer Connex gesetzt worden mit der Bedürftigkeit des Zeitlebens, als heut zu Tage. Mein eigener Kreis von Bekannten ist zwar nur [102] klein, aber doch ausgedehnt genug, um zu erkennen, woran der Staat krank liegt. –

Der erste Sturm nun ging freilich vorüber, denn ob auch die Behörden Oskar's Versteck ahnen mochten, Bardeloh's Name, sein unheimliches Wesen erregen noch immer eine wunderbare Scheu. Und wahrlich, Bardeloh würde in seinem Hause gewiß keine Haussuchung geduldet haben!

Am unglücklichsten war Lucie gestellt. In ihrer Heftigkeit vergaß sie Alles, überhäufte Steinhudern mit Schmähungen und verwundete den unglücklichen Friedrich gefährlich mit einem Messer, als ihr Onkel abermals den jämmerlichen Menschen ihr als Bräutigam vorstellte. In der Angst entrann sie und stürzte, kaum ordentlich gekleidet, zu Rosalie in's Zimmer, als ich eben der besonnenen Frau einige Stellen aus Thomas Paine vorlas. Schnell ward der Entschluß gefaßt, das Geschehene wenigstens vorläufig durch Entfernung der Betheiligten vergessen zu machen. Ich eilte zu Burton, der, wie ich seitdem von ihm erfuhr, Kapitain in Diensten der freien Staaten ist, und bat ihn, die Führung eines kleinen Segelkahns zu übernehmen. Denn mit dem Dampfboot abzureisen, war nicht räthlich; Burton verstand sich gern dazu und noch an demselben Tage spät Abends hatten wir uns unterhalb [103] Deuz eingeschifft. Obwol der Amerikaner das Strombett nicht kannte, hat ihm lange Erfahrung doch einen so richtigen Blick erworben, daß wir ohne den geringsten Anstoß einige Meilen den Strom hinabschifften, und hier das am andern Morgen ankommende Dampfboot erwarteten. Dieser Umstand verhinderte ein Zusammentreffen mit Bardeloh, um diesen für unsern Plan zu stimmen. Auf der andern Seite war damit aber auch wieder eine sehr bedeutende Förderung verbunden. Die Wasserfahrt gab mir hinlängliche Gelegenheit, mich mit Burton zu besprechen, jedes Für und Wider reiflich zu überlegen und meinen gefaßten Entschluß zu befestigen. –

Wir waren erst einige Stunden in Düsseldorf und trieben uns am Ufer des Stromes unter dem geschäftigen Leben herum, als eine Menge Auswanderer nach Amerika ankamen. Es waren meist arme Leute, zum Theil schon hoch in die Jahre. Kummer und Gram, das Brandmahl, welches die Armuth ihren Kindern eindrückt, prangte mit seinem blassen Todtenfahl auf den Gesichtern derselben. Burton mischte sich unter sie, fragte, in welchem Staat sie sich niederzulassen gedächten, welche Mittel ihnen zu Gebote ständen und Anderes. Die Antworten fielen sehr dürftig aus. Nur Wenige konnten mit Mühe die Ueberfahrtskosten bestreiten. Die ganze Gesellschaft [104] hatte in Rotterdam ein Schiff gemiethet, das sie der neuen Welt entgegen führen sollte. Burton kannte das Fahrzeug, es war leck, im höchsten Grade gebrechlich und nur beim unwahrscheinlichsten Glück, noch dazu so spät im Jahre, eine günstige Fahrt denkbar.

»Es ist entsetzlich,« sprach der Amerikaner, »mit welchem Leichtsinn man die Auswanderer den Launen des Meeres übergibt. Die sittenlose Speculation der Rheder verdiente mit Todesstrafe belegt zu werden, und übten die Behörden immer mit mildem Sinn und nach dem Buchstaben die Gerechtigkeit aus, so müßten sie darauf sehen, denjenigen ihrer Unterthanen, die Noth und Unglück aus dem geliebten Mutterlande vertreiben, auch ein sicheres Geleit über das Meer zu geben. Man glaubt es kaum, wie viele Tausende elend zu Grunde gehen! Der Leichtsinn nimmt mächtig sehr überhand, alle Jahre steigt die Zahl der unglücklichen Opfer, die durch die Sorglosigkeit egoistischer Speculanten entweder den Wellen oder dem Hunger Preis gegeben werden. Diese Armen hier werden ein gewisser Raub des Elementes, wenn sie sich jenem Fahrzeug anvertrauen. Allein es soll nicht geschehen! Ich kenne den Besitzer, ich werde ihm schreiben und über ein anderes Schiff disponiren, das fest und ein Schnellsegler ist. Den Armen soll geholfen werden. [105] Es sind mächtig brave Leute. Solcher Menschen bedarf Amerika. Ihre Nachkommen werden dereinst Europa wieder segnen helfen.« –

Die edle Uneigennützigkeit des Amerikaners erwarb ihm meine höchste Achtung. Ich zweifle gar nicht, daß ein so kräftig gesunder Sinn nicht Allgemeingut der Nordamerikaner ist, in ihm aber spricht sich die unerschütterliche Tugendhaftigkeit eines wahrhaftigen Republikaners aus, das heißt eines Menschen, der frei ist in politischer, socialer und religiöser Beziehung; und solche Menschen kennt nur Amerika. –

Burton zauderte nicht. Er ließ sich den Anführer der Gesellschaft vorstellen. Es war ein Greis von beinahe siebenzig Jahren. Er hatte sein kleines Gütchen verkauft in Würtemberg und mit seinen Kindern und Enkeln, einer Seelenzahl von einigen Dreißig, den Entschluß gefaßt, nach Amerika zu gehen. Land hatte er noch nicht gekauft, nur vorläufig sich am Delaware bei einem früheren Auswanderer auf zwei Monate ein Unterkommen ausbedungen. Der Mann hieß Tannenstädt.

»Mir wird's freilich schwer,« sagte der Greis, »mein liebes Deutschland zu verlassen. Was kann's aber helfen? Die Zukunft ist so düster, daß ich fürchten muß, meine Kinder und Kindeskinder verwünschen mich noch im Grabe, wenn [106] sie einst bettelnd von Thür zu Thür schleichen. Es ist nicht mehr möglich, als ehrlicher Mann durch die Welt zu kommen in jetziger Zeit. Alles bricht zusammen, die Armuth macht widerspenstig und irreligiös. Wir sind nicht gewohnt, herrlich zu leben und in Freuden, nur das liebe tägliche Brod verlangen wir, und ein stilles sicheres Plätzchen für den arbeitsmüden Leib. Nun, was mich anlangt, so bringe ich mich wol durch. Was aber soll aus meinen Kindern werden? Ich seh's ein, daß wir uns nur Elend erwarten. Nun, sagt' ich da, in Gottes Namen, Kinder, gehen wir hinüber nach Amerika. Ein Plätzchen für mich zur ewigen Ruhe wird sich in dem weiten Lande wol finden, und Ihr habt die gewisse Aussicht, eine schöne Zukunft zu erleben. Auch plagen wird man Euch nicht mehr mit überflüssigen Abgaben. Darum auf und davon! Der Deutsche Gott ist auch Amerika's Vater.«

Also auch in den niedern Ständen ist das Gefühl heimisch geworden, daß in der bloßen Ausdauer, und werde sie getragen von der edelsten Tugendhaftigkeit, keine Erlösung mehr zu hoffen ist. Der arme Bauer und Bürger ist eben so europamüde, als der gebildete Weltmann. Nur daß bei jenen der geistige Ekel nicht so überschwenglich zu Tage liegt und in Ironie und Hohn sich ausgeifert. Diesen bedauernswerthen Vorzug [107] hat bis jetzt blos der feine Weltmann, weil er eine größere Last der Sünden in sich beherbergt, als das schlichte Kind der Natur.

Burton war gerührt von der Ehrlichkeit des Alten. Er schrieb einige Briefe an amerikanische Kaufleute und gab sie dem Greise mit dem Bedeuten, sie ja wohl zu verwahren, und käme er glücklich an mit den Seinigen auf dem nordamerikanischen Festlande, sie in Washington an das bezeichnete Handelshaus abzuliefern. Den Vorschriften, welche darauf an ihn ergehen würden, solle er unbedingt vertrauen. Sie würden ihm eine heitere Zukunft und herzliche Theilnahme sichern.

Gerührt dankte der Greis mit seinen Kindern dem Amerikaner. Alle küßten Burton die Hand, und ehe noch der Abend herankam, war das Schiff in der Ferne unsern Augen entschwunden. Meine Sehnsucht hing sich als Wimpel an seine schwanken Maste und brachte die ersten wärmsten Schläge meines stürmischen Herzens dem Lande der Hoffnung, dem Erdtheil der Erlösung.

»Diese guten Menschen werden dennoch mächtig zu leiden haben in meinem Vaterlande,« sagte Burton. »Sie sind zu sehr gewöhnt an den Bückling des Gehorsams. Das Gespenst einer überlieferten Gewalt hockt auf ihren Schultern, der Schatten des gebrochenen Joches, das so lange [108] als Schmuck enger Gebundenheit sie begleitete, legt sich noch immer um den der Freiheit ungewohnten Nacken. Das müssen sie verlernen, wollen sie geachtet sein von meinen Landsleuten. Der Deutsche ist der beste der Ansiedler, aber der am wenigsten geachtete von dem Amerikaner, weil er zu fest an seinen alten Gewohnheiten hängt. Doch wird sich auch dies verlieren, denn wir Amerikaner sind mächtig derbe Menschen.«

Wohl hatte Burton recht, mein eigenes Gefühl sagte mir dies, und so wenig ich selbst ein Freund bin des überlebten Alten, diese Untugend deutscher Tugendhaftigkeit wird auch mich nicht sogleich verlassen wollen. Doch Hoffnung, Hoffnung ist mein Glück und dieses Glück steht so fest, als das Firmament.


Um Mitternacht.


So eben komme ich von einer langen Unterredung mit Burton. Ich habe meine Zukunft erbaut an dem großen Weltherzen dieses Menschen, der frei ist und glücklich, und doch theilnehmend und empfänglich für den Schmerz Anderer. Burton will mit Bardeloh sprechen; er ist nicht abgeneigt, selbst den wahnsinnigen Mönch nach Amerika überzusiedeln. »Die Seelust,« sagte er, »kann ihn [109] heilen, und wo nicht, die Unbegreifbarkeit der großartigen Natur meines Vaterlandes.«

Darüber kann ich nicht entscheiden, die gesunde Vernunft aber findet nichts Unwahrscheinliches in einer solchen Behauptung. Auch Casimir und Friedrich, dessen Geschichte, soweit ich sie selbst kenne, der Amerikaner von mir erfuhr, werden und begleiten. Eine mir selbst unbegreifliche Anhänglichkeit an Mardochai ließ mich auch diesen vorschlagen. Burton stutzte, und zum ersten Male glaubte ich eine nicht ganz menschliche Regung in ihm zu entdecken.

»Sigismund,« erwiederte er nach kurzem Schweigen, »bestehen Sie darauf, so will ich Ihnen nicht zuwider sein, etwas aber gebe ich Ihnen zu bedenken. So wie Sie mir diesen außerordentlichen Mann geschildert haben, fürchte ich entweder, daß er den Antrag höhnisch ausschlägt oder, nimmt er ihn an, die Ruhe stört, die Gesellschaft in Gram und Angst des Kummers und alter, bitterer Erinnerungen niederdrückt. Wofür auch Mardochai immer gehandelt haben mag, er hat mächtig gesündigt an dem Einzelnen, um das Ganze zu sühnen. Können wir wissen, ob den tiefwurzelnden Haß des Sturmes Toben und die leuchtende Geisterflamme des Oceans in ihm auszubrennen im Stande sind? Ein nationaler Haß scheint mir unaustilgbar zu sein, ein persönlicher [110] läßt sich versöhnen. Bei Mardochai haben sich beide so seltsam verzweigt, daß nur der Tod sühnend dazwischen treten kann. Darum, Sigismund, rathe ich nicht nur, den Juden zurückzulassen, sondern ihm auch unsern ganzen Plan zu verschweigen. Ohnedies ist ja Ihr Freund Bardeloh noch erst dafür zu gewinnen, was, dünkt mich, eine mächtig schwierige Aufgabe sein wird.«

Ein ruhiges Ueberlegen der Verhältnisse und des geistigen Zusammenhanges dieser seltsamen Lebensverwickelungen, mußte Burton Recht geben. Ich bin entschlossen, gegen Mardochai ein Geheimniß daraus zu machen. Nun meldet sich aber ein eigenes Mitgefühl in mir, das mich bedauern läßt, auch Sara, dies liebliche Geschöpf, der hiesigen Sumpfluft zum Opfer fallen zu lassen. Es ist nicht Liebe, was ich empfinde, mein Herz gehört ganz nur der Göttin meines Lebens, Auguste, zu eigen. Die Unschuld allein besticht mich, die Hilfsbedürftigkeit des Weibes, die sich unmöglich an Mardochai's starker Hand kräftig fühlen kann. Und wer soll Sara retten, wenn der Zug des Geschickes uns fortreißt über die unermeßlichen Meere? Wird Sara Christin werden, wird sie Jüdin bleiben und einem Gatten die Hand reichen, der wol die Aeußerlichkeit von dem Streben Mardochai's begreift, aber nicht hineinsehen kann in den Abgrund dieser speculirenden Seele? Hier [111] bin ich mir unklar und weiß noch nicht, was ich thun oder lassen soll. Indeß vertraue ich abermals der Hoffnung und Auguste's schwesterlicher Liebe. Vielleicht weiß das Gemüth des Weibes in seiner Unmittelbarkeit eher einen Rath, als der berechnende Verstand des Mannes. –

Oskar und Lucie glühen verlangend nach Amerika's Freiheit. Beide wollen nicht wieder zurück nach Europa, sie gehen mit dem festen Entschluß zu Schiffe, sich jenseits des Weltmeeres ein neues, schöneres Vaterland zu suchen. Jetzt, wo das Unglück schnell und unvorgesehen Oskar's Seele berührt hat, steht der kräftige Mann in ihm auf. Es ist unglaublich, wie rasch das Unglück den innern Menschen hintreibt zu einer schönen Reife. Bisher fand ich in Oskar nur den verliebten Jüngling, der hinschwankte zwischen Leidenschaft und einem unstäten Wollen und Suchen. War auch sein Sinn gerichtet auf das Höhere und Zukünftige, was verborgen nur zuweilen die prophetischen Augen aufschlägt im tobenden Geräusch des Tages, so fehlte es ihm doch an jener Elasticität eines unternehmenden Geistes, die allein im Stande ist, die fesselnde Schmeichelei des Jahrhunderts an den Pranger zu stellen. Dies ist mit einem Male verschwunden, seit die Willkür der Macht seinen persönlichen Willen berührt hat. Und daraus, lieber Raimund, leite ich einen neuen Beweis her [112] für die europäische Entsittlichung. Wir sind klug genug zu begreifen, daß wir hinsiechen im Nichtsthun, in der Lauigkeit unseres Herzens, aber die Tugend ist viel zu lumpig geworden unter den gewaltsamen Stößen, als daß sie für die Allgemeinheit sich in Kampf und Tod stürzen könnte. Erst, wenn der Egoismus berührt wird mit unheiligem Finger, dann weckt die kleine Beleidigung das Sittlichkeitsgefühl auf, und die Unmoralität muß so generös sein, der Tugend die Schleppe aufzuheben und ein Uebriges zu thun für die Weltgeschichte. Bilde Dir ja nicht ein, Raimund, daß unser Kosmopolitismus ein Verdienst sei unserer Ehrlichkeit; bei Leibe! Es ist nur das Gewinsel des Geprügelten, der im Schmerz große Heldenthaten verspricht. O, pfui dieser Tugend! Aber wir dürfen eigentlich nicht murren; denn eine niedergehaltene Kraft lehrt erkennen, wie stark sie werden kann, wenn der Absolutismus derselben wieder Geltung gewinnt.

Wir haben beschlossen, Oskar soll sich in der Nähe von Düsseldorf bis zu unserer Abreise aufhalten, die im Mai des künftigen Jahres angesetzt ist. Lucie bleibt bei einer Verwandten Auguste's. Beide Mädchen sind hier sicherer und in einer ihrem Geschlecht angemessenern Stellung. Oskar hat sich vorgenommen, eine sehr freie Darstellung des Rechtszustandes in Deutschland auszuarbeiten [113] und noch vor seiner Auswanderung in Druck zu geben. Ich rieth ihm ab, da ich es weder für zweckmäßig noch edel halte. Allein wer mag dem beleidigten Zorne widerstehen! Oskar beharrt darauf und so mag er immerhin seinen Ingrimm noch aussprudeln. Auch dies kann Europa's Genesung oder schnelleren Tod herbeiführen, wo dann ja eine Wiedergeburt nicht so gar fern sein wird. Es ist merkwürdig, wie seit langer Zeit schon die Unmoralität an sich als ein Heilmittel aufgegriffen wird für die krankhaften Zustände. So wird der Vergiftete nur durch Gift gerettet!

Oskar's Arbeit dürfte viel Gutes enthalten. Sein Sinn ist klar, er besitzt eine scharfe Combinationsgabe, die Wuth macht ihn bitter, lange erduldetes Unrecht gebiert jenen schneidenden Witz der Ironie, der vorzugsweise leider eine Geburt unserer Zeit genannt werden muß!

Auguste will nicht wieder zurück nach Köln. Mich schmerzt dies tief, doch kann ich mich durch die Aussicht beruhigen, öfters einmal mit dem Dampfboote den Rhein hinabzuschwimmen. Ein lebhafter Briefwechsel wird ohnedies unsere Herzen immer in engster Verbindung erhalten. – Einige Tage werde ich noch hier bleiben, um einleitende Briefe nach Amerika zu schreiben. Von Köln aus erhältst Du ebenfalls einige an meinen Geschäftsführer. Ich trage ihm auf, mein kleines [114] Besitzthum im Gebirge zu veräußern. Die Kaufsumme mag aber darauf stehen bleiben. Von Amerika aus gebe ich Dir oder Ferdinand dann bestimmtere Verhaltungsregeln.

Beobachte ein tiefes Stillschweigen gegen meine Geschwister und den Vater. Sie sollen nichts erfahren von meinem Vorhaben; es würde ihnen die Ruhe rauben. Abschied mag ich nicht nehmen, um die Sentimentalität unserer Nation nicht auch in mir wieder aufleben zu lassen. Die Trennung ist unerläßlich. Außerdem kennst Du ja meine Lage und Stellung zu den Meinigen. Das Herz gehört ihnen, mein Geist und Streben der Welt. Hier muß geschieden werden streng und unerbittlich, sonst frevele ich an beiden. Freilich werden dies weder Vater noch Geschwister begreifen. Ihr Gott ist nicht der meinige, ihre Hoffnung mein Sterbegeläut. Das ist hart, ich fühl' es, aber es ist europäisch, und dies tröstet mich wieder. –

So bald ich zu Schiffe steige in Rotterdam, sende ich einen Brief ab mit meinen wärmsten Grüßen. Was mein Herz dabei fühlen wird, mag ich mir selbst nicht gestehen. Hoffnung und Liebe begleiten mich, und sollen diesen beiden Engeln des Lebens nicht alle übrigen weichen? –

Dies einstweilen Dir, um die nöthigen Vorkehrungen zu treffen. Ich fürchte nur den Winter, mehr aber Bardeloh's Gram und Mardochai's [115] diabolische Spionirkunst. Erräth er unsern Plan, so läßt sich immer nichts Bestimmtes sagen über unsern Ausgang.

Gute Nacht! Burton tritt ein, um mich zu einem Spazirgange abzuholen. So spät in der Nacht spazirengehen? Ja, Raimund. Ein wunderherrliches Nordlicht überstreut den nächtlichen Himmel wie mit blühenden Rosen. Ich habe es noch selten so gesehen, dem Amerikaner ist die Erscheinung fast ganz neu. »Europa hat auch seine mächtig süßen Reize,« sagte er, »aber Amerika's Freiheit überstrahlt doch alle, und die Flagge mit ihren sechsundzwanzig Sternen, sollte sie nicht eben so schön anzusehen sein, als das Mitleid des Himmels, das er herabflattern läßt in verheißendem Glanz über das überwachte, lebensschlaffe Europa? Nord-Amerika for ever!«

So spricht ein freier Mann, darum schweige ich. Denn noch lebt kein Europäer, der sich ganz frei und groß fühlen könnte, wenn ein Sohn Amerika's das thatenfrische Auge aufblitzen läßt in den euerflammenden Himmel. –

14. An Ferdinand
[116] 14.
An Ferdinand.

Köln, Anfang December.


Ich irre umher, wie ein Hund, der seinen Herrn verloren hat und nicht weiß, wo er ihn suchen soll. Der Sinn der Zeit ist mir abhanden gekommen; wohin ich auch gehe und nachspüre, ich finde überall nur den Unsinn oder die Gesinnungslosigkeit anstatt des Gesuchten. Seit ich hier allein stehe, nur umgeben von Figuranten des Komödie spielenden Jahrhunderts, wird mir so kahl und kalt, daß ich wirklich verzweifeln könnte, besäße ich noch so viel unverfälschte Tugend. Aber auch diese sitzt nicht mehr in den Falten meines glänzenden Frack's, und gern will ich sie umherlaufen lassen, bis ich Abschied genommen habe von meinem Geburtslande.

Bardeloh mag nichts hören von einer Fahrt nach Amerika. Zwar gibt er mir und dem hellsehenden, verständigen Burton vollkommen Recht, aber mit Gleichmuth behauptet er auch, daß er nichts mehr tauge für das Land der Freiheit. [117] Und – fühle mit mir den Schmerz dieses Bewußtseins – ich kann ihm nicht widersprechen! Das gerade ist unser eigentlicher Tod, daß die edelsten Kräfte die Weihe der That verlieren durch die abschwächenden Umgebungen. Bardeloh würde, in Amerika geboren, mit jedem Tüchtigsten gewetteifert und dem Siege niemals die Fersen gezeigt haben, so aber ging er unter in der Grübelei, die, wenn auch im Einzelnen nützlich, doch fruchtlos bleibt für das Ganze. Was nützt es nun, daß er durch die Speculation dahin gelangt ist, auf ein Haar zu bestimmen, was unserm Welttheile mangelt, wenn mit diesem Gewinn jener große Verlust sich einschlich in sein Leben, daß nur Gleichgiltigkeit geduldig das Elend ertragen könne? Diese Niete aus der weltgeschichtlichen Existenz zu ziehen, bedurfte es kaum so raffinirter Mittel. –

Bei alle dem sehe ich die Nothwendigkeit einer veränderten Stellung für Bardeloh deutlich genug ein. Wie Cäsar von Cassius sagt: er sei gefährlich, weil er dünn und schmächtig, und zu viel denke und grübele, so läßt sich auch von Bardeloh Aehnliches behaupten. Du müßtest diesen Menschen sehen, um zu begreifen, daß nie in einem Geiste mehr Göttlichkeit verloren ging an die Versunkenheit eines Zeitalters und seiner schlaffen Genußlosigkeit, als in diesem. Ich fürchte[118] für Bardeloh allein, für Niemand sonst. Die Unbarmherzigkeit des Tageslebens hat ihn bereits so gleichgiltig gemacht, daß das Allgemeine nur in so fern noch an ihn tastet, als er ein Glied der großen Kette ist, die sich erwürgend um den Hals des Jahrhunderts legt. Bardeloh brütet über einer witzigen Rache, fürcht' ich, die seinem Tode mit der Farbe des Pikanten zugleich den Anschein der Kraft geben soll. Es wird aber am Ende doch eine bloße scandalöse Rauferei, wobei die Tugend Haare lassen muß, und das Laster als lustiger, geiler Bock über die Hecke springt, die den Paradiesesgarten umfriedet. Dabei kommt im Leben nichts heraus, und ich will vereint mit Burton Alles aufbieten, um Unheil zu verhüten.

Gleichmuth ist nicht mehr thätig. Er kann als abgetreten vom Schauplatz betrachtet werden. Der Schatten seines seltsamen Charakters nur ragt herein in die Dämmerung des Werdenden und wehrt, gleich einem umgekehrten treuen Eckardt, Jedermann ab, Theil zu nehmen an diesen aufreibenden Bestrebungen.

Seit der Zusammenkunft mit Casimir und Eduard bin ich ihm nicht mehr auf offener Straße begegnet. Er arbeitet ruhig fort an der Geschichte der Heiligen und scheint mit einiger Unruhe auf etwas Gewaltsames zu warten. Ich besuche ihn oft. Gestern war ich des Abends bei ihm, wir [119] sprachen von unserer bevorstehenden Reise und ein Funke des niedergebrannten Lebensglückes glomm auf in seinem Auge.

»Es freut mich,« sagte er matt, aber herzlich, »daß meine Lebensgeschichte so viel zu diesem Entschlusse beigetragen hat. Darauf hoffte ich im Stillen schon, als ich diese Bekenntnisse niederschrieb. Ich wußte zwar nicht, wer berufen sein würde, durch diese Wunderlichkeiten gerettet zu werden, indeß die Ahnung war doch einmal da. Ein feiner Instinct ließ es mich errathen und Beruhigung in meinem Gedanken finden. Und so möchte ich der Vorsehung, oder mir selbst, oder auch gar dem Juden danken für all' das frevelhafte Beginnen, dem ich erlag. Ich sehe jetzt eine nothwendige, weltgeschichtliche Consequenz in diesem moralischen Versumpfen, und gesetzt auch, darin läge mehr Islamismus als Christenthum, so bleiben sich die Folgen doch immer gleich. Eine recht furchtbare Immoralität ist die sicherste Erweckerin der vergessenen Moral. Nur die Werkzeuge sind zu beklagen, in so fern jedoch, als sie eben Werkzeuge der Besserung werden, auch wieder zu beneiden. Sie sehen, Sigismund, die Skepsis hat nie ein Gewissen und weiß sich in jedem Falle zu trösten.«

»Bei alle dem,« fiel ich ein, »kann ich noch immer nicht begreifen, warum Sie so hartnäckig [120] darauf bestehen, in Europa zu sterben. Das Glück kann Sie nicht halten, dem Unglücke haben Sie keinen Tribut mehr abzutragen. Ihr Wirkungskreis schloß sich von selbst ab, die Hoffnung versank, nur jenes Land in der Ferne könnte belebende Streiflichter nochmals in Ihren Geist werfen.«

»Meine Antwort,« versetzte Gleichmuth, »liegt schon in Bardeloh's Weigerung – und doch ist er ein Gott an Reinheit und Kraft mir gegenüber! Nein, Sigismund, ich will doch sterben auf dem zerbrochenen Throne meiner Herrlichkeit.«

Meine Einwürfe fruchteten nichts, der starre Mann, an consequentes Handeln gewöhnt, beharrte bei seinem Entschlusse und ermahnte mich nur wiederholt, Bardeloh's sich gestaltende Handlungsweise genau zu beobachten.

»Er zimmert,« sagte er, »und zwar an dem Sarge seines Liebsten.« – Näher wollte er nicht darauf eingehen, vielleicht um meine eigene Wachsamkeit zu vermehren. –

So lange ich auch wieder zurück bin von Düsseldorf, ich habe den Juden noch nicht wieder gesprochen. Begegnet bin ich ihm oft, aber er scheint mich absichtlich vermeiden zu wollen. Vielleicht sieht er dunkel in mir einen Feind seines geheimen Schaffens. Desto öfterer komme ich mit Sara zusammen. Dieses Mädchen scheint [121] aus jüdischem und christlichem Blute entsprungen zu sein. Verschiedene Anzeichen lassen mich dies vermuthen, ohne daß ich mich näher darüber aussprechen möchte. Das seltsame Kind hat eine Neigung zu mir und – erstaune – zugleich auch zu Casimir gefaßt! Dieser Nebenbuhler macht mich beinahe lachen. Doch finde ich es nicht unnatürlich, daß ein so ganz seiner eigenen Natürlichkeit überlassenes Kind sich angezogen fühlt von der Ursprünglichkeit in Casimir's Wesen. Nimmt sich nun der Mensch noch zusammen, was er in seinen reinsten Momenten wol im Stande ist, so kann er sogar einem Mädchen interessant werden.

Ich sprach mit dem lieben Kinde davon; denn Sara macht gar keine Geheimnisse aus ihren Herzensregungen.

»Ob mir Casimir gefällt, wollen Sie wissen?« antwortete die Jüdin. »Das kommt mir nicht in den Sinn! Aber er hat so was Phantastisches und das kann ich wol leiden. Er heitert mich auf durch seine Possen.«

»Und weiß es Dein Vater?« –

»Pst!« fiel sie ängstlich ein und legte ihre weiche Hand an meinen Mund. »Der Vater darf nichts wissen, er würde mich sonst morden. Nur Friedrich weiß darum und führt Casimir sicher herein, denn Friedrich ist klug, wenn er auch so albern aussieht.«

[122] »Bist Du mir gut, Sara?« fragte ich, um über ihre Neigung Gewißheit zu erlangen und sie selbst vor Unglück zu bewahren.

»Ja, Dich liebe ich,« versetzte sie anmuthig lächelnd, »darum schmücke ich mich auch immer mit den schönsten Kleidern meines Vaterlandes, das ich nicht kenne. Als ich Dich zum ersten Mal sah, klopfte mein Herz so ängstlich und doch so munter, wie ein Vöglein, das sich freut, eine süße Nahrung gefunden zu haben. Du warst so ernst und doch wieder so heiter im Auge, und das hab' ich gern. Darum that ich auch dem Vater den Willen und spielte und tanzte. Und wenn Du mir nur auch gut sein willst, so vergesse ich, daß ich eine Jüdin bin – ›ein verfluchtes Geschöpf,‹ wie der Vater sagt.«

»Gut bin ich Dir, Sara,« erwiederte ich, »aber lieben darf ich Dich nicht, denn ich habe mein Herz schon an ein anderes Mädchen verschenkt.«

»So?« lächelte die Jüdin und zeigte ein paar Reihen Zähne, die wie Perlen durch die Rubineinfassung der Lippen glänzten. »Theil's doch, so kannst Du mich auch lieben.«

»Wenn ich es auch theilen könnte, so würde dies Auguste nicht zufrieden sein.«

»Auguste? Wer ist Auguste?«

[123] »Meine Geliebte« – ich hätte bald gesagt – meine Gattin.

