1. Aus dem Leben einer Hausfrau der alten Zeit

»Ahnfräulein« oder »Ahnfrau« wird in einigen Gegenden Schwabens die Großmutter oder Urgroßmutter genannt, und unter diesem Namen möchte ich am liebsten eine meiner Vorfahren einführen, deren lebensvolles Bild mir heute besonders frisch vor die Seele tritt.

Selten wird ein Leben weniger Wechsel der Szene geboten haben als das der Ahnfrau. Von ihrer Geburt bis zum Tode, vom ersten bis zum vierundachtzigsten Lebensjahr, waren die Mauern einer und derselben kleinen Stadt der einzige Schauplatz ihrer Freuden und Leiden, ihrer ganzen Wirksamkeit; ein Schauplatz, den sie nur sehr selten zu kurzen Besuchen bei Geschwistern oder Kindern verließ. Und doch, wie mannigfache Bilder in diesem einfachen Rahmen! Welch frisches, lebenswarmes Gemüt, welch unverwelkliche Herzensblüte hat sich auf einem Boden erhalten, den man sonst kaum für tauglich hält, um Küchengewächse darauf zu ziehen!

Sie war einmal jung und schön gewesen, das Ahnfräulein, das ich nur noch als ein eingeschrumpftes Mütterchen gekannt, und sie ließ das nicht ungern merken, umso mehr, als das Konterfei, das noch aus ihrer Blütezeit da war, leider durchaus von keiner Meisterhand herrührte und einen gar unvollkommenen Begriff von ihren jugendlichen Reizen gab. Doch schaute selbst dieses mittelmäßige Machwerk mit der Rose in den gepuderten blonden Haaren und mit den lichtblauen Augen so freundlich drein, daß ein Bauersmann einst ganz verwundert fragte: »Aber wer ist denn die schöne Jungfer da?« – »Das bin ich einmal gewesen, Jakob.« – »Sie, Frau Syndikussin? Ach, du lieber Gott, wie kann doch der Mensch verwesen!« Dieser wenig schmeichelhafte Ausruf hat dennoch das gute Ahnfräulein [268] höchlich ergötzt, denn wenn sie noch eitel war – und wer ist's nicht? – so war sie's am liebsten auf ihre Vergangenheit, in der sie lebte und webte bis zum letzten Hauch.

Jugendliebe

Die Ahnfrau hatte jung geheiratet, sehr jung, wie das in früheren Zeiten viel öfter geschah, wo man den Most gern süß einkellerte und es dem Ehestand überließ, ihn abzuklären, während es bei uns im Lauf der Dinge liegt, daß er gehörig ausgegoren hat, ehe er ins Faß kommt. Beides mag sein Gutes und Schlimmes haben; wie man mir sagt, soll der süß eingekellerte Most leichter geneigt sein, trüb und schwer zu werden. Beim Ahnfräulein war dies nicht der Fall; sie ist nicht schwer geworden, bis zum letzten Tropfen nicht.

So früh sie nun aber auch das bedeutungsvolle Ja gesprochen, auf das ihr ganzes Leben als volles, freudiges Amen gefolgt ist, es war doch nicht so früh, daß nicht ihr Herz zuvor Zeit gefunden hätte, sich noch ein klein wenig auf eigene Hand zu rühren. Diese erste leise Herzensregung ist eine schöne traurige Geschichte, die ich sie am liebsten selbst erzählen lasse; wenn ich es nur noch ganz mit ihren Worten könnte!

»Siehst du, ich habe es recht gut gehabt in meiner Jugend, obgleich wir zehn Geschwister waren und tüchtig schaffen mußten. Der Vater war nicht reich, aber gar angesehen, und von Mangel und Sorge war keine Rede. Jetzt kann man sich's gar nicht mehr vorstellen, was ein Beamter seiner Art dazumal für ein Herr war, und vollends so ein grundgescheiter Mann wie mein Vater, der zum Herzog mußte, so oft er nach Stuttgart kam. Ja, ja, wir haben etwas Rechtes gegolten; ich selber trug mein Näschen nicht wenig hoch und dachte damals nicht, daß hier in Nürtingen, wo der Vater regierte, auch sein Tochtermann wachsen würde.

Nun, es kamen öfters vornehme und gescheite Herren aus der Residenz zum Vater, und wir waren solche Besuche gewöhnt; aber einer ist bisweilen gekommen, nicht oft – da hat mir allemal das Herz geklopft, wie sonst nie in meinem Leben, [269] und es hat sich sonderbar getroffen: so oft er gekommen ist, gefahren oder geritten, jedesmal mußte ich just am Fenster sein und ihn sehen, und jedesmal hat er heraufgeschaut und mich gegrüßt; ich mochte nun am Küchen- oder am Öhrnfenster stehen oder in der Stube, er hat stets am rechten Ort hinaufgeguckt. Wenn er bei uns zum Essen geladen wurde, bin ich aber immer zuletzt gekommen: ich hätte mich so gern recht schön angezogen und habe mich doch wieder geschämt, es zu tun.«

»Haben Sie denn auch recht viel miteinander gesprochen?« – »Gesprochen? Ich möchte wissen, wann. Ich sah ihn nur bei Tisch, und da hätt' ich den Vater sehen wollen, wenn eines von uns ungefragt geredet hätte! Hie und da hat der S. doch die Rede an mich gerichtet, aber ich bin immer so rot geworden und so verlegen, daß ich kaum antworten konnte. Ich habe auch gar nie geglaubt, daß er nur ein klein wenig an mich denke, ein so schöner Mann und so vornehm! Man sagte damals schon, daß ihn der Herzog mit einer Gesandtschaft verschicken werde. Nur ein einziges Mal habe ich's doch ein bißchen gemeint. – Da war er beim Vater und kam gerade allein über den Hof, als ich eben auf der Staffel stand und meine Blumenstöcke goß; ich hatte nicht viele: zwei Rosenstöcke und einen großen Nelkenstock. – Ich spürte schon von weitem, daß er auf mich zukomme, aber ich rührte mich nicht und zupfte nur immer an einem einzigen Rosenblatt. Wie fuhr ich aber zusammen, als ich seine Stimme hörte: ›Ei, was für schöne Rosen, Jungfer Karoline!‹ Ich wußte gar nicht, was sagen, und sah nur ein klein wenig nach ihm auf. ›Blüht gar keine von den schönen Knospen für mich?‹ fragte er wieder. Da hatte ich, ehe ich mich besonnen, die allerschönste abgeschnitten; aber ich hatte nicht den Mut, sie ihm zu geben, bis er selbst sie sanft aus meiner Hand zog. ›Danke, danke schön,‹ sagte er mit einem Lächeln – das vergesse ich nicht! – und ging rasch weiter. Was sonst noch am selbigen Tage vorgefallen ist, weiß ich nicht; ich glaube, ich wurde tüchtig gezankt von der Mutter, weil ich wie im Traum herumging; es war mir immer, wie wenn ich mit allen Glocken zusammenläuten hörte. Am andern Morgen ritt er ab vom[270] Schwanen drüben; das Röslein hatte er an seinem Knopfloch stecken, es war über Nacht aufgegangen. Ich habe viele Nächte nicht schlafen können und viel Angst gehabt, ob es keine der großen Schwestern bemerkt.

[271] Ein paar Wochen nachher war der Vater verreist, und wir hatten große Putzerei. Das ganze Haus wurde umgekehrt, Kisten und Kasten geleert, und wir alle hausten mit Besen und Bürsten, wuschen, polierten und wichsten Kommoden, Tische und Schränke und fürchteten uns sehr vor der Mama, die an den Putztagen immer höchst übler Laune und leicht erzürnt war. Da kam der Bastel, der alte Stadtbote, an mir vorbei die Stiege herauf. ›Wo find' ich die Frau Mama? Da ist ein Brief, nicht ans Amt, an den Herrn selber.‹ – ›Droben ist sie, Bastel, in der oberen Gaststube.‹ Der Bastel ging hinauf; nach dem Brief fragte keines von uns.

Der Vater blieb damals viel länger aus, als er selbst und wir geglaubt. Er war aber schon wieder ein paar Tage zu Haus, als er gelegentlich bei Tisch zur Mutter sagte: ›Ei, Nane, denke, der S. ist bei der Gesandtschaft in Österreich angestellt worden, und er hat nicht einmal schriftlich oder mündlich Abschied von uns genommen. So geht's, wenn die Leute vornehm werden! Von dem hätte ich's aber nicht geglaubt.‹ Die Mutter verwunderte sich gehörig darüber, auch die Schwestern gaben ihr Wörtchen drein, ich aber konnte keinen Bissen mehr essen; ich war froh, daß der kleine Christian, der neben mir saß, meinen Teller in der Stille ableerte, weil's gerade was Gutes war. In der Nacht habe ich bitterlich geweint; ich hatte freilich nie geglaubt, daß er an mich denken werde, nun aber tat mir's doch in der Seele weh. Niemand sprach indessen mehr von ihm, und ich dachte, ich sei eben ein recht einfältiges Mädchen gewesen.

