Ernst von Wildenbruch
Der Meister von Tanagra

Eine Künstlergeschichte aus Alt-Hellas

[35] »Wir haben nicht mehr weit bis Tanagra, und der schönere Teil unseres Weges liegt vor uns,« sagte ein schwarzlockiger, schlankgebauter Mann, der sich am nördlichen Ausgange von Oropos, einem Städtchen, das hart auf der Grenze von Attika und Böotien lag, zu dem harrenden Gefährten auf den Reisewagen schwang.

Der Stachelstock flog auf die Pferde herab, und klappernd rollte das leichte Gefährt unter dem niedrig gewölbten Stadttore hinaus ins Freie.

Mit einer Leidenschaftlichkeit, die seiner Gebärde etwas von der Bewegung eines Panthers verlieh, schnellte der Mann vom Wagensitze empor und trank mit halb geöffneten Lippen den Strom erquickender Morgenluft, der in breiter, duftender Welle den beiden Reisenden entgegenschlug. Der Wind war frisch und feucht, denn er kam von dem Euböischen Meere herüber, das zur Rechten des Weges, in langen Wogen an das Ufer spülte; und mit dem Hauche des Meeres vermischte sich der berauschende Duft blühender Olivenbäume, die rechts und links die Straße umsäumten und nach Norden zu, soweit der Blick reichte, die Hügel des böotischen Landes mit dichter Waldung bekleideten.

»Dort blicke hin, Mnemarchos,« rief der Dunkellockige, indem er nach rechts über das Meer hinzeigte, wo hinter den verschwimmenden Küsten Euböas die ersten Strahlen der Sonne gleich den Zacken eines ungeheuren Diadems emporflammten, »sieh, wie Helios sein geliebtes Attika begrüßt! Und wie die Wellen heranschäumen, einem schreitenden Heere gleich, Mann für Mann mit silbernem Helm und Schild; und dort zur Linken, Parnes und Kithäron, die ihre kahlen Bergeshäupter in die Lüfte recken, und vor uns das silbern strömende Band des Asopos – siehe das alles, atme, trinke, das ist Freiheit, das ist Schönheit, und das alles zusammen ist Hellas!«

In den dunklen Augen des Mannes brannte ein verzehrendes Feuer; dichter flogen die Streiche auf die Pferde herab, so daß sie schließlich in gestrecktem Galopp dahinsausten, und mit rauhen, abgebrochenen Zurufen feuerte er sie zu immer größerer Eile an. Endlich fiel sein Blick auf den Gefährten, und indem er in ein schallendes Gelächter ausbrach, zwang er die Rosse nun zu ruhigerer Gangart.

Den Mantel bis unter das Kinn zusammengezogen, den Ausdruck besorgten Ärgers auf dem Gesichte, saß Mnemarchos stumm und blaß da. »Ich Unvorsichtiger,« sagte er, »der ich [35] vergessen konnte, daß mit Praxiteles dem Bildhauer reisen, sich einem Rasenden bedingungslos in die Hände geben heißt. Es ist ausgemacht, daß ihr Künstler Freunde der Götter und Feinde der Menschen seid; eure Sinne sind heiß und eure Herzen kalt.«

»Du könntest recht haben,« sagte Praxiteles, indem ein eigentümliches Zucken über sein Gesicht dahinflog.

»Ich weiß, daß ich recht habe,« versetzte der andere. »Noch immer aber weiß ich nicht, zu welchem Zwecke ich eigentlich diese halsbrecherische Fahrt mit dir unternehmen muß.«

»Meine Augen sind durstig geworden,« rief der Bildhauer, »und verlangen nach neuen Gestalten.«

»Seine Augen sind wieder einmal durstig,« erwiderte achselzuckend Mnemarchos, »wann werden die sich satt trinken?«

»Es ist dir bekannt,« sagte Praxiteles, »daß die Sikyonier dem Zeus in Olympia ein Standbild des Hermes gelobt und daß sie mich beauftragt haben –«

Jetzt kam die Reihe des Lachens an Mnemarchos.

»Und darum,« rief er, »eine Reise über Hals und Kopf nach Tanagra! Darum muß ich abscheulichen sauren Landwein trinken, ungesalzenen Ziegenkäse in mich hineinstopfen, damit Praxiteles unter glattköpfigen, dickbäuchigen böotischen Bauern ein Modell zu seinem olympischen Hermes suche.«

»Vielleicht,« entgegnete der andere, »führt mich ein richtiger Instinkt. Die Tanagräer, mußt du wissen, feiern heute das Fest des Hermes, welcher vorzeiten die Stadt Tanagra von einer schweren Seuche dadurch befreit haben soll, daß er einen Widder um die Mauern derselben herumtrug.«

»Hatte Hermes nichts Vernünftigeres zu tun, als die einfältige Stadt zu retten,« murrte der andere.

»Die Bürger sammeln sich vor den Toren, der schönste Jüngling der Stadt übernimmt die Rolle des Gottes und trägt auf seinen Schultern den Widder um die Mauern, worauf das Tier in feierlichem Opfer geschlachtet wird.«

»Ich fange an zu begreifen,« antwortete Mnemarch, »o Bildhauer meiner Seele, Praxiteles, deine Freundschaft ist der Ruhm meines Daseins, aber die Götter wissen, dieser Ruhm muß teuer erkauft werden.«

Bei diesen Worten rollte der Wagen aus einem dichten Olivenhaine in die offene Landschaft hinaus, und »Tanagra!« riefen die beiden Reisenden wie aus einem Munde.

[36] Heiß und grell lag die Morgensonne auf den weißen Mauern der Stadt, welche den Gipfel eines nicht unbeträchtlichen, gerade vor den beiden Athenern aufsteigenden Berges krönte, an dessen Abhängen die Fahrstraße sich emporschlängelte. Das Fest schien bereits im Gange zu sein, denn auf den obersten Abhängen des Berges lagerten in dichten Scharen buntgekleidete Menschen, welche dem farblosen Kaltgesteine ein heiteres Aussehen verliehen. Der Stachelstock mußte wieder seine Pflicht tun, und so rasch als es der steile Weg erlaubte, klommen die Pferde den weinbergumgrünten Pfad empor. Sie hatten kaum die oberste Fläche erreicht, als mit Brausen, Jauchzen und Klingen der festliche Zug geradeswegs auf sie zugeschritten kam. Eröffnet wurde er von Flötenbläsern, deren eintönig feierliche Weise den Rhythmus für die im Zuge sich Bewegenden abgab; dann folgten Festordner, welche das herandrängende Volk abhielten, und nachdem diese vorüber waren, erhob sich ein allgemeines tobendes Freudengeschrei: »Heil dem Hermes von Tanagra, Heil dem schönen Myrtolaos!« Zugleich wälzte sich die ganze Masse des zuschauenden Volkes auf denjenigen zu, dem dieser Zuruf galt, und umringt, beinahe getragen von einem Gewölk von Menschen kam ein blühend schöner, hoch und schlank gewachsener Jüngling des Wegs herangeschritten. Das leichte Gewand, das auf der linken Schulter durch eine Agraffe gehalten wurde, ließ den rechten Arm frei, mit dem er einen schneeweißen, an Vorder- und Hinterbeinen gefesselten Widder auf der Schulter trug, während die linke Hand das Attribut des Gottes, den Hermesstab, regierte. Leicht und frei bewegte er sich unter der mächtigen Last des Tieres, das Haupt war zurückgeneigt, so daß die dunklen, von einer Goldschnur über der Stirn zusammengehaltenen Locken in den Nacken herabflossen, und indem er so, nicht rechts noch links blickend, sondern die Augen in träumerischer Selbstvergessenheit in den tiefblauen Himmel richtend, bei den Fremden vorüberschritt, gewährte er diesen ein ebenso neues, wie anmutiges Bild. Kaum daß sie jedoch Zeit gehabt, den Eindruck der schnell vorüberrauschenden Erscheinung in sich aufzunehmen, so verriet ihnen das Nachdrängen des Volkes, daß das Fest noch nicht zu Ende sei. Mit einem schnellen Rucke der Zügel warf Praxiteles die Pferde in der Richtung hinter dem Abgehenden herum und indem er aus der Masse der Fußgänger herauslenkte, bog er in raschem Trabe um die nächste Ecke der vorspringenden Stadtmauer. [37] Auf dem weiten freien Platze, der sich hier vor seinen Augen auftat, sollte offenbar der Haupt- und Schlußakt der Festlichkeit vor sich gehen. Die Mitte des Platzes nahm ein breiter Felsblock ein, zu dem einige flache Stufen emporführten, und rings um denselben herum waren steinerne Sitze angebracht, auf denen Greise und angesehene Männer der Stadt in beschaulicher Ruhe saßen. Der Platz war für gewöhnlich den Volksversammlungen Tanagras bestimmt, heute jedoch mußte er anderen Zwecken dienen, denn an Stelle eines Redners, der mit kühnen Augen die Versammlung zu seinen Füßen beherrscht und sie durch den Klang seiner Rede bewegt hätte, stand heute mit schamhaft gesenktem Haupte eine zarte jugendliche Mädchengestalt auf dem Felsen. Sie war nach der kleidsamen Art der thebanischen Frauen gekleidet; von den entblößten Schultern floß ein weißes, langes, nach hinten in einer Art von Schleppe endigendes Gewand; das dunkelbraune Haar war über dem Scheitel zu einem zierlichen Knoten emporgewunden, und aus Sandalen von feinem roten Leder blickten die Füße nackt hervor. In den Händen trug sie eine goldene mit Erdbeeren gefüllte Schale.

»Was bedeutet das, und wer ist dieses Weib?« fragte Mnemarch einen der nahestehenden Tanagräer.

»Du scheinst fremd zu sein,« erwiderte dieser, »sonst würdest du wissen, daß Hermes, nachdem er den Widder um die Mauern der Stadt getragen, von den Frauen Tanagras mit Erdbeeren erquickt wurde. Zur Erinnerung daran wird jährlich die schönste von unseren Jungfrauen ausersehen, den Hermes-Jüngling mit der heiligen Frucht zu speisen.«

»Und wer ist diese schönste von euren Jungfrauen?«

»Hellanodike, die Tochter des reichen Myronides, den du dort drüben sitzen siehst.«

Hermes Myrtolaos war unterdessen bis an den Fuß der Felsenstufen gelangt; er warf den Widder, der sogleich von den Händen der Festordner ergriffen und zur Opferung getragen wurde, von den Schultern und bestieg die erste Stufe. Das Mädchen wandte die Augen auf ihn, und eine tiefe Röte überfloß ihr liebliches Gesicht und breitete sich in purpurner Welle über Hals und Nacken aus, als der Jüngling vollends die Stufen erstieg und die Hände nach der Schale in ihren Händen ausstreckte.