»Auguste ist ein hübscher Name.«

»Der schönste, den ich kenne! Es gibt keinen herrlicheren, keinen glückverheißenderen Namen.«

»Auguste – Auguste – ich möchte wol so heißen. Aber Sara klingt auch recht artig. Sara klingt so wehmüthig, wie Alles Jüdische. Liebst Du Auguste heiter, so liebe mich traurig. Das ist erlaubt, es ist morgenländisch. Liebe mich morgenländisch, Sigismund.«

»Konnte das schuldlose Kind genügsamer, reizender sein in dieser Genügsamkeit? Ich ließ sie dabei und versprach sie halb so viel zu lieben, als Auguste. Darüber ward sie ganz ausgelassen glücklich, nahm die Zither, spielte und tanzte vor mir auf dem persischen Teppich und vergaß ganz die beschränkte Lage, in der sie sich befand. Ehe ich sie verließ, bat ich nochmals, sie solle behutsam umgehen mit Casimir und ihm in keiner Weise Freiheiten erlauben, denn ich fürchte dieses Menschen Tollheiten, wenn grade einmal der Teufel der liederlichen Genialität über ihn kommt. Sara versprach mir zu gehorchen und küßte mir beim Fortgehen Hand und Kleid.«

So komme ich alle Tage in seltsamere Verwickelungen und Situationen. Sara meine Geliebte! Gott im Himmel, das Kind verdient einen [124] Bessern, als mich, und doch ist es unmöglich, sie davon zurückzubringen. Ich halte es sogar für nöthig, einstweilen ganz ernstlich die Rolle des Begünstigten zu spielen, um andere Lüsterne vor dem Unerlaubten zurückzuschrecken.

Aus einzelnen Andeutungen vermuthe ich, daß Sara's Mutter eine Christin gewesen ist. Ob diese gestorben oder von Mardochai verlassen worden sein mag, kann ich noch nicht ermitteln. Außer dem Kreise der Wahrscheinlichkeit läge es wohl nicht, wenn dieser raffinirte Rachegeist alle nur denkbaren Auswüchse seines angebornen Talentes überall hin hätte greifen lassen, um das Terrain sich möglichst zu erweitern. Sei dem auch, wie ihm wolle, schuldlos, ein reines Kind glücklicher Unbefangenheit, steht Sara vor meinen Augen. Sie hat ihre Mutter nie gekannt. Friedrich, der nicht ohne Mitwissen zu sein scheint, ist vielleicht zu bewegen, Winke über die frühern Verhältnisse Mardochai's zu geben, und könnte dies geschehen, so ließe sich wol auch gegen ihn machiniren, ohne mit Gewalt seine fein geschürzten Netze zu zerreißen.


Den 17. December.


Man sollte kaum glauben, daß eine im Ganzen doch aufgeklärte Bevölkerung so lange und [125] hartnäckig an alten Gebräuchen fest halten könnte. Zwar liegt wenig daran, die Cultur wird nicht niedergehalten, aber es fällt doch auf. In früherer Zeit gab es in Köln einen ausgezeichnet fröhlichen Carneval. Große Maskenzüge wurden angeordnet, an denen vorzüglich die Geistlichkeit, wie Du weißt, regen Antheil nahm. Die neuere Zeit hat diese Maskenfahrten zwar vielfach verwischt, aber doch nicht ganz zu tilgen vermocht. Mir nun gefällt dies, so wenig mein eigener Sinn am Alten sich sättigen kann. Ein Stück romantischer Poesie aus den Zeiten des Mittelalters greift vermittelst dieses Spieles noch herein in unser ernüchtertes Zeit alter, und sucht man dies, wenn auch nur künstlich, fest zu halten, so ist der Instinct, der es thut, sogar lobend anzuerkennen. Es sollten dergleichen Festlichkeiten heut zu Tage nur mit mehr Geist angeordnet werden, so könnten sie sogar Form und Gestalt einer Volksbelehrung annehmen. In die bloßen Farcen muß man jetzt Tiefe zu bringen suchen, sonst werden sie fade und widerlich.

Schon seit einiger Zeit spricht man von dem bevorstehenden Carneval, ohne sich zu etwas Großartigem zu vereinigen. Wie Alles bei uns, wird auch dies nur stückweise betrieben und Jeder folgt seinen eigenen Eingebungen, Privatliebhabereien und philisterhaften Albernheiten, wobei dann freilich [126] ein Harlekinswesen zu höchster Ergötzlichkeit des Pöbels herauskommen muß.

Auffallend ist mir hierbei nur die große Thätigkeit Mardochai's. Läuft der Mann von früh bis in die Nacht hinein Gass' auf, Gass' ab, als gelte es dem Wiederaufbau Jerusalems! Und kein Mensch erfährt, was er schmiedet, wonach er eigentlich rennt. Ich kann nicht glauben, daß ihn der Schwank selbst so gewaltig interessirt, denn wahrhaftig, die Juden kamen nicht allezeit ungehänselt hinweg! Der feige Schmerz ward oft bitter verhöhnt, und unternahm der Pöbel auch nicht grade etwas Widerrechtliches, so war er doch auch nicht jederzeit in den Grenzen erlaubter Scherze zu halten.

Mir kommt dieses unstäte Wesen Mardochai's sehr gelegen. Oft, fast täglich wiederhole ich meine Besuche bei Sara und komme dadurch Friedrichen näher, der übrigens unbefangen bleibt wie immer, wenig auf uns achtet, desto mehr aber auf seiner Geige spielt. Wäre ich diese Töne nicht schon gewohnt, so würde mich entweder ein halber Wahnsinnstaumel erfassen, oder vollendete, colossale Narrheit wäre das Ende meines Lebens. So aber gleicht sich Alles auf das Einfachste aus, die Gewohnheit macht mir sein Spiel gleichgiltig und Sara's naives Geschwätz wiegt mich in heitere [127] Träume einer längst verloren gegangenen Kindlichkeit.

Vor einigen Tagen war Sara besonders scherzhaft gestimmt. Sie zeigte mir alle Künste, die sie im schönen Müßiggange erlernt hatte und gefiel sich namentlich darin, sich vor meinen Augen schnell und fast unmerklich zu verwandeln durch ein wunderbar geschicktes Handhaben ihres Shawl's und des faltigen Oberkleides. Dieses harmlose Spiel ergötzte mich eben so sehr als das Mädchen. Dabei erzählte sie mir orientalische Mährchen, voll Duft und scherzhaftem Kinderglauben, spielte dazwischen die Zither oder führte auch einen kurzen Tanz auf. Friedrich kam dazu, und geigte. Glücklich gestimmt, hatte er Neigung zu sprechen, was er sonst fast nie thut, oder doch nur sehr lakonisch.

»Sara tanzt heut', wie ihre Eugenie,« sagte er dumpf vergnüglich in sich hineinlachend, und strich seine Geige so possirlich, daß ich selbst ebenfalls lachen mußte. »Ich denke, gescheidte Menschen lachen nie,« fuhr er fort, etwas beleidigt, wie es schien. »Das soll ja nur den Dummen und Narren frei stehen. Es ist ihr Monopol; 's kostet ihnen eine ganze, splitternackte Seele.«

»Wer war denn Eugenie?« fragte ich den Blödsinnigen.

»Eugenie?« wiederholte er, pfiffig und doch [128] auch einfältig dazu lächelnd. »Ja, Eugenie war ein Wesen, das Niemand kennen darf, als zwei Menschen.«

»Und diese zwei, Friedrich? Sieh, dies schöne Goldstück, ist's nicht mehr werth, als ein albernes Geheimniß?«

»Mardochai gab mir zehn solche Goldstücke, damit ich schweigen kann, nur zehn andere, wenn sie recht glänzen, heben sich.«

Ich warf ihm die blinkenden Dukaten zu. »Besinne Dich Friedrich!«

»Besinnen? Eugenie war Bardeloh's Schwester.«

»Und was ist sie jetzt?«

Er warf die Geige auf den Teppich und ahmte, durch das Zimmer gehend, die Haltung eines Leidtragenden nach.

»Was hat denn Eugenie in's Grab gebracht?« fragte ich weiter.

»Die dumme Liebe,« sagte der Blöde und fing wieder an zu geigen. »Wer hieß es auch dem albernen Dinge, einem Juden zu vertrauen! Dafür mußte sie bei guter Zeit die Welt verlassen.«

»Ist Eugenie kinderlos gestorben?«

»Nun das freut mich,« erwiederte der Geiger und unterbrach abermals sein Spiel. »Nun kenne ich doch einen, der noch dümmer ist, als für gewöhnlich [129] der Allerweltsesel Friedrich gehalten wird. Dieser weiß doch wenigstens, daß Sara Eugenien's Tochter ist, aber der Mensch kann auch das nicht begreifen. O über diese dummen Klugen!« –

Ein weiteres Ausfragen hielt ich für unnöthig. Ich war zufrieden und überließ Friedrichen wieder seiner Gedankenlosigkeit. Sara hatte kaum auf unser Gespräch geachtet, das oft unterbrochen wurde, indem immer lange Pausen zwischen Frage und Antwort eintraten. Da sie ohnehin ihre Mutter nicht kannte und den Geiger für eine bloße willenlose Creatur ihres Vaters hielt, den man sich durch Goldspenden vergewissern konnte, so legte sie überhaupt gar keinen Werth auf sein Geschwätz. Mir aber genügte die erhaltene Auskunft. Ich nahm mir vor, Bardeloh zu sprechen, um ihn von meinen Entdeckungen in Kenntniß zu setzen. –

Noch an demselben Abend traf ich mit ihm zusammen. Er war in einem Gespräch begriffen mit seinem Bruder. Eduard fängt seit einiger Zeit an zwar nicht verständiger, aber doch umgänglicher zu werden, und in glücklichen Momenten ist eine Unterhaltung mit ihm möglich. Freilich kreuzt der Irrsinn sich oft wunderbar genug mit einem lichten Gedanken. Sein früheres Leben streicht dann in haltungslosen Bildern an[130] ihm vorüber. Erinnerungen blitzen auf und verschwinden wieder im Entstehen. Dann reibt er sich das blutrothe Muttermal, schüttelt den kahlen Scheitel und wundert sich über die seltsamen Besuche, die ihm der lichte Tag abstattet.

In einer solchen Stimmung traf ich ihn. Beide Brüder saßen einander gegenüber, Bardeloh düster und schweigend, Bonifacius in heitere Spiele loser Phantastik aufgegangen.

»Das magst Du glauben, mit dem Frommsein ist's ein gefährlich Ding;« sagte der tolle Mönch. »Das fängt gar wunderlich an sich zu melden im Menschen. Erst prickelts wie Nadelstiche am ganzen Körper, im Herzen meldet sich eine Art Wehmuth, die vertrackt viel von Blutgier an sich hat. Darum gibt sie den Frommen auch sogleich die Geißel in die Hand. Nun geht der Tanz los, bei dem der Geist Director ist und Tactschläger. Was aber sonst noch drum und dran hängt, das drischt drauf los auf die taube Seele, bis sie Vernunft annimmt und Körner aus ihr herausfliegen. Der dürre Gevatter Tod aber grinst die schönsten Fratzen und unterhält den jungen Frommen mit lauter schaurigen Geschichten. Zuckt der Leib und mauzt die Seele, so fangen die lieben Engel an zu zimbeliren, und Juchhei! mitten in den Himmel hinein springt die gepeitschte Menschenhaut, daß der Erzengel [131] Michel, der in der Ecke sitzt und den hungrigen Frommen Honigbemmen streicht, zusammenfährt vor Entsetzen, und die Bemmen auf's Gesicht fallen läßt. Darum müssen auch alle neue Heiligen so viel Hunger leiden, und aus Hunger werden sie toll, wild. Der Himmel mag nichts von ihnen wissen, Petrus klopft ihnen mit dem Schlüssel auf die nackten Schädel und schmeißt sie kopfüber wieder hinaus aus der lieben Seligkeit, und pardautz! da geht's wieder hinein in Kellergewölbe unb Klosterzellen, und die Hora wird gebrummt, damit man das Quicken der Lust nicht hört, das in allen Nerven zwitschert und wimmert, wie geprügelte Kinderseelen. – Siehst Du, Bruder, das muß Einer nur begreifen können, um's erst heilig zu finden. Kinder schreien, sie mögen nun wirklich herumlaufen in der freien Luft, oder noch in Saft und Blut sitzen. Wer sie nicht'raus kriegen kann, dem geht's höllisch schlecht. Das Fleisch juckt ihn und die Seele windet sich wund und blutig im Nesselfieber. Manchen macht das Gequicke toll, und ich habe einen Narren gekannt, der sehr gescheidt gewesen wäre, hätte er statt des Peitschens sich einen vergnüglicheren Zeitvertreib wählen dürfen.«

So konnte der Unglückliche stundenlag fortschwatzen, tollen Unsinn gemischt mit bittern Wahrheiten. Es wurde jedem Zuhörer seelenangst [132] dabei, nur Bardeloh verzog keine Miene, antwortete kaum auf etwaige Fragen des Verrückten, und notirte sich diese oder jene Bemerkung des Mönchs in sein Taschenbuch.

Ich wunderte mich nicht wenig, als ich auf meine Erzählung von Bardeloh blos ein gleichgiltiges: »Das weiß ich,« erhielt. Auch war der räthselhafte Mann durchaus nicht zu bewegen, auf eine weitere Erörterung einzugehen. Er blieb dabei: Eugenie sei Mardochai's Geliebte gewesen mit seiner Bewilligung, und Sara ihr Kind, nach dessen Geburt sie bald gestorben. – Nun finde sich ein Mensch in dieses Gewirr! – Von Rosalie war noch weniger zu erfahren, da sie Bardeloh zu jener Zeit noch gar nicht gekannt hatte. Ich muß daher annehmen, Mardochai sei ehrlich, wie er es oft scheint, und Friedrich spreche in der That mehr aus Instinct, als aus Bedürfniß. Es ist trostlos, wenn man von Dummen und Verrückten die Wahrheit begreifen lernen soll.

Felix kam bald nach mir in des Mönchs Zimmer. »O, wie freu' ich mich,« rief er aus, »daß ich Dich wieder einmal finde, Sigismund!« Gib nur acht, wie mein Onkel klug spricht, so toll er auch immer ist. In dem Menschen steckt ein gar wunderlicher Geist, der sich gar nicht um des Vaters schöne Redensarten kümmert, sondern so frisch von der Leber weg räsonnirt, daß es gar [133] gar eine Lust ist, zuzuhören. Onkel Eduard macht's beinah so arg, als der schmutzige Casimir dort drüben.

Bardeloh beharrte in seinem Schweigen und der Mönch fing wieder an, in seiner Weise zu erzählen, Erlebtes und wüste Einfälle bunt durch einander zu werfen, wie's kam und ihm Behagen gewährte.

»Einstmals war ich ein fideler Kerl,« fuhr Bonifacius fort, »da kam ein Pfiffiger Lutheraner und sprach: Deine Religion ist nichts werth, denn sie verduftet sich. Haltbar muß Alles sein und recht nüchtern; das macht gescheidt, das nährt und schützt vor Drüsengewächsen. Ich wollt's ihm anfangs nicht glauben, weil ich viel auf schimmriges Poetenzeug hielt, und so wurde ich ein rundköpfiger Heiliger. Der Lutheraner hatte so unrecht nicht, vielleicht aber lag's auch in meinen Nerven. Das ungezogene Gespinnst wollte immer ›Schultert's Gewehr!‹ spielen, sicherlich weil ich im Befreiungskriege mit gefochten habe. Das brachte die Heiligkeit bei mir in Miscredit, und so ward ich lieber Obercommandant der Nerven und commandirte, daß mir die Lunge schmerzte: Präsentirt's Gewehr! Bei alledem kam's zu keinem richtigen Einhauen und Bajonettgefecht, sondern 's blieb eben beim bloßen Präsentiren. Und das machte mich ärgerlich [134] und so, was man sagt, etwas wirblich im Kopf. Merk Dir's, Bruder, Nervenobercommandant zu sein, ist ein sehr kitzliches Generalat, und trägt nichts ein, als grobe Kutten und schwere Ketten. Weil ich ein neues Land entdeckt hatte, schloß man mich an, wie den Allerweltscapitain Columbus.«

»Onkel, das war auch ein tüchtiger Mensch,« fiel Felix ein, »und wenn mir der hübsche Amerikaner Burton das Schifferhandwerk lehrt, so will ich schon auch einmal eine Welt entdecken und mich nicht in Fesseln schmieden lassen.«

»Es wäre auch sehr unnöthig,« sprach Bardeloh, »Du liegst so fest drinn, daß ich nicht wüßte, wo man noch eine anbringen wollte.«

»Sigismund,« sagte der Knabe zu mir, »das bildet sich der Vater wieder einmal ein, gerade wie sein Civilisationsgift, das auch kein Apotheker kennt. Ich und Fesseln! Kann ich nicht springen und laufen, wie mir's gefällt? Hat der Vater wunderliche Einfälle! Ach wenn er dadurch nur nicht so gar traurig und düster würde! Da muß die Mutter weinen und ich fürchte mich, und dann freilich ist mir's, als ob ich Ketten trüge.«

»Gewöhne Dich an den Gedanken,« sprach Bardeloh, »so kannst Du sie noch einmal abschütteln.«

[135] »Ketten sind ein schlechtes Geschmeide fuhr Bonifacius fort, für die Heiligen wüßt' ich aber doch kein besseres. Das hält einen so warm und treibt jeden Gedanken hinein in seine eigene Hülfe, daß man ihn zuletzt gar nicht mehr sehen kann. Und so muß es sein! Ein wahrer Heiliger darf keinen Schimmer seines eigenen Gedankens in sich spüren, ein ächter Mansch eben so wenig. Das muß Alles in das unsichtbare Blut und Fleisch aufgehen, von dem der Geist lebt. Und wenn wir so diese Gedankenspeise hinunterschlingen, da geht einem der Himmel erst auf, wie alle fünf Wunden des Heilands, bluthroth – o das ist eine Lust! Werdet Heilige, wie ich! Ihr Lumpengesindel sollt schon noch Gott erkennen lernen!«

In dieser Manier sprach der bedauernswürdige Mönch noch lange, und ich würde nicht müde geworden sein, ihm zuzuhören, wäre mir nicht ein Brief von Auguste überbracht worden, die mir ihre Lage in Düsseldorf schilderte und nichts sehnlicher wünscht, als die Herankunft des Frühjahr's, um der neuen hoffnungverheißenden Welt entgegen zu schwimmen. Damit Du nicht aus dem Zusammenhange gerissen wirst, schreibe ich Dir ab, was Dich interessiren kann und sich mittheilen läßt. Denn nun wir so innig mit einander verbunden sind, fängt die Geheimnißkrämerei erst an. Liebende, die dem höchsten Glück [136] entgegenharren, werden egoistisch. Ich mag keine Ausnahme machen von dieser Regel, eine der wenigen, die ich respectire und auch in die neue Welt hinüberretten will. Man muß das Gute dem Alten vollends ganz entreißen und in sicheren Gewahrsam bringen; denn anders fehlt es dem Neuen an dem Poetischen des Vergehenden, und diesem wird die Möglichkeit benommen, sich im Gefühl gänzlicher Nichtigkeit wieder zur wahrhaftigen That empor zu schwingen. Hier ein Auszug aus Auguste's Schreiben:


Auguste an Sigismund.


»Unser Leben gestaltet sich hier recht heiter, geliebter Freund. Ich bedaure nur, daß die Nähe des Winters uns meist in's Zimmer verweist, was ich nicht liebe. Kleine Ausflüge an heitern Tagen in die Umgegend haben wir zwar nicht unterlassen, und ich bin sogar ein paar Tage in Pempelfort gewesen, wo ich, angeregt durch die Erinnerung an die Vergangenheit, die Schriften Jakobis zu lesen begann. Sie können mich jedoch nicht mehr so recht fesseln. Dergleichen hat seinen eigentlichsten Werth verloren für uns moderne Unglückskinder.

Ganz anders erfaßt mich Börne, in dessen Briefen aus Paris uns Oskar des Abends viele Stunden lang vorliest. Ich kann nicht müde [137] werden, diesen göttlichen Menschen zu lieben, der es wagt in dem Bewußtsein seiner reinen Tugendhaftigkeit den Schleier von dem Antlitz der Zeit zu heben und dem lebenden Geschlecht zu zeigen, was für ein fahler Todtenkopf darunter verborgen ist. Gabe es auch nur diesen einzigen Börne in Europa, so läge in ihm schon der schlagende Beweis, daß dieser Erdtheil sehr krank sei. Börne ist nicht als Deutscher aufzufassen, sondern als ein Product des europäischen Lebens. Und ihm zur Seite wandeln bereits Jüngere, die freilich dem Titanen erst bis an die Knie reichen. Solche wittere ich in manchen gegenwärtig Verfehmten, und wenn Du's nicht übel nimmst, mein Geliebter, so behaupte ich, diese Menschen werden noch einmal hoch verehrt werden von der Nachwelt, und zwar ihrer angeblichen Frevel halber. –

Bitte, bitte, lies weiter und vergib meinen Ketzereien! Ich armes Ding kann ja doch nichts thun, als die Brosamen meiner Gedanken mühsam zusammenlesen und sie Dir zu beliebiger Verspeisung vorlegen. Einen Willen möcht' ich aber gern haben.

Während Oskar an seiner Brochüre über die Rechtszustände in Europa und vorzugsweise in Deutschland arbeitet, bin ich mit der ausgelassenen, muthwilligen Lucie beschäftigt, für mich und Dich Pflanzerkleidungen zu verfertigen. Ach, ich [138] freue mich wie ein Kind auf unsere amerikanische Zukunft! Aber ich bitte Dich, Sigismund, laß nicht ab, Bardeloh zuzureden. Ohne Rosalie und Felix kann ich mir in der neuen Welt keine Existenz denken. Ich bedarf europäischer Gesichter, um die fremden Physiognomien erträglich zu finden. Ich will Parallelen ziehen und vergleichen.

Du solltest mich sehen in meinem leichten Pflanzeranzuge. Ich gehe wie ein lustiger Bursch, der sich verwandelt hat in ein fröhliches Mädchen. Muß das eine Lust sein, so aller Mode fremd nur seinem Behagen zu leben, und zu wissen, es gibt keinen Zwang, so weit Dein Auge reicht, und Deine Gedanken! Die Freiheit ist das Größeste, was der Mensch erstreben kann! Ich will Jedem Alles vergeben, ich will Mörder und Spötter umarmen, wenn sie nur die Freiheit ehrten und liebten, für die Freiheit als zürnende Titanen, Blasphemien donnerten! Ich fühle amerikanische Freiheitslust durch meine Adern sprudeln, und mein armes, kleines Mädchenherz erhält in seiner Schüchternheit die Ahnung eines Kosmopolitismus, den ich in Worten nicht ausdrücken kann. – – –

Letzthin kam ein Brief von Steinhuder an Lucie. Er nahm sich aus, wie eine mit Rosmarin, Beifuß und Salbeiblättern gespickte Gans. [139] Ein Psalmist, wenn er sich in Buttermilch betrunken hat – falls dies möglich sein sollte – könnte seiner Feder keinen erhabneren Schwung geben. Ein solches Storchschnabelgeklapper von forcirtem Unsinn kann es unmöglich mehr geben auf Erden. Lucie soll zu ihm zurückkehren und sich einen andern Bräutigam selbst erwählen dürfen. Nur von Oskar soll sie lassen. Unter diesen Bedingungen verspricht er ihr, ›den Oelkrug der Verzeihung und die köstliche Nardenmixtur der vormundschaftlichen Gnaden‹ über ihr sündiges Haargeflecht auszuschütten und zu baden ›das verpestete Fleisch ihres Fußes in der Melodie süßer Gewässer.‹ Es ist rührend, wenn ein Mensch so dumm wird. Ach Gott im Himmel, wie dank' ich's meinem Gott, daß er mir keinen solchen Vormund bestellt hat!«

»Du hättest Lucien sehen sollen. Ein wildes Füllen kann nicht tollere Sprünge machen. Die kleine, schöne, böse Grazie setzte sich augenblicklich an den Sekretär und schrieb ihre Willensmeinung, die schwerlich den Mystiker erfreuen wird. ›Mag er sich doch seinen Plunder behalten,‹ sagte sie, ›mein Erbtheil kann er mir nicht schmälern und das reicht auch hin, mir in Amerika ein Besitzthum zu erwerben.‹

Lucie's Brief wird zugleich mit diesem bei Euch eintreffen. Ich möchte schon Steinhuder's [140] Mimik belauschen, um daraus zu ersehen, ob ein Frömmler Europa's oder ein Wilder Amerika's den Preis des ausgezeichnetsten Grimassenschneidens gewinnen würde. So etwas kann mich ergötzen und auf ein paar Tage heiter stimmen.

Gib mir nur recht oft Nachricht von dem, was Ihr treibt, nur hülle Dich nicht zu sehr in den Schleier der Wehmuth. Das mag ich nicht leiden, das gefällt mir nicht am Manne. Du mußt immer kräftig sein, denn Du kannst es, und gegen eine fernere Zerrissenheit will ich Dich schützen. Bin ich doch schon – – – –. Nun komme nur erst wieder her, verjage den Winter rufe den Lenz herauf mit seinem blühenden Helmsturme – dann soll es Freude geben auf Erden, weil noch eine Zukunft vorhanden ist!

Adieu, adieu, mein süßer Freund. Sei nicht böse, daß ich abbreche. Oskar kommt, um mir und Lucie wieder aus Börne vorzulesen. Daß ich Dich Börnen jetzt nachsetze, wirst Du bei meiner Unparteilichkeit sehr verzeihlich finden. Werde erst ein so starker Mensch wie Börne, und Du sollst erstaunen, wie ich Dich neben meiner grenzenlosen Liebe auch noch grenzenlos verehren werde. Ich bin sehr bewandert im Scheiden, wie Du siehst. Distinctionen sind meine Force. Träume von mir. Meine Augen will ich sanft betten an Deinen Schläfen, damit sie Dein Denken[141] durchspähen können. Ich bin sehr böse, Theurer.«


Deine Auguste.


Wenn die Frauen Börne lesen und so gerecht sind, über den Charakter selbst die Liebe zu vergessen, dann steht Großes zu hoffen. Wüßte ich nur, wie viele Frauen so geistig schön sich bilden könnten in Deutschland, daß sie Börne's Erhabenheit ganz begriffen. Wären es auch nur tausend, diese Tausend schon würden mich veranlassen, noch eine Reihe von Jahren in Europa zu bleiben, um die Wiedergeburt desselben sich vorbereiten zu sehen. Aber so – ich zweifle sehr! – und darum flüchte ich mich hinüber, wo der Gedanke fessellos sich ausdehnen darf.


Den 23. December.


Vor sechs oder sieben Tagen trug sich ein originelles Schauspiel zu in Bardeloh's Hause. Wir waren um den Frühstücktisch versammelt, als plötzlich mit großem Ungestüm die Thür aufgerissen ward und zornglühend, die Kleidung in Unordnung, Steinhuder hereinstürzte. Bardeloh, der sich nicht leicht aus der Fassung bringen läßt, ging ihm entschlossen entgegen und fragte nach seinem Begehr.

[142] »Da, da,« rief der Frömmler außer Athem, zerrte einen Brief aus der Tasche und hielt ihm Bardeloh vor die Augen, »da,« sagte er, »da, lesen Sie! Ist dies die Sprache einer Tochter Zions? Darf ein Mädchen so reden und schreiben, wenn nicht einstürzen sollen die Mauern der Tempel und wehe schreien die Todten in den Gräbern?«

»Nein,« versetzte Bardeloh ganz ruhig, »eine Tochter Zions dürfte so wahrscheinlich nicht schreiben, wie dieser Brief geschrieben sein mag, den ich nicht lesen kann, weil Sie ihn mir nicht geben, aber einer Tochter unserer Stadt darf so etwas wol erlaubt sein.«

»Erlaubt, sagen Sie,« schrie der Pietist, »erlaubt! Was ich hören muß! Dacht' ich's doch. Freilich! freilich! Hier ist das Gehennah der neuen Welt, wo ausgebrütet werden die Teufeleien der Vernunft! Sie sind der Satan, der da verführet alle Kinder des Lichtes und umhergehet nicht wie ein brüllender Löwe, sondern wie ein schleichender Fuchs und suchet, welch' Mägdlein er verführe mit seinem Streicheln. Daß Dich zermalme die Brut Deiner Gedanken! Daß Du vermaledeit werdest von dem Fluch Deines eigenen Geistes! Sie sind schuld an meiner Mündel Verworfenheit, denn hier hat sie kennen gelernt den Gabriel, welcher ihr verkündigte den Wahnwitz der [143] Freiheit. Jetzt habe ich Dich erkannt und will prickeln an Deinem Leibe, bis er zusammenfällt, wie ein Häufchen Asche, das da nichts ist, als gar Nichts –«

»Bemühen Sie sich nicht, lieber Steinhuder,« fiel Bardeloh dem Eifernden in die Rede, an dessen Gesalbader sich der kleine Felix königlich ergötzte. »Was Sie thun, ist mir gleichgiltig. Eifern und Schimpfen hält die Welt nicht auf in ihrem Gange, und wenn Lucie so frei und kräftig gewesen ist, sich Ihrer Macht zu widersetzen, so muß ich das Mädchen nur achten. Denn es gehört wahrlich eine hohe Tugend dazu, rein zu bleiben unter solchen äffischen Grimmassen, wie Sie uns hier eben zum Besten gegeben haben.« –

Steinhuder war entwaffnet durch diese offene Erklärung. »So,« sagte er, zusammenklappend, wie eine Claque, »so! Ich sehe mich also am Ziele und darf nicht ferner hoffen, Sie zu bekehren!«

»Ganz und gar nicht,« warf Bardeloh ein. »Darf ich Ihnen etwas geräucherten Lachs anbieten?«

»Danke, danke – ich will nicht essen mit den Gottlosen.«

»Ganz nach Belieben. Sehen Sie nicht, [144] wie sich mein Junge über Ihre Thorheiten freut?«

»Darob ihn Gott strafen wird an seinem sterblichen Leibe!«

»Danke für Ihre gute Meinung von Gottes Barmherzigkeit!«

»Vater,« sprach Felix, »da las ich einmal in einem Buche von Eulenspiegel, der ein ganzer Narr gewesen sein soll, und auch hier in Köln. Ist Steinhuder vielleicht eine verbesserte Auflage dieses Eulenspiegels?«

»Die Kinder werden klug und die Alten einfältig,« rief der Pietist, »das ist die Zeit, von der geschrieben stehet: sehet Euch vor, denn der Welt Untergang ist nahe!« –

Mit diesem heroischen Entsagungsspruche zog sich Steinhuder zurück. Wir erfuhren am nächsten Tage, daß Lucie von ihm enterbt sei. Ihr eigenes Vermögen hat er gerichtlich an Bardeloh gegeben, und den blöden Friedrich zu seinem Universalerben eingesetzt, damit er »ruhig seine Geige stimmen und spielen könne zum Lobe des Herrn« lautet die Formel.