Da erhielt mein Mann selig, der seither Substitut beim Vater gewesen war, die Stelle eines Syndikus, was für seine Jugend schon recht viel war. Er kam zum Vater und hielt um mich an. Der Vater ließ mich in seine Stube rufen und eröffnete mir's recht feierlich. ›Du hast ganz deinen freien Willen, Karoline,‹ sagte er zum Schluß; ›ich erwarte aber, daß du vernünftig bist und den Antrag eines so geschickten und rechtschaffenen Mannes mit Dankbarkeit annimmst.‹ Da wußte ich nun wohl, wie es mit dem freien Willen stand und daß ich nicht anders durfte; aber es war mir noch gar, gar nicht ums Herz, [272] wie wenn ich Ja sagen wollte. – Siehst du, ich hatte gewiß immer rechten Respekt gehabt vor meinem Mann selig; er war auch ein schöner, stattlicher Mann, sehr ernsthaft und gesetzt für seine Jugend, und der Vater hielt große Stücke auf ihn; aber daß er mein Mann werden könnte, daran hatte ich mein Lebtag nicht gedacht, und ich meinte, es könne nicht sein. [273] Der Vater aber hielt es für puren Hochmut von mir, weil mein Mann von armen Eltern herstammte, und sagte mir tüchtig die Meinung darüber. Endlich aber sprach er: ›Wenn du nur einen einzigen vernünftigen Grund hast, Nein zu sagen, so will ich dir mit keinem Worte weiter zureden.‹ Einen vernünftigen Grund hatte ich aber nicht, nur einen recht unvernünftigen; so sagte ich denn in Gottes Namen Ja und bat Gott, mir ein freudiges Herz dazu zu geben. Das hat er auch getan, und ich wurde eine recht zufriedene Braut, als ich sah, wie sie alle ihre Freude hatten und wie die Eltern meinen Bräutigam ehrten und mich mit, so daß ich jetzt am Tisch mitsprechen durfte wie die Mama selbst. Mein Bräutigam tat mir auch zu Lieb und Freude, was er nur konnte. Einmal aber, da hat er's mit dem besten Willen doch nicht gut getroffen, das war mir gar zu arg.«

»Ja, was war denn das?« – »Nun sieh, er hatte eine neue Wohnung verwilligt erhalten, das schöne große Haus, das du ja wohl kennst, und es einstweilen allein bezogen. Nun hatte ich ihm lange versprochen, ihn einmal mit der Mutter zu besuchen, und es wurde endlich auf einen gewissen Tag ausgemacht. So gingen wir also, ich und die Mama, in aller Stille über den Marktplatz, ich dicht an den Häusern, weil ich in einiger Verlegenheit war. Siehe, da fuhren an dem neuen Logis alle Fenster auf, und der Stadtzinkenist mit all seinen Gesellen blies heraus mit Trompeten, Pauken und Klarinetten die allerneueste Ekossaise! – Du kannst dir denken, daß die Fenster der ganzen Nachbarschaft auch aufflogen und alles die Köpfe herausstreckte und die Gassenkinder zusammenliefen und jedermann fragte: ›Was ist's, was gibt's?‹ – ›Ei, der neue Syndikus läßt seiner Jungfer Braut aufspielen!‹ – Ich hätte in den Boden sinken mögen! Er hatte es freilich herzlich gut gemeint und mir die höchste Ehre antun wollen, aber ich habe es lange nicht verwinden können.

Nun gut, das war vorbei, und wir waren vergnügt und zufrieden miteinander; da meldete sich eines Tages der Herr Onkel Landschaftsassessor zum Besuch an. Dies war immer eine große Wichtigkeit. Man stach Kapaunen und bestellte Forellen; [274] in der oberen Staatsstube wurden frische Vorhänge aufgemacht und das seidene Bettkuvert überzogen. Der Vater, der sich sonst gar nie um Haushaltungssachen bekümmerte, ging selbst mit mir hinauf, um nachzusehen, ob auch alles recht im Stande sei. Ich langte eben das Lavor von echt chinesischem Porzellan aus der Kommode, ein Prachtstück, das nur bei solchen Gelegenheiten und stets mit großer Angst gebraucht wurde, weil man uns von Kindheit an fabelhafte Begriffe von seinem Wert beigebracht hatte.

›Da liegt ja ein gesiegelter Brief an Sie, Papa,‹ rief ich erstaunt, und mit einem Male fiel mir selbiger Brief ein, den der Bastel damals am Putztag gebracht hatte, und mir wurde recht bang auf das Ungewitter, das es wegen dieser Vergeßlichkeit der Mutter geben werde.

Der Vater öffnete rasch den Brief und las ihn. Sein Gesicht wurde immer ernster und nachdenklicher. ›Das kommt nun zu spät!‹ sagte er langsam und gab mir nach kurzem Besinnen den Brief. ›Da lies, Karoline, es geht dich an.‹ Und mit großen Schritten ging er auf und ab, während ich erstaunt mit klopfendem Herzen den Brief las. Aber das Herz ist mir fast still gestanden. – Was meinst du, daß in dem Brief stand? Eine förmliche Werbung des S. um meine Hand beim Vater, und ein klein Brieflein darin an mich, so schön, ich könnte es heute noch auswendig sagen. Da wurde mir's ganz dunkel vor den Augen; ich wollte nur allein sein und ging hinunter in das Schlafstüblein.«

»Aber das ist doch gar zu traurig! Was haben Sie denn getan?« – »Gebetet habe ich, Kind, wohl auch geweint, aber gebetet zu dem, der den Sturm auf dem Meer gestillt hat, und es ward auch in mir eine große Stille. Nach einer Stunde ließ mich der Vater wieder zu sich kommen. Nun hat mich's mein Lebtag gewundert, daß der Vater mir nur den Brief gezeigt und noch ein Wort über die Sache verloren hat, nachdem ich schon eine verlobte Braut war; aber es muß bei ihm eben sehr tief gegangen sein. Er sah ganz bleich, ganz verlegen und bekümmert aus. ›Karoline,‹ sagte er, ›das ist nun schlimm; mir tut's weiß Gott leid, daß es so gegangen ist, aber mein Wort –‹[275] – ›Wir brauchen uns nicht mehr zu besinnen, Papa,‹ sagte ich ruhig. ›Wenn es Gottes Wille gewesen wäre, so hätt' er's anders fügen können. Ich habe wohl einmal gedacht, ich möchte einen Mann, den ich recht, recht liebhaben könnte, so von ganzer Seele, und so will ich nun den Friedrich (so hieß mein Mann selig) liebhaben, und Gott wird mir dazu helfen.‹ – ›Du bist ein braves Mädchen, Karoline; Gott wird dir's gut gehen lassen.‹ Und der Vater gab mir zum erstenmal die Hand. Sein Wort ist auch in Erfüllung gegangen; der liebe Gott hat's uns gut gehen lassen und uns reichlich gesegnet mit Wohlstand und Herzensfreude, und acht gesunde und brave Kinder sind heute noch meines Alters Trost und Freude.«

»Aber haben Sie denn dem S. gar nicht einmal geschrieben?« – »Ob der Vater es getan hat, weiß ich nicht; für mich, als eine verlobte Braut, wäre das nicht recht gewesen. Weh getan hat mir's freilich, daß er sich so verschmäht glaubte und im Groll von uns geschieden ist; aber ein recht stolzer Mann muß er doch gewesen sein, sonst hätte er nicht so scheiden können.«

»Aber der Bräutigam, der hat doch das Opfer gewiß recht erkannt und Sie auf den Händen getragen?« – »Er war ein getreuer und rechtschaffener Mann und mein bester Freund auf der Welt, der mich sein Leben lang in Liebe und Ehren gehalten hat; aber da wärest du falsch daran, Kind, wenn du glaubtest, er sei darum ein besonders untertäniger Ehemann gewesen, weil ich zuerst kostbar tat und mir eine Weile wie ein Prinzeßlein vorkam. Nein, er ist recht der Herr und das Haupt des Hauses gewesen, und ich ihm gehorsam und untertan, wie es einer rechten Frau gebührt. Ich würde das nicht selbst sagen, aber er hat mir's noch auf seinem Totenbett bezeugt. Die Geschichte mit dem S. aber und dem Brief habe ich ihm erst anvertraut, wie er und ich gewiß wußten, daß ich den Irrtum nicht mehr beklagte. Es ist eine schöne Sache, Kind, um das eheliche Vertrauen, und eine rechte Frau wird kein Geheimnis vor ihrem Mann behalten; aber gar zu voreilig muß man nicht sein, sonst wirft man leicht ein Häkchen in des Mannes Seele, das nachher schwer auszuziehen ist.«

[276]

Hochzeit und Ehestand

Wer sich nun nach der Geschichte dieser Jugendliebe die Ahnfrau vorstellen wollte als eine Harfe mit zerrissenen Saiten, die nur noch einen wehmütigen Akkord nachklingen, oder als eine Trauerweide, lebenslang hinabgebeugt auf das Grab des versunkenen Jugendtraumes, der wäre groß im Irrtum. Die Herzen à la Werther trug man dazumal noch nicht, und wenn man sie getragen hätte, so meinte sie just nicht, daß sie alle Moden mitmachen müsse. Sie ertrug das Leben nicht, sie griff es an mit frischem Mut, und wenn das Leben ein Kampf ist, so hat sie ihn freudig und ritterlich durchgefochten.

