1. Aus dem Leben einer Hausfrau der alten Zeit

»Ahnfräulein« oder »Ahnfrau« wird in einigen Gegenden Schwabens die Großmutter oder Urgroßmutter genannt, und unter diesem Namen möchte ich am liebsten eine meiner Vorfahren einführen, deren lebensvolles Bild mir heute besonders frisch vor die Seele tritt.

Selten wird ein Leben weniger Wechsel der Szene geboten haben als das der Ahnfrau. Von ihrer Geburt bis zum Tode, vom ersten bis zum vierundachtzigsten Lebensjahr, waren die Mauern einer und derselben kleinen Stadt der einzige Schauplatz ihrer Freuden und Leiden, ihrer ganzen Wirksamkeit; ein Schauplatz, den sie nur sehr selten zu kurzen Besuchen bei Geschwistern oder Kindern verließ. Und doch, wie mannigfache Bilder in diesem einfachen Rahmen! Welch frisches, lebenswarmes Gemüt, welch unverwelkliche Herzensblüte hat sich auf einem Boden erhalten, den man sonst kaum für tauglich hält, um Küchengewächse darauf zu ziehen!

Sie war einmal jung und schön gewesen, das Ahnfräulein, das ich nur noch als ein eingeschrumpftes Mütterchen gekannt, und sie ließ das nicht ungern merken, umso mehr, als das Konterfei, das noch aus ihrer Blütezeit da war, leider durchaus von keiner Meisterhand herrührte und einen gar unvollkommenen Begriff von ihren jugendlichen Reizen gab. Doch schaute selbst dieses mittelmäßige Machwerk mit der Rose in den gepuderten blonden Haaren und mit den lichtblauen Augen so freundlich drein, daß ein Bauersmann einst ganz verwundert fragte: »Aber wer ist denn die schöne Jungfer da?« – »Das bin ich einmal gewesen, Jakob.« – »Sie, Frau Syndikussin? Ach, du lieber Gott, wie kann doch der Mensch verwesen!« Dieser wenig schmeichelhafte Ausruf hat dennoch das gute Ahnfräulein [268] höchlich ergötzt, denn wenn sie noch eitel war – und wer ist's nicht? – so war sie's am liebsten auf ihre Vergangenheit, in der sie lebte und webte bis zum letzten Hauch.

Jugendliebe

Die Ahnfrau hatte jung geheiratet, sehr jung, wie das in früheren Zeiten viel öfter geschah, wo man den Most gern süß einkellerte und es dem Ehestand überließ, ihn abzuklären, während es bei uns im Lauf der Dinge liegt, daß er gehörig ausgegoren hat, ehe er ins Faß kommt. Beides mag sein Gutes und Schlimmes haben; wie man mir sagt, soll der süß eingekellerte Most leichter geneigt sein, trüb und schwer zu werden. Beim Ahnfräulein war dies nicht der Fall; sie ist nicht schwer geworden, bis zum letzten Tropfen nicht.

So früh sie nun aber auch das bedeutungsvolle Ja gesprochen, auf das ihr ganzes Leben als volles, freudiges Amen gefolgt ist, es war doch nicht so früh, daß nicht ihr Herz zuvor Zeit gefunden hätte, sich noch ein klein wenig auf eigene Hand zu rühren. Diese erste leise Herzensregung ist eine schöne traurige Geschichte, die ich sie am liebsten selbst erzählen lasse; wenn ich es nur noch ganz mit ihren Worten könnte!

»Siehst du, ich habe es recht gut gehabt in meiner Jugend, obgleich wir zehn Geschwister waren und tüchtig schaffen mußten. Der Vater war nicht reich, aber gar angesehen, und von Mangel und Sorge war keine Rede. Jetzt kann man sich's gar nicht mehr vorstellen, was ein Beamter seiner Art dazumal für ein Herr war, und vollends so ein grundgescheiter Mann wie mein Vater, der zum Herzog mußte, so oft er nach Stuttgart kam. Ja, ja, wir haben etwas Rechtes gegolten; ich selber trug mein Näschen nicht wenig hoch und dachte damals nicht, daß hier in Nürtingen, wo der Vater regierte, auch sein Tochtermann wachsen würde.

Nun, es kamen öfters vornehme und gescheite Herren aus der Residenz zum Vater, und wir waren solche Besuche gewöhnt; aber einer ist bisweilen gekommen, nicht oft – da hat mir allemal das Herz geklopft, wie sonst nie in meinem Leben, [269] und es hat sich sonderbar getroffen: so oft er gekommen ist, gefahren oder geritten, jedesmal mußte ich just am Fenster sein und ihn sehen, und jedesmal hat er heraufgeschaut und mich gegrüßt; ich mochte nun am Küchen- oder am Öhrnfenster stehen oder in der Stube, er hat stets am rechten Ort hinaufgeguckt. Wenn er bei uns zum Essen geladen wurde, bin ich aber immer zuletzt gekommen: ich hätte mich so gern recht schön angezogen und habe mich doch wieder geschämt, es zu tun.«

»Haben Sie denn auch recht viel miteinander gesprochen?« – »Gesprochen? Ich möchte wissen, wann. Ich sah ihn nur bei Tisch, und da hätt' ich den Vater sehen wollen, wenn eines von uns ungefragt geredet hätte! Hie und da hat der S. doch die Rede an mich gerichtet, aber ich bin immer so rot geworden und so verlegen, daß ich kaum antworten konnte. Ich habe auch gar nie geglaubt, daß er nur ein klein wenig an mich denke, ein so schöner Mann und so vornehm! Man sagte damals schon, daß ihn der Herzog mit einer Gesandtschaft verschicken werde. Nur ein einziges Mal habe ich's doch ein bißchen gemeint. – Da war er beim Vater und kam gerade allein über den Hof, als ich eben auf der Staffel stand und meine Blumenstöcke goß; ich hatte nicht viele: zwei Rosenstöcke und einen großen Nelkenstock. – Ich spürte schon von weitem, daß er auf mich zukomme, aber ich rührte mich nicht und zupfte nur immer an einem einzigen Rosenblatt. Wie fuhr ich aber zusammen, als ich seine Stimme hörte: ›Ei, was für schöne Rosen, Jungfer Karoline!‹ Ich wußte gar nicht, was sagen, und sah nur ein klein wenig nach ihm auf. ›Blüht gar keine von den schönen Knospen für mich?‹ fragte er wieder. Da hatte ich, ehe ich mich besonnen, die allerschönste abgeschnitten; aber ich hatte nicht den Mut, sie ihm zu geben, bis er selbst sie sanft aus meiner Hand zog. ›Danke, danke schön,‹ sagte er mit einem Lächeln – das vergesse ich nicht! – und ging rasch weiter. Was sonst noch am selbigen Tage vorgefallen ist, weiß ich nicht; ich glaube, ich wurde tüchtig gezankt von der Mutter, weil ich wie im Traum herumging; es war mir immer, wie wenn ich mit allen Glocken zusammenläuten hörte. Am andern Morgen ritt er ab vom[270] Schwanen drüben; das Röslein hatte er an seinem Knopfloch stecken, es war über Nacht aufgegangen. Ich habe viele Nächte nicht schlafen können und viel Angst gehabt, ob es keine der großen Schwestern bemerkt.

[271] Ein paar Wochen nachher war der Vater verreist, und wir hatten große Putzerei. Das ganze Haus wurde umgekehrt, Kisten und Kasten geleert, und wir alle hausten mit Besen und Bürsten, wuschen, polierten und wichsten Kommoden, Tische und Schränke und fürchteten uns sehr vor der Mama, die an den Putztagen immer höchst übler Laune und leicht erzürnt war. Da kam der Bastel, der alte Stadtbote, an mir vorbei die Stiege herauf. ›Wo find' ich die Frau Mama? Da ist ein Brief, nicht ans Amt, an den Herrn selber.‹ – ›Droben ist sie, Bastel, in der oberen Gaststube.‹ Der Bastel ging hinauf; nach dem Brief fragte keines von uns.

Der Vater blieb damals viel länger aus, als er selbst und wir geglaubt. Er war aber schon wieder ein paar Tage zu Haus, als er gelegentlich bei Tisch zur Mutter sagte: ›Ei, Nane, denke, der S. ist bei der Gesandtschaft in Österreich angestellt worden, und er hat nicht einmal schriftlich oder mündlich Abschied von uns genommen. So geht's, wenn die Leute vornehm werden! Von dem hätte ich's aber nicht geglaubt.‹ Die Mutter verwunderte sich gehörig darüber, auch die Schwestern gaben ihr Wörtchen drein, ich aber konnte keinen Bissen mehr essen; ich war froh, daß der kleine Christian, der neben mir saß, meinen Teller in der Stille ableerte, weil's gerade was Gutes war. In der Nacht habe ich bitterlich geweint; ich hatte freilich nie geglaubt, daß er an mich denken werde, nun aber tat mir's doch in der Seele weh. Niemand sprach indessen mehr von ihm, und ich dachte, ich sei eben ein recht einfältiges Mädchen gewesen.

Da erhielt mein Mann selig, der seither Substitut beim Vater gewesen war, die Stelle eines Syndikus, was für seine Jugend schon recht viel war. Er kam zum Vater und hielt um mich an. Der Vater ließ mich in seine Stube rufen und eröffnete mir's recht feierlich. ›Du hast ganz deinen freien Willen, Karoline,‹ sagte er zum Schluß; ›ich erwarte aber, daß du vernünftig bist und den Antrag eines so geschickten und rechtschaffenen Mannes mit Dankbarkeit annimmst.‹ Da wußte ich nun wohl, wie es mit dem freien Willen stand und daß ich nicht anders durfte; aber es war mir noch gar, gar nicht ums Herz, [272] wie wenn ich Ja sagen wollte. – Siehst du, ich hatte gewiß immer rechten Respekt gehabt vor meinem Mann selig; er war auch ein schöner, stattlicher Mann, sehr ernsthaft und gesetzt für seine Jugend, und der Vater hielt große Stücke auf ihn; aber daß er mein Mann werden könnte, daran hatte ich mein Lebtag nicht gedacht, und ich meinte, es könne nicht sein. [273] Der Vater aber hielt es für puren Hochmut von mir, weil mein Mann von armen Eltern herstammte, und sagte mir tüchtig die Meinung darüber. Endlich aber sprach er: ›Wenn du nur einen einzigen vernünftigen Grund hast, Nein zu sagen, so will ich dir mit keinem Worte weiter zureden.‹ Einen vernünftigen Grund hatte ich aber nicht, nur einen recht unvernünftigen; so sagte ich denn in Gottes Namen Ja und bat Gott, mir ein freudiges Herz dazu zu geben. Das hat er auch getan, und ich wurde eine recht zufriedene Braut, als ich sah, wie sie alle ihre Freude hatten und wie die Eltern meinen Bräutigam ehrten und mich mit, so daß ich jetzt am Tisch mitsprechen durfte wie die Mama selbst. Mein Bräutigam tat mir auch zu Lieb und Freude, was er nur konnte. Einmal aber, da hat er's mit dem besten Willen doch nicht gut getroffen, das war mir gar zu arg.«

»Ja, was war denn das?« – »Nun sieh, er hatte eine neue Wohnung verwilligt erhalten, das schöne große Haus, das du ja wohl kennst, und es einstweilen allein bezogen. Nun hatte ich ihm lange versprochen, ihn einmal mit der Mutter zu besuchen, und es wurde endlich auf einen gewissen Tag ausgemacht. So gingen wir also, ich und die Mama, in aller Stille über den Marktplatz, ich dicht an den Häusern, weil ich in einiger Verlegenheit war. Siehe, da fuhren an dem neuen Logis alle Fenster auf, und der Stadtzinkenist mit all seinen Gesellen blies heraus mit Trompeten, Pauken und Klarinetten die allerneueste Ekossaise! – Du kannst dir denken, daß die Fenster der ganzen Nachbarschaft auch aufflogen und alles die Köpfe herausstreckte und die Gassenkinder zusammenliefen und jedermann fragte: ›Was ist's, was gibt's?‹ – ›Ei, der neue Syndikus läßt seiner Jungfer Braut aufspielen!‹ – Ich hätte in den Boden sinken mögen! Er hatte es freilich herzlich gut gemeint und mir die höchste Ehre antun wollen, aber ich habe es lange nicht verwinden können.

Nun gut, das war vorbei, und wir waren vergnügt und zufrieden miteinander; da meldete sich eines Tages der Herr Onkel Landschaftsassessor zum Besuch an. Dies war immer eine große Wichtigkeit. Man stach Kapaunen und bestellte Forellen; [274] in der oberen Staatsstube wurden frische Vorhänge aufgemacht und das seidene Bettkuvert überzogen. Der Vater, der sich sonst gar nie um Haushaltungssachen bekümmerte, ging selbst mit mir hinauf, um nachzusehen, ob auch alles recht im Stande sei. Ich langte eben das Lavor von echt chinesischem Porzellan aus der Kommode, ein Prachtstück, das nur bei solchen Gelegenheiten und stets mit großer Angst gebraucht wurde, weil man uns von Kindheit an fabelhafte Begriffe von seinem Wert beigebracht hatte.

›Da liegt ja ein gesiegelter Brief an Sie, Papa,‹ rief ich erstaunt, und mit einem Male fiel mir selbiger Brief ein, den der Bastel damals am Putztag gebracht hatte, und mir wurde recht bang auf das Ungewitter, das es wegen dieser Vergeßlichkeit der Mutter geben werde.

