Heiratsgeschichten

1. Das erfolgreiche Konzert

Ein lebenslustigeres Städtchen als St. fand sich gewiß weit und breit nicht. Man konnte gar nicht sagen, wann der Kreis geselliger Vergnügungen anfing und wann er schloß, ob mit dem Schmaus nebst Punsch in der Neujahrsnacht, mit den Winterbällen und Kasino mit Sprichwörterspiel nebst den prachtvollen Schlittenfahrten; oder ob mit den Wasserfahrten und Landpartien im Frühling, mit den Waldspaziergängen zur Sommerzeit in den Eichenhain, wozu der Schwanenwirt einen Wagen mit Bierfässern nachführte; oder mit den Kirchweihsamstagen, die man in allen Dörfern des ganzen Amts besuchte, bis der Herbst erschien mit dem Hauptfest, der Weinlese, nebst Herbstball und Feuerwerk, und bis eine gemeinsame großartige Metzelsuppe für den Eintritt der schlimmen Jahreszeit trösten mußte.

Eine Hauptrolle bei all diesen Herrlichkeiten spielten die vier stattlichen Töchter des Herrn Stadtpflegers, auch Salzfaktors. Es war wirklich eine Lust, dieses ansehnliche Kontingent zu sehen, mit dem der glückliche Vater bei jeder Gelegenheit ausrückte. Ganz vollständige Frauenzimmer waren es, die Auguste wie die Therese, die Karoline wie die Lotte, und tat einem die Wahl weh, welche die andre übertraf an starkem Gliederbau, vollen Wangen und kräftigen Gebärden. Dazu hatte jede noch ein besonderes Talent. Auguste war eine Köchin aus dem Fundament und wurde bei allen Familienfesten gebeten, hilfreiche Hand zu leisten. Therese schlug das Klavier, daß die Fenster in der Nachbarschaft davon erzitterten, sang auch mit heller Stimme: »Einsam bin ich nicht alleine«, »Weit in nebelgrauer Ferne« und erhob dazu die Augen gen Himmel, also daß nur noch das Weiße davon zu sehen war. Karoline hatte [230] sich hauptsächlich auf feine Arbeiten gelegt, häkelte Hauben und Halskragen, stickte Schemel, Pantoffeln und Serviettenbänder zu allseitiger Verwunderung; der Triumph ihrer Kunst, ein Glockenzug mit einer ganzen Chinesenfamilie, hing inmitten der Wand des väterlichen Staatszimmers, ohne die Möglichkeit einer Glocke daran. Lotte aber hatte Zeichnen und Malen gelernt, und alle Wände des Vaterhauses waren behängt mit etwas rätselhaften gemalten Naturansichten: Schweizergegenden, wo die Schneeberge wie entkleidete Zuckerhüte und die Seen wie das davon abgefallene Papier anzuschauen waren; auch Blumenkörbe mit umhergestreuten Blümchen davor; Urnen mit trauernden Jungfrauen und so weiter, darunter allerhand rührende Inschriften, als: »Lotte M. ihrem treuen Vater aus Hochachtung«, »Ihrer geliebten Schwester aus Liebe« und so weiter. Neben diesen schönen Talenten waren sämtliche vier Paläste, wie der Papa sie in zärtlichen Stunden nannte, zu allen häuslichen Geschäften angehalten; das hätte schon Tante Juliane nicht anders getan, die seit der Mutter Tod die Haushaltung und die Erziehung der Töchter leitete. Wenn sie denn nun des Tages Last und Hitze redlich getragen hatten, so war es nicht mehr als billig, daß sie unter der Obhut des Papas ausziehen durften zu allen Kasinobällen und Landpartien; daß sie allenthalben zu sehen waren:


»An aller Tempel und Paläste Pforten,
An allen offnen und verborgnen Orten,
Wo sich die schöne Unschuld zeigen kann.«

Daheim bei der Tante blieb dann »die Kleine«, das Nanettle, des Hauses jüngster Sproß, von den Schwestern mit großer Zärtlichkeit behandelt, solang' sie sich's nicht einfallen ließ, groß sein zu wollen. Sie war fünf Jahre jünger als Lotte und darum verurteilt, das Kind zu bleiben; wollte sie einmal daran denken, daß sie achtzehn Jahre alt sei und doch auch mitmachen könne, dann war's rein aus mit der schwesterlichen Zärtlichkeit: »Das naseweise Ding! Wirst bald genug alt werden! In deinem Alter haben wir noch gar nicht gewußt, daß es Bälle gibt.« [231] Und sie hätten sie doch unbesorgt mitnehmen dürfen; das schmale Gesichtchen und schlanke Figürchen wäre neben ihren gewaltigen Gestalten fast verschwunden. Nanettle schickte sich geduldig darein und war glücklich, wenn sie in Abwesenheit der Schwestern deren leeren Arbeitsplatz am Fenster einnehmen durfte; denn waren sie daheim, so war ihr ihr Plätzchen im Hintergrund am Nähstock der Tante angewiesen.

Eine hochwichtige Person für sämtliche Schwestern war Herr Beutter, ein junger Kaufmann, Besitzer eines sehr gemischten Detailgeschäfts gerade gegenüber; ein überaus stiller Mann, der aber im Ruf vorzüglicher Solidität stand und dessen eheliche Versorgung Gegenstand der Besprechung und Fürsorge der ganzen Stadt war. Die Schwestern schienen wirklich rührenden Anteil an ihm zu nehmen. Frühe am Tag, wenn er unter der Tür seines Ladens erschien, um das Täfelchen mit »Neue holländische Heringe« und die Ankündigung der besten Fettglanzwichse herauszuhängen, saßen stets etliche der Schwestern bereits in voller Arbeit am Fenster. Auguste verlegte sogar manche Küchengeschäfte, als da sind Zwiebelschneiden, Schaumschlagen, Butterrühren, unter großem Protest der Schwestern ins Zimmer; Therese sang und schlug den Pantalon, daß es einen Stein hätte erbarmen können; Karoline war glücklich im Bewußtsein, daß sie am Stickrahmen doch die beste Figur mache, während Lotte neben ihrem Zeichenbrett noch einen Vogelkäfig vor dem Fenster hielt, in dem ein Stieglitz das üppigste Leben von der Welt führte, denn er wurde des Tags wohl sechsmal mit frischem Grün und Wasser versorgt. Infolge dieses Stieglitzen stellte Therese ein Blumenbrett und Auguste etliche Kisten mit Schnittlauch und Petersilie vors Fenster; Karoline, um das Nützliche mit dem Angenehmen zu verbinden, hatte allzeit feine Wäsche an Schnüren draußen hängen.

Nanettle hatte bisher alle Einkäufe fürs Haus besorgen müssen; in neuerer Zeit aber fand Auguste, daß sie Reis und Gerste, Kaffee und Farinzucker am allerbesten bekomme, wenn sie selbst danach gehe; Therese war sehr vergnügt, zu entdecken, daß der Herr Nachbar auch Notenpapier führe; da konnte Karoline [232] nicht umhin, selbst nach Stickgarn und Faden bei ihm zu sehen, und bei Lotte vollends war es natürlich, daß sie ihren Farbenvorrat in eigener Person auswählte.

Herr Beutter hätte viel zu tun gehabt, wenn er auf all diese Zeichen stummer Liebe hätte Antworten bereit halten wollen; darum unterließ er es gänzlich, war zwar allzeit dienstbereit, zeigte aber außer einigen allgemeinen Bemerkungen, als: »A bissele frisch, Fräulein Auguste, a bissele kühl heut«, »Immer fleißig, Fräulein Karoline?« und dergleichen, wenig Gesprächsamkeit. Er machte von Zeit zu Zeit eine Visite beim Herrn Stadtpfleger und erschien auf den Kasinobällen, wo er nach der Altersreihe mit jeder der vier Schwestern tanzte, wenn's keine Polka war, die er nicht gelernt hatte; aber zu welcher der vier sich sein Herz neigte, wenn es sich überhaupt neigte, das blieb ungewiß.

Da erschien einst ein glorreicher Tag für die Familie. Ein höchst musikalischer Provisor, der seit kurzem im Städtchen war, veranstaltete ein Privatkonzert, ein bis dahin in St. ganz neuer [233] Gedanke, und Therese sollte darin in einem Duett mit ihm auftreten. Tagelang erscholl die ganze Straße von den schmelzenden Tönen, die sie einübte, und glänzend waren die Vorbereitungen, die auf dieses Ereignis getroffen wurden. Der Papa mußte den Beutel ziehen und vier neue Foulardkleider anschaffen, ein unerhörter Luxus in St. Selbst die Tante und Nanettle sollten diesmal mitgehen. Karoline putzte der ersteren eine äußerst fashionable Haube heraus, und für die Kleine wurde ein rosenrotes Jakonettkleid, ein Erbstück von Auguste, zurechtgemacht.

Der große Tag brach an. Sämtliche vier Paläste liefen vom frühen Morgen an mit aufgewickelten Haaren herum, so daß heute das Nanettle, deren glattgescheiteltes Haar keine so mühsame Vorschule brauchte, Schnittlauch, Blumen und Stieglitz allein versorgen mußte. Die Stube dampfte vor Wärme, weil den ganzen Tag Bügelstähle glühend gemacht wurden, um die Kleider und Chemisetten auszubügeln. Lotte mußte all ihr Gummi elastikum aufopfern zur Reinigung der hellen Glacéhandschuhe; kurz, es war ein Leben und Treiben, wie wohl schwerlich in einem Palais vor einem Hoffeste. Endlich dämmerte der Abend, der Putz war beendet; die als Wache aufgestellte Magd kam mit der Kunde, daß die Familie des Apothekers und des Gerichtsnotars bereits hineingezogen seien (niemand wollte zuerst kommen); der galante Provisor erschien, um seine Sängerin zu geleiten – sein Musiktalent hatte ihn um eine Rangstufe erhoben –, und der Zug setzte sich in Bewegung: der Papa mit den vier Palästen voraus, daneben als Zugabe der Provisor; dann mit hochklopfendem Herzen Nanettle, das seinen ersten Ausflug in die Welt machte, an der Seite der Tante, die zu großem Entsetzen der Schwestern noch weite Ärmel an ihrem Tibetkleid hatte, weshalb sie sich etwas von ihr wegmachten; denn man konnte nicht wissen, was für Fremde, durch das Konzert angelockt, heute erscheinen würden.