So wäre denn ein Knoten gelöst. Lucie ist frei, Steinhuder für uns nicht mehr als vorhanden zu betrachten, nur durch Friedrich hängt er unmittelbar noch zusammen mit unserm Kreise. –

Nächstens erhält Raimund von mir einen [145] Brief. Er wird Dir mittheilen, was sich ferner begibt. Ich bin müde des Wartens und sehne mich nach der Stunde der Befreiung. Dieses Hoffen ist peinigend und erzeugt in mir eine Angst vor dem Nächsten, die mich wie eine düstere Prophezeihung auf jedem Schritte verfolgt. Möchte nichts Gewaltsames geschehen und Bardeloh noch bewogen werden, uns zu begleiten. Rosalie ist sehr betrübt, da sie nun allein zurückbleiben muß. So ist auch die gerechteste Freude nicht denkbar ohne das bitterste Schmerzgefühl! –

15. An Raimund
[146] 15.
An Raimund.

Anfang Januar 18 –


Mit innigem Dank seh' ich die Zeit immer näher herankommen, wo ich vom Hoffen zum Handeln übertreten werde. Ein solches Renegatenthum ist wohl noch erlaubt in unsern Tagen, so geringen Beifall es auch bei der großen Menge finden möchte. Aber ich bin auch bereits freiwillig aus allen Banden geschieden, die mich noch fest verknüpften mit dem europäischen Leben. Im Herzen traure ich um den Verlust meiner Heimatherde, aber der Geist erhebt mich hoch über die Qual des Augenblickes und läßt mich der Zukunft goldene Träume in feste Formen zwingen. Das ist meine amerikanische Thatenlust, die erst erwachen kann, sobald ich gänzlich todt bin für Europa. – Darum begrüßte ich auch den ersten Sonnenstrahl dieses neuen Jahres mit einem stillen Jauchzen, in dem die Verheißung einer neuen Lebensära für mich lag. Nicht ohne Schmerz war dies Gefühl, aber es war nur der Schmerz [147] der Größe, der mich bewegte. Er drückt nicht nieder, sondern erhebt, und erhaben wandele ich seitdem auf den Palmenzweigen meiner eigenen Gedanken. –

Nach den stillen Beobachtungen, die ich in den letzten Wochen angestellt habe, reut es mich fast, daß ich Bardeloh zur Auswanderung nach Amerika zu bewegen suchte. Er war früher zwar sinnender, mehr dem finstern Grübeln ergeben, als jetzt, aber es verbreitete sich doch auch eine gewisse Ruhe über sein ganzes Wesen. Dies hat sich in der letzten Zeit verloren. Der stille Mann scheint aus seinen eigenen Charakter herausgejagt zu sein. Unser schneller Entschluß, gereift durch Gleichmuth's Lebensgeschichte und das plötzliche Erscheinen Burton's, wird ihm unbequem. Ein Durchkreuzen seiner Pläne muß für ihn darin liegen und dies stößt sein stilles Brüten zu einem hastigen Thun. Könnte ich nur ermitteln, was er bezweckt, wohin er zielt und wem sein geheimnißvolles Begehren gilt!

Du kennst meine Abneigung gegen Mardochai, die freilich vielleicht mehr eine Geburt der Furcht, als der Verachtung ist. Aber ich entsetze mich nun einmal vor diesem Menschen, weil ich begriffen habe, was eine misbrauchte geistige Kraft für entsetzliche Frevel begehen kann, wenn sie die Vergangenheit sich zum Leiter erwählt für die Gegenwart. [148] Und gerade mit diesem Menschen verkehrt Bardeloh jetzt mehr als sonst. Er weiß, daß ich den Juden nicht leiden mag, daß ich sogar im geheim ihn beaufsichtige, und dennoch läßt er unverhohlen seine Vorliebe zu ihm durchblicken. Mardochai besucht fast jeden Abend meinen seltsamen Gastfreund. Eingeschlossen in Richard's Kabinet verkehren sie bis tief in die Nacht hinein mit einander, und Niemand erfährt, was sie sinnen und träumen. Ich fürchte aber, es wird das Erwachen entsetzlich genug sein, denn gestern Mittag sagte Bardeloh ganz unaufgefordert mit einem unbeschreiblichen Lächeln: »Nun bin ich bald fertig mit meiner Doctrin des Hasses, in etwa vier Wochen will ich eine Probevorstellung geben.« Ich stutzte, auch Rosalie zeigte einige Ueberraschung und Felix lag mit kindischer Neugier dem Vater um das Wie? an und bat, ihn ja dabei nicht zu vergessen. Richard schien erschrocken über sich selbst, wußte sich aber bald zu fassen und versetzte auf das Bitten seines Sohnes: »dazu kann Rath werden, liebes Kind. Vielleicht darfst Du Dich ganz besonders eigenen, eine Hauptrolle bei der Probe zu übernehmen.«

»Das wäre prächtig!« rief Felix aus. »Das Schauspielern habe ich immer geliebt. Ich wollte meine Rolle gewiß recht gut auswendig lernen. Gib mir sie nur bei Zeiten, Vater.«

[149] »Zu gehöriger Zeit,« versetzte Bardeloh und lenkte das Gespräch auf andere Gegenstände.

Eine unbezwingbare Unruhe trieb mich fort. Ich ging zu Gleichmuth, um von ihm zu erfahren, was er etwa selbst wissen konnte. Ich erzählte dem Pastor Bardeloh's Aeußerung, erwähnte seines häufigen Verkehrs mit dem Juden und der Besorgnisse, die ich daran zu knüpfen mich bewegen fühlte.

»Lassen Sie geschehen, was immer will,« versetzte Gleichmuth. »Dies allein kann hier oder dort zum Ziele führen. Nur kein eigenmächtiges Eingreifen in das Handeln Anderer! Es steht jeder Einzelne in der Hand der Weltgeschichte, die ihn führt und leitet, und die Gerechtigkeit fällt so von selbst aus dem Conflict der verschiedensten Handlungen heraus, daß es wahnsinnig sein würde, wollte hier Dieser oder Jener hemmend oder beschleunigend eingreifen. Ich ahne Bardeloh's Thun, aber ich werde kein Thor sein und es verrathen. Es ist gut, weil es der Nothwendigkeit, der Krisis der Zeitbewegung, angehört.«

All mein ferneres Experimentiren blieb vergeblich. Der Pastor schwieg hartnäckig über dieses Thema und sprach von seiner Geschichte der Heiligen. »Diese Arbeit,« sagte er, »wird meinem Namen dereinst Renomée verschaffen bei den Deutschen. Darüber vergißt man sogar mein Leben. [150] O, es ist gar nicht so übel, mit wissenschaftlichem Charpie die Wunden seines zerschlagenen, geistigen Lebens sauber zu verstopfen!«

Wich verdrossen die ausweichenden Antworten des Pastors. Aergerlich besuchte ich Sara, die noch immer auf ihrem süßen Wahne beharrt. Das Kind erbarmt mich und doch kenne ich kein Mittel, es zu heilen. Wäre Mardochai ein Anderer, so wäre dem Mädchen schnell geholfen; ich kann aber diesem stolzen Rachegeist nicht die Schuhriemen lösen. Härte gebiert Härte, und müßte Sara, dieser Engel der Unschuld, als Sühnopfer fallen für viele, himmelschreiende Frevel, es könnte mich nicht bewegen auch nur ein heimliches Wort dem Juden zu gönnen.

Die Liebe plaudert gern aus, Sara verrieth mir, was sie wußte von dem Thun ihres geheimnißvollen Vaters. »Du glaubst es gar nicht,« sagte das liebe Kind, »wie beschäftigt der Vater jetzt ist. Alle Tage kommen eine große, große Menge von Deinen Brüdern zu ihm, um zum großen Firmelungsfeste oder wie sie's sonst heißen, blanke Schmucksachen zu kaufen. Und der Vater ist so freundlich dabei und so gut! Du solltest ihn nur sehen, wie glücklich er lächelt und wie er manchmal ein Stück Geld wieder zurückgibt. Alle Christen handeln gern mit meinem Vater, das magst Du glauben! – Letzthin kamen auch die Kleinhändler[151] wieder, um zum Feste ihre Einkäufe zu machen.« –

»Was verkauft ihnen denn Dein Vater,« fiel ich der Schwätzerin in's Wort.

»Alles, was sie gern haben und brauchen: kleine Marienbilder, Heiligenscheine, Kruzifixe und solche Korallenbänder, wie Ihr sie tragt, wenn Ihr betet.« – »Nun ja,« fuhr sie fort, wenn nun erst die Fastnacht herankommt, dann soll's groß hergehen, sagt mir der Vater. Es wird ein großer Aufzug geschehen und recht viel Scherz dabei getrieben werden. Der Vater ist ganz glücklich darüber und rennt von früh bis in die Nacht hinein, daß er oft ganz ermattet zurückkommt. Wenn ich ihn dann liebkosend den Schweiß von der bleichen Stirn trockne, spricht er: ›laß das, Sara! Es geschieht Alles zur Ehre unseres Gottes. Wir werden bald frei sein.‹ Ich verstehe ihn aber nicht; denn so hat er schon oftmals gesprochen und ich habe doch hinterher nie eine Aenderung wahrnehmen können.

Dies und Anderes erzählte mir Sara. Meine Neugier stieg mit dem Verdacht, welchen ich seit dem Tage gegen Mardochai hegte, wo er mich und Oskar in sein Waarenmagazin führte. Was die Unschuld des Mädchens nicht ahnte, das errieth der Argwohn meiner Furcht. Ich witterte irgend einen neuen Streich in der ausgesucht pikanten [152] Manier, wie sie Mardochai bereits zur Genüge bewiesen hat. Möglichst bald verließ ich das holde Kind des Morgenlandes, diesmal weniger aufgelegt, mich seinen liebenden Tändeleien zu überlassen, als gewöhnlich. Ich eilte nach Hause. Schon von fern bemerkte ich in Bardeloh's Cabinet den falben Schimmer, den die künstlich bereitete Spiritusflamme gegen die Fenster strahlte. Behutsam schlich ich die Treppe hinan – der Argwohn macht den Besten zum Schurken – Niemand begegnete mir, ich kam glücklich an des Mönches Zimmer vorbei, den ich harmlos mit Felix plaudern hörte. Auch Casimir's Stimme klang von der andern Seite herüber. Er declamirte ein Bruchstück aus seinem colossalen Werke: »Besuch Gottes in der Hölle,« mit Donnerstimme, in die sich oft ein helles Gelächter mischte, ich weiß nicht, ob aus Freude über das Gedichtete oder aus Verachtung über die Zeit, die es möglich machen kann, solchen genialen Wahnsinn zu Tage zu fördern.

Vor Bardeloh's Zimmerthür stand ich einige Secunden lauschend. Es war um die Zeit, wo der Jude gewöhnlich kommt. Sein Klopfen hatte ich ihm längst abgehorcht. Mit heuchlerischem Finger berührte ich die Thür, Bardeloh rief laut sein »herein!« Ich folgte dem Rufe, der Mantel verhüllte mein Gesicht, den Hut hatte ich in die [153] Augen gedrückt. Ehe noch Bardeloh ahnen konnte, wer ihn störte, war ich eingetreten, hatte rasch die Thür hinter mir verriegelt und stand mitten im Zimmer.

Bardeloh saß am Pult. Der geheimnißvolle Wandschrank war geöffnet. Eine Pyramide von zehn Todtenköpfen grinste mich schauerlich daraus an. Aus dem obersten brannte eine blendende Gasflamme und verbreitete Tageshelle rings umher. Im Hintergrunde der Nische lagen eine sehr große Menge Maskenanzüge, Larven, falsche Haare, darunter lange Locken, wie sie die Altdeutschen trugen oder der Kopf des Johannes abgebildet wird, kurz ein ganzer Theatertrödel.

Nur wenige Augenblicke waren mir zum Ueberschauen dieser Dinge vergönnt. Bardeloh kam auf mich zu und rief ein »guten Abend, Mardochai,« als er seinen Irrthum erkannte und mit zitternder Lippe verstummte. Ich war gefaßt auf einen bittern Gruß und hatte mich deshalb mit Gründen hinlänglich gewaffnet. Allein die Tiefe von Bardeloh's Leidenschaftlichkeit hatte ich nicht mit eingerechnet in meinen Plan. Kaum wußte er, wer sich unberufen zu ihm geschlichen hatte, als er mit Blitzesschnelle einen Dolch ergriff, deren eine große Anzahl die Todtenschädelpyramide wie ein Wald spanischer Reiter umhegten, eben so geschwind die Tapetenthür zudrückte und mich mit riesenstarker [154] Faust so unversehens erfaßte, daß ich dem Grimm des Beleidigten erlag. Der Mantel hinderte mich an der Gegenwehr, ich taumelte, niedergehalten von Richard, auf die Ottomane, Bardeloh stämmte sein Knie gegen meine Brust und setzte mir mit wildem Blick den Dolch darauf.

»Sind Sie des Lebens so überdrüssig,« raunte er mir leise murmelnd zu, »daß Sie mit Gewalt es verscherzen wollen? Wer hieß Sie eindringen in mein Heiligthum zu einer Zeit, wo Sie wissen, daß nur Einer erscheinen darf?«

»Ich bin ein Christ,« stammelte ich.

»Ein Schurke sind Sie,« rief Bardeloh und drückte heftiger den scharfen Stahl gegen meine Brust, »und es wäre am Ende wohlgethan von mir, wenn ich Ihnen augenblicklich jedes fernere Schleichen und Lauschen verbitterte. Was wollen Sie?«

»Warnen.«

»Vor wem?«

»Vor Unrecht und Wahnwitz.«

»Blöder Thor!« versetzte Richard und ließ ab von mir. »Spricht der Mensch, als käme er erst hinter dem Großvaterstuhl hervor. Sind Sie denn umsonst ein halbes Jahr bei mir gewesen?«

»Um einen Mord schön zu finden, allerdings!« versetzte ich. »Auch glaube ich in sofern auf unbedingtes Vertrauen Anspruch zu haben, als ich [155] noch nicht Handel trieb weder mit dem Geiste des Christen- noch Juden- noch Menschenthums. Ich lebte blos der Freiheit und war bemüht, Sie zu eben diesem Leben herüber zu ziehen.«

»Und was soll dies Alles hier und eben jetzt?«

»Es soll Ihnen die Augen öffnen. Hören Sie mich,« fuhr ich eifriger und warmer fort, »und achten Sie das Wort eines Christen wenigstens eben so hoch, als die schlaue Rede eines zweideutigen Juden. Mardochai ist ein großer Geist, aber kein edler Mensch. Mardochai lebt blos der Rache!«

»Glauben Sie mir denn damit etwas Neues zu sagen?«

»Nicht im Allgemeinen, wol aber im Speciellen.«

»So reden Sie!«

»Mardochai,« fuhr ich fort, »sinnt auf irgend eine That, womit er der großen Menge öffentlich Anstoß geben kann, wie er dies schon früher in der Stille gethan hat. Erinnern Sie sich an Gleichmuth's Manuscript!«

»Ich habe ein sehr gutes Gedächtniß, lieber Sigismund. Was haben Sie sonst noch entdeckt?«

»Ist das Gesagte nicht genug? Oder wollen Sie etwa auch ein bloßes Werkzeug der Rache werden in der Hand des Juden?«

[156] Ein verächtliches Lächeln spielte um Bardeloh's Mund. »Dieser Sorge hätten Sie sich doch wol entschlagen können,« erwiederte er. »Mich äfft kein Mensch, nur der Zeit könnte es gelingen, durch einen schnellen Umschwung meine Berechnungen zu vernichten. Darüber würde ich mich aber freuen. Ich weiß, was ich will, Sigismund, weiß, was der Jude treibt und bin einig mit ihm. Und nun, Lieber, schweigen Sie still und stören Sie nicht meine festgezogenen Kreise. Gehen Sie nach Amerika, wenn Sie zu feig sind, auszuhalten bis zum letzten Athemzuge in unserm hilfsbedürftigen Vaterlande. Der Starke versucht Alles, bevor er Alles aufgibt. Das ist mein Glaubensbekenntniß, dem sich das Mardochai's anschließt, obgleich dieser Mann des Schicksals nicht nur die Gegenwart zu berichtigen, sondern auch noch die Vergangenheit zu sühnen hat. Gehen Sie, ich höre ihn kommen. Sie werden es noch erleben, daß ich kein Feigling bin, noch weniger ein Betrogener. Gehen Sie! Ihre Gegenwart wäre überflüssig bei unsern Verhandlungen, weil Sie wol die Zeit begreifen, aber noch lange nicht ihre unendlichen Schmerzen in sich durchgelebt haben.«

Fast gewaltsam drängte mich der räthselhafte Mann fort. An der Thür begegnete ich dem [157] Juden. Ich war froh, als die Unheimlichen meinen Blicken entschwanden. –

So scheitert an der unerbittlichen Hartnäckigkeit dieses Mannes jeder Versuch, ihn zu stillem, besonnenen Handeln zu nöthigen, in dem ich, wie nun eben die Zeit vorliegt, doch das einzige sichere Heil erblicke, so wenig auch mein eigenes Naturell sich mit langsamem Umhertasten vereinbaren läßt. Gern will ich zugestehen, daß es beleidigend ist für einen reifen Geist, immer nur die Feinde siegen zu sehen, aber wo hinaus mit dem Sturm und Drange, selbst, wenn er nur heimlich sich austobt? Die Betrachtung der Welt hat Bardeloh auf den Punkt getrieben, wo er selbst des Sohnes nicht mehr schonen würde, wollte er sich ihm – und sei es aus wahrhaftiger Güte – widersetzen. Dies muß unglücklich enden! Denn ein solches Erfassen der Umstände ist selbst schon ein fertiges Unglück, das nur in sich selbst hinein seine Thränen weint. Wahrhaftige Männlichkeit vermag ich nicht zu erblicken in solchem Thun. Auch muthige Ausdauer liegt nicht im Harren und Hoffen, wo eben jedes Hoffen ein bloßes Morden des heiligsten Gedankenlebens ist! Darin kann ich nicht stimmen mit Bardeloh. Was er bei mir Feigheit nennt, das halte ich für rüstige Kraft, seine Kraft aber ist krankhaft und wird, bricht sie aus, nur verwüstend, gleich einer Pest, [158] Alles um sie her ergreifen. Raimund, mir graut vor dem Grimm des starken, europamüden Mannes!


Drei Tage später.


Ein Brief des Amerikaners aus Paris meldet mir seine Zurückkunft in etwa vierzehn Tagen. Burton hat ganz Frankreich durchstreift und sich längere Zeit an den wichtigsten Orten aufgehalten, um die Sitten und den Willen des Volkes kennen zu lernen. Mit großen Erwartungen trat der Mann die Reise an, und arm daran kehrt er zurück. Burton hat sich bitter getäuscht gefunden, nur wenig Hoffnung ist ihm geblieben. »Die Franzosen von heut,« schreibt er mir, »sind nicht mehr die Franzosen von 1789. Der Heldenmuth ist zum Speculanten geworden, der nur nach Pfunden die Freiheit abwiegt. Das Volk scheint mir gegenwärtig sehr erschlafft zu sein und wird es täglich mehr durch den scheinbaren Wohlstand, den die Klugheit Philipps der Hauptstadt zu geben weiß. Jammer und Elend aber nisten im Innern der Provinzen. Ein Anblick, wie ihn Lyon bietet, war mir neu, obwol ich die Welt kenne und gewohnt bin an Schreckensscenen. Das war ein schweigender Schrecken, der mir in dieser Stadt begegnete, und ich wundere mich nur [159] wie der lebhafte Geist des Volks diesen Jammer so geduldig erträgt. Solche Armuth ist kein Zeichen der Freiheit, denn wo wahre Freiheit wohnt, da verhungert Niemand.– – – Die Politik behandeln die Franzosen gegenwärtig wie eine Boulevard-Liebschaft. Sie ist ihre Grisette, sie müssen mit ihr tändeln und wär's auch blos zum Zeitvertreib während des Frühstück's. Aber wohin ist der republikanische Ernst, der in den Zeiten der Revolution mit Blitz und Donner die Welt erschütterte? Schauspiele und Gassenemeuten, gleich dazu eingerichtet, um sie am nächsten Tage im Guckkasten für einen lumpigen Sou dem Pöbel zu zeigen; das sind die schmachvollen Vergnügungen der großen Nation. – O, wohin ist es gekommen mit den blühenden Hoffnungen der Julisonne von 1830! – Oder wäre auch dies blos eine allgemeine St. Simonistische Liebschaft des ganzen Volkes gewesen? Es scheint beinahe so, und mein Argwohn, der nie viel Gutes hoffen konnte von dieser dreitägigen Farce in der europäischen Weltgeschichte, steigert sich, je länger ich den Geist des Volkes erforsche. Zwar lebt noch die alte Lust, die alte Hoffnung in diesem Geschlecht, aber sie liegt verschleiert unter einer merkwürdigen Apathie, die mir eine völlig neue Erscheinung bleibt an den Franzosen. Eine recht eclatante Dummheit könnte sie wol wieder zur Vernunft bringen, oder irgend ein vielversprechender [160] Krieg. Nur mit der Industrie allein ist den Franzosen nicht geholfen, überhaupt dem ganzen Europa nicht. Der europäischen Freiheit fehlt es noch immer an dem allseitig Beglückenden, doch, hoffe ich, wird ihr auch dies mit der Zeit zu Theil. Gegenwärtig läßt sich aber auf nichts mit Gewißheit bauen. Wer darauf warten will, kann zu Grunde gehen und als ein gutmüthiger Narr der Zeit sterben. Mir wird mächtig bange in Europa, und ich fange an einzusehen, daß die Jugend nicht Unrecht hat, wenn sie eine schönere Gestaltung der Zustände herbeiwünscht, oder sich offen und frei als müde dieses Daseins erklärt. Bitter beklage ich, daß ein so mächtig schönes Land dem Zorn, ich weiß nicht welchen Geistes, erliegen muß. Und doch kann ich immer noch nicht an den Untergang glauben. Es ist gewiß nur eine Krisis, die vielleicht bald vorübergeht. Dann wird sich der alte Welttheil wieder erheben in seiner ganzen Pracht, und eine Art Instinct lehrt mich fürchten für mein schönes Vaterland. Denn schwerlich erhält sich Amerika's Freiheit so lange, als Europa's Kampf um dieselbe. Und tritt irgend wie einmal ein neuer Umschwung ein, dann erfolgt eben so schnell auch wieder eine neue Völkerwanderung. Ueberhaupt glaube ich, das Wandern der Völker wird permanent werden. Sollte dies wirklich geschehen, [161] dann wäre aller Welt geholfen, denn nur im Wandel liegt die unerschütterliche Stätigkeit aller Freiheit.« – – –

So schreibt mir Burton. Ich enthalte mich aller Anmerkungen. Du magst sie selbst machen, wenn Du glaubst, es bedürfe deren. Jedenfalls ist es interessant, die Ansicht eines freien Amerikaners über Europa's gegenwärtige Lage und seine etwaige Zukunft zu vernehmen. Ein Brief ist kein Buch, aber doch der unmittelbare Abdruck eines tiefen augenblicklichen Empfindens. Und darin liegt immer eine große Wahrheit, die man nie ganz unberücksichtigt lassen sollte. –

Hier dauern die geheimen Machinationen fort. Ich habe es aufgegeben, Bardeloh zu gewinnen, suche aber Rosaliens Mismuth durch stäten Hinweis auf die rettende Zukunft zu verscheuchen. Eine Art Instinct läßt mich ein merkwürdiges Vertrauen auf meine Worte setzen, das vielleicht nur Ergebniß der Sicherheit ist, die sich jetzt meines nächsten Lebens bemächtigt hat. Man kann sich nie genaue Rechenschaft ablegen über das heimliche Spiel der Seele mit Ruhe und Unruhe. Ueberdies glaube ich wirklich, Rosalie wird mich mit Auguste und den Andern begleiten. Bis zum Mai ist es ja noch lange hin!

Seit Bardeloh so bestimmt fast jeden Verkehr mit mir abgebrochen hat, macht es mir ein peinigendes[162] Vergnügen mich etwas angelegentlicher mit Casimir, Eduard und Friedrich zu beschäftigen. Das ist ein Triumvirat, wie es wol nicht gleich wieder zusammentreten möchte. – Casimir wird zu Grunde gehen! Das fühle ich tief und schmerzlich, aber er kann nicht ausdauern in unserer Zeit, selbst nicht in Amerika. Es gibt eine Art des geistigen Versinkens in geniale Tollheiten, das fast eben so widerlich ist, als ein sinnlich-thierisches Verschlammen. Sobald sich ein Mensch heraus nimmt, mit dem Geist der Weltgeschichte (Gott mag ich hier nicht sagen) »Kämmerchen vermiethen« zu spielen und dabei unanständige Geberden zu machen, wahnsinnige Fratzen zu schneiden, so schüttelt er die Menschheit freiwillig ab. Hat er Glück bei diesem Manöver, so wird er ein großartiges Vieh! Höher aber kann er es nicht bringen. Auf diesem Punkt ist Casimir angekommen. In ihm waltet eigentlich nichts wahrhaft Heiliges mehr, nur einzelne Funken, die sich vom rein Göttlichen etwa noch in ihm herumtreiben, blitzen zuweilen durch die scheußliche Nacht seines chaotisch gewordenen Geistes. Das ist kein Wahnsinn, auch nicht Blödsinn, es ist die Brunst eines Genies, das geil geworden ist in unerlaubt raffinirten Schöpfergedanken. Casimir's Geist – erlaube den etwas starken Ausdruck – meckert sich selbst an, wie ein brünstiger [163] Bock – kann dabei etwas Anderes herauskommen, als das pure Nichts? Eine geistige Schöpfung Casimir's ist eine Zote, die aussieht, als hätte sie die ungezähmte Geistigkeit, oder die schaffende Natur gerissen, in einem Augenblicke, wo die ordnende Kraft sich von ihr entfernte. Und auf diese geniale Seelenraserei bildet sich der ideenbesoffene Mensch noch etwas ein! Seinen »Besuch Gottes in der Hölle, eine Tragödie mit umgekehrten Lettern,« wie er das Ding nennt, hält er für das größte Product, was je geboren worden ist. Das confuseste, vielleicht auch das wahnsinnigst genialste mag es unbedingt sein, aber nur kein Kunstwerk, nur nicht schön! Es ist das Häßlichste, was ich kenne, es kann die Grundzüge entwerfen helfen zu einer wissenschaftlich scharfsinnigen Lehre vom Häßlichen. – Und das Ding will Bardeloh drucken lassen! »Es muß in die Welt,« sagt der starre Mann, »damit Europa sieht, was aus ihm werden kann, wenn eben nichts aus ihm wird.« –

Das ist sehr witzig von Richard und um diesen Preis muß man dem tollen Treiben schon billiger zusehen. Vielleicht bewege ich Casimir zur Mittheilung seiner Schöpfung. Dann sollst Du sie späterhin erhalten, und wäre es mir auch erst möglich, Dir sie von Amerika aus zuzusenden.

[164] Dabei zeigt sich Casimir ruhiger als früher. Nur seine Redeweise bleibt dieselbe auch, wenn er Sara besucht, die den widerlichen Menschen immer gewogener wird. Oder läge es wirklich in der Natur der Unschuld, daß sie so etwas ganz außer allem Gewohnten Stehendes anziehend finden könnte, und darin nur das Gewaltsame der Natürlichkeit erblickte, nicht das Monströse der Carikatur, hervorgerufen durch den Gegensatz, der in der Verfeinerung der Zeit zu Tage liegt? Es muß doch irgend so etwas sein.

Ich treffe ihn öfters bei der schönen Jüdin und halte dann Gespräche mit ihm, die ich lebensgern von irgend einem Geheimschreiber nachgeschrieben wünschte. Denn das Wenige, was sich etwa im Gedächtniß davon aufbewahren läßt, ist doch kaum nennenswerth. Zuweilen kommt auch noch Friedrich dazu, der jedoch nie spricht, wenn er nicht mit Gewalt dazu aufgefordert wird. Er spielt uns wunderliche Tänze, Serenaden, Jammeriaden und andere Dinge vor und weiß manchmal auf eine merkwürdig passende Weise unsere Gedanken zu accompagniren.

Casimir erbarmt mich. Dieser Mensch, so ganz abgestorben dem Leben der Zeit, für das er in dem Sinne von uns Modernen durchaus keine Sympathie hat, fühlt doch das Bedürfniß, sich anzuschließen. Er hat von jeher Alles unter [165] die Füße getreten und sich da durch innerlich mit aller Welt verfeindet. Leidenschaft und Verachtung, selbst der Natur, ließen ihn ausschweifen über die Gebühr und am Ende auch den reinen Genuß verachten. Nun aber rächt sich die Sehnsucht darnach und die naive Natürlichkeit in Sara's Wesen hat einen Eindruck auf ihn gemacht, der, wie die Ahnung der Liebe, sein theilnahmloses Gemüth gefangen hält. Casimir wird unwiderstehlich hingezogen zu Mardochai's Tochter und würde vielleicht Erhörung finden, wäre er minder Cyniker und Mardochai nicht Sara's Vater! Ich begreife nicht, wie sich hier irgend ein dauerndes Verhältniß gestalten soll. Und so oft ich auch diese geschiedenen Naturen betrachte, und von Mitgefühl hingerissen, beide verbunden wünschte, so oft zerreißt Friedrich's parodirendes Spiel immer von neuem wieder das fertige Netz meiner Entwürfe.

Neben diesen Beiden rumort Eduard auch wieder nach seiner Weise. Der Mensch wird jetzt von Tag zu Tag beredter und mag es gern leiden, wenn wir ihn häufig besuchen. Die gesunde Vernunft geht in einem Tollen eigentlich nicht unter, sie verpuppt sich nur. Eduard spricht vernünftig, wenn man die Wortmaskerade, die er dabei aufzuführen sich erlaubt, durchschauen kann. Solche toll gewordene Narren sind die Schalksnarren [166] des Himmels, ihnen steht es gar wohl an, die entsetzlichsten Dinge auszusprechen, ohne daß sich die ehrsame Hausbürgerlichkeit der Tugend die Schürze vor die Augen zu halten braucht. Ein Narr spricht immer noch anständig, wenn ein Mensch mit gesunden fünf Sinnen bereits als ein gemeiner Strick von aller Welt geflohen werden müßte. Das ist die göttliche Grobheit des Narrenthums, die allein unangefochten bleibt in Europa. Es lebe die Narrheit, hoch! Stimme mit ein, Raimund, es geht mir recht warm von Herzen. Abermals hoch die Narrheit, und nochmals hoch! –

16. An Ferdinand
[167] 16.
An Ferdinand.

Den 29. Januar 18 –


Du erhältst in der Beilage die nöthigen Briefe, um meine Angelegenheiten zu ordnen. Aengstige Dich nicht, Lieber! Es ist nothwendig, daß man streng wird gegen sich selbst. Den Brief an meinen Vater gibst Du erst ab, wenn Du definitiv den letzten von mir erhalten haben wirst. In einem Vierteljahre ist auch dies geschehen. Dann zeige Dich würdig Deiner Stellung und mache Deinem Amte Ehre, wenn es nöthig sein sollte! Mein Vater wird des Trostes bedürfen. Mich schmerzt schon jetzt sein Kummer, aber ich kann nicht anders. Dieser Gram ist unerläßlich und muß sich noch hunderttausend Mal wiederholen, wenn Europa gerettet werden soll. Die übrigen kleinen Zettel gib nach ihren verschiedenen Adressen ab. Du kannst Dir Zeit nehmen, da es nicht eilt.