Der Vater öffnete rasch den Brief und las ihn. Sein Gesicht wurde immer ernster und nachdenklicher. ›Das kommt nun zu spät!‹ sagte er langsam und gab mir nach kurzem Besinnen den Brief. ›Da lies, Karoline, es geht dich an.‹ Und mit großen Schritten ging er auf und ab, während ich erstaunt mit klopfendem Herzen den Brief las. Aber das Herz ist mir fast still gestanden. – Was meinst du, daß in dem Brief stand? Eine förmliche Werbung des S. um meine Hand beim Vater, und ein klein Brieflein darin an mich, so schön, ich könnte es heute noch auswendig sagen. Da wurde mir's ganz dunkel vor den Augen; ich wollte nur allein sein und ging hinunter in das Schlafstüblein.«

»Aber das ist doch gar zu traurig! Was haben Sie denn getan?« – »Gebetet habe ich, Kind, wohl auch geweint, aber gebetet zu dem, der den Sturm auf dem Meer gestillt hat, und es ward auch in mir eine große Stille. Nach einer Stunde ließ mich der Vater wieder zu sich kommen. Nun hat mich's mein Lebtag gewundert, daß der Vater mir nur den Brief gezeigt und noch ein Wort über die Sache verloren hat, nachdem ich schon eine verlobte Braut war; aber es muß bei ihm eben sehr tief gegangen sein. Er sah ganz bleich, ganz verlegen und bekümmert aus. ›Karoline,‹ sagte er, ›das ist nun schlimm; mir tut's weiß Gott leid, daß es so gegangen ist, aber mein Wort –‹[275] – ›Wir brauchen uns nicht mehr zu besinnen, Papa,‹ sagte ich ruhig. ›Wenn es Gottes Wille gewesen wäre, so hätt' er's anders fügen können. Ich habe wohl einmal gedacht, ich möchte einen Mann, den ich recht, recht liebhaben könnte, so von ganzer Seele, und so will ich nun den Friedrich (so hieß mein Mann selig) liebhaben, und Gott wird mir dazu helfen.‹ – ›Du bist ein braves Mädchen, Karoline; Gott wird dir's gut gehen lassen.‹ Und der Vater gab mir zum erstenmal die Hand. Sein Wort ist auch in Erfüllung gegangen; der liebe Gott hat's uns gut gehen lassen und uns reichlich gesegnet mit Wohlstand und Herzensfreude, und acht gesunde und brave Kinder sind heute noch meines Alters Trost und Freude.«

»Aber haben Sie denn dem S. gar nicht einmal geschrieben?« – »Ob der Vater es getan hat, weiß ich nicht; für mich, als eine verlobte Braut, wäre das nicht recht gewesen. Weh getan hat mir's freilich, daß er sich so verschmäht glaubte und im Groll von uns geschieden ist; aber ein recht stolzer Mann muß er doch gewesen sein, sonst hätte er nicht so scheiden können.«

»Aber der Bräutigam, der hat doch das Opfer gewiß recht erkannt und Sie auf den Händen getragen?« – »Er war ein getreuer und rechtschaffener Mann und mein bester Freund auf der Welt, der mich sein Leben lang in Liebe und Ehren gehalten hat; aber da wärest du falsch daran, Kind, wenn du glaubtest, er sei darum ein besonders untertäniger Ehemann gewesen, weil ich zuerst kostbar tat und mir eine Weile wie ein Prinzeßlein vorkam. Nein, er ist recht der Herr und das Haupt des Hauses gewesen, und ich ihm gehorsam und untertan, wie es einer rechten Frau gebührt. Ich würde das nicht selbst sagen, aber er hat mir's noch auf seinem Totenbett bezeugt. Die Geschichte mit dem S. aber und dem Brief habe ich ihm erst anvertraut, wie er und ich gewiß wußten, daß ich den Irrtum nicht mehr beklagte. Es ist eine schöne Sache, Kind, um das eheliche Vertrauen, und eine rechte Frau wird kein Geheimnis vor ihrem Mann behalten; aber gar zu voreilig muß man nicht sein, sonst wirft man leicht ein Häkchen in des Mannes Seele, das nachher schwer auszuziehen ist.«

[276]

Hochzeit und Ehestand

Wer sich nun nach der Geschichte dieser Jugendliebe die Ahnfrau vorstellen wollte als eine Harfe mit zerrissenen Saiten, die nur noch einen wehmütigen Akkord nachklingen, oder als eine Trauerweide, lebenslang hinabgebeugt auf das Grab des versunkenen Jugendtraumes, der wäre groß im Irrtum. Die Herzen à la Werther trug man dazumal noch nicht, und wenn man sie getragen hätte, so meinte sie just nicht, daß sie alle Moden mitmachen müsse. Sie ertrug das Leben nicht, sie griff es an mit frischem Mut, und wenn das Leben ein Kampf ist, so hat sie ihn freudig und ritterlich durchgefochten.

Daß sie nicht eben sentimentaler Natur war, das beweist der erste Schmerz ihres Ehestandes, der in der Entdeckung bestand, daß ihr junger Ehegemahl – nicht tanzen könne. Neben aller Sitteneinfalt der guten alten Zeit wurden wichtige Lebensereignisse, Hochzeiten, Taufen und dergleichen stets mit entsprechender äußerlicher Feierlichkeit begangen. Hochzeiten, wo man sämtliche Gäste mit einer Flasche Malaga und einem Teller Süßigkeiten abfertigt, deren Rest der Konditor nachher wieder zurücknimmt, kannte man dazumal noch nicht. So wurde denn auch die Hochzeit der Ahnfrau mit gebührender Solennität gefeiert; alle Freunde, Verwandte und Bekannte, sämtliches Schreiberpersonal ihres Vaters waren geladen; alle Dienstleute, Wäscherinnen und Tagelöhner des Hauses, ja sogar ehemalige Mägde, nebst Eltern und Geschwistern der derzeitigen, wärmten sich am mächtigen Küchenfeuer und der reichlichen Mahlzeit, die daran bereitet wurde. Der Hofrat, ein Jugendfreund des Bräutigams, trug ein schalkhaftes Gedicht vor, auf Atlas gedruckt, aus dem ich mich nur noch der Strophe entsinne:


»Hinfüro darfst du deine Syndikussin
Ohne alle Sünde kussen.«

»Nun war am Abend,« erzählte die Ahnfrau, »wie üblich, der Hochzeitsball. Vorher hatte es seit langem keine Tanzgelegenheit gegeben, wo ich und mein Zukünftiger zusammen gewesen wären. Als nun die Spielleute ankamen, stand ich [277] mit meinem neuen Ehegemahl auf zum ersten Menuett. Als wir aber anfangen sollten, trippelte er nur so mit den Füßen hin und her. ›Ei, warum fangen Sie denn nicht an?‹ fragte ich – ich habe nämlich erst nach der Hochzeit du zu ihm gesagt. – ›Ja, tanzen habe ich noch nie können; es tut mir leid,‹ sagte er mit Lachen. Mir aber war's gar nicht lächerlich; ich schämte mich vor all meinen Gespielen, daß ich einen Mann habe, der nicht tanzen könne, und es schien mir eine rechte Unredlichkeit, daß er's nicht vorher gesagt.«

Viel Zeit zum Tanzen hat die gute Ahnfrau nun nicht gehabt, so tanzlustig auch damals die sechzehnjährige Hochzeiterin gewesen sein mochte. Als sie kaum zwanzig Jahre alt war, wimmelten schon drei Kinderchen um sie, »wären alle unter einen Korb gegangen«. Auch hat ihr der Gatte die Tanzfreude, die er nicht selbst teilen konnte, wenigstens nicht mißgönnt.

»Man wußte damals gar nicht anders, als daß Frauen in gesegneten Umständen zu Ader lassen mußten, und es war der Brauch, sich an diesem Tage etwas zugute zu tun. Man machte einen Spaziergang über Land, und es wurde etwas Besonderes gekocht. Nun war's gerade ein regnerischer Tag, als ich das erstemal zur Ader gelassen hatte. Unser guter Freund, der Hofrat, kam herüber: ›So, die Frau hat heut zur Ader gelassen; was stellt ihr denn an bei dem bösen Wetter?‹ Man ratschlagte lange hin und her; endlich sagte der Hofrat zu meinem Mann: ›Wenn du deine Geige holen wolltest, so könnten wir ein Tänzchen machen.‹ Gesagt, getan. Du mußt wissen, daß mein Mann selig prächtig die Geige spielen konnte; so holte er denn die Geige und spielte den ganzen Nachmittag auf, und ich und der Hofrat tanzten dazu. Der Doktor ist nachher freilich böse geworden, aber es hat mir nichts getan, und unser Ältester war ein Prachtkind.«

»Aber, Ahnfrau, so jung möcht' ich doch nicht heiraten!« – »Ist auch ganz und gar nicht nötig, nicht im mindesten, will dir's durchaus nicht wünschen, und deinem künftigen Mann noch weniger, wenn's gleich bei uns gut ausgefallen ist. Ich [278] bin noch ein rechter Kindskopf gewesen und habe viel Lehrgeld bezahlt. Gesund war und blieb ich, Gott Lob und Dank! Als mich die Frau Försterin in meinem ersten Wochenbett besuchen wollte und ganz leise in das Schlafzimmer trat, sah sie nur das aufgemachte Staatsbett, weit und breit keine Frau Wöchnerin. ›Wo ist denn Ihre Frau?‹ fragte sie verwundert und ängstlich die Magd. – ›Ach, die Frau sind nur hinten im Hof und schleifen ein bißchen!‹ Es war nämlich Winter, und hatte mich schon lange gelüstet nach der prächtigen Glitschbahn im Hof. Du kannst dir aber denken, daß ich scharf von den Frauen mitgenommen wurde, und mehr noch später einmal, als ich am Jahrmarkt eine ganze Tafel voll Gäste sitzen ließ und dazwischen hinein mit meinen Schulkamerädinnen auf dem Markt spazieren ging, daß die Magd daheim sich derweil nicht zu helfen wußte.«

Vergeblich waren die Lehrgelder nicht ausgegeben, und die Ahnfrau ist eine so gute und tüchtige Hausfrau geworden wie nur je eine im schönen Schwabenland, die nicht nur der Küche und dem Haus, sondern auch Gärten, Feldern, Ställen und Wiesen nebst Kühen und Kälbern vorzustehen hatte. Und doch hat sie ihren frischen Mut dabei behalten. – Die Kinder, die rasch hintereinander nachwuchsen, wurden nicht als Last und Plage, sondern recht als Gottesgabe aufgenommen. Dafür machte man auch keine Umstände mit ihnen, kleidete die Jungen in Zwilchwämser und Lederhosen, die Mädchen in selbstgewobenen Barchent, wenngleich ein Bild, das die zwei ältesten des Hauses, den Knaben im Federhut, das Mädchen in hoher Frisur und Poschen darstellt, noch Zeugnis gibt, daß man bei festlichen Gelegenheiten auch Staat mit ihnen machen konnte.

Die Garderobe vererbte sich auf das nächstfolgende Familienglied; es wurde ihm anprobiert und paßte, wie die Ahnfrau meinte, stets »wie angegossen«. Die Söhne und Töchter selbst waren gerade nicht immer dieser Meinung, und die Kleider und Wämser mit recht gesunden Flicken darauf ließen meist noch hinlänglich Raum für künftige Körperentwicklung. – Die Betten waren je für zwei und zwei, und das konnte bei Störungen [279] der geschwisterlichen Eintracht fatal werden. Der Gottlieb und der Christian zum Beispiel, später die einträchtigsten Brüder, waren in ihrer Kindheit so eine Art Don Manuel und Don Cesar und gerieten sich im wörtlichsten Sinn dergestalt in die Haare, daß die Mutter darauf kam, ihnen die Köpfe glatt abrasieren zu lassen. Sie erzählten, es sei eigen gewesen, wie dann die Hände auf den kahlen Köpfen so ausgeglitten seien.

Drangsale aller Art blieben natürlich nicht aus, Löcher und Beulen, Keuchhusten und Scharlachfieber; die Ahnfrau aber steuerte getrost auch durch solche Trübsalsfluten. Sie war einmal eben im Stall, um der Magd praktische Anleitung im Melken zu geben, da stürzte die gesamte Kinderschar mit Zetergeschrei herunter: »Der Christian hat Mausgift gegessen, der Christian hat Mausgift geschleckt (genascht)!« Schnell besonnen, reißt die Mutter den armen Sünder herbei, gießt ihm von der warmen, frischgemolkenen Milch so viel ein, als nur immer den Schlund hinab zu bringen ist, und noch ehe der in Eile herbeigerufene Arzt erscheint, ist durch die gewaltsame Explosion, die nun erfolgte, das Gift mit all seinen schädlichen Wirkungen entfernt, und der Christian bildete sich später noch etwas darauf ein, daß er in solcher Lebensgefahr gewesen.

Der Gottlieb freilich, der sah's bedenklicher an. Als er mit dem Christian einige Jahre später beim Herrn Onkel Landschaftsassessor in Stuttgart zu Gast essen durfte, wartete ihnen dieser zum Nachtisch drei Pfirsiche von einem Spalier seines Gartens als höchste Rarität auf und fragte triumphierend: »Nicht wahr, Buben, so habt ihr noch nichts gegessen?« – »Oh, warum nicht!« sagte der Christian; »'s Fritzles Käther gibt so sechs für einen Kreuzer.« Dem älteren Gottlieb, in tödlicher Verlegenheit, wie er des Bruders Taktlosigkeit beschönigen sollte, fällt endlich bei: »Ach, Herr Großonkel, nehmen Sie's doch nicht übel, daß mein Bruder so dumm ist! Aber vor drei Jahren hat er einmal Mausgift gegessen, das hat ihm vom Verstand genommen.«

Das Haus des Ahnherrn lag dicht neben dem Gasthof. So geschah es denn einmal, daß ein dicker Herr ganz patzig in die [280] Stube trat, wo eben die Ahnfrau mit den Kindern allein war. »Kann ich einen guten Schoppen haben?« – »Warum nicht!« meinte die Ahnfrau, die den Irrtum gleich gemerkt, und brachte aus ihrem Keller einen bessern, als jemals der Schwanenwirt seinen Gästen vorgesetzt. – »Ich möcht' auch ein Brot!« befahl der Dicke wieder. – »Da ist ein neugebackenes,« sagte die gefällige Hausfrau. – »Und ein Licht zu meiner Pfeife!« – »Sophie, bring Licht!« rief die Mutter. – »So, und jetzt möchte ich allein sein,« kommandierte er ferner, da sich die Jugend des Hauses mit aufgesperrten Mäulern um den ungenierten Gast zu scharen begann. – »Schon gut, will meine Kinder hinausschicken; kommt, Kinder!« Und mit unerschüttert gutem Humor verließ sie mit der jungen Schar das Zimmer. Der Dicke aber [281] stellte seinen Schoppen neben sich, öffnete das Fenster der Parterrewohnung und begann so recht behaglich seine Pfeife hinauszurauchen. Da bemerkte ihn sein Kutscher, der indes ausgespannt hatte. »Ei, Herr Amtmann, wo sind denn Sie?« fragte er erstaunt. – »Wo werd' ich sein? Im Wirtshaus um mein Geld,« schnauzte der hinaus. – »Du lieber Gott, nein! Da wohnt ja der Herr Syndikus; Sie sind um eine Tür zu weit.«

Da machte der dicke Amtmann sachte das Fenster zu, steckte die Pfeife ein und schlich sich ebenso leise hinaus, als er laut hereingetreten war, nachdem er vergeblich nach der Magd gespäht, um ihr etwa ein Trinkgeld in die Hand zu drücken. Um Weihnachten aber kam als Zeche eine Schachtel guten getrockneten Obstes für die liebe Jugend. Man sagt, der Herr Amtmann sei künftighin selbst in Wirtshäusern höflicher aufgetreten.

Mit so frischem Humor wußte sie alle Verhältnisse aufzufassen, und ich bin nicht gewiß, ob es Ursache oder Wirkung der körperlichen Rührigkeit und Lebendigkeit war, mit der die Ahnfrau durch Wochenbetten, Kinderkrankheiten und Kriegsnöte rüstig durchsegelte. Niemand sah der zartgebauten Frau an, welch kräftiges Regiment sie als Hausfrau und Mutter führte, wie sie den Töchtern tätig voranging bei Feld-und Hausarbeiten aller Art, zu denen jetzt jede Magd von Bildung noch eine Untergehilfin verlangt. Darum ist ihr auch der reiche Segen, der ihr Haus sichtbar krönte und der mit jedem Kind zu wachsen schien, nicht zugeflogen wie eine gebratene Taube, sondern zugewachsen wie dem fleißigen Winzer der edle Wein, der die Frucht seines sauren Schweißes und doch eine wundersame Himmelsgabe ist.