Daß sie nicht eben sentimentaler Natur war, das beweist der erste Schmerz ihres Ehestandes, der in der Entdeckung bestand, daß ihr junger Ehegemahl – nicht tanzen könne. Neben aller Sitteneinfalt der guten alten Zeit wurden wichtige Lebensereignisse, Hochzeiten, Taufen und dergleichen stets mit entsprechender äußerlicher Feierlichkeit begangen. Hochzeiten, wo man sämtliche Gäste mit einer Flasche Malaga und einem Teller Süßigkeiten abfertigt, deren Rest der Konditor nachher wieder zurücknimmt, kannte man dazumal noch nicht. So wurde denn auch die Hochzeit der Ahnfrau mit gebührender Solennität gefeiert; alle Freunde, Verwandte und Bekannte, sämtliches Schreiberpersonal ihres Vaters waren geladen; alle Dienstleute, Wäscherinnen und Tagelöhner des Hauses, ja sogar ehemalige Mägde, nebst Eltern und Geschwistern der derzeitigen, wärmten sich am mächtigen Küchenfeuer und der reichlichen Mahlzeit, die daran bereitet wurde. Der Hofrat, ein Jugendfreund des Bräutigams, trug ein schalkhaftes Gedicht vor, auf Atlas gedruckt, aus dem ich mich nur noch der Strophe entsinne:


»Hinfüro darfst du deine Syndikussin
Ohne alle Sünde kussen.«

»Nun war am Abend,« erzählte die Ahnfrau, »wie üblich, der Hochzeitsball. Vorher hatte es seit langem keine Tanzgelegenheit gegeben, wo ich und mein Zukünftiger zusammen gewesen wären. Als nun die Spielleute ankamen, stand ich [277] mit meinem neuen Ehegemahl auf zum ersten Menuett. Als wir aber anfangen sollten, trippelte er nur so mit den Füßen hin und her. ›Ei, warum fangen Sie denn nicht an?‹ fragte ich – ich habe nämlich erst nach der Hochzeit du zu ihm gesagt. – ›Ja, tanzen habe ich noch nie können; es tut mir leid,‹ sagte er mit Lachen. Mir aber war's gar nicht lächerlich; ich schämte mich vor all meinen Gespielen, daß ich einen Mann habe, der nicht tanzen könne, und es schien mir eine rechte Unredlichkeit, daß er's nicht vorher gesagt.«

Viel Zeit zum Tanzen hat die gute Ahnfrau nun nicht gehabt, so tanzlustig auch damals die sechzehnjährige Hochzeiterin gewesen sein mochte. Als sie kaum zwanzig Jahre alt war, wimmelten schon drei Kinderchen um sie, »wären alle unter einen Korb gegangen«. Auch hat ihr der Gatte die Tanzfreude, die er nicht selbst teilen konnte, wenigstens nicht mißgönnt.

»Man wußte damals gar nicht anders, als daß Frauen in gesegneten Umständen zu Ader lassen mußten, und es war der Brauch, sich an diesem Tage etwas zugute zu tun. Man machte einen Spaziergang über Land, und es wurde etwas Besonderes gekocht. Nun war's gerade ein regnerischer Tag, als ich das erstemal zur Ader gelassen hatte. Unser guter Freund, der Hofrat, kam herüber: ›So, die Frau hat heut zur Ader gelassen; was stellt ihr denn an bei dem bösen Wetter?‹ Man ratschlagte lange hin und her; endlich sagte der Hofrat zu meinem Mann: ›Wenn du deine Geige holen wolltest, so könnten wir ein Tänzchen machen.‹ Gesagt, getan. Du mußt wissen, daß mein Mann selig prächtig die Geige spielen konnte; so holte er denn die Geige und spielte den ganzen Nachmittag auf, und ich und der Hofrat tanzten dazu. Der Doktor ist nachher freilich böse geworden, aber es hat mir nichts getan, und unser Ältester war ein Prachtkind.«

»Aber, Ahnfrau, so jung möcht' ich doch nicht heiraten!« – »Ist auch ganz und gar nicht nötig, nicht im mindesten, will dir's durchaus nicht wünschen, und deinem künftigen Mann noch weniger, wenn's gleich bei uns gut ausgefallen ist. Ich [278] bin noch ein rechter Kindskopf gewesen und habe viel Lehrgeld bezahlt. Gesund war und blieb ich, Gott Lob und Dank! Als mich die Frau Försterin in meinem ersten Wochenbett besuchen wollte und ganz leise in das Schlafzimmer trat, sah sie nur das aufgemachte Staatsbett, weit und breit keine Frau Wöchnerin. ›Wo ist denn Ihre Frau?‹ fragte sie verwundert und ängstlich die Magd. – ›Ach, die Frau sind nur hinten im Hof und schleifen ein bißchen!‹ Es war nämlich Winter, und hatte mich schon lange gelüstet nach der prächtigen Glitschbahn im Hof. Du kannst dir aber denken, daß ich scharf von den Frauen mitgenommen wurde, und mehr noch später einmal, als ich am Jahrmarkt eine ganze Tafel voll Gäste sitzen ließ und dazwischen hinein mit meinen Schulkamerädinnen auf dem Markt spazieren ging, daß die Magd daheim sich derweil nicht zu helfen wußte.«

Vergeblich waren die Lehrgelder nicht ausgegeben, und die Ahnfrau ist eine so gute und tüchtige Hausfrau geworden wie nur je eine im schönen Schwabenland, die nicht nur der Küche und dem Haus, sondern auch Gärten, Feldern, Ställen und Wiesen nebst Kühen und Kälbern vorzustehen hatte. Und doch hat sie ihren frischen Mut dabei behalten. – Die Kinder, die rasch hintereinander nachwuchsen, wurden nicht als Last und Plage, sondern recht als Gottesgabe aufgenommen. Dafür machte man auch keine Umstände mit ihnen, kleidete die Jungen in Zwilchwämser und Lederhosen, die Mädchen in selbstgewobenen Barchent, wenngleich ein Bild, das die zwei ältesten des Hauses, den Knaben im Federhut, das Mädchen in hoher Frisur und Poschen darstellt, noch Zeugnis gibt, daß man bei festlichen Gelegenheiten auch Staat mit ihnen machen konnte.

Die Garderobe vererbte sich auf das nächstfolgende Familienglied; es wurde ihm anprobiert und paßte, wie die Ahnfrau meinte, stets »wie angegossen«. Die Söhne und Töchter selbst waren gerade nicht immer dieser Meinung, und die Kleider und Wämser mit recht gesunden Flicken darauf ließen meist noch hinlänglich Raum für künftige Körperentwicklung. – Die Betten waren je für zwei und zwei, und das konnte bei Störungen [279] der geschwisterlichen Eintracht fatal werden. Der Gottlieb und der Christian zum Beispiel, später die einträchtigsten Brüder, waren in ihrer Kindheit so eine Art Don Manuel und Don Cesar und gerieten sich im wörtlichsten Sinn dergestalt in die Haare, daß die Mutter darauf kam, ihnen die Köpfe glatt abrasieren zu lassen. Sie erzählten, es sei eigen gewesen, wie dann die Hände auf den kahlen Köpfen so ausgeglitten seien.

Drangsale aller Art blieben natürlich nicht aus, Löcher und Beulen, Keuchhusten und Scharlachfieber; die Ahnfrau aber steuerte getrost auch durch solche Trübsalsfluten. Sie war einmal eben im Stall, um der Magd praktische Anleitung im Melken zu geben, da stürzte die gesamte Kinderschar mit Zetergeschrei herunter: »Der Christian hat Mausgift gegessen, der Christian hat Mausgift geschleckt (genascht)!« Schnell besonnen, reißt die Mutter den armen Sünder herbei, gießt ihm von der warmen, frischgemolkenen Milch so viel ein, als nur immer den Schlund hinab zu bringen ist, und noch ehe der in Eile herbeigerufene Arzt erscheint, ist durch die gewaltsame Explosion, die nun erfolgte, das Gift mit all seinen schädlichen Wirkungen entfernt, und der Christian bildete sich später noch etwas darauf ein, daß er in solcher Lebensgefahr gewesen.