[38] »Näher heran!« rief Praxiteles seinem Genossen zu, welcher die Zügel der Pferde an sich genommen hatte, da sie dem in tiefes Anschauen versunkenen Künstler entglitten waren.

»Wir können mit dem Wagen nicht weiter,« sagte Mnemarch, »das Volk steht zu dicht.«

»So bleibe beim Wagen,« gab der andere zur Antwort, und mit einem jähen Sprunge war er mitten unter der Menge, durch die er sich mit Armen und Ellenbogen hindurchkämpfte, bis daß er am Fuße des Felsblockes zu stehen kam.

Dort oben waren sie nun dicht beieinander, die beiden schönen jugendlichen Gestalten, und wenn zwei Götter zur Erde herabgestiegen wären, so hätten sie nicht anders aussehen können als diese zwei. Von der Anstrengung des Weges war das Antlitz des Jünglings dunkel erglüht, und die schwarzen feurigen Augen hingen in tiefer verzehrender Traumseligkeit an den lieblichen Zügen des Mädchens, das sich über ihn herabbeugte. Ein glückseliges Lächeln umspielte dabei ihre Lippen und ihr Antlitz zeigte den Ausdruck eines freudig befriedigten Stolzes. Leise bewegten sich ihre Lippen, und der athenische Bildhauer, der mit weit vorgebeugtem Oberleibe und brennenden Augen jeden Zug und jeden Laut des entzückenden Gemäldes einsog, vernahm, wie sie flüsternd sagte:

»Hast du gefunden, Myrtolaos?« Und ebenso von ihm zu ihr zurück:

»Noch nicht, Hellanodike.«

Noch einen Augenblick standen die beiden, des Volkes um sie her nicht achtend, ganz nur für sich und ineinander versunken, dann erhoben sich aus der Menge, die ungeduldig zu werden begann, Zurufe.

»Speise den Hermes, Hellanodike!« hieß es von hier, und »Iß, Hermes!« von dort. Die Angerufenen fuhren aus ihren Träumen auf; Myrtolaos griff in die Schale und führte ein paar Erdbeeren zum Munde. Dann nahm er das Gefäß aus Hellanodikes Händen und stieg die Stufen herab, um den Inhalt desselben an die Zunächststehenden zu verteilen; denn der Gebrauch des Festes schrieb dies vor, weil der Glaube den Früchten eine besondere heilsame Wirkung beilegte. Einer der ersten, zu denen er hierbei gelangte, war der Athener. Die Augen träumend zur Erde gesenkt, reichte er ihm die Schale, als er fühlte, daß diese festgehalten wurde, und zugleich vernahm, [39] wie eine Stimme »Ich grüße dich, Hermes« flüsterte. Er blickte auf, und in demselben Augenblick durchzuckte ihn ein unbeschreibliches Gefühl; er empfand sich unter dem Banne einer fremden, gewaltigen Persönlichkeit, durchlodert von dem Feuer der strahlenden Augen, die wie zwei durstige Sonnen sein ganzes Wesen zu zerschmelzen und in sich aufzunehmen schienen. Einen Augenblick starrte der schöne Tanagräer den wunderbaren Fremdling sprachlos an, dann öffneten sich seine Lippen, als wollten sie einen Laut, ein Wort hervorbringen, doch bevor dies geschehen konnte, hatte ihn die Welle des umdrängenden Volkes erfaßt und hinweggerissen. Praxiteles schaute ihm nach. Noch einmal tauchte Myrtolaos aus dem Schwarme auf, noch einmal wandte er das Haupt, und noch einmal begegneten sich die Augen beider; dann schlug das Gewühl über und hinter ihm zusammen. Als der Bildhauer sich nach Hellanodike umwandte, hatte diese ihren Standort bereits verlassen – das Fest des Hermes war beendet. –

Im Hause des reichen Myronides zu Tanagra sollte sich, wie es schien, ein häusliches Fest an das öffentliche anschließen. Sklaven waren damit beschäftigt, an den Säulen und Giebeln des Vorhofes Kränze und Gewinde zu befestigen, und der Lärm, den ihr Gelächter und Geschwätz dabei verursachte, war so groß, daß sie es gänzlich überhörten, wie ein Wagen an dem Tore vorfuhr und eine ungeduldige Stimme nach Myronides, dem Herrn des Hauses, fragte. Es waren die Reisenden aus Athen, deren Ankunft nunmehr dem im Innern verweilenden Gebieter mitgeteilt wurde. Als dieser, ein stattlicher Mann mit stark ergrautem Haupt- und Barthaare, auf der Schwelle erschien, traten ihm die Athener mit vornehm höflichem Anstande entgegen und Praxiteles überreichte ihm die Hälfte eines durchgefeilten Goldringes.

»Sei gegrüßt, Myronides,« sagte er dazu, »dies sendet dir Dexippos aus Athen.« Mit schnellem, scharfem Blicke prüfte Myronides das dargebotene Wahrzeichen, dann sagte er:

»Und wen begrüße ich in Euch, Ihr Fremden?«

»Dies hier,« sprach der Bildhauer, »ist Mnemarchos aus Athen, und ich bin Praxiteles.«

»Praxiteles, der Bildhauer?«

»Der Bildhauer.«

»So sei Dexippos gesegnet,« rief Myronides, indem er beide Hände des Atheners ergriff, »daß er meinem Hause den Ruhm verleiht, den Stern von Attika beherbergen zu dürfen. [40] Tretet ein, werte Gäste, und laßt Euch verraten, daß Ihr zu guter Stunde kommt. Ich erwarte einige Freunde meines Hauses zum Mittagsmahle, damit sie mit mir den Tag begehen, der unserer Stadt Freude und meinem Hause Ehre gebracht hat.«

»Da er Hellanodike, dein liebliches Kind, zur Königin des heutigen Hermesfestes machte?« fragte Mnemarchos.

»Wißt Ihr es schon?« erwiderte der Hausherr mit zufriedenem Lächeln; »kommt, ein Bad nach ermüdender Fahrt wird Euch wohltun, nach demselben findet Ihr uns im Speisesaale.«

Der Raum, dahin die Ankömmlinge geführt wurden, nachdem sie Hitze und Ermüdung der Reise abgespült hatten, war festlich geschmückt, die Gäste waren versammelt und teilweise bereits auf den Polstern, die den Speisetisch umgaben, gelagert. Als jedoch der Name Praxiteles genannt wurde, fuhr es wie ein Schlag durch alle Anwesenden, es entstand ein Aufspringen und alles umdrängte den berühmten Mann. Aus einer entfernten Ecke des Saales aber richteten sich zwei dunkle Augen mit großem staunendem Blicke auf den, der diesen Namen trug. Praxiteles fühlte sich von diesem Blicke getroffen, sah auf und erkannte Myrtolaos. Mitten durch die übrigen Gäste ging er auf den Jüngling zu, faßte den Errötenden an beiden Händen und sagte:

»Hermes von Tanagra, der du einst wohnen wirst bei dem olympischen Zeus, ich grüße dich zum zweiten Male.«

Die Gäste sahen sich bei diesen seltsamen Worten fragend an; bevor sie aber noch Zeit gehabt, ihre Gedanken flüsternd auszutauschen, erschienen auf einen Wink des Hausherrn Sklaven, die an silbernen Stäben Kränze von weißen und roten Rosen trugen, die sie den Gästen auf das Haupt setzten. Eben näherte sich einer von ihnen dem athenischen Künstler, als Myrtolaos, der bis dahin mit seiner Schüchternheit gekämpft hatte, plötzlich herantrat und, nachdem er Praxiteles einen Augenblick wie prüfend mit den Augen gemustert hatte, einen Kranz von purpurroten voll aufgeblühten Rosen wählte, mit dem er zu jenem herankam.

»Gesegnet seien meine Hände,« sprach er mit bebender Stimme und so leise, als wollte er seine Worte vor den Ohren der übrigen hüten, »daß sie dich kränzen dürfen, großer, herrlicher Praxiteles.« Dabei drückte er ihm den Kranz auf die [41] Locken, und der Athener fühlte, wie die Hände des Jünglings auf seinem Haupte zitterten. Er wollte etwas erwidern, indem er jedoch in die großen, dunklen Augen blickte, die sich voller Bewunderung zu ihm erhoben und dennoch so ganz im eigenen Reiche ihrer Träume zu leben schienen, verstummte er und ließ den Jüngling schweigend gewähren. Myrtolaos trat bescheiden zurück, und als man sich an der Tafel niederließ, nahm er an deren unterstem Ende seinen Platz.

Die Mahlzeit war reichlich und währte lange. Endlich ging sie zu Ende, und in großen Mischkrügen ward der Wein zum Nachtisch aufgetragen. Myrtolaos erhob sich und verließ den Saal, die Männer sich und ihren Gesprächen überlassend.

Sobald er hinausgegangen, wandte sich Praxiteles an den Hausherrn.

»Sage mir,« so begann er, »du überreicher Myronides, sind diese beiden jungen Rosen, Hellanodike und Myrtolaos, in deinem Garten gewachsen? Sind sie beide deine Kinder?«

»Ich betrachte sie beide als solche,« versetzte der Tanagräer, »wenngleich nur Hellanodike mein leibliches Kind ist.«

»Und wer und woher ist dieser Jüngling, den ich beim Hermesfest bewundert und in deinem Hause wiedergefunden habe?«

»Es sind nun zehn Jahre her,« sagte Myronides, »als in unserer Stadt, von Norden kommend, ein Greis erschien, in dessen Gesellschaft ein auffallend schöner Knabe sich befand.«

Der Alte, von langer, mühseliger Wanderung erschöpft, brach zusammen, und da es gerade vor meiner Schwelle war, so nahm ich ihn in mein Haus und pflegte ihn in seinen letzten Stunden. Als er keine Rettung mehr vom Tode sah, ließ er mich an sein Lager rufen, der Knabe saß neben ihm, und mit unendlicher Zärtlichkeit streichelte die welke Hand des Sterbenden die dunklen Locken des jungen Hauptes.

»Geh hinaus,« sagte er zu ihm, »Myrtolaos, mein Liebling, bis daß ich dich wieder rufen lasse« – er hat ihn nicht wieder rufen lassen.