Abwege

So eine gehorsame und redliche Gattin die Ahnfrau war, einmal hat sie, wie sie gestanden, doch nicht ganz den geraden Weg eingeschlagen mit ihrem gestrengen Herrn (gestrenge Herren müssen sich das schon hie und da gefallen lassen), als eine schwere Gefahr das Glück und den Frieden ihres jungen Hausstandes bedrohte.

[282] »Da war einmal eine Kommission von der Regierung hier, weiß nicht mehr warum, ein paar vornehme junge Herren; die hatten auch mit meinem Mann selig Geschäfte und schienen großes Wohlgefallen an ihm zu finden. Jeden Abend holten sie ihn ab in den Schwanen, und da ihnen die Gesellschaft dort nicht vornehm genug war, schlossen sie sich in ein besonderes Stüblein ein. Nun hat es keinen rechtschaffeneren und verständigeren Mann gegeben als meinen, und kein Kaiser in der Welt hätte ihn bewegen können, unrecht zu tun oder unwahr zu reden; aber das war seine Schwäche, daß es ihm erstaunlich wohl tat, wenn vornehme Leute freundlich mit ihm verkehrten; mag vielleicht daher kommen, daß er in sehr dürftigen und bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war.

Er kannte die Karten gar nicht und hatte großen Abscheu vor dem Spiel; eines Abends aber erzählte er mir, die Herren haben ihn ein gar sinnreiches Kartenspiel gelehrt; er hätte nie geglaubt, daß es solche gebe. Das war mir nun gleich nicht recht, doch schwieg ich darüber. Als aber die Herren jeden Abend kamen und er, der sonst auf die Minute heimkehrte, immer länger mit ihnen sitzen blieb, immer erpichter auf ihre Gesellschaft wurde, immer weniger nach seinen alten, guten Freunden fragte, da wurde mir bang, und ich faßte mir ein Herz, ihm zu sagen: ›Aber, Vater, meinst du nicht, das Spiel und die vornehme Gesellschaft werden dir gar zu lieb? Hast ja selbst gesagt, die erste Spielkarte, die einer in die Hand nimmt, sei das Haar, an dem ihn der Teufel faßt.‹ Da wurde er aber recht böse. – ›Hältst du mich für so schwach, daß ich nicht aufhören könnte, wann ich will? Kann ich darum unmanierlich sein gegen die Herren, weil sie eben an dieser Unterhaltung Freude finden?‹ – Ach, er fand sie selbst daran; aber ich durfte nichts mehr sagen. Und doch bemerkte ich, daß er viel öfter als sonst Geld aus der Hauskasse nahm und es vor mir zu verbergen suchte, was sonst so gar nicht seine Art war; auch kam er oft recht übler Laune heim und war dann am andern Tag nur erpichter auf das Spiel. Es war mir eine rechte Herzensangst, und ich lag viele Nächte schlaflos in stillem Beten und im Besinnen, wie ich's wohl anders machen könnte.

[283] Mein Mann hatte seine Arbeitsstube im Seitenflügel des großen alten Baues, in dem wir wohnten, und die Herren holten ihn immer dort ab. Da schlich ich denn einmal leise, als ob es die schlimmste Tat wäre, in großer Seelenangst über den Hof zu der Zeit, wo sie allemal kamen, schloß die Vortür ab und steckte den Schlüssel ein. Mit Zittern und Zagen wartete ich hinter dem Küchenfensterlein, bis sie kamen. Sie klopften an die Tür; als sie nicht aufging, probierten sie das Schloß, eine Glocke war nicht da, und zogen zuletzt, wie's schien, verwundert und verdrießlich ab. Ich schlüpfte wieder hinüber und schloß auf. Nach einer halben Stunde kam mein Mann und sah nach der Uhr. ›Schon so spät? Ist niemand hier gewesen?‹ – ›Bei mir nicht,‹ sagte ich mit einem Herzklopfen, das mich schier erstickte. Er ging verstimmt in der Stube auf und ab. Da sprang unser kleiner Christian herein: ›Papa, gehen Sie nicht auch ein einziges Mal wieder mit in den Augarten?‹ Das kam nun eben zur guten Stunde; er willigte freundlich ein, und wir erfreuten uns miteinander an dem schönen Obst.

Am andern Tag probierte ich's wieder mit dem Abschließen. Die Fenster seiner Schreibstube gingen zum Glück nicht auf die Haustür. Die Herren kamen und zogen abermals ab; beim Weggehen begegneten sie der Magd. ›Ist der Syndikus ausgegangen?‹ – ›Nein, sie sind daheim.‹ – ›Aber die Tür ist ja verschlossen.‹ – ›Da müssen sich der Herr selber eingeschlossen haben,‹ sagte diese, die von nichts wußte; ›soll ich die Frau fragen?‹ – ›Nein, nein,‹ sagten die Kommissäre und zogen kopfschüttelnd ab. Ich machte wieder auf, und in einer Viertelstunde kam der Mann wieder, recht verdrießlich, fragte aber nicht mehr. Da kam der Hofrat, der schon lange nicht mehr eingesprochen hatte. Mir war's, als ob ihn der Himmel schickte. ›Muß doch auch einmal wieder sehen, wie's steht und ob wir nicht mal wieder ein Brettspiel miteinander machen.‹ – ›Warum nicht!‹ meinte mein Mann, schon ein wenig aufgeheiterter. ›Bring 's Brettspiel, Auguste, und laßt auch den Herrn Hofrat vom Neuen versuchen! Er wird sich wundern, wie gut sich der macht.‹

[284] Da saßen denn die zwei wieder beisammen, und ich mit meinem Strickzeug hinter dem Tisch; ich hätte weinen mögen vor Freude. – ›Eben ist mir auch der Kaufmann Mohrle begegnet,‹ erwähnte der Hofrat; ›der hat ganz gestrahlt vor Freude und wieder mehr französisch als deutsch gesprochen. [285] Die Herren Kommissäre haben ihn zu einem L'hombre eingeladen.‹ – ›Der alte Narr!‹ sagte mein Mann ärgerlich, ›weil er einmal ein halb Jahr in Straßburg gewesen, meint er heute noch, er sei ein Franzos und berufen, mit hohen Herrschaften zu verkehren.‹

Dabei blieb's aber, die Herren kamen nicht wieder; ihnen nachzulaufen, wäre mein Mann zu stolz gewesen; er blieb wieder daheim wie zuvor und war viel vergnügter als je. Die Gefahr war glücklich vorüber.«

»Aber, Ahnfrau, war das recht?« – »So ganz glaub' ich nicht, Kind; ich hab's wohl gespürt an meinem Herzklopfen und meinen großen Ängsten, daß es kein gerader und guter Weg war, wenn ich's auch gut gemeint. Aber der liebe Gott hat zum Besten gewendet, was ich in meiner Schwachheit nicht anders anzugreifen wußte. Ich hab's ihm immer nachher einmal gestehen wollen; aber wenn dann später vom Spiel und seinen Gefahren die Rede war, und er so gar vergnügt sagte: Ja, ja, mich hätte der Spielteufel beinahe auch einmal gepackt, aber ich hab's noch zur rechten Zeit gemerkt und mich frei gemacht, da fand ich das Herz nicht, ihm zu sagen, wie es zugegangen. Und als er noch in seinen letzten Stunden mit demütigem Herzen Gott die Ehre gab auch für diese Bewahrung, da fühlte ich, daß er jetzt kein Geständnis mehr brauche und daß er mein ganzes Herz und meinen Sinn bald besser verstehen werde als ich selbst.«

Kriegszeiten

Der Ahnherr war eine durch und durch konservative Natur. Die französische Revolution mit ihren Folgen erschütterte ihn fürchterlich; als er die Hinrichtung Ludwigs XVI. erfuhr, hat er sich einen ganzen Tag eingeschlossen, kein Wort gesprochen und keinen Bissen gegessen. – Da konnten die französischen Soldaten, die bald darauf das Land überschwemmten und die kleine Stadt besonders stark heimsuchten, keine willkommenen Gäste für ihn sein. Die gute Hausfrau trug oft schwere Sorge, ob sein tiefer Groll nicht einmal durchbreche durch die unbeweglich [286] ernste und feierliche Haltung, mit der er die ungebetenen Besucher aufnahm und beherbergte.

Das vielgestaltige, bewegte Leben und Treiben, das sie mit sich brachten, hatte aber, zumal für den rührigen Geist der Ahnfrau, etwas Aufregendes, das das Gefühl der Trauer und des Widerwillens nicht recht zum Bewußtsein kommen ließ. Auch müssen die zusammengewürfelten französischen Truppen oft einen komischen, buntscheckigen Anblick gewährt haben. Schuster und Schneider durften nicht feiern, Schuhe gehörten unter die ersten Requisitionen der einziehenden Truppen; auch war der Appetit vortrefflich, so viel sie auch über »die schwäbisch Fressen« schimpfen mochten. Die Ahnfrau sorgte stets, durch gute und reichliche Küche sie bei guter Laune zu erhalten.

Einmal aber hat sie viel Sorge durchgemacht. Es waren vier ziemlich unedel aussehende Offiziere im Haus einquartiert, deren freches Auftreten der Hausherr nur mit Mühe ertrug. Einer unter ihnen, der etwas Deutsch verstand und den Dolmetscher der übrigen machte, kam mit beglückender Miene zu den Töchtern des Hauses: »Heut abend groß Ball, schön Ball; Sie mitkommen, ich Sie tanzen lassen!« So tanzlustig die Mädchen auch sonst sein mochten, diesmal waren sie gar nicht aufgelegt, und der Vater erklärte kurzweg: »Meine Töchter tanzen auf keinem Franzosenball.« Der Dolmetscher verstand das schon und erklärte es den andern. Diese erhoben ein Geschrei und ein Säbelgeklirr, daß es Mutter und Töchtern angst und bange ward; endlich stürmten alle vier fort. Da kam nach einer Weile der Hofrat: »Hört, das Ding kann bös gehen! Die Offiziere haben sich beim Obersten beklagt; der nimmt's als Beleidigung der französischen Ehre und speit Feuer und Flamme. Er will die Mädchen mit Militär abholen lassen, wenn ihr sie nicht gutwillig zum Balle schickt; er droht mit Plündern und was allem. Seid gescheit und führt sie selbst hin, so wird gewiß den Mädchen kein Leid widerfahren!« Die Mutter bat, der Hofrat sprach zu; der Vater selbst sah ein, daß da nichts zu machen war, und gab zähneknirschend seine Einwilligung und den Mädchen Befehl, sich anzukleiden.

[287] Nie wohl ist ein Ballstaat von jungen Damen unlustiger ins Werk gesetzt worden als diese. Die hochgesinnte patriotische Auguste verlangte, daß man in Trauer gehen sollte; die trotzige Sophie schlug die alten Hauskleider vor, um seine Geringschätzung recht zu zeigen; Karolinchen aber meinte, man müsse sich doch anständig anziehen, es könnte dem Papa Verdruß machen. Ob sie dabei nicht ebensoviel an ihr hübsches Gesicht und an minder patriotische und mehr geputzte Freundinnen dachte als an den Papa, das sei dahingestellt. Die Schwestern ließen sich auch umstimmen und fanden in kleidsamen blauen Kattunkleidern die richtige Mitte zwischen zu festlicher und zu alltäglicher Tracht. Wie sie abzogen zum Ball, seufzte aber Auguste ganz tragisch: »Wenn das die Kaiserlichen wüßten!«

Die Offiziere hatten ihre Empfindlichkeit vergessen und erschienen im höchsten Putz, dessen ihre zusammengelesenen Uniformen fähig waren, um die Damen auf den Ball zu geleiten. Der Papa aber im feierlichsten Staatskostüm mit Haarbeutel und Buckeln war neben der Mutter schon bereit, die Töchter unter seine Fittiche zu nehmen, und schritt an ihrer Seite voran mit so tiefernster Miene, als gehe es zur Leiche und nicht auf einen Ball.

Es ging übrigens alles gut vonstatten; die Franzosen benahmen sich ganz anständig und waren flinke Tänzer, so daß die jungen Damen sich in etwas mit ihrem Geschick aussöhnten. Wenn nicht an der Tür des Ballsaals Wachen mit gezogenen Säbeln aufgestellt gewesen wären, um etwaiges Entweichen der Damen zu verhüten, so hätte man glauben können, es sei ein Ball wie ein andrer.

Ein komisches Zwischenspiel war es, als der Dolmetscher die im Gang zuschauende Magd des Hauses absandte, um seinem Bedienten zu befehlen, daß er ihm seinen Mantel bringe. – »Er spielt grad' Karten und mög' ihn nicht bringen,« meldete diese, zurückkehrend. – »Er ihn muß bringen, tout de suite!« schrie der Offizier. Die Magd kam zum zweitenmal zurück: »Es sei ja erst acht Tag', daß Sie den Mantel g'stohlen haben,« berichtete [288] sie; »da werden Sie noch nicht so dran gewöhnt sein.« Wütend, mit gezogenem Degen stürzte er hinaus, muß aber Gründe gehabt haben, seinen unverschämten Bedienten zu schonen; er kam bald zahmer zurück, mit dem bestrittenen Mantel auf dem Arm, zwischen den Zähnen fluchend: »Sacré chien! Ich muß haben meinen Mantel, ich!«

»Einmal aber«, erzählte die Ahnfrau, »hab' ich doch auch durch die Franzosen einen Hauptspaß gehabt. Was nicht Platz finden konnte von dem Volk in den Quartieren der Stadt, das speiste alles im Schwanen, die Stadt mußte Tag für Tag hundert Gulden dafür bezahlen. Nun fiel es den Herren einmal ein, sämtlichen Honoratioren der Stadt eine Ehre anzutun und sie mit ihren Frauen zur Tafel zu laden; ist eine teure Ehre gewesen, die Stadt hat's ebenfalls zahlen müssen. Du hättest meinem Mann sein Gesicht sehen sollen, mit dem er den weißen Staatsfrack mit den großen Perlmutterknöpfen anzog: der beste Wein wäre davon zu Essig worden. Mir hat das Ding ein bißchen Spaß gemacht, ich dachte, das erlebst du so bald nicht wieder; es lächerte mich, daß die Kerle so unverschämt waren, einen auf ihr gestohlenes Gut noch zu Gaste zu laden. Merken lassen durfte ich mir's freilich nicht, ich zog mich aber ganz staatsmäßig an und setzte ein Tafelaufsätzchen von Atlas auf mit Rosen.