Der Gottlieb freilich, der sah's bedenklicher an. Als er mit dem Christian einige Jahre später beim Herrn Onkel Landschaftsassessor in Stuttgart zu Gast essen durfte, wartete ihnen dieser zum Nachtisch drei Pfirsiche von einem Spalier seines Gartens als höchste Rarität auf und fragte triumphierend: »Nicht wahr, Buben, so habt ihr noch nichts gegessen?« – »Oh, warum nicht!« sagte der Christian; »'s Fritzles Käther gibt so sechs für einen Kreuzer.« Dem älteren Gottlieb, in tödlicher Verlegenheit, wie er des Bruders Taktlosigkeit beschönigen sollte, fällt endlich bei: »Ach, Herr Großonkel, nehmen Sie's doch nicht übel, daß mein Bruder so dumm ist! Aber vor drei Jahren hat er einmal Mausgift gegessen, das hat ihm vom Verstand genommen.«

Das Haus des Ahnherrn lag dicht neben dem Gasthof. So geschah es denn einmal, daß ein dicker Herr ganz patzig in die [280] Stube trat, wo eben die Ahnfrau mit den Kindern allein war. »Kann ich einen guten Schoppen haben?« – »Warum nicht!« meinte die Ahnfrau, die den Irrtum gleich gemerkt, und brachte aus ihrem Keller einen bessern, als jemals der Schwanenwirt seinen Gästen vorgesetzt. – »Ich möcht' auch ein Brot!« befahl der Dicke wieder. – »Da ist ein neugebackenes,« sagte die gefällige Hausfrau. – »Und ein Licht zu meiner Pfeife!« – »Sophie, bring Licht!« rief die Mutter. – »So, und jetzt möchte ich allein sein,« kommandierte er ferner, da sich die Jugend des Hauses mit aufgesperrten Mäulern um den ungenierten Gast zu scharen begann. – »Schon gut, will meine Kinder hinausschicken; kommt, Kinder!« Und mit unerschüttert gutem Humor verließ sie mit der jungen Schar das Zimmer. Der Dicke aber [281] stellte seinen Schoppen neben sich, öffnete das Fenster der Parterrewohnung und begann so recht behaglich seine Pfeife hinauszurauchen. Da bemerkte ihn sein Kutscher, der indes ausgespannt hatte. »Ei, Herr Amtmann, wo sind denn Sie?« fragte er erstaunt. – »Wo werd' ich sein? Im Wirtshaus um mein Geld,« schnauzte der hinaus. – »Du lieber Gott, nein! Da wohnt ja der Herr Syndikus; Sie sind um eine Tür zu weit.«

Da machte der dicke Amtmann sachte das Fenster zu, steckte die Pfeife ein und schlich sich ebenso leise hinaus, als er laut hereingetreten war, nachdem er vergeblich nach der Magd gespäht, um ihr etwa ein Trinkgeld in die Hand zu drücken. Um Weihnachten aber kam als Zeche eine Schachtel guten getrockneten Obstes für die liebe Jugend. Man sagt, der Herr Amtmann sei künftighin selbst in Wirtshäusern höflicher aufgetreten.

Mit so frischem Humor wußte sie alle Verhältnisse aufzufassen, und ich bin nicht gewiß, ob es Ursache oder Wirkung der körperlichen Rührigkeit und Lebendigkeit war, mit der die Ahnfrau durch Wochenbetten, Kinderkrankheiten und Kriegsnöte rüstig durchsegelte. Niemand sah der zartgebauten Frau an, welch kräftiges Regiment sie als Hausfrau und Mutter führte, wie sie den Töchtern tätig voranging bei Feld-und Hausarbeiten aller Art, zu denen jetzt jede Magd von Bildung noch eine Untergehilfin verlangt. Darum ist ihr auch der reiche Segen, der ihr Haus sichtbar krönte und der mit jedem Kind zu wachsen schien, nicht zugeflogen wie eine gebratene Taube, sondern zugewachsen wie dem fleißigen Winzer der edle Wein, der die Frucht seines sauren Schweißes und doch eine wundersame Himmelsgabe ist.

Abwege

So eine gehorsame und redliche Gattin die Ahnfrau war, einmal hat sie, wie sie gestanden, doch nicht ganz den geraden Weg eingeschlagen mit ihrem gestrengen Herrn (gestrenge Herren müssen sich das schon hie und da gefallen lassen), als eine schwere Gefahr das Glück und den Frieden ihres jungen Hausstandes bedrohte.

[282] »Da war einmal eine Kommission von der Regierung hier, weiß nicht mehr warum, ein paar vornehme junge Herren; die hatten auch mit meinem Mann selig Geschäfte und schienen großes Wohlgefallen an ihm zu finden. Jeden Abend holten sie ihn ab in den Schwanen, und da ihnen die Gesellschaft dort nicht vornehm genug war, schlossen sie sich in ein besonderes Stüblein ein. Nun hat es keinen rechtschaffeneren und verständigeren Mann gegeben als meinen, und kein Kaiser in der Welt hätte ihn bewegen können, unrecht zu tun oder unwahr zu reden; aber das war seine Schwäche, daß es ihm erstaunlich wohl tat, wenn vornehme Leute freundlich mit ihm verkehrten; mag vielleicht daher kommen, daß er in sehr dürftigen und bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen war.

Er kannte die Karten gar nicht und hatte großen Abscheu vor dem Spiel; eines Abends aber erzählte er mir, die Herren haben ihn ein gar sinnreiches Kartenspiel gelehrt; er hätte nie geglaubt, daß es solche gebe. Das war mir nun gleich nicht recht, doch schwieg ich darüber. Als aber die Herren jeden Abend kamen und er, der sonst auf die Minute heimkehrte, immer länger mit ihnen sitzen blieb, immer erpichter auf ihre Gesellschaft wurde, immer weniger nach seinen alten, guten Freunden fragte, da wurde mir bang, und ich faßte mir ein Herz, ihm zu sagen: ›Aber, Vater, meinst du nicht, das Spiel und die vornehme Gesellschaft werden dir gar zu lieb? Hast ja selbst gesagt, die erste Spielkarte, die einer in die Hand nimmt, sei das Haar, an dem ihn der Teufel faßt.‹ Da wurde er aber recht böse. – ›Hältst du mich für so schwach, daß ich nicht aufhören könnte, wann ich will? Kann ich darum unmanierlich sein gegen die Herren, weil sie eben an dieser Unterhaltung Freude finden?‹ – Ach, er fand sie selbst daran; aber ich durfte nichts mehr sagen. Und doch bemerkte ich, daß er viel öfter als sonst Geld aus der Hauskasse nahm und es vor mir zu verbergen suchte, was sonst so gar nicht seine Art war; auch kam er oft recht übler Laune heim und war dann am andern Tag nur erpichter auf das Spiel. Es war mir eine rechte Herzensangst, und ich lag viele Nächte schlaflos in stillem Beten und im Besinnen, wie ich's wohl anders machen könnte.

[283] Mein Mann hatte seine Arbeitsstube im Seitenflügel des großen alten Baues, in dem wir wohnten, und die Herren holten ihn immer dort ab. Da schlich ich denn einmal leise, als ob es die schlimmste Tat wäre, in großer Seelenangst über den Hof zu der Zeit, wo sie allemal kamen, schloß die Vortür ab und steckte den Schlüssel ein. Mit Zittern und Zagen wartete ich hinter dem Küchenfensterlein, bis sie kamen. Sie klopften an die Tür; als sie nicht aufging, probierten sie das Schloß, eine Glocke war nicht da, und zogen zuletzt, wie's schien, verwundert und verdrießlich ab. Ich schlüpfte wieder hinüber und schloß auf. Nach einer halben Stunde kam mein Mann und sah nach der Uhr. ›Schon so spät? Ist niemand hier gewesen?‹ – ›Bei mir nicht,‹ sagte ich mit einem Herzklopfen, das mich schier erstickte. Er ging verstimmt in der Stube auf und ab. Da sprang unser kleiner Christian herein: ›Papa, gehen Sie nicht auch ein einziges Mal wieder mit in den Augarten?‹ Das kam nun eben zur guten Stunde; er willigte freundlich ein, und wir erfreuten uns miteinander an dem schönen Obst.

