Bilder aus einer bürgerlichen Familiengalerie

1. Der Schmuck der Urahne

So schön ist mir in meinem Leben nichts wieder vorgekommen, wie mir als Kind die sogenannte Gaststube meiner Großmutter erschien. Dieses Prunkzimmer, noch etwas feierlicher als heutzutage ein Salon, war nicht zur Beherbergung von Gästen bestimmt, sondern wurde nur geöffnet, um die höchsten Familienfeste darin zu begehen; darum lag noch ein ganz besonders feierlicher Hauch auf seiner Herrlichkeit. Es war nicht eben im Rokokostile möbliert, die Einrichtung war aus Stilen verschiedener Zeitalter zusammengesetzt. Da war eine künstlich eingelegte Kommode, die noch aus dem siebzehnten Jahrhundert stammte, reich beladen mit bemalten Tassen aus neuerer Zeit, die rührende Inschriften trugen: »Zum Angedenken aus treuem Herzen«, »Aus Liebe und Dankbarkeit« usw. Da waren allerlei Stickereien von der Hand dankbarer Nichten und junger Enkeltöchter, ein Fußschemel mit einem höchst mißlungenen Stück, das zwischen[53] Lamm und Hund in der Mitte stand; ein riesiger Ofenschirm, worauf ein winziger Pfau gestickt war, prächtige Spiegel in altertümlichen Goldrahmen, moderne Stühle mit gestickten Blumensträußen, und noch mehr solcher Prachtstücke.

Das Schönste aber, dessen Beschauung mir und meiner Cousine selbst noch in reiferen Jahren die meiste Freude machte, waren die zahlreichen Familienbilder, mit denen die Wände geschmückt waren, von der Zopfperiode und noch weiter zurück bis auf die neueste Zeit: alte Herren mit Haarbeuteln und Buckeln, denen aus jedem Zug der behagliche Wohlstand eines Bürgers der guten alten Zeit blickte; jüngere Herren à la Werther in blauen Fräcken und gelben Westen. Viel vollständiger noch war die Frauengalerie; nur schien, wenn die Bilder getreu waren, Schönheit leider nicht zu den erblichen Vorrechten unsres Stammes zu gehören. Das reizendste Bild war immer das der Großmutter selbst, ein zierliches Lockenköpfchen, mit einem schalkhaften Strohhütchen bedeckt.

Die Großmutter pflegte auch unsre laute Bewunderung ihrer ehemaligen Schönheit äußerst wohlgefällig aufzunehmen und wurde nicht böse über unsere ungläubige Verwunderung darüber, daß sie jemals so schlank gewesen. Sie war noch in hohem Alter eine schöne, stattliche Frau, aber von gewaltigem Umfang.

Neben dem ihrigen hing das Bild der Urgroßmutter, schon in höherem Alter gemalt, aus deren Zügen der ungebeugt kräftige Geist sprach, der sie zur Heldin der Familie machte; ich will euch später noch von ihr erzählen.

Nach oder vielmehr vor zwei andern Ahnfrauen, von denen wenig zu sagen war, kam das Bild einer stattlichen Frau Pfarrerin, so ziemlich in der Jugendblüte gemalt, mit überaus schlanker, spitz zugeschnürter Taille, sehr roten Wangen, lächelnder Miene und einer ansehnlichen Habichtsnase; ihr Eheherr in geistlichem Ornat, der aussah wie ein Osterlamm, schaute mit ziemlich einfältigem Gesicht nach seiner Ehehälfte hinüber.

»Aber, Großmutter, wer ist denn die alte häßliche Frau im schwarzen Kleide, die über dem Ofen hängt?« fragten wir [54] eines Tages, nachdem wir die erwähnten Bilder besichtigt. »Wenn die auch zur Familie gehört, so ist das Geschlecht, wie es scheint, erst später in die Schöne gewachsen. Schade für den schönen Schmuck, den sie trägt! Und was sie für einen romantischen Namen hat!« Neben dem Bilde stand mit sehr deutlichen Buchstaben geschrieben: »Fraw Anna Barbara Rumpelin, geborene Krummbeinin.«

»Häßlich?« rief die Großmutter; »o ihr einfältigen Dinger! da sieht man den Unverstand der Jugend. Sie war ja schon eine Frau bei Jahren, als sie gemalt wurde.« – »Aber, Großmutter, du bist ja auch alt und bist doch viel schöner.« – »Ei was,« fuhr sie etwas besänftigt fort, »es kann nicht alle Welt schön sein, und mein seliger Mann hat mich auch nicht wegen der Schöne genommen. Wenn ihr nur beide zusammen halb so viel Verstand hättet als eure Urahne, die Frau Rumpelin, geborene Krummbeinin! Seht ihr denn nicht, daß das ein grundgescheites Gesicht ist? Wenn ihr wüßtet, was diese Frau alles erlebt und durchgemacht hat, ihr wäret nicht so vorschnell. Und was ihren Namen betrifft, der euch nicht gefällt, so war das ein rechtschaffener und ehrbarer Name, und noch dazu ein recht angesehener. Wißt ihr, daß ihr Mann Vogt war, was dazumal noch vornehmer gewesen ist als heutzutage ein Oberamtmann? Ich zweifle, ob es eine von euch so weit bringt. Doch wartet, ich will euch etwas zeigen von der Frau Ahne, die euch so häßlich vorkommt.«

Die Großmutter ging und kam bald zurück mit einem uralten Holzkästchen von absonderlicher Form, das die Jahreszahl 1658 trug. Auf dem Deckel war der König David abgebildet, der die Bathseba belauscht, aber mit dem allerhöchsten Anstand. Die Bathseba war sehr sittsam in die Tracht des sechzehnten Jahrhunderts gekleidet, welche auch die zahlreiche Dienerschaft trug, die auf dem Bilde zu sehen war, und tauchte bloß die Spitzen ihrer Füßchen ins Wasser; auch der König David, mit der Krone und der nie fehlenden Harfe versehen, trug unter dem Königsmantel ein geschlitztes Wams und Pluderhosen. Daneben war die Inschrift angebracht:


[55]
»David, sust ein heilig Mann,
Bösen Lust nit zehmen kann.
Drumb begeht er ohne Scheu
Ehbruch, Mord, Verräterei.«

Dieses Kistchen öffnete die Großmutter und zog aus einem seiner verborgenen Schiebfächer ein Schmuckstück, dasselbe, das auf dem Porträt der Frau Rumpelin abgebildet war. Es war ein sogenannter Anhänger, einen Vogel darstellend, in überaus schöner, kunstreicher Arbeit, aus weißem Schmelz, mit feinen Goldadern durchzogen und mit Rubinen geschmückt. Dieses Kleinod hing an einem feinen, schweren Goldkettlein, dessen außerordentlich fest ineinandergefügte Glieder mit der äußersten Gewalt auseinandergezerrt schienen.

»Davon gäbe es nun wohl eine Geschichte,« sagte die Großmutter, nachdem wir das Kleinod gehörig angestaunt hatten, »und wenn ihr mich nicht ärgern wollt mit euren naseweisen Bemerkungen, so dürft ihr die Schrift lesen, welche der Herr Pfarrer Schneck, ihr Tochtermann, nach Angabe der Frau Rumpelin über die Geschichte des Schmucks aufgeschrieben hat.« – »Ei, warum hat sie die Frau Rumpelin nicht selbst aufgeschrieben?« – »Weil sie, wie dazumal die meisten Frauen, nur notdürftig schreiben konnte.« – »Aber, Großmutter, in den Rittergeschichten haben es alle die Fräulein in einem Kloster gelernt.« – »Eure Urahne ist kein Romanfräulein und in keinem Kloster gewesen, sie war gut evangelischen Glaubens.« – »Aber die Geschichte, Großmutter – nicht wahr, es ist gewiß eine Liebesgeschichte?«

»Was Liebesgeschichte! Meint ihr, die Mädchen seien dazumal schon gewesen wie jetzt, wo sie im vierzehnten Jahre schon groß in Verlegenheit sind, was sie mit ihrem vollen unverstandenen – ja unverständigen – Herzen anfangen sollen; wo sie an ihrem sechzehnten Geburtstag schon gebrochene Herzen haben und deklamieren: ›Fahret wohl, ihr goldgewebten Träume!‹ und dann im vierundzwanzigsten doch recht froh sind, wenn sich ein Angestellter um sie bewirbt? Sie versichern dann sich selbst, der sei eigentlich ihre erste und einzige Liebe [56] und sie hätten sich vorher nur in der Person geirrt. Nein, Kinder, die Geschichte von dem Schmuck unserer Urahne ist aus einer ernsthaften, betrübten Zeit, wo man nicht an solche Narrenteidungen dachte; wo man Not hatte, sein Leben durchzubringen, und keine Zeit zu Liebesgeschichten.«

Endlich verstand sich die Großmutter dazu, uns das Dokument mitzuteilen, dessen Inhalt ich hier so treu wie möglich wiedergebe.

Es war im Jahre 1658, als sich Herr Balthasar Rumpel, Vogt zu S., mit der ehrbaren Jungfrau Anna Maria, Tochter des Herrn Pfarrers Krummbein zu W., ehelich verlobte. Das Land war nach dem schrecklichen Kriege von Hunger, Seuchen und bitterlicher Armut übel verheert und vielfältig durch Marodeurs heimgesucht, die in Stadt und Land ungestört ihr Wesen trieben. Obgleich Herr Krummbein selbst schwer gelitten hatte durch solch böse Zeiten, so taten doch er und seine Tochter, was in ihren Kräften stand, den Bedürftigen aus ihrer Gemeinde mit Trost und Hilfe beizuspringen. Bei solcher Gelegenheit sah der Herr Vogt Rumpel, der von Amts wegen die zumeist heimgesuchten Örter besuchte, die Jungfer Anna, und da er bald erkannte, wie tugendsam und verständig sie sei, so freite er in aller Form um sie bei ihrem Vater.

Herr Pastor Krummbein, der sich solcher Ehre nicht versehen hatte, willigte gar freudig ein, da er sein liebes Kind in so bedrängten Zeiten gern in der Obhut eines angesehenen Mannes wußte. Nicht also Frau Kunigunde Rumpelin, die Mutter des Vogts, eine stolze, hoffärtige Frau, aus adligem Geschlecht geboren, die längst bei sich beschlossen hatte, daß ihr Sohn wieder ein adlig Fräulein heimführen solle. Sie war sehr aufgebracht, daß er eine arme Pfarrerstochter ehelichen wollte, und verweigerte beharrlich ihre Einwilligung zu dieser Heirat. So sehr dies den Herrn Rumpel betrübte, der sein Leben lang ein gehorsamer Sohn gewesen, so wollte er doch nicht von seiner Liebsten ablassen und hoffte, ihr Verstand und ihre Tugenden würden noch das Herz der Mutter gewinnen. Solche Hoffnung erfüllte sich aber nicht, denn am 14. November [57] des Jahres 1658 starb Frau Rumpelin, ohne vorher ihren Sohn durch ihre mütterliche Einwilligung erfreut zu haben. Auf das Andringen seiner Braut schloß Herr Rumpel sein Ehebündnis mit ihr erst im Frühjahr des Jahres 1659, nachdem er seine Mutter gehörig betrauert hatte.

Als nun Jungfrau Anna am Morgen ihres Hochzeitstags ihre Feierkleider zurichtete, überbrachte ihr der Bräutigam ein gar zierlich und köstlich gearbeitetes Kleinod, ein weißes Vögelein mit goldenem Gefieder von zierlicher Schmelzarbeit, das an einem schweren Goldkettlein hing, welches dicht am Halse schloß. Das Kettlein war so künstlich und fest geschmiedet, daß es durch keine Kraft und Geschicklichkeit der Welt eröffnet werden konnte, außer mit einer besonders dazu gearbeiteten Zitternadel, die dem Schmuck beigefügt war. Dieses Kleinod übergab er ihr mit den Worten: »Liebwerteste Jungfer Braut, lasset dies köstliche Kleinod, so ein Ahnherr meiner Mutter aus Welschland gebracht zum Geschmuck seiner Braut und das derweile jedwede Braut unseres Hauses getragen, ein Symbolum sein der Liebe, die unsere Herzen also fest umschlingt, daß sie alleinig gelöst werden können durch ein Werkzeug derselbigen Hand, die sie zusammen gefügt – durch den Tod, den uns dereinst der Herr sendet.«

Jungfrau Anna nahm ihres Liebsten Geschenk mit freundlichem Dank; aber dennoch machte ihr der Anblick des Geschmeides das Herz schwer, und sie entschloß sich nur ihm zulieb, es anzulegen. – Herr Rumpel hatte Juliane, die ehemalige Leibmagd seiner verstorbenen Mutter, gedingt. Als nun diese der Braut behilflich war bei ihrem Anzug und eben das feine Kettlein festschloß um den Hals, sagte sie mit einem Seufzer: »Gebe Gott, daß dieses Geschmeide mehr Segen bringe, als die gestrenge Frau selig hineingewünscht!« Wie die erschrockene Braut sie um den Grund solcher Rede befragte, vertraute ihr die Magd, daß die verstorbene Frau noch in ihrer letzten Stunde versucht habe, den Sohn von seinem Vorhaben abzubringen. Sie habe ihm aus ihrem Schmuck das Kettlein gereicht und ihn mit glatten Worten gebeten, es derjenigen Jungfrau zu [58] übergeben, die sie als Tochter erwählen wolle. Der Sohn aber habe ihr mit fester Stimme erwidert: »Frau Mutter, ich werde das Geschmeide um den Hals der tugendsamen Jungfrau legen, die ich mir erwählet und die Eurer Liebe und Eures Segens würdig ist.« Als ihn die Mutter so standhaft gesehen, habe sie ihn in großem Zorn entlassen, und nachdem er sich entfernt, mit zorniger Stimme gerufen: »So er das kostbare Geschmeid der Pfarrersdirn anhenket, so soll es ihr auch zum Fluch werden. Möge sie erwürget und erstickt werden mit dem Kettlein!« Und auf solch gottlose Rede sei sie unversöhnt verschieden.

Diese Mitteilung bekümmerte die Braut schwer; sie wollte ihren Herrn nicht betrüben durch Verschmähung seiner Gabe, und doch hatte ein entsetzliches Grauen sie befallen vor dem verwünschten Geschmeide, so daß sie nicht wagte, es anzulegen. Da hörte sie das einzige Glöcklein, das der Kirche aus dem Kriege geblieben war, wie es sie an den Altar rief, wo ihr Vater harrte, um ihr Ehebündnis einzusegnen. Und sie gedachte des allmächtigen Gottes, dessen Gnade höher stände denn aller Menschen Zorn; sie befahl ihm ihren Leib und ihre Seele und hieß die Magd das Kettlein schließen in Gottes Namen.

In Betracht der schweren Zeiten, unter denen ihr Ehestand begann, getröstete sie der Vater mit den Worten des Psalms: »Der Herr ist deine Zuversicht, der Höchste ist deine Zuflucht. Es wird dir kein Übles begegnen, und keine Plage wird zu deiner Hütte sich nahen. Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, daß sie dich behüten auf allen deinen Wegen.« – In der bräutlichen Kammer aber vertraute Anna ihrem Herrn die grausige Geschichte, die ihr Juliane berichtet, und sie bat ihn inständig, er wolle mit ihr beten, daß durch Gottes Gnade der Fluch der harten Mutter von ihnen gewendet werde.

Sie erhoben ihre Herzen in brünstigem Gebet zu dem allmächtigen und allbarmherzigen Gott, welcher dereinst den Fluch gewendet von dem unschuldigen Weibe des Tobias; welcher den Fluch in Bileams Munde in Segen verwandelt [59] hatte, daß er auch von ihrem Ehebunde, der begonnen hatte in seiner Furcht und Liebe, den Unsegen abwenden wolle, den die Mutter in verblendetem Herzen über sie verhängt; daß er sich ihnen so gnädig erweisen möge, daß ihnen dereinst vergönnt sei, der Mutter, die sie verflucht, den Segen in die Ewigkeit zu bringen. – Als sie nun so recht von Herzen gebetet hatten, da sahen sie einen ganz besonders hellen und klaren Stern, der gerade in ihre Kammer hereinschien. Da ward es ihnen leicht und getrost ums Herz, und sie sahen fröhlichen Mutes ihrem Ehestand entgegen.

Es waren wohl zwölf Jahre nach dem vergangen, und ihr einzig Töchterlein Barbara stand schon im elften Jahre, als Herr Rumpel und seine Frau von der Kindtaufe bei einem befreundeten Schöppen zurückkehrten. Da erscholl urplötzlich das Geschrei: »Die Rotmäntel, die Rotmäntel!« Herr Rumpel war kaum fortgeeilt, um Mannschaft aufzubieten gegen dieses wilde und grausame Kriegsvolk, von dem nur noch versprengte Horden im Lande herumsengten und plünderten, als ein Haufe von ihnen ins Haus einfiel, die zwei Knechte niederstieß und anfing zu plündern. Frau Anna nahm ihr Töchterlein auf den Arm, konnte aber nicht entkommen; sie ward mit den Mägden in eine Kammer gestoßen, bis das übrige Haus geplündert wäre.

Da saß sie nun mit ihrem Kinde und den heulenden Mägden in tiefer Nacht und in großen Ängsten. Es wäre nicht schwer gewesen, in den Hof hinabzusteigen, aber da stand einer der Rotmäntel, um Wache zu halten. Plötzlich rief Barbara, die ihre Arme um der Mutter Hals geschlungen hatte: »Mutter, deine Kette! Tu deine Kette herunter! Man nimmt sie dir sonst.« Nun gewahrte Frau Anna, daß sie noch in ihren Feierkleidern war und das Kettlein mit dem Kleinod am Halse trug; die Nadel aber, die es allein öffnen konnte, lag fern in ihrem Schmuckkästchen. Da gedachte sie mit Grausen und Entsetzen des Fluches ihrer Schwiegermutter, der sich nun erfüllen mußte; denn bei der Art und Weise dieser räuberischen Horden war nicht anders zu denken, als daß sie ihr den Schmuck vom [60] [62]Halse reißen und, da sie das Kettlein nicht öffnen konnten, sie elend erwürgen würden.

Während draußen der wüste Lärm tobte und sie nicht wußte, wo ihr Gemahl sei; während sie jeden Augenblick erwartete, die Rotmäntel würden in ihr Gemach eindringen, versuchten sie und die Mägde auf alle Weise, das Kettlein zu öffnen, aber es ging nicht. In dieser höchsten Todesangst hob sie ihre Augen gen Himmel, und ihr deuchte, sie sehe denselben Stern, der vor zwölf Jahren in ihre Hochzeitskammer geschienen. Da faßte sie wieder Mut, und unter Anrufung des göttlichen Beistandes riß sie an dem Kettlein mit aller Macht. Und siehe! Seine eisenfesten Fugen gaben nach, und wunderbarerweise zog sich die Kette dergestalt, daß sie diese über den Kopf streifen konnte. So war sie von der größten Angst erlöst und begann zu hoffen. Da sie die andern Gesellen ferne im Hause herumtoben hörte und den Hof leer sah bis auf ihren Hüter, versuchte sie, diesen mit dem Kleinod, dem die Mägde noch ihre Halsschnüre beifügten, zu bestechen, daß er sie ziehen lasse. Der Kerl, ohnehin grimmig, daß er an der Beute verkürzt werden solle, ließ sich durch den Schmuck bewegen, die Frau mit Kind und Mägden durch das Fenster in den Hof entrinnen zu lassen. Freilich half ihm diese Beute nichts, denn er wurde noch in selbiger Nacht in einem Streit darüber von einem Gesellen erschlagen.

Frau Anna verbarg sich mit dem Kinde in einem Keller, wo sie in beständiger Todesangst verharrten. Da, als der Morgen tagte, hörten sie auf einmal freudiges Geschrei und vernahmen Herrn Rumpels Stimme, der nach ihnen rief. Sie eilten aus ihrem Versteck in seine Arme. Es war ihm gelungen, ordentliche Militärmannschaft aufzutreiben, bei deren Anblick das Gesindel mit den eilig zusammengerafften Bündeln jählings die Flucht ergriff. Als nun einer der Rotmäntel mit seinem Pack an dem Kinde Barbara vorbeilief, sah dieses der Mutter Kettlein daraus hervorhängen. Das kecke Kind riß daran und erhaschte mit einem Ruck die Kette mitsamt dem nun so wunderbaren Kleinod.

[62] Groß war der Schaden, den die freche Streifbande der ganzen Stadt und besonders dem Herrn Rumpel an Haus und Eigentum zugefügt hatte. Durch den Fleiß und die Sparsamkeit seiner Frau und einen fast wunderbaren Segen wurde ihm aber alles wieder reichlich ersetzt, und er und Frau Anna erfreuten sich in Frieden eines hohen Alters.