Als wir in den Schwanen kamen, mußte man im Vorzimmer warten. Der General, der ein wenig Deutsch konnte, bekomplimentierte uns, und man mußte sich paarweise aufstellen; der General schritt voran in den Speisesaal mit der Frau Oberamtmännin am Arm; ich glaub', ich hätt's auch nicht übel genommen, wenn er mich geführt hätte, obgleich es ein Franzose war. Die Tafel war prächtig gedeckt, aber nur für die Damen. ›Die Damen nehmen Platz!‹ kommandierte der General, das geschah; was aus den Herren werden sollte, wußte man noch nicht. ›Jeder Herr stellt sich hinter den Stuhl seiner Dame!‹ kommandierte er wieder; die haben aufgeschaut! Das war noch keinem von unsern Männern passiert, daß er hinter seiner Frau Stuhl stehen mußte! Der General aber fing [289] an, die andern mußten nachfolgen; die Offiziere stellten sich hinter die ledigen Damen, wir hatten unsre Mädchen daheim gelassen. Ich setzte mich, als müsse das so sein; konnte aber gar nicht aufsehen vor Lachen, wenn mir's einfiel, daß mein eigener leiblicher Mann, den wir daheim alle ehrten und bedienten, wie sich's für den Herrn vom Hause gehört, da hinter mir stehe wie ein Bedienter. Ich bot ihm ganz vornehm und gnädig den Suppenteller hinauf; da stand er, bolzgerade wie ein preußischer Grenadier, und hatte er vorher ein Gesicht geschnitten, so schnitt er jetzt noch ein ärgeres; ich guckte ihn nur ein klein wenig von der Seite an, und wie er sah, daß mir's so lustig vorkam, so lächerte es ihn auch ein klein bißchen; wie er mir aber den Teller wiedergebracht hatte, ward es ihm doch zu bunt, er ging davon und suchte sich in der Nebenstube etwas zu essen. Daheim sprach er kein Wörtchen davon; wenn er aber guter Laune war, so durft' ich ihn später wohl daran mahnen: ›Weißt nimmer, Alter, wie du mir so nett den Teller präsentiert hast?‹«

Auch traurigere Szenen gingen in dieser bewegten Zeit an dem hellen Blick der Ahnfrau vorüber. Im Gasthof neben ihr hatte sich ein französischer Oberst einquartiert mit seiner jungen Frau, einer feinen, schönen Dame von so ganz anderm Aussehen als die sonstigen Mamsellen, welche die glorreiche Armee zu begleiten pflegten. Der Oberst wurde weiter beordert und mußte die arme junge Frau allein krank zurücklassen. Das Herz der Ahnfrau war von tiefem Mitleid mit der Fremden bewegt, der es in dem geräuschvollen Wirtshaus gerade an der Pflege fehlte, die Kranken am wohlsten tut. Sie besuchte sie täglich und opferte die noch gesparten Schätze ihrer Speisekammer, um ihr Erquickung zu verschaffen. Sie verstanden einander kein Wort; aber die Fremde konnte doch die Sprache der treuen deutschen Augen lesen und die sanfte Pflege der geschickten Hand empfinden, und sie schloß sich mit kindlicher Innigkeit an sie an. Stundenlang saß die deutsche Frau schweigend am Bette der Kranken, deren schwarze Augen so innig vertrauend in ihre blauen blickten, daß sie wohl glaubte, [290] sie denke vielleicht einer fernen Mutter dabei. Der Zustand der Leidenden verschlimmerte sich rasch, und ihr Ende nahte sichtlich, noch ehe der abgeschickte Bote den Obersten erreichen konnte. Aber ein rastloses Verlangen schien die Sterbende zu quälen, und soweit die Ahnfrau mit des Arztes Hilfe sich mit ihr verständigen konnte, galt es mehr noch dem letzten Trost ihrer Kirche als dem abwesenden Gatten.

Da war guter Rat teuer; weder ein Feldprediger noch sonst ein katholischer Geistlicher war in der Nähe zu finden, und einen protestantischen wies sie mit wahrem Abscheu zurück. Schon saß der Tod auf ihren Lippen und noch diese peinliche Unruhe im Auge. Die gute Ahnfrau konnte sie nicht so sterben lassen. Da nahm sie das große, schöne eiserne Kruzifix, [291] das als wertes Erbstück in der Familie bewahrt wurde, und brachte es als letzten Trostversuch der Kranken. Da leuchtete das erstorbene Auge auf, und ihr Erstaunen, daß auch die Ketzerin das heilige Bild mit Ehrfurcht und Andacht betrachte, zeigte, welch seltsame Begriffe die arme Frau vom Glauben der Fremden gehabt. Man mußte das Kreuz auf dem Bett ihr vorhalten, sie faltete die Hände und flüsterte mit leiser Stimme einige Worte – wohl ihre Beichte, und ihr seliges Lächeln im Tode sagte, daß ihr auch die Absolution nicht gefehlt. – Die Ahnfrau schmückte sie für den Sarg, in dem erst der verzweifelnde Gatte sie wiedersah; sie hob von ihren prächtigen schwarzen Haaren zum Andenken auf und pflegte treulich das einsame Grab.

Allmählich verlief sich der Franzosenstrom; der Ahnherr lebte auf im Befreiungskrieg. Russen, Österreicher, Preußen zogen als willkommene Gäste durch. Mit den Österreichern stand sich die Familie sehr gut, und die Ahnfrau berichtete sogar gern, was für vornehme Herren bei ihnen gewohnt hatten und wieviel Ehre sie ihr erwiesen.

»Einmal war ich weit draußen ganz am Ende der Markung auf unserm Acker und habe Ölmagen (Mohn) gebrochen, den größten Sack voll, und wartete nur noch auf den Knecht, der ihn heimfahren sollte. Da kam der Herr General, der damals bei uns im Quartier war, in seiner prachtvollen Chaise dahergefahren; all mein Lebtag habe ich kein so flottes Gefährt mehr gesehen, innen mit Samt, außen glänzend wie ein Spiegel mit gemalten Wappen und Goldverzierungen. ›Was schaffen S' da allein?‹ fragte er. ›Fahren S' mit mir heim!‹ – ›Danke, Euer Exzellenz,‹ sagte ich, ›ich kann den Sack da nicht allein stehen lassen; wo alles voll Soldaten läuft, da ist nichts sicher.‹ Er lachte, und ich merkte, daß ich einen Reißer gemacht. ›Wissen S' was?‹ sagte er gutmütig, ›den Sack packt mein Kutscher hintenauf, und Sie sitzen 'rein.‹ Mußte der Kutscher den garstigen Ölmagensack hinten auf die Staatskarosse packen! Er hat wahrscheinlich tüchtig geflucht, aber auf slowakisch, ich hab's nicht verstanden, und ich fuhr in Pracht [292] und Herrlichkeit wie eine Prinzessin mit dem General bis vors Haus, daß alles die Fenster aufriß.

Ein andermal ist mir das Staatmachen nicht so gut bekommen. Ich war im Flachsrupfen auf dem andern Acker, auch weit genug von der Stadt; dazumal, wo man noch sparen konnte, trug man in besseren Kleidern vorn, wo es die Schürze bedeckte, ein eingesetztes Stück von selbstgewobenem Barchent, um Stoff zu ersparen. Da es nun sehr heiß war und die Sonne mir auf den Rücken brannte, zog ich, um das Zeug zu schonen, mein Kleid verkehrt an; das hatte ich aber im Amtseifer ganz vergessen. Wie ich nun eben fertig war, kommt der Graf Serbeloni daher, der in unsrer Nachbarschaft einquartiert war und oft zu uns kam. ›Ah, Madame,‹ sagte er, ›wir gehen einen Weg, Sie erlauben, daß ich Ihnen meinen Arm anbiete.‹ Nun war ich zwar das nicht gewöhnt, aber ich sah es immer gern, wenn die Herren galant sind; so ließ ich mir's gefallen. Zuerst war ich in Verlegenheit, dann aber unterhielt ich mich sehr gut mit dem Herrn Grafen und zog in einer Glorie an seinem Arm durch die Stadt; ich hörte wohl die Leute hinter uns lachen, aber ich dachte, das geschehe aus lauter Verwunderung. Wie wir aber ans Stadtschreibers Haus vorbeikommen, springt das Nanele herunter und winkt mir; ich will's alleweil noch nicht verstehen, bis sie mir in die Ohren düsemet (flüstert): ›Ach, Frau Syndikussin, wissen Sie's denn nicht, daß Sie Ihren Rock verkehrt anhaben und den Barchentpletz hinten?‹ Da war meine Glorie zu Ende; ich versicherte dem Herrn Grafen, daß ich da drin ein Geschäft habe, und lief recht künstlich rückwärts, daß er den Schaden nicht merken sollte; weiß nicht, ob er ihn wahrgenommen. Ich ging eine gute Weile nachher immer durch Hintergäßchen, und mein Mann, der mich vom Rathaus aus so in Pracht und Eitelkeit hatte daherziehen sehen, hatte sein Pläsier an meiner Demütigung; wenn ich ihn mit dem Franzosengastmahl necken wollte, so sagte er: ›Sei nur still, sonst komm' ich mit dem Grafenspaziergang!‹

Galante Leute sind freilich auch oft die Franzosen gewesen. Da drüben bei den Jungfer Schneidemänninnen war ein gar [293] netter, artiger Leutnant einquartiert, er führte sie auch auf den Ball; sie waren aber dazumal schon alt und alleweil wüst; so wollte, außer dem Leutnant, der sie gebracht, kein Mensch mit ihnen tanzen. Der wußte in seiner Herzensgüte gar nicht, was er ihnen alles zuliebe tun solle; er brachte ihnen Braten, Biskuit und zuletzt gar Kirschen, was noch die größte Rarität war. Die Jungfern hatten sich unten im Saal gesetzt; wie sie den Leutnant mit den Kirschen sehen, schlägt Gustel, die älteste, ihr weißes Ballkleid sorgfältig hinauf, um es zu schonen, ebenso den weißen Rock darunter, bis ein grau kölschener Rock kam, und schrie dem Offizier aus allen Kräften, daß man's durch den ganzen Saal hörte, zu: ›Da her, Herr Leutnant, da her!‹ Nun hatte er genug und ließ sich nimmer sehen.

Heutzutage sind freilich die Frauenzimmer feiner,« schloß die Ahnfrau; »wenn ich aber allemal wieder in die Garnisonsstadt komme und sehe die Fräulein so an der Wachtparade und auf Spaziergängen an den Offizieren vorbeitänzeln und hinter den kleinen Sonnenschirmchen so schalkhaft hervorgucken, so muß ich allemal denken, das heißt eben auch: ›Da her, Herr Leutnant, da her!‹, nur in feinerer Manier als bei der Gustel Schneidemännin.«

Am Ende aber zog der willkommenste Gast von allen, der goldene Friede, und mit ihm Freude und Gedeihen in das vielbedrängte Haus des Ahnherrn ein. Die vergrabenen Kleinodien und Schatzgelder wurden aus dem Keller geholt, Gärten und Felder mit neuem Fleiß und Eifer bestellt. Statt fremden Kriegsvolks rückten jetzt als fröhliche Einquartierung die studierenden Söhne des Hauses mit einem Geleite flotter Kameraden ein, die alle im gastlichen Hause willkommen waren.

Dazwischen kamen kleine und große Herzensangelegenheiten der aufgeblühten Töchter, die nicht so tragisch endeten wie der stille Herzenstraum der Mutter. Die Söhne gingen ihren Weg, erstarkend in eigener Kraft, und der Ahnherr erlebte noch die Freude, sich als Gast des eigenen Sohnes zu sehen. Fast schien es, als ob die alte Geschichte vom Kroatenähne noch einmal in der Familie neu aufgelegt werden sollte. Unter den Kaiserlichen, [294] die im Quartier gelegen, war auch ein österreichischer Hauptmann gewesen, der in seiner treuherzigen, etwas linkischen Weise den Töchtern des Hauses viel Aufmerksamkeit bewiesen hatte. Mit August, dem jungen Theologen und Vetter des Hauses, dem stillen Verlobten der jungen Karoline, hatte er sich sehr befreundet; doch dachte man kaum mehr an ihn, als nach Beendigung des Kriegs ein Brief an Vetter August kam. »Mein lieber Herr Geistlicher! Ich möchte gern eine heiraten von Ihren Jungfer Cousinen; die welche weiß ich gerade nicht; nicht die, welche Sie selber wollen; sie gefallen mir aber alle, und seien Sie so gut und halten mich an bei derjenigen. Ich sei ein braver Soldat, ein schöner Bursch und ein ehrlicher Kerl, und für den Fall, daß tot, ist gut gesorgt.«

[295] Dieser Antrag machte den drei Mädchen viel Spaß; jede wollte der andern die Ehre lassen, bis endlich Klärchen, die jüngste, auftrat. Man hatte sie von den scherzhaften Beratungen ausgeschlossen; sie hatte aber das Nötige an den Türen erhorcht und alles für Ernst gehalten. Sie erklärte mit vielem Edelmut, wenn keine von den Schwestern wolle, so müsse eben sie das Opfer werden und den Österreicher nehmen, es könnte ja sonst wieder Krieg geben. Sie war recht gekränkt, daß man ihr Opfer verschmähte und noch obendrein ihren Edelmut verlachte. Ich glaube, der Österreicher hat keine Antwort erhalten.

Witwenstand und Tod

Durch all dies Keimen, Treiben und Reifen in den gesunden Ästen und Zweigen eines kräftigen Stammes wehte ein kalter Hauch: der Todeshauch, und der Hausvater, des Hauses Stütze und Krone, sank nieder vor seinem eisigen Wehen.

Die Ahne hatte in jungen Jahren schon sich vor diesem Feind fürchten lernen; ihr Mann war groß und hager, und man hielt ihn für schwindsüchtig bald nach dem Beginn ihres Ehestandes. »Das war eine schwere Sorge, die auf mir lag,« sagte sie später oft und erzählte dabei wohl einen seltsamen Traum, der ihr sehr wichtig erschien, wie denn überhaupt in ihrer klaren, frischen Seele doch Raum blieb für das geheimnisvolle Gebiet der Träume und Ahnungen. »Wie ich so schwer bekümmert war wegen meines Mannes Brustleiden und fürchtete, er sterbe vor der Zeit von mir und den kleinen Kindern weg, da träumte mir einmal, ich gehe in tiefer Nacht allein auf einem großen, weiten Kirchhof; eine schauerliche Gestalt kam auf mich zu; ich wußte, das war der Tod, und ich schrie in großer Angst: ›O Tod, hol meinen Mann nicht!‹ Der Tod sagte: ›Wenn du mich dreimal um der Wunden Christi willen bittest, so will ich ihn verschonen.‹ Da hob ich an und bat ihn einmal und bat ihn zweimal; wie ich ihn aber zum drittenmal bitten will, so schreit mein kleiner Konrad, und ich wache auf.«

[296] Damals war ihr der Gatte erhalten geblieben; aber als er starb mit sechzig Jahren, meinte sie doch: »Vielleicht er hätte doch noch länger gelebt, wenn ich den Tod zum drittenmal hätte bitten können.«

Der Tod des Gatten war der Wendepunkt im Leben der Ahnfrau; ob auch ihre innere Jugend, ihr lebensvoller Geist sich nach langer und tiefer Trauer wieder aufrichtete an den Freuden und Pflichten der Mutter: es war doch nicht mehr das volle Tageslicht, es war eine friedliche Dämmerung, in der ihr langes und reiches Leben nun verfloß.