»Ich sterbe,« wandte er sich dann zu mir, »und kann dir nichts zum Danke für deine Wohltat hinterlassen, da ich wie ein Bettler in dein Haus gekommen bin; nur ein Kleinod besitze ich, und ich lasse es gern in deinen Händen, da ich dich für einen edlen Mann halte: es ist jener Knabe.« Glaube mir – es ist etwas Wunderbares mit ihm. Ich bin aus Lokris, er aber stammt aus [42] Athen, von wo seine Eltern zu der Zeit, als die dreißig Tyrannen daselbst regierten, mit ihm entflohen waren. Seinem Vater gab ich Arbeit auf meinem Felde, und sie wohnten in einer Hütte, die auf dem Felde lag; es war eine elende Hütte; aber ich war arm und hatte nichts Besseres. Der Vater starb, und das Weib blieb wohnen, zur Arbeit zu schwach, mir eine Last. Ich bekümmerte mich wenig um sie. – Da kam mir in einer Nacht ein wunderbarer Traum: Ich sah das Innere jener Hütte, und mitten darin stand, von Staub bedeckt, ein erhabenes Marmorbild. Die Augen des Bildwerks waren auf mich gerichtet, seine Lippen öffneten sich und mit feierlichem, klagendem Tone sprach es zu mir:

»So lässest du den Schatz verkommen, den dein Haus besitzt?«

Ich erwachte, und sobald der Tag gekommen war, begab ich mich in die Hütte, die sie bewohnten. Ich fand die Frau tot auf ihrem Lager ausgestreckt und ihr zur Seite stand der Sohn. Als ich eintrat, wandte der Knabe das Haupt und sah mich an – und in jener Stunde beschloß ich, ihn nie mehr zu verlassen. – Du hast gehört, fuhr der Greis fort, daß in alten Zeiten die Götter des Olymps zur Erde herabgestiegen sein sollen; du hältst es für Sage; und so tat auch ich. In jenem Augenblicke aber sah ich, daß es geschehen könne, denn vor mir stand leiblich und wahrhaftig einer der Bewohner des Olymp. Nicht heiter, nicht fröhlich, wie wir uns die Bewohner der ewigen Heiterkeit denken; ein träumender, junger Gott, und sein Antlitz verriet das Leiden ob seiner Verbannung in die Qualen des Menschenlebens.

»Myrtolaos,« sagte ich, und mir war, als berührte ich ein Heiligtum, indem ich die Hand auf sein junges Haupt legte, »willst du bei mir bleiben und daß ich dein Vater sei?«

Er hob die Augen zu mir auf, dann neigte er das Haupt, und ohne Zudringlichkeit und ohne Scheu ergriff er meine rechte Hand. Ich schlug meinen Mantel um ihn, denn es war Winter, und die Winter in den lokrischen Bergen, weißt du, sind kalt, und führte ihn, indem ich ihn an mich drückte, über die Straße in mein Haus, wo mir nicht Weib noch Kinder lebten. »Sieh dieses Haus,« sagte ich zu ihm, da wir eintraten, »du wirst es bewohnen, solange du willst, und du wirst wissen, daß es dir gehört.« Darauf schlang er die Arme um meinen Hals, und lautlos flossen zwei große Tränen über die edlen, vom Schmerze [43] nicht verzerrten Züge des schönen Angesichts herab. Ich bereitete ihm ein Lager, denn er kämpfte mit der Müdigkeit, und bettete ihn so weich ich vermochte und hüllte ihn warm in schützende Decken. Dann, nachdem er eingeschlummert, stand ich lange Zeit vor ihm und staunte über das Menschenschicksal, das diese edle Blume vom heimatlichen Boden losgerissen hatte, damit sie in meiner fernen, bescheidenen Hütte neue Wurzeln schlüge. »Fünf Jahre,« fuhr der Alte fort, »haben wir nun zusammengelebt, und in dieser Zeit war keine Stunde, in der er mich betrübt hätte. Er half mir in allen Hantierungen des alltäglichen Lebens, ging mir zur Hand im Hause und auf dem Felde und erfreute mich durch alle jene unscheinbaren und doch so wohltuenden Liebesbezeugungen, mit denen ein edles Menschenherz uns zu beschenken weiß. Nur einen Kummer bereitete er mir, er ward nicht fröhlich, und die Schwermut wollte aus seinen Augen nicht weichen. Auch bemerkte ich wohl, daß er ein zwiefaches Leben führte, denn immer, wenn die Arbeit des Tages vollbracht war, trieb es ihn in die Einsamkeit hinaus, und er war dann stundenlang ganz mit sich allein. Ich störte ihn nicht, aber einstmals folgte ich ihm und beobachtete ihn, ohne daß er es ahnte. Ich fand ihn auf einer vorspringenden Klippe des Gebirges, die einen weiten Umblick nach Süden gewährte. Dort saß er, anfänglich in tiefer Träumerei; dann erhob er sich und aus einer nahebei gelegenen Tongrube sah ich, wie er sich mit den Händen Ton brach, mit dem er zu seinem Lieblingsplätzchen zurückkehrte.« – Praxiteles, der dem Erzähler mit tiefem Ernst gefolgt war, lauschte bei diesen Worten auf.

»Er brach sich Ton?« fragte er.

»So erzählte mir der Alte, und mit dem Ton begann er zu spielen, er drückte und knetete ihn, und ich bemerkte, daß seine Augen während dieser Tätigkeit ihren träumerischen Ausdruck verloren und den der gespanntesten Aufmerksamkeit annahmen; von Zeit zu Zeit ließ er die Hände ruhen, blickte hinaus, als suche er sich die Linien des Vorbildes zusammenzustellen, das er nachahmen wollte, und dann kehrte er zu seiner Tätigkeit zurück. Er betrachtete das Gebilde seiner Hände, schüttelte wie unwillig das Haupt und warf alles über die Klippe hinweg in die Tiefe. Ich hütete mich, ihm zu verraten, daß er beobachtet worden; doch als er in das Haus zurückgekehrt und die Abendmahlzeit eingenommen war, sagte ich sanft: »Nicht wahr, Myrtolaos, du bist [44] unglücklich, daß du hier bei mir wohnen mußt?« Er sah mich groß und ernst an. »Nein,« sprach er, »nicht unglücklich, aber ich sehne mich.« »Du sehnst dich? Und wonach?« »Ich kann es dir nicht sagen,« erwiderte er, »denn ich weiß es nicht zu beschreiben, aber manchmal zieht es durch meine Seele, dann glaube ich es zu wissen, und dann ist es mir, als hätte ich einstmals vor langer Zeit einen Traum gehabt von wunderbaren und wundervollen Dingen. Männer stehen um mich her und Frauen, schön wie ich sie hier niemals gesehen, doch es sind, glaube ich, keine wirklichen Menschen, denn sie stehen immer stumm, immer regungslos« – »Du meinst Bildwerke,« unterbrach ich ihn, »wie sie die Künstler gestalten?« Sein Auge leuchtete heiß auf und er rückte dicht zu mir heran: »Sage mir, mein Vater, gibt es Menschen, die es vermögen?« »Gewiß,« sagte ich, »die großen Bildhauer in Athen sind dafür berühmt.« »O,« rief er, »so hat mich meine Ahnung doch nicht getäuscht.« – »Möchtest du diese Kunst erlernen?« fragte ich ihn. Er bebte von innerer Erregung, und so leise, als vertraute er mir ein heiliges Geheimnis an, sagte er: »Ja, mein Vater, ich glaube, ich möchte es gern. Denn wenn jener Traum kommt, siehst du, dann stellen sich die Gestalten um mich her, ich sehe sie ganz nahe, ganz deutlich, und dann erfaßt es mich – ich weiß nicht, was es ist – es legt sich mir schwer auf die Brust, bis daß ich versuche, sie nachzubilden.« – »In geknetetem Ton?« unterbrach ich ihn forschend. – »Ja, ja,« rief er, sich selbst ganz vergessend, »weißt du es auch? Hast du es auch versucht? Ach, nicht wahr, wie das seltsam ist und herrlich, wenn man den Ton so in den Händen fühlt, wenn man fühlt, daß man daraus Menschen und Tiere und die ganze Welt bilden könnte, wenn man die Kunst nur verstände – o mein Vater« – und er umarmte plötzlich meine Knie – »lehre mich diese Kunst!« – Ich mußte lächeln, fuhr der Alte fort, obschon mir sehr ernst zumute war. »Diese Kunst,« sagte ich zu ihm, »vermag ich dich nicht zu lehren.« Er sah mich erstaunt an und mit einem Ausdrucke, als begriffe er nicht, warum ich ihm den Wunsch seines Herzens nicht erfüllen wolle.« –

»Er soll ihm erfüllt werden,« rief plötzlich Praxiteles, der mit schwer atmender Brust den Worten des Erzählers gefolgt war, »und er ist da, der sie ihn lehren wird.« Vom Sitze aufspringend ging er im Saale auf und nieder, sein großes Auge [45] leuchtete wie ein glühender Brand, und das Herz schlug ihm schwer an die Brust.

»Ruf' mir den Knaben herein, Myronides,« wandte er sich an diesen, »ich will ihm sagen, daß Praxiteles selbst es sein wird, der ihn die ersehnte, die heilige Kunst lehrt!« Der Anblick des leidenschaftlichen Mannes, seine stürmischen Worte wirkten zündend auf die übrigen Gäste. Alle sprangen auf, drängten sich um Myronides und den athenischen Künstler, und es entstand ein summendes Geräusch von glückwünschenden Stimmen. Nur ein einziger hielt sich fern und beobachtete mit scharfen Blicken die Entwicklung der Dinge. Es war ein jüngerer Mann von wenig einnehmendem Gesichte, der sich während der ganzen Mahlzeit schweigsam und verschlossen gezeigt hatte.

»Laß mich zu Ende erzählen,« sagte lächelnd Myronides. Ungeduldig aber fiel ihm Praxiteles in das Wort.

»Was ist noch zu erzählen – Zukunft ist alles übrige. Der Greis, von dem du uns erzählt, war mit ihm auf der Reise nach Athen, nicht wahr? Und unterwegs überfiel ihn der Tod?«

»Du hast es erraten,« erwiderte der Hausherr.

»Heil seinem Andenken,« rief der Bildhauer, »daß er die Stimme der Götter verstand, und Heil dir, Myronides, daß du dem Knaben ein gastlich Dach gewährtest – aber von nun an,« und die Stimme des Künstlers ward langsam und feierlich, »ist er nicht mehr der deine, er hat dir gehört, Myronides, von nun an gehört er den Göttern und mir.« Es lag etwas so königlich Beherrschendes in der Gebärde, welche die Worte begleitete, diese Worte selbst, der Ausbruch einer gewaltigen Natur, trugen so das Gepräge siegreicher, innerer Berechtigung, daß sie überwältigend auf alle wirken mußten, die sie vernahmen. Dennoch stand Myronides einen Augenblick in tiefen Gedanken versunken. Nun trat der schweigsame Gast an den Wirt heran, und indem er ihn einige Schritte von den übrigen hinwegführte, sagte er leise und eindringlich:

»Was überlegst du? Ist auf diese Weise nicht allen am besten geholfen?« Myronides sah ihm prüfend in das Gesicht.

»Dir, Phayllas,« sagte er ebenso leise, »freilich wohl.«

»Und dir nicht?« fragte dieser scharf zurück, »und Hellanodike, deiner Tochter, nicht?« Ohne zu antworten, senkte Myronides das Haupt, dann trat er auf Praxiteles zu.