Am andern Tag probierte ich's wieder mit dem Abschließen. Die Fenster seiner Schreibstube gingen zum Glück nicht auf die Haustür. Die Herren kamen und zogen abermals ab; beim Weggehen begegneten sie der Magd. ›Ist der Syndikus ausgegangen?‹ – ›Nein, sie sind daheim.‹ – ›Aber die Tür ist ja verschlossen.‹ – ›Da müssen sich der Herr selber eingeschlossen haben,‹ sagte diese, die von nichts wußte; ›soll ich die Frau fragen?‹ – ›Nein, nein,‹ sagten die Kommissäre und zogen kopfschüttelnd ab. Ich machte wieder auf, und in einer Viertelstunde kam der Mann wieder, recht verdrießlich, fragte aber nicht mehr. Da kam der Hofrat, der schon lange nicht mehr eingesprochen hatte. Mir war's, als ob ihn der Himmel schickte. ›Muß doch auch einmal wieder sehen, wie's steht und ob wir nicht mal wieder ein Brettspiel miteinander machen.‹ – ›Warum nicht!‹ meinte mein Mann, schon ein wenig aufgeheiterter. ›Bring 's Brettspiel, Auguste, und laßt auch den Herrn Hofrat vom Neuen versuchen! Er wird sich wundern, wie gut sich der macht.‹

[284] Da saßen denn die zwei wieder beisammen, und ich mit meinem Strickzeug hinter dem Tisch; ich hätte weinen mögen vor Freude. – ›Eben ist mir auch der Kaufmann Mohrle begegnet,‹ erwähnte der Hofrat; ›der hat ganz gestrahlt vor Freude und wieder mehr französisch als deutsch gesprochen. [285] Die Herren Kommissäre haben ihn zu einem L'hombre eingeladen.‹ – ›Der alte Narr!‹ sagte mein Mann ärgerlich, ›weil er einmal ein halb Jahr in Straßburg gewesen, meint er heute noch, er sei ein Franzos und berufen, mit hohen Herrschaften zu verkehren.‹

Dabei blieb's aber, die Herren kamen nicht wieder; ihnen nachzulaufen, wäre mein Mann zu stolz gewesen; er blieb wieder daheim wie zuvor und war viel vergnügter als je. Die Gefahr war glücklich vorüber.«

»Aber, Ahnfrau, war das recht?« – »So ganz glaub' ich nicht, Kind; ich hab's wohl gespürt an meinem Herzklopfen und meinen großen Ängsten, daß es kein gerader und guter Weg war, wenn ich's auch gut gemeint. Aber der liebe Gott hat zum Besten gewendet, was ich in meiner Schwachheit nicht anders anzugreifen wußte. Ich hab's ihm immer nachher einmal gestehen wollen; aber wenn dann später vom Spiel und seinen Gefahren die Rede war, und er so gar vergnügt sagte: Ja, ja, mich hätte der Spielteufel beinahe auch einmal gepackt, aber ich hab's noch zur rechten Zeit gemerkt und mich frei gemacht, da fand ich das Herz nicht, ihm zu sagen, wie es zugegangen. Und als er noch in seinen letzten Stunden mit demütigem Herzen Gott die Ehre gab auch für diese Bewahrung, da fühlte ich, daß er jetzt kein Geständnis mehr brauche und daß er mein ganzes Herz und meinen Sinn bald besser verstehen werde als ich selbst.«

Kriegszeiten

Der Ahnherr war eine durch und durch konservative Natur. Die französische Revolution mit ihren Folgen erschütterte ihn fürchterlich; als er die Hinrichtung Ludwigs XVI. erfuhr, hat er sich einen ganzen Tag eingeschlossen, kein Wort gesprochen und keinen Bissen gegessen. – Da konnten die französischen Soldaten, die bald darauf das Land überschwemmten und die kleine Stadt besonders stark heimsuchten, keine willkommenen Gäste für ihn sein. Die gute Hausfrau trug oft schwere Sorge, ob sein tiefer Groll nicht einmal durchbreche durch die unbeweglich [286] ernste und feierliche Haltung, mit der er die ungebetenen Besucher aufnahm und beherbergte.

Das vielgestaltige, bewegte Leben und Treiben, das sie mit sich brachten, hatte aber, zumal für den rührigen Geist der Ahnfrau, etwas Aufregendes, das das Gefühl der Trauer und des Widerwillens nicht recht zum Bewußtsein kommen ließ. Auch müssen die zusammengewürfelten französischen Truppen oft einen komischen, buntscheckigen Anblick gewährt haben. Schuster und Schneider durften nicht feiern, Schuhe gehörten unter die ersten Requisitionen der einziehenden Truppen; auch war der Appetit vortrefflich, so viel sie auch über »die schwäbisch Fressen« schimpfen mochten. Die Ahnfrau sorgte stets, durch gute und reichliche Küche sie bei guter Laune zu erhalten.

Einmal aber hat sie viel Sorge durchgemacht. Es waren vier ziemlich unedel aussehende Offiziere im Haus einquartiert, deren freches Auftreten der Hausherr nur mit Mühe ertrug. Einer unter ihnen, der etwas Deutsch verstand und den Dolmetscher der übrigen machte, kam mit beglückender Miene zu den Töchtern des Hauses: »Heut abend groß Ball, schön Ball; Sie mitkommen, ich Sie tanzen lassen!« So tanzlustig die Mädchen auch sonst sein mochten, diesmal waren sie gar nicht aufgelegt, und der Vater erklärte kurzweg: »Meine Töchter tanzen auf keinem Franzosenball.« Der Dolmetscher verstand das schon und erklärte es den andern. Diese erhoben ein Geschrei und ein Säbelgeklirr, daß es Mutter und Töchtern angst und bange ward; endlich stürmten alle vier fort. Da kam nach einer Weile der Hofrat: »Hört, das Ding kann bös gehen! Die Offiziere haben sich beim Obersten beklagt; der nimmt's als Beleidigung der französischen Ehre und speit Feuer und Flamme. Er will die Mädchen mit Militär abholen lassen, wenn ihr sie nicht gutwillig zum Balle schickt; er droht mit Plündern und was allem. Seid gescheit und führt sie selbst hin, so wird gewiß den Mädchen kein Leid widerfahren!« Die Mutter bat, der Hofrat sprach zu; der Vater selbst sah ein, daß da nichts zu machen war, und gab zähneknirschend seine Einwilligung und den Mädchen Befehl, sich anzukleiden.

[287] Nie wohl ist ein Ballstaat von jungen Damen unlustiger ins Werk gesetzt worden als diese. Die hochgesinnte patriotische Auguste verlangte, daß man in Trauer gehen sollte; die trotzige Sophie schlug die alten Hauskleider vor, um seine Geringschätzung recht zu zeigen; Karolinchen aber meinte, man müsse sich doch anständig anziehen, es könnte dem Papa Verdruß machen. Ob sie dabei nicht ebensoviel an ihr hübsches Gesicht und an minder patriotische und mehr geputzte Freundinnen dachte als an den Papa, das sei dahingestellt. Die Schwestern ließen sich auch umstimmen und fanden in kleidsamen blauen Kattunkleidern die richtige Mitte zwischen zu festlicher und zu alltäglicher Tracht. Wie sie abzogen zum Ball, seufzte aber Auguste ganz tragisch: »Wenn das die Kaiserlichen wüßten!«

Die Offiziere hatten ihre Empfindlichkeit vergessen und erschienen im höchsten Putz, dessen ihre zusammengelesenen Uniformen fähig waren, um die Damen auf den Ball zu geleiten. Der Papa aber im feierlichsten Staatskostüm mit Haarbeutel und Buckeln war neben der Mutter schon bereit, die Töchter unter seine Fittiche zu nehmen, und schritt an ihrer Seite voran mit so tiefernster Miene, als gehe es zur Leiche und nicht auf einen Ball.

Es ging übrigens alles gut vonstatten; die Franzosen benahmen sich ganz anständig und waren flinke Tänzer, so daß die jungen Damen sich in etwas mit ihrem Geschick aussöhnten. Wenn nicht an der Tür des Ballsaals Wachen mit gezogenen Säbeln aufgestellt gewesen wären, um etwaiges Entweichen der Damen zu verhüten, so hätte man glauben können, es sei ein Ball wie ein andrer.

Ein komisches Zwischenspiel war es, als der Dolmetscher die im Gang zuschauende Magd des Hauses absandte, um seinem Bedienten zu befehlen, daß er ihm seinen Mantel bringe. – »Er spielt grad' Karten und mög' ihn nicht bringen,« meldete diese, zurückkehrend. – »Er ihn muß bringen, tout de suite!« schrie der Offizier. Die Magd kam zum zweitenmal zurück: »Es sei ja erst acht Tag', daß Sie den Mantel g'stohlen haben,« berichtete [288] sie; »da werden Sie noch nicht so dran gewöhnt sein.« Wütend, mit gezogenem Degen stürzte er hinaus, muß aber Gründe gehabt haben, seinen unverschämten Bedienten zu schonen; er kam bald zahmer zurück, mit dem bestrittenen Mantel auf dem Arm, zwischen den Zähnen fluchend: »Sacré chien! Ich muß haben meinen Mantel, ich!«

»Einmal aber«, erzählte die Ahnfrau, »hab' ich doch auch durch die Franzosen einen Hauptspaß gehabt. Was nicht Platz finden konnte von dem Volk in den Quartieren der Stadt, das speiste alles im Schwanen, die Stadt mußte Tag für Tag hundert Gulden dafür bezahlen. Nun fiel es den Herren einmal ein, sämtlichen Honoratioren der Stadt eine Ehre anzutun und sie mit ihren Frauen zur Tafel zu laden; ist eine teure Ehre gewesen, die Stadt hat's ebenfalls zahlen müssen. Du hättest meinem Mann sein Gesicht sehen sollen, mit dem er den weißen Staatsfrack mit den großen Perlmutterknöpfen anzog: der beste Wein wäre davon zu Essig worden. Mir hat das Ding ein bißchen Spaß gemacht, ich dachte, das erlebst du so bald nicht wieder; es lächerte mich, daß die Kerle so unverschämt waren, einen auf ihr gestohlenes Gut noch zu Gaste zu laden. Merken lassen durfte ich mir's freilich nicht, ich zog mich aber ganz staatsmäßig an und setzte ein Tafelaufsätzchen von Atlas auf mit Rosen.