Der Saal war glänzend hergestellt, zum wenigsten sechs Talglichter brannten an den Seitenwänden in blechernen Wandleuchtern, und ein Transparent mit einer Leier und der [234] Inschrift: »Willkommen!«, von Tannenzweigen umgeben, prangte in der Mitte; das Anzünden der Lämpchen dahinter wurde aber von dem Herrn Oberamtmann für feuergefährlich erklärt und unterblieb.

Nach einer Art Ouverture und einem Quartett von ausgezeichneten Mitgliedern des Liederkranzes, wobei nur leider Tenor und Baß in einigen Zwiespalt kamen, trat der Provisor auf, an der Hand zierlich Fräulein Therese führend, die zur Auszeichnung vor den Schwestern ihr Haupt mehrfach mit roten Chenillen umwunden hatte. Mit hohem Erröten arrangierte diese ihre Stellung und überschaute das versammelte Publikum; da gewahrte sie den eben angekommenen Herrn Beutter, höchst elegant, im blauen Frack mit gelben Knöpfen, weißer Weste und blaugestreiftem Atlasschlips, und, o Freude! er unterhielt sich mit keiner der Schwestern, bloß mit der Tante und Nanettle. Dieser tröstliche Anblick stärkte ihren Mut, und mit gewaltiger Stimme hob sie, gegen die Gruppe mehr als gegen den Provisor gewendet, zu singen an:


»Wenn mir dein Auge strahlet,
Ist mir so wohl, so gut,
Und meine Wange malet
Die nie gefühlte Glut!«
Bescheidentlich sang der Provisor dagegen:
»Ach dämpfen Sie dieses Feuer,
Uns trennen fordert Pflicht;
Dem Freunde sind Sie teuer,
Doch fordern Sie Liebe nicht!«

Obgleich durch die höfliche Änderung des Du in Sie von seiten des Provisors der Rhythmus hie und da Not litt, so wurde doch das Duett glücklich unter rauschendem Applaus zu Ende gesungen, und in stolzer Bescheidenheit begab sich Therese an den Tisch, wo die Familie bereits bei Bratwürsten versammelt saß.

Nach einem Solo des Provisors und einem Chor mit Echo, [235] vorgetragen vom Liederkranz, wobei die Sänger, die das Echo vorstellten, sich unter das Bett im anstoßenden Schlafkabinett legten, was eine überraschende Wirkung hervorbrachte, war der Ohrenschmaus vorüber, und die Sänger schauten nach dem Speisezettel, um zu sehen, was das gerührte Publikum für sie übriggelassen hatte.

Herr Beutter war heute ungemein gesprächig und brachte sogar einige Späße zutage, so daß der belesenen Therese die Sage vom Orpheus einfiel. Die Tante gefiel sich auch ungemein, zumal da niemand an ihren Blusenärmeln Anstoß zu nehmen schien und ihr im Gegenteil der Herr Kameralverwalter einmal ums andre seine silberne Dose präsentierte. Die Kleine aber war ganz in sich hinein vergnügt, glückselig, auch einmal in der großen Welt zu sein, und antwortete auf Herrn Beutters freundliche Redensarten, ohne aufzusehen, fast nur mit Lächeln.

Elf Uhr schlug's. Das war die Zeit zum Aufbruch, obgleich der Buchhalter noch etwas von einem Tänzchen gesprochen hatte. Die Kerzen waren herabgebrannt, und der Schwanenwirt bezeigte keine Lust, neue aufzustecken; die Papas waren schläfrig, das Orchester müde: so wurden denn die Schale und Mäntel angezogen, die Laternchen angezündet, und jedermann zog seine Straße, unsre Familie zuletzt; es dauerte so gar lange, bis sie gerüstet war und der Papa sich mit dem Schwanenwirt über die eigentliche Anzahl der genossenen Würste und Brote verständigt hatte. Endlich waren alle auf der Straße; da entdeckte Therese mit großem Wehklagen, daß sie ihre Tasche vergessen habe. »Die läßt man morgen im Schwanen holen,« meinte der Vater. »Nein, ach nein,« rief Therese ängstlich, »um keinen Preis!« und gestand zuletzt, daß ihr Stammbuch in besagter Tasche stecke, das sie bei solchen Gelegenheiten immer bei sich führe, da man ja nicht wissen könne, wo man eine interessante Bekanntschaft mache, und das wolle sie um keine Welt über Nacht in der Gewalt der naseweisen Schwanenwirtstöchter lassen. – »Ich laufe geschwind zurück und hole dir's,« erbot sich das gefällige Nanettle. »Ihr braucht nicht auf [236] [238]mich zu warten; gebt mir nur das Laternchen und geht langsam voraus!«

Unbesorgt ließ man die Kleine gehen, die nach langem Suchen endlich die Tasche samt Stammbuch fand und sich auf den Rückweg machte. »Erlauben Sie, daß ich Sie heimbegleite, Fräulein Nanette?« fragte unter der Haustür des Gasthofs eine bekannte Stimme. Erstaunt erhob Nanettle ihr Laternchen und erkannte den Herrn Beutter, den sie längst mit den Schwestern voraus geglaubt hatte und der nun in artiger Stellung mit zierlich gekrümmtem Arm dastand, um sie heimzuführen. – Das war dem guten Nanettle noch nicht vorgekommen. Den »Faust« hatte sie nicht gelesen, somit fiel ihr keine Entgegnung ein, und hocherrötend, mit frohem Zittern legte sie die Fingerspitzen auf Herrn Beutters Arm und ließ sich heimführen. Herr Beutter aber fühlte heute Löwenmut und wollte die Stunde nicht ungenützt verstreichen lassen. »Fräulein,« hob er an, »Sie sind aber so grausam!« – »Grausam, warum?« fragte das Nanettle in höchstem Erstaunen. Seit sie in der Schule das schöne Sprüchlein gelernt:


»Quäle nie ein Tier zum Scherz,
Denn es fühlt wie du den Schmerz«,

hatte sie nie mehr etwas über Grausamkeit gehört und wußte gar nicht, warum man sie eines solchen Lasters beschuldige. – »Ja, weil Sie mich gar nicht mögen und nicht merken wollen, wie ich Sie so lieb habe,« platzte Herr Beutter heraus, ließ aber, erschreckt über seine eigene Keckheit, ihren Arm los und sprang davon aus Leibeskräften.

»Warten Sie doch, Herr Beutter,« rief das Nanettle, »ich bin ja nicht grausam!« und lief ihm eiligst nach in lauterer Seelengüte, Herr Beutter davon in vollem Galopp, bis der seltsame Wettlauf an seiner Ladentür ein Ende nahm, wo sie beiderseits zur Besinnung kamen und Nanettle sich tief beschämt dem eigenen Hause zuwandte. »Ja, mögen Sie mich denn?« flüsterte eiligst noch Herr Beutter. – »Ich glaube, aber ich weiß nicht,« war ihre Antwort, und im Nu [238] war sie an der Tür, die von der besorgten Tante aufgezogen wurde.

Der Tante wurde noch in der Nacht unter vielen Tränen und heißem Erröten die Geschichte der ganzen großen Begebenheit anvertraut. Sie legte keinen großen Wert darauf und demütigte das arme Kind tief durch die Vermutung, Herr Beutter werde etwas im Kopf gehabt und gar nicht gewußt haben, was er sage; sie stellte dies auch so wahrscheinlich dar, daß das arme Kind in noch größeren Jammer kam, da sie sich ihres eigenen unbedachten Benehmens jetzt aufs tiefste schämte. Zuletzt schlief sie unter bitteren Tränen ein, indem sie rechtes Mitleid mit sich selbst hatte, daß sie noch so jung sei und doch schon so gar unglücklich.

Aber am Morgen kommt die Freude. Und sie kam zuerst in Gestalt von Herrn Beutters dickköpfigem Ladenbuben, der ein schön gefaltetes Schreiben auf Postvelin Nummer eins an den Papa überbrachte. Dieses Schreiben fiel nun wie eine Bombe in das friedliche Haus, denn es enthielt eine Werbung in bester Form »um Dero jüngste Tochter, Fräulein Christiana«. Das fuhr wie ein Schlag aus heiterem Himmel in den Schwesternkreis; das war nicht möglich, es mußte ein Irrtum obwalten, so dumm konnte doch der Beutter nicht sein! Das durfte der Papa nicht zugeben, wäre ja eine Sünde! Ein solches Kind – und heiraten!

Da fing das Nanettle herzlich zu weinen an und sagte, es wisse wohl, daß ihm nichts Gutes beschieden sei; es wolle sich in alles schicken, vielleicht sterbe es bald, das sei am besten. Nun ward die Tante weichherzig und sprach für ihren Liebling; der Vater sah gar kein Hindernis, und die Schwestern begannen, sich zu fassen. Sie waren gutmütige Mädchen und gescheite dazu; denn jede erklärte jetzt, sie sei recht froh, daß der Beutter sie nicht gewollt, für keine hätte er getaugt, und keine hätte ihn genommen. Der Auguste war er viel zu still, zu wenig alert; Therese erklärte, sie nehme keinen, der nicht musikalisch sei; der Karoline wäre es viel zu langweilig gewesen, ihr Leben lang in der nämlichen Gasse wohnen zu müssen, und die Lotte, die [239] konnte gar nicht daran denken, in ein offenes Geschäft zu gehen, wo man Öl und Essig, Käse und Schnupftabak verkaufe und in der Ladenstube wohne. Ja ja, es war recht gut so gegangen, und einen Korb hätte man doch auch nicht gern gegeben. Mit der Kleinen, die noch gar nichts sei, sei der Mann freilich angeführt, aber man könne sie ja noch anleiten – und so weiter.

So wurde dem Papa gestattet, ein Jawort unter der Bedingung gehörigen Aufschubs der Hochzeit zu schreiben. Herr Beutter kam im schönsten Staat und ward vom Vater mit Anstand, von der Tante mit Freudentränen, von den Schwägerinnen mit kühler Freundlichkeit und von dem Bräutchen mit höchster Verlegenheit empfangen. Es brauchte recht lange, bis die beiden sich in die Rolle eines Brautpaars finden konnten; hat sich aber alles gegeben, und wer die hübsche, gewandte Frau jetzt hinter ihrem Ladentisch sieht, glaubt gar nicht mehr, daß sie einst das schüchterne Nanettle war, das dem Herrn Beutter bis an seine Ladentür nachgelaufen ist.