Gestern ist Burton zurückgekommen von Paris. So wenig Muthlosigkeit in dem Charakter [168] eines ächten Amerikaners liegt, so niedergeschlagen erschien mir doch dieser freie, starke Mann. Dies erst kann uns lehren, wie gewaltsam die Schwäche eines Erdtheils auch den Tüchtigsten zu erlahmen im Stande ist. Ich hatte mich über den Grund von Burton's Mismuth nicht geirrt. Ein Gespräch, das ich heut morgen mit ihm hielt, bewies mir dies. Seine Worte bestätigten jede Zeile seines Briefes.

»Machen Sie sich bereit,« sagte er zu mir, »denn wir müssen reisen, sobald als möglich. Hier breche ich in mir selbst zusammen, weil Alles gehemmt ist. Ihr habt ja nicht den Willen, glücklich zu werden. Wie könnt Ihr da leben und wirken! Nichts wundert mich mehr, als die Zähigkeit, wodurch Ihr das fröhliche Schaffen einer freien Natur manchmal klug genug zu ersetzen wißt. Für mich taugt dies nichts, auch Sie werden ohnmächtig dabei, oder zum Schurken. Sammeln Sie also, was Sie bedürfen. Wer uns begleiten will, schließe vorläufig ab mit der alten Welt. Ich habe nach Rotterdam geschrieben, wo man mir die Führung eines Schiffes anvertrauen wird. Ich erwarte nur bestimmte Antwort, um alsdann sogleich in See zu stechen.«

Unverzüglich setzte ich Auguste davon in Kenntniß. Meine eigenen Angelegenheiten sind bereits ziemlich in Ordnung gebracht. Am meisten Kummer[169] verursacht mir Rosaliens Trauer über die Hartnäckigkeit Bardeloh's. Nochmals haben wir alle vereint ihn gebeten, er solle sich losreißen von seinem Vaterlande, das ihm ja doch nichts gibt, als Qualen und Schmerzen, aber dieser Mann hat ein Herz von kaltem Marmor, oder geht noch mit etwas Großem schwanger in seinem düstern Geiste. Bald werde ich fast daran glauben, wenn ich seine abgerissen hingeworfenen Worte zusammenstelle, sein geschäftiges, aber geheimes Thun betrachte und des häufigen Verkehrs mit dem Juden gedenke. Casimir will thun, was ihm einfallen wird, Eduard kann nicht ohne Bardeloh's Einwilligung fortgebracht werden, und Friedrich ist so eng an Mardochai gekettet, daß es grausam wäre, ihn aus dem gewohnten Kreise herauszureißen. So muß ich beinahe völlig unthätig dem Zufall Alles anheim stellen.

Die Aufmerksamkeit der Bewohner richtet sich jetzt übrigens ausschließlich auf den nahe bevorstehenden Carneval. Bardeloh hat, wie gewöhnlich, bei den Anordnungen der Festlichkeiten eine Charge und betreibt diese Spielereien mit einer seltsamen Ernsthaftigkeit. Mehre angesehene Männer kommen zu ihm, um sich über Dies und Jenes zu besprechen, Bardeloh gibt Rath, thut Vorschläge und befiehlt doch eigentlich, wie immer. Seiner besondern Aufsicht ist der große [170] Saal in dem alterthümlichen Kaufhause anvertraut, der Dir gewiß bekannte Gürzenich. Letzthin forderte mich Richard auf, ihn dahin zu begleiten. Auch Felix durfte mitgehen. Der Saal ist nichts weniger, als schön, aber geräumig und interessant durch seine Bauart. Die Säulen, auf denen das mächtige Gewölbe ruht, stellen Champagnergläser vor, aus denen statt des Schaumes wunderliche Carikaturen hervorquellen. Bardeloh läßt nun Alles geschmackvoll drappiren, die ringsum laufende Galerie mit Devisen lustig verzieren, die in Räthselform abgefaßt sind. Ueber den Inhalt hat er mir noch nichts gesagt, gewiß aber ist er nicht ohne tiefere Bedeutung. Sein höhnisches Lächeln verrieth es mir.

Das Fest in diesem Saale, der wohl einige tausend Menschen faßt, soll großartig sein und einem wahrhaftigen Volksfeste nahe kommen. Der Carnevalsjubel schließt allemal in dieser alterthümlichen Halle, und da es jeder Maske erlaubt ist, zu treiben, wozu Lust und Laune sie aufreizen, so mangelt es selten an freien Scherzen, zu denen das so beengte Leben sonst sich nicht oft erheben kann.

Ein großer Maskenzug soll das Fest eröffnen, und wie ich höre, ist für dieses Jahr Bardeloh's geräumige Wohnung zum Sammelplatz bestimmt worden. Daraus kann ich mir die vielen [171] Maskenanzüge erklären, aber noch nicht das Heimlichthun meines Gastfreundes, der mir immer vorkommt, als handele es sich noch um etwas ganz Besonderes. Mein Gott, was läßt sich denn viel aus einer Maskerade bilden, und noch dazu bei uns, in unserm lieben Deutschland! Nun, Gott besser's!

Ein paar Tage vor dem Carneval soll eine große Feierlichkeit, ich glaube eine Firmelung, im Dome gehalten werden. Auf diese kirchliche Feier freue ich mich mehr, als auf den Fastnachtsspectakel. Wol erinnere ich mich, früher einmal als Knabe einer Firmelung beigewohnt zu haben, aber damals wußte ich weder den tieferen Sinn dieses Sacraments zu erfassen, noch den Gedanken eine Richtung in die Zukunft der Geschichte zu geben. Beides wird diesmal nicht schwer sein, um so mehr, als es wol der letzte Act kirchlicher Weihe sein möchte, dem ich in Europa beiwohne. – Wie sonderbar mir doch bei dem Gedanken an die nahe Abreise mein ganzes bisheriges Leben erscheint! Mir ist nicht anders, als finge ich jetzt erst an, in die Welt zu schauen und den Tag zu begreifen mit seinen tausend widersprechenden Wünschen. Scheiden ist schwer, ich fühl' es, und für einen Deutschen immer ein halbes Sterben. Aber die Hoffnung hält mich aufrecht, und aus dem Saum der Zukunft, der kaum erkennbar hereinflattert [172] in die Gegenwart, bilde ich für den neuen Körper meines unbekannten Lebens auch ein ihm angemessenes Kleid zurecht. Ich will glücklich sein, wenn ich das Unglück meines armen Mutterlandes unbehindert werde erzählen können den Völkern der Zukunft! –


Den 31. Januar.


Ein unerwarteter Zufall hat mich tief bewegt. Aus ihm kann ich lernen, wie oft wir die Handlungen der Menschen falsch beurtheilen, weil uns die Beweggründe derselben nicht bekannt sind. In Ländern, wo die Einfachheit allgemeine Sitte ist, geschieht dies freilich weniger, aber bei uns, die wir ja fast einzig und allein nur im Künstlichen noch bestehen können, ereignet sich ein so bedauernswerther Fall fast täglich. Darum fort, fort! Ich will nicht verschmachten in erkältender Dämmerung, in der Atmosphäre eines gesinnungslosen Geräusches, das man fälschlich für Leben hält! –

Träumerisch, wie dies oft einem europäischen Menschen geschieht, war ich hinausgegangen am Rhein. Der Wind wehte scharf von Holland herauf, Schneeflocken schwankten zitternd und glänzend in der Luft. Der Rhein trieb einzelne [173] dünne Eisschollen, zum ersten Male in diesem Winter. Mein Geist war in Amerika, die Zukunft bog sich herein in meine Brust und steckte einen schönen, warmen Lebenshimmel über dem zusammenbrechenden alten auf. Ich hatte die Rheinbrücke überschritten und mich in den kahlen Alleen von Bellevue verloren. Vor mir sah ich auf einer der höher gelegenen Terrassen eine dunkle Gestalt hin und her schwanken. Ich hielt es für Täuschung und kümmerte mich nicht weiter darum. Die nächsten Tage ängstigten mich, Bardeloh's geheimes Walten ergriff wie Fieberhitze mein ganzes Wesen, ich glühte, fing an murmelnd zu phantasiren und fühlte mich recht elend. Da hörte ich einen tief gezogenen Seufzer in meiner Nähe. Die Dunkelheit ist geneigt, durch jeden ungewohnten Laut unser Nervensystem in eine zitternde Bewegung zu versetzen. Meine Gedanken flohen wie schüchterne Rehe in das Dunkel ihrer Wohnstätte, ich lauschte aufmerksam und gewahrte, den Rücken mir zugekehrt, auf einer Bank der obersten Terrasse einen Mann sitzen. Gestalt, Haltung und Kleid ließen mich Mardochai erkennen. Die Wolken enthüllten auf einige Zeit die wankende Sichel des Mondes, ein heller Strahl fiel auf des Juden bleiches Gesicht – ich glaubte eine tiefe Bewegung darauf zu lesen.

[174] Neugier und eine Art Theilnahme, die fast an Freundschaft grenzte, so wenig ich mir dies selbst gestehen mochte, trieben mich an, dem Räthselhaften näher zu treten. Eine Zeit lang bemerkte er mich nicht – dumpf vor sich hin murmelte er Worte, und Seufzer, die mir gleich unerklärbar blieben, stiegen schwer aus der beengten Brust. Ein Geräusch, das ich absichtlich machte, verkündigte ihm meine Anwesenheit.

»So allein?« fragte er, die Maske der Gleichgiltigkeit mit gewohnter Verstellungskunst seinen Mienen anlegend.

»Allein, wie Sie,« versetzte ich. »Unruhe macht menschenscheu, Unglück träumerisch. Deutschland ist so träumerisch geworden, weil es so lange nach dem Glücke rang.«

»Das ist eine sehr trügerische Psychologie der Länder, die Sie da zum Besten geben,« erwiederte Mardochai, stand auf und ergriff meinen Arm. »Wäre Völkerunglück wirklich geeignet, Träume zu erzeugen, so müßte mein Volk am meisten daran leiden. Und das werden Sie doch wol nicht behaupten wollen?«

»Ich würde es, hielt Ihr Volk die Rache, der Haß und andere Leidenschaften nicht von dem träumerischen Wesen zurück. Ich habe auch schon träumerische Israeliten gekannt.«

»Sie wollen mich foppen,« sagte Mardochai, [175] »ich verstehe. Begleiten Sie mich; grade heut könnte es gut sein, wenn wir uns etwas tiefer gegenseitig in's Herz blickten. Es ist schade, daß Sie Christ sind.«

»Nicht mehr, als daß Sie Jude bleiben,« entgegnete ich und drückte krampfhaft die Hand meines Begleiters.

»Auch möglich, sehr möglich! Doch können Sie jetzt eben die Sonne scheinen lassen?«

»Warum?«

»Nun stände dies in Ihrer Macht, so würde ich wol auch ein Christ sein dürfen.«

Der ganze Starrsinn dieses grübelnden Mannes sprach sich in dieser Antwort aus. Wir gingen schweigend nebeneinander her über die Brücke nach Köln hinüber. Am Rheinberge wollte ich mich von dem Juden trennen.

»Sind Sie so eilig?« fragte er mich mit einer Stimme, die fast liebevoll bewegt klang. – Ich zauderte einen Augenblick, meine Hand ruhte in der seinen. Mardochai ging fort und zog mich fast willenlos mit sich. »Begleiten Sie mich in mein Haus,« sprach er in demselben Tone, »es wäre mir peinlich, wenn grade Sie einen falschen Begriff von mir festhielten. Ich bin nicht Alles, was ich scheine.«

Ohne zu antworten, folgte ich der Einladung. Mardochai führte mich in das längst bekannte [176] Zimmer. Sara war nirgends zu sehen, überall tiefe Stille. Der Prunk war verschwunden, an die Stelle des orientalischen Luxus war abendländische Nüchternheit getreten. Es befanden sich Kisten und Ballen auch in diesem Zimmer, mit einer unzähligen Menge von Kleinodien bedeckt, wie die katholische Kirchenandacht sie um wenige Kreuzer an allen Straßenecken und sehr oft auch in den Hallen ihrer Tempel selbst verkauft.

Dieser Anblick weckte meinen Stolz, mein Selbstvertrauen. Ich stieß unwillig die Hand des Juden von mir und blieb mit finstrer Stirn unter dem Krame stehen.

»Nun ja,« sagte Mardochai achselzuckend und seufzend, indem er auf einem einfachen Sessel Platz nahm und mir ein gleiches Möbel zurecht stellte, »so seid Ihr Christen alle, und doch verlangt Ihr, es solle besser werden! Die alten Versündigungen, die wir uns gegenseitig nicht vorzuwerfen, sondern zu verzeihen haben, sollen vergeben und vergessen sein!«

»Juda's Stamm will es nicht,« fiel ich ein, »selbst wenn die Christen große Opfer dafür bringen.«

»Mich wundert's, ein solches Wort aus Ihrem Munde zu hören,« gegenredete Mardochai, »nicht weil mir diese Bemerkung neu ist, sondern weil Sie ein Heuchler sind. Ihr Herz schlägt anders, [177] als Ihre Zunge. Jenes tönt Nachtigallmelodieen und diese zwitschert wie ein dummer Staar.«

»Mein Herr,« fiel ich entrüstet dem Juden in's Wort, »Sie erlauben sich Redensarten, die –«

»Ihnen das Blut zu Kopfe steigen lassen,« ergänzte Mardochai. »Sehr richtig, und das bezwecke ich grade. Bald werde ich mir noch ganz andere Dinge erlauben, damit Ihren Brüdern Zorn und Schamröthe zugleich das Blut in's Gesicht jagen. Anders kann man nicht mehr Eindruck machen und Gutes stiften. – Indessen lassen wir das. Ich will Ihnen nur einige Neuigkeiten theils zeigen, theils erzählen.«

Ein Wandschrank öffnete sich unter dem Druck seiner Hand. Mardochai nahm die silbergestickte, feine und weißschimmernde Thalis aus der Vertiefung, wickelte sie auf und ließ einige Papierrollen daraus zu Boden fallen. »Betrachten Sie diese Schriften,« sagte er ruhig zu mir, indem er das Zeichen der Andacht leise mit den Lippen berührte und sorgfältig wieder im Schranke verwahrte.

Aufmerksam betrachtete ich die Rollen. Es waren mit vielem Geist und Scharfsinn verfaßte Petitionen an verschiedene Regierungen, in denen auf eine eben so einfache, als bescheidene Art und Weise die Gründe für die Nothwendigkeit einer baldigen Emancipation der Juden aus einander [178] gesetzt wurden. Diesen beigefügt waren die abschlägigen Antworten darauf. »Und wozu zeigen Sie mir diese Schriften?« fragte ich. »Es ist allgemein bekannt, daß nicht allein die Regierungen, sondern auch die Völker auf diese Vorschläge nicht eingehen können.«

»Sagen Sie lieber: nicht eingehen wollen,« erwiederte Mardochai. »Allein davon abgesehen,« fuhr er fort, »was, glauben Sie, muß ein Volk thun, das ohne Vaterland, ohne Staatsverfassung, zerstreut auf der ganzen Erde umherirrt, und dem es nicht nur Sache der Existenz, sondern auch des Herzens ist, sich ein Vaterland zu erringen, wenn ihm jeder Weg vermauert wird, der es zu einem solchen Besitzthum führen könnte?«

»Die Antwort ist sehr einfach,« sprach ich, obwol mit Zagen und nicht aus voller Ueberzeugung, »dieser Stamm muß Theil der Völker werden durch den Uebertritt zur Religion dieser Völker.«

»Wären Sie nicht zu verständig, um die Albernheit Ihrer Behauptung selbst einzusehen, so würde ich Sie thöricht schimpfen,« versetzte mit Lächeln der Jude. »Angenommen indeß, Ihre Aeußerung sei Ihnen auch Ueberzeugung, so vernehmen Sie meine Erwiederung darauf.« – Mardochai rollte die Papiere wieder zusammen und legte sie vor sich auf eine der Kisten.

»Ihr Christen werft den Brüdern meines Stammes[179] vor, sie hingen zu fest und innig an einander, um ihnen durch eine Gestattung gleicher bürgerlicher Rechte einen Vortheil zu gewähren über die minder einige Brüderschaft der Christen. Diese Folgerung ist richtig, doch wahrlich nicht eben sehr ehrenwerth für Euch. Spüren wir nun dem Grunde dieser Erscheinung nach, ganz unbefangen, ohne Bitterkeit. – Der Jude ist seit Jahrhunderten gedrückt, gepeinigt, gehöhnt worden von den Christen und hatte dieser gräßlichen Qual nichts entgegenzusetzen, als den Stolz der Ausdauer, den Muth einer erheuchelten Demuth, geschminkt mit dem Herzblut des furchtbarsten Hasses. Consequenz ward des Juden Religion, das Bewußtsein, listiger zu sein als menschlich, entwürdigte ihn öffentlich vor dem Auge der Welt, ehrte ihn aber doch in der Tiefe seiner Seele. Der Adel einer Rache, deren Ausführung abzweckt auf Befreiung aus den himmelschreiendsten geistigen Fesseln wird nur von großen Herzen gefühlt, von tiefen Geistern begriffen. Die Juden erduldeten Alles, um damit jene Sünde abzubüßen, die sie meinethalben begangen haben mögen durch die Kreuzigung des Gottmenschen. Ich will und mag darüber nicht sprechen, es sind achtzehnhundert Jahre vergangen, und gäbe es einen Gott, der so lange strafen könnte – wahrlich, so wie ich dies mein Kleid hier zerreiße, so vernichtete ich den Gedanken in miran diesen [180] Gott! Mit den Seelenschmerzen eines Volks darf auch ein durch Irrthum einmal verhöhnter Gott nicht Wucher treiben! –

Sagen Sie nicht etwa, die Christen hatten den Juden irgend etwas geschenkt für jenen Frevel an ihrem Gott. Die Juden haben hohe Zinsen dafür gezahlt. Die Zeiten, sagt man, sind milder geworden, der Haß ist verjährt, die Gerechtigkeit der Weltgeschichte verlangt eine Ausgleichung. Sehr wohl, ich bin es zufrieden. Die Edelsten von Euch sind geneigt, den Juden zu gestatten, was der Mensch fordern muß, wenn er sich selbst als Mensch achten will, aber Millionen schreien Wehe! wie ehemals der Wahnsinnige auf den Mauern Jerusalems. Woher erschallt dieses entsetzliche Wehe? Aus der ledernen Kehle eurer Geldbeutel! – O, erschrecken Sie nicht, ich will blos verständlich sprechen! Der verachtete Stamm Juda's bittet um Ertheilung der Menschenrechte, in soweit diese von den Christen selbst besessen werden. Er stellt diese Bitte im Gefühl seines religiösen Schmerzes, nicht aus Eigennutz. Die Christen aber bringen nicht jene Wehmuth in Anschlag; sie berechnen nur den Zinsfuß, betrachten die Börsenlisten und vergleichen genau den Stand der Metallique's, der Staatsschuldenscheine, des goldenen Kalbes, um das die Welt in wilden Sprüngen tanzt. – Sein Sie gerecht, Sigismund, und urtheilen Sie selbst, wer [181] hier edler verfährt! – Ich will meine Stammesbrüder nicht vertheidigen. Es ist ein schmutziges, feiges, oft nichtswürdiges Gesindel, aber nach der Ursache dieser Erniedrigung spähe ich gern umher, und ich finde sie in den Verwünschungen, die man über Israel's Kinder aussprach.

Gehen Sie noch einen Schritt weiter mit mir. Viele von Ihnen fühlen, daß es grausam ist, den Edlen unsers Stammes eine Emancipation gänzlich abzuschlagen. Man will mild sein und läßt Gnade für Recht ergehen, etwa wie der gerechte Fürst einen zum Tode Verurtheilten mit lebenslänglichem Kerker beschenkt – man schlägt vor, uns zum Theil zu emancipiren! – Ich hätte ein solch nüchternes, unedles Spiel den christlichen Völkern nicht zugetraut. Diese Gnade ist entsetzlicher, als die grausamste Ungerechtigkeit! – Andere sagen: werdet Christen und Ihr seid gleich den Geringsten unter uns! Wiederum sehr wahr; doch bedenkt man nicht, daß eine Religion, die sich so lange aus ihren Schmerzen Trost gesogen hat, etwas Hochheiliges in sich bewahren muß, wenn man auch nicht Rücksicht nehmen wollte auf die Lieblosigkeit einer derartigen Forderung, noch dazu von Völkern, deren ganzer Glaube nur auf Liebe gegründet sein soll.«

Mardochai schien ergriffen, er legte die Hand an seine Stirn und verdeckte eine kleine Weile sein [182] Gesicht mit dem dunklen Talar. Ich betrachtete den trauernden und doch so stolzen Mann, Mitleid und Furcht bewegten mich gleich stark.

»Warum aber,« fiel ich ein, »warum wollen Sie nicht, eingedenk Ihres ersten Frevels, auch einen entgegenkommenden Schritt thun? Können Sie nicht Beruhigung und Trost finden selbst für tausendjährigen Kummer in der Religion der Liebe?«

Langsam enthüllte Mardochai sein Antlitz. Das schwarze Gewand sank nieder, wie Lavaasche, unter der hervorleuchtet der glühende Kegel eines feuerflammenden Gebirges. Mardochai's Antlitz schien Funken zu sprühen, noch nie hatte ich die erhabene Herrlichkeit des Zornes in so göttlicher Schönheit bewundern können.

»Und Sie wagen es, ein solches Wort auszusprechen?« flüsterte mit zornbewegter Zunge der geheimnißvolle Jude. »Sigismund,« fuhr er fort und stand auf, »seht, das ist es, was mich von Euch und Eurer Religion zurückschreckt. Wäret Ihr Christen so einig, so ganz, so im Hasse verbunden, so liebebegeistert einig, Ihr könntet nie eine ähnliche Frage thun! Aber Ihr prahlt mehr mit dem hohen Geschenk des erbarmenden Gottes, als Ihr es achtet. Ihr pocht auf Euer Vorrecht, das Ihr ohne Mühe gewonnen habt durch den Zufall der Geburt, wir Juden aber lieben und[183] ehren unsern Glauben, obwol er nur Schmach und Verachtung über uns gebracht! Wer ist der Größere?«

»Stolz und Hartnäckigkeit ist nicht Größe,« fiel ich beschämt ein, ohne es merken zu lassen.

»Freilich nicht,« sagte Mardochai, »dennoch finde ich mehr Adel in diesem Stolz, der sich stützt auf Glaubensmysterien, als in jener kleinlichen Neckerei, die wie ein ungezogenes Kind blos den Willen behalten will, ohne auf die Heiligkeit der Weigerung zu achten, die uns abhält, Gebrauch zu machen von den gethanen Vorschlägen.«

»Mardochai,« unterbrach ich den Redenden, »ich weiß Ihre Gründe zu ehren, darum verlange ich auch von Ihnen Gerechtigkeit. Ihre Glaubensgenossen sind größtentheils eben so blöd und kurzsichtig, als die meinigen, nur den pecuniären Gewinn mögen sie schlauer zu handhaben verstehen. Der gemeine Jude ist hartnäckig aus Gemeinheit, und wol auch tief wurzelndem Hasse, wie der gemeine Christ. Es können also bei der Emancipationsfrage nur die Edlen zu Rathe gezogen werden. Nun denn, so verlange ich von dem hochgebildeten Juden, daß er Christ werde, um dadurch die Emancipation factisch befördern zu helfen und seine minder gebildeten Glaubensbrüder zu ähnlichen Schritten zu veranlassen.«

Du wirst den Kopf schütteln über diese Worte, [184] die Du mit meinen sonstigen Ansichten wol schwerlich in Einklang bringen möchtest. Und daran thust Du recht. Ich war nicht ehrlich, während ich so sprach, aber ich wollte den Juden zwingen, sich ganz vor mir zu enthüllen, und ihn durch Opposition zu Geständnissen bewegen, die sonst wol schwerlich über seine Lippen gekommen wären. Meine Absicht wurde zum größten Theile erreicht.

»Auf diesen Vorschlag,« sprach Mardochai, »sage ich blos, daß ich ihn unmoralisch finde und deshalb verwerflich. Der Führer darf seine ihm anvertraute Heerde nicht verlassen. Das wissen Sie eben so gut, als ich. Unsere Glaubensbrüder würden uns nicht folgen, sondern uns blos strafen mit Verachtung. Ihre Hartnäckigkeit aber würde wachsen und die Fessel der Satzungen alle Herrlichkeit, allen tieferen Geist in ihnen vollends erdrücken. Die Sache ließe sich einfacher lösen und naturgemäßer. Wollt Ihr Christen uns wirklich betrachten als einen Volksstamm, der Euch nachsteht an innerer Civilisation, gut, thut es! Doch zeigt Euch dabei als liebende Christen, und seid als solche Menschen! Drückt dem Philisterthum, der Kleinigkeitssucht, der Pedanterei, die Augen zu, setzt Euch selbst der Gefahr aus, reell übervortheilt zu werden von der Schlauheit unseres Stammes, die Folge einer in Schmutz entstandenen Entsittlichung ist. Es wird Euch Ehre bringen [185] und Früchte. Emancipirt uns und Ihr macht alle Juden dadurch allein schon reif zum Christenthume. Indem Ihr den Juden gleiche Interessen einflößt mit Euch, kettet Ihr sie an Euch, der Haß verliert sich, schlägt um in Liebe, die Macht der Satzung fällt, weil sie keinen Haltpunkt mehr hat in der früheren Abgeschlossenheit, und wenige Jahrhunderte werden genügen, die Juden zur Taufe eilen zu sehen, jetzt nicht mehr aus weltlichen Rücksichten und blos zum Schein, sondern aus innerm Herzensdrange! – Und warum ist man nicht darauf eingegangen? Warum hat Niemand den Schmerz empfinden wollen, den ich als ein Kind dieses unglücklichen Volkes fühle und auszusprechen wagte, um es zu retten? Glaubt man uns durch die Verweigerung einer nur menschlichen Forderung zu zwingen? O, der Schmerz ist allmächtig, wie die Rache! Er ist das Samenkorn der Rache, das aufschießt aus ihm und noch grauenhafte Früchte tragen wird! – Sigismund, ich that Alles für mein Volk; ich war ruhig, ich war ein Knecht, ich bat, ich flehte, ich kroch mit zitternder, angstgebrochener Lippe von Thron zu Thron und berührte den Purpursaum der Majestät, das Hoffnungsroth für mein Volk – aber ich fand kein Gehör, keine Erwiederung meines bittenden Schmerzes! – Da ging ich heim in meine Kammer und zog zu Rathe den Geist, der sich [186] nährte im Giftschaum jener Leiden, die Jahrtausende lang der Uebermuth der Christen über uns verhängte. Ich ging zu Rathe, sage ich, mit Blut und Fluch und Tod, mit den Seufzern, begraben in den Höhlen der Folterkammern, verpuppt im trüben Gespinnst, das sich ansetzt an den ekelfeuchten Wänden der Kerker. In diesen Nestern, wo der Schmerz meines Stammes vergeblich sich versteckte, fand ich die Nothwendigkeit, gewaltsame Schritte zu thun, um Gerechtigkeit zu erlangen noch während meines Lebens. Funfzehn Jahre und drüber blätterte ich in den Anhängseln der Weltgeschichte herum, um mir Gewißheit zu verschaffen über das, was wir gelitten haben. Mein Muth wuchs mit meinem Zorne. Ich ward zum Lästerer für das Heil meiner Brüder; ich sündigte furchtbar vor dem Herrn, ich ward ein Verworfener für die zukünftige Emancipation der Juden.« –

Mardochai hatte die letzten Sätze mit strafendem Prophetenfeuer gesprochen. Jetzt schien eine Wehmuth über ihn zu kommen, vor der sich selbst der Stolz und die Kraft seiner irdischen Bestimmung auf kurze Momente zurückziehen mußte. Gesammelt erfaßte er meine Hand.

»Letzthin,« fuhr er fort, »führte ich sie mit Ihrem damaligen Begleiter in ein Gemach, wo Liebe und Haß sich stritten um den Vorrang. [187] Damals haben Sie mir geflucht, ich weiß es; jetzt erinnere ich Sie nochmals daran und frage zugleich, ob Sie nunmehr Gleichmuth's, Casimir's, Friedrich's Lebenswege begreifen?« –

Er schwieg, sein dunkles Auge ruhte forschend auf mir, mit der weißen Hand spielte er mit dem schimmernden lang herabwallenden Barte. »Entsetzlicher!« rief ich aus, »Deine Sünden waren gräßlicher als Deine edlen Absichten, durch die jene hervorgerufen wurden.«

»Das ist ein Irrthum,« versetzte Mardochai, »und ich glaube nicht daran. Wären Sie ein Jude, hätten Sie, wie ich, sich bemüht um das Recht, Mensch sein zu dürfen bei dem Bewußtsein, es mehr als hunderttausend Andere zu verdienen, und hätte mit der Bitte sich jede erdenkliche That schüchtern, aber doch sicher vereinigt; so würden Sie nach jeder neuen zerschlagenen Hoffnung auch wie ich rachedüster umhergeschlichen sein auf dieser Erde. Ich nährte meinen gerechten Ingrimm mit altem Schmerzensweine. Ich trank zu viel davon, ich ward halb wüthend, und in dieser Halbraserei des zürnenden, gemißhandelten Menschen that ich, was Sie wissen! – In meiner Rache wirkte ich liebend für die Zukunft meiner Brüder. Ich schacherte mit des Christenthums Geist für die Befreiung Juda's aus seiner Sclaverei. Meine Rache verschaffte mir die Mittel [188] und meine Liebe weiß sie zu nützen für einen Zweck, den nur die Zukunft der Geschichte begreifen wird!« –

»Mardochai,« rief ich aus, als die Scheu vor dem Geständnisse ihn in sich selbst erbeben machte, »Mardochai, hören Sie auf, der richtenden Geschichte vorzugreifen! Es ist schon zu viel gefrevelt worden, und nimmer kann der Friede ihre Schritte begleiten!«

»Friede!« wiederholte grollend der Jude. »Den suche ich nicht, den mag ich auch nicht. Mein Amt ist die Vorbereitung der Erlösung meiner verachteten Brüder. Darum ward ich ein gemeiner Schacherjude und verkehrte mit dem Auswurf der Menschheit, ohne nach ihrem Bekenntniß zu fragen. Erst, wenn ich errungen habe, was ich bezwecke, will ich rasten, und das Uebrige der Langsamkeit des Ewigen überlassen.«

»Ich sollte meinen, Sie wären längst am Ziele,« versetzte ich, weil ich noch ein Geheimniß enthüllen zu können glaubte.