Als wir in den Schwanen kamen, mußte man im Vorzimmer warten. Der General, der ein wenig Deutsch konnte, bekomplimentierte uns, und man mußte sich paarweise aufstellen; der General schritt voran in den Speisesaal mit der Frau Oberamtmännin am Arm; ich glaub', ich hätt's auch nicht übel genommen, wenn er mich geführt hätte, obgleich es ein Franzose war. Die Tafel war prächtig gedeckt, aber nur für die Damen. ›Die Damen nehmen Platz!‹ kommandierte der General, das geschah; was aus den Herren werden sollte, wußte man noch nicht. ›Jeder Herr stellt sich hinter den Stuhl seiner Dame!‹ kommandierte er wieder; die haben aufgeschaut! Das war noch keinem von unsern Männern passiert, daß er hinter seiner Frau Stuhl stehen mußte! Der General aber fing [289] an, die andern mußten nachfolgen; die Offiziere stellten sich hinter die ledigen Damen, wir hatten unsre Mädchen daheim gelassen. Ich setzte mich, als müsse das so sein; konnte aber gar nicht aufsehen vor Lachen, wenn mir's einfiel, daß mein eigener leiblicher Mann, den wir daheim alle ehrten und bedienten, wie sich's für den Herrn vom Hause gehört, da hinter mir stehe wie ein Bedienter. Ich bot ihm ganz vornehm und gnädig den Suppenteller hinauf; da stand er, bolzgerade wie ein preußischer Grenadier, und hatte er vorher ein Gesicht geschnitten, so schnitt er jetzt noch ein ärgeres; ich guckte ihn nur ein klein wenig von der Seite an, und wie er sah, daß mir's so lustig vorkam, so lächerte es ihn auch ein klein bißchen; wie er mir aber den Teller wiedergebracht hatte, ward es ihm doch zu bunt, er ging davon und suchte sich in der Nebenstube etwas zu essen. Daheim sprach er kein Wörtchen davon; wenn er aber guter Laune war, so durft' ich ihn später wohl daran mahnen: ›Weißt nimmer, Alter, wie du mir so nett den Teller präsentiert hast?‹«

Auch traurigere Szenen gingen in dieser bewegten Zeit an dem hellen Blick der Ahnfrau vorüber. Im Gasthof neben ihr hatte sich ein französischer Oberst einquartiert mit seiner jungen Frau, einer feinen, schönen Dame von so ganz anderm Aussehen als die sonstigen Mamsellen, welche die glorreiche Armee zu begleiten pflegten. Der Oberst wurde weiter beordert und mußte die arme junge Frau allein krank zurücklassen. Das Herz der Ahnfrau war von tiefem Mitleid mit der Fremden bewegt, der es in dem geräuschvollen Wirtshaus gerade an der Pflege fehlte, die Kranken am wohlsten tut. Sie besuchte sie täglich und opferte die noch gesparten Schätze ihrer Speisekammer, um ihr Erquickung zu verschaffen. Sie verstanden einander kein Wort; aber die Fremde konnte doch die Sprache der treuen deutschen Augen lesen und die sanfte Pflege der geschickten Hand empfinden, und sie schloß sich mit kindlicher Innigkeit an sie an. Stundenlang saß die deutsche Frau schweigend am Bette der Kranken, deren schwarze Augen so innig vertrauend in ihre blauen blickten, daß sie wohl glaubte, [290] sie denke vielleicht einer fernen Mutter dabei. Der Zustand der Leidenden verschlimmerte sich rasch, und ihr Ende nahte sichtlich, noch ehe der abgeschickte Bote den Obersten erreichen konnte. Aber ein rastloses Verlangen schien die Sterbende zu quälen, und soweit die Ahnfrau mit des Arztes Hilfe sich mit ihr verständigen konnte, galt es mehr noch dem letzten Trost ihrer Kirche als dem abwesenden Gatten.

Da war guter Rat teuer; weder ein Feldprediger noch sonst ein katholischer Geistlicher war in der Nähe zu finden, und einen protestantischen wies sie mit wahrem Abscheu zurück. Schon saß der Tod auf ihren Lippen und noch diese peinliche Unruhe im Auge. Die gute Ahnfrau konnte sie nicht so sterben lassen. Da nahm sie das große, schöne eiserne Kruzifix, [291] das als wertes Erbstück in der Familie bewahrt wurde, und brachte es als letzten Trostversuch der Kranken. Da leuchtete das erstorbene Auge auf, und ihr Erstaunen, daß auch die Ketzerin das heilige Bild mit Ehrfurcht und Andacht betrachte, zeigte, welch seltsame Begriffe die arme Frau vom Glauben der Fremden gehabt. Man mußte das Kreuz auf dem Bett ihr vorhalten, sie faltete die Hände und flüsterte mit leiser Stimme einige Worte – wohl ihre Beichte, und ihr seliges Lächeln im Tode sagte, daß ihr auch die Absolution nicht gefehlt. – Die Ahnfrau schmückte sie für den Sarg, in dem erst der verzweifelnde Gatte sie wiedersah; sie hob von ihren prächtigen schwarzen Haaren zum Andenken auf und pflegte treulich das einsame Grab.

Allmählich verlief sich der Franzosenstrom; der Ahnherr lebte auf im Befreiungskrieg. Russen, Österreicher, Preußen zogen als willkommene Gäste durch. Mit den Österreichern stand sich die Familie sehr gut, und die Ahnfrau berichtete sogar gern, was für vornehme Herren bei ihnen gewohnt hatten und wieviel Ehre sie ihr erwiesen.

»Einmal war ich weit draußen ganz am Ende der Markung auf unserm Acker und habe Ölmagen (Mohn) gebrochen, den größten Sack voll, und wartete nur noch auf den Knecht, der ihn heimfahren sollte. Da kam der Herr General, der damals bei uns im Quartier war, in seiner prachtvollen Chaise dahergefahren; all mein Lebtag habe ich kein so flottes Gefährt mehr gesehen, innen mit Samt, außen glänzend wie ein Spiegel mit gemalten Wappen und Goldverzierungen. ›Was schaffen S' da allein?‹ fragte er. ›Fahren S' mit mir heim!‹ – ›Danke, Euer Exzellenz,‹ sagte ich, ›ich kann den Sack da nicht allein stehen lassen; wo alles voll Soldaten läuft, da ist nichts sicher.‹ Er lachte, und ich merkte, daß ich einen Reißer gemacht. ›Wissen S' was?‹ sagte er gutmütig, ›den Sack packt mein Kutscher hintenauf, und Sie sitzen 'rein.‹ Mußte der Kutscher den garstigen Ölmagensack hinten auf die Staatskarosse packen! Er hat wahrscheinlich tüchtig geflucht, aber auf slowakisch, ich hab's nicht verstanden, und ich fuhr in Pracht [292] und Herrlichkeit wie eine Prinzessin mit dem General bis vors Haus, daß alles die Fenster aufriß.