[46] »Du forderst viel von mir,« sagte er, und in seiner Stimme war ein leises Zittern, »ich lasse ihn nicht leicht ziehen, er ist mir an das Herz gewachsen und hat Wurzeln geschlagen in diesem Hause, und wenn du ihn herausreißest, wird Erde an den Wurzeln bleiben, und mehr als einer wird es schmerzlich spüren. Denn wenn er auch nicht selber einer der Göttlichen ist, so ist er doch einer ihrer Lieblinge, und sie gaben ihm das Geschenk, das sie ihren Lieblingen geben, den unsichtbaren Zauber, Beliebtheit bei den Menschen. – Laß,« – sagte er, als Praxiteles ihn unterbrechen wollte, »ich weiß, was du mir sagen willst, und fühle, daß ich seinem Schicksal nicht in den Weg treten darf. Aber vergib dem älteren Manne seine Frage, Praxiteles, wirst du ihn glücklich machen?«

»Ja,« rief der Athener mit feierlich erhobener Hand, »ist er das, was ich glaube, daß er ist, so werde ich ihn glückselig machen.«

»So sprichst du,« entgegnete der andere, »weil du Praxiteles, der von den Göttern begnadigte Künstler bist, aber was weißt du von ihm? Einige Worte eines phantasierenden Greises, sind sie dir Gewähr, daß er das besitzt, was einzig das Leben des Künstlers erträglich macht, wahrhafte Begabung?« Praxiteles sah ihm mit tiefer Rührung in die Augen.

»Du fragst mich zuviel, Myronides,« sagte er, »kann ich dir mehr sagen, als dies: ich glaube an ihn? Ich glaube an mein Gefühl, das mich ergriff, als ich die dunklen, sehnsüchtigen Augen zum ersten Male sah, ich glaube an ihn, seit ich die Geschichte seiner Jugend kenne.«

»Wohlan,« entgegnete Myronides, »so will ich ihn zu dir führen, und er selbst soll über sein Schicksal entscheiden.«

Mit seinen übrigen Gästen verließ Myronides den Saal, Praxiteles blieb allein zurück. In tiefen Gedanken durchmaß er den Raum, während Sklaven beim Scheine der Fackeln die Überreste der Mahlzeit samt den Tafeln abzuräumen begannen.

»Hört,« sagte Praxiteles, als der letzte von ihnen den Saal verlassen wollte, »habt Ihr Ton in Eurem Hause?«

»Ton?«

»Ja, Töpferton.« Es fand sich, daß zufällig ein Hause davon im Hofe lag, und Praxiteles befahl dem Sklaven eine Schüssel voll zu bringen. Erstaunt folgte dieser dem Befehle. Sobald das Gewünschte erschienen war, winkte der Bildhauer [47] den Sklaven hinaus, dann warf er das Oberkleid ab, und mit leidenschaftlicher Hast griff er mit beiden Händen in die weiche Masse hinein. Er knetete und formte, seine Augen gingen über seine Hände hinweg, als wollten sie den Gegenstand festhalten, nach dem er arbeitete, und mit erstaunlicher Geschwindigkeit entstand unter seinen Händen ein menschliches Haupt. Ganz in sein Werk versunken, mit zuckenden Lippen und brennenden Augen schaffte er unablässig an seinem Werke fort, so daß es bald soweit gediehen war, daß er den in Lebensgröße geformten Kopf, dem er einen Ansatz des Halses angefügt hatte, aufstellen konnte. In diesem Augenblicke kam Myronides mit Myrtolaos und Mnemarch zurück; hinter ihnen trat Phayllas ein. Überrascht blieben sie stehen, denn das erste, was sich ihren Blicken bot, war, vom flackernden Lichte der Fackeln beleuchtet, das Werk des Praxiteles. – Myrtolaos aber stieß einen lauten Schrei aus, stürzte bis dicht an die Tafel, auf welcher der Bildhauer sein Werk aufgestellt hatte, und blieb dort lautlos und mit wogender Brust stehen.

Trotz der Schnelligkeit, mit der er entstanden, war der Kopf in der Tat von wunderbar ergreifender Schönheit. In sanfter Neigung beugte der Hermes, den das Werk darstellte, das Haupt vornüber, und die Züge des Antlitzes erinnerten, in himmlischer Verklärung, an die Züge des Hermes von Tanagra.

Praxiteles stand hinter der Tafel und betrachtete mit scharfen, prüfenden Blicken den Jüngling, dem er Zeit ließ, sich von seinem Erstaunen zu erholen. Dann wandte er sich lachend zu den anderen.

»Ich habe nur in Eurer Abwesenheit ein wenig die Zeit vertrieben,« sagte er, und er machte eine Bewegung, als wollte er sein Gebilde wieder zerdrücken. In dem Augenblick stürzte Myrtolaos auf ihn zu und sagte mit flehender Stimme: »Nicht zertrümmern, – o, nicht vernichten!« In den Augen des Atheners flammte es heiß und seltsam auf.

»Myrtolaos,« sagte er mit tiefer Stimme, »möchtest du solche Dinge selbst schaffen können?« Der Jüngling sah ihn an, unfähig eines Wortes.

»Willst du es lernen, Myrtolaos? Willst du es von Praxiteles, dem Athenienser, lernen?«

»Lehre mich deine Kunst,« rief der Jüngling, und wie von einer übermächtigen Gewalt ergriffen, sank er vor dem großen [48] Meister in die Knie, »lehre mich deine Kunst, herrlicher, großer Praxiteles.«

»Wenn du mein Schüler sein willst,« sagte Praxiteles, »so mußt du mir nach Athen folgen – bist du bereit?«

»Ich bin bereit, laß mich dir folgen, wohin du gehst.«

»Du mußt dies Haus, Myronides, deinen Vater und alles, was sonst dir lieb gewesen in diesem Hause, verlassen, willst du?«

»Ich will,« sagte Myrtolaos und sah den Bildhauer mit leuchtenden Augen an.

»Wohlan,« rief Praxiteles, indem er die Hand auf des Jünglings Haupt legte, »so nehme ich von dir Besitz, Myrtolaos, und weihe dich dem Dienste der Götter, die deine junge Brust unverstanden und unbegriffen bewohnt haben; ich will deine Augen öffnen, damit du deine Götter erkennst.«

Myronides hatte mit keinem Worte den feierlichen Auftritt unterbrochen. Als er nun alles entschieden sah, trat er auf Myrtolaos zu, breitete schweigend die Arme aus, und der Jüngling warf sich an die Brust des edlen Mannes.

»Er ist nun dein,« wandte sich Myronides an Praxiteles, »nimm ihn mit dir, wann es dir gefällt.«

»Dann also morgen,« sagte der Bildhauer.


* * *


Es war spät geworden; die Insassen des Hauses begaben sich zur Ruhe, auch Praxiteles suchte sein Gemach auf.

Mnemarchos aber trat, ehe er dem Beispiele der anderen folgte, in den Garten, der sich weitläufig hinter dem Hause ausbreitete. Die Nacht war warm, ein leichter Wind jedoch, der von dem fernen Meere aus Südosten herüberwehte, kühlte die schwüle Luft und trug den Duft der Olivenbäume aus der Landschaft daher. Von dem hochgelegenen Garten hatte das Auge einen weiten Umblick in die Ferne; der beinahe volle Mond stand in der lautlosen Luft und ließ die nackten Häupter der Gebirge glänzend hervortreten, während er die Olivenhaine zu ihren Füßen mit dämmernden Schatten umwob. Nicht das schöne, schweigende Landschaftsbild aber war es, was die Gedanken des Mannes erfüllte, der mit heißen Schläfen den Garten durchwandelte, ein anderes, lebendigeres Bildnis trat vor seine Seele, und indem es sich tiefer und tiefer in seine Phantasie drängte, [49] machte es sein Blut in heißer Gärung wallen. Er dachte an Hellanodike. Seit dem Augenblicke, da er sie heute beim Hermesfeste gesehen, verließ ihn das Bild nicht mehr, und ein wildes Begehren nach dem schönen, jungen, blühenden Weibe wuchs in seinen Sinnen empor.

Da, als er einen dunklen Laubgang beinahe bis zum Ende durchschritten hatte, vernahm er ein Geräusch von Stimmen, und vor sich, vom hellen Mondschein beleuchtet, sah er zwei jugendliche Gestalten, die sich mit umschlungenen Armen hielten; es waren Myrtolaos und die Tochter des Myronides. Der Athener drängte sich in das Dunkel des Gebüsches.

»So hast du nun gefunden, was du suchtest, Myrtolaos?« sagte das Mädchen mit ernster, beinahe trauriger Stimme zu ihrem Begleiter.

»Ja, Hellanodike,« gab der Jüngling zur Antwort, »meine Ahnung, daß ich an diesem Tage die Erfüllung meines Lebens finden würde, hat mich nicht getäuscht; ich habe gefunden.« Hellanodike blickte stumm in die dämmernde Landschaft hinaus.

»Siehe, wie der Kithäron im weißen Mondlicht schimmert,« sagte sie, »das ist die Pforte Attikas – und dahinter, weit, weit dahinter liegt Athen und dort wirst du nun sein – und ich hier.« Ein Schluchzen quoll in ihrem Busen empor, und indem sie in Tränen ausbrach, schlang sie die Arme um den Nacken des geliebten Jünglings, und die Lippen beider fanden sich im langen, schmerzenssüßen Kusse.

Mnemarch drückte die Stirn an den Baum, der ihn verbarg. Er hörte nicht das rührende Stammeln des Herzens, das in seinem Liebeskummer brach, er war nur heißer entflammter Sinn, und er sah nur, wie das leichte Gewand von den erhobenen Armen zurückfiel, daß sie leuchtend im Mondlichte ihre weiche Fülle enthüllten, sah nur, wie das losgebundene Haar in den herrlichen Nacken hinabfloß, sein Begehren wurde Verlangen, und er begann über Pläne zu sinnen, wie er sein Verlangen sättigen könnte.