»Noch nicht, doch bald.«

»Lassen Sie ab!« rief ich halb bittend, halb befehlend, und erfaßte Mardochai's beide Hände. »Genüge es Ihnen, daß Sie zwei Christen elend gemacht haben durch Ihre Rache und einen bewegen, Sie zu bitten, wie ich.«

»Sie sind kein Christ im Sinne jener,« sagte [189] er kalt und entzog mir seine Hände. »Ueberdies lasse ich mich nie von Andern bestimmen.« – »Wir standen uns wie zwei Todfeinde gegenüber, die beide die Tapferkeit, den Muth, den Stolz der Gesinnung im Andern achten.«

»Finden Sie Befriedigung in Ihrem Cultus?« fragte dumpf Mardochai.

»Mein Leben gibt Ihnen Antwort.«

»Warum sagen Sie sich nicht los von der Gemeinschaft, offen, entschieden?«

»Die Gründe liegen in Ihrem eigenen Festhalten an Moses Lehre.«

»Nur zum Theil,« sagte der Jude, »denn unser Bekenntniß ist schön in seinen Irrthümern, das Ihrige aber sollte ganz davon frei sein. Sie alle fühlen dies, wagen aber kein Wort darüber auszusprechen. Die Feigheit macht Sie zu Tyrannen, ungerecht, sclavisch, gotteslästerlich, irreligiös, zu Feinden der Freiheit des Gedankens, zum Henker desselben Gottes, den Sie anzubeten vorgeben! Wie glauben Sie diesem grauenhaften Unfuge steuern zu können?«

Ich zuckte die Achseln. »Hoffnung, die Zukunft, – Geduld. –«

»Nein,« schrie Mardochai mit einer Stimme, die noch jetzt in meiner tiefsten Seele fortwimmert, »nureine That kann helfen und zwar – eine recht grauenhafte! Euch muß man höhnen! [190] Gott muß sich von Euch abwenden, die Wolken müssen wie ein sprudelnder Giftschaum des empörten Himmels über Eure Häupter hinstreifen, sonst seid Ihr nicht zu retten! Hohn aber wird Euch wieder aufrütteln und lehren, daß Ihr nichts besitzt, als die schalste, dümmste Ergebenheit. Was ist das hier?«

Mardochai hatte eine Schnur ergriffen, die jenen Vorhang zusammenhielt, hinter dem ich zuerst Sara in den reizendsten Stellungen einer Odaliske, nur umflossen vom Zauber der Unschuld, erblickt hatte. Der Vorhang fiel auseinander. Die Maske eines lebensgroßen Christuskopfes mit wunderbarer Geschicklichkeit auf in Wachs getränkte Seide gemalt, ward sichtbar. Sie verdeckte die Büste, die ich schon früher bemerkt hatte, und ward von starken, seidenen Schnüren an derselben festgehalten. Erstaunt sah ich den Juden an. »Was soll Ihnen dies?« fragte ich.

»Mich aufrecht halten und Euch Christen zu der Ueberzeugung bringen, daß ihr wirklich sehr mühselig seid und an dieser Krankheit hinsiechen werdet, könnt Ihr Schein von Wahrheit nicht unterscheiden.«

Der Vorhang fiel wieder zusammen, ich sank auf den Stuhl zurück und verdeckte mein Gesicht. Ich war nicht im Stande, Mardochai's Worte zu deuten. Der Jude überließ mich meinen [191] schmerzlichen Gedanken, ich hörte ihn langsam auf und nieder durch das Zimmer schreiten. Draußen an der Thür vernahm ich ein Schlürfen, als entferne sich Jemand behutsam. Auch ein gewaltsam unterdrücktes Lachen glaubte ich zu hören. Der Jude achtete nicht darauf. –

Es mochte wol eine Viertelstunde vergangen sein, die uns beiderseits mit dem Belauschen unserer verborgensten Gedanken beschäftigte, als Mardochai's Hand sich kalt an meine Stirn legte. Unwillkürlich fuhr ich zusammen. »Gehen Sie,« redete er mich an, »unser gegenwärtiges Zusammensein muß Ihnen genügen können, um mich zu begreifen. Sie haben die Wahrheit gehört, es drängen sich keine schwülstigen Geheimnisse mehr zwischen unsere Herzen. Was auch noch geschehen mag, bevor Sie Europa fliehen wollen, ich hoffe von Ihnen auf eine gerechte Beurtheilung. Die Zeit ist unsere Mutter; da sie aber klirrend in hundert Ketten einhergeht, so rasseln auch wir mit diesem Geschmeide. Wer sich am wildesten schüttelt, der ist der lustigste Gaukler. – Das bedenken Sie, dann entgehen Sie der Misdeutung Ihres eigenen Herzens.«

Als ich, überwältigt von dem außerordentlichen Gemisch von Edelmuth, Hochsinn und zügelloser Rachsucht in diesem Charakter den Juden verließ, sah ich von der Hausthür eine Gestalt hinweg [192] schlüpfen und mit schnellen Schritten in den Straßen der Stadt verschwinden. Ich hielt den Schatten für Friedrich und hatte kein Arg. In Bardeloh's Hause war Alles ruhig, mein Gastfreund schien noch beschäftigt. Erschüttert, von den widersprechendsten Gedanken geängstigt, verlebte ich die Nacht und war froh, als die späte Morgensonne wieder Licht in das Dunkel meiner Seele goß.

Wider alles Erwarten überraschte mich am frühen Morgen Casimir durch einen Besuch. Diese Ehre war mir noch nie wiederfahren. Es mußte eine eigene Bewandniß haben, wenn Casimir sich die Mühe nahm, irgend Jemand ohne zehnmalige Aufforderung zu besuchen. Er sah überwacht, zerrissen aus. Seine Augen glühten und waren entzündet. Ohne Complimente trat er vor mich hin und sprach:

»Was thut ein Mensch, wenn ihn ein toller Hund gebissen hat?«

»So viel ich gehört habe, soll er meistentheils in die Hundswuth verfallen.«

»Das heißt kurz und bündig, dieser Gottheitsharnisch, Kopf genannt, findet es billig, sein Inneres mit Bestialitäten auszustopfen, und das Blut kochen und glühen zu lassen, bis der ganze Plunder zum Vieh wird. Rasen und Toben sind keine menschenwidrigen Dinge.«

[193] »Man erlebt's wenigstens oft genug,« warf ich ein, verwundert über dieses Gesprächsthema.

»Das Beißen ist einem hundstollen Menschen doch auch erlaubt?« fragte Casimir.

»Wenn einer die Jacke der Vernunftlosigkeit anzieht, lieber Casimir,« versetzte ich, »so finde ich es sehr praktisch, daß er consequent die Rolle durchführt, die er nun einmal übernommen hat.«

»So denk' ich auch, und das ist gut! Wie denn aber, kann ein hundstoller Kerl nicht auch beißen, zerknirschen und zermalmen, wen er will? Oder darf er sich just nur an das bissige Beest wenden, dem er die Toll-Virtuosität zu verdanken hat?«

Mich begann diese hundstolle Verhandlung zu ergötzen. »Casimir,« sagte ich, »meines Erachtens darf sich ein genialer Rasender ganz und gar nicht geniren, ich wenigstens würde mich jedem Gelüst hingeben, und zerbeißen, zermalmen und zerknirschen, was mir eben in den Weg käme. Das finde ich gentil gehandelt von einem Tollen. Ich halte ein solches Gebahren für das vollendetste Dandyleben eines Hundstollen.«

»Gut,« erwiederte Casimir, »das wollte ich nur wissen. Nun wundere Dich aber nicht, wenn die Tollwuth recht bald ganz genialiter sich gebehrden wird. Ich bin hundstoll und habe sehr viel zu zerbeißen. Fleisch und Knochen, [194] Haut und Haar. 'S wird sich ein höllisches Gequick erheben. – Kerl mit den genialen Ohren, Du solltest mein Obersattelmeister werden bei dem Ritte, den ich mir jetzt eben bestellt habe, wäre die Natur nicht eifersüchtig.«

Lachend verließ er mich nach diesem unverständlichen Kauderwelsch, in das ich jetzt noch keinen Sinn zu bringen weiß. Es muß ihm irgend etwas Bitteres begegnet sein, der Himmel mag wissen, durch welchen Zufall! Uebrigens zeigt er sich seit dieser Stunde ernsthafter und gemessener als früher. Er bleibt auf seinem »königlichen Gölterstalle,« wie er sein Zimmer nennt, arbeitet nach seiner Weise fleißig und geht nur Abends auf wenige Minuten aus, um dreimal um den Dom zu laufen. Dies thut er meist im Schlafrocke, ohne sich im geringsten zu geniren, ohne Hut, oft auch ohne Stiefel oder Schuhe. Die Nacht über schreibt er wieder, oder spielt das Geschriebene, es laut declamirend, sich selber vor. Bardeloh sagte mir erst heute, daß er höre, wie er sich seines Talentes freue. »Einen Mimen wie mich,« hat er letzthin gesprochen, »knetete noch keine Zeit zurecht. Ich würde Deutschlands Bühne retten, wollte man mich nur spielen lassen, wie der Geist meiner Arbeiten es mit sich bringt.«

Darin will ich ihm Recht geben, der Geist seiner Arbeiten bringt es aber mit sich, daß ein [195] Schauspieler von gewöhnlichem Talent eben gar nichts mit einer solchen Rolle anzufangen weiß. –

Lege nun auch diese neuen Mittheilungen liebend zu den frühern. Bald wird sich die Reihe derselben schließen und Du alsdann zurücksinken in den alten Frieden, der Dich beschirmte, ehe die Leidenschaftlichkeit meiner Natur den schimmernden Nebelschleier zerriß. Mein nächster Brief soll wieder Deinem Bruder angehören; ich selbst bin begierig, wie der Stoff dazu sich gestalten wird, ob glückverheißend oder unglückdrohend. Diesen Kuß Deinem Herzen, das ich zu schätzen weiß, selbst wenn seine Schlage nicht die Pulse des meinigen zu zählen vermögen. Ich bitte nur um stille Duldung, eine laute würde ich zurückweisen, weil ich selbst öffentlich nichts weniger als mild und nachgiebig auftreten mag. –

17. An Raimund
[196] 17.
An Raimund.

Köln, den 8. Februar.


Dicht am Pulverfaß glimmt die Lunte, der Vulkan, auf dem wir stehen, fängt an zu zittern, jede Minute kann ihn öffnen und in Rauch und Flammen weit und breit Verwüstung ausspeien lassen. – Diesen Eingang wirst Du nicht verstehen, und wohl Dir, wenn Dein Lebensweg Dich immer fern hält von diesem Verständniß. Oder soll ich wehe rufen? Fast bin ich mir selbst nicht mehr klar über den Werth oder Unwerth des großen Schmerzes, der ein Vater ist jener Weltpoesie, von welcher schon die ersten blühenden Klänge in die Zukunft hineingrüßen. –

Das Fest der Firmelung ist vorüber. Ich würde schweigen, beging ich dadurch nicht einen Verrath an der Geburt, die sich unter furchtbaren Wehen an den Tag der Freiheit drängt. Raffe Deinen Mannesernst zusammen, knüpfe die Enden der Schellenkappe als Fühlfäden der kommenden Lust um die finstern Falten der schwülen [197] Gegenwart, und so, halb Faust, halb Don Juan, halb Eulenspiegel, stürze Dich mitten in den heulenden Schlund, in dessen Tiefe die Grauen der Gerechtigkeit zu Gericht sitzen über die Frevel der Völker. –

Die Stadt war allgemein festlich bewegt, selbst Bardeloh, sonst kalt und schneidend höhnisch, zeigte eine Art passiver Theilnahme. Er wehrte Felix nicht, mit mir den Dom zu besuchen. Der Vormittag verging mir recht angenehm unter Gesprächen mit Rosalie und Burton, der seit einigen Tagen unser Gast ist. Felix nahm, wie gewöhnlich, auf seine harmlose Weise daran Theil. So begierig der Amerikaner auch ist, einen tiefern Blick in die verschiedensten Zustände unseres deutsch-europäischen Lebens zu thun, lange festhalten kann man ihn nicht. Man sieht es dem kräftigen Menschen recht an, wie fremd und gewissermaßen abstoßend diesen rein thatkräftigen Naturen das bloße Besprechen ist. Sie haben keinen Maßstab für diese unsere Pein. Sie begreifen kaum, daß der Zwang der Verhältnisse uns allen nur die Rede als Schmerzensstiller, statt der entrissenen That in die krampfhaft zuckenden Hände gegeben hat. Ich bemerkte irgend etwas derartiges, um Burton's Meinung zu hören.

»Ich kann nicht widersprechen,« antwortete er mir, »eben so wenig, als ich Euer vieles Reden [198] zu billigen vermag. Wenn Ihr nun einmal ein Abkommen träft unter einander, es sollte Jeder nur ein paar Monate hindurch die halbe Zahl der gewöhnlichen Worte verbrauchen und dafür grade die Hälfte mehr thun, glauben Sie nicht, daß von selbst, ganz ungerufen, gewaltige Thaten geschehen würden?«

»Nein,« versetzte ich, »nimmermehr! Sie gehen von ganz falschen Grundsätzen aus. Hindern Sie uns am Reden, so wissen wir uns im Träumen zu entschädigen, bis zur That aber kam' es gewiß nicht.«

»Das ist traurig, mächtig traurig!«

»Ich muß unserm Freunde beistimmen,« fiel Rosalie ein. »Im Allgemeinen hat Sigismund recht, ausnahmsweise aber würde ein solches Experimentiren, um eine That zu gebären, höchstens misglückende Revolutionsversuche erzeugen, wie wir dies ja oft genug schon erlebt haben; oder im allerbesten Falle wahre Misgeburten von Thaten, Riesen im Entwurf am Kopfe, Zwerge an den Gliedmaßen, deren Anblick nur Schreck einflößen kann und von einer allgemeineren Theilnahme jeden Besonnenen zurückhält.«

Als Rosalie mit jener schönen weiblichen Ruhe, die ihr so ganz zu Gebote steht und sie schmückt, wie selten ein Weib, diese Worte sprach, ahnte [199] sie wol kaum, daß sie noch an demselben Tage als Prophezeihung in Erfüllung gehen würden.

»Sie fühlen dies so tief,« erwiederte Burton, »und können es doch über sich gewinnen, in dieser Unthätigkeit selbst zu erlahmen?«

Rosalie lächelte bitter. Sie drückte Felix an ihre Brust. »Sind Sie Vater?« fragte sie den Amerikaner.

»Vater von drei mächtig muntern Kindern,« sprach Burton mit glänzendem Auge, »zwei Knaben und ein Mädchen nenne ich mein.«

»Dann wissen Sie, weshalb ich verkümmere,« seufzte Rosalie. »Lebte mir dieser Knabe nicht, so würde ich Alles ertragen, vielleicht gleichgiltiger, vielleicht auch theilnehmender.«

»Dennoch sollten Sie mir folgen,« versetzte Burton. »Wollen Sie nur recht, Ihr Gatte wird sicher nicht zurückbleiben.«

»Meine Frau hat ihren freien Willen,« sagte Bardeloh, der eintretend die letzten Worte gehört hatte. »Unsere Ehe war glücklich, sollt' ich meinen, hing aber nie an Kleinigkeiten. Nicht wahr, Rosalie?«

Ein bittender Blick traf Bardeloh's Auge. Bewegungslos hielt er ihn aus. »Gewiß, Richard, Du hast wieder die ganze Nacht hindurch gearbeitet. Täglich wirst Du bleicher; warum doch folgst Du gar nicht mehr meinen Ermahnungen?«

[200] »Weil ich wünsche, Du mögest so unabhängig leben, wie ich.«

»Siehst Du, Mutter,« fiel Felix ein, »da sagt es Dir der Vater ja ganz deutlich, daß Du mit mir nach Amerika reisen sollst.«

»Mit Dir nicht,« erwiederte Bardeloh, »allein aber könnte es sich wol noch treffen.«

Diese räthselhafte, düstere Kälte lähmte uns allesammt. Burton, obwol fern aller Sentimentalität, erschrak doch vor einer solchen Art und Weise, das Theuerste, was ein Mann besitzen kann, zu behandeln. Er empfahl sich von Rosalie, nahm meinen Arm und führte mich mit sich in seine Wohnung.

»Es ist zu entsetzlich,« rief er aus, »ich mag's nicht mehr ertragen! Und doch schlägt mich noch weit mehr, als die Erscheinung selbst, die Ueberzeugung nieder, daß bedeutende, wenn auch nicht leicht erkennbare Gründe vorhanden sein müssen, da solche Auswüchse sich bilden können! Bardeloh ist reich, besitzt ausgezeichnete Geistesgaben, ein liebendes Weib, ein glückliches, aufgewecktes Kind – und doch verschwinden vor seinem Auge alle diese großen Reichthümer, weil er, sei's mit Grund, sei's aus Ueberspannung, für die Zukunft besorgt ist. Es faßt's Keiner der es nicht selbst gesehen hat – aber ich begreife jetzt die Auswanderer! Es gehört Muth und Tugend dazu, als ein Europäer [201] mit menschlicher Ausdauer, mit liebendem Herzen zu sterben!«

Den Rest des Vormittags brachte ich bei dem Amerikaner zu. Während meines Dortseins empfing er Briefe aus Rotterdam, in deren einem sein Kapitänspatent zur Brigg »die Hoffnung« sich vorfand. Die Zeit des Absegelns war seinem Willen überlassen.

»Jetzt können Sie über mich verfügen,« sagte er, mir das Patent zeigend. »Wir können eilen oder zaudern, je nach Ihrem Gutdünken, doch scheint mir, Beschleunigung wird in keinem Falle schädlich sein. Je eher Sie Amerika's Boden betreten, desto mehr gewinnen Sie an Lebensfrische.«

Da Burton schnelle Antwort geben sollte, benutzte ich die Zeit, um einige Zeilen an Auguste zu schreiben. Flüchtig meldete ich ihr, wie nahe der Zeitpunkt gekommen sei, wo wir für immer vereinigt sein würden. Die mißlicher werdende Lage verschwieg ich ihr ebenfalls nicht, indem ich zugleich bat, Alles für die Reise vorzubereiten. Denn es war mir immer, als müsse noch irgend etwas geschehen, das einen plötzlichen Aufbruch wünschenswerth machen könnte. Du kennst ja meine Ahnungsgelüste, die mir schon oft gramvolle Tage bereitet haben.

Unterdeß nahte sich die Mittagszeit. Auf [202] Burtons Einladung speiste ich mit ihm, ächt amerikanisch, indem ich mir nur von Amerika erzählen ließ. Es gewährt mir dies einen unbeschreiblichen Genuß. Burton ist begeistert, wenn Amerika's Glück in schönen Bildern vor dem hellen Spiegel seines Gedächtnisses vorüberwandelt. Der entschlossene, praktische Mann wird Dichter, ohne es zu wissen. Sein Geist baut Welten auf, die er wol schwerlich selbst ahnt, und grade in dieser Unwillkürlichkeit liegt ein hoher Reiz, ein Genuß, der namentlich einen Europäer bezaubern muß. –

Zum nahen Carneval finden sich bereits viele Fremde aus der Umgegend ein. Mancher kommt wol auch, um dem kirchlichen Feste beizuwohnen. Schon seit einigen Tagen war die Anzahl der Fremden bedeutend gestiegen, heut wollte es gar nicht mehr aufhören. Die dem Rheine nahe gelegenen Hotels sind überfüllt. Dennoch sperrt man zusammen, so Viele sich irgend unterbringen lassen und jeder gibt gern nach, wenn es möglich ist. Noch saß ich mit Burton zu Tisch, als der Kellner den Amerikaner fragte: ob er wol eine kleine Kammer auf einige Tage entbehren könne? Ein sehr ehrwürdiger Greis, der alljährlich um diese Zeit hier einspreche, sei eben angekommen und nirgends wolle sich ein Plätzchen für ihn finden. Burton war es zufrieden, dankend entfernte [203] sich der Kellner und bald darauf hörten wir den neuen Ankömmling im Nebenzimmer sprechen. Die Stimme schien mir sehr bekannt, doch wußte ich nicht, wo ich ihm früher begegnet sein mochte und vergaß über den Erzählungen des Amerikaners auch schnell wieder den momentanen Eindruck.


Abends.


Frühzeitig schon drängte sich eine zahlreiche Menschenmenge in die Nähe des Domes. Individuen von allen Religionsbekenntnissen wollten dem feierlichen Kirchenact beiwohnen und vergaßen leicht im Taumel einer neugierigen Lüsternheit, was zahllose Menschenalter ihnen nicht entreißen konnten. So ist der Mensch immer und ewig. Fest hängt er an Vorurtheilen, ob sie auch noch so thöricht sein mögen, nur der Reiz einer augenblicklichen Aufregung kann, wie ein spottender Harlekin, ihn herausjagen aus seiner seltsamen Ernsthaftigkeit. –

Grade noch zu guter Stunde fand ich mich in Gesellschaft Bardeloh's nebst seiner Gattin und Felix mit dem Amerikaner ein, um in der Nähe des Eingangs eine behagliche Stelle zu erobern. Aus dem Innern des Doms wehte schon ein betäubender Weihrauchduft, die Hallen selbst waren [204] geschmückt mit Blumen, zwischen denen geweihte brennende Kerzen in blassem Zitterlichte hervorleuchteten. Unter der andrängenden Menge wanderten mit einiger Mühe arme Knaben herum, um deren Schultern geflochtene Strohkörbchen hingen, angefüllt mit Heiligenbildern, Rosenkränzen, kleinen Kruzifixen und andern Dingen, die einem katholischen Gemüthe zu Krücken der Andacht dienen. Laut riefen diese Knaben ihre Kleinigkeiten aus unter dem gaffenden Volke.

»Kauft schöne, blanke Kruzifixe! Neue, geweihte Rosenkränze! Kauft, kauft, schöne Herren! – Alles billig – Stück für Stück nur drittehalb Silbergroschen!«

So schrieen wol dreißig Kehlen bunt durcheinander, die glänzenden Waaren den Umstehenden vor den Augen hin und her schwenkend. Die betriebsame Jugend machte ein leidliches Geschäft, denn Viele kauften, um die Störenfriede nur los zu werden, der bigottere oder meinethalb auch andächtigere Theil der Anwesenden wol auch aus einem tiefern Bedürfniß.

Mir fiel diese Betriebsamkeit, die kirchliche Feste in eine Art Jahrmarkt verwandelt, nicht auf. Aehnliche Scenen hatte ich oft erlebt, da ich von Jugend auf in katholischen Ländern viel verkehrte und mit den Sitten und Gewohnheiten seiner Bewohner vertraut war. Grade da, wo [205] sich die Anhänglichkeit an dem katholischen Ritus am unumwundesten ausspricht, wie in Böhmen, findet man auch am häufigsten diese an eine frivole Parodie grenzende Leichtfertigkeit, mit dem Heiligsten des Herzens einen gewinnsüchtigen Handel zu treiben. Anders betrachtete der Amerikaner die ihm völlig neue Erscheinung. Auf sein Gesicht trat ein zürnender Ernst, mehrmals stieß er die zudringlichen Buben zurück und nur, als Niemand seinen Widerwillen gegen diese Art, Geschäfte zu machen, mit ihm zu theilen schien, kaufte er endlich einem schwarzlockigen Jungen ein Kruzifix und auch einen Rosenkranz ab.

»Wie heißt Du?« fragte ich den kleinen Burschen, als er ihm die Münzen gereicht hatte.

»Benjamin, der Sohn des blinden Salomo,« erwiederte der Bursche und drängte sich, wie ein Wiesel durch die Menge, von neuem mit lauter Stimme rufend: »Gnädige Herrschaften, schöne Fräulein, kauft Kreuze, silberne, goldene! Kauft Rosenkränze, schön geschnitzt, rund und glatt, und auch kleine Josephel, kauft, kauft, kauft, meine gnädigen Herrschaften!«

»Das ist mächtig seltsam!« flüsterte mir Burton in's Ohr, eine Erscheinung, wie sie mir noch nie vorgekommen. »Wir leben doch in einem freien Lande, aber ich bin gut dafür, daß ein Volksaufstand ausbrechen würde, wagte irgend Einer am [206] Eingange zum Heiligthum mit der Industrie zu tändeln. Ihr Europäer scheint gerade da Freiheiten zu besitzen, wo Zwang besser wäre. Euch verwundet es nicht, das Bild des Gekreuzigten feil geboten zu sehen an der Schwelle des Tempels, in dem Ihr zu ihm fleht, wenn aber einer auf offenem Markte es sich einfallen ließe, die ganze Freiheit auszurufen und feil zu bieten, so fürchte ich, wäre Mord und Todschlag das Ende. Wahrhaftig, Ihr habt eine mächtig verderbte Civilisation!«

Ich konnte nur die Achseln zucken und schweigen.

»Kauft blanke, schöne Kreuze!« rief es wieder, »kauft, kauft meine gnädigen Herrschaften, kauft!«

»Und was für einer Menschenklasse sind denn diese Kleinodien in die Hände gefallen?« sprach der Amerikaner. »Jener Knabe nannte sich Benjamin, sein Aussehen kam mir asiatisch vor.«

Jetzt erst fielen auch mir die umherlaufenden Knaben auf. Mein Auge suchte finstern Blickes in der wogenden Menschenmenge, ich sah Niemanden der Verkäufer, nur unablässig traf der schnarrend singende Ton des »Kauft, kauft, meine gnädigen Herrschaften!« mein betäubtes Ohr. Gedankenlos, wie man Altgewöhntes meist hinzunehmen pflegt, hatte ich die schachernden Knaben an mir vorübergehen lassen. Ich war zu tief in [207] die nichtssagende Civilisation verstrickt, um in einem so grellen Auswuchse irgend etwas Anstößiges zu entdecken. Jetzt aber angeregt und gleichsam neu gekräftigt durch die gesunde Frische einer jungfräulichen Natur, fühlte ich plötzlich mit einer erschütternden Wehmuth den ganzen Schmerz einer verloren gegangenen Welt rein menschlicher Unschuld. Aber es gesellte sich auch noch ein tiefergreifendes Weh dazu. Ich gedachte meiner Unterredung mit Mardochai, meines Gespräches mit der holden Sara, und erblickte in den handeltreibenden Knaben nicht mehr die bloße industrielle Betriebsamkeit der Zeit und der Hebräer, sondern eine eigenthümlich sich gestaltende Rache. Und als wolle der Himmel mich bestärken in der Qual meines Gedankens, entdeckte ich in demselben Augenblicke, wo sich der Zug der geschmückten jungen Christen nahte, die hohe Gestalt des Juden hinter der gaffenden Menge umherschleichen. Mehr als grell stach sein feiner, schwarzseidener Talar gegen den Glanz der Freude ab, womit Jung und Alt sich umgeben hatte. Ein langer Zug von Priestern, in dem schimmernden Schmuck der kirchlichen Festgewänder, nahte dem Dome. In ihrer Mitte der Erzbischoff unter dem rothsammtnen Baldachin, den Krummstab in der Hand. Die Glocken läuteten, feierlicher Gesang erscholl, umdampft von Weihrauchdüften trug der heilige Mann die von [208] Edelsteinen strahlende Monstranz in den Dom. »Kauft, kauft, schöne Herrschaften, kauft, kauft!« rief es mitten in den feierlichen Gesang der Chöre, die dunkellockigen Buben mit den pfiffigen Gesichtern hüpften wie Kobolde an dem Zuge der jungen Christen vorüber, die ausgerufenen Kleinodien darreichend zum Verkaufe.

Vor meinen Blicken liefen die Gegenstände durcheinander. Mir erschien der ganze feierliche Aufzug wie ein großes Schattenspiel, von unsichtbaren Händen geleitet. Fest drückte ich Burton's Arm an meine Brust. »Was ist Ihnen?« fragte er mich. »Dort,« stammelte ich zitternd, zähneknirschend, und deutete nach dem Hintergrunde. »Was wollen Sie? Ich sehe doch nur Menschen, geistlos gaffend, sich freuend des lebhaften Gedränges.«

»Kauft, kauft« hallte es abermals in der Ferne.

Im Gedränge war Bardeloh mit den Seinigen von unserer Seite gerissen worden, die Menge stieß uns der Domthür zu, ich wandte mich nochmals um. Wie ein gespenstischer Schatten wandelte langsam und stolzen Schrittes Mardochai mit dem ernsten, weißen Antlitz über den Domplatz. Ihm nach liefen die schachernden Knaben, den Vorübergehenden noch immer ihre Formel zurufend. –

[209] Gebückt wie Sclaven, schlichen sich meine Gedanken an das Licht des Tages. Die Musik schwirrte gleich pfeifenden Geißelhieben um mich und grub blutige Spuren in mein zitterndes Herz. Der Weihrauchdampf verwandelte sich in eine erstickende Sandwolke, die vom Samum ausgewirbelt den Sonnenstrahl vom Himmel raubt, um mit ihm die lechzende Seele der armen Menschheit noch furchtbarem Qualen hinzugeben. Eindruckslos blieb für mich die hehre Feier. Ich war weit hinweggeführt von dem Orte, wo ich stand; ich lag an der Stelle, wo einst die Burg von Zion ihre schimmernden Säulen emporhob und kühlte meine brennenden Glieder in dem Staube, geheiligt von Blut und Thränen eines Erlösers und eines hinsterbenden Volkes. –

Die Handlung war zu Ende, der Strom der Zuschauer stieß uns zur Thür. Am Ausgange trafen wir durch Zufall wieder auf Bardeloh, Rosalie und Felix. Der Amerikaner redete den verschlossenen Mann freundlich an und nahm den herbeispringenden Knaben bei der Hand. »Ein solches kirchliches Schauspiel,« hob er an, »hat mächtig viel Bestechendes für die Menge. Ich fühle, wie ein nur irgend schwärmerisches Gemüth glücklich sein kann im Katholicismus. Dieser Pomp überrascht, bewältigt und zwingt das[210] Gemüth nicht zur Andacht, sondern zu einer Verzückung, die ungefähr denselben Erfolg hat.«

»Es gehört Phantasie dazu,« sagte Bardeloh trocken. »Früher war ich jedesmal von einer solchen Handlung entzückt, schon seit langen Jahren aber läßt sie mich kalt und erweckt sogar ein Gefühl des Widerwillens.«

»Mir gefällt der flunkernde Schmuck,« sagte Felix. »Denn es ist doch gar zu hübsch, von einem so schön gekleideten Manne, wie dem Bischoff, erst mit dem Weihwedel besprengt zu werden und dann irgend einen lieblichen Namen zu erhalten, von dem man doch weiß, woher er gekommen ist. Wann werde ich denn gefirmelt, Vater?«

»Uebermorgen.«

»So bald? Wie soll denn das zugehen?«

»Erwart's in Geduld, so bist Du nicht davon überrascht.«

»Mutter,« sagte Felix, »ich halte mich zu Dir. Bleibst Du bei mir, dann mag meinethalb ich und Alles um mich her gefirmelt werden.« –

Ich fühlte mich zu aufgeregt, um einer Einladung Rosalien's, den Thee bei ihr zu nehmen, folgen zu können. Burton sagte zu, ich empfahl mich an der Thür und ging an den Rhein hinab. Es lag mir viel daran, den Juden noch heute zu [211] sprechen. Ich hatte so viel auf dem Herzen und doch so wenig Worte dafür! Was mich bewegte, konnte nur ein Augenblick heiliger Begeisterung überzeugend dem Manne vortragen, in dessen Augen es nichts der Schonung Würdiges mehr gab.