Ein andermal ist mir das Staatmachen nicht so gut bekommen. Ich war im Flachsrupfen auf dem andern Acker, auch weit genug von der Stadt; dazumal, wo man noch sparen konnte, trug man in besseren Kleidern vorn, wo es die Schürze bedeckte, ein eingesetztes Stück von selbstgewobenem Barchent, um Stoff zu ersparen. Da es nun sehr heiß war und die Sonne mir auf den Rücken brannte, zog ich, um das Zeug zu schonen, mein Kleid verkehrt an; das hatte ich aber im Amtseifer ganz vergessen. Wie ich nun eben fertig war, kommt der Graf Serbeloni daher, der in unsrer Nachbarschaft einquartiert war und oft zu uns kam. ›Ah, Madame,‹ sagte er, ›wir gehen einen Weg, Sie erlauben, daß ich Ihnen meinen Arm anbiete.‹ Nun war ich zwar das nicht gewöhnt, aber ich sah es immer gern, wenn die Herren galant sind; so ließ ich mir's gefallen. Zuerst war ich in Verlegenheit, dann aber unterhielt ich mich sehr gut mit dem Herrn Grafen und zog in einer Glorie an seinem Arm durch die Stadt; ich hörte wohl die Leute hinter uns lachen, aber ich dachte, das geschehe aus lauter Verwunderung. Wie wir aber ans Stadtschreibers Haus vorbeikommen, springt das Nanele herunter und winkt mir; ich will's alleweil noch nicht verstehen, bis sie mir in die Ohren düsemet (flüstert): ›Ach, Frau Syndikussin, wissen Sie's denn nicht, daß Sie Ihren Rock verkehrt anhaben und den Barchentpletz hinten?‹ Da war meine Glorie zu Ende; ich versicherte dem Herrn Grafen, daß ich da drin ein Geschäft habe, und lief recht künstlich rückwärts, daß er den Schaden nicht merken sollte; weiß nicht, ob er ihn wahrgenommen. Ich ging eine gute Weile nachher immer durch Hintergäßchen, und mein Mann, der mich vom Rathaus aus so in Pracht und Eitelkeit hatte daherziehen sehen, hatte sein Pläsier an meiner Demütigung; wenn ich ihn mit dem Franzosengastmahl necken wollte, so sagte er: ›Sei nur still, sonst komm' ich mit dem Grafenspaziergang!‹

Galante Leute sind freilich auch oft die Franzosen gewesen. Da drüben bei den Jungfer Schneidemänninnen war ein gar [293] netter, artiger Leutnant einquartiert, er führte sie auch auf den Ball; sie waren aber dazumal schon alt und alleweil wüst; so wollte, außer dem Leutnant, der sie gebracht, kein Mensch mit ihnen tanzen. Der wußte in seiner Herzensgüte gar nicht, was er ihnen alles zuliebe tun solle; er brachte ihnen Braten, Biskuit und zuletzt gar Kirschen, was noch die größte Rarität war. Die Jungfern hatten sich unten im Saal gesetzt; wie sie den Leutnant mit den Kirschen sehen, schlägt Gustel, die älteste, ihr weißes Ballkleid sorgfältig hinauf, um es zu schonen, ebenso den weißen Rock darunter, bis ein grau kölschener Rock kam, und schrie dem Offizier aus allen Kräften, daß man's durch den ganzen Saal hörte, zu: ›Da her, Herr Leutnant, da her!‹ Nun hatte er genug und ließ sich nimmer sehen.

Heutzutage sind freilich die Frauenzimmer feiner,« schloß die Ahnfrau; »wenn ich aber allemal wieder in die Garnisonsstadt komme und sehe die Fräulein so an der Wachtparade und auf Spaziergängen an den Offizieren vorbeitänzeln und hinter den kleinen Sonnenschirmchen so schalkhaft hervorgucken, so muß ich allemal denken, das heißt eben auch: ›Da her, Herr Leutnant, da her!‹, nur in feinerer Manier als bei der Gustel Schneidemännin.«

Am Ende aber zog der willkommenste Gast von allen, der goldene Friede, und mit ihm Freude und Gedeihen in das vielbedrängte Haus des Ahnherrn ein. Die vergrabenen Kleinodien und Schatzgelder wurden aus dem Keller geholt, Gärten und Felder mit neuem Fleiß und Eifer bestellt. Statt fremden Kriegsvolks rückten jetzt als fröhliche Einquartierung die studierenden Söhne des Hauses mit einem Geleite flotter Kameraden ein, die alle im gastlichen Hause willkommen waren.

Dazwischen kamen kleine und große Herzensangelegenheiten der aufgeblühten Töchter, die nicht so tragisch endeten wie der stille Herzenstraum der Mutter. Die Söhne gingen ihren Weg, erstarkend in eigener Kraft, und der Ahnherr erlebte noch die Freude, sich als Gast des eigenen Sohnes zu sehen. Fast schien es, als ob die alte Geschichte vom Kroatenähne noch einmal in der Familie neu aufgelegt werden sollte. Unter den Kaiserlichen, [294] die im Quartier gelegen, war auch ein österreichischer Hauptmann gewesen, der in seiner treuherzigen, etwas linkischen Weise den Töchtern des Hauses viel Aufmerksamkeit bewiesen hatte. Mit August, dem jungen Theologen und Vetter des Hauses, dem stillen Verlobten der jungen Karoline, hatte er sich sehr befreundet; doch dachte man kaum mehr an ihn, als nach Beendigung des Kriegs ein Brief an Vetter August kam. »Mein lieber Herr Geistlicher! Ich möchte gern eine heiraten von Ihren Jungfer Cousinen; die welche weiß ich gerade nicht; nicht die, welche Sie selber wollen; sie gefallen mir aber alle, und seien Sie so gut und halten mich an bei derjenigen. Ich sei ein braver Soldat, ein schöner Bursch und ein ehrlicher Kerl, und für den Fall, daß tot, ist gut gesorgt.«

[295] Dieser Antrag machte den drei Mädchen viel Spaß; jede wollte der andern die Ehre lassen, bis endlich Klärchen, die jüngste, auftrat. Man hatte sie von den scherzhaften Beratungen ausgeschlossen; sie hatte aber das Nötige an den Türen erhorcht und alles für Ernst gehalten. Sie erklärte mit vielem Edelmut, wenn keine von den Schwestern wolle, so müsse eben sie das Opfer werden und den Österreicher nehmen, es könnte ja sonst wieder Krieg geben. Sie war recht gekränkt, daß man ihr Opfer verschmähte und noch obendrein ihren Edelmut verlachte. Ich glaube, der Österreicher hat keine Antwort erhalten.

Witwenstand und Tod

Durch all dies Keimen, Treiben und Reifen in den gesunden Ästen und Zweigen eines kräftigen Stammes wehte ein kalter Hauch: der Todeshauch, und der Hausvater, des Hauses Stütze und Krone, sank nieder vor seinem eisigen Wehen.

Die Ahne hatte in jungen Jahren schon sich vor diesem Feind fürchten lernen; ihr Mann war groß und hager, und man hielt ihn für schwindsüchtig bald nach dem Beginn ihres Ehestandes. »Das war eine schwere Sorge, die auf mir lag,« sagte sie später oft und erzählte dabei wohl einen seltsamen Traum, der ihr sehr wichtig erschien, wie denn überhaupt in ihrer klaren, frischen Seele doch Raum blieb für das geheimnisvolle Gebiet der Träume und Ahnungen. »Wie ich so schwer bekümmert war wegen meines Mannes Brustleiden und fürchtete, er sterbe vor der Zeit von mir und den kleinen Kindern weg, da träumte mir einmal, ich gehe in tiefer Nacht allein auf einem großen, weiten Kirchhof; eine schauerliche Gestalt kam auf mich zu; ich wußte, das war der Tod, und ich schrie in großer Angst: ›O Tod, hol meinen Mann nicht!‹ Der Tod sagte: ›Wenn du mich dreimal um der Wunden Christi willen bittest, so will ich ihn verschonen.‹ Da hob ich an und bat ihn einmal und bat ihn zweimal; wie ich ihn aber zum drittenmal bitten will, so schreit mein kleiner Konrad, und ich wache auf.«

[296] Damals war ihr der Gatte erhalten geblieben; aber als er starb mit sechzig Jahren, meinte sie doch: »Vielleicht er hätte doch noch länger gelebt, wenn ich den Tod zum drittenmal hätte bitten können.«

Der Tod des Gatten war der Wendepunkt im Leben der Ahnfrau; ob auch ihre innere Jugend, ihr lebensvoller Geist sich nach langer und tiefer Trauer wieder aufrichtete an den Freuden und Pflichten der Mutter: es war doch nicht mehr das volle Tageslicht, es war eine friedliche Dämmerung, in der ihr langes und reiches Leben nun verfloß.

Die wohlerzogenen stattlichen Töchter ließ sie ziehen an der Hand der Erwählten, um den eigenen Herd zu gründen; sie durfte ihr Witwenstübchen schmücken, um die blühenden Bräute der Söhne zu empfangen. In jeder Gegend des Landes, im Neckartal, auf der Rauhen Alb, in der Residenz, in abgelegenen Pfarrdörfern stand da oder dort ein eigen Haus für sie, ein Haus, in das sie ihre lakonischen Brieflein, ihre Grüße, ihre Ratschläge sandte; wo sie verweilte mit ihrer Liebe, ihren Sorgen, mit Mitleiden oder Freude.

Sie selber ist allein geblieben, allein mit ihren Erinnerungen, ihrer geistigen Kraft und Regsamkeit. Das große, stattliche Haus diente andern Zwecken, andre Bewohner gingen ein und aus; sie zog sich in ein bescheidenes Quartier zurück, das aber trotz seiner Mansardenwände, an denen die Bilder auf ergötzliche Weise in der Luft baumelten, mit seinen Familiengemälden, der wunderlich gestalteten Spieluhr, den mannigfachen Geräten aus alter Zeit: Tresoren, Taburetten und Gueridonen, eine äußerst gemütliche, unterhaltende Heimat für jung und alt war.