Die wohlerzogenen stattlichen Töchter ließ sie ziehen an der Hand der Erwählten, um den eigenen Herd zu gründen; sie durfte ihr Witwenstübchen schmücken, um die blühenden Bräute der Söhne zu empfangen. In jeder Gegend des Landes, im Neckartal, auf der Rauhen Alb, in der Residenz, in abgelegenen Pfarrdörfern stand da oder dort ein eigen Haus für sie, ein Haus, in das sie ihre lakonischen Brieflein, ihre Grüße, ihre Ratschläge sandte; wo sie verweilte mit ihrer Liebe, ihren Sorgen, mit Mitleiden oder Freude.

Sie selber ist allein geblieben, allein mit ihren Erinnerungen, ihrer geistigen Kraft und Regsamkeit. Das große, stattliche Haus diente andern Zwecken, andre Bewohner gingen ein und aus; sie zog sich in ein bescheidenes Quartier zurück, das aber trotz seiner Mansardenwände, an denen die Bilder auf ergötzliche Weise in der Luft baumelten, mit seinen Familiengemälden, der wunderlich gestalteten Spieluhr, den mannigfachen Geräten aus alter Zeit: Tresoren, Taburetten und Gueridonen, eine äußerst gemütliche, unterhaltende Heimat für jung und alt war.

Sie lebte allein mit einer alten Dienerin, die mit den Tugenden auch alle Fehler alter Mägde in sich vereinigte und ernstlich Miene machte, ihre Herrin zu beherrschen. Von den Söhnen und Töchtern, die längst in Ämtern und Würden standen, sprach Susanne stets in höchst vertraulicher Weise: »Warum schreibt wohl der Gottlieb so lange nicht? Ich mein', der Christian dürft' sich auch um einen besseren Platz melden. [297] Jetzt sollt' aber die Auguste doch ein Kindsmädchen nehmen!« Auch waren alle einlaufenden Familienbriefe stets Gemeingut zwischen ihr und der Herrin.

Eine sparsame Seele war sie, die gute Susanne, im Interesse der Herrschaft noch viel mehr als in ihrem eigenen. Sie war imstande, mit der Frau zu grollen, wenn sie ein halbes Schwefelholz weggeworfen, mit dem man doch noch »das schönste Licht« hätte anzünden können, und als ihr diese befahl, dem Boten, der die glückliche Geburt eines Enkels anzeigte, eine noch vorhandene Bratwurst zu geben, ging sie brummend hinaus: »Soll dem Kerl die schöne Wurst geben! Hätt' meine Frau noch mit abfergen (abfertigen) können; so kommt man zu nix!« – Wie sie's angegriffen, sich aus ein Paar abgelegten schwarzen Beinkleidern des Gottlieb noch einen »Gottestischrock« zu machen, weiß ich nicht. Schade, daß sie nicht zum Besten der edlen Schneiderzunft das Geheimnis veröffentlicht hat!

Der guten Susanne war ein schweres Ende beschieden; eine qualvolle, langwierige Krankheit kürzte den Abend ihres tätigen Lebens noch vor der Zeit ab. Die Ahnfrau wollte nichts davon hören, sie in einem Spital unterzubringen. »Sie hat Leid und Freud' mit mir geteilt nicht wie eine Fremde, so soll sie auch nicht sterben unter fremden Händen.« Und so pflegte sie ihrer wie einer Schwester, nicht wie einer Magd. Und als sie die treue Gefährtin nach langen schweren Tagen und Nächten in den Sarg gelegt, behielt sie als einzige Hilfe und Dienerin deren junge rasche Nichte, ein frisches Bauernmägdlein, die sie sich nach eigenem Sinn zustutzen konnte.

Ihr stilles Leben war darum kein einförmiges. Der behagliche Wohlstand, die Frucht des Fleißes und der Sparsamkeit ihrer jungen Jahre, machte ihr möglich, vielen zu dienen und zu helfen. Eingewachsen in alle Verhältnisse des Städtchens, das ihre einzige Heimat war, ja in die der ganzen Gegend, wurde sie für Hohe und Niedere eine treue Ratgeberin.

Da kam einmal die alte Jungfer Kiliane aus der Nachbarschaft, um sich in einer Magdangelegenheit zu besprechen. [298] Dann kam der reiche Bauer Geiger vom nächsten Dorf: »Jetzt, Frau Syndikussin, muß ich Sie auch um guten Rat fragen. Mein großer Bub will heiraten.« – »Nun, Geiger, das ist kein Unrecht; ich glaube, Euer großer Bub' ist dreißig Jahre alt.« – »Ja, aber 's Mädle hat nix.« – »Gar nichts?« – »Ha, das heißt nicht viel.« – »Ist sie aber brav?« – »Grundbrav und fleißig, aber wir wollen's nicht leiden.« – »Aber wenn sie so brav ist, wird's besser sein als viel Geld.« – Nachdem die Ahnfrau lange die schönsten und bündigsten Beweisgründe aufgeboten hatte, um den hartnäckigen Vater umzustimmen, begann dieser wieder: »'s wär' alles recht, Frau, 's hat aber nur nocheinen Haken.« – »Ja und der wär'?« – »'s Mädle will net, sie nimmt einen andern.« – »Er dummer Geiger, was läßt Er mich dann so lange schwatzen?«

Nicht immer war der gute Rat der Frau Syndikussin so vergebens aufgewandt, und wo Fremde sein nicht bedurften, da gab's in der eigenen Familie Gelegenheit genug. Da kamen Briefe vom Ober- und Unterland mit Botschaften, wie da ein Urenkelein geboren, dort ein Enkelsohn konfirmiert, hier eine Enkelin Braut geworden, und die freigebige Hand der Ahnfrau durfte nicht ruhen. Wie ein Speditionshaus sah vor Weihnachten ihre Wohnung aus, bis all die zahlreichen Schachteln und Schächtelein ausgesandt und alle bedacht waren: die Enkel mit Backwerk und blanken Talern, die Söhne mit auserlesenem Kirschengeist, die Sohnsfrauen und Töchter mit feinem Flachs.

Dann kamen wieder Danksagungsbriefe, Neujahrs-und Geburtstagsgratulationen; zierliche Gedichte von den Enkelsöhnen, die sie, dankbar für den guten Willen, meist ungelesen beiseite legte und honorierte; schöne Handarbeiten der Enkeltöchter, mit denen aber die gute Ahnfrau nicht so recht wußte, wie sie dran war; denn in ihrer Zeit waren sie noch nicht im Schwang. So begegnete es ihr, daß sie einen gestickten Schemel als Zierat auf die hohe Kommode stellte; einen niedlichen Fußsack, der sie hätte im Winter warm halten sollen, als Bildnis an die Wand hängte und eine Tischdecke, die ihr gar zu [299] schön zu diesem Zweck erschien, als Schal umnahm. Sie selbst lachte am herzlichsten, wenn sich der Irrtum herausstellte.

Auch kamen als noch frischere Lebenszeichen die Kinder selbst und brachten ihre Freuden und Sorgen zu der stets heiteren, stets geschäftigen Ahnfrau, und die Besuche waren, wenngleich eine Freude, so doch auch eine gewaltige Unruhe für die alte Frau, die auf Ehre und Reputation hielt und namentlich vor den Sohnsfrauen gern ihre Kochkunst in vollstem Glanz zeigte, zu welchem Ende denn auch stets in solchen Zeiten ein aufgeschlagenes Kochbuch auf ihrem Nachttisch bereit lag.

Aber recht fröhlich und gemütlich saß sie dann auch wieder im Kreis der Ihren und nahm teil an Taufen und Hochzeiten, Examen, Krankheiten und Genesungen. Für alle Fälle hatte sie ein Geschichtchen in Bereitschaft; jede Begebenheit weckte eine Jugenderinnerung in ihr, da sie, wie die meisten alten Leute, ein viel lebendigeres Gedächtnis hatte für lang' verflossene Jugendjahre als für den eben vergangenen Tag.

Ich habe schon oft gefunden, daß es, selbst in jungen Jahren, leichter sein muß, von einem vollen, befriedigenden Dasein zu scheiden als von einem verfehlten, das doch mehr Todessehnsucht wecken sollte. Ich habe zärtliche Mütter, geliebte Gattinnen mit getrostem Mut dem Tod entgegenblicken sehen; während abgelebte Greise, während einsame Jungfrauen mit getäuschtem Herzen, mit siechem Körper sich krampfhaft ans Leben festklammerten, als ob sie von dem dürren Strauch noch die Blüten hofften, die der Lenz versagt. Nun war der Ahnfrau ein volles, befriedigtes Dasein beschieden gewesen, und so viel Liebes das Leben für sie hatte, so war doch keine Spur von der krankhaften Lebensliebe bei ihr, wie sie oft alten Leuten innewohnt. Sie hatte sich nie weichlich abgewandt von den bitteren Tropfen in ihrem Lebensbecher, darum blieb ihr die Bitterkeit nicht erst auf die Hefe erspart. Wie sie klaren Blickes ins Leben gesehen, so blickte sie ruhig dem Tod ins Auge. Sie hatte neben allem Wirken und Sorgen des Lebens ihr Herz lange heimisch gemacht in dem Lande, zu dem er sie führen sollte.

[300] Von treuen Händen gepflegt, segnend und gesegnet, starb sie, ohne die Leiden eines langen Lagers erfahren zu müssen. Der Mund, der im Leben so reich war an heiteren Scherzworten, floß im Tode über von wunderbaren, herrlichen Segensgrüßen für die Ihren, zum klaren Beweis, daß auch bewegte Wasser tief gründen können. »Aus Gnaden seid ihr selig worden« war der Spruch, den sie sich als Leichentext ausgebeten hatte.

Das war die Ahnfrau im Leben und im Tode. Ich kann nicht erwarten, daß ihr anspruchsloses Bild für andre den Reiz hat, der es für die Ihrigen bekleidet; wenn aber diese einfache Schilderung da und dort eine ähnliche, liebe, verehrte Erscheinung ins Leben ruft, so hat sie ihren Zweck erfüllt.

Gestalten aus der Alltagswelt

2. Aus dem Leben einer Hausfrau der neuen Zeit

Ihr habt gut reden und rühmen von den Hausfrauen der alten Zeit. Damals war's noch ein Spaß, Hausfrau zu sein, trotz aller Ochsen und Kühe, Garten, Wiesen und Felder, die [301] zu einem rechtschaffenen Hausstand gehörten. Wenn eine Frau ihre Kinder so weit gebracht hatte, daß sie auf eigenen Füßen stehen und gehen konnten, ihnen Strümpfe und Hosen flickte, Mann und Gesinde mit Nahrung und Kleidung versorgte und ein scharfes Auge auf die Mägde hielt: so konnte sie ihr Haupt ruhig niederlegen, auch da und dort eine Kaffeevisite mit gutem Gewissen mitmachen. Die Exziehung war die einfachste Sache von der Welt. Mit dem Studium der Individualitäten befaßte man sich nicht im mindesten; die geistige Ausbildung der Knaben überließ man getrost dem Präzeptor und seinem Stock, der sittlichen half man mit ein paar gesunden Püffen und Schlägen nach und blieb im übrigen gut Freund.

Die Erziehung der Mädchen vollends gab sich ganz von selbst; im zehnten Jahr mußten sie anfangen ihre Haare selbst zu flechten, die kleinen Geschwister hüten und in den Keller gehen. Allmählich stiegen sie vom Strickstrumpf zum Nähzeug auf, vom Begießen zum Bepflanzen der Gartenländer. Waren sie im vier zehnten Jahr konfirmiert, so war die Mutter höchlich erleichtert: »So, jetzt hat das Gelerne ein Ende, und das Mädchen ist auch zu etwas zu brauchen.« Nun wurde sie erst recht, nach gut schwäbischem Ausdruck, »im Haus herumgepudelt«, in Küche und Keller, Hof und Garten, im Stall und auf den Feldern. Wollte man ihrer Ausbildung noch den letzten Schliff, die höchste Vollendung geben, so schickte man sie auf ein Jahr zu irgend einer Frau Base oder Tante, die als eine besonders böse und genaue Frau bekannt war (welche zwei Begriffe sonderbarerweise sehr häufig in einen zusammenfallen) und die es vortrefflich verstand, »den jungen Mädchen den Rost herunter zu tun«; hernach noch ein halb Jahr nach Stuttgart, um »das Haubenstecken« zu lernen, und damit war's getan, und die Rike oder Mine konnte jeden Tag, wenn sich ein passender »Anstand« zeigte, in die Fußstapfen der Mama treten; im schlimmsten Fall gab sie seinerzeit eine gute Tante ab, die man »ins Haus metzgen« konnte, oder eine brauchbare Haushälterin für einen ansehnlichen Witwer.

Dieses solide eherne Zeitalter ist nun vorüber; wir sind im [302] bleiernen, dessen Gewicht so schwer auf der Menschheit lastet, daß sie das Blei in eine Menge von Formen und Gestalten verarbeitet, um es tragbarer zu machen. Sonst war der weibliche Beruf der einfachste, der gar kein Besinnen brauchte; jetzt sind fast die Männer zu beneiden, die doch die Wahl unter bestimmten Brotstudien und eine mehr abgegrenzte Bahn zu durchlaufen haben, während eine töchterreiche Mutter ihrer Seele keinen Rat weiß, für welche Art von Zukunft sie ihre armen Mädchen zustutzen soll, wenn sie sie nicht dereinst nach Kalifornien schicken will.

Doch ich wollte keine kulturhistorische Abhandlung liefern, gewiß nicht! Darum bitte ich den geneigten Leser, mir in die Stube einer Hausfrau der neuen Zeit zu folgen (ein Boudoir besitzt sie nicht), und er wird die Drangsale einer armen Frau begreifen, die der Zeit Rechnung tragen muß.

Und es ist noch eine recht gute Frau, bei der ich euch einführen will, keine Emanzipierte und kein Blaustrumpf. Sie hat Mann und Kinder von Herzen lieb und nach achtzehnjährigem Ehestand noch hie und da eine wehmütige Sehnsucht nach den idyllischen Freuden ihrer Brautzeit. Ihr Mann ist der respektierte Herr des Hauses, und ihre Kinder sind ihres Herzens Stolz und Freude, wenn sich dieselbigen auch teilweise etwas tölpelhaft gebärden würden, falls sie, gleich den Gracchen, anstatt des Schmuckes vorgezeigt werden sollten.

Frau Bernhard steht zu einer ziemlich frühen Stunde auf, denn ein schweres Tagewerk liegt vor ihr. Morgens hat sie ihre Einsammlungen für den Kreuzerverein für Schleswig-Holstein zu machen, eine Arbeit für die indische Missionslotterie soll vollendet werden; nachmittags ist eine Sitzung des Vereins für verwahrloste Kinder; abends Arbeitskränzchen des Frauenvereins für arme Wöchnerinnen; daneben trifft sie die Runde der Krankenbesuche und die Visitation der Suppenanstalt. Das alles ist nur das Departement der auswärtigen Angelegenheiten, die inneren sind gar nicht aufzuzählen.

