4. Die Urgroßmutter

Es gilt bekanntlich für ein Abzeichen und Standesvorrecht altadliger Geschlechter, einen Hausgeist zu besitzen, der in einem Gewölbe des Stammschlosses verborgen liegt und bei feierlichen Gelegenheiten um Mitternacht seine grausige Runde macht, um wichtige Änderungen anzukünden. In bürgerlichen Geschlechtern ist man auf die Ehre eines Familiengespenstes nicht sonderlich erpicht und bildet sich nichts darauf ein; denn während adlige Geister nur das Hochwild der Verbrechen: Mord, Totschlag, Hochverrat und dergleichen erjagt haben, so sind die bürgerlichen Gespenster dagegen betrügerische Kaufleute, ungerechte Richter, wenn nicht gar gemeine Diebe; drum gilt es bis in die alleruntersten Schichten der Gesellschaft für etwas Entsetzliches, wenn eins aus der Familie »geistweis gehen« muß.

Eine andre Art von stillen, vergessenen Hausgeistern aber liegt fast in jedem Hause, in irgend einem staubigen Winkel der Rumpelkammer; Geister, die nur erlöst werden, wenn es eine große Katastrophe, einen Sterbefall, einen Auszug in der Familie gibt, und die man gar häufig unbesehen verbrennt. Diese stillen Hausgeister sind die verjährten Familienbriefe, die in alten Kisten und Schachteln, den bescheidenen Archiven bürgerlicher Häuser, aus Pietät aufbewahrt werden, bis man sie am Ende aus Verzweiflung über den wachsenden Grust ins Feuer wirft.

Hinter solch ein Familienarchiv bin ich denn auch einmal geraten und habe die armen Briefe vom Feuertode errettet. Und schade würde es gewesen sein, wenn sie untergegangen wären!

Freilich habe ich keine wichtigen Geheimnisse und »dunklen Taten« darin entdeckt, aber viel langvergessene Vergißmeinnichte, getrocknete Rosen, die einen Teil ihres Dufts Jahrzehnte durch bewahrt haben; Liebesbriefe mit Zöpfchen aus der Zeit, als der Großvater die Großmutter nahm; schöngedruckte [85] Hochzeits- und Leichenkarmina, worin gar rührende Stellen zu finden, zum Beispiel:


»O wie schön war sie an jenem Tage,
Wie errötete ihr Angesicht,
Als sie auf des Freiers Frage
›Sie sind allzugütig‹ spricht!«

Da fand ich denn auch den Lebenslauf der Urgroßmutter, von ihr selbst beschrieben. Er ist gar schlicht und in kurzen Worten abgefaßt: denn der Selbstkultus, den man heutzutage mit Tagebüchern, Selbstbeschauen und Reflexionen über seine eigene werte Person feiert, war zu jener Zeit noch ziemlich unbekannt. Aber aus diesen einfachen Andeutungen, ergänzt durch die Überlieferungen der Familie, weht ein so frischer, kräftiger Hauch, ein Hauch von dem »Geist des Glaubens und der Stärke, des Gehorsams und der Zucht«, wie er unsrer Väter Eigentum war, daß ich denke, er könnte auch in unsrer vielseitigen Zeit da und dort noch eine Stirn erfrischend berühren.

Sie war, um diesmal recht gründlich mit der Genealogie zu beginnen, eine Urenkeltochter der Frau Anna Rumpelin, von welcher der Familienschmuck herkommt, recht aus altwürttembergischem Blut; ihre Vorfahren waren Oberamtleute, Hofgerichtsapfocaden (wie sie selbst schreibt), Pfarrer und abermal Pfarrer; die Mama war eine Pfarrtochter, der Papa eines Pfarrers Sohn und selbst ein Pfarrer, und weil der so brav gewesen ist, so hat die Mama nach seinem Tode noch einmal einen Pfarrer geheiratet. (In diesem Pfarrkonglomerat war es denn auch kein Wunder, daß einer ihrer Brüder, als schüchterner Student um seine Familie befragt, verlegen antwortete: »Bitte um Verzeihung, meine Mutter erster Ehe war eine geborene Pfarrerswitwe.«)