Das Kleinod, das sie in so große Gefahr gebracht hatte und hernach doch das Mittel zu ihrer Rettung geworden war, hat Frau Anna nie mehr getragen; nur auf ihrem Bilde ließ sie es zum Andenken noch schildern und hat es sorgfältig aufbewahrt. Vor ihrem Tode übergab sie es ihrer Tochter mit dem feierlichen Beding, daß es für alle Zeiten als Eigentum der ältesten Tochter in der Familie verbleiben und heilig verwahrt werden solle. Und wie die Mutter ihres Mannes einen Fluch gelegt hatte auf das Geschmeide, also legte sie nun den Segen darauf: Solange das Kleinod im Besitz der Familie ist, soll häuslicher Friede und Segen nicht von ihr weichen.

So lautete die Geschichte vom Schmuck der Urahne. Sie ist freilich nicht sehr romantisch, aber wahr. Die Großmutter entließ uns ziemlich ernst gestimmt; beim Abschied aber wandte ich noch einmal den Kopf: »Aber, Großmutter, es ist doch eine Liebesgeschichte dabei; wenn der Herr Rumpel nicht in die Jungfer Krummbeinin verliebt gewesen wäre, so hätte es keinen Schmuck und keinen Fluch und keinen Segen gegeben.« – »Ihr naseweises Volk, ihr könnt warten, bis ich euch wieder einmal eine Geschichte erzähle!«

2. Der Kroatenähne

In des Vaters Familie wurde ein Bild aufbewahrt, das den Kindern immer Gegenstand einer geheimen Scheu und ehrfürchtiger Bewunderung war. Es stach freilich gar auffallend von den zahmen Bildnissen von Papa und Mama ab. Es stellte einen Kriegsmann dar aus der Zeit des Dreißigjährigen Kriegs in der abenteuerlichen Tracht der Kroaten. Unter dem breitkrempigen, [63] herabgeschlagenen Hute blitzte ein feuriges Paar Augen mit einem trotzigen und doch wieder treuherzigen Blick hervor; ein sonnverbranntes Gesicht mit einem gewaltigen Schnurrbart paßte vollkommen zu der fremdartigen Soldatentracht. Das Bild ward immer als der »Kroatenähne« bezeichnet und selbst von den Dienstboten mit einiger Scheu betrachtet.

Lange erfuhren wir Kinder nicht, welche Bewandtnis es mit diesem Ahnherrn habe, bis eines Tags der Christian heulend aus der Schule kam: »Mutter, ich habe mit des Schreiners Gottlieb Händel gehabt; da sagte er: es sei kein Wunder, daß wir so wild seien, unser Urgroßvater sei ja auch ein Kroat und ein Menschenfresser und halb wild gewesen.«

Die Mutter nahm diese Beleidigung nicht hoch auf, und des Christians Tränen waren bald getrocknet, als sie ihn versicherte: »Was den Kroaten betrifft, so ist dein Urahnherr allerdings ein kroatischer Hauptmann gewesen, aber kein Menschenfresser; er ist als ein guter evangelischer Christ hier auf seinem schönen Hofgute gestorben; man heißt den Platz heute noch den ›Kroatenhof‹. Ruf einmal den Fritz und den Heinrich und den Konrad und die drei großen Mädchen! – die kleinen brauchen's noch nicht zu wissen – so will ich euch erzählen, wie sich's mit dem ›Kroatenähne‹ verhalten hat.«

Die Zuhörerschaft war bald versammelt, höchst begierig, den langerwünschten Aufschluß zu erhalten, den die Mutter nun endlich folgendermaßen erteilte.

Ihr wißt es, Kinder, von dem Vater und vom Herrn Schulmeister, wie zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges unsre Stadt besonders hart mitgenommen wurde. Obschon man eine gute Obrigkeit hatte, die es verstand, mit den feindlichen Kriegsführern ein Wort zu reden, so hörten doch die Einquartierungen nicht auf, und man war besonders vor der wilden Mannschaft, die im Dienste der Kaiserlichen kam, niemals seines Lebens und Eigentums sicher; dazu wurden die Lebensmittel entsetzlich teuer. Regierender Bürgermeister hier war damals Herr Brenner; der hatte eine einzige Tochter, Magdalene, das schönste Mädchen in der ganzen Stadt. Dazu war sie von hohem [64] Geiste und sehr verständig, der Liebling des Herrn Pastors, der sie von Jugend an unterrichtet und sich an ihrem frühzeitigen Verständnis der Heiligen Schrift ergötzt hatte. Man sagt, sie habe eine so schöne, zarte, weiße Haut gehabt, daß man den roten Wein habe durch ihren Hals fließen sehen, und so klare, blaue Augen, daß sie einen Schein von sich gegeben.

Die Magdalene, obwohl recht brav und sittsam, war doch ein keckes, unerschrockenes Mädchen. Als einst die Nachricht kam, daß ein Regiment Kroaten im Anzug sei und in der Stadt werde einquartiert werden, da schlossen die meisten Bürger ihre Weiber und Töchter in die Keller ein, damit ihnen nichts geschehen solle von den wüsten Soldaten. Aber die Magdalene wollte sich das nicht gefallen lassen: sie lasse sich nicht einsperren wie ein Tierlein, sie wolle selbst sehen, wie es ihrem Vater ergehe, und so ist sie im Hause geblieben.

Beim Bürgermeister wurden ein Hauptmann und zwei Gemeine einquartiert, die sich ordentlich aufführten. Der Hauptmann ist ein schöner, stattlicher Mann gewesen, obgleich er etwas wild aussah und einen schrecklichen Bart hatte. Er hat von der ersten Stunde an, da er im Hause war, kein Auge von Magdalene verwendet. Als sie das bemerkt, hat sie sich von ihm abgezogen und ihm immer kurzen Bescheid gegeben. Nur als sie am zweiten Tage von des Vaters Knecht hörte, daß einer der Soldaten sich gegen das Kriegsgesetz verfehlt habe und eine grausame Strafe erhalten solle, da faßte sie sich ein Herz und sprach den Hauptmann beweglich an, dem armen Burschen die Strafe zu schenken, was er ihr im Augenblick bewilligte.

Am Abend des dritten Tages, ehe der Hauptmann abziehen mußte, sprach er mit Magdalene und fragte sie, ob sie als sein Weib mit ihm ziehen wolle. Er sei jetzt auf dem Heimweg begriffen, sei von gutem Geschlecht und habe daheim ein schönes Besitztum. Magdalene sagte ihm mit kurzen Worten, daß sie keine Lust habe, ihr Vaterland zu verlassen, und daß sie nimmermehr einen Kroaten und einen Katholiken heiraten werde. Mit dem Zusprechen konnte der Kroat wenig umgehen; [65] als er fand, daß er verschmäht sei, stieß er in heftigem Zorn seinen schweren Pallasch auf den Boden und sprach kein einziges Wort mehr.

Am andern Morgen früh mußten die Kroaten abziehen; der Hauptmann hatte sich mit seinem Gaul im stillen auf den Sammelplatz begeben und von keiner Seele Abschied genommen. Eine Viertelstunde darauf ritten die Kroaten in hellem Galopp hinaus; man hat sie gern gehen lassen. Warum aber die Magdalene Brenner gemeint hat, sie müsse die Soldaten abziehen sehen, das kann ich selbst nicht sagen. Als des Hauptmanns Trupp vorbeiritt, war des Bürgermeister Brenners Haustür offen, und drinnen auf dem untersten Tritt der Treppe stand Jungfer Magdalene und schaute zu. Der Hauptmann hatte schon von weitem nach dem Hause hingeschielt, und als er Magdalene im Flur sah, sprang er wie der Blitz vom Gaul, hinein in das Haus, faßte sie bei der Hand und wollte sie fortziehen. Magdalene weigerte sich und umschlang mit ihrem Arm, um sich zu halten, den großen hölzernen Knopf am Treppengeländer. Der Hauptmann, schnell wie das Wetter, reißt seinen Säbel heraus, haut den Knopf damit ab, ohne der Jungfer ein Leid zu tun, nimmt sie mitsamt dem Treppenknopf auf den Arm wie ein Kind, springt auf seinen Gaul und reitet mit ihr in gestrecktem Galopp seinen Kameraden nach. Die Treppe mit dem abgehauenen Knopf steht heute noch im Hause, wo jetzt der Färber Zoller wohnt; da könnt ihr sie sehen.

Der Bürgermeister sah eben zum Fenster hinaus und schrie jämmerlich auf, als er sein Kind wie im Sturmwind davonfliegen sah. Es waren eine Menge Leute auf den Straßen und an den Fenstern, und da gab es ein entsetzliches Schreien, Laufen und Rennen. Man wollte nach, aber wie? Nachreiten war eine Kunst: die guten Gäule hatten sie mit fort und ihre schlechten dagelassen. Alles, was Füße hatte, sprang ihnen nach und guckte, so weit man den Staub noch sehen konnte; dann kehrten sie um und wußten nicht was. Der Bürgermeister aber war wie gelähmt an Seel' und Leib und mußte bald sein Amt abgeben; er sei nur noch wie ein Schatten herumgegangen.

[66] Wie es der Magdalene ergangen ist, die seither ihres Vaters Liebling und die vornehmste Jungfer der Stadt gewesen, allein unter einem Haufen Kroaten, auf einem wilden Pferd, durch dick und dünn, das kann man sich wohl nicht arg genug vorstellen. Das kann ich euch aber sagen, weil man es nachher aus ihrem eigenen Munde gehört hat, daß es den Hauptmann selbst erbarmte und gereute. Er hat sie in Ehren gehalten wie seine Schwester, sie gehütet wie seinen Augapfel und für sie gesorgt, so gut er nur konnte. Zurückbringen konnte er sie nicht mehr, oder wollte er nicht, und so hat er sie denn unverletzt [67] in das Kroatenland gebracht. Dort hat sie eingewilligt, seine Hausfrau zu werden, und weil er ein gutes Herz hatte und die Magdalene ihm unbeschreiblich lieb war, so hat sie zufrieden mit ihm gelebt, obwohl sie das Heimweh fast umgebracht in dem fremden Lande, unter den fremden Leuten mit dem fremden Glauben. Es war dort alles katholisch, und nur mit der größten Heimlichkeit durfte sie in der Bibel und in dem schönen geistlichen Liederbuch lesen, die sie unter ihres Mannes Kriegsbeute gefunden hatte.

Es war ihr oft, als werde ihr Mann mit jedem Tage milder und freundlicher, und sie gewann ihn recht von Herzen lieb. Sie gewahrte, daß er sich oftmals in das Kämmerlein schlich, wo sie ihre Andacht zu verrichten pflegte. Einmal ging sie ihm leise nach und fand ihn, wie er in ihrer Bibel las und die hellen Tränen über sein rauhes Gesicht liefen. Er schaute auf, blickte sie freundlich an und sagte: »Magdalene, ich glaube, wie es da drinnen steht, so ist's recht.« Da erzählte er ihr zu ihrer herzlichen Freude, wie er einmal zufällig in ihre Bibel geschaut und seitdem fleißig darin gelesen; wie er daraus anders beten gelernt als an seinem Rosenkranz, und wie er nun von Herzen wünsche, seinem Gott hinfort in ihrer Weise zu dienen. Mit Freudentränen dankte sie Gott, daß er sie darum in die Hand eines wilden Kroaten hatte fallen lassen, daß sie ihm an ihrer Hand einen frommen, lebendig glaubenden Gatten zuführe. Als er einmal so weit war, fand er bald, daß er mit dem neuen Glauben in dem alten Lande nicht bleiben könne; da ist es der Magdalene nicht mehr schwer geworden, ihn zu bewegen, daß er mit ihr in ihre liebe Heimat ziehe.

Das geschah etwa zehn Jahre, nachdem Magdalene war von dem Kriegsmann fortgeführt worden. Ihr könnt euch denken, wie die Leute aufgeschaut haben, als es einsmals hieß, die Magdalene Brenner sei wieder da mit dem Kroaten. Es soll ein Laufen und Rennen der Leute gewesen sein, fast so arg als an dem Tage, da er mit ihr fortgeritten war. Sie sei dazumal noch eine recht schöne Frau gewesen, und es ist schade, daß von ihr kein Bildnis mehr da ist. – Der alte Bürgermeister [68] lebte noch; er sei aber fast vor Freude gestorben, als er sein einziges Kind wiedersah, gesund und wohlbehalten, und er hat gar nichts dagegen gehabt, daß sie Frau Hauptmännin geheißen wurde.

Der Kroat hatte auch ein schönes Vermögen mitgebracht. Das Geld war damals rar im Lande, Güter bekam man spottwohlfeil, nur die Häuser darauf waren verbrannt. Da kaufte er sich einen schönen Hof draußen vor der Stadt, wo es B. zugeht, und baute ein Wohnhaus darauf. Dort hat der Kroat mit seiner Frau in Stille und Frieden noch viele Jahre gelebt. Der alte Bürgermeister ist auch zu ihnen hinausgezogen.

Der Hauptmann soll ein stiller und gottesfürchtiger Mann gewesen sein, der recht fleißig zur Kirche ging. Die Leute haben aber doch noch eine gewisse Scheu vor ihm behalten, und wenn er abends durch seine Felder wandelte, behaupteten sie, er mache allerhand seltsame Zeichen in die Luft, womit er die Wetter bannen könne. Unrechtes hat man nichts von ihm gehört, mag aber wohl sein, daß er hierzulande nie so recht [69] daheim wurde und oft umgetrieben ward vom Heimweh nach seinem entfernten Vaterlande. Die Kinder soll er unaussprechlich liebgehabt haben, und die haben auch bald seinen großen Schnauzbart nicht mehr gefürchtet.

Sein einziger Sohn, der ihm erst hier geboren wurde, ist der Vater eures Urgroßvaters gewesen. Soldatenblut ist aber scheint's keines von dem Kroaten übriggeblieben, denn wir haben seither keine Militärperson in der Familie gehabt.

Auf der Seite seines Bildes seht ihr unser Familienwappen, das von ihm stammt; den flammenden Stern darin hat er seiner Frau zu Ehren aufgenommen, sowohl wegen ihres Namens, als auch um anzudeuten, daß sie für ihn dem Sterne Bethlehems gleich war und ihn zu seinem rechten Heile geführt hat. – Und so verhält es sich mit unserm Urahn, dem Kroaten, der ein Menschenfresser und halb wild gewesen ist.

3. Die drei Zöpfe

Es gibt unterschiedliche Zöpfe. Das wurde auch die selige Ururgroßmutter mit Staunen gewahr, als ihre drei Buben, die man allesamt bei einem auswärtigen Präzeptor untergebracht hatte, der besonders berühmt in der Dressur war, in der ersten Vakanz nach Hause kamen. – Hatte sie doch alle drei vor der Abreise eigenhändig gewaschen und gestrählt, eigenhändig ihre widerspenstigen Haare mit Puder, Talg und Wachs behandelt, bis sie nach hinten gestrichen und dort zu einem steifen Zopf vereinigt waren, mit einem nagelneuen schwarzen Florettbande umwunden, so daß sie der Garde des Königs Friedrich Ehre gemacht hätten, wie sie abzogen, gleich gekleidet in glänzenden gestreiften Eternell, und die Zöpfe auf ihren Rücken tanzten.

[70] Ja, es gibt unterschiedliche Zöpfe; wie verschieden sahen die Buben jetzt aus! Der älteste, der Heinrich, der ein hübscher Bursch war und allzeit gern den Herrn spielte, der hatte sich nimmer mit dem simplen Zopf nach väterlicher Weise begnügt, sondern er hatte extra ein paar Buckeln vorn, die gar zierlich ins Gesicht standen, und an dem Zopf noch eine besondere Schleife mit flatterndem Band als Zierat; so hatte er's bei dem Gefolge eines durchreisenden Fürsten gesehen, und so hatte er's mit der Hilfe von Präzeptors Heinrike zustande gebracht. Christian, der jüngste, machte mit seinem dünnen Schwänzlein keine solchen Ansprüche, das war nach wie vor säuberlich nach hinten gestrichen; nur das florettseidene Band hatte er an den Heinrich verhandelt und statt dessen ein altes Sackband mit Tinte schwarz gefärbt und damit den Zopf umwickelt. Der zweite aber, der dickbackige Gottlieb, der allzeit das Bequeme liebte, der hatte die Haare nur oben zusammengebunden und ließ sie nach unten frei, wie er solch fliegendes Haar schon bei Leichenbegleitungen gesehen; er meinte, so tue sich's auch. Was hatte die gute Mama für eine Not, bis sie die drei Zöpfe wieder zurecht gesalbt und in den normalen Zustand gebracht hatte! Auch gab man den Knaben am Schluß der Ferien ein Geleitschreiben an die Frau Präzeptorin mit, worin selbe höflich ersucht wurde, doch auch auf die Zöpfe der ihr anvertrauten Jugend zu achten und sie nimmer in so skandalösem Zustand nach Hause zu schicken.

Ob die Zöpfe von nun an in Ordnung geblieben sind, das weiß ich nicht; so viel aber weiß ich, daß jene Vakanzzöpfe bereits den künftigen Charakter der Buben vorbildlich darstellten. Heinrich, der war und blieb der Elegant; Christian kümmerte sich just nicht darum, ob sein Zöpfchen dick oder dünn, in Florettseide oder in Sackband gewickelt war, wenn er nur sonst sein Schäfchen ins Trockene brachte; Gottlieb aber, der wollte nichts als es gut haben auf der Welt, und weil's einmal ohne Zopf nicht ging, so wollte er sich den seinen wenigstens so bequem machen als möglich. Wenn der Herr Pate jedem der Buben einen Marktgroschen verehrte, so durfte [71] man gewiß sein, daß sich Heinrich eine unechte Stecknadel und Gottlieb eine Wurst kaufte; Christian hingegen steckte den seinigen in einen Sparhafen, einen irdenen, von der sinnreichen Sorte, die nur eine Öffnung oben haben und die man zerschlagen muß, wenn man den Inhalt wieder haben will.


Mit stattlich gediehenen Zöpfen wurden die herangewachsenen Knaben zur bestimmten Zeit nacheinander auf die Universität spediert, um allda ihre Studien zu vollenden. Heinrich und Christian kamen ins berühmte theologische Stift, allwo jede honette Familie wenigstens einen Sprößling haben mußte; Gottlieb hatte eigentlich seine Laufbahn durch verschiedene Schreibstuben gemacht, sollte aber doch noch die gemeinen Rechte und etwas Humaniora studieren, um für ein städtisches Amt tauglich zu werden.

Die Zöpfe haben sie mitgenommen und redlich wieder heimgebracht. Keiner ist gewichen aus dem Gleis der angestammten Zucht und Sitte, wenn es auch da und dort kleine Abschweifungen gab. Heinrich war ein sehr strebsamer Geist; aber trotz seiner Begabung brachte er es zum Jammer von Papa und Mama niemals zum Primus. Er trieb allzeit Nebenstudien, Italienisch, Französisch, Heraldik und andre Allotria, und verletzte, wo er konnte, die heilige Stiftsordnung, um mit etlichen »Jungen von Adel« Jagdpartien und Fechtübungen mitzumachen; und nur seiner Rednergabe und, wie die böse Welt sagt, den auserlesenen Weinproben in Fäßchen, mit denen der Papa die Herren Professoren beehrte, hatte er's zu danken, daß er noch mit Ehren seine theologischen Studien absolvierte und nicht mit dem Kainszeichen eines hinausgeworfenen Stiftlers durch die Welt schweifen mußte.

Gottlieb, der band sich seinen Zopf bequem; er studierte gehörig, wenn auch nicht hitzig, aß und trank, so viel ihm schmeckte, ohne es in beiden Stücken zu übertreiben. So oft die regelmäßige Geldsendung vom Papa ankam (der alte Herr hielt streng auf feste Termine, obwohl er die Söhne nicht knapp hielt), schaffte sich Heinrich eine bordierte Weste, ein zierliches [72] Petschaft oder irgend sonst einen Artikel an, mit dem er, trotz der strengen Kleiderordnung, die den Stiftlern Kutten vorschrieb, in seinen adligen Zirkeln Staat machen konnte, oder reichte es zur Miete für ein Reitpferd oder zu einem weltlichen Buch. Der Gottlieb aber, der lud seine Brüder zu einem Abendessen ein, wobei drei fette Enten verspeist und in edlem Uhlbacher des Papas Gesundheit getrunken wurde; er lachte dabei den Christian herzlich aus, der sich die Schlegel und Flügel der Ente fein säuberlich in ein Papier wickelte, um noch etliche Tage daran zu zehren. Sein Geld hatte Christian sorgsam verwahrt zu spärlichstem Gebrauch; er hatte seit seinen Knabenjahren bereits den dritten Sparhafen so weit gefüllt, daß nichts mehr hinunterfiel; unversehrt standen sie mit ihren dicken Bäuchen in einem geheimen Schiebfach seines Pults und lachten ihn mit ihren schiefen Mäulern an.