Es ist noch eine Weile still im Haus; die liebe Jugend schläft, die Köchin besorgt das Frühstück und die Kindsmagd [303] den Kleinen. Jetzt könnte sie eben noch die Statuten eines Beschäftigungsvereins für brotlose Mädchen aufsetzen und daneben auch den jüngsten poetischen Versuch ihres ältesten Sohnes rezensieren. Schon ist sie an Paragraph 3 der Statuten: »Die beaufsichtigenden Frauen erbieten sich zu mütterlicher Leitung und Anweisung der Mädchen«, da erschallt die etwas gellende Stimme ihrer Sophie aus dem Bett: »Mutter, mein Strumpf hat ein Loch.« – »Schon wieder! Mädchen, wie greifst du's an, alle Tage zwei zu zerreißen? Bäbele gibt dir andre.« – Die etwas kleinere Kornelie kann die Schuhe nicht anziehen. »Natalie soll dir helfen.« – »Die Natalie singt schon eine halbe Stunde; es ist heute Probe des Vereins für ursprüngliche Volksmelodien,« bemerkt der eintretende Ehemann, der einen zerrissenen Überzieher in der Hand hält. »Vor acht Uhr solltest du mir die Knöpfe da annähen; so kann ich ihn zu keinem Krankenbesuch mehr anziehen.« Während die bedrängte Frau die Knöpfe verspricht und die Köchin an die Schuhe der seufzenden Kornelie kommandiert, rückt Gustav an mit dem »Zumpt« in der Hand: »Mutter, überhör mich!« Mechanisch nimmt sie das Buch, und der Bube leiert mit heller Stimme:


»Viele Wörter sind auf is
Masculini generis ...«

Jetzt aber schreit der Kleine, dem das Bäbele den Mund mit dem Brei verbrannt hatte; die Mutter läßt den »Zumpt« fallen und eilt dem Kind zu Hilfe; der Mann beordert das Frühstück herein; die krawallierende Jugend sammelt sich um den Tisch, die Mutter erscheint endlich auch, nachdem sie »nur geschwind« die Milchfrau bezahlt und den Buben der Frau Registratorin drüben abgefertigt hat, der schon in aller Frühe gekommen ist, um die »Worte einer Frau an Frauen über ihre Stellung zur Gegenwart« für seine Mutter zurückzufordern. Auch Natalie erscheint und muß eilig Kaffee trinken, um zeitig in die englische Stunde zu kommen; Gustav kündigt an: »Mutter, du mußt mich dann erst noch zwei Seiten im ›Kärcher‹ überhören,« und der zehnjährige Emil wird bittstellig um eine gestickte Fahne für [304] das bevorstehende Schützenfest für Knaben; die dreizehnjährige Mathilde hat heute die erste Abendstunde in der Experimentalphysik, und Natalie erinnert die Mutter, vom Einsammeln für die Holsteiner doch ja noch zeitig in die Vorlesung über alte Hünengräber zu kommen.

Eine einzige friedliche Viertelstunde rettet die vielgeplagte Frau für das Morgengebet. Es sind auch Worte einer Frau, welche sie heute liest, das Lied der frommen Schweizerin Anna Schlatter, und die Strophe:


Und drängt mich der Geschäfte Last,
Will ich entlaufen dir,
Der du den Sturm gestillet hast,
Still auch den Sturm in mir!

ist ihr aus der Seele geschrieben und hilft ihr zu etwas Ruhe und Sammlung. Aber das äußere Leben mit seinen Forderungen fällt alsbald wieder gewaltsam über sie her.

Wir wollen sie nicht den ganzen Tag auf ihren Gängen begleiten durch Armenhütten, Krankenstuben, Vereinssitzungen, Vorlesungen; in die Lehrstunden der Kinder, denen in neuerer Zeit eine gewissenhafte Mutter hie und da beiwohnen muß; in die Küche, wo das Sauerkraut angebrannt ist und die Suppe um ein Haar ungesalzen auf den Tisch gekommen wäre; in die Stube, wo Kornelie eben im Begriff ist, das Brüderlein aus lauter Liebe mit einem Stück Brot zu Tod zu stopfen, – bis sie am Abend endlich erschöpft neben ihrem gleichfalls erschöpften Mann auf dem Sofa sitzt.

»Aber hör, Liebe!« meint der, »so kann's doch unmöglich fortgehen; du gehst an Leib und Seele zu Grund.« – »So sag mir,« fragt die bedrängte Frau, »wo ich abbrechen soll? Die Schleswiger Sammlung kann ich unmöglich aufgeben.« – »Nein, die nicht, das ist eine deutsche Sache!« – »Die Krankenbesuche auch nicht, du bist ja Arzt und sagst selbst, daß sie manchmal wohltätig sind.« – »Manchmal, meine wegen; aber die Vorlesungen?« – »Aber, Lieber, du weißt doch, daß ich an meiner Ausbildung noch manches nachzuholen habe; zudem [305] schickt sich's nicht, ein junges Mädchen allein gehen zu lassen, und für Natalie ist es unerläßlich; du kennst ja die Ansprüche, die man gegenwärtig an junge Mädchen macht.« – »Schon gut! Aber die Experimentalphysik und die italienische Konversationsstunde für Mathilde neben den vielen andern Lektionen ...« – »Aber siehst du denn nicht ein, daß die Mathilde nicht hübsch ist? Mitgeben können wir ihr nicht viel, so bleibt nichts übrig, als sie zur Gouvernante auszubilden, und sie hat noch nicht die Hälfte der Fächer gehört, die dazu erforderlich sind, zumal sie nicht musikalisch ist, worin Natalie einen so großen Vorzug besitzt. Aber leid tut mir's, daß ich nicht mehr Zeit habe, die poetischen Versuche Hermanns zu leiten und seine Tagebücher durchzusehen, und jetzt kommt die Zeit, wo für die Sommerkleider zu sorgen ist und für Schmalz.« – »Ja, fällt mir bei dem Schmalz ein, das Essen wird alle Tage schlechter; wie kommt's denn?« – »Weiß wohl!« seufzt die Frau, »die Gret hat eben gar keine Pietät fürs Kochen; wenn ich nicht selbst danach sehe, so ist's nichts.« – »So tu in Gottes Namen eine gewandte Köchin ein! Es wird das Leben nicht kosten.« – »Das wird wohl nötig sein, obgleich so eine Köchin vom Fach immer anspruchsvoll ist. Eine Änderung mit der Kindsmagd wäre zwar noch nötiger. Bäbele ist brav, aber wie die meisten Bauernmädchen plump und schwerfällig im Verkehr mit Kindern; sie weiß die Kleinen nicht zu unterhalten, dann werden sie immer unartiger.« – »Leider!« seufzt der Doktor, »ich kenne ihre Stimmen nur noch am Schreien, und wenn sie abends heimkommen, fällt mir, verzeih mir's Gott, immer der Vers aus der Glocke ein:


Kommen brüllend,
Die gewohnten Ställe füllend.

Aber wie willst du da helfen?« – »Ich sollte ein jüngeres Kindermädchen haben; Selma schlug mir eine vor, die in Fröbels Anstalt für Kindergärtnerinnen gebildet wurde, aber das ist zu teuer.« – »Bah, Unsinn, was Kindergärtnerin!« – »Ja, gewiß, Lieber, wenn du nur den letzten Aufruf an Mütter [306] gelesen hättest! Man kommt sich wie eine wahre Rabenmutter vor, wenn man seine Kinder nicht nach Fröbelschen Grundsätzen erzieht. Ich will auch nächstens, sobald ich dazu komme, die ganze Fröbelsche Erziehungsliteratur studieren und indessen ein junges, bildsames Geschöpf zum Kindsmädchen nehmen, die den Kindern Hüterin und Gespielin zugleich ist. Ich weiß schon eine solche, ein Blümchen vom Tale, ein wahres Madonnengesichtchen, ganz unverdorben, unberührt vom Welthauch; die Pfarrerin von R. hat sie mir empfohlen, sie ist jetzt zur Aushilfe bei Stadtpfarrer N's.« – »Nun gut, so nimm den Seraph, wenn er uns nicht davonfliegt; sind wir dann versorgt?« – »Ja – das heißt, ich fürchte sehr ein zu großes Dienstpersonal; aber wenn wir für Küche und kleine Kinder sorgen, so wäre es doch unrecht, wenn die größeren Kinder, eben im bildungsbedürftigsten Alter, verwahrlost bleiben sollten.« – »Schatz, das geht ins Große. Wäre es nicht kürzer, ich suchte eine Oberamtsarztstelle in einem Landstädtchen? In kleinen Städten fallen doch diese Teufeleien von Vorlesungen und was zum Kuckuck noch weg, und die Sache ließe sich vereinfachen.« – »Unmöglich! Wolltest du deine unversorgten Kinder aller der Bildungsmittel berauben, die eine größere Stadt bietet und die ihnen bereits eine Zukunft sichern können?« – »Nun denn,« sagt der Doktor ergeben, »was verlangst du drittens?« – »Siehst du, ich sollte ein gebildetes Mädchen haben, das in meiner Abwesenheit bei den Kindern meine Stelle versieht, die Lektionen und Arbeitsübungen der Mädchen beaufsichtigt und mir im Nähen etwas Beistand leistet. Wenn du die Berge von Flickwasch ansähest! Und ich muß jetzt an die Kleider der Mädchen denken ...« – »Und an meine Hemden,« sagt der Mann lachend, indem er an dem bauschenden Kragen zieht; »sie sitzen nun und nimmermehr recht.«

Diesen Stein des Anstoßes und Quell der Trübsal für Männer und Frauen, die Klage über nicht passende Herrenhemden, die auch eine Frucht der Neuzeit ist, wollen wir beruhen lassen und nur das Endergebnis der ehelichen Beratung mitteilen. Dieses bestand darin, daß die Frau sich willig zeigte, [307] die Abendvorlesung über die Literatur der Chinesen sowie die freien Vorträge über die Bedeutung der Grundideen des Sophokles für das weibliche Leben, die ein durchreisender Literat hielt, aufzugeben; dagegen willigte der Mann ein, daß eine tüchtige Köchin, das gerühmte Madonnenköpfchen, als Kindsmagd, ferner ein gebildetes Mädchen zur Leitung und Beaufsichtigung der Töchter angestellt werde; durch die Hilfe der letzteren würden dann auch alle auswärtigen Nähterinnen entbehrlich, was dem Mann ein großer Vorteil schien. So schloß die Verhandlung im Frieden, während die Kinder alle schon in tiefer Ruhe lagen, bis auf Mathilde, die noch eine italienische Übersetzung zu besorgen hatte, und Natalie, die mit schmelzender Stimme sang:


»Mei Herzle ist klei,
Kann niemand drei nei;
Nur an einziger Bua
Hat 's Schlüssele darzua.«

Zu den vielen Drangsalen der guten Frau Bernhard kam nun auch noch das, daß sie sich um das neue Personal umsehen mußte. Aber schon der nächste »Merkur« brachte unverhofften Rat. Sie las, wie gewöhnlich, die Traueranzeigen – zu mehr reichte ihre beschränkte Zeit selten, obgleich sie ihren Mangel an politischer Bildung oft schmerzlich empfand – und stieß unwillkürlich ein ganz erfreutes: »Das ist jetzt geschickt!« heraus. – »Was ist so geschickt?« fragte verwundert der Mann. – »Ach, die Hofrat Mizlenius ist gestorben; weißt, sie war schon lang' kontrakt; es ist ihr wohl gegangen,« setzte sie entschuldigend hinzu. – »Nun, warum ist's denn geschickt?« – »Ja, die hat einen Ausbund von Köchin, die schon sechs Jahre bei ihr ist; wenn ich die bekommen könnte, so wären wir versorgt.«

Die betriebsame Frau ging gleich auf dem nächsten Vereinsgang in das Trauerhaus und erstand den Phönix von Magd glücklich für das nächste Ziel.

Noch aber fehlte die dritte im Bunde, das »Mädchen von Bildung«, welche die Mutter bei den Töchtern ersetzen und [308] den Patienten Auskunft geben sollte, wenn der Doktor abwesend war. Die schien schwerer zu finden, obgleich die Zeitungen wimmelten von gebildeten Mädchen aller Art mit angenehmem Äußern, vortrefflichem Charakter und bescheidenen Ansprüchen, die alles auf der Welt verstanden und noch einiges mehr; aber die Frau Doktorin hätte doch noch eine andre Sicherheit gewünscht.

Auch dafür wurde Rat. Selma, die ästhetische Freundin, der die Doktorin ihre Bedrängnis mitteilte, hatte vergangenes Jahr im Bade die Bekanntschaft eines Fräuleins gemacht, die ihr vollkommen für diesen Zweck geeignet schien. Ihre Herkunft war etwas dunkel, aber interessant, ihr Vater war in der Polenschlacht gefallen oder so; sie war in vornehmen Häusern Gouvernante oder Gesellschafterin gewesen, würde aber nun vorziehen, in eine Familie einzutreten, in deren Schoß sie eine Heimat fände.

Das traf sich wie gerufen. Fräulein Klara Werning zeigte sich willig, zu mündlicher Verabredung zu kommen, und gefiel außerordentlich beim ersten Auftreten. Sie war nicht eben mehr in der ersten Jugend, eine hohe, volle Gestalt, noch blühend und frisch mit schönen, blauen Augen. Die Doktorin fürchtete nur, ihr Haus werde zu einfach für sie sein; aber Klara sprach so schön über den Segen der Armut, über das Glück eines stillen Familienlebens, daß sie vollkommen beruhigt wurde; nur das eine machte ihr noch Kummer, ob sie selbst neben einem so ausgezeichneten Wesen sich keine Blöße gebe.

Fräulein Klara versprach ihren Eintritt auf Georgii, und von Stund an wurden die Kinder bei vorkommenden Unarten immer mit dem Beisatz ermahnt: »Was wird einmal Fräulein Klara dazu sagen, wenn ihr so ungezogen seid?«

Georgii kam, und mit dem Tage zogen die drei neuen Genien ein: Fräulein Klara in das Zimmer, das sie mit den älteren Töchtern teilen sollte; das Madonnengesichtchen, Gretchen genannt, in die Kinderstube; Madele, die Köchin, in Küche und Kammer, die ihr Reich sein sollten. Etwas verächtlich sah [309] die letztere auf Gretchens kleinen Bündel und auf den schmalen Koffer der Klara: ihr folgten vier Nachbarmägde mit Körben auf dem Kopf, von denen solide Kleider, Schürzen mit langen, farbigen Bändern recht vielverheißend herabhingen.

»Es freut mich, daß Sie in Kleidern und Weißzeug solid eingerichtet ist,« sagte die Doktorin.