So war es denn natürlich, daß auch sie einen Pfarrer nehmen mußte. Aus ihren Jugendtagen sind keine Briefe mehr vorhanden, und ihre Herzensgeheimnisse, wenn sie welche gehabt, ruhen mit ihr im Grabe; so aber, wie sie in ihrem Leben und [86] aus ihren Briefen sich darstellt, war sie von den klaren lebenskräftigen Gemütern, die in Traum und Wachen der höheren Führung nicht vorgreifen und darum auch keine schweren Herzenskämpfe zu bestehen haben. Ein junger Geistlicher der Gegend, Herr Magister Trutz, hatte sein Auge auf sie geworfen, als sie noch ein sehr junges, blühendes Mädchen war; sie aber die ihrigen just nicht auf ihn. Ihre selige Schwester hat oft mit Lachen erzählt, wie sie einmal zusammen Flädlein gebacken; der Urgroßmutter war eins verbrannt, sie hob es lachend in die Höhe: »Da sieh, das ist so schwarz wie der Magister Trutz!« An selbigem Tage aber kam der Magister Trutz in einem nagelneuen schwarzen Rock und hielt um die Jungfer Regina feierlichst an. Gehorsam der Eltern Willen ist sie seine Gattin geworden und hat alsbald ihre Aufgabe mit der Freudigkeit eines frommen Gemüts, mit der Kraft und Frische ihrer klaren Seele begriffen und gelöst.

Der Pfarrer Trutz war ein frommer, friedsamer und tiefgelehrter Mann, aber gar stille und in sich gekehrt; er beschäftigte sich mit mechanischen Künsten und chiliastischen Berechnungen und konnte sich so darein vertiefen, daß er gar oft der praktischen Amtspflichten darüber vergaß. Da verstand es nun die junge Frau, zu sorgen, daß seine träumerischen Abwesenheiten niemand störend auffielen. Sie wußte mit ihrem hellen, praktischen Blick ihm einen Teil der Seelsorge abzunehmen, ohne daß es so aussah; sie wußte sein Interesse fürs wirkliche Leben anzuregen und hielt den häuslichen Herd warm und hell für ihn, wenn er nach langen einsamen Stunden wieder dahin zurückkehrte.

So hat er sie hoch und wert gehalten als den freude-und friedebringenden Engel seines Lebens, und sie hat aus der Tiefe seines Wesens den Ernst und die Kraft des Glaubens geschöpft, auf die sich erst mit Sicherheit ein frisches und fröhliches Leben und Wirken erbauen läßt.

Einmal hat ihre Fassung eine schwere Probe durchgemacht. Sie war mit ihrem Manne auf eine neue Stelle gezogen und ging am ersten Sonntag nach seiner Antrittsrede, wie es einer [87] christlichen Pfarrfrau geziemt, in die Kirche, ehrbar und feierlich in Schwarz gekleidet.

Den Pfarrer mußte man auch auf Berufswegen seinen eigenen Gang gehen lassen: oft saß er mit Tagesanbruch schon in der Sakristei und bereitete hier im stillen seine Predigt vor; oft kam er erst, wenn der Gesang schon begonnen hatte, in die Kirche. Die neue Gemeinde hatte von diesen Seltsamkeiten noch nichts gehört; nur der Schullehrer, ein alter Bekannter, wußte davon.

Es wurde ein langes Lied vor dem Gottesdienst gesungen; von dem vierten Vers an schaute die Frau Pfarrerin nach der Sakristeitür, der Pfarrer kam nicht; man sang das Lied zu Ende, der Schullehrer fügte hinten noch gar einen schönen Schnörkel hinzu, der Pfarrer kam nicht. Die Gemeinde wurde unruhig; die Buben hinten im Chor, die man ex officio zur Kirche getrieben und die bis jetzt mechanisch das Lied hergebrüllt, hofften nun mit innerem Jubel auf irgend ein Ereignis; aller Augen hefteten sich auf den Stand, hinter dessen Gittern die Pfarrfrau saß, ruhig, würdig, das offene Gesangbuch in der Hand; auf welchen Nadeln, das fühlte nur sie. Der Pfarrer kam nicht.

Sie winkte dem Schullehrer mit den Augen, der ging in die Sakristei, um nachzusehen. Da stand der Pfarrer auf dem Tisch mit gefalteten Händen, augenscheinlich in heftiger Bewegung. [88] »Aber um Gottes willen, Herr Pfarrer, wo bleiben Sie? Die Gemeinde wartet!«

Ohne ein Wort zu sagen, stieg der Pfarrer von seinem Tisch herab, dem Schulmeister voran in die Kirche und auf die Kanzel. Seine Predigt, die er mit zitternder Stimme begann, wurde bald so kräftig und salbungsvoll, daß die Gemeinde sein Zögern vergaß, bis sie auf dem Nachhausewege die Köpfe wieder darüber zusammensteckte.