Aber den Zopf behielt er bei und auch das Florettband; seine äußere Erscheinung blieb jederzeit anständig, wenn sie gleich immer dünner und spitziger wurde.


Es gibt unterschiedliche Zöpfe. Das zeigt sich klärlich, wenn man die Bildnisse der drei Urgroßonkel aus ihren reifen Jahren betrachtet. Da ist zuvörderst der Heinrich, der hübsche Mann mit den feingeschnittenen Zügen, dessen Zopf als zierlicher Haarbeutel schalkhaft zwischen den schön geordneten Buckeln hervorblickt. Der feine dunkle Rock ist mit einem Orden geschmückt, und nur ein Paar zierliche Priesterkräglein bezeichnen noch den Theologen; mit spitzen Fingern nimmt er eben eine Prise aus der goldenen Tabatiere mit einem vornehmen Bildnis in seiner Hand und schaut lächelnd nach dem fürstlichen Lustschloß, das seitwärts durch ein Fenster zu sehen ist.

Heinrich war immer ein etwas leichtes Blut; der Westwind, der von jeher so viel Unsamen von Frankreich zu uns herüberwehte, hat ihn besonders stark angehaucht, und gar manchmal war er nahe daran gewesen, des respektabeln Namens seiner Väter unwert zu werden. Er hatte es verschmäht, als ehrbarer Vikarius unter den Fittichen des Papa sich zum gleichen Beruf [73] vorzubereiten; seine hübsche Gestalt, seine feinen Manieren und die französische Sprachkenntnis hatten ihm eine glänzende Stelle als Hofmeister von zwei jungen Prinzen verschafft. Dieser Beruf führte ihn an fremde Höfe, in Bäder mit Spielbanken, in die Salons schöner Damen, ebensoviele Klippen für den welt- und lebenslustigen jungen Mann, und gar manche Kalypso hätte den Mentor beinahe eher als seine Telemachs festgehalten.

Aber der solide Geist des Vaterhauses, die Zucht der gestrengen Mutterhand, die ihm den ersten Zopf gebunden, hatten ihn nie ganz im Stiche gelassen, und er trug jetzt seinen Haarbeutel mit Ehren als wohlbestallter Oberkonsistorialrat. So war er nun der Stolz und der Glanz der Familie, der Herr Pate von allen Neffen, Nichten, Großnichten und Geschwisterkindeskindern; seinen Eltern wurde bei den damaligen Reiseschwierigkeiten nur einmal die Freude, ihn zu besuchen; aber dieser Besuch und die huldvolle Audienz bei den allerhöchsten Herrschaften blieben auch die Lichtpunkte ihrer Erinnerungen. Ich wollte euch nun gern die Einzelheiten aus dem Leben des Heinrich schildern, die zierlichen Unterhaltungen, die er mit der Frau Fürstin und dero hochfrisierten Hofdamen gepflogen; die geheimen, diplomatischen Sendungen, mit denen ihn der durchlauchtigste Herr beehrt hat; die französischen Lustspiele, die ihm die Hofsitte, unbeschadet seiner geistlichen Würde, zu dirigieren gestattet hatte: aber ich muß die Ausmalung solcher Szenen denen überlassen, die mehr daheim sind auf den Parkettböden der Hofsäle als ich.


[74] Nun aber betrachtet Onkel Gottliebs Bild und sagt, ob euch dabei nicht das Herz lacht, wie er dasitzt, mit vergnüglichem Lächeln auf seinem wohlhäbigen breiten Gesicht, den schön geschliffenen Kelch mit funkelndem Wein in der Hand, während ein Aktenstoß zur Seite und das Rathaus im Hintergrund ihn als städtischen Beamten bezeichnen. Was hätte die Mama, die es nimmer erlebt hat, wie er Bürgermeister der guten Stadt H. wurde, was hätte sie für eine Freude, wenn sie sähe, wie er jetzt so guten Muts den dicken stattlichen Zopf, von dem er sich nun nicht mehr beengt fühlt, den Rücken hinunterhängen läßt! Er hatte es auch nicht nötig, sich etwas beengen zu lassen; es war ihm nach seines Herzens Wunsch ergangen, er konnte sich und andern das Leben leicht machen. Wie behaglich schaute einem schon von weitem seine Behausung auf dem Markt entgegen, mit dem blankpolierten Türschlosse, den spiegelhellen Scheiben, durch die man reichbefranste Vorhänge sah! Da war alles Fülle und Wohlbehagen, die gastliche Tafel des Herrn Bürgermeisters war weit berühmt in Stadt und Land. Er ließ sich niemals mit ausländischen Produkten ein: Austern, Kaviar und Champagner wurden in dem soliden schwäbischen Hause vermißt; aber alle guten Landeskinder: delikate Spargeln, feine Pflaumen und Aprikosen, Krebse, Forellen und Aale, auserlesene Trauben und reine Landweine von den edelsten Jahrgängen zierten die Tafel und erfreuten der Menschen Herz. Der Hühnerhof nährte Geflügel aller Art, Kapaunen, welsche und deutsche Hühner, Tauben und Gänse, die jederzeit bereit waren, ihr Leben im Dienste der Menschheit zu verhauchen. Es war kein Wunder, wenn angesichts dieser Herrlichkeit ein Bäuerlein meinte: wenn er der preußisch' König wär', er tät' sich nicht lang plagen mit dem Krieg, sondern zusehen, ob er nicht auch so ein »Deinstle« (Dienst) bekommen könnte. Daß aber Gottlieb daneben sein Amt tüchtig und eifrig verwaltete, Zeuge des ist der schöne Silberpokal, den ihm die dankbare Stadt für seine Verdienste verehrte und der als wertes Familienerbe noch bis heute aufbewahrt wird.


[75] Auch der jüngste, der Christian, war zu Ehren und Würden gekommen; auf seinem Bildnis hat ihn der Maler mit großen Buchstaben als Seine Hochwürden den Herrn Spezial M*** bezeichnet. Besagtes Bildnis wurde ursprünglich auf Kosten des Stiftungsrats für die Sakristei im Akkord gemalt, den Mann à zwei Gulden, und ist daher kein künstlerisches Meisterstück, doch soll es ausgezeichnet getroffen sein.

Demnach ist der Onkel Spezial just keine beauté gewesen, erstaunlich lang und schmal; sein Gesicht hat die gelbliche Farbe und die spitzen Linien, wie man sie vorzugsweise bei Leuten findet, die für »ziemlich genau« (ein milder Ausdruck für geizig) gelten; sogar der Zopf entspricht dem übrigen: er ist auffallend lang, dünn und spitz.

Ich habe es noch nicht herausgebracht, ob die Leute reich werden, weil sie geizig sind, oder geizig werden, weil sie reich sind; es wäre eine interessante philosophische Examensaufgabe.

Bei dem Onkel Spezial schien beides in angenehmer Wechselwirkung zu stehen; reich war er unbestritten, und geizig ebenso gewiß, soweit sich solches mit Anstand und Schicklichkeit vertrug.

Das Zehentwesen hatte er bei seinem Vater daheim recht gründlich studiert, und somit war er, bei seiner natürlichen Begabung zum Sparen, vortrefflich befähigt zum Betriebe auch der materiellen Seite des Dekanatamtes. Übrigens ging er im Erwerben und Sparen niemals so weit, daß er seinem geistlichen Ansehen geschadet hätte, »der Zopf, der hing stets hinten«. Der üppige und liberale Haushalt des Bruders Gottlieb war ihm ein Greuel; er brauchte keinen solchen zu führen, war er doch sicher, wenigstens zwanzigmal des Jahres bei den jeweiligen Visitationen einen ausgesuchten Schmaus zu genießen, woran die Frau mit den lieben Kleinen auch Anteil nahm und wovon jedesmal eine vollgepackte Schachtel mit Viktualien, gar oft noch ein Schinken, ein Säckchen dürres Obst oder ein gefüllter Schmalzhafen bei der Heimfahrt in die Kutsche gepackt wurde. Da jede Frau Pfarrerin die beste Köchin sein wollte, so waren diese Schmausereien so reichlich, daß man [76] gar lange aus der Erinnerung zehren und sich daheim mit Gemüs und Kartoffeln behelfen konnte.

Ein Spezial war damals noch eine ganz andre Respektsperson als heutzutage; den Pfarrern lag sehr viel daran, bei dem hochwürdigen Herrn in Gnaden zu stehen, damit ein günstiges Zeugnis dem Bericht ans Konsistorium beigelegt werde; darum hatten die Bötinnen vom Dorf fast allwöchentlich ein Küchengrüßlein für die Frau Spezialin im Korbe, also daß diese unter der Hand einen Kleinhandel mit Spargeln, Tafelobst und fettem Geflügel in die Residenz trieb, da solche Leckerbissen zu kostbar für die eigene Tafel erfunden wurden. Ein Wochenbett, das sagte der Onkel Christian im Vertrauen seinem Bruder Gottlieb, konnte er allezeit zu dreißig Gulden Reinertrag anschlagen.

Für Dienerschaft brauchte der Onkel Christian auch nicht viel auszugeben; der Mesner (Küster) war so eine Art von Haussklave im Spezialhause; er trug der Frau Spezialin im Winter [77] den Fußsack in die Kirche und erwartete sie an der Pforte mit dem Schirm, wenn's regnete; er machte den Aufwärter bei den alljährlichen Disputationsessen, die der Dekan gegen anständige Vergütung zu halten genötigt war, wobei er zum Dank für seine Bemühung ein paar von den Rettichen, die er selbst als Beitrag zur Mahlzeit der Frau Spezialin verehrt hatte, »für seine Kinderlein« nach Hause mitbekam; er durfte in seinen Freistunden im Dekanatgarten arbeiten und sogar im verschlossenen Stalle Holz spalten. Seine Frau und Töchter leisteten Beistand bei Waschen, Putz- und Nähtereien, ohne daß ihnen einfiel, eine andre Belohnung zu erwarten als die drei Lebkuchen nebst einigen aufgefärbten Bändern, die sie zum Weihnachtsgeschenk erhielten.

Einige Gastlichkeit mußte freilich das Dekanathaus notgedrungen ausüben; es war ja bei Jahrmärkten und sonstigen wichtigen Veranlassungen die natürliche Heimat der Pfarrfrauen; auch wurde je und je ein Pfarrtöchterlein auf längeren Besuch geschickt, um der Frau Spezialin hilfreiche Hand zu leisten und zugleich Haushaltungskunst und feine Manieren von ihr zu lernen. Einmal erlaubte sich sogar ein junger unerfahrener Pfarrer, den Herrn Spezial wiederholt zu Gevatter zu bitten. Die Antwort, die er beim zweiten Versuch erhielt, ist so klassisch, daß ich nicht umhin kann, sie unverkürzt im Original mitzuteilen.


»Hochwohlehrwürdiger, Hochgelehrter, Insonders

Hochgeehrter Herr Gevatter!


Ich gestehe aufrichtig, daß ich einem abermaligen Ansinnen an mich und meine Frau zur Patenstelle von Ihrem neugeborenen Söhnlein nicht entgegengesehen habe. Meine Frau steht mit dem Löblichen Pfarrhaus in T. weder in einer Verbindung, noch hat sie eine gesucht, ich aber befinde mich mit Eurer usw. in einem amtlichen Verhältnis; aber ich bin in den Jahren schon so weit vorgerückt, daß ein Taufpate von meiner Seite für sein geistig- oder leibliches Wohl wenig oder nichts erwarten kann. Als Dieselben vor einem Jahr diesen Antrag an uns [78] machten, so war es von Ihnen konsequent gehandelt, da Sie mir damit Anlaß gaben, mich durch das Patengeschenk der besonderen Verbindlichkeit zu entledigen, worin ich gegen Euer Hochehrw. usw. wegen zweimaligen Neujahrs- und den meinen beiden Töchtern gemachten Hochzeitsverehrungen stand. Nachdem Sie nun den vollen Ersatz dafür erhalten haben, so vermutete ich umso weniger, daß Ihre Absicht auf ein ferneres Geschenk von meiner Seite gehe, als Dieselben zum Hauptgrund der wiederholten Gevatterschaft unsre ununterbrochen fortgesetzte Gewogenheit angeben, und es sonderbar wäre, wenn diese noch von mir bezahlt werden sollte, hingegen entsage ich auch in Zukunft allen Geschenken von Ihnen.

Wahr ist es, daß durch die jährliche Visitation Ew. Hochehrw. meine Gegenwart Kosten verursacht, allein, nicht zu gedenken, daß mir daher doppelt angenehm war, wenn ich Dieselben mit der Frau Liebsten in meinem Hause wieder bewirten konnte, so werde ich auch mit dem besten Willen, wenn mein Amt mich ferner nach T. ruft, ihren lieben Kindern eine angemessene Verehrung machen, denn um meinetwillen geschieht doch der Aufwand nicht allein. Dies vorausgesetzt, so bezeuge ich unsre wahre Teilnahme an der abermaligen glücklichen Entbindung der Hochwerten Frau Liebsten, und bin ich auch mit meiner Frau zur Annahme der Patenstelle aus christlicher Gesinnung bereit, mit dem herzlichen Wunsch, daß Gott den Reichtum seiner Macht und Gnade an der Frau Wöchnerin wie an dem Säugling durch Leben und Wohltat in jeder Rücksicht verherrlichen und auch das Wachstum des lieben älteren Söhnleins begleiten möge.

Noch muß ich, teils aus Freundschaft, teils aus Amtspflicht die Bemerkung machen, daß mir und anderwärts die über den eigentlichen Bluts- oder Seitenverwandten noch sonstige Anzahl von Gevatterleuten aufgefallen; ich habe derselben niemals über fünf, meistens weniger gehabt, und ohne Taxe sind einem Privatmann von unsrer Klasse auch nie mehr erlaubt; dabei bedenken Sie noch den widrigen Eindruck, der einem Vorgesetzten und religiös denkenden Manne gegeben wird, [79] wenn ein noch junger Geistlicher mit einer der heiligsten Handlungen eine kaufmännische Spekulation treibt!

Nach unsrer vielseitigen Empfehlung verharre ich noch mit schuldiger Hochschätzung


Euer

Hochehrwürden

gehorsamster Diener.«


Ob der Herr Pfarrer auf diesen Brief hin seinen frechen Antrag zurückgenommen, ist mir nicht bekannt geworden.

Ja, das mußte man dem Onkel Christian lassen, wenn er seinen Zopf auch mit gefärbtem Sackband umwand, so hatte er doch verstanden, sein Schäfchen trocken zu bringen, und wenn er seine Ersparnisse noch im irdenen Spartopf hätte aufbewahren wollen, er hätte einen bestellen müssen so groß wie ein Schulglobus.


Der Herbst ist der eigentliche Schwabenfrühling. Das lasse ich mir nicht nehmen, so absurd es klingen mag. Es steht dies gewiß im Zusammenhang mit der Sage, daß dem Schwaben der Verstand erst mit dem vierzigsten Jahre komme. Wir Schwaben haben zwar recht frühlingswarme Herzen und können gar schöne Lenzgedichte machen mit den verpönten Reimen: ziehen, blühen, Rose, Schoße, Mai, frei oder Treu; auch will ich dem Mai gewiß nichts Schlechtes nachreden: aber das muß ich doch im Vertrauen sagen, daß ich im Schwabenlande selten einen Frühling erlebt habe, in dem die Kirschenblüte nicht erfroren und die Apfelblüte nicht verregnet worden ist.

Frühlingslust, recht allgemeine volle Frühlingslust paßt für ein südlich Volk, dessen milder Boden ohne Mühe und Arbeit seine Früchte spendet. Was aber weiß unser Landmann von Maienwonne und Blütenlust, der eilen muß, seinen Dünger auf die Wiese zu bringen, und dessen Wintervorräte zu Ende sind! Auch die lieben Kinderlein, die man in Frühlingsbildern und Liedern im Ringeltanz auf dem Rasen abbildet, sind des [80] Veilchenpflückens gar bald satt und seufzen nach der Zeit der materiellen Naturgenüsse: der Kirschen und Pflaumen und Birnen. Aber wie gesagt, ich bin weit entfernt, dem Frühling zu nahe zu treten, mit dem ich persönlich sehr intim stehe; nur müßt ihr mir zugeben, daß die rechte Freude erst da ist, wo jung und alt, reich und arm teilnehmen kann, wo von allen Hügeln Schüsse knallen und Schwärmer glänzen; wo der Segen vom Himmel auch die härtesten Herzen mildtätig gemacht hat und wo der ärmste Bettelknabe doch mit ein paar Äpfeln im Sack an einem Raine liegen und sich einen schönen Abend machen kann mit einigen halbausgebrannten Fröschen, die er von einem Herbstfeste erhascht hat.

»Es geht in Herbst« ist ein schwäbisches Trost-und Entschuldigungswort bei kleinen Mängeln, in die man sich mit Humor fügen muß. »Der sieht aus, als ob ihm der Herbst erfroren wäre« bezeichnet einen hohen Grad von Trübsal und Niedergeschlagenheit; kurz, der Herbst ist der rote Faden, der sich durchs Schwabenleben zieht; darum laßt's euch nicht zu viel werden, wenn in diesen Bildern der Herbst eine häufige Rolle spielt.

Macht mir nicht den Einwurf, daß in einem großen Teil von Schwaben keine oder saure Trauben wachsen. Herbst muß doch sein! Die mit den sauersten Trauben jubilieren am lautesten, und die, so gar keine haben, halten Kartoffelherbste und putzen acht Tage zuvor schon ihre alten Pistolen und neuen Büchsen, um sie recht laut krachen zu lassen.

Im Herbst allein sieht man keine neidischen und keine verhungerten Gesichter; im Herbst braucht keine Hand müßig zu sein, die sich rühren kann; das kleinste Mädchen schneidet ihr Kübelein mit Trauben, der kleinste Bube arbeitet mit den Füßen und lacht schelmisch hervor aus der Bütte, in der er auf und nieder tanzt. Im Herbst zieht der fröhliche Bursche in die Ferien heim und bringt ein frisches Leben in das verrostete Philistertum kleiner Städte.

Darum liegt für ein schwäbisches Herz ein süßer, geheimnisvoller Reiz in dem Duft des feuchten Herbstnebels, wenn er [81] zum erstenmal wieder sich in die warme Sommerluft wagt, eine Erinnerung an fröhliche Herbstnächte, wo auflodernde Jugendlust und süße Wehmut wie Mondschein und Fackelglanz ihre magischen Lichter in junge Seelen werfen.

Auch die drei Brüder hatten sich von ihren Knabenjahren an des Herbstes gefreut. Sie hatten als Buben Versteckens in den Bütten gespielt und abwechselnd des Vaters Trauben zu Wein getreten, von denen sie zuvor im geheimen reichlichen Zehnten gezogen; sie hatten als Studenten um das lodernde Fackelfeuer das »Gaudeamus igitur« angestimmt, nicht einmal den Onkel Christian ausgenommen, der sogar an einem Herbstabend das Herz seiner nachmaligen »Frau Liebsten« erobert hatte. So dachten sie denn als Männer:


»So hab' ich's gehalten von Jugend an,
Und was ich als Ritter gepflegt und getan,
Nicht will ich's als Kaiser entbehren.«

Der Bürgermeister hatte sich den bestgelegenen Weinberg gekauft und ein schönes Lusthaus darin gebaut; da wurde denn der Herbst in Vergnügen und Herrlichkeit gefeiert, daß man weit und breit davon sprach, und von den vornehmsten »Regierungsherren«, die dazu gebeten wurden, bis zu dem niedrigsten Schützenbuben, der sich um die Behütung des Weinbergs Verdienste erworben, wußte jeder zu rühmen von dem fröhlichen Abend und dem freigebigen Herrn Bürgermeister. Auch Onkel Christian, zu dessen Stelle ein schöner Weinberg gehörte, tat ein übriges; es wurde ein Schinken abgesotten und Käse angerührt zu der Weinlese; ja, es durfte sich jeder seiner Knaben ein halb Dutzend Schwärmer dazu anschaffen!