Auf dem Wege zur Wohnung des Juden bemerkte ich einen steinalten Greis, der mit Hilfe seines Krückenstabes und eines ebenfalls schon bejahrten, aber doch noch rüstigen Mannes, in dem ich auf den ersten Blick den lustigen Klapperbein erkannte, vor mir her ging. Es war der greise Castellan vom Kreuzberge. Eifrig unterhielt er sich mit Ephraim, und der Klang der Stimme verrieth mir, daß dieser Ankömmling derselbe sei, welcher in einem der Gemächer des Amerikaners um Aufnahme nachgesucht hatte.

Ich mag wol gestehen, ohne deshalb für charakterschwach zu gelten, daß der Anblick und die Begegnung dieses ehrwürdigen Greises in der Stimmung, die eben mein ganzes Wesen erfüllte, etwas sehr Beruhigendes für mich hatte. Heiter grüßend trat ich zu dem Castellan und schüttelte ihm auf derbe deutsche Weise die Hand. Der heiter-rüstige Greis erkannte mich sogleich wieder und war erfreut, mir nochmals zu begegnen. Da er zu den wenigen Glücklichen gehörte, die in einem langen Leben nicht den Glauben an die Güte der Menschheit und das Vertrauen zu jedem Einzelnen [212] verloren haben, so erfuhr ich nach wenig einleitenden Worten, daß er regelmäßig alle Jahre zur Carnevalsfeier die alte Stadt besuche. Einmal in's Reden gekommen, erzählte er von den Festlichkeiten früherer Jahre und, wie er in der Zeit der ungeschwächten Kraft oft selbst mit Theil genommen habe an den ergötzlichen Thorheiten.

»Jetzt ist das Alles anders geworden,« fuhr er fort. »Seit die Unzufriedenheit als Modeartikel im Leben mit feil geboten wird, denken die Leute gar nicht mehr so recht von ganzem Herzen an die pure, sich überstürzende Lustigkeit. Sie schwatzen ein Langes und Breites von Absichten und Zwecken, die Gott weiß, welche große Dinge, hervorbringen sollen, während die Fastnacht nun doch einmal blos für's ehrliche Lustigsein da ist. Ich bin ein Mann von Glauben, der ganz und gar das lustige Leben nicht missen will, aber diese Kopfhängerei auf der einen Seite, und die frivole Düsterheit auf der andern, die heut zu Tage aller Orten sich misbilligend begegnet und stößt; die mein lieber Herr, ist von großem Uebel!«

»Bei den ersten beiden Weinküpern, Noah und Bachus!« rief Klapperbein aus, »Du hast recht, alter Kumpan. Beten und Singen ist gut und ein gar schönes Ding um ein armes Herz, aber Absicht darf man keine dabei haben. Ich bete just, wenn mir's ankommt. Das ist bei mir, [213] wie der Hunger. Verspüre ich Leerheit, so muß ich drauf denken, wie ich ihr abhelfen kann. Und in diesem Punkte hat die Seele oder das liebe Gewissen eine erstaunliche Aehnlichkeit mit dem Magen.«

»Es sind nun wol schon zehn Jahre her,« fuhr der Castellan fort, »daß mich die große Narrethei nicht mehr recht erfreuen will. Ich könnte nun freilich wegbleiben, alt genug war' ich ohnehin, indeß, was man so ein siebenzig Jahre und darüber unter den seltsamsten Lebens- und Weltereignissen mitgemacht hat, dabei muß ein ehrlicher Kerl aushalten so lange es nur möglich ist. Erfreue ich mich nicht mehr an dem Spectakel, den Zwecke leiten, so macht es mir doch Spaß, wie der Schalks- und Koboldsgeist solcher Tage, der im Spaße versteckt liegt, den großen, klugen Weisheitshelden die übermüthigsten Rübchen schabt. Und das bleibt niemals aus und wird auch Heuer nicht fehlen.«

»Möglich wäre es doch,« erwiederte ich, »denn die Anordnung der diesmaligen Festlichkeiten liegt in den Händen des ernsthaftesten Mannes –«

»Desto besser, desto besser!« sprach lächelnd der Castellan und stieß wiederholt mit seinem Krückenstabe auf's Pflaster. »Grade den Ernsthaftesten wächst der Fuchsschwanz am Rockkragen fest, und je höhere Zwecke diese Großhändler der Weltgeschichte [214] verfolgen, desto sicherer kann man auf die Nichterreichung derselben bauen.«

»Mir ist's all eins', meinte Klapperbein, wenn's nur auch eine Rammelei dabei gibt; und dafür, denk' ich, ist diesmal gesorgt.«

»Wie so?« fragte ich.

»Curiose Frage, das! Es ist ja die ganze Hetze der Frommen rings aus der unendlichen Nachbarschaft hergekommen, um einmal zu sehen, wie die ›Gottlosen ihren Sabbath‹ feiern, und wenn die Böcke mit ihrem Widerspiel zusammentrafen, da hab' ich immer gesehen, daß es an ein ergötzliches Hörnerwetzen ging.«

Etwas Aehnliches hatte ich bereits gehört und zwar mit dem Beisatze, man habe absichtlich eine Art Einladung an die strengen Sittenprediger ergehen lassen. Jetzt trug dies nicht wenig bei, mich noch heftiger als früher zu beunruhigen. Ich knüpfte Bardeloh's hingeworfene Worte mit Mardochai's laut ausgesprochenen Verwünschungen zusammen, gedachte des nur zur Hälfte gesehenen Apparats und tausend anderer Dinge. Davon aber gegen die beiden Alten etwas zu äußern, hielt ich für indiskret und unklug.

»Wie geht's denn meinem Novizen?« fragte der Castellan. »Ich möchte den armen Narren doch lebensgern noch einmal sehen; mein Herz hängt ordentlich an ihm. Und sollte er früher [215] sterben als ich, so mag sein trübselig reicher Bruder nur immerhin sein Wort halten.«

»Ich erzählte dem Greise, was ich etwa sagen zu dürfen glaubte, ohne ihn gar zu sehr zu betrüben. ›Gut,‹ erwiederte der Castellan, und da, wie Sie mir sagten, auch Bardeloh mit zu schaffen hat beim Carneval, so komme ich in sein Haus, und dann halte ich mich an Sie. Meinen Bonifacius muß ich sehen.«

An der Brücke schieden wir. Der pfiffige Klapperbein steckte mir beim Weggehen ein Briefchen zu und flüsterte mir in's Ohr, daß, ginge sein liebes Fräulein wirklich außer Landes, er allein nicht im Lande bleiben werde. Der Brief kam aus Düsseldorf. Ich steckte ihn zu mir und beeilte mich, den Juden aufzusuchen, voll seltsam stürmischer Gedanken und süß beglückender Herzensregungen. Es dunkelte schon sehr stark, als ich an seine Wohnung kam. Friedrich saß auf einem Steine vor der Thür mit der Geige auf dem Schooß. Den Kopf hatte er in beide Hände gestützt, den Blick zur Erde gesenkt. Er schien zu schlafen, da er mein Räuspern durchaus nicht beachtete. Ich stieß ihn an und fragte, was er hier treibe.

»Ei tausend,« erwiederte er mit wichtiger Miene, »sehen Sie mir's denn nicht an, daß ich ein stiller Wächter bin?«

[216] »Hast Du mich nicht gehört?«

»Fühlen und hören ist bei mir all' eins.«

»Was bewachst Du denn?«

»Narr und Närrchen.«

»Ist Mardochai zu Hause?«

»Ich will des Teufels werden, wenn er drinnen ist, und das wäre mehr als ein rechtschaffener Christ werden soll, denn jetzt bin ich noch durch und durch des Gottes.«

»Nun so steh' auf, Friedrich, und laß mich hinein.«

»Das läuft gegen Controlle und Parole. Ei tausend, kennst Du denn meine Parole?«

»Freilich kenne ich sie, Du hast mir sie ja gesagt. ›Die Geige führt die Narrheit spazieren.‹ Nicht wahr ich habe ein gutes Gedächtniß?«

»O ja,« versetzte der Blödsinnige, »heut aber trägt meine Parole eine poetische Narrenjacke, sie heißt: ›tolle Hunde beißen Unschuldige und werden geil, wenn die Lerchen im Himmel zwitschern.‹ Gefällt Dir der Spruch?«

»Der Spruch ist gut, der ihn erfunden hat, aber gefährlich.«

»Das will ich meinen,« lachte Friedrich, »denn vor einer halben Stunde gab's ein lustiges Lachen da drin. Als ich noch Junggeselle war, hörte ich den Ton gern. All' meine lustigen Lieder gingen aus diesem Tone. Es war der Jungfernton [217] – jetzt aber spiel' ich Alles aus dem Strohwittwertone, und der ist recht lappig und ohne alle Sprung- und Schwungkraft. Es ist ein gewallachter Ton.«

»Friedrich,« rief ich dem blöden Geiger laut und erschrocken zu, indem ich ihn, der noch immer ruhig vor der Thüre saß, heftiger schüttelte, »Friedrich, wer ist im Hause?«

»Mein Himmel, wer denn sonst, als Täubchen und Täubrich.«

»Hast Du Casimir gesehen?«

»So lustbetrunken, wie noch nie.«

Die Häuser wankten vor meinen Augen. Mit mächtiger Faust zerrte ich Friedrichen von der Thür hinweg und wollte sie öffnen. Sie war verschlossen. Voll Angst und Wuth schlug ich erfolglos mit beiden Fäusten dagegen; Friedrich stimmte, vergnüglich lachend, seine Geige. Ich bat ihn, er solle mir helfen die Thür einschlagen. »Das bedarf's nicht,« erwiederte er, »Fromme sind unangreifliche Naturen. Aber warte nur, meine Geige soll die Mauern Jericho's schon umstülpen, wie eine Schlafmütze.«

In diesem Augenblicke erschien Mardochai. Kalt und ruhig fragte er, weshalb ich einen solchen Lärm an seiner Thür mache? Ich bat ihn, schleunigst zu öffnen, ein Blick auf meine Mienen, in denen Angst und Erwartung des Entsetzens [218] mit scharfen Krallen, wie Nachtvögel an die Gitter eines erleuchteten Fensters, sich festgeklammert hatten, bewog ihn meiner Bitte zu willfahren.

»Aber, lieber Sigismund, was fällt Ihnen denn ein?«

»Die Rache,« schrie ich, »die Rache, Mardochai, nimmt Rache an der Rache!«

Diese jedem Andern unverständliche Redeweise galvanisirte die Hand des Juden. Klirrend flog der Schlüssel in's Schloß, die Thür auf Wir traten in die dunklen, von Wohlgerüchen durchdufteten Gänge. Friedrich folgte, bald laut auflachend, bald ein paar Accorde mit grellen Bogenzügen der Violine entlockend. Es war das Schluchzen der Erwartung, das aufröchelte in bitterer Angst, während das Auge gebrochen zurücksank in seine Höhle.

Ich rüttelte an der Thür des Zimmers und fand auch dieses verschlossen. »Seltsam,« sagte Mardochai, mit bebender Stimme, »was bedeutet dies?« Ohne Antwort zu geben, rief ich laut: Sara, Sara! – Mir war es, als vernähme ich ein leises Seufzen, erdrückt von einem dumpfen Hohnlachen.

»Ja immer ruft,« sagte Friedrich, »das wird aber nicht gleich Antwort geben.«

Wir traten in's Zimmer. Eine einzige trüb [219] brennende Lampe beleuchtete mit unstätem Flackern die Gegenstände. Es war Alles still, wie in einer Todtenhalle. Der laute Ruf: »Sara,« bebte zu gleicher Zeit von meinen und Mardochai's Lippen. Hinter dem Vorhange, der die Nische verhüllte, schien sich etwas zu regen, Mardochai zündete schnell ein paar Kerzen an, ich riß den Vorhang aus einander und blieb erschrocken regungslos stehen.

Auf derselben Ottomane, die vor wenig Monden Sara zum reizenden Ruhekissen diente, um in die Zauber ihres Spiels die hinreißende Anmuth ihrer unschuldigen Grazie zu flechten, ruhte das schöne Mädchen, aber bleich. Ihr Auge war, obgleich es offen stand, gebrochen. Um ihren Hals hing fest die silberglänzende Thalis geschlungen. – Es konnte Niemand in Zweifel bleiben über das, was sich hier zugetragen hatte. – Mich lähmte Zorn und Entsetzen, Mardochai stand mit gekreuzten Armen regungslos, ohne zu wanken, keine Wimper zuckend. Er löste seinen weißen Talar, der an der Wand hing, und sanft, wie der Schleier der Versöhnung, sank er herab auf sein lebloses Kind.

Da erst regte es sich im dunklen Hintergrunde unter der maskirten Büste, die mir jüngst Mardochai bei so ergreifenden Gesprächen gezeigt hatte, und Casimir's verwüstetes Gesicht ward erkennbar. [220] Mit zweideutigem Lächeln erhob er sich langsam, kniete auf den Divan neben die Jüdin, und sprach, seine Hand ausstreckend gegen den Juden:

»Mardochai, wir sind fertig mit einander. Als Du vor zehn Jahren mich veranlaßtest, das Tabernakel zu plündern, that ich's, weil's mir gefiel, als ein raffinirter Witz, seitdem ich aber von Dir selber hörte, daß Du den ganzen Spectakel angestiftet habest, um Deinen Zorn abzukühlen, da stieg mir die poetische Raserei meines Herzens in's Gehirn. Ich dachte nach, wie eben ein Mensch, wie ich zu denken vermag, den allerhand satanische Spitzfindigkeiten in die Livree eines lüderlichen Commödianten gekleidet haben, und fand, daß es doch sehr burschikos sei, ließe sich ein gewitzigter Christ von einem Juden ungestraft die Ohren reiben. Ich hab's nicht vertragen, wie Du siehst.«

Trotzig riß der furchtbare Rächer der vor Jahren verübten Gotteslästerung die Thalis von der Jüdin. »Sieh,« rief er und entfaltete sie vor Mardochai's Augen, »jetzt bin ich fertig, ich weiß, wofür ich lebte, denn ich habe einen sehr klugen Juden doch noch überlistet. Morgen schick' ich einen Eilboten in den Himmel. Sein Ordner soll ein Langohr in der Welten Tagebuch brechen, damit der Tag dieser Wiedervergeltung nicht vergessen werde in seinem Reiche!«

Mit diesen Worten schwang er hoch die schimmernde [221] Thalis, um sie Mardochai in's Gesicht zu schleudern. Zufall oder Gottes ewige Gerechtigkeit ließen es aber geschehen, daß sie sich im Schwunge um die Büste schlang, die über der Ottomane stand. Die Gewalt des Schwunges riß diese herab und donnernd stürzte der marmorne Block nieder auf den Unglücklichen. Die Maske aber löste sich ab, und die Hülle, auf welche mit Meisterhand die Züge des Erlösers gemalt waren, fiel leis, wie ein versöhnender Kuß, auf den Busen Sara's, während die marmor'ne Statue – Mardochai's eigenes Bild darstellend – Casimir's Brust zerschmetterte.

Lautlos brach der Dichter zusammen, die Thalis zitterte, eine schillernde Schlange, um Hand und Haupt des Unglücklichen. Da erhob sich Mardochai, dessen feste Ruhe ihn keinen Augenblick verlassen hatte. Ich lag über Sara's bleichen Busen gebeugt und suchte mit dem heißesten Schmerzenskusse das Leben wieder in die weißblauen Lippen des schuldlosen Opfers zu hauchen.

»Casimir,« sprach Mardochai, »wenn Du sterben willst, laß mich's wissen. Ich will Dir einen Priester schicken.« »Gleichmuth,« schrie er im Ton tiefster Seelenpein und wildester Verzweiflung, »Gleichmuth mag Deine Beichte hören. Doch ich tröste mich, setzte er ruhiger hinzu, [222] war's doch mein Ebenbild, das ihn zerschmetterte.«

»O, ich sterbe noch nicht,« stotterte Casimir röchelnd. »Den Triumph sollst Du nicht haben. Hat mein Witz Dich gepritscht, soll mein Tod auch die Meßglock lauten zu Deiner Sterbestunde. Beim Fluch meiner civilisirten Sünden, zerzaust sollst Du werden, wie ein Frosch!« –

Die Kräfte des Sterbenden wichen. Ich wälzte die schwere Büste vollends ab von seiner Brust. Sie war tief eingedrückt, Blut quoll aus seinem Munde. »Gott – in der – Hölle,« murmelte er zwischen den Zähnen, »will sehen – wie weit – ich – richtig – porträtirt – habe. – – Gott – Gott!« – – Sein Haupt sank zurück, ein krampfhafter Frost schüttelte alle Nerven, wie ein Windstoß die Wipfel der Bäume, die hohe Stirn berührte mit kaltem Finger der Tod – Casimir verschied. – Wenige Minuten vorher hatte sich Friedrich auf den Tisch des Zimmers gesetzt; er fing an mit den Füßen zu baumeln und spielte unter lustigem Lachen die Melodie: »O du lieber Augustin« etc. Mardochai erschrack. »Auf dem Kreuzberge,« sagte er dumpf vor sich hin, »ward das Ding auch getanzt. – Gott ist doch mächtiger als ein Mensch!«

Ich hatte unterdeß die Maske von Sara's lebloser Gestalt gehoben. Mardochai verbarg sie [223] sorgfältig und versuchte seine Tochter durch stärkende Essenzen zu beleben. Allein um ihr Auge floß nicht mehr der Thau des neuen Lebenstages, sie war verschieden.

»Was gibt es?« fragte Mardochai, ein Geräusch beachtend, das sich im Zimmer erhob. Ich wandte mich mit flüchtigem Blick um; – zur Thür herein trat ein Zug von Knaben, Körbchen um die Schultern tragend, jeder einen Beutel in der Hand. Ich hatte genug gesehen. Es waren die betriebsamen Handelsleute am Dome. Sie wollten Rechenschaft ablegen und dem großen Rächer, der Gott in sein Amt zu greifen gedachte, den Gewinn einhändigen. Mardochai winkte den Buben, sich zu entfernen. Zum ersten Male trat eine Thräne – ich glaube, der Neue – in sein Auge, er zerriß sein Kleid und verhüllte schluchzend an dem zerbrochenen Körper der geliebten Tochter niederstürzend, sein Angesicht. So kniet die Schuld an dem Opfer, das ihrer eigenen Sühne fällt! –

So furchtbar, Raimund, endigte dieser Tag. Wie ein Taumelnder schlich ich zurück nach Bardeloh's Wohnung. Hell glänzte, als die erhabene Stirn der Welt, durch deren majestätische Wölbung die Sternbilder als des Gedankens unauslöschliche Flammen leuchteten, der Himmel über mir. Aber ich hatte kein Auge für diese stille Pracht des schaffenden Gottes, für das Schwanken [224] und Schwärmen, Funkeln und Sprühen dieser Ideen einer weltumfassenden Zukunft. Mein Herz war gebrochen vom Gewicht des Augenblicks. –

Der Amerikaner unterhielt sich noch lebhaft mit Rosalie. Auch Bardeloh that sich Gewalt an und sprach theilnehmender, als sonst. Mein Eintritt, noch mehr mein Aussehen, brachte eine große Störung hervor. Von hundert Fragen bestürmt rief ich meinen Gastfreund und Burton in Richard's Warte und theilte ihnen mit wenigen Worten das Vorgefallene mit. Der Amerikaner wich entsetzt zurück, Bardeloh sagte blos: »Schade! Warum konnte der Mensch nicht noch zwei Tage länger leben? Und Mardochai?« setzte er fragend hinzu. Ich erzählte das Nothwendigste.

»Nun, wenn Er nur lebt,« erwiederte, von Neuem auflebend der mir Unbegreifliche. »Dann ist ja nichts verloren! Daß Casimir untergehen würde auf irgend solch eine Weise, habe ich mir längst gedacht. – Lebt Sara noch, meine Nichte?«

Eine bestimmte Antwort hierauf konnte ich nicht geben. »Armes Kind, ärmer noch als deine Mutter!« fuhr Richard fort, für sich sprechend. »So strebt doch Alles zu einer gerechten Versöhnung hin, selbst durch Frevel und Verbrechen. Diese Welt ist ein wunderlicher Guckkasten! – Ich gebe meine Schwester dem Juden, weil sie ihn liebte, Mardochai gebraucht sie, wie ein Möbel, [225] die Lust der Rache schon in sich tragend, und das Kind dieser liebenden Rache muß wieder der Rache zum Opfer gebracht werden! Das ist seltsam, sehr seltsam! – Man könnte zweifelhaft werden. – Doch nein! Nein! Nein! rief er laut aus, und die Stimme sogleich wieder abdämpfend zu leisem Gemurmel, setzte er hinzu: ›Es liegt ja Alles blos an unsern verdorbenen Zuständen. Darum vorwärts! Ohne Zaudern, sicher, fest, dem Ziele entgegen! Dieser Granitblock bedarf furchtbarer Hebel, wenn er in Schwung gerathen soll.‹ –

Bald darauf wünschte uns Bardeloh eine gute Nacht, ich begleitete Burton noch eine Strecke, der mich ermahnte, Alles zur Abreise bereit zu halten.

Als ich zurückkam, hörte ich den Mönch wieder einmal singen, doch nicht brünstig, eher mit großem Wohlbehagen. –«

18. An Raimund
[226] 18.
An Raimund.

Köln, den 6. Februar.


Heut Morgen sah ich Casimirs hinterlassene Papiere durch, die ich unordentlich durch einander geworfen auf seinem Zimmer fand. Das Meiste ist bedeutungslos, wenigstens für die Welt, ein so wichtiger Beitrag es auch sein würde zur geheimen Geschichte der menschlichen Seele. Nur zwei Papiere haben Werth für mich; in dem einen findet sich das fertige Manuscript seiner Tragödie mit umgekehrten Lettern»Besuch Gottes in der Hölle.« Das andere enthielt einen Brief an mich, den Casimir in einer Ahnung seines baldigen Todes geschrieben haben muß. Aus ihm erklärt sich genau die entsetzliche Katastrophe. Eingeweiht in den Lebensabriß, der nun bald hinter mir liegt, theile ich Dir dieses letzte Testament des unglücklichsten und doch auch begabtesten Sohnes unseres an Widersprüchen überreichen Zeitalters unverkürzt mit.


[227] Casimir an Sigismund.


»Du hast mir geantwortet, wie ich es wünschte, und ich bewundere dabei nur Deine capriciöse Ehrlichkeit. ›Ein Hundstoller,‹ hast Du mir gesagt, ›tobt, beißt und zerreißt, was ihm vor die Zähne kommt.‹ Brav gesprochen! Du sollst Dich an meinem Gebiß ergötzen. Sollten mir zufällig dabei die giftigen Hauer ausfallen, oder fromme Zuckungen der nervenschwachen Erde einen kleinen Spectakel im Weltall improvisiren, so nimm's nicht übel, daß ich den frechen Gedanken einen frechen Ausdruck gebe auf dem gewalkten Leichentuche, dessen grauester Zipfel den weisesten Kopftheil Europa's bedeckt.

Ich habe Deine Unterredung mit Mardochai, meinem früheren Bundes-, Studien- und Sündengenossen angehört, nicht aus Neugier – denn ich erliege dieser Schwäche nicht, weil ich allmächtig genug bin, um ihr zu trotzen – sondern durch Zufall. Ich ward höflich, gesittet, wie Du's nennst, und fand dabei, was sich aus jeder Zurückhaltung und Rücksichtnahme ergibt, die Pöbelhaftigkeit der Gesinnung. Mein Ohr hörte, daß Mardochai aus Liebe zu seinem Stamme recht pfiffig gehandelt habe mit dem Symbolischen in unserm Bekenntnisse. Ich strich mir eine anziehende Ohrfeige, aus Verdruß über meine Dummheit. [228] Ich war ein gehörnter Siegfried, aus jenem Affentanz vor der Kapelle die vermaledeite Gesinnung des Juden nicht herauszuschmecken. Das verdroß mich als Mensch, als Christ und als Poet. Rache muß sein, heißt mein Wahlspruch, und je raffinirter desto süßer. Der Jude hat uns wahrlich keine Limonade eingeschenkt, warum sollte man ihm eingemachte Apfelsinen bieten? Nein! Fluch wider Fluch! Gift wider Gift! So lieb ich's, als ein deutscher Sappermenter. Darum will ich den Juden seinen Witz beschneiden.

Sara ist ein frisches Kind. Sie hat süßes Fleisch. Die Juden halten sammt und sonders große Stücke auf ihre Nachkommenschaft. Sie bewachen und pflegen das Fleisch ihrer Töchter eben so sorgsam, als sie das von einem andern Geschöpfe verachten. Da hab' ich nun einen erbaulichen oder vielmehr einen zuschnürenden Plan vor. Das Ding konnte sich nur gestalten im Kopfe Casimir's des Dichters der barocken titanenhaften Tragödien. Räthst Du's? – Nein, Kerl, das räthst Du nicht, sonst wärst Du ja gleich mir, und ich geriethe in einen Streit, ich weiß nicht, mit wem.

Sara soll mir zur Grundlage einer lustigen Tragödie dienen. Ich weiß, das wird den Juden packen und zausen, wie weiland der hilfreiche Ast Absalom's Zopf. Sara ist mir zuweilen gut. [229] Das benutze ich, obwol ich nicht als parfümirter Liebhaber, sondern als bissige Hyäne ihr meine Liebesanträge machen will. Ich werde umwunden mit dem wunderlichen Läppchen, das alle Juden in der Synagoge tragen, vor ihr erscheinen, und sie damit so fest umschlingen, daß ihr die Verbindung beschwerlich wird.

Nun, wie gefällt Dir das, Du amerikanischer Zettelträger? s' Ist 'n Bischen schweflig ausgedacht, mit spanischem Pfeffer und Lauch gewürzt; aber so taugt's. Die Juden lieben ja das Narkotische. Weiß Gott, ich bin eben kein sehr frommer Hans, aber die Juden laß ich mir nicht über mein Glaubenszeug kommen. Mardochai hat's gethan, dafür soll er schnattern, daß ihm die Weichen klappern, wie Windmühlenflügel. Mein Bekenntniß muß gerächt werden und wär's durch die ausgesuchteste Sünde! Ich bin der Kerl dazu! Mir ist's ganz gleich, wodurch ich zum Ziel gelange. Nur kleine Seelen erschrecken vor dem Furchtbaren, die großen Geister zünden sich an den glühenden Nüstern der Hölle ihre Cigarren an. Also prosit Jude!

Im Fall der Engel Raphael mich unter die Cherubim versetzen sollte, nimm dies als meinen letzten Gruß. Ich habe Dich immer geliebt, weil Du so helle Taubenaugen hast. Diese sind meine Passion.

[230] Auf Himmel- oder Höllenwiedersehen, je nachdem! – Da ich kein Siegellack besitze, klebe ich das Ding mit Speichel.


Dein starker Casimir.«


Die Glossen zu diesem Schreiben kannst Du Dir selbst machen. In ihm enthüllt sich, was mir verborgen war in den furchtbaren Augenblicken, wo ich das Traurige erlebte. Man könnte rechten mit der Weltgeschichte und ihrem ordnenden Geiste, läge nicht grade in dem Zusammentreffen so ungeheurer Verbrechen die ewige Sühne! Dies muß auch Mardochai gefühlt haben, denn ein Brief, den er mir vor kurzem schrieb und den ich Bardeloh mittheilen soll, läßt mich erkennen, daß noch weit größere Frevel, als die bisher verübten, im Werke waren. Du wirst sagen, es sei unmöglich, allein verworrenen, unnatürlichen Zuständen ist nichts unmöglich. Das gährende Chaos kann in jeder Stunde mit der hohen Besonnenheit des Schöpfers in die Schranken treten. Diese Extreme berühren sich, wie alle andern, und unsterblich und unbesiegbar sind Gott und der Tod, – ewiges Schaffen und ewiges Zerstören! Was sich ereignen sollte, erzählt unumwunden genug Mardochai's Schreiben, in dem der alte klare Geist, umwunden mit dem Dornenkranz des Völkerschmerzes, wie früher spricht, [231] schafft, Entsetzen erregt und zur Bewunderung hinreißt. Nochmals muß ich es laut bekennen, ich liebe diesen seltenen Menschen, weil mein tiefstes Gemüth sich danach sehnt, ihn hassen zu können. So ärgert sich der gewaltige Geist über die göttliche Kraft und droht mit seiner kleinen Faust und dem Geifer seines Mundes hinauf zum ruhigen Himmel, weil er die Lust fühlt, Gott sein zu wollen und doch die Schwäche ahnt, die ihn an der Verwirklichung des unerlaubten, aber doch natürlichen Gedankens verhindert.

Auch diesen Brief theile ich Dir mit, vielleicht spricht er eben so gewaltig zu Deinem Herzen, wie er mich bewegt hat in Schmerz und zürnendem Grimme.


Mardochai an Sigismund.


»Der Stolz meines Volkes liegt gebrochen vor meinem Auge und der Gott Israels trauert, weil heimgegangen ist der letzte Sproß aus dem Stamme Davids!