Die Frau Pfarrerin ging wie immer mit gemessenem Anstande nach Hause, sorgte ihrem Mann für frisches Weißzeug, das er jedesmal nach der Predigt brauchte, und erst beim Mittagessen begann sie mit teilnehmender Frage: »Ist dir unwohl geworden?« – »Das nicht, Frau; aber schließ die Tür, so will ich dir sagen, was mir begegnet ist! – Ich stand in der Sakristei und sang der Gemeinde das Lied nach, als ich aus einer Ecke ein klägliches Weinen wie von einem kleinen Kinde hörte. Ich öffnete die Tür nach der Straße, um zu sehen, ob draußen vielleicht ein Kind allein geblieben sei; die Straße aber war leer und ganz still. Sobald ich die Tür geschlossen, hörte ich dasselbe Geschrei wieder aus derselben Ecke; ich sah scharf hin: da stieg aus dieser Ecke eine lange, große Schlange und wand sich langsam auf mich zu; ich stieg auf den Stuhl, sie schlang sich darum; da stieg ich auf den Tisch und begann zu beten; sie zog sich langsam zurück – und so hat mich der Schulmeister gefunden.«

Nun war die Urgroßmutter zwar eine starke Seele, aber durchaus kein »starker Geist« und weit entfernt, die Möglichkeit übernatürlicher Erscheinungen zu leugnen; da sie jedoch die seltsamen Stimmungen ihres Mannes kannte, dachte sie, es könne eine seiner Einbildungen sein, und suchte ihn zu beruhigen. Am nächsten Sonntag trat er schon während des ersten Liederverses hastig auf die Kanzel und erklärte nachher seiner Frau, daß er dieselbe Erscheinung wieder gehabt und die Sakristei nimmer betreten könne. Die Urgroßmutter berief am folgenden Tage einen vertrauten Maurer, mit dem sie vor Tagesanbruch in die Sakristei ging; sie ließ in der unheimlichen [89] Ecke das Wandgetäfer abreißen und nachgraben. Da fand sich tief im Grunde ein uralter, halbvermoderter Reiterstiefel, in dem ein Kindergerippe stak. Die Urgroßmutter ließ den Stiefel verbrennen und das Gerippe begraben, ohne ihrem Manne eine Silbe davon zu sagen.

Mit großer Mühe bewog sie ihn doch, am nächsten Sonntag wieder in die Sakristei zu gehen. Diesmal aber kam er ruhig zur rechten Zeit auf die Kanzel und hat von Stunde an nichts mehr bemerkt. Welches Geheimnis aber sich an den schauerlichen Fund knüpfte, hat die Urgroßmutter nie ergründen können.

Fünfzehn Jahre in Freud und Leid hat sie mit diesem Manne verlebt, sein Licht in trüben, seine Stütze in schwachen Stunden, und allmählich hat ihr heller Sinn die dunklen Schatten zerstreut, die sich so oft um seine Seele gelagert. Da starb er und hinterließ sie in tiefem Witwenleid; sie hatte ihn geliebt, nicht nur wie ein rechtschaffenes Weib ihren Herrn und Gemahl liebt, nein, auch wie eine Mutter ihr Kind, um das sie Sorge tragen muß Tag und Nacht.

Ihre Sache war es nun aber nicht, sich mit ihrer Trauer in ein Witwenstübchen zu begraben und dort bei Spindel und Nadel stille und unbewegt ihre Tage zu verleben; noch viel weniger wäre es nach ihrem Sinn gewesen, mit dem ansehnlichen Vermögen, das ihr Gemahl ihr hinterlassen, in einer großen Stadt die reiche Witwe zu spielen und das Leben zu genießen. Arbeit war das Element ihres Lebens.

Nun ist nicht zu fern von dem Orte, wo ihr Mann begraben liegt, ein altes Schlößchen Hohenentringen; es knüpfen sich keine ritterlichen Sagen an das einfache Gemäuer, das ohne vornehme Ansprüche von seiner Höhe niederschaut auf die schönen Kornfelder und Wiesen, die dazu gehören. Das Schlößchen, das kurz nach ihres Mannes Tode verkauft wurde, hat sich die Urgroßmutter zum Sitz erkoren. Das Haus war öde und unwohnlich, die Güter verwahrlost, die Ställe verdumpft – vor dem allen fürchtete sie sich nicht; das war recht das Element für ihren betriebsamen Geist.