Wie aber sollte der arme Heinrich den Herbst feiern in einer sandigen Residenz, wo kaum Kartoffeln wuchsen? Wohl gab es an der Hoftafel hie und da Trauben, in Gewächshäusern gezogen; aber was war das gegen eine Platte voll heimischer Silvaner, Rotwelsch und Muskateller? Die erlesenen Trauben, die ihm Bruder Gottlieb einmal in einer Schachtel ge schickt, waren auf den schlechten Wegen bei dem[82] Mangel an ordentlicher Transportgelegenheit als ungenießbarer Most angekommen; sein Amt aber gestattete ihm nie, zur Herbstzeit eine Reise in die alte Heimat zu machen. – Da sprach er denn einmal seine Herbstsehnsucht recht wehmütig in einem Briefe an den Bruder Bürgermeister aus, und der wußte Rat zu schaffen. Es war in einem gesegneten Herbstjahr, als der Oberkonsistorialrat eben mit seiner Frau beim Kaffee saß und ihr vom schwäbischen Herbst erzählte; da kam ein plumper, schwerer Tritt die Treppe herauf, und eine derbe Stimme fragte: »Sind der Herr Konsestore daheim?« Noch ehe er nachsehen konnte, wer draußen sei, klopfte es mit der Faust an die Tür, und herein trat ein vierschrötiger Mann in der württembergischen Bauerntracht, mit einem sogenannten Reff auf dem Rücken, [83] das voll bepackt war mit Schachteln, und an der Seite mit kunstreich verpfropften Krügen behängt. »Gotenobend, Herr Konsestore, en schöne Gruaß vom Herr Burgamoister, und da sollet Se au d'Trauba und da süaße Mohst versuacha!«

Nun war's eine Freude! Da lagen sie wohlgebettet und unversehrt im grünen Rebenlaub: Silvaner und Rotwelsche, Gutedel, Veltliner und Muskateller; daneben süßer Most in den Krügen, der just den kleinen »Stich« hatte, mit dem er am angenehmsten zu trinken ist, über Berg und Tal, über holperige Pfade und Flußfähren sicher getragen auf dem breiten Rücken des Matthes, des Leibweingärtners vom Bruder Gottlieb, der sich gegen reichliche Vergütung dazu verstanden hatte, seine Zöglinge selbst gut an Ort und Stelle zu bringen. Der Konsistorialrat, der feine Hofmann, vergoß helle Freudentränen über dies Stückchen brüderlicher Liebe; die Frau Fürstin selbst mußte mit höchsteigenem Munde die Erstlinge dieser süßen Schwabenkinder kosten, und bei einer fröhlichen Abendgesellschaft wurde in altem und neuem Wein die Gesundheit des freigebigen Bruders getrunken. Der Matthes, der der Meinung war, er sei fast bis ans Weltende gereist, so daß er nächstens über die Erdkugel hinuntergefallen wäre, wurde so herrlich verpflegt und reichlich beschenkt, daß er gern versprach, im nächsten Jahre wiederzukommen, als er nach drei Tagen abzog, seine Schachteln gefüllt mit den feinen Würsten, die das vornehmste Produkt der neuen, traubenarmen Heimat des Heinrich waren.

Seitdem zog Jahr für Jahr der ehrliche Sendbote durch drei deutsche Lande, um dem Heinrich den herbstlichen Brudergruß zu bringen, dem auch der Christian sein Scherflein beifügte, und es hat die Herzen der Brüder warm erhalten und das Gedächtnis an die Heimat jung und grün.

Wenn Ceres und Proserpina durch Samen und Blüten sich Grüße gesandt haben, warum sollten ein württembergischer Bürgermeister und ein fürstlicher Oberkonsistorialrat nicht durch Trauben und Würste in Rapport miteinander treten?

Das ist das netteste Stücklein, das ich euch zu erzählen weiß von den drei Urgroßonkeln mit den unterschiedlichen Zöpfen.

[84]

4. Die Urgroßmutter

Es gilt bekanntlich für ein Abzeichen und Standesvorrecht altadliger Geschlechter, einen Hausgeist zu besitzen, der in einem Gewölbe des Stammschlosses verborgen liegt und bei feierlichen Gelegenheiten um Mitternacht seine grausige Runde macht, um wichtige Änderungen anzukünden. In bürgerlichen Geschlechtern ist man auf die Ehre eines Familiengespenstes nicht sonderlich erpicht und bildet sich nichts darauf ein; denn während adlige Geister nur das Hochwild der Verbrechen: Mord, Totschlag, Hochverrat und dergleichen erjagt haben, so sind die bürgerlichen Gespenster dagegen betrügerische Kaufleute, ungerechte Richter, wenn nicht gar gemeine Diebe; drum gilt es bis in die alleruntersten Schichten der Gesellschaft für etwas Entsetzliches, wenn eins aus der Familie »geistweis gehen« muß.

Eine andre Art von stillen, vergessenen Hausgeistern aber liegt fast in jedem Hause, in irgend einem staubigen Winkel der Rumpelkammer; Geister, die nur erlöst werden, wenn es eine große Katastrophe, einen Sterbefall, einen Auszug in der Familie gibt, und die man gar häufig unbesehen verbrennt. Diese stillen Hausgeister sind die verjährten Familienbriefe, die in alten Kisten und Schachteln, den bescheidenen Archiven bürgerlicher Häuser, aus Pietät aufbewahrt werden, bis man sie am Ende aus Verzweiflung über den wachsenden Grust ins Feuer wirft.

Hinter solch ein Familienarchiv bin ich denn auch einmal geraten und habe die armen Briefe vom Feuertode errettet. Und schade würde es gewesen sein, wenn sie untergegangen wären!

Freilich habe ich keine wichtigen Geheimnisse und »dunklen Taten« darin entdeckt, aber viel langvergessene Vergißmeinnichte, getrocknete Rosen, die einen Teil ihres Dufts Jahrzehnte durch bewahrt haben; Liebesbriefe mit Zöpfchen aus der Zeit, als der Großvater die Großmutter nahm; schöngedruckte [85] Hochzeits- und Leichenkarmina, worin gar rührende Stellen zu finden, zum Beispiel:


»O wie schön war sie an jenem Tage,
Wie errötete ihr Angesicht,
Als sie auf des Freiers Frage
›Sie sind allzugütig‹ spricht!«

Da fand ich denn auch den Lebenslauf der Urgroßmutter, von ihr selbst beschrieben. Er ist gar schlicht und in kurzen Worten abgefaßt: denn der Selbstkultus, den man heutzutage mit Tagebüchern, Selbstbeschauen und Reflexionen über seine eigene werte Person feiert, war zu jener Zeit noch ziemlich unbekannt. Aber aus diesen einfachen Andeutungen, ergänzt durch die Überlieferungen der Familie, weht ein so frischer, kräftiger Hauch, ein Hauch von dem »Geist des Glaubens und der Stärke, des Gehorsams und der Zucht«, wie er unsrer Väter Eigentum war, daß ich denke, er könnte auch in unsrer vielseitigen Zeit da und dort noch eine Stirn erfrischend berühren.

Sie war, um diesmal recht gründlich mit der Genealogie zu beginnen, eine Urenkeltochter der Frau Anna Rumpelin, von welcher der Familienschmuck herkommt, recht aus altwürttembergischem Blut; ihre Vorfahren waren Oberamtleute, Hofgerichtsapfocaden (wie sie selbst schreibt), Pfarrer und abermal Pfarrer; die Mama war eine Pfarrtochter, der Papa eines Pfarrers Sohn und selbst ein Pfarrer, und weil der so brav gewesen ist, so hat die Mama nach seinem Tode noch einmal einen Pfarrer geheiratet. (In diesem Pfarrkonglomerat war es denn auch kein Wunder, daß einer ihrer Brüder, als schüchterner Student um seine Familie befragt, verlegen antwortete: »Bitte um Verzeihung, meine Mutter erster Ehe war eine geborene Pfarrerswitwe.«)

So war es denn natürlich, daß auch sie einen Pfarrer nehmen mußte. Aus ihren Jugendtagen sind keine Briefe mehr vorhanden, und ihre Herzensgeheimnisse, wenn sie welche gehabt, ruhen mit ihr im Grabe; so aber, wie sie in ihrem Leben und [86] aus ihren Briefen sich darstellt, war sie von den klaren lebenskräftigen Gemütern, die in Traum und Wachen der höheren Führung nicht vorgreifen und darum auch keine schweren Herzenskämpfe zu bestehen haben. Ein junger Geistlicher der Gegend, Herr Magister Trutz, hatte sein Auge auf sie geworfen, als sie noch ein sehr junges, blühendes Mädchen war; sie aber die ihrigen just nicht auf ihn. Ihre selige Schwester hat oft mit Lachen erzählt, wie sie einmal zusammen Flädlein gebacken; der Urgroßmutter war eins verbrannt, sie hob es lachend in die Höhe: »Da sieh, das ist so schwarz wie der Magister Trutz!« An selbigem Tage aber kam der Magister Trutz in einem nagelneuen schwarzen Rock und hielt um die Jungfer Regina feierlichst an. Gehorsam der Eltern Willen ist sie seine Gattin geworden und hat alsbald ihre Aufgabe mit der Freudigkeit eines frommen Gemüts, mit der Kraft und Frische ihrer klaren Seele begriffen und gelöst.

Der Pfarrer Trutz war ein frommer, friedsamer und tiefgelehrter Mann, aber gar stille und in sich gekehrt; er beschäftigte sich mit mechanischen Künsten und chiliastischen Berechnungen und konnte sich so darein vertiefen, daß er gar oft der praktischen Amtspflichten darüber vergaß. Da verstand es nun die junge Frau, zu sorgen, daß seine träumerischen Abwesenheiten niemand störend auffielen. Sie wußte mit ihrem hellen, praktischen Blick ihm einen Teil der Seelsorge abzunehmen, ohne daß es so aussah; sie wußte sein Interesse fürs wirkliche Leben anzuregen und hielt den häuslichen Herd warm und hell für ihn, wenn er nach langen einsamen Stunden wieder dahin zurückkehrte.

So hat er sie hoch und wert gehalten als den freude-und friedebringenden Engel seines Lebens, und sie hat aus der Tiefe seines Wesens den Ernst und die Kraft des Glaubens geschöpft, auf die sich erst mit Sicherheit ein frisches und fröhliches Leben und Wirken erbauen läßt.

Einmal hat ihre Fassung eine schwere Probe durchgemacht. Sie war mit ihrem Manne auf eine neue Stelle gezogen und ging am ersten Sonntag nach seiner Antrittsrede, wie es einer [87] christlichen Pfarrfrau geziemt, in die Kirche, ehrbar und feierlich in Schwarz gekleidet.

Den Pfarrer mußte man auch auf Berufswegen seinen eigenen Gang gehen lassen: oft saß er mit Tagesanbruch schon in der Sakristei und bereitete hier im stillen seine Predigt vor; oft kam er erst, wenn der Gesang schon begonnen hatte, in die Kirche. Die neue Gemeinde hatte von diesen Seltsamkeiten noch nichts gehört; nur der Schullehrer, ein alter Bekannter, wußte davon.

Es wurde ein langes Lied vor dem Gottesdienst gesungen; von dem vierten Vers an schaute die Frau Pfarrerin nach der Sakristeitür, der Pfarrer kam nicht; man sang das Lied zu Ende, der Schullehrer fügte hinten noch gar einen schönen Schnörkel hinzu, der Pfarrer kam nicht. Die Gemeinde wurde unruhig; die Buben hinten im Chor, die man ex officio zur Kirche getrieben und die bis jetzt mechanisch das Lied hergebrüllt, hofften nun mit innerem Jubel auf irgend ein Ereignis; aller Augen hefteten sich auf den Stand, hinter dessen Gittern die Pfarrfrau saß, ruhig, würdig, das offene Gesangbuch in der Hand; auf welchen Nadeln, das fühlte nur sie. Der Pfarrer kam nicht.

Sie winkte dem Schullehrer mit den Augen, der ging in die Sakristei, um nachzusehen. Da stand der Pfarrer auf dem Tisch mit gefalteten Händen, augenscheinlich in heftiger Bewegung. [88] »Aber um Gottes willen, Herr Pfarrer, wo bleiben Sie? Die Gemeinde wartet!«

Ohne ein Wort zu sagen, stieg der Pfarrer von seinem Tisch herab, dem Schulmeister voran in die Kirche und auf die Kanzel. Seine Predigt, die er mit zitternder Stimme begann, wurde bald so kräftig und salbungsvoll, daß die Gemeinde sein Zögern vergaß, bis sie auf dem Nachhausewege die Köpfe wieder darüber zusammensteckte.

Die Frau Pfarrerin ging wie immer mit gemessenem Anstande nach Hause, sorgte ihrem Mann für frisches Weißzeug, das er jedesmal nach der Predigt brauchte, und erst beim Mittagessen begann sie mit teilnehmender Frage: »Ist dir unwohl geworden?« – »Das nicht, Frau; aber schließ die Tür, so will ich dir sagen, was mir begegnet ist! – Ich stand in der Sakristei und sang der Gemeinde das Lied nach, als ich aus einer Ecke ein klägliches Weinen wie von einem kleinen Kinde hörte. Ich öffnete die Tür nach der Straße, um zu sehen, ob draußen vielleicht ein Kind allein geblieben sei; die Straße aber war leer und ganz still. Sobald ich die Tür geschlossen, hörte ich dasselbe Geschrei wieder aus derselben Ecke; ich sah scharf hin: da stieg aus dieser Ecke eine lange, große Schlange und wand sich langsam auf mich zu; ich stieg auf den Stuhl, sie schlang sich darum; da stieg ich auf den Tisch und begann zu beten; sie zog sich langsam zurück – und so hat mich der Schulmeister gefunden.«

Nun war die Urgroßmutter zwar eine starke Seele, aber durchaus kein »starker Geist« und weit entfernt, die Möglichkeit übernatürlicher Erscheinungen zu leugnen; da sie jedoch die seltsamen Stimmungen ihres Mannes kannte, dachte sie, es könne eine seiner Einbildungen sein, und suchte ihn zu beruhigen. Am nächsten Sonntag trat er schon während des ersten Liederverses hastig auf die Kanzel und erklärte nachher seiner Frau, daß er dieselbe Erscheinung wieder gehabt und die Sakristei nimmer betreten könne. Die Urgroßmutter berief am folgenden Tage einen vertrauten Maurer, mit dem sie vor Tagesanbruch in die Sakristei ging; sie ließ in der unheimlichen [89] Ecke das Wandgetäfer abreißen und nachgraben. Da fand sich tief im Grunde ein uralter, halbvermoderter Reiterstiefel, in dem ein Kindergerippe stak. Die Urgroßmutter ließ den Stiefel verbrennen und das Gerippe begraben, ohne ihrem Manne eine Silbe davon zu sagen.

Mit großer Mühe bewog sie ihn doch, am nächsten Sonntag wieder in die Sakristei zu gehen. Diesmal aber kam er ruhig zur rechten Zeit auf die Kanzel und hat von Stunde an nichts mehr bemerkt. Welches Geheimnis aber sich an den schauerlichen Fund knüpfte, hat die Urgroßmutter nie ergründen können.

Fünfzehn Jahre in Freud und Leid hat sie mit diesem Manne verlebt, sein Licht in trüben, seine Stütze in schwachen Stunden, und allmählich hat ihr heller Sinn die dunklen Schatten zerstreut, die sich so oft um seine Seele gelagert. Da starb er und hinterließ sie in tiefem Witwenleid; sie hatte ihn geliebt, nicht nur wie ein rechtschaffenes Weib ihren Herrn und Gemahl liebt, nein, auch wie eine Mutter ihr Kind, um das sie Sorge tragen muß Tag und Nacht.

Ihre Sache war es nun aber nicht, sich mit ihrer Trauer in ein Witwenstübchen zu begraben und dort bei Spindel und Nadel stille und unbewegt ihre Tage zu verleben; noch viel weniger wäre es nach ihrem Sinn gewesen, mit dem ansehnlichen Vermögen, das ihr Gemahl ihr hinterlassen, in einer großen Stadt die reiche Witwe zu spielen und das Leben zu genießen. Arbeit war das Element ihres Lebens.

Nun ist nicht zu fern von dem Orte, wo ihr Mann begraben liegt, ein altes Schlößchen Hohenentringen; es knüpfen sich keine ritterlichen Sagen an das einfache Gemäuer, das ohne vornehme Ansprüche von seiner Höhe niederschaut auf die schönen Kornfelder und Wiesen, die dazu gehören. Das Schlößchen, das kurz nach ihres Mannes Tode verkauft wurde, hat sich die Urgroßmutter zum Sitz erkoren. Das Haus war öde und unwohnlich, die Güter verwahrlost, die Ställe verdumpft – vor dem allen fürchtete sie sich nicht; das war recht das Element für ihren betriebsamen Geist.

[90] Es war im Spätherbst, als sie abends mit ihrem zehnjährigen Töchterlein in dem kleinen Dorfe ankam, das am Fuß des Schloßbergs liegt. Sie wollte keine Nacht unter fremdem Dach schlafen; daher traf sie gleich die nötigsten Anstalten im Schlößchen für ihr Nachtlager. Das kleine Mädchen [91] ließ sie so lange im Wirtshaus im Dorf. Als sie spät vor Schlafengehen das Kind heraufholte, sagte ihr dies: »Aber Mutter, die Bauern im Wirtshaus haben recht aufgeschaut, wie ich ihnen erzählt, daß du einen ganzen Sack voll Geld mit hast.« – »Einfältiges Ding,« rief die Mutter ärgerlich, indem sie ihr für die unzeitige Prahlerei ein paar Ohrfeigen verabfolgte, »konntest du nichts Dümmeres sagen? Es ist ja gar kein Geld.« Das Töchterlein schwieg erschrocken und begriff nicht recht, warum sie dieser unerwartete Einschlag getroffen, während sie doch nur ihre Mama hatte in Ansehen bringen wollen.

Der Urgroßmutter war's bedenklich; sie schlief diese erste Nacht mit einer jungen Magd ganz allein im Schlößchen, da sie sich die übrige Dienerschaft aus dem Orte selbst herziehen wollte, und war so ganz schutzlos. Viel Lärm zum voraus wollte sie nicht machen; als die Magd und das Kind schon im Schlaf lagen, suchte sie im stillen nach einer Waffe; sie fand nichts Taugliches für ihren Zweck als das Küchenbeil, das nahm sie denn an ihr Bett, welches sie im großen Saal des Schlößchens, der nach vorn ging, hatte aufmachen lassen, und legte sich angekleidet schlafen, nachdem sie sich und ihr Kind in Gottes Hut befohlen.

Nach Mitternacht erwachte sie an einem leisen Geräusch, sie setzte sich auf und lauschte. Am Fenster wurde von außen ein Stück aus dem Laden geschnitten; durch die Öffnung kam eine Hand, der es gelang, das schlechtverwahrte Fenster von außen sachte aufzudrücken. Inzwischen hatte sich die Urgroßmutter leise erhoben, ging ans Fenster und führte mit ihrem Beil einen kräftigen Streich auf die besagte Hand; mit einem heftigen Schrei ward diese schnell zurückgezogen; sie hörte einiges Geräusch wie von einer fallenden Leiter, dann ward's still. Nach einer Weile öffnete sie das Fenster, um hinabzusehen, ob kein Verwundeter drunten liege, aber sie hörte und sah nichts mehr. So machte sie denn Licht, setzte sich aufs Bett und las in ihrer Bibel, bis der Morgen anbrach.

Sie sprach kein Wort von dem nächtlichen Abenteuer, schickte [92] aber beizeiten die Magd zu dem Wirt im Dorf, daß er ihr einen Tagelöhner sende zum Abpacken ihres Hausrates. Die Magd brachte einen; der Thomas aber, meldete sie, zu dem sie der Wirt zuerst geschickt, der liege krank im Bett, er habe sich beim Holzhacken gestern abend spät in die Hand gehauen.

Die Urgroßmutter wußte nun, woran sie mit dem Thomas war; sie schwieg über die Sache, der Thomas wahrscheinlich auch; von Stund an blieb sie aber unangefochten auf ihrer kleinen Burg. Da begann sie nun zu schalten und zu walten recht nach ihres Herzens Lust; ihre Äcker waren bald die schönsten, ihr Vieh das stattlichste, ihre Dienstboten die bestgezogenen in der Gegend. Im Sommer hatte sie die Hände voll zu tun, bis sie die Runde machte auf Feld und Wiesen und ein scharfes Auge hielt auf Knechte und Mägde. Im Winter wurde ihr die Zeit auch nicht lang; da holte sie nach, was die damalige überpraktische Zeit an ihrer Erziehung versäumt hatte, machte sich Auszüge aus den besten Schriften, schrieb ihre eigenen Betrachtungen über Zeit und Leben, in sehr ungekünstelter Sprache zwar und mit vielen Schreibfehlern, aber aus der Tiefe eines klaren, frommen Gemüts, das seines Weges sicher war. Über alle Ereignisse ihrer inhaltreichen Zeit führte sie genaue Tagebücher, und es ist ergötzlich zu sehen, wie in ihren Hauskalendern Weltbegebenheiten und häusliche Ereignisse friedlich Seite an Seite stehen.


D. 1. Okt.

Hat der estreichisch General Laudon die Stadtt Schweidniz ihberfallen.
Die Schweizerkuh gekalbet, es wigte 60 Pfund.