2. Auch ein altes Pärchen

Der verwitweten Frau Stadtschreiber Krollin mußte es in ihrem Ehestand recht gut ergangen sein; denn es gab niemand, der so aufgelegt gewesen wäre, Heiraten zu stiften, wie sie. Wo sie einen »Angestellten« wußte, der noch nicht so glücklich war, verlobt oder vermählt zu sein, da schwebte ihr gleich eine ganze Liste heiratsfähiger Frauenzimmer (»Damen« war damals noch keine übliche Bezeichnung) vor Augen, und sie war unerschöpflich in Entdeckung neuer Kanäle, durch die sie an verhärtete Hagestolzenherzen zu gelangen wußte. Man mußte sie sehen, wenn sie mit ihrer Dose neben sich und einer Kaffeetasse vor sich bei irgend einer Frau Base oder gar bei der Mama eines Ehestandskandidaten saß; mit welch strahlendem Gesicht sie die Töchter des Landes die Musterung passieren ließ und nicht nur von jeder wußte, wie viel sie besaß, sondern auch die Quellen davon. »Ich sage Ihnen, jedes der Mädchen bekommt [240] dreitausend Gulden gleich mit, außer der achtzehnfachen Aussteuer! Die Mutter hab' ich noch ledig gekannt, die ist eine geborene Bernerin, und der alte Berner hat einen ledigen Bruder geerbt mit wenigstens achtzigtausend Gulden.« Und nicht nur reiche Erbinnen hatten sich ihrer Fürsorge zu erfreuen, sie hatte auch Herzen zu herabgesetztem Preis in Petto, gesetzte Frauenzimmer für Witwer mit drei, fünf, sieben bis neun Kindern, resolute Personen, die in ein strenges Geschäft taugten, kurz: »Der Jüngling und der Greis am Stabe, ein jeder ging beschenkt nach Haus.« Waren dann die Leute versorgt, so ließ sie sie ruhig ihrer Wege ziehen, ohne ihre Verdienste geltend zu machen, wenn es gut, oder sich verantwortlich zu fühlen, wenn es schlimm ging; erst wenn sie verwitwet wurden, gewannen sie wieder Interesse für sie.

Die Lebenszeit ihres seligen Mannes, wo sie als Genossin seiner Würde an seiner Seite regiert hatte über die Schar der Schreiber und Substituten, hatte sie redlich benützt. Sie selbst war leider weder mit Töchtern noch mit Söhnen gesegnet; aber sieben Nichten und drei Paten waren nach und nach glücklich an Pfarrer, Schreiber und anderweitige »Subjekte« untergebracht worden und konnten in verschiedenen Teilen des Landes die fürsorgliche Güte ihrer Tante rühmen. Für den Augenblick aber schien die Frau Stadtschreiberin genötigt zu sein, auf ihren Lorbeern auszuruhen. Alle Witwer nah und fern in der Runde waren versorgt, alle Aktuare und Vikare versprochen; einen hartnäckigen Amtspfleger, der, recht ihr zum Trotze, gerade gegenüber mit einer uralten Haushälterin seine ledige Wirtschaft führte, hatte sie als hoffnungslos längst aufgegeben. So saß sie denn eines Morgens in unfreiwilliger Ruhe, wie ein tatendurstiger Krieger zur Friedenszeit, in ihrem wohlgewärmten Stübchen beim Kaffee, als ihr der Hausherr wie gewöhnlich die Zeitung heraufschickte.

Den politischen Teil des Blattes ließ sie stets unberührt; ob's Krieg oder Frieden in der Welt geben werde, das konnte sie doch nicht herausbringen; und von der Zollvereinsfrage wollte sie nichts mehr hören, seit sie fand, daß Zucker und Kaffee doch [241] nicht wohlfeiler wurden. Ihr Lebenselement waren erst die Traueranzeigen, die Beförderungen. Über die Heiratsanträge entsetzte sie sich sehr; sie fand das einen höchst unschicklichen Weg und konnte nicht begreifen, wie ein Frauenzimmer sich entschließen möge, so einen »Zeitungsmann« zu nehmen.

So durchlief sie denn wieder begierig die Reihe der Traueranzeigen; das war aber magere Ausbeute, kein bekannter Name. »Gegenwärtig stirbt doch auch gar niemand Rechtes,« sagte sie verdrießlich, ohne zu ahnen, welche Grausamkeit in diesem Verdruß liege. Bald aber traf sie auf ein erfreulicheres Feld: »Seine Königliche Majestät haben geruht« – zuerst Hauptleute, Ober- und Unterleutnants und so weiter; das war ihr gleichgültig, um Militärpersonen hatte sie sich noch nie bekümmert; gleich darauf aber kam's besser –: »die evangelische Pfarrei Schniezingen dem Pfarrer Brommeler von Bergmühl zu übertragen.« Das fiel wie Tau auf trocken Land, und eine Welt von Gedanken quoll aus diesen dürren Worten. War nicht Schniezingen in der nächsten Nähe, kaum eine Stunde entfernt von ihrem Wohnsitz? Und war's nicht gut, daß der langweilige Amtsverweser von dort wegkam, der so frech gewesen, sich eine Braut auf eigene Hand auszuwählen, eine Ausländerin aus dem Badischen, von der kein Mensch wußte, wem sie gehörte? War nicht der Pfarrer Brommeler ein naher Vetter, das heißt ein Schwager von einem Drittekind ihres seligen Mannes, und seit drei Jahren Witwer? Welche Aussicht, welche Reihe von Plänen! Das einfältige Bergmühl lag fast am Ende des Landes, da hatte man dem Brommeler mit keinem vernünftigen Vorschlag beikommen können; nun war's recht gut, daß er noch nirgends unvorsichtig »hineingetappt« war, daß man noch für ihn sorgen konnte.

Flugs setzte sie sich hin, um dem Herrn Vetter die Verwandtschaft ins Gedächtnis zu rufen, zu der guten Pfarrei zu gratulieren und ihre Dienste zu etwaigen Anordnungen wegen Hausputzen, Kunstherdsübernahme, Gartenbesorgung und so weiter anzubieten. Nachdem sie mit vieler Anstrengung diese Epistel zustande gebracht, konnte sie sich getrost weiteren Operationsplänen [242] überlassen. Ein Witwer ohne Kinder auf einer so guten Pfarrei! Sie wußte noch gar nicht, wem sie diesen leckeren Bissen zuwenden sollte. Dazu mußte der Brommeler noch ein ganz stattlicher Mann sein in den besten Jahren. Das brauchte reifliche Erwägung. Aber war sie denn auch gewiß, daß er noch Witwer war? Vor zwei Jahren war er's noch gewesen, sie hatte aber damals schon gehört, daß seine Haushälterin sich scharf um ihn bemühe; konnte es nicht sein, daß die Bemühungen dieser schlechten Person – jede Heirat war unstatthaft, die nicht durch ihre Vermittlung zustande kam – indes gelungen waren? Das mußte ermittelt werden.

Glücklicherweise fiel ihr ein, daß in der fünf Stunden entfernten größeren Stadt die Frau Kammerdiener Rutscher wohne, ein leiblich Geschwisterkind des Brommeler und ihr durch diese Verwandtschaft von lange her bekannt. Sie hätte schon längst in die Stadt sollen, um sich dunkeln Kattun zu einem Überrock zu kaufen, da sie durch die fünf Musterpäcke, die ihr zugesandt worden waren, noch nicht zur Entscheidung hatte kommen können. Da war's denn am besten, sie faßte den Entschluß, selbst auszuwählen und zugleich bei der Frau Rutscher Erkundigungen einzuziehen. Demzufolge wurde ein Platz im Deckelwagen des Stadtboten bestellt. Damals gab es weder Eisenbahnen noch Omnibusse, und man traf Anstalten, als gelte es eine Reise um die Welt.

Eine Fahrt mit dem Stadtboten hatte die Unannehmlichkeit, daß man schon morgens um vier Uhr bereit sein mußte; für eine alte Frau eine harte Zumutung. Salome, die alte Magd, hatte den ganzen vorhergehenden Tag zu laufen, bis alles gehörig besorgt war. Da mußte ein halb Pfund Kaffee geholt werden, um nach alter guter Sitte der Frau Rutscherin eine kleine Verehrung mitzubringen; ferner mußte man Milchbrot rösten zum morgigen Frühstück, da so früh noch nichts beim Bäcker zu haben war; sodann den Bäckerjungen bestellen, daß er eine Stunde vor der Aufbruchszeit am Hause schelle, um zu wecken; auch mußte die Staatshaube noch zur Putzmacherin und das feine Merinokleid gehörig gebürstet werden. Endlich [243] legten sich Frau und Magd um sieben Uhr abends zur Ruhe, um gewiß morgens bei Zeit wach zu sein.

Nach einer endlosen Fahrt, eingezwängt mit dem Nachbar Kupferschmied, zwei Mägden, die Dienste suchten, und der Familie des Boten, zwischen Kisten, Schachteln und Koffern, kam die Frau Stadtschreiberin matt und müde, wie gerädert, in der kleinen Residenz an. Sie hätte gern unterwegs den versäumten Morgenschlaf nachgeholt, aber bei jedem Nicken war ihr Kopf in bedrohliche Berührung mit dem Kessel gekommen, den der Kupferschmied in die Residenz lieferte und der im Fond des Wagens aufgepackt war. Es war nahe an zehn Uhr, als sie ausstieg, um sich zu Frau Rutscher zu begeben, die sie, wie sie hoffte, in verschiedene Kaufläden begleiten werde, um den Kattun auszuwählen.

Ein Regenguß drohte, als sie eben die Pforte der Rutscherschen Wohnung erreichte, sehr verlangend nach einem guten Kaffee und einer warmen Stube. Siehe, da stand Tür und Tor weit offen; die hochaufgeschürzte Magd war zwischen Kübeln und Sandscherben in vollster Putzarbeit und gab kurzen Bescheid. Herr Rutscher war im Schloß und kam heute nicht heim, die Frau war über Land bei ihrer Tochter, der sie im Wochenbett wartete. Die Magd traf nicht die mindeste Anstalt zur Aufnahme und Bewirtung der Frau Stadtschreiberin. Seufzend schickte sich diese an, ihren Stab weiter zu setzen, ohne zunächst zu wissen wohin. Da kam eine sehr sorgfältig gekleidete ältliche Frau soeben mit nassem Regenschirm zur Haustür herein und hörte noch das Gespräch. »Ach, das wird der Frau Rutscher gar leid sein, so einen raren Besuch zu versäumen! Sie hat mir schon manchmal von Ihnen erzählt. Aber Sie werden doch nicht in dem Wetter fort wollen? Bemühen Sie sich in mein Stübchen!« lud sie die höfliche Frau ein, die, wie die Magd zu der Frau Stadtschreiberin beiseite sagte, Frau Pfarrer Senner war und im oberen Stock wohnte.