[90] Es war im Spätherbst, als sie abends mit ihrem zehnjährigen Töchterlein in dem kleinen Dorfe ankam, das am Fuß des Schloßbergs liegt. Sie wollte keine Nacht unter fremdem Dach schlafen; daher traf sie gleich die nötigsten Anstalten im Schlößchen für ihr Nachtlager. Das kleine Mädchen [91] ließ sie so lange im Wirtshaus im Dorf. Als sie spät vor Schlafengehen das Kind heraufholte, sagte ihr dies: »Aber Mutter, die Bauern im Wirtshaus haben recht aufgeschaut, wie ich ihnen erzählt, daß du einen ganzen Sack voll Geld mit hast.« – »Einfältiges Ding,« rief die Mutter ärgerlich, indem sie ihr für die unzeitige Prahlerei ein paar Ohrfeigen verabfolgte, »konntest du nichts Dümmeres sagen? Es ist ja gar kein Geld.« Das Töchterlein schwieg erschrocken und begriff nicht recht, warum sie dieser unerwartete Einschlag getroffen, während sie doch nur ihre Mama hatte in Ansehen bringen wollen.

Der Urgroßmutter war's bedenklich; sie schlief diese erste Nacht mit einer jungen Magd ganz allein im Schlößchen, da sie sich die übrige Dienerschaft aus dem Orte selbst herziehen wollte, und war so ganz schutzlos. Viel Lärm zum voraus wollte sie nicht machen; als die Magd und das Kind schon im Schlaf lagen, suchte sie im stillen nach einer Waffe; sie fand nichts Taugliches für ihren Zweck als das Küchenbeil, das nahm sie denn an ihr Bett, welches sie im großen Saal des Schlößchens, der nach vorn ging, hatte aufmachen lassen, und legte sich angekleidet schlafen, nachdem sie sich und ihr Kind in Gottes Hut befohlen.

Nach Mitternacht erwachte sie an einem leisen Geräusch, sie setzte sich auf und lauschte. Am Fenster wurde von außen ein Stück aus dem Laden geschnitten; durch die Öffnung kam eine Hand, der es gelang, das schlechtverwahrte Fenster von außen sachte aufzudrücken. Inzwischen hatte sich die Urgroßmutter leise erhoben, ging ans Fenster und führte mit ihrem Beil einen kräftigen Streich auf die besagte Hand; mit einem heftigen Schrei ward diese schnell zurückgezogen; sie hörte einiges Geräusch wie von einer fallenden Leiter, dann ward's still. Nach einer Weile öffnete sie das Fenster, um hinabzusehen, ob kein Verwundeter drunten liege, aber sie hörte und sah nichts mehr. So machte sie denn Licht, setzte sich aufs Bett und las in ihrer Bibel, bis der Morgen anbrach.

Sie sprach kein Wort von dem nächtlichen Abenteuer, schickte [92] aber beizeiten die Magd zu dem Wirt im Dorf, daß er ihr einen Tagelöhner sende zum Abpacken ihres Hausrates. Die Magd brachte einen; der Thomas aber, meldete sie, zu dem sie der Wirt zuerst geschickt, der liege krank im Bett, er habe sich beim Holzhacken gestern abend spät in die Hand gehauen.

Die Urgroßmutter wußte nun, woran sie mit dem Thomas war; sie schwieg über die Sache, der Thomas wahrscheinlich auch; von Stund an blieb sie aber unangefochten auf ihrer kleinen Burg. Da begann sie nun zu schalten und zu walten recht nach ihres Herzens Lust; ihre Äcker waren bald die schönsten, ihr Vieh das stattlichste, ihre Dienstboten die bestgezogenen in der Gegend. Im Sommer hatte sie die Hände voll zu tun, bis sie die Runde machte auf Feld und Wiesen und ein scharfes Auge hielt auf Knechte und Mägde. Im Winter wurde ihr die Zeit auch nicht lang; da holte sie nach, was die damalige überpraktische Zeit an ihrer Erziehung versäumt hatte, machte sich Auszüge aus den besten Schriften, schrieb ihre eigenen Betrachtungen über Zeit und Leben, in sehr ungekünstelter Sprache zwar und mit vielen Schreibfehlern, aber aus der Tiefe eines klaren, frommen Gemüts, das seines Weges sicher war. Über alle Ereignisse ihrer inhaltreichen Zeit führte sie genaue Tagebücher, und es ist ergötzlich zu sehen, wie in ihren Hauskalendern Weltbegebenheiten und häusliche Ereignisse friedlich Seite an Seite stehen.