28. Nov.

Hat der Herzog den General Rieger auf den Aschberg geschickt. wer da stehet der sehe zu daß er nicht falle.

Vier Scheffel Denkel an den Müller Schwarzen verkauft. a 6 fl.


Am 5ten Januar
die Kaiserin Elisabeth von Rußland gestorben.

Die große Sau gemezget, hat drei und einen halben Zentner gewohgen.


[93] Ihr Töchterlein bildete sie mit Liebe und Fleiß heran und lehrte sie tüchtig die Hände rühren und den Kopf brauchen.

Der Weg vom Schlößlein in das Dorf und in die Nachbarschaft war zuzeiten oft unzugänglich, und doch gab es für die große Ökonomie gar vieles zu besorgen; daher war die Urgroßmutter zu häufigen Ausflügen genötigt, so wenig sie Zeit und Lust zu Vergnügungsreisen hatte. Da schulte sie sich denn ein zahmes Ackerpferdlein ein, auf dem sie ihre Güter bei schlimmem Wetter besuchte und ihre Geschäftsreisen machte; und sie hat als sehr alte Frau noch mit einigem Vergnügen erzählt, wie sie in ihrem Federhütchen einmal durchs Feld geritten sei und ein Bauer sie gefragt habe: »Wo will denn die schöne Jungfer hin?« – »Und meine Sophie war doch schon zwölf Jahr alt!« fügte sie bei.

So lebte sie auf ihrem Schlößchen in großem Frieden, wenn auch nicht in Ruhe; aber zu lange sollte die Herrlichkeit nicht dauern. Es konnte nicht fehlen, daß die schöne stattliche Frau, deren häusliche Tugenden weitumher bekannt wurden, die Augen gar manchen Witwers und Ledigen auf sich zog; aber sie entschloß sich gar schwer zu einer zweiten Heirat, sei es aus Treue für den ersten Gatten, sei es, daß sie sich gern der goldenen Freiheit in ihrem bewegten Wirkungskreis freute. Endlich aber gelang es doch dem Herrn Pfarrer Weddler, einem ehrbaren Witwer, die schöne Witwe von ihrem Schloß herab in sein freundliches Dorf Rebenbach zu führen, wie des langen und breiten in einem anmutigen Hochzeitskarmen erzählt ist, das also beginnt:


»Geehrteste Frau Braut! Hier kommt ein Hochzeitsstrauß
Vom Weilenberger Markt, aus wohlbekanntem Haus.
Ganz kürzlich war ich erst nach Weilenberg gekommen,
Da hab' ich alsobald die Neuigkeit vernommen:
Frau Pfarrer Trutzin ist Herrn Pfarrer Weddlers Braut,
Und Dienstag werden sie zu Rebenbach getraut« – usw.

Der Pfarrer Weddler war nun ein Mann ganz andrer Art als der erste Gemahl: groß und stattlich, wie er jetzt noch in [94] der schön gepuderten Lockenperücke aus seinem Bilde herabschaut, ein Mann, der als Hofmeister die Welt gesehen, von frischem, lebenskräftigem Sinn, voll Salbung und Selbstgefühl. Da galt es denn zunächst nicht, zu trösten und aufzuheitern, die Bürde des Mannes zu tragen, um ihn in Würde zu erhalten: es galt, sich aufzurichten in aller Kraft und Lebensfülle des Geistes und Körpers, um als »Gefährtin, die ihm entsprechend sei,« dem Mann zur Seite zu stehen.

Zu Sophie, ihrem Töchterlein, das dereinst so zur Unzeit der Mutter Reichtum gepriesen, von welcher der Stiefvater selbst rühmend erwähnt, »daß er sie wegen bewiesener Liebe und Gehorsams als seine eigene Tochter allezeit geliebt,« führte ihr der Gatte noch eine hübsche Tochter und drei kräftig heranwachsende Söhne aus seiner ersten Ehe zu. Die neue Mutter ward mit Freude und Liebe aufgenommen; der älteste Sohn, schon Alumnus, der Poet des Hauses, verfertigte im allerhochfliegendsten Stile ein Gedicht, in dem er sie willkommen hieß, und ein Triumphzug wie der, in dem man die neue Frau Pfarrerin zu Rebenbach einholte, war daselbst seit Menschengedenken nicht gesehen worden.

In dem Pfarrhause, über dem, solange die erste Gattin, eine edle, aber leidende Seele, gelebt hatte, beständig eine leichte Wolke gehangen, gestaltete sich nun in Fleiß und Frömmigkeit ein frisches, frohes und kräftiges Leben. Zwei Töchterlein entsprossen der neuen Verbindung, das Dörtchen, des Hauses Zier und Krone, und die muntere Wilhelmine. Unter den Geschwistern war neidlose Liebe und Eintracht, ein Segen, der sich noch bis auf die Urenkel erstreckt; jede Freude und Ehre, die das eine erlebte, war ein Jubel für alle. Die Mutter führte die Zügel des Hauses mit kräftiger Hand und schadete ihren Kindern weder durch die weichliche Schonung der guten Stiefmütter, noch durch die lieblose Härte der schlimmen.

Eine Hausfrau wie die Frau Pfarrerin in Rebenbach war weit und breit nicht zu finden; die Pfarrfrauen der Gegend machten förmliche Wallfahrten, um neue Vorteile im Gartenwesen und der Viehzucht von ihr zu erlernen; sogar auf den [95] neuen Wein, so höchst einfach und fast unglaublich mäßig sie selbst war, verstand sie sich von Grund aus, so daß sie fast für alle Bekannten im Herbst die Einkäufe zu besorgen hatte. Man schickte ihr junge Töchter von Verwandten und Freunden aus dem halben Vaterlande, um unter ihrer Zucht und Leitung sich zu guten Hausfrauen auszubilden, oder heimatlose, verwaiste Mädchen, die aus dieser Schule gewiß waren, nachher gute Stellen zu finden.

Auf Zucht und Sitte hat die Frau Urgroßmama streng gehalten und keinen Sinn für die Freiheiten der damaligen Poesie gezeigt. Einmal war ein munteres, leichtfertiges Bäschen aus der Residenz zum Besuch da, nicht um sich bilden zu lassen, sondern, wie sie dachte, um zu bilden und um den landpomeranzigen Basen in ihrem neuen Aufsatz mit Pumpelrosen und ihrer neumodischen Kontusche zu imponieren. Das Bäschen war auch musikalisch und trug ein nagelneues Lied vor, das eben erst in der Residenz in die Mode gekommen war; es fing an:


»Komm, Herr Heinrich, komm herein,
Komm, wir sind alleine usw.«

Die Urgroßmutter hörte den ersten Vers an. »Wie, Philippine, zeig mir das Lied her!« Wohlgefällig brachte es das Bäschen, verwundert, daß die alte Tante doch noch Geschmack [96] an so was finde. Die Tante nimmt es ruhig in die Hand: »So, jetzt bring einen irdenen Teller und ein Licht herein!« Das Bäschen guckt sie verblüfft an; man weiß aber kein Beispiel, daß jemand versucht hätte zu widersprechen, wenn die Urahne etwas ernstlich befahl. – »So, und nun legst du sogleich den Wisch da auf den Teller und verbrennst ihn vor meinen Augen! Meinst du, so dummes Zeug dürfe vor die Ohren meiner Mädchen kommen? Schäm du dich dein Lebtag, daß du's gesungen hast!«

Das Bäschen hat ohne Widerspruch das Autodafé vollzogen und später keine Versuche mehr gemacht, das Pfarrhaus zu modernisieren. Überhaupt hatte die Urahne, deren Herz selbst ruhig geblieben oder wenigstens gar bald ruhig geworden war, wenig Nachsicht für junge Herzensträume, und die Stieftochter, die sonst mit voller kindlicher Ehrfurcht an ihr hing, hat davon mit einiger Bitterkeit ein Beispiel erzählt:

»Unter den durchziehenden Truppen, die im Pfarrhause Quartier genommen, ist einmal ein Herr von Strahlenau gewesen, so gar ein schöner junger Mann, und so fein gebildet, so ernst und so gefühlvoll wie gar kein andrer! Er hat mit niemand im Haus so viel gesprochen wie mit mir, und als er uns eines Abends ankündigte, daß er am andern Morgen abmarschieren müsse mit seinem Regiment, da war mir's wie ein Donnerschlag; ich wußte wohl, daß ich ihn nie mehr sehe in diesem Leben. Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen und bin vor Tag aufgestanden, daß ich den Abschied nicht verfehlen soll. Der Strahlenau war noch nicht auf, aber die Eltern und die Schwestern, und allen tat der Abschied leid, und jedes wußte etwas an ihm zu loben. Ich aber konnte fast gar nichts sagen. Da schaute mich die Mutter sehr scharf an und sagte: ›Christiane, ich glaub', du bist ganz begeistert; geh lieber auf den Acker, die Erdbirnen müssen gefelgt sein.‹ Da nahm ich meinen Spaten und ging; wie mir's aber ums Herz war, das kann ich keinem Menschen sagen. Draußen auf dem Acker hörte ich von weitem die Trompetermusik, mit der sie abzogen; da hab' ich mich auf einen Stein gesetzt und geweint und geweint[97] – ich hätte mein ganzes Herz ausweinen mögen! Den Strahlenau hab' ich nimmer gesehen. Die Mutter selig hat's wohl gut gemeint; aber das kann ich ihr doch in meinem Leben nicht verzeihen, daß sie mich nicht einmal Abschied nehmen ließ.«

Und doch war ein Element von Poesie in dem Wesen der Urgroßmutter, was sich zumeist in ihrer Neigung zur Einsamkeit zeigte, der sie freilich selten folgen konnte. Ihr liebes Hohenentringen gab sie nur in Pacht und behielt es sich als Eigentum vor, bis sie es später der ältesten Tochter bei ihrer Verheiratung übergab. Dort freute sie sich hie und da der Ruhe und Stille aus dem vielbewegten Treiben daheim; dort schrieb sie ihre historischen Notizen, ihre Bibelstudien, ihre Auszüge nieder und sammelte ihren Sinn aus all den Stürmen, die die Welt erschütterten, zu tiefem, innigem Versenken in den Quell aller Ruhe, und mit besonders klarem Auge und frischer Seele kehrte sie wieder in ihr unruhiges Haus zurück.

Sie bekam genug einzutragen in ihren Kalender, die gute Urahne, und die Zeit wäre ihr fast über den Kopf gewachsen. Die französische Revolution, Napoleon, Deutschlands Schmach und des Unterdrückers kurze Herrlichkeit warfen ihren roten Fackelschein in ihren Abendhimmel.

Kriegszüge überschwemmten das Land, Franzosen, gleich ungebeten als Freunde wie als Feinde; einmal war schon dem Dörflein, das die hohe Brandschatzungssumme nicht erschwingen konnte, Plünderung gedroht; der Urgroßvater, der dank seiner Hofmeisterlaufbahn der französischen Sprache mächtig war, er rettete es durch einen Brief, worin er den Offizier »pour la gloire de la nation française« beschwört, das Dörflein wegen seiner, eines Greisen, und seiner alternden Gattin zu schonen. Das Dorf wurde glimpflich behandelt, und das Pfarrhaus bekam eine Sicherheitswache. Das Konzept dieses Briefs wird als Andenken an die Errettung noch in der Familie bewahrt.

Es wurde ihr selbst die Ehre und Freude zuteil, den Helden seiner Zeit, den Erzherzog Karl, auf dem Zuge nach Frankreich [98] unter ihrem Dache zu beherbergen; der Prinz soll herzlich gelacht haben, als sie ihn, um ja gewiß des schuldigen Respekts nicht zu verfehlen, mit »Euer Majestät« anredete.

Eine höfliche Frau ist die Urgroßmutter überhaupt gewesen, voller Rücksichten gegen Anwesende und Abwesende, höchlich besorgt, jedermann seinen gebührenden Rang und Titel zu lassen und niemand Anstoß oder Ärgernis zu geben.

So führte sie, unter äußeren Stürmen und innerem Frieden, einunddreißig Jahre lang ihre zweite Ehe; die Töchter alle waren, wie sie rühmt, glücklich und ehrenvoll versorgt, [99] die Söhne in Amt und Würden; das Vermögen hatte sich trotz der Kriegslasten und Teuerungen bedeutend vermehrt, und so konnte ihr Mann, als ihn ein schneller Tod abrief, beruhigt über seine irdischen Angelegenheiten die Augen schließen.

Die Urgroßmutter zog nun zu ihrer ältesten Tochter und lebte hier im Herzen des Landes, der verehrte Mittelpunkt, um den sich Kinder und Enkel sammelten, der Kinder höchste Autorität in allen zeitlichen und geistigen Angelegenheiten.

Ein schwerer Fall in den Keller brachte sie um ihre bis dahin so kräftige Gesundheit. Gebückt und fast unfähig zu gehen, saß die sonst so aufrechte und kräftige Gestalt nun im Lehnstuhl. Aber ihr Geist blieb ungebrochen in seiner Frische und Kraft, und die lautere Frömmigkeit, die den Grund ihres durch und durch klaren und wahren Wesens bildete, gab allem, was sie in ihrer einfachen natürlichen Weise sagte, eine tiefere Bedeutung.

In ihr selbst regte sich immer lebendiger das Heimweh nach der Heimat, die da alles neu macht. Wie es oft bei alten Leuten zu gehen pflegt, wandte sie sich jetzt mit besonderer Sehnsucht zu den Lieblingsstellen ihrer Vergangenheit zurück. Das war vor allem ihr liebes Hohenentringen. Und nun ich ihr Bild gegeben, so gut ich vermocht, wird es keine Entweihung sein, wenn ich ihre eigenen Worte wiederhole, in denen sie in ihrer schlichten Weise ihr Verlangen nach diesem stillen Aufenthalt ausspricht.

»Wie erfreulich wäre es vor mich gewesen, wenn ich mein liebes Entringen noch einmal hätte sehen können. Leider ist es zu spät, ich bin zu kraftlos. Es war mein liebster Aufenthalt in meinem Leben. Es war der Ort, wo ich allein ungestört die Güte und Allmacht Gottes am besten bewundern konnte.

Wie vergnügt war ich in der Ernte, wann ich mit der Sonnen Aufgang bei meinen Schnittern war und sahe den Segen Gottes. Wie vergnügt machte mich der Spruch, in dem es heißt: ›Vor dir wird man sich freuen, wie man sich freuet in [100] der Ernte!‹ Aber wie traurig war es anzusehen, als die schönen Felder so arg von dem vielen Gewild verwüstet worden sind. Der Fürst, der ein Vater seiner Untertanen sein sollte, nimmt ihnen das Brot von dem Munde hinweg. Wir hätten zu selbiger Zeit nicht so teure Zeit bekommen, wann der Fürst sich als einen Vater gezeigt. Nähmen doch alle Fürsten ein Exempel daran!

Balsam war es in meine Wunden, wenn ich an den Sonntagen, wo ich nicht in die Kirche konnte, an meinem Saalfenster das Gesang, das man in der Kirche im Dorf singte, nachsingen konnte.

Wie freute es mich, wenn ich bei hellem Mondschein auf den Feldern und Dörfern so eine Stille sah; da fühlte ich den Wert des Gesanges: ›Nun ruhen alle Wälder.‹ Bei Tag so viel Rennen, Laufen und Schaffen, bei Nacht lauter Stille. In meinem Bett hörte ich den Wächter im Dorf den Tag anschreien mit den Worten: ›Wach auf, o Mensch, vom Sündenschlaf, ermuntere dich, verlornes Schaf!‹ Diese Worte rührten mich sehr.

Tausend, tausend Dank dem heiligen, dreieinigen Gott, der mir in so viel Trübsal beigestanden, aus so vieler Gefahr errettet und mir mehr Gutes getan, als ich aussprechen kann. Dort, in jener Welt, will ich's nachholen. Herr, ich bin viel zu gering aller Barmherzigkeit und Treue, die du an mir getan hast!«

Das waren die letzten Worte ihrer Feder, es blieb das letzte Bekenntnis ihrer Lippen; bis zum Ende floß ihr Herz und ihr Mund über von Dank und Freude.

Man findet manchmal, daß ein großes Familienfest, eine besondere Freudenfeier der Wendepunkt eines Glückes oder das Ziel eines Lebens wird. Es macht dies manche ängstlich und scheu vor solchen Festen, aber mit Unrecht. Wenn die Sonne untergehen muß, warum soll sie nicht noch einmal zuvor recht hell scheinen, ehe sie scheidet?

So ein heller Sonnenschein vor dem Untergang war der achtzigste Geburtstag der Urgroßmutter; Kinder, Enkel und [101] Urenkel kamen mit Liedern und Gaben. Die liebste unter allen war ihr ein schönes Bild von ihrem lieben Entringen; darauf ließ sie so recht die alten Augen ausruhen, und indem sie dem Kreis der Ihrigen all ihre liebsten Geschichten aus der Vergangenheit erzählte, lebte sie ihr ganzes Leben in seinen Lichtpunkten noch einmal durch.

Das blieb ihre letzte Geburtstagsfeier auf Erden – nicht lange stand es an, so folgte ihr der ganze damals so fröhliche Zug nach ihrer letzten Ruhestatt, und ein seligeres Geburtsfest hat ihrer wohl droben gewartet.

5. Das Schlößchen in Beihingen

Wir mögen es uns gestehen oder nicht, wir alle haben ein aristokratisches Element in uns, wie freisinnig wir auch von jeher gewesen oder durch die neue Zeit geworden sein mögen. Nicht allein eine Art von Rangstolz, der sich auch in den alleruntersten Schichten der Gesellschaft nicht verliert und der durch kein Vor-und kein Nachparlament abgeschafft werden kann; ein Rangstolz, der den Schuster, welcher neue Stiefel macht, mit der souveränsten Verachtung auf den Flickschuster, die Stubenmagd mit gnädigster Herablassung auf eine Stallmagd blicken läßt: nein, eine gewisse Bewunderung und Vorliebe für das Hohe und Vornehme zeigt sich selbst bei Kindern so frühe, daß sie unmöglich nur eingelernt sein kann. So hat mich als Kind das Bewußtsein ganz glücklich und stolz gemacht, daß ich einen Großonkel habe, der in einem Schlößchen wohne und also, was ich mir unzertrennlich davon dachte, eine Art von Ritter oder Baron sei.

Später erfuhr ich nun freilich, daß der Großonkel nur ein bürgerlicher Hofrat und Beamter der adligen Herrschaft war, der das Schlößchen, das er bewohnte, zugehörte. Das Schloß selbst, das mir als ein Inbegriff ritterlicher Herrlichkeit erschienen war, stellte sich mir nachher als ein verrauchtes altes Gebäude dar mit engen, winkligen Zimmern. Diese Enttäuschung[102] hatte jedoch wenig zu bedeuten; denn auf dem alten Schlößchen und seinen Erinnerungen ruht ein Zauber, den keine Zeit zerstören kann. Was bedeutete es, ob der Großonkel ein Ritter oder Graf war, oder bürgerlich! Hatte er doch einen fürstlichen Sinn, wo es galt, Fröhliche zu machen, und kein königliches Schloß wird sich rühmen können, so viel frohe und glückliche Menschen beherbergt zu haben wie das unscheinbare Schlößchen in Beihingen.

Dieses Schlößchen selbst, obgleich alt und verwahrlost und durchaus in gar keinem Stil gebaut, hat doch seine eigentümlichen Reize. Gleich der plätschernde Brunnen in dem stillen Hofe, in dem immer zahlreiche Fische lustig herumschwammen, hat etwas höchst Anziehendes; das mannigfaltige Gesträuch zu den Seiten des Eingangs, der Durchblick durch den Hof in [103] einen grünen behaglichen Obstgarten, die offene altertümliche Treppe und der Dorfbrunnen im Vordergrund, um den sich immer zahlreiche Ortsbewohner gruppieren, gestalten es zu einem ansprechenden Bild niederländischer Schule. Die Wohnräume, obschon unregelmäßig und durchaus nicht elegant, hatten so trauliche Ecken und verborgene Treppen, daß man immer neue Entdeckungen darin machen konnte.