Nach unzähligen Komplimenten ließ sich die Frau Stadtschreiberin bewegen, mit der Frau Pfarrerin in ihr recht nett gehaltenes Mansardenstübchen zu gehen und dort ein Täßchen [244] Schokolade zu trinken, das diese in Ermangelung einer Magd unter unendlichen Entschuldigungen wegen ihres öfteren Ab- und Zugehens selbst bereitete. Zuletzt ließ sich die Frau Stadtschreiberin sogar noch nötigen, zum Essen zu bleiben, wobei es freilich etwas knapp zuging, da sich die Frau Pfarrerin aus einer Menage speisen ließ: aber dafür besserte sie mit einem guten Kaffee nach, so daß die beiderseitigen Herzen vollständig aufgingen. Es ergab sich, daß der Vater der Frau Pfarrerin Diakonus im Ort gewesen, wo der Vater der Frau Stadtschreiberin als Dekan gelebt; somit war es eine alte Bekanntschaft.

Die Frau Pfarrerin war überaus sorgfältig, wenn auch in billige Stoffe gekleidet, hatte sogar etliche Blümlein in ihrer Haube und ein himmelblaues Band darauf, zum Zeichen, daß sie noch für jung gelten wollte, was ihr aus einiger Entfernung auch gelingen konnte, wenn man ihre falschen Haare und ihren zahnlosen Mund übersah. Sie hatte der Frau Stadtschreiberin viel zu klagen über ihre bedrängte Lage, in der sie sich seit ihres Mannes Tod befinde. Bisher habe sie zwei Söhne eines wohlhabenden Vetters bei sich gehabt und mit deren Kostgeld ihre Haushaltung bestritten; jetzt aber habe dieser sie heimgenommen und halte ihnen einen Hofmeister, und ihr bleibe keine Wahl, als zu einem Stiefsohn zu ziehen, was sie bitter ungern tue.

Die Frau Stadtschreiberin hatte großes Mitleid mit ihrer Wirtin, und als diese nachmittags mit ihr in sechs Kaufläden herumzog, wo sie das halbe Warenlager herabreißen ließen, bis sie im letzten endlich über den dunkeln Kattun einig wurden, da war die neue Bekanntschaft bei ihr auf den Gipfel der Gunst gestiegen. Es war ein vortrefflicher Einkauf, dieser dunkle Kattun, so fein im Boden, so echt in der Farbe, so bescheiden und doch freundlich, so einfach und doch simpel. Über diesem gelungenen Handel und einem vorteilhaften Einkauf in Reis, den sie um einen halben Kreuzer wohlfeiler bekam als daheim und von dem sie daher einen Achtelszentner aufpackte, vergaß sie fast ganz den eigentlichen Zweck ihres Besuchs, und nachdem sie den Stadtboten drei Viertelstunden hatte warten lassen, weil der Metzger die guten und billigen Würste, die ihr die Frau [245] Pfarrerin verraten, noch nicht fertig hatte, fuhr sie ganz befriedigt ab und berechnete unterwegs, wieviel sie auf dieser Reise profitiert habe.

Die Frau Stadtschreiberin hatte nun freilich nichts Näheres über den Pfarrer Brommeler erkundet; das war aber auch nicht nötig, denn nach vier Tagen erhielt sie bereits einen Brief von ihm selbst, in dem er sich schönstens bedankte für ihr freundliches Zuvorkommen, seiner einsamen Lage erwähnte und meldete, daß seine Haushälterin den Kunstherd übernehmen wolle, wenn auch ein Backöfele dabei sei und die Töpfe alle in gutem Zustand. Also war er noch Witwer! Das war die feste Grundlage, auf der sich weiterbauen ließ, und jetzt erst kam ihr ein Lichtgedanke: die Frau Pfarrerin, das war ja die allerbeste Frau für den Brommeler! Sie brauchte dann nicht zu ihrem Stiefsohn zu ziehen, und beide hatten keine Kinder; das paßte alles vortrefflich. Ein bißchen alt war sie freilich, aber sie stellte doch noch etwas vor. Ja, es gestaltete sich immer fester in ihrem Kopf: so mußte es werden.

Als nach sechs Wochen der Herr Vetter Brommeler kam, um seinen neuen Dienst anzutreten, ward er von der Frau Base zuvor mit Kaffee bewirtet, ehe ihn eine Deputation der Gemeinde in sein vollkommen gerüstetes und bereitetes Pfarrhaus einführte, und mit dieser Stunde begann die Frau Stadtschreiberin die Ausführung ihres Operationsplans. Jungfer Philippine, die Haushälterin, die stets höchst besorgt um ihren Gebieter herumscherwenzelte, hatte nicht so ganz unrecht mit dem instinktartigen Widerwillen, den sie bald unverkennbar gegen die Frau Stadtschreiberin an den Tag legte; denn allerdings mußte diese ihr Werk damit beginnen, daß sie die Herrschaft der Philippine untergrub und dem Pfarrer die Notwendigkeit einer Frau recht zum Bewußtsein brachte. Zu dem Ende wunderte sie sich gewaltig über den bisherigen Holz-, Zucker- und Kaffeeverbrauch des Herrn Vetters; fand seine Hemden etwas vergilbt, das Tischzeug nicht schön gewaschen, und der Schlußseufzer bei allem war stets: »Freilich, wo eben keine Frau ist!«

[246] Der Pfarrer ließ hie und da ein Wörtchen fallen von einer gesetzten Pfarrtochter der Gegend, von der und jener jungen Witwe, von Jungfer Philippine selbst; da wußte aber die Frau Stadtschreiberin so gewichtige Einwürfe, so schlagende Gegengründe, daß er an keine mehr zu denken wagte. Endlich nach wochen-und mondenlangem Streben hatte sie's zum großen Ziel gebracht, daß der Herr Vetter sagte: »Ja, wenn Sie mir eine taugliche Person wüßten, Frau Base!« Nun war der Damm gebrochen: »Ja, denken Sie, Herr Vetter, ich wüßte jemand, der ganz für Sie geschaffen wäre.« – »Doch nicht zu jung?« – »Bewahre, was denken Sie! Ein recht gestandenes Frauenzimmer, eine Witfrau.« – »So? – nun – wissen Sie, Frau Base, aber – ich sehe zwar nicht aufs Äußerliche – aber so eine ältere Person hat oft schon allerlei an sich; ich sollte jemand haben, der mich aufheitert; auch eine Person, die noch sauber ist, wissen Sie, schon wegen der Gemeinde.« – »Ja, das wäre es gerade: eine so lebhafte Person, sie weiß von allem zu sprechen, und noch so gar wohl erhalten, weiß sich so nett zu kleiden; ich glaube, sie wird kaum etwas über vierzig sein.« Die Frau Stadtschreiberin beruhigte ihr Gewissen in der Stille mit dem Gedanken, daß nirgends bestimmt sei, wie viel »etwas« sei. »Und dann«, meinte der Herr Pfarrer, »werde ich doch allmählich älter (er war in den Sechzigen); da sollte sie mich auch in kranken Tagen wohl verpflegen können; es kann an den kräftigsten Mann etwas kommen.« – »Ach, das wäre da gerade die Hauptsache: ihr erster Mann ist zehn Jahre kontrakt gewesen und hatte die Kopfgicht.« – Kurz, die Frau Stadtschreiberin kam so in Eifer, daß Frau Pfarrer Senner sich am Ende zu einer Perle sonder Preis verklärte und der Pfarrer kaum erwarten konnte, bis er dieses Kleinod zu Gesicht bekam.

Nun war die gute Frau in ihrem Element; schon auf kommenden Montag versprach sie eine Zusammenkunft einzuleiten und zog glorios ab, indem sie den schnippischen Abschiedsknicks der Jungfer Philippine mit einem Blick voll triumphierenden Hohns erwiderte. Rüstig, als ginge sie selbst auf Freiers Füßen, wandelte die siebenundsechzigjährige Frau heim.

[247] Viel flinker als das letzte Mal rüstete sie sich jetzt zur Reise in die Stadt, und der dunkle Kattun wurde dabei in die Welt eingeführt. Frau Rutscher war diesmal daheim, aber die Frau Stadtschreiberin hörte nur mit halbem Ohr auf den sonst so interessanten Bericht von ihrer Tochter Wochenbett und dem Gedeihen des Säuglings, obgleich die Heirat dieser Tochter auch eine ihrer wohltätigen Stiftungen gewesen war. Sie suchte so bald als möglich zur Frau Pfarrerin hinaufzukommen, die schon nach vier Wochen den sauren Zug zu ihrem Stiefsohn antreten wollte. Als die begleitende Frau Rutscher abgerufen worden war, konnte die Frau Stadtschreiberin endlich herausrücken mit ihrem Plane, obgleich sie in der Stille denken mußte, Frau Senner könne ebensogut »etwas« über fünfzig sein. So ganz mit offenen Armen, wie sie erwartet, eilte ihr Schützling dem verheißenen Ehestandshimmel nicht entgegen. Wenn es eben ein zu alter Mann sei und kränklich, so wisse sie wirklich nicht ... Sie sei der Ruhe so bedürftig, leide so viel im Magen, daß sie selbst Pflege brauche; wenn sie wüßte, daß sie in große Unruhe käme und so weiter. – Bewahre! das ruhigste Leben von der Welt, ein ganz rüstiger Mann und ein schönes Vermögen! Da könne sie sich die besten Tage machen; jeden Winter werden acht Gänse gestopft, und eine so schöne Haushaltung! Kurz, der Frau Pfarrerin wässerte am Ende der Mund nach der geschilderten Herrlichkeit, und sie versprach, sich am Montag einzufinden, obwohl sehr verschämt und verlegen. Die Frau Stadtschreiberin kaufte noch ein Viertelpfund Anisbrot auf diesen großen Tag und fuhr im Triumph nach Hause.