Ich klage nicht, denn ein Mann kann sich fassen, wenn auch über ihn der Himmel seine Flammen donnernd zusammenschlägt und unter ihm die Erde sich bewegt, wie ein Blachfeld rollender Schädel. Noch sehe ich ja leuchten in ihren Augenhöhlen die Pracht des jungen Morgenlandes, als leuchtende Opale wandeln mit flimmerndem [232] Fuß die Zaubermährchen meines Mutterlandes um die bleichen Stirnen, und das Morgenland lebt immer, wie auch das Abendland aufschießen möge in Blüthe und Frucht. –

Mein Leben war der Versöhnung gewidmet, der Versöhnung, die achtzehnhundert Jahre vergeblich zu stiften suchten zwischen Juden und Christen. Ich hielt mich berufen, als ein Messias aufzutreten unter meinem Volke, ich bat, ich flehte, ich dachte für sein Heil. Meine Träume klangen wie das Rasseln verrosteter Ketten – ich suchte sie zu lösen, aber in meinem Wachen sah ich blank geschliffene Panzer um den Leib Israels schlagen, nicht um ihn zu rüsten, sondern zu erdrücken. Was ich darauf that, Sie wissen es. Als ich Ihrer ansichtig wurde, stieg die Furcht auf aus dem Boden und ringelte, eine bleiche Schlange, sich um mein Haupt. Ich haßte Sie, weil ich Sie fürchtete; aber ich gestand es mir selbst nicht. Ihr Umgang mit Bardeloh, noch mehr mit Gleichmuth, ließen mich eben sowol Hoffnungen fassen, als Zweifel in mir entstehen. Die Kälte und schneidende Schroffheit des Erstern konnte Sie abschrecken, die ausgebrannte Ruhe des Letzteren anziehen. Ich hatte mich nicht geirrt, aber auch nicht geglaubt, daß Gleichmuth seine Geschichte Ihnen mittheilen würde. Sobald ich dies erfuhr, reute mich, dem Pastor [233] den tiefer liegenden Zweck meines Wirkens nicht entdeckt zu haben. Bardeloh's wachsender Ekel an europäischer Civilisation bewogen mich, mit ihm zu complotiren und einen letzten, verzweifelten Versuch zu einer gewaltsamen Aufregung eines im Ganzen schnell erregbaren Volkes zu machen.

Ich weiß, dem Deutschen ergreift nichts mehr, berührt nichts tiefer das Gemüth, als ein Angriff auf religiöse Institutionen. Dies faßte ich auf mit Bardeloh, und wir beschlossen, in einem Maskenzuge das Thörichte und völlig Todte der Äußerlichkeiten im Cultus so ergreifend zu verspotten, daß ein Aufstand unmöglich unterbleiben konnte. Hätte nun dieser begonnen, dann wollte Bardeloh mit der überzeugenden Macht seiner Rede auftreten und dem erhitzten Volke vorhalten, was nothwendig sei, wolle es sich retten aus einem langsam hereinbrechenden Tode. Damit hofften wir etwas Großes zu bewirken, ein europäisches Aufsehen zu erregen, und den Grundstein zu legen zu einer neuen aber gewaltigeren Reformation. Ich wollte aus Pikanterie und – gesteh' ich's offen – vielleicht auch aus einem weniger edlen Antriebe die bedeutendste Rolle dabei übernehmen. Gedenken Sie der Maske hinter dem Vorhange, gedenken Sie aber auch des Strafgerichtes, das unter ihrem blinden Auge sich dort ereignete! –

[234] In Casimir's That erschien der Racheengel des Himmels früher als ich sein erschütterndes Amt übernehmen konnte. Diese That mit ihren unmittelbaren Folgen hat meine Welt der Zukunft mit hohen Lavaschichten bedeckt. Ich habe eingesehen, daß ein Mensch sehr groß sein kann, es aber nie wagen darf, dem Gange der Weltgeschichte voraneilen zu wollen. In ihrer Hand allein ruhen die Lebensstunden der Völker. Die Thränen dieser sind ihr Rosenkranz, der glänzend an ihrem Halse zittert, und es erfolgt kein Frieden, bis die Zahl dieser Thränen nicht vollzählig geworden ist! Aber wir unruhigen Söhne der Zeit, die wir geboren wurden im Nervenfeuer der Begeisterung, wir können nicht ruhen und rasten, wir wollen stürmen und schlichten, zertrümmern und bauen, und müßten wir auch die Sterne uns dazu vom Himmel herabreißen.

Ein großer Irrthum ist jedoch schöner und erhabener, als eine gewöhnliche Wahrheit. Am Irrthum wird die Welt groß, von ihm wird sie reich. Der Irrthum ist die Weltpoesie! – Darum reut mich mein Wollen und Streben, ob es auch oft sündig war, nicht; denn es war nothwendig, weil es vollbracht wurde im Auftrage der Weltgeschichte! – Doch jetzt trete ich ab vom Schauplatze. Nach dem Gericht in meinem Hause, in dessen blutigem Ausgange Christus und Moses [235] sich versöhnten, bin auch ich versöhnt worden, nicht mit der flachen Masse, sondern mit dem Geschicke. Ich fühl' es, daß für mich die Zeit der That vorüber ist. Die Frucht meines unstätten Lebens ist nicht unbedeutend – mein Volk wird dies dereinst fühlen und mich segnen dafür. Aber Europa kann mich nicht trösten, nicht retten, nicht versöhnen. Ich will es verlassen, damit ich nicht noch einmal genöthigt bin, mit orientalischer Phantasie die Gluth meiner Rache zu vereinigen und abermal zu höhnen, was doch nur Bewunderung verdient!

Sie gehen nach Amerika, habe ich gehört. Thun Sie es, Amerika ist nicht ein Land für jedermann, wol aber für die Meisten. Die Freiheit kann auch Sie frei machen, die dortige industrielle Macht Ihnen geben, was grade dem Europäer fehlt – die Frische der Speculation, die Verständigkeit eines geregelten Naturlebens, die gesunde Prosa des Herzens. Verschmelzen Sie diese drei Gaben des fernen Westens mit den beglückenden Träumen, dem Ueberreiz Ihrer hoch gesteigerten Cultur und der unergründlichen Poesie des deutschen Gemüthes; so kann jenes höchste Erdenglück nicht ausbleiben, das ein phantasiereicher Mensch mit dem Worte Eden am besten bezeichnet. –

[236] Mein Eden, lieber Sigismund, öffnet seine Pforten nicht in Amerika. Ich kenne jenes Land, denn ich war schon einmal dort. Es ist eben so wenig ein Land für den Juden, als Europa. Aber die Wiege der Freiheit aller andern Völker wird es sein und bleiben, wenigstens für die nächste Zukunft – nur der irrende Sohn aus dem Stamme Juda ist von jenem Glück des freien Daseins ausgeschlossen. –

Ich gehe zurück nach dem Orient, nach Syrien, nach Jerusalem!

Theilen Sie diese Zeilen Ihrem Freunde Bardeloh mit. Der Maskenzug muß unterbleiben, wenigstens kann der angeordnete nicht Statt finden. Ich mag und kann nach dem Geschehenen keinen Theil daran nehmen. Die Kraft zu verschwenden an der lächelnden oder gähnenden Ohnmacht ist Thorheit. Hüten wir uns also vor den Folgen dieser Thorheit.

In wenig Tagen verlasse ich Deutschland und Europa. Nur meine Tochter will ich noch bestatten, d.h. ich werde sie durch Specereien der Verwesung entreißen. Sie soll im Boden ihrer Väter ruhen. Ehe ich scheide, sehe ich Sie noch.


Mardochai


[237] Nach diesem Geständnisse schweige ich, weil Niemand berechtigt ist, zu sprechen, wo der Geist Gottes selbst so sichtbar die fertigen Netze der Menschen zerreißt. Darum also häufte Bardeloh Masken und Larven in seiner Wohnung auf und wühlte sich allnächtlich ein in die blutigen Träume seiner wirren Gedanken? Nun fasse ich auch seine Wuth bei meinem unvermutheten Eintritte in sein Kabinet, seinen Apparat von Dolchen und andern Waffen, seinen ganzen Kirchhofs- und Beinhauspomp! Gottlob, daß der ungeheure Plan in sich selbst zerfiel, obwol ich glauben möchte, ein solcher Stoß würde nicht erfolglos unser wankendes Leben berührt haben.


Fastnacht, in der Dämmerung.


So eben ist Casimir's Leichnam in Bardeloh's Wohnung geschafft worden. Mir bangt vor dem Tage; der Pöbel ist unruhig; die Freuden der Fastnacht tragen noch mehr dazu bei und ich muß bekennen, daß ich nicht ohne bange Besorgniß dem Abende entgegensehe.

Bardeloh hat Mardochai's Brief gelesen. Ich war zugegen, es malte sich ein furchtbarer Kampf auf Richard's Mienen. Lange Zeit sprach er kein Wort, er maß mit großen Schritten das Zimmer, [238] sann, runzelte die Stirn, sprach dumpf vor sich hin und ließ zuweilen den niederschmetternden Hohn um seine feinen Lippen spielen, der diesem Mann das Aussehen eines idealen Dämon gibt.

»Haben Sie den Brief aufmerksam gelesen?« fragte er mich endlich. – Ich bejahte.

»Nun was meinen Sie denn zu unserm Plane, denn nun Mardochai seine Humanität so weit getrieben hat, steht es mir wol auch frei, Ihre Ansicht darüber zu hören.«

In wenig Worten sprach ich mich frei darüber aus und verhehlte gar nicht meinen Widerwillen gegen so verzweifelte Mittel.

»Sie haben die Gespräche vergessen,« erwiederte Bardeloh, »die wir bei unserm ersten Begegnen auf dem Dampfboote führten. Wissen Sie nicht, daß ich damals sagte, ein halbjähriges Zwingen der europäischen Menschheit zum Tode oder zum Handeln sei die alleinige Rettung für sie?«

»Dies Alles weiß ich recht wohl,« versetzte ich, »doch bin ich auch noch heut der Meinung, daß ein solches Handeln wol vorübergehend eine That erzwingen, ihr aber nie jene heiligende Flamme einhauchen würde, ohne welche jede Unternehmung [239] nur ein Schritt weiter zum Untergang ist.«

»Und deshalb wollen Sie nach Amerika gehen?« warf Bardeloh ein.

»Aus Lebensmuth, nicht aus Todesfeigheit.«

»Nun ja, der Eine nennt es so, der Andere so! – Wann gedenken Sie Europa zu verlassen?«

»Sehr bald; nur Mardochai's Abreise und Casimir's Bestattung will ich noch abwarten. – Begleiten Sie mich, nicht mir zu Gefallen, Ihrem Weibe, Ihrem Sohne zu Liebe!«

»Hm. Vielleicht!« Bardeloh machte wieder ein paar Gänge durch's Zimmer, und ließ die Tapetenthür aufspringen. »Wie gefällt Ihnen jetzt mein Studirzimmer?«

In der Nische standen die Todtenköpfe wie immer, auf dem obersten lag eine vielfach versiegelte Rolle. Ich schwieg und beobachtete scharf Richard's Mienenspiel.

»Mit diesen Boten des Hasses,« fuhr Bardeloh fort, auf die Rolle deutend »glaube ich heut mein Testament verkündigen zu können. Der Zufall hat es anders beschlossen. Sei's darum!«

Ruhig ließ er die Tapetenthür wieder in's Schloß fallen. Ein abermaliger Gang durch's Zimmer gab sei nen Gedanken eine andere Richtung. [240] »Sigismund,« sagte er und ergriff mit herzlichem Druck meine Hand, »da dieser Gedanke zur Bekehrung der Welt, an den ich doch mein ganzes Leben hingegeben habe, auf eine so verrückte Art und Weise vernichtet worden ist, so bitte ich Sie, thun Sie mir einen Gefallen. Wollen Sie?«

»Von Herzen gern.«

»Genug; nur keine langen Betheuerungen! Uebermorgen wollen wir Casimir's Leiche bestatten. Ich traure um ihn so gut, wie um meine Nichte, Mardochai's Tochter. Ich könnte Ihnen noch mehr darüber sagen, aber wozu? Es kann uns Beiden nicht weiter helfen. Aus dem Maskenzuge wird nichts, das ist so gut als entschieden. Die Bevölkerung aber verlangt einen Scherz. Sie mag ihn haben. Ich mache einen Anschlag am Gürzenich und lade, so viel deren Raum haben, auf heut Abend zu einem Souper in mein Haus. Es mag dieses Gastgebot zugleich Ihre, meine, unser aller Abschiedsmahl, das Abendmahl der Zeit sein, wenn Sie wollen. Aber ich bedinge mir aus, daß Jedermann schwarz gekleidet erscheine! Wir feiern auch ein Todtenfest. Gehen Sie zu Mardochai?«

Ich verneinte es.

»Es ist auch besser,« fuhr Mardochai fort, [241] »ich werde ihm ein paar Zeilen schreiben und ihn ebenfalls nochmals zu mir einladen. Casimir's Leiche soll im Hausflur auf den Katafalk gestellt werden. Die Besorgung dieser Angelegenheit übertrage ich Ihnen, wie die Anordnung des etwaigen Schmuckes, wie er diesem sonderbaren Geiste ziemen mag. Sprechen Sie meiner Frau Trost zu, ich gehe ganz sicher aus Europa, auch Felix! Rosalie wird dann nicht zurückbleiben. – Um Mardochai's Brief bitte ich noch einige Zeit.« –

Mit einer Art religiöser Freudigkeit verließ ich Bardeloh. Ich würdigte im Stillen Casimir's That und Tod, und eilte auf Rosaliens Zimmer, um ihr sogleich den tröstlichen Entschluß ihres Gatten mitzutheilen. Ruhig hörte mich das duldende, schöne Weib an und schien einiges Mistrauen in meine Worte zu setzen. Auch meine wiederholten Betheuerungen nahm sie ganz in gleicher Weise auf.

»Sie meinen es gut und ehrlich,« erwiederte sie, »darum kränkt Sie mein Zweifel. Allein nicht in Ihr Wort, nur in Richard's Willen setze ich Argwohn. Thun Sie indeß, was Sie für Recht halten, auch ich will durch Zaudern der Möglichkeit einer glücklichen Vollendung des gefaßten Entschlusses nicht vorbeugen. Schicken [242] Sie mir Felix, das arme Kind wird sehr glücklich sein.«

Diese Muthlosigkeit des Gemüthes lähmte meine Kräfte. Wenn Frauen aufhören zu hoffen, dann müssen sie das Zittern des Bodens, das dem Erdbeben vorangeht, unter ihren Füßen bereits fühlen.

19. An Ferdinand und Raimund
[243] 19.
An Ferdinand und Raimund.

Einige Tage später, am Bord der amerikanischen

Brigg: die Hoffnung.


Ein grauer Nebel schwimmt auf dem Meere, die Luft ist still, eintönig schlagen die Wogen gegen den Kiel des Schiffes. So habe ich Zeit, ein letztes Wort Euch zuzurufen, wie ich versprach. Ich thue es, obwol noch immer schmerzlich bewegt, doch mit weit leichterem Herzen, denn eine Versöhnung hat das ausgleichende Schicksal eintreten lassen, wie ich sie nimmer geahnt hätte. Glaubt aber nicht, es bestehe dieselbe in einer glücklichen Ruhe! Die Ruhe wird erst jetzt langsam aus dem Toben der Leidenschaften sich erheben. Ich will mir nicht vorgreifen, um Euch und mich selbst zu schonen, und, wie ich es bisher gethan habe, als möglichst unparteiischer Berichterstatter den Ereignissen einen Weg zu Euren Herzen bahnen.

Mein letztes Schreiben erzählte Euch die unerwartet eingetretene Katastrophe, der Casimir und und Sara erlagen. Ich fürchtete sogleich irgend [244] eine Gewaltsamkeit, da Mardochai's briefliche Mittheilung an mich den Machinationen ein Ziel setzte, die eben sowol seinen als Bardeloh's Geist bewegt hatten. Es war der Klugheit gemäß, irgend etwas geschehen zu lassen, und Richard ergriff auch sogleich geeignete Maßregeln. Sein Plan war durch des Juden Weigerung, daran Theil zu nehmen, völlig zerstört, und wenn mich darüber Freude bewegte, so werdet Ihr mir nicht zürnen können. Der starre, nur dem Wink der Consequenz und seinem ungeheuren Zwecke lebende Jude hatte freiwillig sich jedes ferneren Eingreifens in das Richteramt der Geschichte begeben. Diese Demuth des Stolzes ward mir werthvoll, und konnte ich früher einen argen Abscheu selbst gegen die Person Mardochai's nicht völlig besiegen; so sprach jetzt unverhohlen die Milde menschlichen Erbarmens, christlicher Liebe für den reuigen, wenn auch großen Frevler. Ich hielt mit einiger Zuversicht fest an dem Glauben, auch Bardeloh werde in sich gehen, und jetzt, nach so vielen gewaltsamen Auftritten, die mehr oder minder theils als Producte ungestümen Strebens, theils als Ergebnisse trauriger Lebenswirrnisse betrachtet werden müssen, endlich zu der Einsicht kommen, daß dem Einzelnen auch bei der überwiegendsten geistigen Kraft doch nie ein volles Recht zustehe, zu richten, wenn die Gesammtheit ihre Einstimmung noch nicht dazu gebe.

[245] In dieser Hoffnung, die noch an Werth gewann durch verborgene Befürchtungen, sah ich ruhig den Vorbereitungen zu, die zum Empfang der Fastnachtsgäste getroffen wurden. Das Briefchen, welches mir der ehrliche Klapperbein am Abend der erschütternden That einhändigte, war von Auguste, die eine alte Sehnsucht der Kindheit zum Carneval zurück in ihre Vaterstadt trieb. Auch Oskar und Lucie meldeten ihre Ankunft und baten vorläufig um bereitwillige Aufnahme. Sie kamen frühzeitig am Tage der Volksbelustigung an, noch gänzlich unbekannt mit dem Vorgefallenen. Daß ein kalter Schrecken sich Aller bei der Benachrichtigung desselben bemächtigte, werdet Ihr natürlich finden. Lucie indeß, in ihrer raschen Beweglichkeit, wußte doch sehr bald den Eindruck wieder von sich abzuschütteln und betrachtete mit der ihrem Naturell eigenen Neugier die schwarzen Tapeten, womit Bardeloh die Hausflur ausschlagen ließ. Da es nun einmal hieß, es werde ein Fastnachtsmahl angeordnet, so hoffte Jeder auf Zerstreuung und ausgelassene Lustbarkeiten. Auguste blieb jedoch ängstlich. Eine bange Unruhe ließ sie fast krankhaft erscheinen, und ich ward besorgt für die schon mannigfach Aufgeregte. Rosalien's mütterliche Milde allein konnte sie beruhigen und glückliche Bilder dem schwarzen Maskengrauen unterschieben, das so bang und kalt durch[246] die glänzenden Räume des ganzen Palastes wankte.

Der Anschlag Bardeloh's war von sehr erfreulicher Wirkung. Ungeachtet die Klugheit es befahl, die Art und Weise von Casimir's Tode geheim zu halten, hatte doch die heimliche Verrätherei des Gerüchtes ungewisse, aufreizende Worte unter die Bevölkerung verstreut. Die Masse liebt es, dem Unverbürgten zuzufallen, schon weil ein dunkles Gefühl unzulänglicher Lebensbefriedigung sie gern die Gelegenheit ergreifen läßt, sich auf Augenblicke zu erobern, was sie für gewöhnlich und dauernd entbehren muß. So lief denn auch frühzeitig genug die Sage von einem Morde um, der in der Wohnung eines Juden verübt worden sein sollte, und als eine Unterbrechung oder wenigstens Abänderung in den Festlichkeiten angekündigt ward, reihte man Mögliches und Unmögliches rasch zusammen und construirte sich ein wundersames Bild, in denen die Hauptfarben genug des Grellen und Blutigen an sich trugen. Sobald indeß nur der Scherz auf den Straßen in alter Weise begann, vergaß man ungezwungen die Geheimnisse des häuslichen Unglückes und begnügte sich mit Späßen, wie der Augenblick sie erfand. Diese Improvisationen waren übrigens gar nicht zu verachten, und gaben von Neuem einen Beweis, wie die Natur immer die glücklichste Schöpferin [247] bleibt, wenn sie ungestört sich frei bewegen darf. Ohne eigentliche Anleitung bildete sich ein höchst ergötzlicher Maskenzug, der, wie gewöhnlich, zuletzt noch Besitz nahm vom Gürzenich. Nur kürzere Zeit währte der Scherz, der freilich zuweilen die Derbheit etwas in zu großer Ungenirtheit an den Nächsten verhandelte.

Ein eigenes Interesse nahmen die große Menge der Pietisten, an Bardeloh's Einladung. Mit sicherm Takt hatte mein Gastfreund die Eitelkeit unter der demüthigen Kopfbinde bei diesen Menschen herausgefühlt, und deshalb eine ganz specielle Aufforderung, sein Fest zu besuchen, an sie ergehen lassen. Daß er dabei schwarze Kleidung sich ausbedang, erhob ihn noch mehr in ihren Augen; denn sie vermeinten darin gewissermaßen den Widerschein der Reue zu erblicken, die bereits im Herzen des stolzen Mannes sowol über sein früheres Leben, als über den Schwank des gegenwärtigen Tages sich zu äußern beginne.

Der Abend war herangekommen und in besonnener Eile jedes Nöthige besorgt worden. Bardeloh ließ noch eine besondere Einladung an Mardochai ergehen, Theil zu nehmen an dem Feste. Er schrieb ihm ein kurzes Billet, das er mir zeigte, bevor er es abschickte. Die Worte lauteten: »Da Sie der Zufall genöthigt hat, zum ersten Male der Allgemeinheit nicht Wort zu halten, hoffe ich, [248] daß Sie mindestens den Freund, den Einzelnen, nicht versäumen werden. Das Fest der Sühne wird gestört, da Sie nicht Theil daran nehmen mögen. Halten Sie also vereint mit mir das Trauermahl und vergessen Sie nicht, durch den Ueberbringer dieser Zeilen mir die Maske zurückzu schicken, die Sie eigentlich heut zieren sollte!«

Mardochai sagte bereitwillig zu, indem er zugleich meldete, daß die Einbalsamirung seiner Tochter geschehen und überhaupt sein ganzes Hauswesen bestellt sei. In einem Packet überreichte der Diener meinem Gastfreunde die verlangte Maske. Ueber Bardeloh's Gesicht flog ein Zucken, das wie die Freude wilder Dämonen seine männlich schönen Züge nur auf Sekunden verunstaltete. Ich erschrack, ohne das Warum zu begreifen; ich hatte keine Ahnung von dem Inhalt des Packets.

Unterdeß war der Salon geordnet, die Divane mit schwarzem Stoff überzogen, statt der bunten Teppiche schwarzwollene aufgerollt worden. Bardeloh selbst, so wie alle Hausgenossen und Dienstboten hatten tiefschwarze Kleidung angelegt. Der Lärm am Heerde contrastirte grell genug mit diesen Todesschauern.

In der Hausflur war der Katafalk errichtet. Hohe Kandelaber standen um den Sarg, aus dessen schwarzer Tiefe das bleiche Gesicht des todten Casimir, ähnlich einer Wachsmaske, hervorsah. [249] Einen Lorbeerkranz im spärlichen Haar, eine Lyra in der Linken, verbarg die Rechte einen Dolch. Um den Sarg schritten ernste Wächter, um jeden Neugierigen in die Schranke der Sitte zurückzuweisen.

Die anberaumte Stunde erschien, und mit ihr die zahlreich geladene Gesellschaft, der sich anschließen konnte, wer Lust hatte, sobald er sich nur schwarz gekleidet zeigte. Schon die ersten Ankömmlinge stutzten beim Anblick des Katafalks mit Sarg und Leiche. Es erfolgte indeß, was ich erwartet hatte. Jeder hielt diese Anordnung für einen pikanten Scherz des Hausherrn und sah in dem wirklichen Leichname nur eine meisterhafte Maske. Da nur Wenigen Casimir persönlich bekannt war, ließ die Täuschung sich um so leichter bewerkstelligen, und zeigte auch dann und wann ein allzu Neugieriger Lust, den Sarg einer genaueren Besichtigung zu unterwerfen, so wiesen den Zudringlichen die Wächter noch zu rechter Zeit in die Schranken der Mäßigung zurück. Es unterblieb daher jede Störung, so arg der Zudrang war. Eine Menge müßigen Gesindels fand sich ebenfalls ein, über die Kleidung der Dürftigkeit den pomphaften Staat der Trauer geworfen, nicht selten verschossen oder gar Lumpen ähnlicher als Kleidern. Die kecke Zudringlichkeit dieser Menschenklasse wußte Bardeloh auf das glücklichste zu stillen. [250] Es fehlte weder an Speise, noch Trank, und die beliebten Spirituosen wurden reichlich, doch mit Vorsicht, umhergereicht. Das ganze Erdgeschoß war für die Belustigung der lauten Volksmenge vorgerichtet, und es währte auch nicht lange, so war der Scherz im vollen Gange und Niemand dachte sehr an das störend ernste Gerüst auf der Flur.

Bardeloh sah, in feinstes Schwarz gekleidet, diesem Staunen, verblüfftem Lächeln, der unablässigen Mischung von geahntem Schreck und gewünschter Freude, im Hintergrunde zu, wo er die feinere Gesellschaft begrüßte, die alsdann nach den oberen Gemächern sich verfügte, wo die sinnende Rosalie sie freundlich, wenn auch befangen, empfing. Schon hatten sich Gleichmuth und Steinhuder mit dem ganzen langen Schweif seiner Anhänger eingefunden, denen er hier gleichsam zum Führer diente. Er war demüthig-höflich, kriechend heiter, und wußte sogar seinen Zorn beim Anblick Lucien's und Oskar's zu unterdrücken. – Von den Geladenen ward nur Mardochai noch immer vergeblich erwartet, Bardeloh zeigte einige Unruhe, traf aber zugleich Anstalt, die Tafeln ordnen zu lassen. In einem Vorzimmer sammelte sich das Orchester.

Gleichmuth suchte mich allein zu sprechen, wir traten zusammen in die psychologische Warte. »Sigismund,« sprach der schwer Geprüfte, »was [251] ist dies für ein Fest? Wissen Sie, was Bardeloh beabsichtigt? Oder sollte ich mich irren in dem Argwohne, der das Leben mit seinen täuschenden Scheinfreuden mir zurückgelassen hat? Unten der Katafalk, die Leiche, von der man nicht weiß, ob sie Maske oder Wirklichkeit ist, und hier die wandernde Leichenbittergesellschaft, die umher schleicht, als gälte es die Grablegung der Menschheit! Geben Sie mir Aufklärung!«

»Es gilt, zu versühnen,« erwiederte ich. »Sie ahnten das Rechte in Bardeloh, aber die Vorsehung ist mächtiger gewesen, als die leidenschaftliche Aufregung geistig großer Menschen. Im Sarge liegt Casimir's Leiche!« –

Gleichmuth mußte sich an das Getäfel lehnen, um Kraft zu sammeln. Bardeloh trat mit seinem Sohne Felix in die Versammlung. Ich setzte den Pastor mit kurzen Worten von dem Vorgefallenen in Kenntniß.

Mein Gastfreund begrüßte mit bitterm Lächeln seine zahlreichen Gäste. »Ich bedauere,« sprach er mit der Ruhe eines umsichtigen Diplomaten, der seinen Zweck um jeden Preis erreichen will, »ich bedauere, daß ich das Vertrauen, welches man mir zu schenken so wohlwollend war, auf eine so wenig genügende Art und Weise rechtfertige. Ein trauriger Vorfall hat die Freude meines Hauses gestört, eine geliebte Nichte von [252] mir ist auf eine höchst betrübende Weise aus dem Leben geschieden. Mein Herz fühlte sich zu tief verwundet, um in dieser Stimmung mit Glück die Leitung eines heitern Festes übernehmen zu können. Doch mußte ich auf irgend eine passende Weise der einmal übernommenen Verpflichtung nachzukommen suchen, und dies bezweckte ich, indem ich Sie, meine Verehrten, zu mir lud. Ueberlassen Sie sich jetzt der Heiterkeit, ich selbst will dazu beitragen. Wohlan, es beginne die Lust!«

Richard klatschte in die Hände, die Flügelthüren sprangen auf und ein Bacchuszug schwärmte jauchzend herein und durch den Saal. Der Scherz und Humor würde vollständig gewesen sein, hätte nicht die durchaus schwarze Tracht auch dieser Darsteller dem überreizt Lustigen einen Anstrich finstern Ernstes verliehen. Anstatt wahrhaft zu erheitern, wirkte dieser Jubelchor mit umflorten Thyrsusstäben fast dämonisch. Man ahnte ein Grauen hinter der Tollheit der Lust, das drückend auf die Versammelten niederfiel. Dazu noch das überlaute Getümmel der Menge im Erdgeschoß, die nur den Augenblick des reichsten Genusses fest hielt und jeder Laune frei den Zügel schießen ließ. Noch hatte der Zug den Saal nicht wieder verlassen, als ein durchdringender Aufschrei unzähliger Stimmen etwas Außerordentliches verkündigte. Eben [253] so schnell trat eine lautlose Stille ein, nur dumpf unterbrochen von dem fernen Gemurmel der neugierig gaffenden Menge. Ein paar Diener traten bestürzt ein, und raunten Bardeloh einige Worte zu. Dieser verließ den Saal, ich folgte. Auguste hatte sich an meinen Arm festgeklammert. Alles drängte nach, ernste und lustige Gesichter, da Viele die lächerlichsten Masken trugen. Von unten her wuchs der Lärm. Die Luft schien zu brausen, wie vor dem Ausbruch eines zerstörenden Orkanes.

Zugleich mit Bardeloh erreichte ich die Hausflur. Ein Anblick, der noch jetzt in der Rückerinnerung mich tief ergreift, machte uns Alle stutzen. Nahe am Sarge Casimir's stand die ehrwürdige Gestalt des neunzigjährigen Castelan's. Seine Linke auf die Brust des Todten gelegt, mit der Rechten den Krückenstab gegen die gierige Menge, halb drohend, halb besänftigend erhebend, sah er mit der Ruhe eines Mannes umher, den kein noch so trübes Ereigniß den fest gewurzelten Glauben an Gott und die ewige Gerechtigkeit hat entwenden können.