»Ja, die ist eben schon glücklich gewesen,« bemerkte naiv eine der Begleiterinnen, »zwei Trauern! In dem Haus, wo sie vor zehn Jahren war, ist der Sohn gestorben und jetzt gar die einzechte Frau, mit der die Haushaltung aufhört! Das ist freilich das Nützlichste; da kann man 'ring zu einem Bett und Kasten kommen, wo ein andrer armer Tropf sein Lebtag dran sparen muß.«

Die andre hatte mehr Takt und sagte: »Ja, es stoßt einem aber auch fast 's Herz ab, wenn einen so der Tod trennt,« was das Madele mit einem improvisierten Schluchzen bestätigte.

Dem Doktor gefiel die Köchin besonders wohl. »Ein ganz klassischer Magdkopf,« meinte er, als er ihr etwas grobes, gebräuntes Gesicht und ihre kräftige, starkknochige Gestalt überschaute. »Wir haben jetzt alle Schulen vertreten unter unserm Dach; Klara ist mehr antik, Gretchen vertritt das mittelalterliche, romantische Element, und die Madel, die ist niederländisch. Wenn nur ein ordentliches Resultat bei dieser Mischung herauskommt!«

Der Haushalt ordnete sich aufs beste; die Kinder schlossen sich bald an Gretchen an, dem man erlaubte, auf dem stillen Rasenplätzchen hinter dem Schloß mit ihnen spazieren zu gehen und zu spielen. Madele herrschte in der Küche höchst unumschränkt, zwar mit ungemeinem Geräusch und Gepolter, aber mit Umsicht; das Essen war jederzeit vortrefflich gekocht, was dazu beitrug, den Herrn bei guter Laune zu erhalten.

Klara begleitete Natalie in die Vorlesungen über Hünengräber und in die über Sophokles; die Doktorin trat ihr diesen Genuß neidlos ab, so »äußerst interessant« sie auch jederzeit diese Vorträge gefunden hatte. Klara leitete auch die Singübungen, begleitete die Mädchen auf Spaziergängen und gab [310] ihnen Unterricht; die Doktorin konnte sich beruhigt ihrer Vereinstätigkeit hingeben, und das war gut, denn die Ansprüche vermehrten sich fortwährend.

Sie brachte mehr als ihre halbe Tageszeit in der Aufopferung für andre zu, die gute Frau; eine Visite je und je, ein Kränzchen, in dem aber für die Mission gearbeitet wurde, war aller Genuß, den sie sich verstattete; das übrige war reine Hingebung, und doch wurde ihr nicht wohl dabei. Sie wurde allmählich so fremd in ihrem eigenen Hause; der Mann, der sie selten beim Nachhausekommen antraf, suchte seine Unterhaltung auf dem Museum; die kleinen Kinder waren so sehr an das Fortgehen mit Gretchen gewöhnt, daß sie bei der Mutter nicht mehr lange bleiben wollten: – es kam der Doktorin immer wie ein vorübergehender Zustand vor, und doch sah sie nicht ein, wann ein endgültiger folgen sollte.

Auch bei dem Personal stellten sich einige Schattenseiten heraus. »Hör, die Madel kocht gut,« bemerkte der Mann beim Frühstück, »aber der Kaffee ist schlechter als sonst.« – »Ich weiß wirklich nicht, woran es liegt, sie verbraucht mehr als die frühere.« – »Mir ist die Sache verdächtig; ich wollte gestern meine Pfeife in der Küche anzünden, was sie stets sehr ungnädig aufnimmt; da bemerkte ich, daß bereits eingeschenkter Kaffee von prächtiger Farbe auf dem Küchentisch stand. Ich glaube, sie trinkt den ersten Aufguß, und wir, was nachläuft.« – »Ja, das ist so ein Vorrecht, das sich hie und da alte Köchinnen nehmen,« sagte die Frau verlegen; »der Kaffee ist ihr einziges, man wird ihr das nicht wehren können; sie ist dafür in allen andern Sachen umso ehrlicher.« – »Das scheint mir ein ziemlich unbegründeter Schluß,« lachte der Doktor, »und dann ist sie unverschämt grob; gerade wie ich gestern aus der Küche ging, wetterte und tobte sie hinter mir, daß ich meinte, die Küche falle zusammen, und sagte so laut, daß ich's hören mußte: ›Was hat der in meiner Küche zu tun! Ich lass' ja seine Studierstub' auch ungeschoren.‹« – »Das mußt du ihr zugute halten, Lieber; sie hat mir selbst in einer vertrauten Stunde gestanden, daß grob sein ihre Natur sei, ihr Vater [311] schon sei ein entsetzlich grober Mann gewesen.« – »Ein schöner Trost!« – »Und dann«, versicherte die Frau weiter, »ist das gerade das beste Zeichen ihrer Ehrlichkeit, daß sie grob ist; ich gestehe, daß ich selbst sie fürchte und fast nimmer wage, in meine eigene Küche zu gehen; aber das sind gerade die besten, so der echte Schlag alter Mägde. Unsre alte Bärbel daheim war so grob, daß sie der Mutter einmal eine Kachel vor die Füße warf, und die Mutter sagte oft, eine bessere Magd habe sie nie gehabt.« – »Ei den Kuckuck auch! Für die Vortrefflichkeit bedanke ich mich. Und Geld brauchen wir rasend viel; wenn ich nicht bald Leibarzt beim Großmogul werde, so weiß ich nicht, woher es nehmen.« – »Weiß wohl!« seufzte die Frau, »in die Küchenausgaben läßt sich eine so perfekte Köchin nichts einreden; dann sind wir eben ein Haus voll Leute und leben in einer ungewöhnlichen Zeit.« – »Ja, ich merk's stark,« brummte der Doktor, »wenn sie nur nicht schon drei Jahre lang dauerte!«


Ein andermal fand er abends, daß das Kindermädchen doch gar zu spät mit den Kleinen nach Hause komme.

»Es ist freilich ein Fehler,« gestand die Frau zu; »ich habe deshalb auch vorgeschlagen, unsre Vereinssitzungen vom Abend auf den Nachmittag zu verlegen, damit ich abends öfter zu Hause bin. Das Gretchen ist eben noch ein pures Kind; an die Natur gewöhnt, kann sie sich nicht losreißen und vergißt sich im Spiel mit den Kindern.« – »Meinst du wirklich, es stecke nichts Schlimmeres dahinter? Die Kornelie erzählte mir gestern: ›Date bielt,‹ auch der Kleine sprach schon von Soldaten, die mit ihm gespielt; das Mädchen ist hübsch, ich fürchte eine Militärbekanntschaft ...« – »Oh, was denkst du, das Kind! Sie ist so schüchtern, daß es mir oft lästig wird; sie besorgt mir keinen Auftrag in ein Haus, wo Männer sind.«

Der Doktor behielt seine Zweifel.

Klara inzwischen ging in stiller Majestät ihres Weges; war es auch mit der Nähhilfe nicht so viel, wie die Doktorin gehofft, so erschien dagegen Erziehung ihre Hauptstärke; die [312] Mama wurde freilich hie und da gereizt durch den entschiedenen Ton, mit dem sie in ihrer Gegenwart den Kindern Lehren und Verweise gab, der Vater bekam dafür nur desto mehr Respekt vor ihr. Sie hatte so gar vortreffliche Grundsätze; es war Genuß und Erbauung zugleich, sie über Tugend und Religion, Selbstverleugnung und Seelenadel sprechen zu hören.

Mit Natalie und Hermann, die eben im freundschaftswütigsten Alter waren, stiftete sie einen Tugendbund; sie schrieben Tagebücher und lasen sie einander vor; sie bekamen eine wahre Jagdliebhaberei auf Fehler, nur um dieselben einander nachher zu bekennen.

Über die Befähigung Klaras zum Unterricht kamen dem Doktor bescheidene Zweifel, wenn er je und je zufällig einer Lehrstunde beiwohnte: zwar viel schöne Redensarten, aber, wie ihm schien, wenig Reelles dahinter. Sie hatte namentlich eine naive Art, unbequeme Fragen abzuweisen, die Lehrern sehr zu empfehlen ist. Einst hielt sie in der Geographiestunde eine schöne patriotische Rede über den Rhein. »Aber wo entspringt er?« fragte Mathilde. – »Es ist eine Schande, daß du's nicht weißt,« sagte Klara würdevoll. – »Ich möcht's aber wissen,« sagte Mathilde. – »Gerade zur Strafe für deine Unwissenheit sage ich dir's nicht,« beschied Klara sie.

In der Nähe von Doktors Wohnung war eine Apotheke gelegen, in welcher der Doktor den meisten Geschäftsverkehr hatte. Der Lehrling daselbst, ein junger Mensch von ungemein viel Kopf (er mußte sich seine Mützen stets extra bestellen), hatte hie und da Aufträge oder Anfragen seines Lehrherrn an den Doktor zu überbringen, und die jungen Mädchen kicherten, so oft er kam, weil Mathilde die kleine Sophie sagen gelehrt hatte: »Ludwig Dickkopf«. Nun vertraute eines Tages der Apotheker dem Doktor, der Ludwig entferne sich hie und da abends, und seine Magd habe ihn schon vor dem Doktorhaus auf und ab gehen sehen zur Stunde, wo Fräulein Natalie gesungen; auch bringe er unterschiedliche Blümlein nach Hause, die nicht auf Botanisiergängen gesammelt worden. »Nun, sehen Sie,« meinte der Apotheker, »ist der Ludwig noch ein [313] heller Bub', kaum der Schule entwachsen, armer Leute Sohn, und Ihre Fräulein Tochter ein Kind.« – »Gewiß, gewiß!« erwiderte der Doktor mit rotglühendem Gesicht, nahm Hut und Stock und eilte nach Hause.

Die Frau kam eben aus dem Abendkranz zur Veredlung armer Bürgerstöchter, als der Mann in Hast eintrat. »Was ist's? Hast du keine Gesellschaft auf dem Museum getroffen?« – »Ich habe – den Apotheker – Frau, sag mir, ist's möglich, kann Natalie so dumm sein und an eine Liebschaft mit dem dickkopfigen Ludwig denken?« – »Natalie, das kleine Mädchen? Du bist nicht gescheit!« – »Der Apotheker sagt mir, er gehe am Hause vorbei, wenn sie abends singt, und bringe Blumen heim; daß doch der Kuckuck!« – »Ach, geh, das ist nichts! Frag nur Klara: diese ist ja immer bei den Singübungen.«

Klara wurde beschieden; der Vater, immer noch heftig aufgeregt, trug ihr den Fall vor und fragte sie aufs Gewissen. »Wie können Sie das glauben?« sagte sie lächelnd mit ihrer wohltönenden Stimme und dem festen Blick ihrer schönen Augen. »Natalie ist ein Kind und lacht höchstens über den dickkopfigen Buben; ein Kind, bei dem ich mich wohl gehütet, die Saite nur mit einem Hauch zu berühren, die einst den Grundton ihres Lebens angeben soll. Nein, lieber Herr Doktor, da lassen Sie mir die Sorge! Ein Glück, daß Sie das Kind auch nicht mit der leisesten Frage aus seiner Unbefangenheit gestört! Natalie und ein Liebesverhältnis!« Sie lachte hell auf; des Doktors Herz war wieder leicht, und er meinte: »Ein gescheites Mädchen ist sie doch, viel Takt, viel Menschenkenntnis; die Mädchen kann man ihr ruhig anvertrauen; wenn sie nur nicht oft so gar weise wäre!«


Es gehört zu den Gebrechen unsrer armen Zeit, daß selten eine Haushaltung des gebildeten Mittelstandes es mehr vermag, ein ordentliches Weinlager zu halten, was sonst mit zum Fonds eines soliden Hauses gehörte. Auch des Doktors Kellervorrat beschränkte sich auf ein Mostfaß und ein kleines Fäßchen mit edlem Wein, das von Zeit zu Zeit beim Weinhändler [314] wieder gefüllt wurde. Dies Fäßchen wurde in neuerer Zeit erstaunlich oft leer. »Weißt du nicht, Liebe,« fragte der Doktor seine Frau, »ob der Vater unsrer Madel, von dem sie ihre Grobheit geerbt, nicht auch zufällig ein Säufer war?« – »Warum?« – »Weil unser Wein immer so reißend schnell zu Ende geht; es könnte doch sein, daß er ihr beliebte.« – »Bewahre! Sie trinkt gar nichts Hitziges, es steigt ihr gleich so zu Kopfe, sie trinkt nicht einmal Most.« – »Das wäre noch kein Grund; ich habe meine Bedenken, will einmal gelegentlich selbst im Keller nachsehen.«

Frau Bernhard fühlte sich mehr und mehr unbehaglich, trotz ihres vortrefflichen Hauspersonals; sie hatte in allen Gebieten ihres Hauswesens den festen Boden verloren, und auf den weiten Gebieten ihrer neuen Tätigkeit konnte sie keinen fassen.


Jean Paul sagt einmal: Es gibt im häuslichen Leben verrichtete, verwetterte, verregnete Tage, an denen alles Unglück zusammenkommt, wo alles keift und knurrt und mit dem Schwanze wedelt; wo die Kinder und der Hund nicht Muck sagen dürfen, wo der Herr des Hauses alle Türen zuwirft und die Frau das Schnarregister des Moralisierens zieht; wo lauter alte Schäden zutage kommen; wo alles zu spät kommt, alles verbrät, alles überkocht – und so weiter.

Ein solcher Tag brach nun auch über dem Hause des Doktors an.

Die Frau kam eben von dem Gang, auf dem sie die letzteingegangene Summe für Schleswig abgeliefert und einige andre Vereinsgeschäfte besorgt hatte; Klara war mit den Mädchen in die Vorlesung und Gretchen mit den Kleinen auf den Rasenplatz gezogen.