Der Montag kam. Salome und die Frau Stadtschreiberin waren eine Stunde früher als sonst aufgestanden, hatten frischen Kaffee geröstet, Gugelhopfen gebacken und die Stube schönstens geordnet. Um elf Uhr kam die Frau Pfarrerin, die auf dem Fuhrwerk eines Briefpostillons bis eine halbe Stunde vor dem Städtchen hatte fahren können, aufs sorgfältigste geputzt, im schwarzseidenen Kleide und der Haube mit himmelblauem Band. Von der großen Frage des Tages ward gar nichts gesprochen, [248] dazu waren beide zu diplomatisch; sie verzehrten in Eintracht einen Kalbsbraten unter neutralen Gesprächen. Salome, die natürlich im Geheimnis war, musterte die Kandidatin scharf, schien aber nach ihren halblauten Selbstgesprächen in der Küche nicht sehr erbaut. »Hm, hm, da hat meine Frau nichts Besonderes herausgelesen: steinalt, und hat erst nichts; da hätt' ihn meine Frau fast selber nehmen können.«

Um zwei Uhr hielt die Kalesche des Herrn Pfarrers, für eine Pfarrkutsche noch ein ganz ansehnliches Möbel. Die Frau Stadtschreiberin stieß ihren Schützling bedeutsam an, und diese verspürte fast etwas wie Herzklopfen, obgleich ihr Herz ein wenig eingerostet war für derartige Bewegungen. Der Herr Pfarrer, der die Damen am Fenster bemerkt hatte, wollte sich ganz jugendlich aus dem Wagen schwingen, welcher Versuch aber ohne die Beihilfe seines alten Matthes, des Pfarrkutschers, fast schwer mißlungen wäre. Er war etwas steif auf den Beinen, sonst noch ein sauberer Mann, und hatte eine kurze Uhrkette mit einer Menge goldener Petschafte auf seiner schwarzseidenen Weste hängen.

Oben begrüßte er die Damen mit der zierlich steifen Galanterie seiner Jugend, war aber etwas betroffen beim Anblick des alternden Weibes, das den ihm beschiedenen Engel vorstellen sollte, und flüsterte der Frau Stadtschreiberin bedenklich zu: »Aber hören Sie, mit den vierzig Jahren –«. – »Nun ja, vielleicht kann sie auch fünfzig sein,« meinte die Frau Base begütigend und ordnete ihren Kaffeetisch. Sehr belebt wurde die Unterhaltung nicht, da die Frau Pfarrerin, um ihren gänzlichen Zahnmangel nicht zu offenbaren, meist etwas undeutlich sprach und der Herr Pfarrer, um sein übles Gehör zu verbergen, nur mit »Ja, ja, o freilich« und dergleichen antwortete.

Nachdem die Frau Stadtschreiberin ihre ganze Unterhaltungskunst erschöpft, in verschiedenen gewandten Wendungen die Geschicklichkeiten der Frau Pfarrerin sowie die Vorzüge der Pfarrei Schniezingen ins Licht gestellt hatte, beschloß sie, als letztes probates Mittel, das Paar allein zu lassen. – Da [249] ward die stille Unterhaltung noch stiller, bis aus purer Verlegenheit der Herr Pfarrer sich ans Fenster stellte mit der Bemerkung: »Eine recht freundliche Aussicht.« Die Frau Pfarrerin gesellte sich zu ihm und stimmte höflich bei, wodurch beide einen sehr bescheidenen Geschmack an den Tag legten, denn man sah in der engen Gasse nichts als die gegenüberliegende Schmiede mit einem struppigen, verwahrlosten Gärtlein. Die ungeduldige Frau Stadtschreiberin schaute nach einer Weile zur Tür herein, und als sie die beiden so schweigsam beisammen stehen sah, konnte sie nicht anders denken, als es sei nun auf dem Punkt der Erklärung, und um den glücklichen Augenblick zur Reife zu bringen, rief sie mit heller Stimme: »Aber, Herr Vetter, geben Sie doch Ihren Gefühlen auch Worte!« und verschwand wieder.

Das war eine harte Zumutung, und der Herr Vetter wäre gern in ein Mausloch geschlüpft, wenn's angegangen wäre, da seine Gefühle dermalen in nichts als in einer gewissen Unbehaglichkeit und in dem Wunsch bestanden: »Wenn ich nur mit heiler Haut draußen wäre!« Der Zuruf der Frau Base gab aber der Sache eine bedenkliche Wendung. Die Frau Pfarrerin schien es anders aufzunehmen, denn sie hob mit sittsam niedergeschlagenen Augen an: »Es hat mich wohl viel Überlegung gekostet – wenn man einen so rechtschaffenen Mann gehabt hat – aber meine Lage ist freilich sehr einsam.« Was wollte der gute Pfarrer machen? Er hatte noch zu viel ritterliche Gesinnung aus der guten alten Zeit, um unter solchen Umständen eine Dame im Stich zu lassen; so ergänzte er denn die halben Worte der Frau Pfarrerin, und als die Frau Stadtschreiberin wieder eintrat, stellte er ihr seine Frau Braut vor, deren Hand er zierlich an die Lippen führte.

Die Ehestifterin war überglücklich und konnte nicht müde werden, jedem der beiden zu Gemüt zu führen, wie vortrefflich sie gewählt haben. Ja sie holte eigenhändig ein paar Flaschen vom langgesparten köstlichen Elfer, den sie noch aus ihres Mannes Glanzzeiten besaß, um des Bräutigams Feuer zu beleben und um seinen Mut zu stählen für den kritischen[250] Augenblick, wo er der Jungfer Philippine die Neuigkeit mitzuteilen hatte.

Die Frau Pfarrerin war eine äußerst glückliche Braut und dankte Gott für das gute Plätzchen, das er ihr für ihre alten [251] Tage beschert hatte. Der Herr Bräutigam erlaubte sich während der Brauttage noch einmal die Bemerkung gegen die Frau Stadtschreiberin: »Frau Base, ich meine, sie müßte auch über fünfzig sein.« – »Nun, und was ist's denn, wenn sie auch fünfundfünfzig ist?« – So dachte am Ende der Herr Pfarrer selbst und wurde noch so zärtlich wie nur irgend ein getrösteter Witwer, welche Zärtlichkeit mich stets an zweimal aufgegossenen Tee mahnt, den man recht süß einschenkt, um das mangelnde Aroma des ersten Gusses zu ersetzen.

Die Hochzeit ward nicht lange verzögert; da sich aus dem Taufschein ergab, daß die Frau Braut bereits an den Sechzigen war, so hatte das Pärchen allerdings nicht viel Zeit zu verlieren. Jungfer Philippine zog mit stillbeleidigter Würde und allerlei dunkeln Prophezeiungen ab und die Frau Braut mit ihrem bescheidenen Hausrat ein. Die Pfarrkalesche wurde neu lackiert, und der Herr Pfarrer führte seine junge Frau darin zu allen Pfarrkränzen und sonstigen anständigen Gelegenheiten und sorgte auch stets dafür, sie mit modernem Putz zu versehen, wie er sich mit ihren Jahren vertrug.

Mit der Verpflegung wurde es nun freilich nicht viel; hatte der Mann einen Rheumatismus im Rücken, so hatte die Frau das Reißen in den Gliedern; klagte er über Ohrensausen, so klagte sie über Magenweh, so daß sich am Ende die Rolle umkehrte und der Pfarrer als rüstiger Greis einherschritt, während sie als zitternde Alte an seinem Arm hing. Das ließ er sie aber nicht entgelten, und er nahm ein armes, demütiges Bäschen ins Haus, das mit dankbarer Geduld sich den beiderseitigen Launen des alten Paares fügte.

So lebten sie neben all ihren Klagen über schlechten Magen und schlechte Zeiten in großer Eintracht zusammen, und es war der Mühe, die sich die Frau Stadtschreiberin gegeben, die Verbindung zustande zu bringen, immerhin noch wert gewesen. Sie feierten noch die silberne Hochzeit zusammen, und als der Pfarrer, gesättigt von langem Leben, in seinem neunundachtzigsten Jahre entschlief, drückte ihm das Mütterchen in gewisser Aussicht baldiger Nachfolge getrost die Augen zu.

[252]

3. Der Witwe Töchterlein

»Und sie war eine Witwe.« Wie manchem stillen Gesicht sind in wehmütigen Zügen diese inhaltschweren Worte eingeschrieben! Wie tiefe Geltung das Witwenleid hat, zeigt die Sitte fast aller Zeiten und aller Völker, bei denen ein Funke geistigen Lebens schimmert, die Sitte, die den Witwenstand als einen eigenen, durch die Weihe des Schmerzes geheiligten, achtet. Wie viele der schönsten Frauentugenden sind nicht erst in der Prüfungsglut des Witwenstandes zu reinem Gold geläutert worden! Welche Schule für junge und alte Frauen könnten die Wände eines Witwenstübchens werden, wenn sie reden könnten von den innigen Abbitten, von den leisen Seufzern sühnender Reue, von den frommen Gebeten voll Liebe und Vergebung, die an ihnen verhallten! Wie viel Entschuldigungsgründe für so manche oft schwer gerügte Fehler der Witwen: ihr zu zaghaftes Sorgen, zu ängstliches Sparen, ihr zu häufiges Klagen, zu reizbare Empfindlichkeit, liegen nicht in den kleinen Steinen und unsichtbaren Dornen, die den einsamen Pfad der Witwe erschweren! Wie verzeihlich ist ihre allzu nachsichtige Mutterliebe! Lacht nicht, wenn eine Witwe ein recht gewöhnliches Söhnchen als einen Inbegriff der Vortrefflichkeit, als den Sproß einer reichen Zukunft ansieht; wenn sie selbst über seine Fehler noch mit geheimem Stolz klagt, ihr Unentbehrliches opfert, um seine oft unnötigen Wünsche zu befriedigen; wenn kein Mädchen ihr erlesen und würdig genug scheint, ihren Liebling zu beglücken! Lacht nicht, und denkt, wie viel begrabene Liebe und Treue, wie viel Sühne für Versäumnisse, deren nur sie sich bewußt ist, nun zu verschwenderischer Güte wird gegen dieses Abbild des Verlorenen! Spottet nicht, wenn eine Witwe mit dem Munde sich glücklich preist, ihr Töchterlein noch lange um sich zu haben, während ihr Herz sich sehnt nach dem Augenblick, wo sie es an der Seite eines guten Mannes aus dem Witwenstübchen entlassen könnte, oder wenn sie nicht müde wird, durch allerlei bescheidene Wendungen die Tugenden [253] dieses Töchterleins ins Licht zu stellen! Spottet nicht, sondern bedenkt, in wie rosigem Licht ihr selbst das nun versunkene Glück der Ehe erscheint, wie schmerzlich sie selbst empfinden gelernt hat, was es heißt, allein und schutzlos zu sein!