D. 1. Okt.

Hat der estreichisch General Laudon die Stadtt Schweidniz ihberfallen.
Die Schweizerkuh gekalbet, es wigte 60 Pfund.

28. Nov.

Hat der Herzog den General Rieger auf den Aschberg geschickt. wer da stehet der sehe zu daß er nicht falle.

Vier Scheffel Denkel an den Müller Schwarzen verkauft. a 6 fl.


Am 5ten Januar
die Kaiserin Elisabeth von Rußland gestorben.

Die große Sau gemezget, hat drei und einen halben Zentner gewohgen.


[93] Ihr Töchterlein bildete sie mit Liebe und Fleiß heran und lehrte sie tüchtig die Hände rühren und den Kopf brauchen.

Der Weg vom Schlößlein in das Dorf und in die Nachbarschaft war zuzeiten oft unzugänglich, und doch gab es für die große Ökonomie gar vieles zu besorgen; daher war die Urgroßmutter zu häufigen Ausflügen genötigt, so wenig sie Zeit und Lust zu Vergnügungsreisen hatte. Da schulte sie sich denn ein zahmes Ackerpferdlein ein, auf dem sie ihre Güter bei schlimmem Wetter besuchte und ihre Geschäftsreisen machte; und sie hat als sehr alte Frau noch mit einigem Vergnügen erzählt, wie sie in ihrem Federhütchen einmal durchs Feld geritten sei und ein Bauer sie gefragt habe: »Wo will denn die schöne Jungfer hin?« – »Und meine Sophie war doch schon zwölf Jahr alt!« fügte sie bei.

So lebte sie auf ihrem Schlößchen in großem Frieden, wenn auch nicht in Ruhe; aber zu lange sollte die Herrlichkeit nicht dauern. Es konnte nicht fehlen, daß die schöne stattliche Frau, deren häusliche Tugenden weitumher bekannt wurden, die Augen gar manchen Witwers und Ledigen auf sich zog; aber sie entschloß sich gar schwer zu einer zweiten Heirat, sei es aus Treue für den ersten Gatten, sei es, daß sie sich gern der goldenen Freiheit in ihrem bewegten Wirkungskreis freute. Endlich aber gelang es doch dem Herrn Pfarrer Weddler, einem ehrbaren Witwer, die schöne Witwe von ihrem Schloß herab in sein freundliches Dorf Rebenbach zu führen, wie des langen und breiten in einem anmutigen Hochzeitskarmen erzählt ist, das also beginnt:


»Geehrteste Frau Braut! Hier kommt ein Hochzeitsstrauß
Vom Weilenberger Markt, aus wohlbekanntem Haus.
Ganz kürzlich war ich erst nach Weilenberg gekommen,
Da hab' ich alsobald die Neuigkeit vernommen:
Frau Pfarrer Trutzin ist Herrn Pfarrer Weddlers Braut,
Und Dienstag werden sie zu Rebenbach getraut« – usw.

Der Pfarrer Weddler war nun ein Mann ganz andrer Art als der erste Gemahl: groß und stattlich, wie er jetzt noch in [94] der schön gepuderten Lockenperücke aus seinem Bilde herabschaut, ein Mann, der als Hofmeister die Welt gesehen, von frischem, lebenskräftigem Sinn, voll Salbung und Selbstgefühl. Da galt es denn zunächst nicht, zu trösten und aufzuheitern, die Bürde des Mannes zu tragen, um ihn in Würde zu erhalten: es galt, sich aufzurichten in aller Kraft und Lebensfülle des Geistes und Körpers, um als »Gefährtin, die ihm entsprechend sei,« dem Mann zur Seite zu stehen.

Zu Sophie, ihrem Töchterlein, das dereinst so zur Unzeit der Mutter Reichtum gepriesen, von welcher der Stiefvater selbst rühmend erwähnt, »daß er sie wegen bewiesener Liebe und Gehorsams als seine eigene Tochter allezeit geliebt,« führte ihr der Gatte noch eine hübsche Tochter und drei kräftig heranwachsende Söhne aus seiner ersten Ehe zu. Die neue Mutter ward mit Freude und Liebe aufgenommen; der älteste Sohn, schon Alumnus, der Poet des Hauses, verfertigte im allerhochfliegendsten Stile ein Gedicht, in dem er sie willkommen hieß, und ein Triumphzug wie der, in dem man die neue Frau Pfarrerin zu Rebenbach einholte, war daselbst seit Menschengedenken nicht gesehen worden.