Sie lebte allein mit einer alten Dienerin, die mit den Tugenden auch alle Fehler alter Mägde in sich vereinigte und ernstlich Miene machte, ihre Herrin zu beherrschen. Von den Söhnen und Töchtern, die längst in Ämtern und Würden standen, sprach Susanne stets in höchst vertraulicher Weise: »Warum schreibt wohl der Gottlieb so lange nicht? Ich mein', der Christian dürft' sich auch um einen besseren Platz melden. [297] Jetzt sollt' aber die Auguste doch ein Kindsmädchen nehmen!« Auch waren alle einlaufenden Familienbriefe stets Gemeingut zwischen ihr und der Herrin.

Eine sparsame Seele war sie, die gute Susanne, im Interesse der Herrschaft noch viel mehr als in ihrem eigenen. Sie war imstande, mit der Frau zu grollen, wenn sie ein halbes Schwefelholz weggeworfen, mit dem man doch noch »das schönste Licht« hätte anzünden können, und als ihr diese befahl, dem Boten, der die glückliche Geburt eines Enkels anzeigte, eine noch vorhandene Bratwurst zu geben, ging sie brummend hinaus: »Soll dem Kerl die schöne Wurst geben! Hätt' meine Frau noch mit abfergen (abfertigen) können; so kommt man zu nix!« – Wie sie's angegriffen, sich aus ein Paar abgelegten schwarzen Beinkleidern des Gottlieb noch einen »Gottestischrock« zu machen, weiß ich nicht. Schade, daß sie nicht zum Besten der edlen Schneiderzunft das Geheimnis veröffentlicht hat!

Der guten Susanne war ein schweres Ende beschieden; eine qualvolle, langwierige Krankheit kürzte den Abend ihres tätigen Lebens noch vor der Zeit ab. Die Ahnfrau wollte nichts davon hören, sie in einem Spital unterzubringen. »Sie hat Leid und Freud' mit mir geteilt nicht wie eine Fremde, so soll sie auch nicht sterben unter fremden Händen.« Und so pflegte sie ihrer wie einer Schwester, nicht wie einer Magd. Und als sie die treue Gefährtin nach langen schweren Tagen und Nächten in den Sarg gelegt, behielt sie als einzige Hilfe und Dienerin deren junge rasche Nichte, ein frisches Bauernmägdlein, die sie sich nach eigenem Sinn zustutzen konnte.

Ihr stilles Leben war darum kein einförmiges. Der behagliche Wohlstand, die Frucht des Fleißes und der Sparsamkeit ihrer jungen Jahre, machte ihr möglich, vielen zu dienen und zu helfen. Eingewachsen in alle Verhältnisse des Städtchens, das ihre einzige Heimat war, ja in die der ganzen Gegend, wurde sie für Hohe und Niedere eine treue Ratgeberin.

Da kam einmal die alte Jungfer Kiliane aus der Nachbarschaft, um sich in einer Magdangelegenheit zu besprechen. [298] Dann kam der reiche Bauer Geiger vom nächsten Dorf: »Jetzt, Frau Syndikussin, muß ich Sie auch um guten Rat fragen. Mein großer Bub will heiraten.« – »Nun, Geiger, das ist kein Unrecht; ich glaube, Euer großer Bub' ist dreißig Jahre alt.« – »Ja, aber 's Mädle hat nix.« – »Gar nichts?« – »Ha, das heißt nicht viel.« – »Ist sie aber brav?« – »Grundbrav und fleißig, aber wir wollen's nicht leiden.« – »Aber wenn sie so brav ist, wird's besser sein als viel Geld.« – Nachdem die Ahnfrau lange die schönsten und bündigsten Beweisgründe aufgeboten hatte, um den hartnäckigen Vater umzustimmen, begann dieser wieder: »'s wär' alles recht, Frau, 's hat aber nur nocheinen Haken.« – »Ja und der wär'?« – »'s Mädle will net, sie nimmt einen andern.« – »Er dummer Geiger, was läßt Er mich dann so lange schwatzen?«

Nicht immer war der gute Rat der Frau Syndikussin so vergebens aufgewandt, und wo Fremde sein nicht bedurften, da gab's in der eigenen Familie Gelegenheit genug. Da kamen Briefe vom Ober- und Unterland mit Botschaften, wie da ein Urenkelein geboren, dort ein Enkelsohn konfirmiert, hier eine Enkelin Braut geworden, und die freigebige Hand der Ahnfrau durfte nicht ruhen. Wie ein Speditionshaus sah vor Weihnachten ihre Wohnung aus, bis all die zahlreichen Schachteln und Schächtelein ausgesandt und alle bedacht waren: die Enkel mit Backwerk und blanken Talern, die Söhne mit auserlesenem Kirschengeist, die Sohnsfrauen und Töchter mit feinem Flachs.

Dann kamen wieder Danksagungsbriefe, Neujahrs-und Geburtstagsgratulationen; zierliche Gedichte von den Enkelsöhnen, die sie, dankbar für den guten Willen, meist ungelesen beiseite legte und honorierte; schöne Handarbeiten der Enkeltöchter, mit denen aber die gute Ahnfrau nicht so recht wußte, wie sie dran war; denn in ihrer Zeit waren sie noch nicht im Schwang. So begegnete es ihr, daß sie einen gestickten Schemel als Zierat auf die hohe Kommode stellte; einen niedlichen Fußsack, der sie hätte im Winter warm halten sollen, als Bildnis an die Wand hängte und eine Tischdecke, die ihr gar zu [299] schön zu diesem Zweck erschien, als Schal umnahm. Sie selbst lachte am herzlichsten, wenn sich der Irrtum herausstellte.

Auch kamen als noch frischere Lebenszeichen die Kinder selbst und brachten ihre Freuden und Sorgen zu der stets heiteren, stets geschäftigen Ahnfrau, und die Besuche waren, wenngleich eine Freude, so doch auch eine gewaltige Unruhe für die alte Frau, die auf Ehre und Reputation hielt und namentlich vor den Sohnsfrauen gern ihre Kochkunst in vollstem Glanz zeigte, zu welchem Ende denn auch stets in solchen Zeiten ein aufgeschlagenes Kochbuch auf ihrem Nachttisch bereit lag.

Aber recht fröhlich und gemütlich saß sie dann auch wieder im Kreis der Ihren und nahm teil an Taufen und Hochzeiten, Examen, Krankheiten und Genesungen. Für alle Fälle hatte sie ein Geschichtchen in Bereitschaft; jede Begebenheit weckte eine Jugenderinnerung in ihr, da sie, wie die meisten alten Leute, ein viel lebendigeres Gedächtnis hatte für lang' verflossene Jugendjahre als für den eben vergangenen Tag.

Ich habe schon oft gefunden, daß es, selbst in jungen Jahren, leichter sein muß, von einem vollen, befriedigenden Dasein zu scheiden als von einem verfehlten, das doch mehr Todessehnsucht wecken sollte. Ich habe zärtliche Mütter, geliebte Gattinnen mit getrostem Mut dem Tod entgegenblicken sehen; während abgelebte Greise, während einsame Jungfrauen mit getäuschtem Herzen, mit siechem Körper sich krampfhaft ans Leben festklammerten, als ob sie von dem dürren Strauch noch die Blüten hofften, die der Lenz versagt. Nun war der Ahnfrau ein volles, befriedigtes Dasein beschieden gewesen, und so viel Liebes das Leben für sie hatte, so war doch keine Spur von der krankhaften Lebensliebe bei ihr, wie sie oft alten Leuten innewohnt. Sie hatte sich nie weichlich abgewandt von den bitteren Tropfen in ihrem Lebensbecher, darum blieb ihr die Bitterkeit nicht erst auf die Hefe erspart. Wie sie klaren Blickes ins Leben gesehen, so blickte sie ruhig dem Tod ins Auge. Sie hatte neben allem Wirken und Sorgen des Lebens ihr Herz lange heimisch gemacht in dem Lande, zu dem er sie führen sollte.

[300] Von treuen Händen gepflegt, segnend und gesegnet, starb sie, ohne die Leiden eines langen Lagers erfahren zu müssen. Der Mund, der im Leben so reich war an heiteren Scherzworten, floß im Tode über von wunderbaren, herrlichen Segensgrüßen für die Ihren, zum klaren Beweis, daß auch bewegte Wasser tief gründen können. »Aus Gnaden seid ihr selig worden« war der Spruch, den sie sich als Leichentext ausgebeten hatte.

Das war die Ahnfrau im Leben und im Tode. Ich kann nicht erwarten, daß ihr anspruchsloses Bild für andre den Reiz hat, der es für die Ihrigen bekleidet; wenn aber diese einfache Schilderung da und dort eine ähnliche, liebe, verehrte Erscheinung ins Leben ruft, so hat sie ihren Zweck erfüllt.


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TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. 1. Aus dem Leben einer Hausfrau der alten Zeit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A783-7