»Myrtolaos,« rief das Mädchen mit erstickter, leidenschaftlicher Stimme, »du, dessen Wünsche meine Wünsche waren, bei dessen Trauer ich trauerte, muß es sein, daß du mich verläßt? Mußt du gehen?«

»Hellanodike,« erwiderte er zitternd und drückte sie heiß und wild an sich, »warum haben es mir die Götter auferlegt, daß [50] ich die Menschen, die ich liebe und die mich lieben, unglücklich machen muß durch diesen dunkeln Drang, der mich beseelt? Hellanodike, ich kann nicht bleiben, ich muß mit ihm nach Athen gehen, ich muß!«

»Ich weiß wohl,« gab sie klagend zurück, »du kannst nicht leben wie die andern Menschen allhier, sonst weißt du, hätte der Vater dir seine Tochter nicht versagt; aber du hast es mir gesagt, die engen Mauern Tanagras ersticken dich, darum mußt du hinaus in das große strahlende Athen – dort wirst du unter deinen Göttern und Göttinnen leben und schaffen und über ihnen derer vergessen, die deiner hier gedenken. Und Hellanodike wird nun das Weib des Phayllas werden – o Phayllas,« rief sie schauernd und barg ihr Antlitz an der Brust des Geliebten. – In stummer Qual stand Myrtolaos neben ihr, er vermochte ihr nichts zu sagen, denn in seiner eigenen Seele dämmerte, vielleicht zum ersten Male, ein Bewußtsein auf, welche Fülle von Schönheit, Liebe und sicherem Lebensglück er dahingab für ein dunkles in Zukunft gehülltes Leben – und dennoch, während er das süße lebendige Herz an seiner Brust klopfen fühlte, war es ihm, als schwebte aus Attika ein feierlicher Zug erhabener Gestalten daher, als winkten sie mit den ernsten Häuptern und flüsterten ihm zu: Du gehörst zu uns; und er schwieg, und vermochte nicht zu sagen: Hellanodike, ich will bleiben.

In diesem Augenblicke knisterte es im Gebüsch, und zu den zweien, die erschrocken auffuhren, trat ein dritter. Es war Mnemarchos.

»Erschreckt nicht,« sagte er zu ihnen, »es ist ein Freund, der Euch naht; erkennt Ihr mich?«

»Mnemarchos, der Athener,« sagte leise Myrtolaos, »der Freund des Praxiteles.«

»Und Euer Freund,« wiederholte jener, »der Euch zu sagen kommt, daß Ihr unnötig klagt, da Ihr Euer beider Wünsche erreichen und dennoch ungetrennt bleiben sollt.«

Hellanodike sah ihn staunend mit den großen unschuldigen Augen an:

»Wie meinst du das, fremder Mann?« sagte sie zögernd.

»Ich meine,« erwiderte Mnemarch, »daß Phayllas, den du nicht liebst, dein Gatte nicht werden soll, daß du mit uns hinweggehen sollst von hier, hinüber nach Athen.« Sie zuckte auf; »aber mein Vater,« sagte sie schüchtern.

[51] »Das, was ich dir vorschlage,« sagte der Athener, »wird deinem Vater in erster Zeit freilich einigen Schmerz bereiten, denn da er seine Einwilligung nicht geben würde, muß es ohne sein Wissen geschehen. Aber er ist ein edler Mann und ein Freund der Kunst; und hierauf baue ich meinen Plan: Wenn Myrtolaos ein Künstler und Bildhauer wird, wie wir es hoffen – und aus der Werkstatt des Praxiteles ist noch keiner als Stümper hervorgegangen –, wenn ihm sein erstes großes Werk gelungen, dann wird er mit dir vor deinen Vater treten, ihm sein Werk zu Füßen legen und sprechen: ich tat unrecht an dir, Myronides, aber ich tat es, weil ich nicht lassen konnte von meiner Kunst und nicht von Hellanodike, deinem Kinde, und hier ist der Preis, mit dem ich deine Vergebung und dein Herz mir zurückerkaufen will; und Myronides wird ihm und dir verzeihen.« Die Worte waren mit solcher überzeugenden Beredsamkeit gesprochen, daß sich die jungen Leute tief davon ergriffen fühlten.

»O Hellanodike,« flüsterte Myrtolaos, indem er sie sanft an sich drückte, »hättest du dazu den Mut?«

»Sie wird den Mut haben,« nahm Mnemarch statt ihrer das Wort, »wenn sie wahrhaft liebt und wenn sie in Wahrheit will, daß du ein Künstler werdest; denn nur in der Nähe der Geliebten gehen dem Künstler die Sinne zum großen lebendigen Kunstwerk auf – oder glaubt Ihr, daß Praxiteles und die andern großen Meister ohne die belebende Nähe ihrer Geliebten zu schaffen vermocht hätten, was sie schufen?« Unwillkürlich klang ein zynischer Laut durch diese letzten Worte, aber die beiden keuschen jungen Seelen hörten und verstanden ihn nicht.

»Welchen Freund haben uns die Götter zu guter Stunde gesandt!« rief der Jüngling; »o Hellanodike, Geliebte, sein Plan ist schön und verheißungsvoll, sage, daß du willst?« Sie schauerte und bebte und von einem unbestimmten Gefühl getrieben, drängte sie sich fester in seine Arme.

»Aber mein Vater,« sagte sie leise, »wird mich suchen und finden?« Mnemarch schien einen Augenblick zu überlegen.

»Auch hierfür,« sagte er, »ist gesorgt. Ich weiß einen Ort, wo er dich nicht suchen wird; wohne bei mir, in meinem Hause.«

»In deinem Hause?« und sie trat unwillkürlich einen Schritt zurück.

[52] »Du mußt nicht erschrecken,« versetzte er mit einschmeichelnder Stimme; »ich wohne allein mit meiner Mutter, du wirst in ihrer Obhut sein.«

»Laß deine Sorgen fahren,« rief Myrtolaos, der zu neuem Leben erwacht schien; »hörst du nicht, daß dieser Mann uns wirklich Rat erteilt wie ein Freund? Sage, daß du mit uns gehen willst?« Ein letzter stummer Kampf schien ihre Seele zu bewegen, als sie stumm, mit überströmenden Augen zum Hause ihres Vaters zurückschaute, dann sprach sie mit klarer, ruhiger Stimme:

»Ja, Myrtolaos, ich will.« Und indem sie sich zu Mnemarchos wandte, fügte sie leise hinzu: »Und so begebe ich mich in deinen und deiner Mutter Schutz – bis daß wir zum Vater zurückkehren, nicht wahr, Geliebter?«

»Bis daß wir zu ihm zurückkehren!« rief dieser frohlockend und küßte ihr die Tränen aus den Augen. –

Es ward nun beschlossen, Praxiteles vorläufig nichts von dem Plane mitzuteilen, und zugleich wurde ein Tag in der nächsten Zeit festgesetzt, an welchem Hellanodike sich in den am Fuße des Stadtberges gelegenen Olivenhain begeben sollte; in dem Haine würde Mnemarch mit einem Wagen ihrer warten und sie nach Athen entführen.

»O komm du auch,« sagte sie zu Myrtolaos, als sie diesen letzten Vorschlag hörte, und es klang wie Angst aus ihren Worten. Mnemarch biß sich auf die Lippen.

»Er soll mich begleiten,« sagte er rasch, »und du sollst mit uns beiden zusammen die Reise machen.«

So trennte man sich, und Mnemarch suchte sein Gemach auf.

Als Hellanodike und Myrtolaos schüchtern die Schwelle des Hauses überschritten, in dem kein Laut sich regte, sank das Mädchen in plötzlicher Bewegung in die Knie.

»Komm,« sagte sie und zog den Geliebten zu sich hernieder; »es war uns so lange ein gütiges Haus – wir wollen zu den Göttern beten, daß es dereinst uns wieder aufnehme in seine Arme.« –


* * *


Wie goldne Schmetterlinge kamen die ersten Strahlen der Frühsonne in die Werkstatt des Praxiteles zu Athen hereingehüpft. Sie huschten umher, verteilten sich, fanden sich wieder [53] zusammen und umflatterten, als getrauten sie sich nicht heran, die Blumen dieses Gartens, Bildwerke, Statuen und Büsten, die ausgeführt oder im Werden begriffen, an den Wänden entlang, zwischen den Säulen verstreut in unendlicher Fülle standen. Endlich faßte ein kleiner vorwitziger Sonnenstrahl sich ein Herz und setzte sich mitten in das krause Lockengewirr auf dem Haupte eines träumerisch holdseligen jungen Faun, ein zweiter, schon etwas begehrlicherer Sohn der Sonne, hing sich naschend an die blühenden Lippen der schönen Aphrodite daneben, ein dritter warf sich der Göttin an den Busen und sog sich mit glühendem Kusse zwischen ihren quellenden Brüsten fest. Und die holde Göttin fühlte in ihrem marmornen Leibe die süße Glut der küssenden Lippen; sie lächelte, und an ihrem Lächeln entzündeten sich die steinernen Angesichter rings umher, eine göttliche Heiterkeit wallte und wogte durch den kunstgeschmückten Raum, es sah aus, als höben sich die Glieder, als reckten sich die Arme, und die Geschöpfe des Praxiteles begrüßten ihre und ihres Erzeugers himmlische Mutter, die strahlende junge Sonne von Athen.

Mitten unter allen diesen Herrlichkeiten stand Myrtolaos, ganz in staunendem Anschauen verloren. Rätselhafte Gefühle mischten sich in seiner Brust. Die Traumgebilde seiner jungen Tage hatten Körper und Gestalt gewonnen; aber das, was er um sich her erblickte, war so überwältigend, erschien ihm als der Ausdruck einer Natur, die so übermächtig über seiner eigenen stand, daß er sie wie eine fremdartige empfand und daß ein Gefühl lähmender Bewunderung vorläufig jede andere Empfindung erdrückte. Ganz besonders war dies der Fall gegenüber einem Werke, das, wie es schien, soeben erst unter dem Meißel hervorgegangen war und das sich von den übrigen etwas abgesondert unweit der Stelle erhob, wo einige Stufen aus der Werkstatt in die Wohnräume des Künstlers hinaufführten. Es stellte Aphrodite dar, die sich anschickte in das Bad hinabzusteigen, und was noch kein Bildhauer gewagt hatte, hier war es vollbracht: die Göttin war jeglicher Gewandung entledigt, und der weibliche Körper bot sich in unverhüllter Nacktheit dem Auge dar. Welche Ströme lodernder Sinnlichkeit mußten die Brust durchrauschen, die diesen im Licht der Schönheit gebadeten Leib zu erwecken vermocht; und zugleich, welche allmächtige Selbstbeherrschung mußte das Haupt regieren, das von dieser Schönheit jeden Hauch niederer Lüsternheit fern zu halten gewußt hatte. [54] Unwillkürlich schüttelte er das Haupt – und es war ihm, als richte sich eine unüberwindliche Schranke vor ihm auf, als blickte er in ein Land hinein, das er nie betreten würde.

Da plötzlich erweckte ihn ein leises Geräusch; ihm gerade vor die Füße fiel eine voll aufgeblühte dunkelrote Rose, die von hinten her über sein Haupt geworfen sein mußte, und während er sich erstaunt danach bückte, erscholl hinter seinem Rücken ein silberhelles schelmisches Lachen. Er wandte sich und blickte in die schönen Augen eines reizenden Weibes, welches Arm in Arm mit Praxiteles auf den Stufen stand, die zu des Bildhauers Gemächern führten.