In dem Pfarrhause, über dem, solange die erste Gattin, eine edle, aber leidende Seele, gelebt hatte, beständig eine leichte Wolke gehangen, gestaltete sich nun in Fleiß und Frömmigkeit ein frisches, frohes und kräftiges Leben. Zwei Töchterlein entsprossen der neuen Verbindung, das Dörtchen, des Hauses Zier und Krone, und die muntere Wilhelmine. Unter den Geschwistern war neidlose Liebe und Eintracht, ein Segen, der sich noch bis auf die Urenkel erstreckt; jede Freude und Ehre, die das eine erlebte, war ein Jubel für alle. Die Mutter führte die Zügel des Hauses mit kräftiger Hand und schadete ihren Kindern weder durch die weichliche Schonung der guten Stiefmütter, noch durch die lieblose Härte der schlimmen.

Eine Hausfrau wie die Frau Pfarrerin in Rebenbach war weit und breit nicht zu finden; die Pfarrfrauen der Gegend machten förmliche Wallfahrten, um neue Vorteile im Gartenwesen und der Viehzucht von ihr zu erlernen; sogar auf den [95] neuen Wein, so höchst einfach und fast unglaublich mäßig sie selbst war, verstand sie sich von Grund aus, so daß sie fast für alle Bekannten im Herbst die Einkäufe zu besorgen hatte. Man schickte ihr junge Töchter von Verwandten und Freunden aus dem halben Vaterlande, um unter ihrer Zucht und Leitung sich zu guten Hausfrauen auszubilden, oder heimatlose, verwaiste Mädchen, die aus dieser Schule gewiß waren, nachher gute Stellen zu finden.

Auf Zucht und Sitte hat die Frau Urgroßmama streng gehalten und keinen Sinn für die Freiheiten der damaligen Poesie gezeigt. Einmal war ein munteres, leichtfertiges Bäschen aus der Residenz zum Besuch da, nicht um sich bilden zu lassen, sondern, wie sie dachte, um zu bilden und um den landpomeranzigen Basen in ihrem neuen Aufsatz mit Pumpelrosen und ihrer neumodischen Kontusche zu imponieren. Das Bäschen war auch musikalisch und trug ein nagelneues Lied vor, das eben erst in der Residenz in die Mode gekommen war; es fing an:


»Komm, Herr Heinrich, komm herein,
Komm, wir sind alleine usw.«

Die Urgroßmutter hörte den ersten Vers an. »Wie, Philippine, zeig mir das Lied her!« Wohlgefällig brachte es das Bäschen, verwundert, daß die alte Tante doch noch Geschmack [96] an so was finde. Die Tante nimmt es ruhig in die Hand: »So, jetzt bring einen irdenen Teller und ein Licht herein!« Das Bäschen guckt sie verblüfft an; man weiß aber kein Beispiel, daß jemand versucht hätte zu widersprechen, wenn die Urahne etwas ernstlich befahl. – »So, und nun legst du sogleich den Wisch da auf den Teller und verbrennst ihn vor meinen Augen! Meinst du, so dummes Zeug dürfe vor die Ohren meiner Mädchen kommen? Schäm du dich dein Lebtag, daß du's gesungen hast!«

Das Bäschen hat ohne Widerspruch das Autodafé vollzogen und später keine Versuche mehr gemacht, das Pfarrhaus zu modernisieren. Überhaupt hatte die Urahne, deren Herz selbst ruhig geblieben oder wenigstens gar bald ruhig geworden war, wenig Nachsicht für junge Herzensträume, und die Stieftochter, die sonst mit voller kindlicher Ehrfurcht an ihr hing, hat davon mit einiger Bitterkeit ein Beispiel erzählt:

»Unter den durchziehenden Truppen, die im Pfarrhause Quartier genommen, ist einmal ein Herr von Strahlenau gewesen, so gar ein schöner junger Mann, und so fein gebildet, so ernst und so gefühlvoll wie gar kein andrer! Er hat mit niemand im Haus so viel gesprochen wie mit mir, und als er uns eines Abends ankündigte, daß er am andern Morgen abmarschieren müsse mit seinem Regiment, da war mir's wie ein Donnerschlag; ich wußte wohl, daß ich ihn nie mehr sehe in diesem Leben. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und bin vor Tag aufgestanden, daß ich den Abschied nicht verfehlen soll. Der Strahlenau war noch nicht auf, aber die Eltern und die Schwestern, und allen tat der Abschied leid, und jedes wußte etwas an ihm zu loben. Ich aber konnte fast gar nichts sagen. Da schaute mich die Mutter sehr scharf an und sagte: ›Christiane, ich glaub', du bist ganz begeistert; geh lieber auf den Acker, die Erdbirnen müssen gefelgt sein.‹ Da nahm ich meinen Spaten und ging; wie mir's aber ums Herz war, das kann ich keinem Menschen sagen. Draußen auf dem Acker hörte ich von weitem die Trompetermusik, mit der sie abzogen; da hab' ich mich auf einen Stein gesetzt und geweint und geweint[97] – ich hätte mein ganzes Herz ausweinen mögen! Den Strahlenau hab' ich nimmer gesehen. Die Mutter selig hat's wohl gut gemeint; aber das kann ich ihr doch in meinem Leben nicht verzeihen, daß sie mich nicht einmal Abschied nehmen ließ.«

Und doch war ein Element von Poesie in dem Wesen der Urgroßmutter, was sich zumeist in ihrer Neigung zur Einsamkeit zeigte, der sie freilich selten folgen konnte. Ihr liebes Hohenentringen gab sie nur in Pacht und behielt es sich als Eigentum vor, bis sie es später der ältesten Tochter bei ihrer Verheiratung übergab. Dort freute sie sich hie und da der Ruhe und Stille aus dem vielbewegten Treiben daheim; dort schrieb sie ihre historischen Notizen, ihre Bibelstudien, ihre Auszüge nieder und sammelte ihren Sinn aus all den Stürmen, die die Welt erschütterten, zu tiefem, innigem Versenken in den Quell aller Ruhe, und mit besonders klarem Auge und frischer Seele kehrte sie wieder in ihr unruhiges Haus zurück.

Sie bekam genug einzutragen in ihren Kalender, die gute Urahne, und die Zeit wäre ihr fast über den Kopf gewachsen. Die französische Revolution, Napoleon, Deutschlands Schmach und des Unterdrückers kurze Herrlichkeit warfen ihren roten Fackelschein in ihren Abendhimmel.

Kriegszüge überschwemmten das Land, Franzosen, gleich ungebeten als Freunde wie als Feinde; einmal war schon dem Dörflein, das die hohe Brandschatzungssumme nicht erschwingen konnte, Plünderung gedroht; der Urgroßvater, der dank seiner Hofmeisterlaufbahn der französischen Sprache mächtig war, er rettete es durch einen Brief, worin er den Offizier »pour la gloire de la nation française« beschwört, das Dörflein wegen seiner, eines Greisen, und seiner alternden Gattin zu schonen. Das Dorf wurde glimpflich behandelt, und das Pfarrhaus bekam eine Sicherheitswache. Das Konzept dieses Briefs wird als Andenken an die Errettung noch in der Familie bewahrt.

Es wurde ihr selbst die Ehre und Freude zuteil, den Helden seiner Zeit, den Erzherzog Karl, auf dem Zuge nach Frankreich [98] unter ihrem Dache zu beherbergen; der Prinz soll herzlich gelacht haben, als sie ihn, um ja gewiß des schuldigen Respekts nicht zu verfehlen, mit »Euer Majestät« anredete.

Eine höfliche Frau ist die Urgroßmutter überhaupt gewesen, voller Rücksichten gegen Anwesende und Abwesende, höchlich besorgt, jedermann seinen gebührenden Rang und Titel zu lassen und niemand Anstoß oder Ärgernis zu geben.

So führte sie, unter äußeren Stürmen und innerem Frieden, einunddreißig Jahre lang ihre zweite Ehe; die Töchter alle waren, wie sie rühmt, glücklich und ehrenvoll versorgt, [99] die Söhne in Amt und Würden; das Vermögen hatte sich trotz der Kriegslasten und Teuerungen bedeutend vermehrt, und so konnte ihr Mann, als ihn ein schneller Tod abrief, beruhigt über seine irdischen Angelegenheiten die Augen schließen.

Die Urgroßmutter zog nun zu ihrer ältesten Tochter und lebte hier im Herzen des Landes, der verehrte Mittelpunkt, um den sich Kinder und Enkel sammelten, der Kinder höchste Autorität in allen zeitlichen und geistigen Angelegenheiten.