Das Leben und die Seele des Hauses war aber der Großonkel selbst. Er gehörte zu den glücklichen Menschen, denen es vergönnt ist, jung zu bleiben bis ans äußerste Lebensziel, nicht auf die für andre so peinliche Weise, wo man das äußere Schattenbild der Jugend festhalten will noch in grauen Haaren und durch jugendliche Gebärden, Teilnahme an jugendlichen Belustigungen und so weiter zur lächerlichen Karikatur wird. Nein, es war die rechte, unverwelkliche Herzensjugend, die Licht und Wärme ausgoß auf ihre ganze Umgebung. Ich sehe ihn noch, den alten freundlichen Mann, wie er oben in der Erkerstube saß, dem gewöhnlichen Wohnzimmer, zu dem der Weg durch eine ungeheure Küche führte, die nicht im Gebrauch stand und wohl vormals als Prunkküche gedient hatte; wie er für jeden Besucher einen herzlichen Willkomm und einen fröhlichen Scherz hatte. Er war ein feiner Mann, der Großonkel, und hatte noch die zierlichen Formen altfränkischer Höflichkeit, das schönste Erbteil der Rokokozeit. Aber diese Höflichkeit kam vom Herzen, aus einem Gemüte, das keiner Seele wehe tun konnte; darum war es jedermann wohl ums Herz dabei, man fühlte sich in einer heitern Atmosphäre, in die kein unfreundliches Element eindringen konnte.

Willkommen war im Schlößchen jedermann und zu jeder Zeit. Es war das Paradies der Kinder, die in dem alten Hause, in den obstreichen Gärten einen unverkümmerten Tummelplatz fanden und für welche Tante Beate jederzeit Süßigkeiten in Bereitschaft hatte. Wo hätte der Osterhase reichlicher gelegt, das Christkind schöner beschert als in Beihingen? In jeder der zahlreichen Familien, die im Schlößchen ihren Mittelpunkt hatten, bewahrt man noch etwas von den Herrlichkeiten, mit [104] denen die Kinderwelt in Beihingen erfreut worden war, als Reliquien.

Es war das erste Reiseziel jedes neuen Brautpaares in der Familie, da man stolz war, dem neu aufgenommenen Gliede die Freuden einer Familienheimat zu zeigen, wie wohl wenige Geschlechter sich einer rühmen konnten. Es war die Heimat der Jugend, wo die Studenten der Familie sicher waren fröhliche Ferien zu erleben; wo die jungen Mädchen sich erholen durften von Waschen, Gartenarbeiten und all den Geschäften, die man dazumal noch von einer erwachsenen Tochter verlangte; es war der angenehmste Ausflug für alte und junge Frauen, für die alten Herren und die geplagten Geschäftsmänner, die dem Onkel verwandt oder befreundet waren und die um den runden Tisch bei dem vortrefflichen Wein und guten Kaffee alle Lebenslasten vergaßen im Gespräch mit dem immer heitern Manne, dessen ganze Vergangenheit nur ein unerschöpflicher Schacht ergötzlicher Bilder schien.

In den Zeiten seiner allerbesten Laune stieg er immer zurück in die Erinnerung an die unschuldigen Schelmenstreiche seiner Kindheit. Er ermüdete andre nie mit diesen Reminiszenzen, wie es wohl sonst bei alten Leuten der Fall ist, denen man nur aus Gefälligkeit zuhört; er wuchs so hinein in jene Zeit, daß man selbst mit ihm zum Kinde wurde.

Die Mutter wollte ihn einmal nicht auf die Straße gehen lassen, bis er das Schwesterchen in Schlaf gewiegt. »Ja, wann schläft es denn?« – »Wann es die Augen zu hat.« Als nun dieses ersehnte Resultat nicht alsbald erzielt wurde, klebte er dem Schwesterlein mit Gummi die Äuglein zu und sprang mit dem besten Gewissen hinunter: »Jetzt schläft's«. – Ein andermal hieß ihn die Mutter daheim bleiben, um auf den Schneider, der im Hause damit beschäftigt war, die aufblühende Generation herauszuflicken, acht zu haben, damit er nicht Seide stehle. Aber der Jubel der Kameraden drang gar zu verführerisch herauf; da nahte er endlich dem Schneider mit der höflichen Bitte: »Nicht wahr, Herr Schneider, Er ist so gütig und stiehlt meiner Mama keine Seide? Ich möchte so gern in den Hof.«[105] – Als das ebengenannte Schwesterlein gestorben war, hatte er sich unters Haus gesetzt und seinen Kameraden gegen ein Honorar von sechs Schussern die Erlaubnis erteilt, das Schwesterlein auf den Kirchhof tragen zu helfen; seinem besten Freunde aber gab er die Erlaubnis gratis, und dieser verhieß ihm gutmütig: »Sei zufrieden, Gottfried, mein Luisle hustet schon lang'; wann die stirbt, darfst du sie auch umsonst tragen.« – Einmal war in seinem elterlichen Hause ein hochangesehener Herr Vetter auf Besuch, den man zu beerben hoffte und mit aller nur denkbaren Ehrerbietung behandelte. Die Kinder betrachteten natürlich den gefeierten Gast höchst aufmerksam. Als die Familie sich setzte nach dem Tischgebet, das von allen stehend verrichtet wurde, fing der kleine Gottfried an: »Mama, warum hat denn der Herr Vetter so krumme Füß?« In tödlichster Verlegenheit nahm ihn die Mutter beiseite, um ihm auf höchst fühlbare Weise begreiflich zu machen, wie unmanierlich er sich gegen den Herrn Vetter benommen. Mit den besten Vorsätzen kehrte er zurück und erwog während der Mahlzeit, wie er dem Herrn Vetter glänzende Genugtuung geben könne; als nach Tisch wieder alle zum Dankgebet aufgestanden waren, erhob er seine Stimme und sagte: »Mama, warum hat denn der Herr Vetter so gerade Füß?«

In seiner Eltern Haus lebte die uralte, kindische Großmutter, der, wenn die Eltern ausgegangen waren, eines der Kinder Gesellschaft leisten mußte. Als das Los ihn traf, fiel ihm ein, wie oft sich die Großmutter nach einem Besuch ihrer Juliane, einer weit entfernt wohnenden Jugendfreundin, gesehnt hatte. Um sich nun die Langeweile zu kürzen, die ihm das Hüten der Großmutter machte, putzte er sich mit einigen Kleidungsstücken von ihr und der Mutter heraus und stellte sich der halb blinden Frau als die Juliane vor. Die Großmutter war überglücklich und bewirtete den Schalk mit dem Besten, was ihr Vorratskämmerchen aufzuweisen hatte. Als ihre Tochter nach Hause kam, konnte die Alte nicht genug erzählen von der großen Freude, die ihr geworden. Nur die rührende Glückseligkeit, die [106] der Spaß der alten Frau gemacht, rettete den leichtfertigen Burschen vor der väterlichen Züchtigung.

Der Onkel war ein Sommerkind gewesen sein Leben lang, und es war kein Wunder, daß ihn eine so sonnige Atmosphäre umgab; er hatte verstanden, das Glück beim Schopf zu fassen und seine Gaben ohne Überschätzung ins rechte Licht zu setzen.

Als der Sohn einer kinderreichen Familie sah er voraus, seinen Weg durchs Leben selbst suchen zu müssen, und widmete sich mit allem Eifer, der einen heiteren Lebensgenuß nicht ausschloß, dem Studium der Rechte. Er hatte absolviert und dachte mit Seufzen an den Eintritt in die nüchterne praktische Tätigkeit, während ihn seines Herzens Sehnsucht in die Ferne, in fremde Länder, in neue Umgebungen, unter Völker andrer Zunge trieb. Reisen war damals kein Spaß wie heutzutage, wo jeder hoffnungsvolle und hoffnungslose Sohn in jeder Vakanz das Wanderlied anstimmt:


»Nach Italien, nach Italien
Möcht' ich, Alter, jetzt einmalichen!« –

und der Onkel hatte schon gänzlich verzichtet, als er zufällig hörte, man suche für einen jungen Baron einen Hofmeister gesetzten Alters, von gewandtem Benehmen, mit Kenntnis der neuern Sprachen, als Begleiter auf die ersten Universitäten und in die ersten Städte Europas.

»Frisch gewagt ist halb gewonnen«, dachte der Onkel, der nicht eine der gewünschten Eigenschaften besaß, und stellte sich, mit dem Empfehlungsschreiben eines Verwandten und seinen Universitätszeugnissen bewaffnet, der Mutter des Barons, einer geistvollen welterfahrenen Dame dar.

Noch hatte er sich in keinen andern Kreisen als in den zwanglosen Umgebungen des Vaterhauses und der Studentenwelt bewegt und mußte sich zum erstenmal in eine Galakleidung mit Staatsdegen zwängen. Beim Eintritt bei der Baronin kam ihm besagter Degen zwischen die Beine, und er purzelte geradezu ins Zimmer. Ohne über diese erste Probe seiner Gewandtheit außer Fassung zu kommen, richtete er sich rasch auf, [107] verbeugte sich mit mehr Glück und bat: »Vergeben Sie meinem Degen, gnädige Frau, der meiner Verehrung für Sie so wirksam nachgeholfen und mich Ihnen so geräuschvoll zu Füßen gelegt hat!« Die Dame mußte lachen und fragte in guter Laune nach seinem Anliegen. Etwas erstaunt fragte sie, als sie dies aus dem Empfehlungsbrief ersehen: »Sie selbst gedenken sich um die Hofmeisterstelle bei meinem Sohn zu bewerben?« – »Ich habe den Mut, gnädige Frau.« – »Sie wissen, daß ich einen Mann von gereiften Jahren suche; darf ich um Ihr Alter fragen?« – »Zweiundzwanzig, gnädige Frau; ich wage nicht, Sie auf die altbekannte Tatsache aufmerksam zu machen, daß die Jugend der einzige Fehler ist, der sich mit jedem Tage von selbst verbessert, und ich schmeichle mir, daß mir größere Gleichheit der Jahre auch größeren Einfluß auf Ihren Herrn Sohn sichern würde.«

»Mein Sohn soll die bedeutendsten Städte Europas besuchen, sich in den ersten Zirkeln bewegen: Gewandtheit auf Reisen, Kenntnis der feinen Umgangsformen [108] sind die ersten Bedingungen für seinen Begleiter; darf ich fragen, wo Sie Gelegenheit gehabt, sich diese zu erwerben?« – »Nirgends, gnädige Frau; aber es würde vom höchsten Vorteil für unser Verhältnis sein, wenn es auch noch Branchen gibt, in denen ich von meinem Zögling lernen kann.«

»Französisch verstehen und sprechen Sie natürlich, aber auch Englisch und Italienisch?«

»Keins von allen, gnädige Frau; aber ich gedenke, alle drei Sprachen in kürzester Zeit inne zu haben, und würde mich freuen, Ihnen einen neuen Beweis für die Wahrheit des Sprichworts zu liefern: Wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand.« – »Sagen Sie selbst,« sprach die Dame halb ärgerlich, halb lachend, »finden Sie nicht sonderbar, daß Sie sich um die Stelle bewerben, ohne eine einzige der geforderten Eigenschaften dazu?« – »Allerdings, gnädige Frau,« versetzte der Student mit angenommenem Ernst; »soweit ich aber als Unbefangener in der Sache sprechen kann, würde ich Ihnen gerade der Sonderbarkeit wegen raten, den Versuch zu machen; die wichtigste Eigenschaft von allen haben Sie unter Ihren Bedingungen doch vergessen, den guten Willen, und den bringe ich in reichstem Maße mit.«

Die Baronin wagte es und fand nie Grund, das Wagstück zu bereuen: Sprachkenntnis und Umgangsgewandtheit erwarb sich der Onkel wirklich in kürzester Zeit und bewährte sich nicht nur als liebenswürdiger, sondern auch als treuer und einsichtsvoller Freund und Begleiter des jungen Barons, der sich nie mehr von ihm trennen wollte.

Als die große Tour vollendet war, wurde der Baron Gesandter, sein Freund Gesandtschaftssekretär; als er sich ins Privatleben zurückzog, übertrug er ihm die oberste Verwaltung seiner Güter, immer aber mußte er sich so viele Zeit frei behalten, um einen Teil des Jahres ganz bei ihm zubringen zu können.

Aus allem Glanz der Höfe, aus allem Geräusch und Gewühl der Weltstädte, aus der geistigen Aristokratie der Universitäten hatte sich der Onkel einen reichen Fonds schwäbischer [109] Gemütlichkeit, einen tiefen Sinn für Familienfreude gerettet, der das eigentliche Element seines Wesens war. Er entzog sich nicht der dringenden Aufforderung, die ihm ungesucht zukam, seiner Heimat als Vertreter ihrer Rechte in der Kammer zu dienen: sein feiner Verstand, seine reiche Erfahrung und sein warmes Herz ließen ihn auch hier überall am rechten Platze sein. Aber als ihn seine geschwächte Gesundheit nötigte, jeder öffentlichen Stellung zu entsagen, da bezog er das Schlößchen so gern, gehörte den Seinen so ganz, daß sein Andenken als die erfreuende und belebende Sonne der Familie am lebendigsten geblieben ist.

Der Glanzpunkt seiner Jugenderinnerungen blieb vor allem seine Reise nach England. »So habe ich es in England gesehen« war das große Zauberwort, mit dem jeder Gebrauch geheiligt wurde. An den Tagen der frohesten Familienfeste, für die allerwertesten Gäste wurde auf die Tafel ein Roastbeef befohlen. Wenn dieser höchste Triumph der Bewirtung kam, so durfte man gewiß sein, daß des Onkels Laune die allerglücklichste war; beim Roastbeef hat er gewiß nie eine Bitte abgeschlagen.

Seinen königlichen Spaß hatte der Onkel mit dem Herrn Wenz, seinem Amtsgehilfen, einem braven und gescheiten jungen Mann, der ganz zur Familie gehörte und nur durch seine Eitelkeit und sein empfindsames Herz manche Gelegenheit zu gutmütigen Scherzen gab. Noch mehr Stoff zu dergleichen bot aber Herr Reutter, der Leibchirurg. Der Herr Hofrat war die höchste Autorität, das eigentliche Zentrum des Herrn Reutter; die Stunde, in der er ihm den Bart rasierte, war das Ziel, auf das sich alle Gedanken und Bestrebungen seines übrigen Lebens bezogen. Er verwendete seine Existenz auf das Einsammeln von Neuigkeiten, aus denen er die merkwürdigsten zur Mitteilung für den Herrn Hofrat aussichtete, die der Onkel mit dem anscheinend größten Interesse anhörte. Als Napoleon unser Ländchen besuchte, reiste Herr Reutter schnurstracks nach der nicht allzu entfernten Hauptstadt, nicht sowohl um seine eigene Neugierde zu befriedigen, als um dem [110] Herrn Hofrat am folgenden Morgen, während er den Seifenschaum schlug und der anwesende Herr Wenz einen Geschäftsbericht endigte, nur so en passant sagen zu können: »Ei, Herr Hofrat, gestern habe ich auch den Napoleon gesehen.« – »Ei so? Herr Reutter, das ist mir höchst interessant; was ist es denn für ein Mann?« – »Was soll ich sagen? Es ist ein kleines Mannche, ein geringes Mannche, ein unansehnliches Mannche, ein Mannche wie der Herr Wenz.«

Der indignierte Herr Wenz lernte von Stunde an mit Lebensgefahr sich selbst rasieren, um den unverschämten Chirurgen entbehren zu können; der Onkel aber war höchlich ergötzt und nahm es dem Herrn Reutter nicht übel, als er einige. Tage darauf, gekränkt über einen eintägigen Aufschub des Rasierens, bemerkte: »Der Herr Hofrat haben einen Bart wie der Schultheiß von Wetterspach.« – »So? Was hat denn der für einen Bart?« – »Einen Bart wie lauter Schweinsborsten, Herr Hofrat.«

Es schien eine beständige Feiertagssonne über dem Schlößchen zu leuchten. Selbst die Geschäfte, deren es viele gab bei der ausgedehnten Ökonomie und den stets zahlreichen Besuchen, wurden gemeinschaftlich in so heiterer, geräuschloser Weise abgemacht, daß auch sie das Ansehen einer neuen Ergötzlichkeit gewannen. – Das Wort »sparen« war nicht in das Wörterbuch des Onkels aufgenommen, obwohl er für sich zwar ein behagliches, aber kein üppiges Leben führte und keine kostbaren Liebhabereien hatte, außer der kostbarsten und edelsten von allen, deren sich schon der gute Vikar von Wakefield rühmte: der Liebhaberei, glückliche Gesichter und frohe Herzen um sich zu haben. Überall war eine behagliche Fülle, ein reichliches, fröhliches Geben, es wurde jedermann wohl im Hause. Die Kutscher fuhren noch einmal so gern, wenn es nach dem Schlößchen in Beihingen ging, wo sie einer warmen Stube, eines guten Trunks und eines Stücks Braten gewiß waren; man sagt sogar, die Pferde seien schneller gelaufen und die Hunde haben mit dem Schwanz gewedelt in der Nähe des Schlößchens, im Vorgeschmack der guten Verpflegung, die sie dort erwartete.

[111] Als Schillers Dramen in der höchsten Blüte standen, ließ sich der Onkel einmal von seinem Johann in die Residenz kutschieren, um der Aufführung von »Kabale und Liebe« anzuwohnen. Unterwegs dauerte ihn der arme Bursch, der immer nur andre zum Vergnügen führen und selbst kein Pläsier haben sollte. »Besorg die Pferde gut, Johann! Dann kannst du heut abend mit mir ins Theater gehen.« – Der Johann konnt' es fast nicht glauben, war aber überglücklich, als ihn der Herr Hofrat in der Tat mit sich nahm und sogar an seine Seite in der Fremdenloge setzte. In hohem Erstaunen gaffte er mit offenem Munde den weiten Raum des Hauses, die prächtigen Kronleuchter, die fürstliche Loge an, deren Front durch die stattliche Gestalt des Regenten ausgefüllt wurde, vor allem aber den Vorhang, auf dem der Olymp in schreiender Farbenpracht prangte. »So, Herr Hofrat, iez hemmers gnuag gseha,« meinte er nach einer Viertelstunde. – »Wart nur, Johann, es kommt noch besser!« Das Orchester begann, und Johann war aufs neue entzückt, daß man auch noch aufspiele; als aber gar der Vorhang aufging und das Spiel begann, da stieg seine Verwunderung aufs höchste: »Ja, wer sind denn die Leut, Herr Hofrat?« Der Onkel zeigte ihm den Theaterzettel und erklärte ihm die Personen. »'s ist scho recht, aber do stoht jo net, 's wehl der Kabale ischt?« Er schien aber doch das Stück zu begreifen, denn er folgte dem Gange der Dinge mit dem äußersten Interesse, und der Onkel hatte Mühe, seine lebhaften Äußerungen zurückzuhalten. Als aber gegen das Ende des Stücks der Hofmarschall in der Szene mit Ferdinand in seiner ganzen Erbärmlichkeit dastand, da wurde er zuletzt so aufgebracht, daß er Ferdinand mit schallender Stimme zurief: »Bach em ois, bach em ois!« 1 Das ganze Haus brach in ein jubelndes Gelächter aus, die gestörten Schauspieler selbst konnten sich des Lachens nicht enthalten; die Polizei wollte einschreiten und den Ruhestörer verhaften, der regierende Herr aber, der sich vor Lachen den stattlichen Bauch halten mußte, befahl, [112] [114]ihn ruhig zu lassen, und hoffte auf weiteren Spaß. Der Johann jedoch war verdutzt über seinen unerwarteten Erfolg und verhielt sich still bis zum Schluß. Erst bei der Heimfahrt bemerkte er gegen den Onkel: »'s ist erst wohr, er hätt' em ois bacha solla.«

Einmal, als der Onkel besonders vergnüglich sich in Kindheitserinnerungen erging, fiel ihm auch des Nachbars Baste wieder ein, sein getreuer Freund, der ihm Hirschkäfer und Eichhörnchen gefangen und ihn so oft auf seinem Bock hatte reiten lassen. »Muß doch hören, was aus dem Baste geworden ist!« Mit einiger Mühe erfuhr er endlich, daß der Baste in der Nähe seines Heimatortes als Drahtbinder und Korbflechter kümmerlich sein Dasein friste. Gut denn, der Baste wurde mit seinem Handwerksgerät zum Besuch aufs Schlößchen beschieden; man räumte ihm ein Schlafplätzchen ein, und Tante Beate mußte alle Töpfe und Kacheln herbeisuchen, die irgendwie des Einbandes bedürftig waren. Da saß der alte Baste unter dem großen Holunderstrauch, der den Eingang ins Schloß beschattet, band Geschirre ein, flickte und reparierte Körbe nach Herzenslust und lachte hell auf vor Freude, daß man's drei Häuser weit hörte, wenn sich der Herr Hofrat je und je zu ihm setzte und ihn an ihre alten Bubenstückchen erinnerte. Daneben wurde er unter der Direktion der Tante mit Speise und Trank reichlich verpflegt. Es war verwunderlich anzusehen, wie das eingerostete Gesicht des Alten wieder gelind und beweglich wurde; er sah um zehn Jahre jünger aus, als er nach vier Wochen wieder heimkehrte, getröstet und beglückt durch eine Einladung aufs nächste Jahr. Wieder daheim, meldete er sich alsbald bei Maier, dem Stundenhalter (dem Leiter religiöser Privatversammlungen), und bat um Aufnahme in die Gemeinschaft, wie er denn auch von da an fleißig zur Kirche ging. »Aber Baste,« fragte ihn der Maier er staunt, »wie ist das so schnell gekommen? Es hat mich seither oft betrübt, daß Ihr so in den Tag hinein lebt und Euch nichts um Euer Seelenheil bekümmert.« – »Ihr habt recht, Maier, es war eine Sünde; seht, ich bin ein armer Mann, ein Wois (Waise)« – er war bald sechzig! – »habe so in der Trübsal ane g'lebt und nicht [114] an Himmel und Hölle gedacht; ich hab' g'meint, unser Herrgott hätt' mich halt auch vergessen und 's könn' mir nicht viel böser gehn in der Höll' als auf der Welt. Seit ich aber beim Herr Hofrat g'wese bin, muß ich immer denken: Wenn's im Himmel nur halb so brav ist wie im Schlößle, so möchtest doch gern 'nein. Gucket, Maier, deswegen will ich in d' Stund.« –