Die beiden mußten den Träumer schon eine Zeitlang beobachtet haben, denn nur so ließ sich der schalkhafte Mutwille erklären, mit dem die fremde Schöne den errötenden Myrtolaos ziemlich keck und prüfend musterte. Aber auch das Gesicht des Praxiteles zeigte einen anderen Ausdruck als früher: der feierliche Ernst, wie ihn Myrtolaos im Hause des Myronides an ihm gesehen, war dahin, und aus den dunklen Augen sprühte heißer, lachender Frohsinn.

Mit unnachahmlicher Grazie schlang das Weib den schönen Arm um den Nacken des Bildhauers und indem sie sich an seine Brust schmiegte, sagte sie:

»O Praxiteles, du Vielgepriesener, jeder Tag beginnt mit einer Huldigung für dich; und wenige, glaube ich, werden so innig empfunden sein, wie die stumme, verschwiegene, die wir hier belauschten. Komm her, du schöner Knabe,« wandte sie sich zu Myrtolaos und streckte ihm, der sich schüchtern näherte, die Linke entgegen. Sobald er ihre Hand berührt hatte, hielt sie dieselbe fest, beugte sich von den Stufen herab und drückte einen herzhaften Kuß auf die Lippen des schönen Tanagräers. Dieser zeigte ein so erstauntes Gesicht, daß Praxiteles und seine Freundin unwillkürlich in helles Gelächter ausbrachen.

»Fürchte dich nicht,« sagte das Weib; »es ist keine Schande, von Phryne, der Aphrodite von Knidos, geküßt zu werden.« Myrtolaos wandte sich nach der Aphrodite um und dann mit einem leisen Rufe der Überraschung zurück: das Urbild der schönen Göttin stand leibhaftig vor ihm.

»Erkennst du sie?« rief Praxiteles mit freudig triumphierendem Lächeln, »und ist sie würdig, daß die Bewohner von Knidos, bei denen sie fortan wohnen wird, zu ihr aufblicken und sprechen: [55] sie stammt aus dem Olymp?« Phryne verschloß ihm den Mund, indem sie die üppigen Lippen auf die seinigen drückte.

»Du unheiliger Prometheus,« rief sie, »der du nicht nur Menschen, der du Götter aus so unheiligen Stoffen zu schaffen vermagst –«

»Nein, sprich nicht so,« rief Myrtolaos plötzlich, »nenne diesen Leib, der Vorbild zu solchem Bildwerk geworden, nicht unheilig!« Seine Augen leuchteten, und wie zu einem höheren Wesen blickte er zu Praxiteles empor.

»Wie ernst er redet und wie ernst er blickt,« sagte Phryne. »Das Weib, das er dereinst seine Geliebte nennt, wird anders sein müssen, als deine Phryne, Praxiteles, denn er wird sie anbeten und von ihr heischen, daß sie anbetungswürdig sei. Oder wie« – unterbrach sie sich, als sie Myrtolaos heiß erröten sah – »sollte der junge Schmetterling schon die Blume gefunden haben, in deren Kelch er sich fing? Heraus mit der Sprache, du Selbstverräter, hier steht Praxiteles, dein Meister, vor dem du keine Geheimnisse haben darfst.« Myrtolaos wandte sich ab; ein unerklärliches Gefühl machte es ihm unmöglich, Hellanodikes Namen vor Phrynes Ohren zu nennen.

In diesem Augenblicke teilte sich der Vorhang, der die Werkstatt schloß, und Mnemarch trat grüßend ein. Er hatte, sobald er die Reisekleidung abgelegt, die Gewohnheiten seines atheniensischen Lebens wieder angenommen und erschien in ziemlich stutzerhaftem Aufzuge. Die übertrieben jugendliche Tracht ließ freilich die Verwelktheit seines Gesichts um so schärfer hervortreten.

»Laß mich deinen Fuß küssen, göttliche Phryne,« sagte er, »seitdem Praxiteles ihn auf den Olymp gestellt hat, ist es ein frommes Werk.«

»Da ich weiß, wie sauer dir das Bücken wird, will ich dich beim Worte nehmen,« sagte lachend Phryne – »küsse mir den Fuß.« Sie schob den Saum des Gewandes ein wenig zurück und zeigte den klassisch geformten nackten Fuß. Mnemarch beugte sich und drückte flüchtig die Lippen darauf.

»Nun, Myrtolaos,« wandte er sich an diesen; »der Tag ist gekommen und Hellanodike erwartet uns; bist du bereit?«

»Was bedeutet das?« sagte Praxiteles, aufmerksam werdend, während Myrtolaos den Sprecher mit einem vorwurfsvollen Blicke traf.

»Ei, bei den Göttern,« sagte leichthin Mnemarchos, »du brauchst nicht zu erröten, Tanagräer, daß du Künstlerblut in den [56] Adern hast, und Praxiteles wird nicht zürnen, wenn er hört, daß du sie beredet hast, dir nach Athen zu folgen, damit du ein würdiger Schüler deines Meisters werdest.«

»Und wußte Myronides hiervon?« fragte Praxiteles ernst.

»Er wird es erfahren,« rief jetzt Myrtolaos; »wenn ich vor ihn hintrete mit dem ersten Werke, das ich unter deinen Augen gefertigt, Praxiteles.«

»So habt Ihr Euch ohne sein Vorwissen beredet?« sagte der Bildhauer. »Eure Liebe ist also sehr mächtig und tief?«

»Hört ihn an,« rief lachend Phryne dazwischen. »Praxiteles setzt sich auf den Philosophen-Stuhl. O, du gehörst nicht dahin, aber mich, das verlange ich, sollst du abbilden als Pythia, auf dem prophetischen Dreifuß sitzend, denn ich habe recht prophezeit, als ich diesem da in das Gesicht sah.« Ihr Scherz fand aber diesmal kein Echo, denn Praxiteles blieb sinnend und ernst.

»Hat sie Befreundete in Athen?« wandte er sich an Myrtolaos, »wo und bei wem wird sie wohnen?«

»Bei deinem Freunde, bei Mnemarchos,« erwiderte schüchtern der Jüngling, »der ihr freundlich sein Haus zum Wohnen angeboten hat.« Praxiteles zuckte unwillkürlich auf, und eine Falte legte sich zwischen seine Augen. Es schien, als wollte er etwas sagen; Mnemarch hatte sich in scheinbarer Gleichgültigkeit abgewandt und machte sich an einem Satyr zu schaffen, der seine ganze Aufmerksamkeit zu fesseln schien; Praxiteles blieb stumm. In seltsamer Erregung ging er in der Werkstatt auf und nieder, dann trat er zu Mnemarch, und beide unterhielten sich eifrig und leise. Unter Mnemarchs eindringlichen Worten verlor sich allmählich der düstere Zug in Praxiteles' Gesicht, und endlich trat er, lächelnd wie vorher, auf Myrtolaos zu.

»Du hast deine neue Laufbahn,« sagte er, »mit einem kecken Streiche begonnen; und mich soll der Zorn des Myronides nicht treffen, da ich von deinem Vorhaben nichts wußte – indessen, wenn sie aus freien Stücken dir zu folgen beschloß, so will ich nicht hindernd zwischen Euch treten; zeige nun, daß du ein Künstler bist, denn an dem edlen Hengste liebt man, was man an dem gemeinen Rosse bestraft.«

»Gut gesprochen,« rief Phryne, »und recht gehandelt, Tanagräer! Bringe diese Spange von Phrynes Arm Hellanodike, deiner Geliebten, sie soll ihr ein Einlaßzeichen sein, wenn sie anklopft an den Toren, wo die Götter wohnen.«

[57] »In Athen wohnen sie,« rief Myrtolaos, und beim Anblicke des herrlichen Weibes, das eine breite Goldspange vom Oberarm gelöst hatte und sie in seine erhobenen Hände gleiten ließ, überkam ihn ein Gefühl von Lebensfreudigkeit, wie er es nie zuvor geahnt hatte. Wie ein Blitz schlug es in seine Seele, und in dem heißen Feuer, das sein ganzes Wesen bis in das Innerste durchströmte, war es ihm, als gingen ihm jetzt erst die Augen auf für die Werke des Meisters, dem er sich gelobt hatte.

»Gebt mir Kraft, Ihr Götter,« rief er, die Arme erhebend, »laßt diese Glut, die mich jetzt durchlodert, stark bleiben in mir, dann, Praxiteles, ringe ich dereinst mit dir selbst.«

»Komm, du Schwärmer,« sagte Mnemarch; und wie im Rausche befangen ging Myrtolaos mit ihm hinaus.

Zwei Tage später setzte vor dem Hause Mnemarchs ein Reisewagen seine Insassen ab, den Hausherrn, Myrtolaos und eine dritte, die mit bangem, klopfendem Herzen die fremde Schwelle überschritt, Hellanodike.

Bittre Stunden waren es gewesen, als sie, mit dem Bewußtsein der Täuschung im Herzen, sich wie zu harmlosem Spaziergange ankleidete; die Tränen, die sie aus ihren Augen fernhalten mußte, hatten ihr fast das Herz abgestoßen, als sie die Schwelle des Vaterhauses verließ und nun, zum letzten Male vielleicht, den altgewohnten Pfad am Berge hinabwandelte; aber ihr Herz blieb mutig in seinem Leiden; sie hatte versprochen zu kommen, und sie kam.

In dem Olivenhaine am Fuße des Stadtberges wartete, der Verabredung gemäß, der Wagen; Mnemarch, der sie von fern hatte kommen sehen, eilte ihr entgegen. Ein Schauer überlief sie, als sie ihn gewahrte, sie lehnte schweigend die dargebotene Hand ab, und ihr pochendes Herz begann erst ruhiger zu werden, als sie Myrtolaos erblickte, der beim Wagen geblieben war und die Pferde hielt.

In ihrem langen, bis zu den Füßen niederwallenden Kleid, das sich dem lieblichen Wuchse in weichen Falten anschmiegte, den Kopf mit einem flachen Hute, der das Gesicht weit beschattete, bedeckt, so kam sie langsam zwischen den Bäumen heran. Dem Jüngling war es, als sähe er sie zum ersten Male, und in der Tat sah er sie zum ersten Male neben einer andern, denn unsichtbar trat ihm Phrynes Bild neben Hellanodike. – Wie schön beide, und wie ganz verschieden!

Es war ein schweigendes Wiedersehen; denn Myrtolaos erkannte an den tränenverschleierten Augen, daß sie noch zu tief [58] im Kampf begriffen war, um sprechen zu können; zudem war Vorsicht und Schweigen geboten. Mnemarch ergriff die Zügel, und hastig als gälte es, einen Raub in Sicherheit zu bringen, trieb er die Rosse zu geschwindestem Laufe an.

Die Fahrt ging schnell, aber stumm vonstatten. Was sollte sie auch sprechen, da die rollenden Räder laut genug sagten, daß eine Meile nach der anderen sich zwischen sie und zwischen den schob, der heute abend in Schmerzen ihrer warten würde, Myronides, ihren Vater.