Eine Witwe war es denn auch, die alle Liebesfülle eines einst schlecht belohnten Herzens, alle noch übrige Kraft eines durch langes klageloses Leid geknickten Geistes auf die Erziehung ihres einzigen Töchterleins verwendete. In Anna hoffte sie all die Blüten aufgehen zu sehen, die ihr selbst in der Knospe gewelkt waren; in ihrer Zukunft wollte sie das Glück finden, das sie selbst nur in Jugendträumen genossen hatte. Nie ist ein Pflänzchen zärtlicher gepflegt, sorgsamer von Unkraut gereinigt, liebevoller an Licht und Luft getragen worden als dieses schwarzäugige Annchen. Auch war der Mutter Pflege nicht vergeblich; ein so unruhiges und vorlautes Kind das Annchen war, ein so hübsches, gescheites und anstelliges Mädchen wurde die Anna. Es war der Mutter gar nicht übelzunehmen, wenn sie mit stillem Entzücken ihr rühriges Walten sah, ihren munteren Einfällen lauschte und wenn sie bei sich dachte, der sei unter einem glücklichen Stern geboren, der einmal dieses Kleinod davontrage.

Aber das Kleinod war nicht in Gold gefaßt, nicht einmal in Silber, und die Welt wird so reell; die Männer sind so zartfühlend und rücksichtsvoll: ehe sie ein edles Wesen der Möglichkeit aussetzen, einst im Alter darben zu müssen, heiraten sie lieber gar nicht oder eben eine Reiche. So schaute denn mancher gern in die hellen schwarzen Augen Annas; aber einer um den andern ging an der Witwe Tür vorüber, den stattlichen Portalen reicher Häuser zu. Das Myrtenbäumchen, das seit Annas sechzehntem Geburtstag ihr Fenster schmückte und das die Mutter ganz heimlicherweise viel sorgsamer pflegte als das Töchterlein, grünte und sproßte; Anna hatte schon manchen Zweig davon zum Brautkranz einer Freundin geschnitten, aber blühen wollte es nicht. Die Mutter war zu feinfühlend und zu stolz, um irgendwelche der geschickten Veranstaltungen zu treffen, durch die gewandte Mütter blöde junge Leute mit [254] sanfter Gewalt ihrem Glück entgegenführen. So ergab sie sich allmählich darein, ihr Röslein ungepflückt daheim verblühen zu sehen, und tröstete sich mit dem Gedanken, wenn ihr nun auch das Glück versagt bleibe, das sie für sie geträumt, so werde sie doch mit den Dornen verschont bleiben, die ihr selbst so bald aus den Knospen des bräutlichen Glücks erwachsen waren, und sie lernte ohne Sorgen und Fragen ihres Kindes Zukunft in die Hand legen, welche die Vögel unter dem Himmel versorgt.

Anna war ein Mädchen, ein echtes und ein stolzes Mädchen, und alle solche Pläne, Wünsche und Hoffnungen lagen bei ihr noch viel, viel tiefer im Grund ihres Herzens. Wenn sie auch da und dort ein leises Gefühl von Kränkung und Zurücksetzung nicht unterdrücken konnte, so trug sie doch ihr Mädchenstolz und guter Jugendmut darüber weg. Es gibt sehr stille Erlebnisse, so still, daß zwei Menschen, die aufs innigste vereint sind, sie zusammen erfahren, zusammen tragen und zusammen überwinden können, ohne daß ein Wort darüber auf ihre Lippen tritt. Erlebnisse dieser Art waren vielleicht auch schon an Mutter und Tochter vorübergegangen; Anna hatte sich in ihren stillen Tränen die Augen hell gewaschen und sah die Mutter frisch und freundlich an; auch fehlte ihr's zu keiner Zeit an munteren Einfällen und witzigen Ausfällen; es sind nicht immer dornenlose Rosen, die der Tränentau befeuchtet.

Es gibt ein Alter, wo man eine wahre Leidenschaft hat, zu verzichten, wo Ergebung und Entsagung die großen Schlagwörter sind; unsre ganze große Literatur hat diese Krankheit durchgemacht, da ist sie an einem einzelnen Menschenkind gar nicht verwunderlich. Solche jungen Entsagungen gemahnen mich an jenes Trauerspiel, wo im dritten Akt alle Personen erschlagen sind und in den zwei letzten nur noch ihre Geister spielen sollen. Anna war dreiundzwanzig Jahre alt und ganz und gar ergeben in den Gedanken, der Mutter Stütze zu sein bis an ihren Tod, rein fertig und abgefunden mit allen Jugendhoffnungen und Wünschen, und kam sich so ruhig vor wie gefrorenes Wasser.

Aber langweilig schien's Anna doch manchmal, gewaltig [255] langweilig, sie konnte nichts dafür; wenn so ein Tag um den andern aufmarschierte und wieder abzog und jeder aufs Haar seinem Vorgänger glich; wenn sie alle Morgen Punkt sieben Uhr mit der Mutter am Nähtisch saß und ihre Augen, so oft sie sie erhob, auf nichts fielen als auf die Inschrift an der Tafel des Nachbarhauses: »Seifen- und Lichterverkauf von J. J. Schnazkobel«, falls sie nicht etwa ein Stockwerk höher schaute, wo ein gemalter Stiefel und ein grasgrüner Schuh die Werkstätte eines Schuhmachers bezeichneten; wenn sie Tag für Tag nach Tisch einen Spaziergang mit der Mutter machte, einmal zum oberen Tor hinaus durch die Krautäcker, das andre Mal durch das untere über die Gemeindewiese. Freilich wurde diese Einförmigkeit hie und da durch eine Visite oder eine Landpartie unterbrochen; auch fand alljährlich ein Fastnachtsball statt, auf dem sich fünf Musikanten, sieben Tänzer und fünfzehn tanzlustige Damen einfanden, und Anna konnte genau ausrechnen, welcher der sieben sie nach einigen unfreiwilligen Sitzungen zum Tanze führen werde. Aber das waren doch nur magere Freudenblümchen für ein junges, lebenswarmes Herz. Einmal, nur einmal, meinte sie, sollte doch auch etwas Besonderes geschehen.

Nun ja, einmal kam denn auch der Postbote und brachte einen Brief vom Herrn Onkel Schneck; das war doch so eine Art von Begebenheit. Der Herr Onkel war eigentlich ein Stiefonkel von Anna; er und seine Frau hatten, da sie kinderlos waren, nach dem frühen Tode von Annas Vater der Witwe das großmütige Anerbieten gemacht, die Kleine zu sich zu nehmen. Daß die Witwe sich dazu nicht entschließen konnte und lieber ihr schmales Brot mit dem Kinde teilen wollte, das hatten sie ihr schwer verübelt und seither den Verkehr fast ganz abgebrochen. Jetzt aber war der Onkel über von der Gicht geplagt, und die Tante hatte sich den Fuß verstaucht, so daß sie für Wochen ans Bett gebannt war und ihrer Magd die Schlüssel lassen mußte. Da erinnerten sie sich denn gnädigst der Nichte und baten die Mutter, sie auf einige Wochen zur Hilfe zu senden; »viel sei freilich nicht geholfen mit so jungen Mädchen, aber es sei dann doch eine eigene Person.«

[256] Die Mutter, welche die Herrlichkeit in Onkel Schnecks Hause wohl kannte und der es so schwer wurde, sich von ihrem Kleinod zu trennen, hatte wenig Lust, der Einladung Folge zu leisten. Anna aber bewies ihr eifrigst, wie empfindlich die Leute über eine abschlägige Antwort sein würden und wie nützlich es für sie wäre, sich auch in einer andern Haushaltung umzusehen. Diesmal täuschte sich die gute Mutter ein wenig, wenn sie diese Bereitwilligkeit für lauteren Edelmut und Lerneifer hielt. Sie nahm es fast übel, daß Anna die Trennung nicht schwerer wurde und daß sie mit so glänzenden Augen in die Welt hinausfuhr in dem bescheidenen Einspänner, der sie auf die nächste Poststation bringen sollte, die resignierte, kühle Anna! Wie kurz war ihr der lange Weg durch diese neue Welt! Mit wie hübschen Bildern malte sie sich die neuen Verhältnisse aus, und wie kläglich wurde sie getäuscht!

Der erste Eindruck, Onkel Schneck in seiner Zipfelmütze und einem Schlafrock, der ein wahres Kaleidoskop von verschiedenen Flecken war, und die Tante in kattunener Nachtjacke und stahlgrünem Rock, hatte noch etwas von einem niederländischen Stilleben; aber es ward gar bald laut, und der Reiz der Neuheit verflog außerordentlich schnell.

Gern hätte sich Anna in das Amt einer barmherzigen Schwester gefunden, des Onkels Fontanelle und der Tante Fuß verbunden; gern dem Harthörigen die Zeitung vorgeschrien und daneben Küche und Keller besorgt, wenn nicht ein Geist zänkischen Unfriedens, erbärmlicher Klatscherei, ruhelosen Mißtrauens und fabelhaften Geizes im Hause gewaltet hätte, der alles versäuerte. Es war eben nicht so schlimm gemeint, aber es konnte doch keiner Seele wohl werden in dieser Atmosphäre, und recht sehnsüchtig verlangte Anna zurück an der Mutter Arbeitstisch, wo ihr Myrtenbäumchen vor dem Fenster stand und Luft und Sonne herein durften, wenn sie in der dumpfen, nie gelüfteten Stube die wenig anziehenden Strümpfe der Tante flicken mußte. Wie viel lieber hätte sie des Herrn Schnazkobels zierlich gemalte Seifenpyramide gesehen als auf der Tante Befehl aufgelauert, ob die Nachbarin wieder Kaffee mache, [257] wenn ihr Mann fort war! Welch ein Vergnügen schien ihr jetzt der Spaziergang durch die Krautäcker an der Mutter Seite, hier, wo sie nicht weiter kam als in den schmutzigen Hof, um die Hühnernester auszunehmen! Und vollends die traulichen Leseabende mit der Mutter, während sie jetzt jeden Abend mit dem Onkel Brett spielen und wohl aufpassen mußte, um nicht dumm zu spielen und doch zu verlieren! Sie kam sich oft vor, wie auf eine wüste Insel verbannt, und fürchtete, ihr Lebtag nicht mehr von da wegzukommen. Ihr einziger Trost war Frau Fischer, eine freundliche, junge Frau, ehemalige Hausgenossin der Tante, bei der sie wohlgelitten war und auch manchmal einsprach. Aber diese wurde Wöchnerin, und so war's aus mit den Besuchen.