Ein schwerer Fall in den Keller brachte sie um ihre bis dahin so kräftige Gesundheit. Gebückt und fast unfähig zu gehen, saß die sonst so aufrechte und kräftige Gestalt nun im Lehnstuhl. Aber ihr Geist blieb ungebrochen in seiner Frische und Kraft, und die lautere Frömmigkeit, die den Grund ihres durch und durch klaren und wahren Wesens bildete, gab allem, was sie in ihrer einfachen natürlichen Weise sagte, eine tiefere Bedeutung.

In ihr selbst regte sich immer lebendiger das Heimweh nach der Heimat, die da alles neu macht. Wie es oft bei alten Leuten zu gehen pflegt, wandte sie sich jetzt mit besonderer Sehnsucht zu den Lieblingsstellen ihrer Vergangenheit zurück. Das war vor allem ihr liebes Hohenentringen. Und nun ich ihr Bild gegeben, so gut ich vermocht, wird es keine Entweihung sein, wenn ich ihre eigenen Worte wiederhole, in denen sie in ihrer schlichten Weise ihr Verlangen nach diesem stillen Aufenthalt ausspricht.

»Wie erfreulich wäre es vor mich gewesen, wenn ich mein liebes Entringen noch einmal hätte sehen können. Leider ist es zu spät, ich bin zu kraftlos. Es war mein liebster Aufenthalt in meinem Leben. Es war der Ort, wo ich allein ungestört die Güte und Allmacht Gottes am besten bewundern konnte.

Wie vergnügt war ich in der Ernte, wann ich mit der Sonnen Aufgang bei meinen Schnittern war und sahe den Segen Gottes. Wie vergnügt machte mich der Spruch, in dem es heißt: ›Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freuet in [100] der Ernte!‹ Aber wie traurig war es anzusehen, als die schönen Felder so arg von dem vielen Gewild verwüstet worden sind. Der Fürst, der ein Vater seiner Untertanen sein sollte, nimmt ihnen das Brot von dem Munde hinweg. Wir hätten zu selbiger Zeit nicht so teure Zeit bekommen, wann der Fürst sich als einen Vater gezeigt. Nähmen doch alle Fürsten ein Exempel daran!

Balsam war es in meine Wunden, wenn ich an den Sonntagen, wo ich nicht in die Kirche konnte, an meinem Saalfenster das Gesang, das man in der Kirche im Dorf singte, nachsingen konnte.

Wie freute es mich, wenn ich bei hellem Mondschein auf den Feldern und Dörfern so eine Stille sah; da fühlte ich den Wert des Gesanges: ›Nun ruhen alle Wälder.‹ Bei Tag so viel Rennen, Laufen und Schaffen, bei Nacht lauter Stille. In meinem Bett hörte ich den Wächter im Dorf den Tag anschreien mit den Worten: ›Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf, ermuntere dich, verlornes Schaf!‹ Diese Worte rührten mich sehr.

Tausend, tausend Dank dem heiligen, dreieinigen Gott, der mir in so viel Trübsal beigestanden, aus so vieler Gefahr errettet und mir mehr Gutes getan, als ich aussprechen kann. Dort, in jener Welt, will ich's nachholen. Herr, ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an mir getan hast!«

Das waren die letzten Worte ihrer Feder, es blieb das letzte Bekenntnis ihrer Lippen; bis zum Ende floß ihr Herz und ihr Mund über von Dank und Freude.

Man findet manchmal, daß ein großes Familienfest, eine besondere Freudenfeier der Wendepunkt eines Glückes oder das Ziel eines Lebens wird. Es macht dies manche ängstlich und scheu vor solchen Festen, aber mit Unrecht. Wenn die Sonne untergehen muß, warum soll sie nicht noch einmal zuvor recht hell scheinen, ehe sie scheidet?

So ein heller Sonnenschein vor dem Untergang war der achtzigste Geburtstag der Urgroßmutter; Kinder, Enkel und [101] Urenkel kamen mit Liedern und Gaben. Die liebste unter allen war ihr ein schönes Bild von ihrem lieben Entringen; darauf ließ sie so recht die alten Augen ausruhen, und indem sie dem Kreis der Ihrigen all ihre liebsten Geschichten aus der Vergangenheit erzählte, lebte sie ihr ganzes Leben in seinen Lichtpunkten noch einmal durch.

Das blieb ihre letzte Geburtstagsfeier auf Erden – nicht lange stand es an, so folgte ihr der ganze damals so fröhliche Zug nach ihrer letzten Ruhestatt, und ein seligeres Geburtsfest hat ihrer wohl droben gewartet.


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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. 4. Die Urgroßmutter. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A78D-4