Endlich war man in Athen, und die lärmende Menge des Volkes auf den Gassen, die Pracht der öffentlichen Gebäude, die Fülle nie gesehener Herrlichkeit, die sich ihren staunenden Augen überall darbot, wirkten überwältigend auf die Tochter des stillen Tanagra. Sie schmiegte sich an Myrtolaos.

»Ich ängstige mich,« sagte sie leise, »ich glaubte, Athen sei eine andere Stadt als die unsere; aber es ist eine andere Welt.«

Das Haus, in welches Mnemarchos seinen schönen Gast einführte, war geräumig und deutete auf den Reichtum des Besitzers. Sobald sie eingetreten waren, kam ihnen aus dem Inneren desselben ein altes Weib entgegen, das mit schmeichelnder Geschäftigkeit Hellanodikes Hände ergriff, sie an das Herz drückte und sich eifrig nach dem Ergehen der »süßen Taube« erkundigte, wie sie Hellanodike in aufdringlicher Zärtlichkeit betitelte.

»Nun, Mutter,« sagte Mnemarch laut, »ist alles besorgt, was ich befahl? Hast du die Frauengemächer für unsere holde Besucherin wohl eingerichtet und geschmückt?« Bei dem Worte »Mutter« zuckte eine widriges Lächeln über die Züge des alten Gesichts, um ebenso rasch vor dem drohenden Blicke Mnemarchs zu verschwinden.

»Alles besorgt,« sagte sie, »so wie es dem süßen Täubchen gefallen wird; es wird ihr behagen, Mnemarchos, und sie wird sagen, daß die alte Timoessa weiß und versteht, was die süßen jungen Herzen sich wünschen.« Sie kicherte, und Hellanodike entzog unwillkürlich ihre Hände den knochigen Fingern, welche dieselben wie die Krallen einer Eule umspannt hielten. War ihr Mnemarchos wenig angenehm gewesen, so erschien ihr dessen Mutter unheimlich.

»Die Nacht bricht herein,« sagte Mnemarchos, »und Hellanodike wird der Ruhe bedürfen; wir wollen sie der Sorgfalt meiner Mutter überlassen und morgen fragen, wie sie die erste [59] Nacht in Athen verbracht hat.« Mit diesen Worten wollte er Myrtolaos mit sich hinausziehen; Hellanodike aber hielt diesen an der Hand fest.

»Bleibe noch,« sagte sie, und ihr Blick war angstvoll auf ihn gerichtet.

»Er wird bleiben, solange du es wünschest,« versetzte Mnemarchos, »nur bedenke, daß meine Mutter eine strenge Wächterin ist.« Er winkte der Alten und verließ mit ihr den Raum.

»Habe acht,« sagte er draußen zu ihr, »daß er nicht zu lange bleibt und beobachte sie unterdessen genau; du wirst mir jedes Wort wiederholen, das sie gesprochen.«

Sie rieb sich die Hände.

»Tust du doch, als wäre ich ein unerfahrenes Püppchen und wüßte nichts von den Winkeln und Winkelchen deines Hauses, wo Platz für ein Paar aufmerksame Ohren ist.«

»Und übrigens,« sagte er unwirsch, »halte dein Gesicht besser im Zaum! Du lachtest vorhin, als ich dich Mutter nannte.«

»Man ist die Ehre noch nicht gewöhnt,« gab sie häßlich kichernd zur Antwort.

Sobald Hellanodike sich allein mit dem Geliebten sah, verließ sie ihre lang bewahrte Kraft, und sie brach in einen Strom von Tränen aus.

»Es ist nicht gut in diesem Hause,« rief sie, »und es bringt uns kein Heil, daß ich darin wohne! In den Gesichtern dieser Menschen, in der Luft hier um mich her ist etwas, das mir ein Grauen einflößt, vor dem ich mich nicht zu retten vermag.« Sie hatte die Arme um seinen Hals geschlungen und sah ihn an wie eine Gazelle, die von Panthern verfolgt wird.

»Das ist die Angst der Neuheit,« erwiderte Myrtolaos beschwichtigend, »sind diese Leute nicht freundlich und wohlwollend zu dir? Du wirst dich hier zurecht finden, Hellanodike, wie ich mich gefunden habe.« Sie blickte ihm fragend in die Augen. »Hast du dich hier zurecht gefunden, Myrtolaos?«

»Ja,« rief er, und vor seiner Seele erschien Phrynes lachender Mund, »und damit du siehst, daß man dich hier freundlich erwartet, nimm dies,« und er reichte ihr Phrynes goldene Armspange.

»Von wem kommt das?« fragte sie erstaunt.

»Von Phryne, der Freundin des Praxiteles.«

[60] Sie legte die Spange um den Arm.

»Sie ist zu weit,« sagte sie mit traurigem Lächeln, »und paßt nicht für mich.«

Es war so, wie sie sagte; der Abstand zwischen den zarten Formen des jungfräulichen Mädchens und den entwickelten des vollerblühten Weibes war zu groß. –

»So bewahre sie als Geschenk,« sagte Myrtolaos, »denn dazu ward sie mir gegeben.«

Sie hielt den goldenen Zierat nachdenklich in den Händen. »Die Freundin des Praxiteles?« fragte sie, »wie verstehst du das, Myrtolaos?«

Er wußte keine rechte Antwort und schwieg.

»Sind sie Mann und Frau?«

»Nein,« gab er kurz zur Antwort.

»Aber sie werden es künftig werden?«

»Ich weiß nicht,« sagte er, »aber ich glaube nicht.«

Sie sah ihn schweigend und erstaunt an.

»Die Freundinnen der Künstler,« sagte er errötend, »sind durch Geistesband mit ihren Freunden verknüpft; sie nehmen teil an ihrem Schaffen, sie begeistern ihre Gedanken und bereichern ihre Augen, die nach Schönheit verlangen.«

Sie lächelte.

»Schön müssen sie also sein, die Frauen, von denen du sprichst?«

Er umfaßte ihren schlanken Leib, zog sie an sich und küßte sie.

»Und bist du nicht schön, Hellanodike?« rief er. Ihre Wange lag an der seinen und ihre Lippen waren dicht an seinem Ohre.

»Myrtolaos,« flüsterte sie, und es war, als fürchte sie sich vor ihm, als sei in dem Kusse, den er auf ihre Lippen gedrückt, eine fremdartige Glut gewesen, »ich möchte deine Freundin nicht sein.«

Er trat zurück. »So möchtest du nicht, daß ich ein Künstler werde, den man rühmt in Griechenland?«

Sie sah ihn mit stummem Vorwurfe an, und die ganze Glut seiner Liebe kam über ihn.

»Nicht meine Freundin sollst du sein,« stammelte er, »meine Geliebte bist du und mein Weib sollst du werden.«

Das alte süße, kindliche Lächeln kehrte auf ihr Antlitz zurück, und sie ließ es gern geschehen, daß er sie, Abschied nehmend, noch [61] einmal an das Herz drückte und auf die Augen küßte. Dann verließ er sie. Im nämlichen Augenblick erschien Timoessa, um sie in die für sie bestimmten Frauengemächer zu führen.

Diese lagen um einen kleinen viereckigen Hof herum, der zum Garten gemacht war und in dessen Mitte eine aus künstlichen Felsen hervorsprudelnde Quelle ihr gleichmäßig melodisches Geplätscher hören ließ. Ein offener, von bunt bemalten Säulen getragener Gang lief im Viereck herum und bildete den Vorflur zu den Zimmern, die durch leichte Binsenmatten gegen den Hof, von dem sie Luft und Licht empfingen, verschlossen werden konnten. Zur warmen Jahreszeit aber, die jetzt herrschte, standen sie offen, und aus einem derselben floß ein sanft gedämpftes Licht, das von einer Ampel ausging, die von der Decke des Gemachs herniederhing. An der Schwelle des Zimmers stand ein junges, schlankes Mädchen, das mit großen, neugierigen Augen der Kommenden wartete.

»Auf, Chlenusa,« rief ihr die Alte zu, »hier ist deine neue Gebieterin; pflege sie wohl, denn deine Pflicht wird es sein, daß es ihr wohlgefalle in diesem Hause. Hast du das Lager bereitet?«

Das Mädchen wies stumm in das Zimmer. Beim Scheine der Ampel sah man, daß es mit allem ausgestattet war, was der Luxus damaliger Zeit zu ersinnen vermochte; in der Mitte des Raumes, mit weißen Linnen und leichten Decken bedeckt, stand das Lager bereitete.

Timoessa zog sich zurück, und Hellanodike setzte sich auf das Bett, indem sie träumerisch in den dunklen Garten hinausblickte und den süßen Duft atmete, der von dort hereinzog.

Mit heißen, schwarzen Augen blickte Chlenusa, die am Türpfosten lehnte, zu ihr hinüber.

»Soll ich dir ein Lied singen?« fragte sie, ohne ihre Stellung zu verändern; »ich weiß deren viele und schöne.« Hellanodike wandte die Augen auf sie. »Oder soll ich dir in der Hand lesen?« rief sie, und mit einer jähen Gebärde kniete sie zu Hellanodikes Füßen nieder. Mit leiser Hand strich diese über ihr dunkles, weiches Haar.

»Verstehst du solche Kunst?« fragte sie.

»Ich verstehe es wohl; und ich werde Gutes in deiner Hand lesen und ich möchte es dir verkünden.«

Hellanodike lächelte ungläubig.

[62] »Gutes? Glaubst du das? Möchtest du das?«

»Weil du so schön bist,« sagte das Mädchen, dessen Augen wie schwarze Diamanten glühten; »die Schönen sind glücklich in Athen! Ihnen streut man Blumen auf den Weg und Reichtum und Ruhm; ihnen erlaubt man, was man anderen verbietet; ihnen beugen sich die Gesetze und ihnen die Richter selbst!«

Hellanodike hörte staunend zu. »Bist du eine Athenerin?«

»Ich weiß es nicht,« sagte das Mädchen und schüttelte das Gewirr ihrer Locken, daß sie dunkel über das gebräunte Antlitz herabfielen; »sie sagt es zwar, denn sie ist aus Athen und nennt sich meine Mutter – aber ich glaube ihr nicht.«

»Wer? Von wem sprichst du?« fragte Hellanodike.

»O still,« rief Chlenusa, wie in plötzlichem Erschrecken und drückte Hellanodikes Knie an ihr pochendes Herz – »wie du schön bist,« rief sie, »und wie ich dich liebe! O, daß ich auch so schön wäre, nur halb so reizend, so schön wie du!«

»Du Sonderbare,« sagte Hellanodike, die bei dieser leidenschaftlichen, seltsamen Huldigung schamhaft errötete.