Auch die Geschichte seiner Heirat trägt dasselbe heitere Gepräge, das sein ganzes Leben auszeichnet. Als fröhlicher Student ging er vor langen Jahren mit seinen Genossen über den Marktplatz der alten Reichsstadt Heilbronn, als eben ein stattlicher Taufzug vorüber kam. In jugendlichem Übermut trat er hinzu und lüftete das grünseidne Tuch, darunter ein zierliches Kindlein schlummerte. »Was ist's?« fragte er dessen Trägerin. – »Ein Mägdlein.« – »Ei, das gäbe gerade eine Frau für mich!« rief er lustig und zog lachend mit seinen Kameraden weiter. Und es fügte sich, daß nach achtzehn Jahren dasselbe Mägdlein, nun eine schöne Jungfrau und reiche Erbin, ihre Hand gern und freudig in die des vierzigjährigen Mannes legte, zu einer Zeit, wo solche Altersverschiedenheit bei Eheleuten noch viel seltener war als jetzt. Sie hat auch niemals den Entschluß bereut. Unter den vielen, die des Onkels Güte froh und glücklich machte, war seine geliebte Gattin gewiß nicht die am wenigsten Glückliche. Tage tiefen Leides zogen über das Schlößchen hin, als der Onkel die geliebte Hausfrau in blühender Jugend zu Grabe geleiten mußte. Aber wie er sie mit Liebe und Treue durch schwere, lange Krankheit bis zum Tode verpflegte, so hat er auch ihr Andenken in Liebe und Treue bewahrt. Keine andre Gattin hat er gewählt, obwohl gewiß dem reichen, überall geliebten und geachteten Manne die Wahl unter den Töchtern des Landes offengestanden hätte. Aber in seiner unzerstörbar heiteren Seele hat auch das Andenken an Leid und Tod eine milde, versöhnende Gestalt angenommen, und wenn er der geschiedenen Gattin dachte, so dachte er nicht an ihr Leiden, nicht an ihr frühes Sterben, sondern an ihre Liebe, an die glücklichen Stunden, die er mit ihr verlebt, [115] an das selige Wiedersehen, das seiner wartete. So warf der Tod der Gattin keinen Schatten, wohl aber ein Licht aus einer höheren Welt auf sein Erdenleben.

Nach dem Tode seiner Gattin nahm die unverheiratete Tante Beate, seine echte Schwester an Herzensgüte und Freundlichkeit, sich des Haushaltes an, dessen Lasten später die Nichte Julie mit ihr teilte. Tante Beate war eine stille Seele; sie hatte ihr eigenes Eckchen im Wohnzimmer, wo sie mit unveränderlicher Ruhe saß, mit stiller Herzlichkeit die Gäste willkommen hieß und ihre Anordnungen für den Haushalt traf, die von der Nichte rasch und eifrig vollzogen wurden. Julie war eine Art verborgener Genius im Hause, überall und nirgends; sie hatte ein fabelhaftes Gedächtnis für jedermanns Leibgericht und jedermanns Geburtstag, sie war überall am Platz und kam immer zur rechten Zeit; sie arbeitete wie eine Magd und wurde vom Gesinde geehrt wie eine Königin. Ohne Base Julie wäre das Schlößchen in Beihingen in dieser Vollkommenheit gar nicht möglich gewesen.

Dem Oheim hatte seine Gattin einen einzigen Sohn geschenkt, seines Herzens Stolz und Freude, der unter der mütterlichen Pflege der guten Tante, in der freundlichen Gesellschaft der Base Julie zu äußerst stattlichem Gedeihen heranwuchs. Mit welcher Freude sah er seinen Karl als flotten Studenten die Universität beziehen, wie herzlich waren dessen Studiengenossen zur Ferienzeit im Schlößchen aufgenommen! Der Onkel hätte für die ganze Universität Raum zu schaffen gewußt. Nur eine Klage hatte der Vater über ihn, eine Klage, wie sie noch wenige Väter zu führen hatten: »Der Bursch braucht mir zu wenig Geld. Julie, schreib ihm nur wieder, er soll sich nichts abgehen und sich überall recht honorig finden lassen!«

Zur Freude der Familie war dem guten Onkel ein hohes Alter bestimmt, und er starb, ohne die Leiden, die Gebrechen, die geistige Abnahme späterer Jahre zu erfahren. Hell und ungebrochen blieb sein Geist bis zum Ende. Ich will sein heiteres Lebensbild nicht trüben mit der Schilderung des Leides, das [116] sein Tod gebracht. Heute wird nur in Frieden und Freude seiner gedacht; wo frohe Herzen sich zusammenfinden, um die Bande des Blutes noch zu ehren, da ersteht sein Bild in seiner ganzen lichten Freundlichkeit.

Noch steht das alte Schlößchen, noch plätschert der Brunnen im Hofe; aber keine Fische schwimmen mehr darin, zur fröhlichen Mahlzeit bestimmt, keine leichten jungen Tritte fliegen mehr die alte Treppe herauf; kein freundlicher Willkomm ertönt mehr aus der Erkerstube, die mit den andern Gemächern leer steht und nur selten zur Aufnahme der entfernt wohnenden Herrschaft geöffnet wird. So ist wohl heute manches Haus entleert, auch wo die Bewohner geblieben sind. Der Kampf um die Existenz, die Ansprüche des öffentlichen Lebens haben jene Blüten der Familienfreude wie ein rauher Märzwind verweht.

Fußnoten

1 »Versetze ihm eines!«

[118] 6. Das Dörtchen von Rebenbach

Zwei Kinder

Es war der 10. Oktober des Jahres 1780 ein gar schöner sonniger Herbsttag, so ein Tag, an dem alte Herzen wieder jung werden und junge überfließen möchten von Lebenslust. Die Sonne schien so voll und warm, als wollte sie noch einen recht herzlichen Abschied nehmen von der Erde, ehe sie sich in ihre Winterschleier hülle.

In dem anmutig gelegenen Dorfe Rebenbach war gerade die Weinlese in vollem Gange, ein fröhliches Leben und Treiben auf all den Höhen ringsumher. Am lustigsten ging's aber zu in dem Weinberge des Pfarrers; da wurde nicht gespart an Lohn und Kost der »Leser« (wie man in Schwaben die traubenschneidenden Winzer nennt), darum waren sie auch so guter Dinge bei ihrer Arbeit und ließen noch vor dem Feierabend aus der alten Pistole des Husarenmartins, eines Veteranen, hie und da einen tüchtigen Schuß los, der knallend von all den Bergen und Hügeln umher widerhallte und von da und dorther erwidert wurde.

Die Mägde des Hauses samt einigen Weibern und Mädchen des Dorfes, die sich's zur Ehre rechneten, heute zu helfen, schnitten flink die Trauben in die Kübel, wobei der Martin die Aufsicht führte, ob auch die Stöcke pünktlich abgelesen und die abgefallenen Beeren gesammelt würden. Die vollen Kübel wurden in einen hohen Butten geleert, den ein junger Bursche den Berg hinabtrug. Unten wurden die Trauben in eine Kufe mit durchlöchertem Boden (Renner genannt) geschüttet, in der Jakoble, ein rotbackiger Bauernbube, lustig darauf herumtanzte, so daß ihr Saft in die darunter stehende weite Bütte floß als trübe Brühe, der man's nicht ansah, daß sie nachher den köstlichen süßen Most, den edlen klaren Wein gebe.

Oben in dem Weinberge, wo man das ganze weite Tal übersieht, stand eine große Laube mit langem Tisch; dort war Dörtchen, des Pfarrers Töchterlein, emsig beschäftigt, den [118] Tisch zur Bewirtung der Herbstgäste zu rüsten, die heute aus der Stadt erwartet wurden. Die schönsten Trauben hatte sie zierlich zwischen Rebenlaub in die Körbe geordnet, den weißen Herbstkäse, mit Kümmel bestreut, in Porzellangeschirren aufgestellt, den roten Wein in helle Flaschen gefüllt; ja, die Mutter hatte ihr sogar anvertraut, den Schinken aufzuschneiden und auf den Teller zu legen.

Das Dörtchen war erst dreizehn Jahre alt und kleiner als die meisten Mädchen ihres Alters; aber sie drehte sich dreimal um bis andre nur einmal und sah aus ihren hellen, blauen Augen so freundlich in die Welt hinaus, daß jedermann eine Freude an ihr hatte. Sie war stets fröhlichen Herzens, heute aber, wo sie so viel vergnügte Leute sah, war's ihr einmal ganz besonders wohl auf der Welt. Obgleich sie just keine sonderliche Singstimme hatte, sang sie doch aus lauterer Herzensfreude mit hellem Tone: »Rosen auf den Weg gestreut und des Harms vergessen!« was damals ein nagelneues Lied war. Da erblickte sie ein junges Mädchen ihres Alters, die höchst mühsam die schmalen Weinbergstäffelein heraufstieg, und mit dem Jubelruf »Liesle, Liesle!« hätte sie fast das Glas fallen lassen, das sie eben hell reiben wollte; aber sie besann sich schnell, stellte es rasch auf den Tisch und sprang dann mit fröhlichen Sätzen, leicht wie ein junges Reh, der Ankommenden entgegen. Das Liesle (die sich aber nicht gern so nennen ließ, wie wir bald hören werden) vermochte mit ihrem langen himmelblauen Kleide kaum durch die enge Furche zu kommen, und[119] Dörtchen, der ihr etwas verwachsenes kurzes Barchentkleidchen nicht hinderlich am Steigen war, konnte fast nicht erwarten, bis sie sie endlich mit heiler Haut heraufgebracht hatte.

»Nun aber sag mir, Liesle,« fing sie an, »was fällt dir ein, in deinem hellblauen Levantinkleid hierher in den Herbst zu kommen? Unsern Bauern hättest du in einem Merinokleide ebenso wohl gefallen. Aber gelt, da kommst du dir wie so ein Fräulein vor in den Romanen, die du so gern liest?« Elischen, die gerade so alt wie Dörtchen, aber viel größer und ein hübsches schlankes Mädchen war, nahm den Empfang etwas übel; denn sie kam sich besonders schön vor in dem himmelblauen Kleide und hatte nur schwer von der Mutter Erlaubnis erhalten, es anzuziehen. Da aber Dörtchen doch recht hatte, so fing sie von was anderm an: »Aber, liebes Dörtchen, könntest du mich denn nicht Elise nennen, da du weißt, daß ich's viel lieber habe? Lieschen klingt doch so gar gewöhnlich; ich werde dich ja gern Dorette oder Doris heißen, wenn du willst.«

»Bedanke mich dafür,« meinte Dörtchen; »wenn's der Mutter nicht zu lang wäre, ließ' ich mich am liebsten Dorothea heißen, wie ich getauft bin, seit ich vom Vater weiß, was für eine schöne Bedeutung der Name hat. Dir tue ich aber gern den Gefallen, dich Elise zu heißen, wenn ich's nicht hundertmal wieder vergesse. Nun aber komm und iß Trauben! Die andern Sachen wollen wir stehen lassen, bis die Eltern mit den Gästen kommen.«

Elise (wir wollen ihr auch den Gefallen tun, sie so zu nennen) war den andern Gästen vorangegangen, die der Pfarrer auf einem weiteren Wege herführte, um ihr liebes Dörtchen früher zu sehen; denn die zwei Mädchen hatten sich, trotz ihrer großen Verschiedenheit, herzlich lieb. Elise war die Tochter der wohlhabenden Witwe eines niederen Hofbeamten, die in der nahen Hauptstadt wohnte, einer Jugendfreundin der Pfarrerin, daher kannten sich die Mädchen von frühester Kindheit her. Sie war ein lebhaftes, reichbegabtes Mädchen, aber launig und flüchtig in allem, was sie tat, und von der zu nachsichtigen Mutter verwöhnt. Ihr Hauptfehler war der, immer etwas [120] Besonderes sein zu wollen; daher trieb sie meist, was sie nicht sollte; las Romane statt der Schulbücher, wollte Rosen und Vergißmeinnicht sticken, ehe sie recht Strümpfe stricken konnte; wünschte sich, jung zu sterben, statt daß sie mit Gottes Hilfe gesucht hätte, recht leben zu lernen, und machte der Mutter und dem Lehrer mehr Verdruß als Freude, obgleich sie immer und überall für äußerst gescheit und talentvoll galt. Da war das Dörtchen ganz anders: was sie gerade tun sollte, das tat sie recht und ganz, sei es nun Hühnerfüttern oder Lesen, Arbeiten oder Spielen; sie war mit ganzer Seele dabei, darum geschah auch alles recht, was sie ergriff, und sie war stets fröhlich und wohlgemut.

Da die Bewirtung für die Gäste bereit war und Elise noch müde von ihrer außerordentlichen Anstrengung, setzten sich die Mädchen einstweilen mit einem Traubenkörbchen auf die Schwelle der Laube und schauten vergnüglich hinunter in das reiche, gesegnete Tal; an die Höhen, die ringsum belebt waren von frohgeschäftigen Leuten; dahinter der buntgefärbte Wald und darüber der schöne blaue Himmel. Es war so schön hier, daß ihnen recht das Herz aufging.

»Hör, Dörtchen,« begann Elise, »möchtest du nicht, daß es noch Feen gäbe? Daß dort hinter dem vorstehenden Fels jetzt plötzlich so eine Frau in glänzenden Gewändern hervorträte und uns drei Wünsche erfüllen wollte?«

»Ja,« sagte Dörtchen, »als ich die Geschichten zuerst las, ist mir's auch immer durch den Kopf gegangen, und ich dachte, das wäre prächtig; aber nachher ist mir eingefallen, daß der liebe Gott doch mehr kann als alle Feen und daß er uns noch viel lieber hat, darum wird der uns schon geben, was wir brauchen.«

»Wüßtest du denn jetzt gar keine Wünsche, Dörtchen?«

»Ich? Wart einmal, ich will mich besinnen; ja, auf den Winter möcht' ich ein Spinnrädchen, ich spinne gar nicht gern an der Spindel; doch nein, das gilt nicht, das krieg' ich vielleicht zum Christtag. Aber ich möchte, daß der Vater recht gesund wäre und daß der Nachbarin ihr Fritz nicht unter die Soldaten [121] müßt', sie weint so um ihn; und schön singen können möcht' ich auch, daß der Schulmeister nimmer sagte, seine Hühner gehen drauf von meinem Gesang, und so einen Beutel, der nie leer wird, ließ' ich mir gern auch gefallen, aber ich weiß dann doch nicht, ob ich's auch recht austeilen könnte. – Aber was weißt denn du alles, Elise?«

»Ich,« sagte diese mit glänzenden Augen, »ich möchte schön sein, ach, so wunderschön! Und möchte den Teppich, auf dem man durch alle Länder fliegen kann, wohin man nur will, und möchte ein Zauberstäbchen, mit dem man alles auf einen Schlag fertigmachen kann, daß ich mich nicht mit so langweiliger Arbeit plagen dürfte, und möchte prächtig singen und malen können, und auch ein Füllhorn, aus dem ich schütteln könnte, was ich nur wollte, die schönsten Kleider ...«

»Ei, und was noch mehr!« rief das muntere Dörtchen, »du hast's ja wie am Schnürchen! Aber hör,« fuhr sie nachdenklich fort, »ich meine, darum habe uns Gott doch nicht in die Welt geschickt, daß wir alles mit einem Zauberstäbchen fertigmachen sollen; und wenn man recht getan hat, was man soll, so ist man am Ende doch noch vergnügter, als wenn man gleich hat, was man nur will.«

»Ach, geh! Ich würde ja auch aus meinem Füllhorn den armen Leuten Geld und Kleider herunterschütteln ...«

»Und ich würde die faulen Mädchen heimjagen, die im Herbst dasitzen und schwatzen, statt zu lesen. Schnell hinunter in den Weinberg, wenigstens du, Dörtle!« so rief Dörtchens Mutter, die Frau Pfarrerin, die inzwischen unbemerkt hinter die Mädchen getreten war. Dörtchen sprang rasch auf, grüßte die ankommenden Gäste freundlich, wenn auch rot vor Beschämung, nahm einen Traubenkübel und ihr Häpchen, eilte flink damit in den Weinberg und fing an zu schneiden, als ob sie heut noch allein fertigmachen wolle. Elise war empfindlich, daß man sie so als Kind an die Arbeit schickte, während sie schon in Gedanken als Feenkönigin herumgeschwebt war; sie wollte Dörtchen helfen, aber das Levantinkleid zerriß an den Traubenstöcken; mit dem Häpchen schnitt sie sich in die Finger, weil sie [122] die Trauben verkehrt hielt, und stieß mit dem Fuß den Traubenkübel um, so daß die Winzer ein lautes Gelächter erhoben über das »Stadthettele«, wie sie sie nannten, worüber sie tief gekränkt sich in die Laube zu den Erwachsenen setzte. Dort aber gab man zum Verwundern wenig acht auf sie; niemand sagte davon, wie gut sie singe und wie hübsch sie deklamiere, und niemand bewunderte ihr Levantinkleid. »Ach,« dachte sie im stillen, »wenn doch die Fee käme und mich plötzlich in ein großes, wunderschönes Fräulein verwandelte!«

Es war Abend geworden und die Lese beendigt, da geht aber erst noch die rechte Herbstlust an. Drunten auf einer Kleewiese hatten sich die Leser gelagert und ließen sich's herrlich schmecken bei Käse, Wurst und Wein. Oben hatte man zur Würze des Festmahls noch im Freien Kartoffeln gesotten, die reißend Abgang fanden. Nun ging das Schießen rasch und unaufhörlich fort. Die jungen Herren erschreckten die Damen mit angezündeten Fröschen und ließen Schwärmer und prächtige Raketen steigen, denen die Leute unten stets ein jubelndes »Ah!« nachriefen.

Die Mädchen saßen wieder beisammen, seitwärts auf einem Rain, wo sie dem Feuerwerk sicher zuschauen konnten. Dörtchen hatte sich müde geschafft und sah jetzt still zu, wie die aufzischenden, rotglühenden Feuerstrahlen einen Augenblick die kleinen, blassen Sterne zu verdunkeln schienen, die nachher doch wieder so still und klar dreinschauten wie immer. Das Gespräch von dem Nachmittag fiel ihr wieder ein und Elisens Wünsche. Da bat sie Gott im stillen, er möge ihr helfen, daß sie den Menschen lieb werden könne auch ohne große Schönheit, daß sie ihr Tagewerk recht vollbringe auch ohne Zauberstab, daß sie Armen Gutes tun dürfe auch ohne ein wunderbares Füllhorn; und es wurde ihr so still und wohl ums Herz, als ob alles recht und gut werden müsse.

»Siehst du,« rief Elise, als eben eine prächtige Rakete zischend auffuhr und in funkelnden Sternlein niederfiel, »siehst du, so möcht' ich ein Leben, glänzend, wunderbar und herrlich, und wenn's auch kurz dauerte!«

[123] »Die Rakete ist aus,« sagte Dörtchen, »jetzt fällt nur noch ein verbranntes Holz zur Erde; da möcht' ich lieber ein stilles Sternlein sein, das seine Bahn zieht, wie sie Gott verordnet hat, auch wenn niemand darauf achtet, als so ein Ding, das brausend hinauffährt und dann auslischt, ohne daß man mehr daran denkt.«

»Dörtchen,« fing nach einer Weile die aufgeregte Elise wieder an, »hast du auch schon gehört, daß ein Wunsch erfüllt wird, den man im Augenblick denkt, wo ein Stern fällt?«

»Ach, kommst du schon wieder ans Wünschen?«

»Hör, Dörtchen, wenn ich doch in die Zukunft sehen könnte! Ich möchte nur wissen, wo wir beide in zehn Jahren sein werden.«

»Wo der liebe Gott will,« sagte Dörtchen ruhig.