»Casimir ich vergebe Dir!« sprach jetzt laut und vernehmlich der Greis, »und Euch Allen, die Ihr hier gaffend und zürnend mich umgebt, sage ich als der Aelteste, es gibt kein Verbrechen auf Erden, das sich nicht selbst strafte! Dieser Todte, dessen Hülle im Prunk des Sarges noch [254] höhnt, war ein großer Mensch und ein großer Sünder. Er plünderte das Heiligthum aus reinem Uebermuth, aus Lust und Freude am Seltsamen, und dafür hat das sanfte Auge Gottes seine Seele geplündert und ihr den Frieden entwendet, von dem jeder wahre Mensch einen kleinen Theil in sich tragen muß, soll er glücklich werden. Ruhe aber und Vergebung dem Todten! Es lebt ein Gott, es sitzt zu Gericht sein heiliger Geist!« –

»So ist es!« sagte eine feste, männliche Stimme, und die hohe Gestalt Mardochai's schritt, im schwarzen, faltigen Talar, ernst, bleich, mit geisterhafter Ruhe durch die dicht geschaarte Menge der Zuschauer. Er trat neben den Greis. »Kennst Du mich, Castelan?« fragte er den zitternden Alten. »Das Werkzeug starb, der Werkmeister lebt noch. Ich befahl dem da die Sünde, weil ich wußte, sie würde ihn reizen in der Monstrosität seines Geistes. Und dieser Mensch nahm Rache an mir, weil der Herr der Welt es zuließ. Friede seiner Asche, Ruhe seiner Seele! Mir wird sie vielleicht zu Theil werden an der Schwelle des heiligen Grabes.« –

»Der Jude, der furchtbare Jude!« lispelte der Greis. Burton, der auch dazu gekommen war, stützte den Wankenden, an dem Mardochai vorüber auf Bardeloh zuschritt. »Sie wünschten meine Gegenwart. Hier bin ich,« sprach er zu seinem [255] Geistesgenossen. Bardeloh reichte ihm die Hand, sein Gesicht zuckte fieberhaft zusammen. Sie schritten die Treppe hinauf. Langsam folgte der Greis und Gleichmuth.

Bis dahin hatte Staunen und eine Art Scheu die erregte Menge ruhig gehalten, jetzt aber faßten die Einzelnen und Argwöhnischsten Worte und halbe Sätze zusammen, und bildeten daraus ein trübes Bild, dessen dunkle Fratze sie erstarrte und zur Wuth hinriß. Man drängte mit Gewalt die Wächter zurück vom Sarge, um den Leichnam zu sehen. Einige erkannten den Todten; denn Casimir hatte es wol zuweilen geliebt, in die niedrigsten Winkel des geselligen Verkehrs herabzusteigen, um, wie er sich auszudrücken pflegte, »die Genialität der Zoten« zu studiren. Halb rasend fielen die einmal Erhitzten über die Leiche her. Sie entdeckten den Dolch und glaubten, man habe ihn damit ermordet. Sogleich rissen ihm ein paar die Oberkleider ab. Man sah die eingeschlagene Brust, fühlte die zerbrochenen Rippen. Geschrei, Getümmel, erfüllte die Hausflur. »Der Jude hat ihn ermordet – Casimir wollte sich rächen – Mardochai ist ein Mörder! – Nieder, nieder mit ihm!« – So tobte Alles wüst durcheinander. Im Gedränge ward der Katafalk verrückt, die Kandelaber wurden umgestürzt. Dunkel lodernd brannten sie trüb fort unter der finstern Bahre. – Die [256] Leiche ward von den Neugierigen fast zerrissen, die Lichter ergriffen die Bahrtücher, durch Rauch und Qualm starrten die Gesichter der Erbitterten. Man wollte in die obern Gemächer – da erschienen Bardeloh und Burton. Beiden gelang es, die Tobenden zu besänftigen, indem sie klar und ruhig die Thorheit der Annahme darthaten. Die rohe Menge zog sich murrend zurück, und entfernte sich auf Bardeloh's Befehl, grollend im Herzen, und die Kleidung des todten Dichters fast in kleine Fetzen zerreißend. Der Tumult ward gestillt und beruhigt traten wir wieder in die Versammlung. Jetzt erst ward Bardeloh in einem gewissen Sinn lebhaft. Er klopfte mir vertraulich auf die Achsel, indem er sprach: »Nun ist's gut. Die Zeit der That ist gekommen.« –

Die Menge der Gäste verhinderte mich, länger mit Richard zu sprechen. Es drängten sich so viele an den unergründlichen Mann, daß immer Einer dem Andern weichen mußte, um nicht nach unserer Ausdrucksweise unhöflich zu erscheinen. Während nun die schwarz gallonirten Diener die Tafel bereiteten, benutzte ich die Gunst des Augenblickes und plauderte mit Auguste. Lucie und Oskar hatten sich ebenfalls in eine Fensternische zurückgezogen und überließen sich harmlosen Scherzen und verliebten Neckereien, wie sie dem Naturell des ungewöhnlich lebhaften Mädchens zusagten.

[257] Zu mir und Auguste gesellte sich bald wieder Felix, der in seiner schwarzen Sammetkleidung ganz allerliebst unter der burlesken Ernsthaftigkeit so vieler Erwachsenen herumlief.

»Tante,« sprach er, »heut soll ich eigentlich gefirmelt werden, wenn der Vater sein Wort hält, ich weiß aber immer noch nicht, wie er es anstellen will. Denn das sieht mir curios aus und gar nicht besonders heilig. Willst Du Dich nicht mit firmeln lassen, Tante? So allein mag es mir gar nicht recht gefallen.«

»Laß das gut sein, liebes Kind,« erwiederte Auguste. »Der Vater spricht oft Worte, die wir nicht verstehen, und da wird es mit Deiner Firmelung wol auch nicht anders gemeint sein.«

»Vielleicht ist es grade so, wie mit dem Civilisationsgift, das der Vater ordentlich recht im Leibe hat.«

»Das hat er,« sprach nahe bei uns Bardeloh's starke Stimme, »ich sage Dir aber, Kind, heut Abend noch wird es ihn verlassen.« Hierauf wandte er sich mit seiner gewöhnlichen graziösen Leichtigkeit zu Auguste, und reichte ihr den Arm. »Kommen Sie, liebe Schwägerin; die Tafel ist bereit, für Toaste gesorgt. Sigismund, meine Frau wartet auf Sie.«

Die übrigen Versammelten folgten unserm Beispiele und ordneten sich um die lange Tafel, die [258] fast in Form eines Kreuzes sich durch den weiten Saal hinzog. Am obersten Ende war für Mardochai ein Sitz bereitet. Ihm zur Rechten saß Steinhuder, zur Linken Gleichmuth. Grade gegenüber am untersten Theile nahm Bardeloh selbst Platz zwischen Auguste und Felix. Ich saß mit Rosalie in der Mitte des Saales, uns gegenüber der greise Castelan. Neben ihm Lucie, der lustige Ephraim, Oskar und Burton. Auf beiden Seiten gemischt die recht-, irr- und ungläubige übrige Gesellschaft. Von den Bekannten vermißte ich nur Friedrichen und den Mönch. Ich fragte Rosalien, weshalb diese beiden nicht Theil nähmen an dem Mahle, da sie doch in der letztern Zeit meistentheils eine anständige Ruhe zur Schau getragen hätten.

»Richard hat über sie verfügt,« antwortete sie achselzuckend. Bangigkeit lag in ihrem Auge, aber auch die Zuversicht eines gewissen, wenn auch noch fernen Glückes.

Es herrschte Anfangs eine etwas peinliche Einsylbigkeit. Nur einzelne sprachen, doch meist leise mit ihren nächsten Nachbarn. Unter die Lautesten gehörte Klapperbein, der sehr bald seine gewöhnlichen Spaßhaftigkeit ein paar übermüthige Sprünge machen ließ und dadurch herzliches Gelächter erregte.

Heut ist Fastnacht, das heißt, es fehlt nur [259] noch ein Linschen, so ist's ganz Nacht. Man sieht's aber nicht, weil's zu hell ist, und eben darum wollen wir lustig sein und trinken. Alle tausende fällt mir da ein Lied ein, just ein Studentenlied. Es thut jedoch nichts, auch ein alter Kerl mit einem ganzen Herzen darf's immer noch mit singen. Heda, eingestimmt! Jung und Alt, Gottlos und Fromm. Es ist Fastnacht, wo Jeder sagen darf, was er will. Wohlan denn, Gläselein klinget:


»Stoßt an,
Mann für Mann,
Wer den Flammberg schwingen kann etc.«

Und nun sang der alte, rüstige Bruder Lustig mit so munterer Kehle, als sei er noch keine zwanzig Jahre alt. Es stimmten Viele mit ein, wenn es auch nicht Jedem von Herzen ging. Indeß bewirkte dieser frische Anfang ein schnelleres Erwachen einer zum Theil freilich nur erzwungenen Lust, und Lieder bald humoristischen, bald ernsthaften Inhalts wurden von Diesem und Jenem angestimmt. Dadurch erheiterte sich auch Burton's Laune. Man ließ Amerika leben und ein allbekanntes Nationallied ward mit steigendem Entzücken von der ganzen Gesellschaft gesungen.

Der Castelan sah diesem Treiben mit nicht sehr billigenden Blicken zu, und wirklich lag auch in dem Kontrast, welchen die Lustigkeit Einzelner mit [260] der Trauergewandung Aller hervorbrachte, für einen stillen Beobachter etwas unaussprechlich Beengendes. Dagegen zu reden, wäre freilich unnütz und, wenn man will, für den Wirth sogar beleidigend gewesen.

Nach den ersten Gängen trat die Musik aus dem Nebenzimmer in den Saal, wo eine besondere Estrade für sie errichtet worden war. Alle Musiker waren schwarz gekleidet, trugen aber buntfarbige Bajazzokappen mit Schellen, was einen so allgewaltig komischen Eindruck auf die ganze Versammlung hervorbrachte, daß sich ein »unauslöschliches Göttergelächter« erhob. Da jeder Einzelne maskirt war, versuchten wir umsonst die Gesichter zu mustern. Bardeloh befahl inzwischen einen Straussischen Walzer, und bald flogen die Fiedelbogen, daß alle Mädchenfüße in zuckende Bewegung geriethen.

Die Meisten der hervorragenden Anwesenden, unter Andern auch Steinhuder und Oskar, hatten Toaste ausgebracht, die sich freilich in feindseliger Rüstung trotzig gegenüber standen. Die Fastnacht war und blieb der allgemeine Versöhner. Wein und sonstige Aufregung hatte die Gemüther entflammt. Lauter ertönten die Stimmen, man wog nicht mehr das Wort und gestattete dem Gedanken eine ungewöhnliche Freiheit. Da erhob sich Bardeloh, ruhig, ernst, mit spöttischer Lippenbewegung. [261] Schweigen fiel herab auf die Versammelten, denn man erwartete nicht mit Unrecht etwas Bedeutsames aus dem Munde des Geheimnißvollen zu vernehmen.

»Es ist Fastnacht,« begann mit unsicherer Stimme der bleiche Mann, »und da ist es von jeher erlaubt gewesen, die Wahrheit zu sagen, ein Narr zu sein, ein Allerweltsnarr! Auch ich fühle heut die Lust dazu in mir, bin aber nicht geneigt, viele Worte zu machen. Ich erhebe nur das Glas, und fordere meine ehrenwerthen Gäste auf, mit mir vereint die Idee leben zu lassen, welche in dem heut unterbliebenen Maskenzuge zur Erscheinung kommen sollte. Wer ein Freund der Wahrheit ist, der fülle sein Glas und stoße mit mir an! Heda, Musik! Es lebe diese verschleierte Idee!«

Die Musiker begannen zu spielen. Sie hatten die Masken abgeworfen, ich erkannte in ihrem Dirigenten den blödsinnigen Friedrich, dessen Bogenstriche übrigens jetzt in alter Weise sich wieder kenntlich machten. Die Gesellschaft war aufgestanden, doch rief es von allen Seiten wiederholt: »Sag' an die Idee! – Was sollte sie verwirklichen?« –

Wie zerstreut fuhr sich Bardeloh mit der Hand über die Stirn, griff im Busen und zog – Mardochai's Brief an mich hervor. Lächelnd reichte [262] er denselben einem der zunächst Sitzenden. Es war ein Pietist. Der Mann gebot Ruhe und begann laut das Schreiben vorzulesen. Bardeloh erfaßte die Hand seines Sohnes, Mardochai stand ruhig auf, näherte sich unserm Gastfreunde und sprach fest, aber erbleichend: »Richard, was thun Sie?« – »Was ich muß,« erwiederte der Gefragte. »Nach Gewißheit verlangt meine Seele. Ich muß noch in dieser Stunde erfahren, ob meine Gedanken auch die der Welt sind.« –

»Der Segen Abrahams sei mit Dir!« flüsterte Mardochai, »doch fürcht' ich, Du hast nicht gut daran gethan.« –

In diesem Moment erhob sich ein Murmeln, Schimpfen, Drohen. Der Pietist hatte den Brief fast zu Ende gelesen. Alles stand auf. »Lästerung! Lästerung!« schrien die Frömmler, Steinhuder an ihrer Spitze. »Ergreift sie!« tobten Andere. »Den Juden faßt! – Den reichen Nabob tödtet! – – Schleppt sie vor Gericht! – Nein, nieder mit ihnen! Nieder mit ihnen!« –

Alle Schrecken des bigottesten Fanatismus schritten zügellos durch die schimmernden Säle. Mardochai war schon erfaßt worden, er wußte sich zu befreien, und schritt zwar fliehend, aber doch mit stolzer Haltung, der Thür zu, die nach Bardeloh's Kabinet führte. Dieser selbst bahnte sich, seinen zitternden Knaben im Arm, rasch den Weg eben [263] dahin. Die Stimme des greisen Castelans sprach Worte des Friedens, die Frauen baten und suchten die Aufgeregten zu beruhigen, sich fest an sie klammernd. Burton, Oskar und ich, auch Gleichmuth, wir Alle boten die Kraft des Wortes auf, um die empörten Gemüther zu besänftigen. Allein der Aufstand war zu allgemein, die Gemüther verletzt in ihrem verborgensten Heiligthume. –

Bardeloh öffnete die Thür seines Cabinets und stürzte mit Felix hinein, am Boden kniete in schwarzem Mönchsgewande, den Rosenkranz in der Hand, Bonifacius. Ein Druck gegen die Wand spregten die Tapetenthür, und es ward der bekannte Apparat sichtbar, beleuchtet von den dunkel flatternden Spiritusflammen. Hastig ergriff er einen Dolch, riß seinen Sohn zu sich empor, drückte ihn fest gegen seine linke Brust, und dann den blinkenden Stahl schwingend, rief er drohend gegen die Heranstürmenden, in deren Mitte ohnmächtig Mardochai gegen hundert Arme kämpfte: »Ich seh's, Euch ist nicht zu helfen. Die Wahrheit mögt Ihr nicht hören, selbst die Fastnacht darf sie nicht mehr laut aussprechen. Ihr lebt in der Lüge, im Wahn, in Unfreiheit! Ich und mein Sohn aber, wir wollen frei sein. Gott sei Deiner Seele gnädig!«

Der Dolch zuckte in der Luft und fuhr gegen die Brust des Knaben. Doch ein gewaltiger Stoß [264] Oskar's, der hinter Bardeloh gesprungen war, schleuderte in demselben Augenblick das zitternde Kind aus des Vaters Hand. Es stürzte vorwärts auf einen Divan, der mit Gewalt geführte Stoß aber traf des Vaters eigene Brust. Dröhnend sank Richard zusammen auf die Pyramide und über ihn rollten die Schädel zu Boden. Ein Blutstrom kroch, wie eine rothe Schlange, über das Parquett. Friedrich's Geige aber jauchzte in wunderbaren Tönen – ich gedachte des Knaben Worte: »der Friedrich, Vater, wird Dir noch den Todtentanz streichen.« –

Mehrere sprangen dem Gefallenen bei, allein noch war es nicht Zeit, Ruhe zu suchen. Der Tumult dauerte fort, des Juden Kräfte wichen unter den Händen seiner Verfolger. Mit dem kalten Blick der Verzweiflung sah Mardochai umher, ob nirgend ein Mittel der Rettung sich darböte. Hinter der eingestürzten Pyramide erhob sich eine Art Altar. Darauf lag eine versiegelte Rolle; drüber gebreitet jene bedeutungsvolle Maske. Die Angst des Entsetzens, das sichere Gefühl von der Nähe des Todes lassen den Bedrängten zu jedem Mittel, auch dem abenteuerlichsten greifen. Mardochai erblickte nicht sobald jenes Bild, als ein Lichtstrahl der Hoffnung über seine Mienen zog, wie der Bogen des Friedens und der Versöhnung. Er übersah rasch seine Verfolger – es [265] waren lauter Pietisten – eine gewaltige Anstrengung machte ihn frei. Mit heftigem Sprunge schwang er sich zu der Erhöhung hinauf, die unter seiner Schwere zerbrach, ergriff das wohlgemalte Maskenbild, und es schnell über sein Haupt herabziehend, streckte er die Hand aus und rief laut dem gereizten Haufen die Worte zu: »Ecce homo!«

Ein paar Secunden trat eine schwüle Stille ein, dann aber brach ein grelles Zetergeschrei aus, Steinhuder und viele Andere ergriffen den unglücklichen Mann, und die Schnüren an der Maske zusammenziehend, sank Mardochai mit leisem Röcheln langsam zurück gegen die Wand. Seine Finger zuckten krampfhaft, aber kein Laut entschlüpfte seinem Munde. Das Haupt neigte sich auf die Brust, der Dornenkranz sank tiefer und tiefer. Der Mann, welchem die Geschichte zu langsam war in ihrer Gerechtigkeit, schied lautlos aus der Reihe der Lebendigen.

Jetzt aber ergriff auch die erhitzten Henker die Furcht. Sie flohen Saal und Haus, das Toben sank herab zur Ruhe des Todes. Auf dem Divan lehnte Felix weinend am Busen seiner Mutter. Die Leiche seines Vaters hatten Oskar und Burton aufgehoben und neben die ruhig lächelnde Gestalt seines irren Bruders gelegt, der in glückliche Gedanken versunken nur [266] mit leisem Finger die blutende Wunde berührte und eben so ruhig, als ergeben sprach: »Das ist Dir gut, Bruder. Blut versöhnt und bändigt die Leidenschaften. Ich weiß es am besten, denn ich habe was Ehrliches für diese Bändigung geblutet. Nun Du so ruhig bist, Bruder, wollen wir zusammen schlafen gehn in's Kloster.« –

Der lebensmüde Mann erhob sein Haupt und fuhr fort, den Rosenkranz zu beten. Vor ihm, mitten unter uns, stand der greise Castelan. Die Erscheinung dieses ehrwürdigen Alten, auf dessen gefurchter Stirn mit schönen Lettern die Nachricht eines über alle Stürme der Welt errungenen Sieges zu lesen war, berührte auch mich wie die Erscheinung eines versöhnenden Engels.

»Friede sei mit Euch!« sagte zitternd bewegt der edle Greis, und von der grauen Wimper herab floß der Thau mildernder Thränen. »Friede sei mit Euch! rufe ich nochmals, wenn ich auch kein geweihter Priester bin. Aus Nacht und Nebel erhebt sich immer wieder das Licht des Tages. Ihr alle wandeltet in Nacht, ein greller Blitz hat die Dunkelheit zerrissen und Einige getödtet. Das war keine Strafe, das war die Liebe Gottes! O, werdet ruhig, Ihr, die Ihr zurückbleibt, und bedenkt, daß es Aergerniß geben muß, der aber nicht zu beneiden ist, von welchem es kommt. Friede sei mit den Lebenden, Friede mit den [267] Todten! Den Mönch nehme ich in meinen Schutz. Er gehört mir zu; sein todter Bruder hat ihn mir übergeben.«

»Gebrechlicher Greis,« fiel Gleichmuth ein, »fürchtest Du nicht einen Schuldigen, der aber seine Schuld bereut, so folge ich Dir ebenfalls, nicht etwa, um Klosterbruder zu werden, sondern um fern vom Sturme der Welt mein ganzes Leben wiederzufinden.«

Der Castelan legte seine zitternde Hand auf den Scheitel Gleichmuth's – es war, als spräche dieses Handauflegen eine vollständige Absolution aus über Jedermann, über die ganze Welt. –

Ich hatte unterdeß die Maske von Mardochai's Haupte gelöst. Sein Gesicht trug die nämliche trotzige Ruhe des Stolzes, die ich immer an dem Manne bewundert hatte. Nur die Augen standen halb offen, als hafteten sie noch auf den Irrthümern der Welt. Mit Schmerz drückte ich sie dem eigenthümlich großen Manne zu. Da löschte ein Luftzug die Lichter, tiefe Finsterniß sank über den Todten. Felix hing sich an meinen Hals und rief zärtlich: »Nicht wahr, jetzt wirst Du mein Vater werden?« –


Ich habe nichts mehr zu erwähnen. Zwei Tage später, nachdem Alles so gut als möglich [268] geordnet worden war, beschlossenen wir übrig Gebliebenen, durch so wunderbare Ereignisse hart Geprüften, aber auch dem stillen Frieden der Verheißung Wiedergegebenen, das Vaterland zu verlassen. In Mardochai's Wohnung fand sich eine Kiste mit einer sehr großen Menge von Schriften und Documenten, alle auf die Emancipation seiner Brüder abzweckend. Sie wurden dem Ober-Rabbiner in H. gesendet, für den ein Zettel von Mardochai sie, im Fall seines Todes, bestimmt hatte. Reiche Legate für »Christen, die Juda's Schmerz mitfühlen und Balsam für seine Wunden bereiten,« hatte der seltsame Mann ebenfalls ausgesetzt. – Die Rolle, welche auf dem altarählichen Tischchen in Bardeloh's Cabinet lag, enthielt seine »Doctrin des Hasses,« von der sich vielleicht später Einiges mittheilen läßt.

Sara's Leichnam war bereits gegen die Verwesung gesichert. Rosalie wünschte dasselbe ihrem Gatten und Mardochai. Wir willfahrteten den Bitten des armen, aber doch im Besitz ihres hoffnungsvollen Sohnes glücklichen Weibes. Burton besorgte ein Fahrzeug zur Aufnahme der drei Leichen, und am dritten Tage nach dem traurigen Ereignisse, noch in neblicher Dämmerung geschah die Einschiffung.

Gleichmuth, der Greis und Bonifacius standen schweigend am Ufer. Sara's und Bardeloh's [269] sterbliche Ueberreste waren bereits am Bord, die Matrosen hissten eben Mardochai's Sarg herauf. Im Osten dämmerte der erste Strahl des neuen Tages. Da zerriß ein seltsamer Zufall das eine Tau, der Sarg schlug um und versank in den Wogen des Stromes. Schluchzend stürzten die Wellen darüber zusammen, der Greis faltete die Hände und sprach ein nochmaliges: »Friede seiner Asche!« –

Der Anker ward gehoben, in schnellen Stößen flog das Schiff den Rhein hinab. Wir alle standen auf dem Verdeck, Rosalie, Oskar, Lucie, Auguste, Felix, ich und Ephraim, und grüßten mit thränenschwerem Auge die Zurückbleibenden so lange wir sie erkennen konnten. Als der Morgennebel ihre Umrisse verhüllte, vernahmen wir die Töne aus Friedrich's Violine, und die Melodie eines alten, tief ergreifenden Kirchenliedes flog zu uns herüber, wie ein Segensruf Gottes. Da trat die Sonne hinter den Wolken hervor, und als wolle sie alle Schmerzen stillen, allen Kummer in Freude verwandeln, übergoß sie mit versöhnendem Strahle die Erde, so weit unsere Blicke reichten.

Wir schieden versöhnt mit dem Geschick, mit der Menschheit vom Vaterlande, und wankten auf der Brigg »die Hoffnung,« geführt von Burtons erfahrener Hand, hinaus auf die unermeßlichen [270] Meere. Der Anblick des gewaltigen Elementes erhob unsere Gemüther; geeint in Liebe, riefen wir dem in den Wellen versinkenden Vaterlande ein lautes, herzliches Lebewohl zu, den hohen Trost mit uns nehmend, daß die Liebe versöhnt und der Glaube errettet, wenn sie beide das Product einer in tiefster Brust ewig verschlossenen Wahrheit sind.

Lebt wohl in Europa! Vom Ufer des Missisippi schreib' ich Euch wieder.

Nachschrift
[271] Nachschrift.

Ehe ich diesmal von meinen Lesern Abschied nehme, habe ich ihnen noch ein Wort zuzuflüstern. Bücher sind oft seltsamen Schicksalen unterworfen und zwar meistentheils blos deshalb, weil Autor und Leser auf einem ganz verschiedenen Standpunkt der Betrachtung stehen. Kann auch die Masse der Leser, als Repräsentant einer stimmberechtigten Gesammtheit, von dem Autor verlangen, er solle für sie schreiben und also in einer Weise, die Allen gleich leicht verständlich, bequem und erquicklich sei; so hat doch der Autor auf der andern Seite auch wieder höhere Zwecke zu verfolgen, wenn [272] er überhaupt schreibt, weil er die Weihe dazu von der Natur empfangen zu haben überzeugt ist. Hier Jedem zu geben, was Rechtens sein mag, hat seine großen Schwierigkeiten. Ein Schriftsteller von heut, der seine Stoffe dem unmittelbaren Leben entnehmen will, um die Mistöne auflösen zu helfen, an denen es leider noch so reich ist, kommt in vielfache Conflicte. Nicht nur mit sich selbst hat er zu ringen, Stoff und Form zu berücksichtigen, ästhetischen Feinschmeckern auf die Lippen zu sehen; auch die Freunde, die Bekannten, die sogenannten Gleichgesinnten (wiewol es manchmal scheint, als sei dies ein leeres Wort), die Prüderie der Gesellschaft, die Schminke der spazierengeführten Tugendhaftigkeit, die umherstolzierende Anmaßung der liberalen Quacksalber, die große Menge, gemischt aus tausend sich widersprechenden Atomen, und endlich die Idee, diese Sonne, an deren Strahl die Zukunft lebendig wird, soll ein Autor der Gegenwart beachten! Dabei können aber die Gedanken selbst sich verlieren, [273] und es macht sich daher oft nöthig, ausLiebe zur Wahrheit Dies und Jenes unberücksichtigt zu lassen. Schleicht sich darüber die Lückenhaftigkeit ein, so sei man billig und bedenke, daß auch ein productiver Mensch doch immer nur Mensch ist und als solcher nicht Jedermann nach dem Munde reden kann. Auch möge man noch die etwas mißlichen Verhältnisse betrachten, unter denen es nicht erlaubt ist, den Gedanken in der geeignetsten Weiseauszusprechen. Mit dem Wegfall der Gedanken verliert aber auch die Form, denn wo ich die Seele einer allgemeinen Beschneidung unterwerfe, da kann sie nicht den Körper so durchleuchten, wie es zu wünschen wäre. Findet nun dieser oder jener Leser oder Kritiker ähnliche Verwundungen an meinem Buche, so bitte ich, er möge sich dafür andern Ortes bedanken oder beschweren. Ich wasche meine Hände in Unschuld; ich kann die Sonne nicht scheinen lassen; denn ich fühle die Schwachheit meiner Menschennatur, und bin auch blos ein allein stehendes Individuum.

[274] Es kommen vielleicht einige geschickte Kreuzer, deren es allerwärts übergenug gibt, und schreien mir die Ohren voll über Grades und Ungrades, was angeblich in meinem Buche zu finden sein soll. Diesen habe ich blos zu sagen, daß ich kein Kreuzer bin, in der Kunst des Lavirens überhaupt schlecht bewandert, vielmehr nur mit vollen Segeln durch Wetter, Sturm und brausende See steuere, oder lieber ganz im Hafen bleibe. Ich weiß, daß ich mir keinen Dank damit verdienen werde; doch von Dank will ich auch nicht leben. Meine Speise ist die Wahrheit, die ungeschminkte. Sie ist aber auch mein Wimpel, an dem die Hoffnung flattert, frisch und kräftig in die blaue Luft der Zukunft hinein. Auf meine Gegenwart will ich keine Actie nehmen, ich fürchtete baldigen Bankerott, auf die Zukunft aber, so viel man will; auf sie basire ich das Glück von Völkern und Ländern. Und diese Zukunft ist licht in meinem Buche, wie in meiner Seele, wenn auch sonst schwarze Wetterwolken drin blitzen und donnern.

[275] Den Gehäbigen werden meine Charaktere nicht gefallen. Die etwas radicale Menschennatur, die heut zu Tage in Vanillenthee, Himbeereis und Bonbons zu Grunde gegangen ist, wird den guten Leuten viel zu schaffen machen. Sollten sie Choleraschmerzen darüber bekommen, so bitte ich, sie mögen nicht mich, sondern ihre schwache, verdorbene Constitution deshalb anklagen. Mir verursacht die Natur, und wenn sie auch grotesk sich zeigt, keine Indigestionen, nur die geschminkte widert mich an. Meine Charaktere aber, wie sie in Mardochai, Gleichmuth, Casimir, Friedrich, Steinhuder, Bardeloh, Lucie, Rosalie etc. zu Tage liegen, tragen keine Schminke. Sie sind Menschen, wie sie aus der Verworrenheit gegenwärtiger Zustände, sobald man diese concentrirt, von selbst hervorwachsen. Auf den Kreuzwegen und Straßen freilich laufen sie uns nicht in die Arme, in der mit der Aeußerlichkeit der perfiden Gewohnheitssitte grollenden Stille des Hauses aber begegnen sie dem Forscher. Mir wenigstens sind sie begegnet; denn [276] ich habe nur porträtirt; versteht sich, mit Benutzung der Licenzen, ohne welche sich nun einmal Charaktere nicht wol anschaulich zeichnen lassen. Man sei deshalb nicht böse, und zürne, fühlt man sich überhaupt dazu berufen, mit der Welt, nicht mit mir. Ich würde bei solchem Zorne schweigen. Nachdenken und Anschauung von Welt und Zeit, und ein gewagter kecker Blick in die Zukunft haben mich die Feder eintauchen lassen. Die Eitelkeit hat keinen Theil daran.

Wer mein Buch als Kunstwerk auffaßt, geräth in die Brüche. Ich habe ein Bild großer Lebensschmerzen, kein Kunstwerk schreiben wollen. –

Sollten diese Mittheilungen Freunde finden, nicht solche, die gerne sich in süße Träume wiegen lassen auf den rhythmischen Wellen anmuthig geschürzter Perioden, sondern solcher, welche aufzuwachen geneigt sind, so werde ich seiner Zeit die Fortsetzung derselben folgen lassen. Dann verlege ich die Scene an den Missisippi, und [277] dort, unter dem Schirm der sternbesaten Flagge, wird jeder Zwiespalt vollends ausgeglichen werden, falls die von mir beabsichtigte Versöhnung am Ende dieser Bände vielleicht noch nicht mit vollem lichten Strahl aus Schmerz und Leidenschaft sich erhoben haben sollte. – Dies heut mein Abschiedsgruß an die Leser, wobei wir uns, denk' ich, von Herzen die Hände drücken.


Leipzig, im September 1837.

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TextGrid Repository (2012). Willkomm, Ernst Adolf. Romane. Die Europamüden. Die Europamüden. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-AA02-4