Mit dem Fuß der Tante ward es nach drei langen Wochen besser, und Anna sah ihrer Erlösung entgegen. Zunächst sollte nun eine große Wäsche angestellt werden, bei der man sie noch verwenden wollte, und dieses daheim sonst gefürchtete Ereignis war ihr eine wahre Freude, da es doch einigen Wechsel in das trübselige Einerlei brachte.

Zwar weckte die Tante Anna schon morgens um drei Uhr, aus Angst, die Wäscherinnen möchten allerlei Unterschleif treiben; zwar lief dieselbige Tante den ganzen Tag mit ungeheuren Salbandschuhen in schlimmster Laune im Haus herum und folgte Anna auf jedem Schritt und Tritt; zwar steigerte sich diese üble Laune zu einer wahrhaft gefährlichen Höhe, als am zweiten Tag Regenwetter drohte; aber das ging vorüber, die Sonne drang siegreich durch, und Anna bekam den erfreulichen Befehl, auf dem Rasen vor dem Stadttor die Wäsche aufzuhängen, wozu sie sich fröhlichen Herzens anschickte.

Die dem weiblichen Geschlecht zugewiesenen Arbeiten sind, abgesehen von Nutzen und Notwendigkeit, gar nicht so lästig und nicht so verflachend, wie die emanzipierte Frauenwelt sie darstellt, und wer sie um irgend eines Zweckes willen gänzlich aufgeben wollte oder müßte, würde einen wesentlichen Reiz des weiblichen Lebens verlieren. Es läßt sich so lieblich träumen, so behaglich plaudern beim Näh- oder Strickzeug; so liebe Gedanken [258] lassen sich in eine zierliche Arbeit verweben, die zu einem Geschenk bestimmt ist, und die echte Lust des Schaffens liegt darin, ein gutes Gericht zu bereiten und seiner wohlgefälligen Aufnahme bei Tische sich zu erfreuen. Unter die angenehmsten dieser Geschäfte gehört denn auch das Trocknen des Leinenzeugs, sei es nun auf einem Dachboden, dessen geheimnisvollen Reiz Justinus Kerner so anmutig beschreibt, oder im Freien, wo es die liebe Sonne gar nicht übelnimmt, daß man sie zu prosaischen Zwecken benützt; wo die frischen kühlen Lüfte gern in des Menschen Dienst treten und einen lustigen Tanz mit den weißen Flaggen beginnen.

Wie ein Vogel aus dem Käfig flog Anna ins Freie, sog in vollen Zügen die frische Frühlingsluft ein, schickte Magd und Wäscherin heim und machte sich mit rüstigem Mute an ihr Tagewerk. All ihre Lieder, die schon lange verstummt waren, kamen ihr wieder zu Sinn, und während sie die vielfach geflickten Tisch- und Leintücher der Tante als Gardinen um sich zog, sang sie mit heller Stimme: »Mein Herz ist im Hochland!«

»Nun, wo singt man denn?« fragte auf einmal eine sonore, etwas ausländisch klingende männliche Stimme, und aufblikkend sah Anna ein landfremdes Gesicht über die volle Leine hereinschauen. Errötend, erstaunt, befangen schlüpfte sie durch die Wäsche hervor und stand vor einer schlanken, hochgewachsenen Männergestalt, blondhaarig und blauäugig, so kraftvoll und männlich schön, wie sie einmal auf einem Bilde den blondlockigen Gott Odin gesehen hatte.

»Mein liebes Fräulein,« sagte der Fremde nun etwas schüchtern in fremdlautender Sprechart, »können Sie mir nicht sagen, ob ich da auf dem Weg zur Stadt bin und wo der Kaufmann Fischer wohnt?« Anna schüttelte die Waschklammern aus der Schürze und begleitete den Fremden ein paar Schritte, so weit es nötig war, um ihm den Weg zu zeigen. Der Fremde sprach nicht mehr, schien aber die hübsche Schaffnerin recht mit Anteil zu betrachten, und nachdem er mit höflichem Gruße von ihr geschieden war, traf sich's seltsam, daß just so oft Anna beim Rückkehren den Kopf drehte, sie allemal gerade seinem [259] Blick begegnen mußte, so daß sie sich zuletzt eiligst hinter ihre Waschgardinen zurückzog. Gesungen hat sie aber an dem Tage nicht mehr.

Das war nun etwas anderes, und gar zu gern hätte sie Näheres über die wundersame Erscheinung gewußt, die ihr mehr Denkstoff gab, als in der Zollerschen Handfibel enthalten ist; mit der Tante hätte sie um keinen Preis davon sprechen mögen. Aber der große Bügeltag kam, und die Büglerin, die stets die eine Hälfte des Tags dazu verwendete, Neuigkeiten auszukramen, und die andre, wieder neue einzusammeln, erzählte mit großer Wichtigkeit, daß nun bald bei Fischers Taufe sei und daß ein landfremder Vetter der Frau aus Preußen oder England dazu gekommen, der zu Gevatter stehen werde. »Behüte!« rief die Tante, welche die Fischerschen Familienverhältnisse aufs genaueste kannte, »das ist der Sohn einer Mutterschwester der Fischerin, die in jungen Jahren einen Kaufmann in Schweden oder sonst so geheiratet hat; es hat schon lang' eines von ihnen kommen wollen, aber der Fischer hat geschrieben, sie sollen noch ein wenig warten. So, so, der ist gekommen? Ja, man hört doch auch gar nichts, wenn man eine Wäsche hat.« Die Erörterungen über die Anzahl der Biskuittorten und Butterkuchen, die wahrscheinlich zur Taufe gebacken würden, wurden durch Herrn Fischers Erscheinung selbst unterbrochen, der in Frack und Glacéhandschuhen erschien, um die Tante als Patin, den Herrn Schneck nebst Fräulein Anna als Privatgäste auf folgenden Sonntag zur Taufe zu laden. Der gute Herr Fischer hätte diesen Gang gewiß viel lieber getan, wenn er hätte ahnen können, in welch freudige Bewegung er durch seine Einladung Annas entsagendes Herz versetzte.

Nun war sie nicht mehr auf einer wüsten Insel! Trällernd und singend ging sie ihren Arbeiten nach, pflegte den Onkel und besorgte die Tante so pünktlich und treulich, damit sie doch ja gewiß am Tauftag ausgehen könnten. Als der Sonntagmorgen selbst erschien, fand sie das Wetter prächtig, und als sich der Himmel verdüsterte, schien ihr's erst recht angenehm zum Ausgehen. Sie legte den Staat für Onkel und Tante zurecht, [260] flog Treppen auf und ab, räumte auf und rüstete, daß nirgends ein Hindernis im Wege stehe; es war, als ob sie zehn Hände hätte; der Onkel selbst sah ihr wohlgefällig zu, und die Tante meinte mürrisch, es werde nicht so pressieren. Daß sie sich dergestalt rühre und rege und freue wegen einer landfremden Mannsperson, die sie kaum drei Minuten gesehen, davon wußte natürlich Anna selbst kein Sterbenswort und hätte es hoch übelgenommen, wenn ihr jemand das zugetraut hätte; sie lebte nur glückselig in den Tag hinein.

Ein rechtes Glück war's, daß die Mutter Anna doch ihren [261] einzigen Staat, das schwarzseidene Kleid, mitgegeben hatte. Sonst stand ihr nicht viel zu Gebot, um elegante Toilette zu machen; aber mit ihrem samtglatten gescheitelten Haar, dem kleidsamen schwarzen Anzug und der lichten Pelerine mit einer rosenroten Schleife nahm sie sich wirklich recht hübsch aus, wenn sie auch zur Rose zu blaß und zur Lilie zu brünett war.

Mit fast hörbarem Herzklopfen trat sie hinter Onkel und Tante ins Fischersche Haus, wo die Elemente des Festes noch in ziemlich gestaltlosem Chaos umherstanden und -lagen. Frau Fischer, schon ziemlich erholt, bewegte sich in einem gar nicht eleganten Morgenrock, Schokolade herumreichend, wobei Herr Fischer sie unterstützte und sich etwas ungeschickt zeigte. Im Nebenzimmer besorgte die Wärterin den Putz des Täuflings unter höchst unziemlichem Geschrei desselben. Der Fremde, der, wie sich später ergab, ein Norweger, Sohn eines Kaufmanns in Bergen, und Geistlicher war, erschien erst, als der schon geordnete Zug sich zur Kirche bewegte, und begrüßte mit Erstaunen seine Wegweiserin, die er auch in ihrer vorteilhaften Umgestaltung sogleich erkannte.

Still wallte der kleine Zug in die Kirche; neben dem vergilbten Antlitz der Tante stand die männlich schöne Gestalt des Norwegers, fromm und andächtig wie eine der Rittergestalten auf alten Kirchenbildern, mit dem Kindlein auf den Armen. Der feierliche Hauch der heiligen Handlung verwandelte auch Annas auf und ab wogende Gedanken in stille Gebete und selige Ahnungen. Das Kindlein wurde Christian getauft, weil die Tante Christiane hieß; Knud, der Name des Paten, war dem Vater gar zu heidnisch vorgekommen.

Daheim hatte sich indes das Chaos gelichtet; die Wöchnerin lag nun in schneeweißem Ornat hinter den Gardinen und empfing mit Freudentränen ihr gesegnetes Kindlein. Die Tafel war zierlich geordnet, sogar mit Blumenvasen geschmückt. Es traf sich ganz von selbst, daß der Norweger neben Anna zu sitzen kam, und die zwei hatten keine Langeweile. Wie von frischer reiner Bergluft fühlte Anna sich angeweht von der lebendigen gesunden Seele, die aus des Norwegers einfachen Worten [262] sprach; ein ganz andres, tiefes Verständnis über den Sinn des Lebens ging ihr auf, als er ihr von einer seiner Schwestern erzählte, die als Pfarrfrau in tiefster Einsamkeit reich und glücklich in ihrem häuslichen Frieden und frommen Wohltun lebte, und sie schämte sich, wenn sie bedachte, wie manchmal sie den Wert und Reiz ihrer Jugend in dem gesucht hatte, was man Jugendfreuden nennt, so wenig sie auch je davon befriedigt worden war. Das ist Leben! rief's in ihrer tiefsten Seele, und der Nachmittag an der Seite des Norwegers schien ihr wie eine Stunde im Vorhof des Himmels. So war sie wie aus den Wolken gefallen, als Onkel und Tante zum Aufbruch trieben; Widerspruch hätte nichts geholfen, sie war auch viel zu glücklich dazu, und der Norweger begleitete sie ja heim!