»Dörtchen,« fuhr Elise fort, »heute ist der 10. Oktober; wir wollen einander versprechen, nach zehn Jahren wieder hier zusammenzukommen, wenn wir noch leben, mögen wir auch sein, wo wir wollen.«

»Oh, von Herzen gern! Das ist wohl leicht zu halten; in zehn Jahren werden wir noch nicht weit von hier sein.«

»Sei das, wie es will, versprich mir's!« rief Elise, und Dörtchen schlug lächelnd ein.

Inzwischen hatte man Fackeln angezündet und schickte sich zum Gehen an. Dörtchen half die Reste der Mahlzeit und das Gerät zusammenpacken und nahm einen Korb an den Arm. Nun brannten die Fackeln, und Winzer und Gäste schritten bei ihrem Glanze singend dem Dorfe zu, während dazwischen die letzten Schüsse fielen. Leise singend schlossen sich die Mädchen dem Zuge an, während sie aufschauten zum stillen Nachthimmel. Elise dachte an die schimmernde Rakete, Dörtchen an den lieblichen Stern – da fuhr eine helle Sternschnuppe über den Himmel und erlosch.

Zwei Bräute

Zehn Jahre waren vergangen, der 10. Oktober war wieder gekommen, aber nicht so sonnig wie damals. Es war ein nebliger Herbsttag, und die Weinlese hatte noch nicht begonnen. [124] Drunten im Tale waren die Leute mit der Kartoffelernte emsig beschäftigt; in den Weinbergen aber schritt nur der Weinberghüter (Wingertschütz genannt) mit seiner Rassel umher und ließ sie hie und da warnend ertönen, obgleich in diesem Jahre Menschen und Vögel nicht besonders lüstern nach den sauren Trauben waren. Dörtchen hatte keine große Lust gehabt, an dem kühlen Tage in der Laube zu warten, aber Elise hatte sie gestern in einem Briefchen so feierlich an das alte Versprechen gemahnt, daß sie doch Wort gehalten. Um sich das Frieren und die lange Zeit des Wartens zu vertreiben, hatte sie die Schürze voll Bohnen gepflückt und saß nun in der Laube, um sie auszuhülsen, während sie hinuntersah nach der Freundin.

Das Dörtchen war ein wenig klein geblieben und keine Schönheit geworden. Aber ihre blauen Augen glänzten noch so hell und freundlich wie damals vor zehn Jahren, nur daß noch eine tiefere Seele darin aufgegangen. Sie war allenthalben rüstig und rührig, der Mutter geheime Rätin und ihre kräftige Stütze in Haus und Hof, in Garten und Feld, des Vaters Freude und sein Herzblatt. Dabei war ihr Sinn offen für alles Schöne in der Welt, und sie konnte sich die ganze Woche durch heimlich freuen auf den Sonntag, wo sie nachmittags nach dem Gottesdienst mit einem guten Buch in der Laube sitzen durfte. Denn obwohl eine längst erwachsene Jungfrau, war sie doch in demütigem Gehorsam der Mutter untergeben, und die konnte das Lesen an Werktagen nicht gut leiden. Fröhlichen[125] Herzens war sie geblieben, und das Dörtchen von Rebenbach war überall willkommen, wo es hinkam.

Dörtchen hatte damals recht gehabt, die Mädchen waren auch heute nicht weit voneinander; Elise wohnte noch mit ihrer Mutter in der Residenz, und so war es leicht, die verabredete Zusammenkunft auszuführen. Doch freute sich Dörtchen heute besonders auf Elise, denn sie hatte sie seit einigen Wochen nicht gesehen und ihr diesmal so gar viel zu sagen. Die alte Kinderfreundschaft bestand noch, obwohl sich die große Verschiedenheit der Mädchen im Laufe der Jahre immer deutlicher herausstellte.

Elise war wirklich schön geworden, und manche ihrer Gaben hatten sich glücklich entwickelt. Sie war die beste Tänzerin, sie zeichnete, malte, schnitt aus, sie machte Gedichte, spielte Klavier, sang und deklamierte. Kurz, sie war ein höchst talentvolles Mädchen, der ihre gute Mutter die Strümpfe flickte und die Kleider aufräumte; sie tat eine Menge Sachen, nur ja nicht, was nötig war, stets bemüht, immer ganz anders zu sein und zu scheinen als alle andern Leute.

Endlich sah Dörtchen sie mühsam und langsam wie damals und ebenso auffallend gekleidet den Weinberg heraufsteigen. Das himmelblaue Levantinkleid war zwar längst dahin; dafür aber trug sie an dem kühlen Herbsttage ein weißes Kleid mit blauer Schärpe und statt des Hutes einen Schleier auf dem Kopfe. Dörtchen gab diesmal nicht darauf acht und eilte so leichtfüßig wie vor zehn Jahren auf sie zu. Elise aber trat ihr besonders feierlich entgegen und rief aus: »Dörtchen, umarme mich, ich bin Braut!« Das Dörtchen stellte sich gutwillig auf die Zehen, um die hochgewachsene Elise zu umarmen; als dies geschehen war, streckte sie ihr treuherzig die Hand hin: »Lieschen, gib mir einen Patsch, ich bin auch Braut.«

»Du, Dörtchen, ist's möglich?« rief Elise sehr verwundert, »so sag doch, mit wem!«

»Ei, mit dem Verwalter Schmied, den du im Sommer so oft bei uns getroffen,« sagte Dörtchen errötend und glücklich.

»Wie, Dörtchen? Aber doch nicht mit dem, der mit deinem [126] Vater Brett spielte und deiner Mutter Saatkartoffeln besorgte? Geh, geh! Das wäre ja entsetzlich langweilig für mein munteres, nettes Dörtchen; und vollends Schmied heißen, wie das halbe Vaterland, und er ist, glaub' ich, gar ein gelernter Schreiber!«

»Hör, Elise,« sagte Dörtchen, ernstlich böse, »das ist dumm gesprochen, so gescheit du sonst bist. Der Schmied ist ein braver und recht gescheiter Mann, der noch mehr versteht als Brett spielen und Kartoffeln stecken. Er hat mich von Herzen lieb und ich ihn, die Eltern haben ihre Freude daran: so denk' ich, wir können mit Gottes Hilfe glücklich zusammen werden, und wenn er zehnmal Schmied hieße. Nun aber sag mir, was du für einen Vogel Phönix ausgelesen hast und wie der heißt?«

Würdevoll begann Elise: »In drei Tagen kommt der berühmte Bürger, einer unsrer ersten Dichter, um mich als Gattin heimzuführen.«

»Dich! Der Bürger? Ach geh, das ist unmöglich! Wo hättest du ihn denn kennenlernen?«

»Ja sieh, das ging recht wunderbar. Natürlich bin ich schon seit lange entzückt von seinen Gedichten, wie ja sogar du, mein nüchternes Dörtchen, von einigen. Da ich nun wußte, daß er seine geliebte Frau verloren, sprach ich meine Gefühle für ihn in einem Gedichte aus. Das fand seinen Weg in öffentliche Blätter, Bürger erwiderte es – schrieb mir – und nun bin ich seine Braut! – Aber – du siehst ja so bedenklich aus!«

»Ja, siehst du, Elise, ich meinte indes, wir Mädchen haben in aller Stille zu warten, bis ein Mann kommt und nach uns fragt, sei er ein Dichter oder nicht. Da scheint mir's nun eine verkehrte Welt ...«

»Wir verstehen uns nicht mehr,« sagte Elise beleidigt, »laß uns ins Pfarrhaus zurückgehen! Ich möchte von deinen Eltern noch Abschied nehmen.«

»Nein, sei nicht böse!« bat Dörtchen, gutmütig ihr die Hand bietend. »Gott weiß, wie von Herzen mich's freut, wenn du glücklich wirst! Es war mir nur so ungewöhnt; ich dachte bis jetzt gar nicht, daß ein Dichter auch zum Heiraten in der Welt [127] sei. Aber sag, kennst du denn gar nichts von ihm als seine Gedichte? Ist er ein frommer, ein guter Mann? Taugt er für dein lebhaftes Wesen? Er muß so viel älter sein.«

»Ein Dichter bleibt ewig jung!« rief die begeisterte Elise. »Sieh, Dörtchen, ich habe dir immer gesagt: ›Ich bin kein gewöhnliches Mädchen!‹ Auch mein Schicksal muß ein ungewöhnliches sein.«

»Gott gebe, daß es ein glückliches werde!« sagte Dörtchen leise und innig.

Die Mädchen brachen auf. Noch einmal sahen sie beide tief bewegt auf die schöne Herbstlandschaft, die ein spät gekommener Sonnenstrahl vergoldete, zum letztenmal beide zusammen, ehe ihre Lebensbahnen weit, weit auseinanderliefen.

»Wann werden wir uns wiedersehen?« fragte Elise im Hinabsteigen.

»Das weiß Gott!« erwiderte Dörtchen. »Wohl schwerlich in zehn Jahren, wenn ihr nicht reiselustiger seid als mein Schmied.«

»Und ob es noch so lange anstehe,« rief Elise, »einmal im Leben wollen wir uns doch wieder zusammenfinden am 10. Oktober!«

»Ja, ja,« sagte Dörtchen, »und kommt ihr zu lange nicht, so muß Schmied mich noch zu euch nach Göttingen führen, wenn anders so alltägliche Menschenkinder, die Schmied heißen und zum Schreiberstande gehören, in ein so geistreiches Haus kommen dürfen.«

Bald war die Heimat erreicht, und mit dem feierlichen Versprechen, sich einmal am 10. Oktober wiederzusehen, ob früh oder spät, trennten sich die Freundinnen.

Zwei Frauen

Der 10. Oktober war gar oft schon ins Land gekommen seit jenem Abschied der zwei Bräute. In dem gesegneten Herbst des Jahres 1810 traf er Dörtchen in dem Städtchen Marbach, das so freundlich am Neckar liegt; ihr Mann bekleidete dort eine angesehene Beamtenstelle.

Das Dörtchen war nun eine ehrbare Matrone, und doch [128] noch das alte lebendige Dörtchen von Rebenbach mit den hellen blauen Augen, und die blühenden Töchter und der hochaufgeschossene Sohn, deren glückliche Mutter sie war, hätten leicht für ihre jüngern Geschwister gelten können.

Dörtchen saß eben mit ihrer ganzen Familie in der behaglichen großen Wohnstube des alten Schlosses, das ihnen als Amtswohnung eingeräumt war. Die Weinlese war diesmal ungewöhnlich früh gewesen, und vom großen Vorplatz des Hauses, wo die Weinbütten aufgestellt waren, scholl ein verworrenes, doch fröhliches Getümmel herauf. Dieser Platz war immer, besonders aber zur Herbstzeit, der liebste Tummelplatz der Kinder. »Die Bütten kommen 'raus!« ist ein Losungswort zu unendlichem Jubel; da wird Verstecken, Visiten, Haschen gespielt, alles in und um die Bütten. Nun, wo sie mit Most gefüllt waren, ging das nicht mehr an; dafür schlichen aber genug schelmische Burschen herum, mit ausgehöhlten Holderstäben bewaffnet, mittels deren sie das süße Getränk aus den Bütten schlürften. Dazwischen tönte das Geläut der Schellenmänner (Tagelöhner, die den Wein, der im Ort eingekeltert wird, in die Keller tragen und bunte Bänder auf der Lederkappe und Schellenriemen an der Seite haben, um von weitem bemerkt zu werden und nicht ausweichen zu dürfen).

Es war eben das Plauderstündchen nach Tisch, das auch in Dörtchens geschäftiger Familie für ein trauliches Beisammensitzen freigegeben war, denn der Rat liebte das »Tischeln« ungemein. Der Papa las noch die Zeitung; Luise, die älteste Tochter, studierte die Verkaufsanzeigen in den Beilagen; die rotwangige Sophie, die zweite Tochter, hielt Anna, das Nesthäkchen, auf dem Schoß, um sie besser in den Hof sehen zu lassen; Gustav, der einzige Sohn des Hauses, der als Student in den Ferien daheim war, hatte soeben der Mutter mit einiger Verschämtheit eines seiner Erstlingsgedichte hingeschoben und beobachtete nun über ein Zeitungsblatt weg die Miene, mit der sie es lesen würde; denn der Mutter klares Urteil, aus dem ein so warmes Verständnis ihres jungen Dichters sprach, galt ihm über alles.

[129] »Ei, Papa,« rief Luise, »da ist ein neues Buch angezeigt, das muß schön sein; das könnten Sie uns wohl kaufen: ›Elisa, oder das Weib, wie es sein soll‹.«

»Oh, nicht wahr, Papa!« rief Sophie dazwischen, »denken Sie nur, wie wir dann so erstaunlich vorzüglich würden!«

»Will euch was sagen, Mädchen,« sprach der Vater gutgelaunt, »wenn ihr drei miteinander nur halb so brav und so gescheit werdet wie eure Mutter, so will ich zufrieden sein, und euer Mann kann's auch, ohne die Elisa.«

Dörtchen, der ein Lob aus ihres Mannes Munde ungewöhnt klang, da er sonst kein Freund von vielen Worten war, sah mit hellen Augen zu ihm hinüber und gab ihm freundlich die Hand. Indem fiel ihr Blick auf die Zeitung. »So, heut ist der zehnte,« sagte sie langsam, und Elise und die Herbsttage von Rebenbach standen mit einem Male lebendig vor ihrer Seele.

Sie hatte Elise nicht vergessen, aber seit lange nichts mehr von ihr gehört; auch mochte sie niemand nach ihr fragen, weil ihr's weh tat, nur harte Urteile über sie zu vernehmen. Das hatte sie wohl erfahren, daß Elisens Ehe kurz und höchst unglücklich gewesen; daß ihr Leichtsinn, ihre Vergnügungssucht, ihr schlechtes Haushalten ihren Mann nach zwei Jahren schon zur Scheidung genötigt hatten. Seither wußte sie gar nichts mehr über ihr Leben und Treiben, da auch Elisens Mutter tot war; heute nun mußte sie ihrer so lebhaft gedenken, als ob sie erst gestern Abschied von ihr genommen hätte.

Da kam die Magd eiligst hereingesprungen: »Ach, Frau Rat, eine ganz vornehme Frau ist in einem Einspänner angefahren; gewiß eine Gräfin, sie kommt schon die Stiege herauf!« – »Wird nicht so arg sein mit der Vornehmheit,« meinte Dörtchen. »Sophie, räume schnell vollends den Tisch ab, und du, Luise, bleib da, bis man sieht, ob sie gegessen hat! Wenn ich mit den Augen winke, so koche gleich eine Grießsuppe und Pfannkuchen.«

Noch ehe diese Anweisungen ganz zu Ende waren, schritt eine große, abgemagerte Gestalt in rotem Samtkleid und einem vergilbten, ehemals weißen Seidenhut mit ausgebreiteten [130] Armen auf Dörtchen zu, mit dem Ausrufe: »Dörtchen, so sehen wir uns wieder!« –

An diesem Empfang hätte Dörtchen nun freilich Elise erkannt, auch wenn das verfallene, welke Gesicht keine Spur der Jugendzüge mehr gezeigt hätte. Sie stellte nun Frau Elise Bürger, ihre Jugendfreundin, ihrer höchst neugierigen Familie vor und bat sie mit der alten Herzlichkeit, sich's bequem zu machen. Während Luise auf den besprochenen Wink eilte, für die Bewirtung zu sorgen, und Gustav, der noch im Schlafrock war, sich durch eine Hintertür entfernt hatte, hörte sie an, was die arme Freundin für gut fand ihr selbst von ihrer Geschichte zu erzählen.

Mit Schreck und tiefem Mitleid erfuhr sie am Ende ihrer traurigen Erlebnisse, daß Elise nun heimatlos als Schauspielerin und Deklamatorin im Lande herumziehe und daß sie beabsichtige, auch hier im Orte ein Deklamatorium zu geben.

Nun hatte zwar das Dörtchen neben ihrem gesetzten Hausfrauensinn [131] noch ein warmes und offenes Herz für alles wirklich Schöne, was Kunst oder Natur bot; aber – ein Deklamatorium in einer Wirtsstube zu geben, das kam ihr doch als eine tiefe Herabwürdigung vor für eine Frau ihres Alters, für ihre ehemalige Herzensfreundin. Nur ihre Gutmütigkeit hielt sie ab, ihr den Plan auszureden, und es kostete sie große Überwindung, zu versprechen, daß sie mit ihrer Familie teilnehmen wolle, was Elise doch sicher erwartete.

Während Elise lang und breit ihren traurigen Lebenslauf entwickelte, an dem natürlich – laut ihrer Darstellung – nur ihr ungewöhnlich schweres Schicksal die Schuld trug, sah sie mit heimlicher Wehmut sich um in der traulichen, freundlichen Heimat, die ihr Dörtchen sich gegründet hatte, deren ganzer Reichtum sich freilich erst allmählicher Beobachtung enthüllte. Dieser solide bürgerliche Wohlstand, der sich auch in den kleinsten Dingen kundgab; diese anspruchslose, genügsame Einfachheit und vernünftige Sparsamkeit im Innern und diese herzliche, zwanglose Freigebigkeit nach außen; die Liebe und Achtung des Gatten, die sich ohne Worte doch so deutlich aussprach; der frischblühende Kreis der Kinder, die, alle glücklich begabt an Geist und Körper, mit der ehrfurchtsvollsten Liebe auf die Mutter sahen – hier war alles an seiner rechten Stelle, nichts Gezwungenes noch Geziertes; keine starre ängstliche Ordnung, sondern eine fröhlich belebte. Wie mochte es Elisen sein, wenn sie in ihr verödetes Herz, auf ihr zweckloses Dasein blickte?

Die deklamatorische Abendunterhaltung fand statt. Elise trat im roten Samtkleid und silbergestickten Federbarett auf. Bei all den feierlichen wie bei den scherzhaften Gedichten, die sie vortrug, hätte Dörtchen nur bitterlich um sie weinen mögen. Die arme Elise dauerte sie viel zu sehr, als daß sie sich noch um sie geschämt hätte; doch war sie froh, als sie wieder daheim mit ihr war. Sie leuchtete Elisen in ihr Zimmer und blieb dort noch eine Weile bei ihr, da das arme Geschöpf lange nicht zur Ruhe kommen konnte. Sie standen beisammen am Fenster und sahen schweigend in die sternhelle Nacht; drüben auf der Höhe ließen Knaben noch vom Herbst übrig gebliebenes Feuerwerk [132] los; man sah eine Rakete aufsteigen und erlöschen. Mit schmerzlichem Zucken wandte Elise sich ab und sprach leise: »Du hast das beste Teil erwählt!«

Dörtchen bat Elise am andern Tage recht herzlich, auf längere Zeit bei ihr zu verweilen; sie hätte ihr so gern etwas Gutes getan, wenn sie gleich heimlich fürchtete, ihr Mann werde wenig Freude haben an dem poetischen Gaste, dessen gekünsteltes, gesteigertes Wesen ihm so gar zuwider war. Aber Elise selbst schien es fortzutreiben von diesem gastlichen Dach, aus dieser Heimat der Liebe und des Friedens, voll kräftigen, gesunden Lebens. Sie reiste ab nach einigen Tagen, nachdem Dörtchen in aller Stille den Komödienstaat in ihrem leichten Koffer mit einem Vorrat guten Weißzeugs vermehrt hatte. Und so schieden die Freundinnen auf Nimmerwiedersehen.


Auf dem Kirchhof des Landstädtchens Marbach ist Dörtchens Grab. Auf ihrem Leichenstein, und diesmal spricht ein Grabstein Wahrheit, steht, daß sie starb »als das Kleinod ihres Gatten, als der Schutzengel ihrer Kinder, als der Trost der Armen, als das rechte Bild eines guten Weibes mit frommem, demütigem Herzen und rastlos tätiger Hand«. Sie lebt noch im Andenken der Ihrigen, ein teures Vorbild für die nachwachsenden Geschlechter.

In Frankfurt am Main, in einer Ecke des alten Kirchhofs ist Elisens unbeweintes Grab, verlassen und vergessen. Sie hat in jener Stadt ihre letzten Lebenstage kümmerlich gefristet durch den Erwerb, den ein mitleidiger Buchhändler ihr durch kleine Aufträge zuwandte. Wo man ihrer noch gedenkt, nennt man sie den bösen Engel ihres Gatten, dessen letzte Lebenstage sie vergiftet habe. Und doch war ihr Herz nicht schlimm, war ihr Wille einst gut gewesen. Aber die fromme Demut hatte ihr gefehlt, die Treue im kleinen, der ergebene Sinn, der nichts will, als recht und mit Freudigkeit die Bahn gehen, die der Herr ihm vorgezeichnet hat.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wildermuth, Ottilie. Bilder aus einer bürgerlichen Familiengalerie. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A74B-9