Froh, doch noch vor ihrem Mann nach Hause zu kommen, eilte sie die Treppe hinauf, da hörte sie aus der Küche dumpfes Stöhnen. Aus Respekt vor der ungnädigen Madel hatte sie diese in letzter Zeit kaum mehr zu betreten gewagt, jetzt eilte sie hinein; da lag Madele mit dunkelrotem Angesicht und stieren Augen und konnte nur noch undeutliche Jammertöne [315] ausstoßen, während der Fleischtopf überlief und das Gemüse verbrannte. »Um Gottes willen, Madele, was fehlt Ihr?« fragte sie. – »'s ist mir so übel,« stöhnte diese, »noch ganz nüchtern ...« – »Unmöglich, Sie hat ja gefrühstückt!« Während die gute Frau sich vergeblich bemühte, den schweren Körper emporzubringen, kam der Mann nach Hause. »Ach gottlob, daß du kommst! Da sieh, das arme Madele! Ich fürchte einen Schlagfluß.«

Der Doktor besichtigte die Leidende ziemlich kaltblütig. »Die muß in ihr Bett geschafft werden,« entschied er kurz. – »Aber sie ist ganz ohnmächtig, und du allein bringst sie nicht hinein; ach, das fehlte uns noch, eine kranke Magd!«

Der Doktor sah zum Fenster hinaus, ein Polizeidiener spazierte eben vorüber; er rief ihn um den christlichen Liebesdienst an, und dieser eilte herbei. Die Kammer der Magd war verschlossen, der Schlüssel nirgends zu finden; die Leidende gab Zeichen der Weigerung von sich, als man sie hineinbringen wollte; der Doktor aber drückte die Tür ein. Das jungfräuliche Gemach war nicht in der schönsten Ordnung, und der erste Anblick, der sich bot, waren etliche Töpfe und Krüge unter dem Bett. Der Doktor roch daran. »Hab' mir's gedacht! Habe nicht umsonst ein wenig Alkohol unter den Rest des guten Weines im Keller gemischt – da haben wir die Bescherung!« – »Aber, Karl, das hast du getan? Wenn sie nun stirbt!« – »Stirbt nicht. Unter diesen Umständen wird es nicht unerlaubt sein, die Effekten dieses Ehrlichkeitsspiegels näher zu untersuchen.«

Der Kasten wurde erbrochen und zeigte eine schöne Bescherung: Kaffee, Zucker, Leinwand, Schmalz, Faden, Kleidungsstücke, Weißzeug, und je und je rief die Doktorin: »Ach, das ist ja mein!« – »Da bleibt keine Wahl, als Ihnen die Person zu übergeben,« wandte sich der Arzt zum Polizeidiener, »sobald sie den Rausch verschlafen hat.«

Die Frau war ganz angegriffen von der unerwarteten Entdeckung, der Doktor hatte nur zu trösten. »Aber wo bleiben die Kinder?« fragte sie endlich angstvoll. »Es ist ja Mittag, um elf Uhr hätte Gretchen mit ihnen zu Haus sein sollen.« Ein vierstimmiges [316] Geheul von der Straße antwortete dieser Frage. Sie war zu matt und entkräftet, um nachzusehen; der Doktor öffnete die Haustür. Da stand Gretchen, bleich und zitternd, den kleinen Rudolf auf den Armen, der aus einer Kopfwunde blutete; Kornelie und Sophie, die unverletzt waren, schrien zur Gesellschaft womöglich noch lauter als der Verwundete. »Was ist's mit dem Kind?« rief der Doktor entsetzt. – »Es ist [317] auf einen Stein gefallen,« sagte Gretchen stotternd. – »Das ist keine Wunde von einem Stein,« meinte der Doktor kopfschüttelnd und trug eilig das Kind hinauf, um es zu verbinden. Gretchen wurde in die Apotheke geschickt, die Mutter vergaß ihren vorigen Schreck über der Sorge um das Kind; ans Essen dachte niemand, bis Klara, die mit den Mädchen heimkam, sich dazu verstand, nach der verwaisten Küche zu sehen. »Mutter, ich weiß, woher der Rudolf die Wunde hat,« sagte Sophie geheimnisvoll, als sie mit der Mutter allein war; »er ist nicht auf einen Stein gefallen, in den Säbel.« – »In welchen Säbel?« – »Ja, von dem schönen Herrn Offizier, bei dem Gretchen in der Stube war; weißt, der Bediente, der allemal mit uns gespielt hat, solange Gretchen bei ihm nähen mußte, der hat den Säbel herausgezogen und uns gezeigt; dann hat er ihn liegen lassen, und der Rudolf ist darein gefallen. Der Herr Offizier hat nicht leiden wollen, daß wir heimgehen; aber wir haben so arg geschrien.« – »Seid ihr denn oft dort gewesen?« – »Fast alle Tage.« – »Aber Kind, warum hast du mir's nicht gesagt?« – »Ja, Gretchen hat gesagt, du werdest so arg böse, wenn du hörest, daß sie nähe in einem andern Hause, und der Herr Offizier haue uns den Kopf ab, wenn wir's sagen. Wenn du aber allein gewesen wärst oder nachts bei uns, ich hätte dir's doch gesagt; weißt, Kornelie ist noch so dumm.«

Also das war Nummer zwei. Das Gretchen, erschüttert von dem Unglücksfall, bekannte, daß sie schon, ehe sie in den Dienst getreten, das Wohlgefallen eines sehr vornehmen Herrn auf sich gezogen; während nun die Mutter ihre Lieblinge in unschuldigen Spielen mit dem Madonnenköpfchen wähnte, war dieses bei dem Grafen, und die Kinder indes der Obhut eines Bedienten übergeben, der so schlecht war wie sein Herr.

Die Frau hatte genug. Die Wunde schien zum Glück nicht gefährlich; sie wich nimmer von des Kindes Bett.

Die Töchter vernahmen erstaunt, was man sie von der furchtbaren Magdkatastrophe erfahren ließ. »Ich wollt', die Klara ginge mit,« murmelte Mathilde, »die ist mir um nicht viel lieber.« Sie wagte aber nicht, es laut zu sagen.

[318] Es war Nacht, die Kinder waren zur Ruhe; die Madel hatte nach schmerzlichem Erwachen der Polizeidiener abgeholt. Dem Gretchen hatte man ihrer Jugend und Reue wegen Schonung gelobt; sie sollte in möglichster Bälde in der Stille nach Hause. Die Mutter saß am Bette des kranken Kindes, das sanft schlief, und dachte an gar viel – nicht an Vereine. Da kam Natalie leise mit dem Nachtlicht herein. »Ei Kind, du bist noch wach?« – »Ja, Mutter,« hob Natalie sehr verlegen an, »ich sollte dich noch etwas fragen.« – »Was denn, Kind?« – »Mutter,« sagte das Mädchen ängstlich, »sag mir doch, kann's denn sein, daß ich in den Apotheker-Ludwig verliebt bin?« – »Du, Kind?« fragte die Mutter erschrocken. – »Freilich,« schluchzte das Mädchen, »Klara sagt's, und ich könne ihn nun mein Leben lang nimmer vergessen. Ach, Mutter, ist's denn wahr und bekomme ich denn einmal keinen andern? Und er ist doch so dumm!«

Das arme Kind weinte, daß es einen Stein erbarmen konnte. »Aber, Kind,« fragte die entsetzte Mutter, »so sprich nur? Warum meinst du's denn?« – »Sieh, ich habe zwar Klara unter freiem Himmel schwören müssen, ich wolle euch nichts sagen; aber jetzt, wo so arge Sachen geschehen, kann ich doch nimmer schweigen. Wie ich, vor vielen Wochen schon, das neue serbische Volkslied probierte und nachher noch meinen Blumentopf ausgoß, um frisches Wasser hineinzutun, stand der Apotheker-Ludwig unten. ›Was tut denn der Dickkopf noch da?‹ fragte ich Klara. Da schaut sie mich so sonderbar an – oh, ich kann gar nicht sagen wie – ganz tief heraus – und sagt: ›Natalie, weißt du nicht, was stille Liebe ist?‹ – ›Das weiß ich freilich,‹ sagte ich. Da deutete sie hinab, wo der Ludwig stand, und flüsterte mir ins Ohr:


›Und so saß er viele Tage,
Viele Jahre lang,
Harrend ohne Schmerz und Klage,
Bis das Fenster klang.‹

Und so hat sie mir alle Tage und Abende vorgesprochen, wie mich der Ludwig so unaussprechlich lieb habe und stundenlang [319] in der kalten Nacht dastehe, nur um einen Ton meiner Stimme zu hören. Zuletzt plagte sie mich, ich solle ihm nur ein einziges Blümlein hinunterwerfen; das hab' ich zweimal getan. Dann stellte sie mir vor, wie unglücklich ich den Ludwig machen würde, wenn ich euch etwas sagte, und ließ mich unter dem Sternenhimmel schwören, daß ich keiner Seele ein Wort davon vertrauen wolle. Sie hat mir auch keine Ruhe gelassen, ich solle ihm einmal eine Locke hinunterwerfen, das sei sein höchster Wunsch. Aber du weißt, ich trage ja keine Locken, und aus meinen Haaren schneiden wollte ich auch nicht; aber ich hatte viel herausgekämmte, von denen hab' ich einmal hinuntergeworfen. Gesprochen hab' ich aber kein einzigmal mit dem Ludwig. Neulich, als ich schon schlief, kam sie mit dem Licht an mein Bett; ich wachte auf, und sie sagte mit feierlicher Stimme: ›Natalie, du liebst!‹ – ›Ich?‹ fragte ich, ›wen denn?‹ – ›Du liebst Ludwig, du wirst ihn lieben in alle Ewigkeit!‹ – Ich weinte beinahe und wollte es nicht glauben, weil er mir ja gar nicht gefällt; aber sie hat mir's ganz deutlich bewiesen und gesagt, weil ich ihm Blumen und eine Locke zugeworfen, so gehöre ich nun sein fürs ganze Leben. Das war mir so arg! Ich habe so viel geweint in den letzten Wochen! Und gestern nacht sagte sie mir, Ludwig dürfe nun nicht mehr vors Haus kommen; wir wollen, wenn alles schlafe, in den Garten hinaus, daß ich ihn nur ein einzigmal spreche. Das habe ich aber nicht getan, und heute dachte ich, ich wolle dir's sagen.«

Unter heißem Erröten und vielen Tränen wurde dieses Geständnis abgelegt; unter Lachen und Weinen umfaßte die Mutter das Kind, als ob sie es vom Abgrund zurückreißen müsse. Eingedenk aber der weisen Lehren Klaras, wollte sie ihre Aufregung nicht steigern. »Geh nur, Kind, und sei ruhig, du bist recht dumm gewesen und könntest tüchtig ausgelacht werden. Versprich, in deinem Leben niemals mehr der Mutter etwas zu verschweigen!« – »Gewiß nicht, gewiß nicht!« schluchzte das Mädchen; »und nicht wahr, Mutter, ich liebe den Ludwig nicht und gehöre ihm auch nicht eigen?« – »Behüte, du einfältiges Kind! Ludwig ist ein dummer Junge, und vielleicht[320] hat er so wenig von dir wollen wie du von ihm!« – »Ja, ja, das kann sein!« rief Natalie erleichtert und ging getröstet zu Bett.

Die Mutter war zu erschüttert, um Ruhe zu finden; sie mußte den Mann noch wecken und ihm die Geschichte erzählen. Dieser spie Feuer und Flamme und hätte beinahe noch um Mitternacht die Schlange aus dem Haus geworfen, die so sein Kind vergiften wollte. Doch ließ er sich bewegen, zu warten, um auch den Ludwig zu hören. Dieser wurde denn andern Morgens mit Vorsicht ins Verhör genommen und erzählte fast dieselbe Geschichte. Klara hatte ihn im Haus und auf einsamen Botanisiergängen einigemal allein gesprochen und ihm anvertraut, wie lieb ihn die Natalie habe und wie es sie betrübe, daß er nicht einmal ans Fenster komme, wenn sie singe. So hatte er denn endlich mit großen Herzensängsten die Fensterparaden begonnen und die Blümlein heimgetragen, »das Haar aber nicht«. Auch hätte er einmal in Herrn Doktors Garten kommen sollen; das hatte er aber nicht gekonnt, weil er den Hausschlüssel nicht gefunden. Trotz des tüchtigen Verweises von seiten des Apothekers schien Ludwig doch ungemein erleichtert, daß er nicht mehr verpflichtet war, ein zartes Verhältnis anzuspinnen. Doktor und Apotheker versprachen sich gegenseitig, [321] jedweden Roman, der sich im Hause finde, zu verbrennen, und schieden als gute Freunde. Das war nun der dritte Schlag; fast zu viel auf einmal.

Klaras Reich war aus; sie hielt es unter ihrer Würde, sich zu verteidigen, und erklärte würdevoll, daß sie in Herrn Doktor Lilienschwerdt, dem Lektor über Sophokles, einen Freund gefunden, der schirmend ihr zur Seite stehen werde. Man bezahlte ihr den Gehalt und ließ sie ziehen.


Es ist schwerer, als man denkt, eine häusliche Reform durchzuführen, und wäre der Doktor nicht Medizinalrat in einer andern Stadt geworden, es wäre trotz der gewaltigen Erschütterung jenes Schreckenstages vielleicht doch zu keinem gründlichen Umschwung gekommen. So aber kamen die Umstände dem herzlichen guten Willen der Frau zu Hilfe.

Es ist ihr sehr klar geworden, daß die Vereinstätigkeit, so segensreich und wohltuend sie ist, nicht für kinderreiche Mütter bestimmt sei, die unter dem eigenen Dach innere und innerste Mission genug zu üben haben. Sie war so glücklich, eine tüchtige Hausmagd zu finden, und da der Rudolf allein geht, so kann sie die Kleinen in dem schönen Garten, der an ihr neues Wohnhaus stößt, unter ihrer oder der größeren Kinder Aufsicht spielen lassen. Natalie und Mathilde üben sich abwechselnd im Kochen; Natalie hat dabei wohl Zeit, ihre Musikstudien zu machen, und ihre schöne Stimme leitet den Chor, mit dem die Mädchen und die Mutter am Nähtisch die Zeit kürzen. Mathilde hat freilich noch viele Lehrstunden, das Überhören der Vokabeln hat sie aber der Mutter abgenommen; auch übt sie sich vortrefflich für den Gouvernantenberuf, indem sie die jüngeren Geschwister unterrichtet.

Und der Vater? Nun, der tritt mit hellem Angesicht von seinen ermüdenden Berufsgängen in das heitere Wohnzimmer, wo Söhne und Töchter wetteifern, durch ihre Gaben und Kenntnisse den Abendkreis zu verschönern. Es ist so ganz anders als früher, wo er auf die Frage: »wo ist die Frau?« die unabänderliche Antwort erhalten: »im Verein«, oder »im Kränzchen«. [322] Er wollte seinerseits auch nicht zurückbleiben und suchte seine alten Schulkenntnisse hervor, um fremden Unterricht in Geographie und Geschichte entbehrlich zu machen; es ist sein höchster Triumph, wenn er von der jungen Weisheit seiner Söhne überflügelt wird. Es ist nicht, als ob die Familie allem geselligen Verkehr entsagt hätte. Mutter und Töchter haben ihre Kreise, in denen sie gern gesehen sind; aber Einladungen und Besuche sind Ausnahmen, die Heimat ist Regel und eine heitere und freudenreiche.

Das redliche Madele sitzt im Zuchthaus, das sie reichlich verdient hat durch den systematischen Diebstahl, den sie hinter dem Schilde biederer Grobheit jahrelang an ihrer früheren Herrin verübt. Gretchen ist bei einer gestrengen Frau Schulzin auf dem Lande, und da ihr Geschmack zu gebildet ist für eine ländliche Liebschaft, so ist zu hoffen, daß sie vor einem Rückfall bewahrt bleiben wird.

Der Klara hat ihr ästhetischer Freund, ihre einnehmende Gestalt und ihr intriganter Charakter zu einer vorteilhaften Gouvernantenstelle in einem adligen Haus verholfen. Es ist noch nicht lange, so hielt ein eleganter Wagen einen Augenblick vor der Tür des Medizinalrats, ein Diener in reicher Livree gab eine zierlich gestochene Karte ab: Madame la baronne de Sternau, née Werning. – Glück zu!

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Gestalten aus der Alltagswelt. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7F2-D