Man soll den Tag nicht vor dem Abend loben, auch den Abend nicht vor dem Morgen. Als Anna am andern Morgen leichten Trittes, ein Liedchen summend, die Treppe herabkam, brachte man ihr einen Brief von daheim, nicht von der Mutter, sondern von dem Doktor, ihrem Hausarzt und Hausfreund, der ihr schrieb, daß ihre Mutter erkrankt sei, und sie zu schleuniger Rückkehr aufforderte. Das war ein kalter Guß auf das junge Freudenlicht! »Eine Mutter hat man einmal nur.« Unter heißen Tränen packte Anna ihre Sachen und nahm Abschied von Onkel und Tante, deren lederne Herzen durch dieses lebensvolle Element in der Tat etwas geschmeidiger geworden waren und die sie mit aufrichtigem Bedauern scheiden sahen. Erst als Anna am Fischerschen Hause vorüberfuhr, kam ihr der Norweger und ihre kurze Seligkeit zu Sinne und machte ihr das Herz noch schwerer.

Die Mutter traf sie recht krank, doch nicht so hoffnungslos, wie ihre Ängstlichkeit sich vorgestellt hatte. Nach langen sorgenvollen Tagen und bang durchwachten Nächten kam es besser, und endlich konnte Anna sie mit Freudentränen wieder auf den einst so verschmähten Spaziergang durchs Wiesental führen, und das Leben kam ins alte Geleise.

Der Aufenthalt beim Onkel und dessen Lichtpunkt, das Fischersche Tauffest, waren natürlich häufiger Gegenstand der [263] Gespräche von Mutter und Tochter. Welche Bedeutung der nordische Gast für das Herz der Tochter gewonnen, davon war nie die Rede; aber es müßte ein blödes Mutterauge sein, das nicht zwischen den Zeilen lesen könnte.

Anna hatte, sobald es der Mutter Befinden erlaubte, pflichtschuldigst an Onkel und Tante geschrieben, am Schluß eine Empfehlung an Frau Fischer beigefügt und die beiläufige Bemerkung eingeschoben, der fremde Gast werde wohl abgereist sein. Auch hatte der Onkel wieder geschrieben (die Tante war des Schreibens unerfahren), hatte Anna zum Präsent für ihre Bemühungen ein hübsches Kleid geschickt und sich nach dem Befinden der Frau Schwägerin erkundigt, vom Norweger aber kam kein Wort; das war vergessen worden, da die Tante, die nicht viel aufs Sammeln des Schriftwechsels hielt, mit Annas Brief alsbald ein widerspenstiges Feuer angezündet hatte.

So blieb es still vom Norweger, und still ward's in Annas Herzen; mit dem Entsagen sollte es nun Ernst werden. Anna verlangte nach nichts Neuem mehr: sie hatte genug an ihrer Gedankenwelt, und vergeblich wollte sie den Norweger nicht gekannt haben; er hatte ein Licht in ihr angezündet, das nicht erlöschen sollte wie das Flämmchen ihrer Hoffnungen; wenn sie ihn auch nie wieder sah, so wollte sie seiner doch wert werden.


Bald ein Jahr war vergangen seit jener Reise zum Onkel Schneck, da fand in der Residenz eine große Einzugsfeierlichkeit statt. Der freundliche Doktor lud Anna, deren abnehmende Munterkeit er schon lange bemerkt hatte, ein, mit ihm hinzugehen. Anna hatte wenig Lust, nur der Mutter dringendes Zureden bewog sie dazu. Nun, da war's eben wie bei all solchen Herrlichkeiten: bekränzte Häuser, Soldatenspaliere, überfüllte Gasthöfe, ein gräßliches Gedränge, das ein rechtes Drangsal wäre, wenn nicht ein warmer Hauch wirklicher Festfreude, lebendigen Anteils erquicklich durch alles wehte und wenn nicht nachher jeder behauptete, alles am besten gesehen zu haben.

Anna hatte sich auf eine Haustreppe gestellt, wo sie hoffen konnte, zwischen zwei Soldatenmützen hindurch den Zug zu [264] sehen; da rief eine helle Stimme: »Ei, sind Sie's, Fräulein Anna?« – »Nein, ich bin's nicht,« sagte Anna, ärgerlich über die Störung. – »Ei, freilich sind Sie's!« rief wieder eine freundliche Frau. Jetzt erkannte Anna sie und grüßte sie und machte ihr Platz und vergaß Fest- und Hofwagen über der angelegentlichen Unterhaltung mit ihr: es war ja Frau Fischer! »Denken Sie nur, der Herr Onkel haben einen ganz erträglichen Sommer, die Frau Gevatterin sind aber immer recht übel auf und haben jetzt eine Hausjungfer, und der Christian, bei dessen Taufe Sie waren, steht schon auf den Füßen und hat vier Zähne, kann auch schon ›Papa‹ sagen.« Anna verwunderte sich gehörig, hätte aber gar gerne noch mehr gewußt; Frau Fischer war jedoch nicht gesonnen, den Anblick des herannahenden Wagenzugs zu versäumen; aber sie bestellte Anna nachher in einen Kaufladen, wo sie Besorgungen zu machen hatte.

Da konnte sie sich recht nach Herzenslust mit der Frau ausplaudern, und endlich kam auch das ersehnte Thema. »Ja, Fräulein Anna, ich habe erst in den letzten Tagen an Sie gedacht. Der Knud aus Norwegen, wissen Sie, der Vetter, der damals auch bei meines Christians Taufe war –« – Ja, ja, Anna wußte. – »Warten Sie, ich habe vielleicht den Brief noch bei mir – er schreibt so schöne Briefe; er ist vielleicht in meiner Kleidertasche.« Richtig, da war er, und mit einigem Buchstabieren las Frau Fischer Anna vor: »Wißt Ihr denn gar nichts mehr von meiner liebenswürdigen Tischnachbarin? Ist sie wieder bei ihrer Mutter? Ist sie noch bei ihrer Mutter? Nie werde ich den frohen Tag vergessen, den ich an ihrer Seite verlebt.« – »Ich auch nicht!« rief Anna mit glühenden Wangen; und so aus ihrem innersten Herzen kam das Wort, daß Frau Fischer sie erstaunt ansah und das verratene Mädchen alle Diplomatie aufbot, um mit kühlen Redensarten den Eindruck dieser Worte zu schwächen.

So viel hatte aber Frau Fischer sich, scheint es, doch gemerkt, daß sie ein geneigtes Ohr finden würde, wenn sie Anna noch ein Weiteres vom Vetter Knud und seinen Vorzügen erzählte, wie er die Handlung seines wohlhabenden Vaters hätte übernehmen[265] sollen, aber aus innerem Herzenszug Pfarrer geworden; wie es gekommen, daß seine Mutter, ihre Tante, sich so weit weg verheiratet und so weiter. Anna hätte ihr zugehört bis Mitternacht, und viel zu früh kam ihr der Doktor, der sie abrief. »Ich schreibe dem Knud bald einmal; darf ich einen Gruß von Ihnen beifügen?« fragte leise in schalkhaftem Tone Frau Fischer beim Abschied. – »Eine Empfehlung,« stotterte Anna in großer Verlegenheit, belobte sich aber nachher selbst über ihr kluges, zurückhaltendes Benehmen. Verliebte Herzen sind wie der Vogel Strauß, der den Kopf in einen Busch steckt und dann meint, man sehe ihn nicht.

In tiefen Gedanken fuhr Anna durch die sternhelle Nacht mit ihrem alten Freunde heim. Wie viel hatte sie nun der Mutter zu sagen! Die Mutter wußte aber auch eine Neuigkeit: »Weißt du, Anna, daß dein Myrtenbäumchen Knospen hat?« – »Hat es Knospen?« rief Anna fröhlich und versteckte ihr glühendes Gesicht an der Mutter Brust. In dieser Nacht hatten Mutter und Tochter so viel zu besprechen, daß der Morgen dämmerte, bis sie zum Schlummern kamen.

Ja, die Myrte knospete, und mit stiller Freude belauschte die Mutter ihr Entfalten. Noch ehe die Blüten aufgegangen waren, saß an einem sonnenhellen Morgen Anna an ihrem Fenster, hielt in zitternder Hand einen Brief, las ihn mit glühenden Wangen und gab ihn der Mutter und eilte in ihr Stübchen und kniete nieder und drückte ihre überströmenden Augen in die gefalteten Hände. Was dieser Brief enthielt und was ihre Antwort war, das wird nicht schwer zu erraten sein: es war eine neue Variation auf das alte, ewig schöne Thema, das in tausend jungen Herzen widergeklungen hat und widerklingen wird.

Der Norweger hatte sie nicht vergessen gehabt, und doch hätte er vielleicht nicht versucht, die flüchtige Erscheinung, so oft sie auch wieder vor seine Seele trat, festzuhalten fürs Leben, wenn nicht die freundliche Cousine ihm einen so lieblichen Bericht von ihrem Zusammentreffen mit Anna gesendet hätte, durch den ihm erst so recht klar wurde, wie lieb ihm das deutsche [266] Mädchen sei. Da saßen nun die Witwe und ihre Tochter im alten Stübchen, das jetzt für Anna ein so ganz andres war. Und Anna sah die Mutter an mit glückseligen Augen, und die Mutter lächelte unter Tränen und sog den Freudestrahl aus der Tochter Blicken ein, um sich zu stärken gegen den Gedanken an die Trennung.

Anna vergaß, daß sie einst so resigniert gewesen; was Ergebung, was ein seliges Selbstvergessen ist, das weiß nur ein Mutterherz. Und der Norweger ist gekommen und hat sein glückliches Bräutchen heimgeführt. Seine warme Liebe hat sie vergessen gemacht, daß sie den sonnenhellen Neckarstrand mit dem kalten Norden vertauscht. Der Zug des Herzens, der schon so manche junge Seele irregeführt, hat hier sich als eine gütige Schicksalsstimme bewiesen.

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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Heiratsgeschichten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A7DD-0