»Es gibt viele schöne Frauen in Athen,« fuhr jene fort, »aber sie blicken verachtend auf die anderen herab, und darum hasse ich sie, hasse sie!« Sie sprang empor, und ihr Gesicht war, wie ihre Worte, von Haß und Zorn erfüllt; »aber deine Augen sind so schön und sanft,« und sie kniete wieder zur Erde nieder, »du wirst die braune Chlenusa nicht verachten, schöne Gebieterin? Du wirst nicht zürnen, wenn Chlenusa dir sagt, daß sie dich liebt?«

»Ich liebe alle, die mich lieben,« versetzte Hellanodike, »und ich glaube wohl, daß du mich liebst; wir werden Freundinnen sein.«

Das Mädchen sprang empor, ergriff ein in der Ecke stehendes Tamburin, und indem sie ein jauchzendes Lied, das den Liebesgott Eros verherrlichte, zum Klange der Schellen anstimmte, begann sie vor den Augen der staunenden Hellanodike einen wilden Tanz, in dem der geschmeidige Körper ein wunderbares Gliederspiel entwickelte. Sie sprühte ein dämonisches Feuer und schüttelte die Locken wie eine Bacchantin. Dann schleuderte sie das Instrument in die Ecke und kehrte in ihre vorige Stellung zurück.

»O, wie ich dir dienen will,« sagte sie, noch atemlos von dem Tanze, »wie ich dir zeigen will, was alles ich weiß und kann [63] – komm, komm, laß mich lesen und dir sagen, was in deiner Hand geschrieben steht.« Abermals griff sie nach Hellanodikes Hand, und diese vermochte sich dem rätselhaften Wesen nicht zu entziehen.

Chlenusa öffnete die kleine weiße Hand, die in ihren fieberglühenden Händen lag, und beugte sich tief auf die Linien in deren innerer Fläche. Sie murmelte halblaut vor sich hin, abgerissene, hastige Worte, dann blickte sie Hellanodike von unten auf in das Gesicht.

»Wie du berühmt werden wirst vor allen Frauen deiner Vaterstadt,« sagte sie mit beinah ehrfürchtigem Tone, »aber du bist nicht aus Athen?«

»Lasest du das in meiner Hand?« fragte Hellanodike.

Das Mädchen senkte das Haupt: »Ich sehe es aus ihr. Und wie er dich liebt,« fuhr sie langsam fort.

»Wer?« rief Hellanodike plötzlich, »wer ist der, von dem du mir sagst? Wer liebt mich?«

»Nicht einer allein liebt dich; es sind ihrer viele; aber zwei stehen voran; sie ringen miteinander um dich – laß mich sehen« – und sie beugte sich tiefer, und es war Hellanodike, als zittere die Hand, die die ihrige hielt – »laß mich sehen, wer den Sieg davontragen wird –«

Hellanodike entriß ihr die Hand. »Willst du aus meiner Hand lesen,« rief sie, »was in meinem Herzen geschrieben steht? Willst du mir prophezeien, was ich selbst entschied?«

Das Mädchen blieb kauernd am Boden und bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Zürnst du Chlenusa?« fragte sie nach einer Pause, und als sie die Hände sinken ließ, hatten ihre leidenschaftlichen Augen einen flehenden Ausdruck angenommen und schwammen in feuchtem Glanz. Hellanodike fühlte sich unter dem Banne des unerklärlichen Wesens.

»Kannst du mir die beiden nennen?« fragte sie zögernd. Wieder ergriff Chlenusa ihre Hand. »Ich kann ihre Namen nicht finden,« sagte sie, »aber der eine ist ein Künstler – o, was ist das,« unterbrach sie sich plötzlich – »kennst du Praxiteles?«

Hellanodike lächelte trotz des Schauers, der bei der geheimnisvollen Handlung sie überkam.

»Praxiteles? Meinst du den?«

[64] »Nein,« stammelte sie, »doch ist es ein so großer Künstler, daß ich meinte, es müsse der göttliche Praxiteles sein.«

»O, Myrtolaos,« seufzte Hellanodike in seligem Selbstvergessen, »und er liebt mich?« flüsterte sie, indem sie die süßen Lippen tief zum Haupt der Wahrsagerin ihr zu Füßen niederbog. Chlenusa blickte nicht auf.

»Ja,« sagte sie, »aber es ist einer, der dich noch mehr liebt als er.«

»In meiner Vaterstadt lebend?« fragte Hellanodike leise und dachte an Phayllas.

»Nein, denn Athen ist deine Vaterstadt nicht, und er lebt in Athen.«

Jene ward aufmerksam. »In Athen?«

»Ja, – ich kann ihn nicht näher beschreiben, – nur eins sehe ich, du fürchtest dich jetzt vor ihm – obschon er dir Gutes sinnt; er liebt dich heiß, verzehrend; er ist dir treuer als der andere, denn zwischen diesem und dir steht ein Weib, dessen Schönheit ihn bestrickt.« –

Hellanodikes Augen begannen zu funkeln. –

»Eine andere? Die er mehr lieben könnte als mich?«

»Ja,« sagte das Mädchen, und ihre Worte wurden immer hastiger, »denn sie ist eine Zauberin, wer sie gesehen, muß in ihrer Schönheit versinken – hast du nie von Phryne gehört?«

»Phryne? Die Freundin des Praxiteles?« schrie Hellanodike auf, indem sie an die Spange dachte, die Myrtolaos ihr gebracht.

»Es ist so, es ist so,« flüsterte Chlenusa, »aber der andere denkt nur an dich, sucht und verlangt keine an dere als dich, und wenn du seine Liebe erwiderst, wirst du herrlich, glänzend und glücklich werden.«

»Geh hinweg von mir, bestochene Betrügerin, der ich zu meinem Schaden vertraute,« rief Hellanodike, zornig aufflammend. Sie riß ihre Hand aus Chlenusas Händen und hob den Fuß, als wollte sie das Mädchen hinwegstoßen; dann sank sie auf das Bett zurück und brach in Tränen aus. Plötzlich fühlte sie ihre Füße umschlungen, Chlenusas heiße Lippen drückten sich in leidenschaftlichen Küssen darauf, und sie fühlte, wie die Tränen des Mädchens darauf niederfielen.

»Weine nicht,« stammelte sie, »weine nicht, süße Gebieterin! Wenn Chlenusa dir weh getan, wird sie es büßen; in deinen [65] Händen steht Glück geschrieben, du wirst einst leben in Frieden und Glückseligkeit.« Sie lag am Boden und krümmte sich, wie ein tödlich getroffenes, schönes, wildes Tier. Hellanodike winkte ihr schweigend, hinweg zu gehen; gehorsam erhob sie sich und verschwand in dem dunklen Garten.

In schmerzlichen Gedanken blieb Hellanodike zurück.

Was ihr ein dunkles Gefühl vom ersten Augenblicke gesagt hatte, war ihr durch die Worte des Mädchens zur Gewißheit geworden; denn wenn jene auch keinen Namen genannt hatte, so wußte sie, daß Mnemarch es war, der sie mit seiner Liebe verfolgte. Sie dachte daran, gleich am nächsten Tage das Haus wie der zu verlassen, zum Vater zurückzukehren, aber dort trat ihr Phayllas' abstoßendes Gesicht entgegen und flößte ihr neues Entsetzen ein; und wenn sie ging, und wenn es denkbar war, was jene angedeutet hatte, wenn sie ihn allein ließ mit Phryne – sie wagte und vermochte nicht zu Ende zu denken, denn sie fühlte etwas wie Wahnsinn bei diesem Gedanken aufsteigen. Als sie so, das Haupt in den Händen bergend, zurückgesunken lag, erhob sich aus dem Garten ein leiser, wehmütiger, aber unendlich lieblicher Gesang. Es konnte niemand anders sein als Chlenusa, und das Lied, das sie gewählt, stimmte wunderbar zu Hellanodikes trauriger Verfassung, es war ein altes Lied des Simonides und sein Inhalt die Klage der von ihrem Vater verstoßenen Danae. Eine tiefe Traumseligkeit überkam Hellanodike, indem sie der alten Weise mit geschlossenen Augen lauschte, dann endigte der Gesang, und sie hörte, wie Chlenusa vorsichtig in das Zimmer hereinschlüpfte. Sie behielt die Augen geschlossen und stellte sich, kaum wußte sie selbst weshalb, schlafend. Nun fühlte sie, wie jene ihr mit äußerster Sorgfalt die Schuhe von den Füßen löste und vorsichtig und sanft eine Decke über sie hinbreitete; dann trat das Mädchen näher an sie heran, ihre Lippen hauchten einen leisen Kuß auf ihre Stirn, und sie hörte, wie sie flüsterte: »Schlaf, du Unschuldige, die Sünde wird dich beschützen.« Mit diesen sonderbaren Worten huschte Chlenusa hinaus und verschwand wie ein Schatten in den Schatten des Gartens.

Kaum hatte sie die Tür hinter sich geschlossen, die aus den Frauengemächern in die vorderen Räume des Hauses führte, so kam ihr Timoessa mit brennender Lampe entgegen.

»Nun, du wilde Schlange,« sagte sie, »hast du deine Eier in ihr Herz gelegt? Ihr seid ja lange zusammen gewesen?«

[66] In den finstern Augen des Mädchens zuckte ein unheimliches Feuer auf, dann aber schien sie sich eines anderen zu besinnen. »Es ist alles geschehen, was du verlangtest,« sagte sie kurz.

»Hast du sie empfänglich gefunden? Zappelte das böotische Püppchen?«

»Höre,« sagte Chlenusa mit heiserer Stimme, »wenn du Fische fangen willst, so rate ich dir, wähle einen besseren Köder.«

»Wen meinst du damit?« fragte die Alte giftig.

»Nun wen, Mnemarch; hältst du sie für so einfältig, solchen Mann zu lieben?«

»Zügle deine vorwitzige Zunge,« versetzte Timoessa, »vergiß nicht, daß ich jetzt seine Mutter bin.«

Das Mädchen brach in häßliches Lachen aus. »Du hast Übung darin, Mutter von Menschen zu sein, die deine Kinder nicht sind, nicht wahr?«

»Was soll das?« fragte die Alte drohend und trat auf Chlenusa zu, mit halb erhobener Hand, als ob sie zuschlagen wollte. Das Mädchen stand ihr wie eine Tigerkatze gegenüber; ihre Augen rollten in dem todbleichen Gesicht und ihre Hände öffneten sich wie Krallen. So standen die beiden Frauen einige Sekunden lautlos; dann trat die Alte brummend zurück.

»Wenn ich nicht an wichtigeres zu denken hätte,« sagte sie, »solltest du nicht ungestraft mir deine Frechheiten ins Gesicht sagen.«

Mit kaltem Hohne lächelte Chlenusa; sie schien an derartige Auftritte und Drohungen gewöhnt.

»Daß du uns nicht unser Spiel zerstörst,« sagte Timoessa, indem sie die knochige Faust ballte, »du weißt, worauf es ankommt und was für uns zu gewinnen ist, wenn es so gelingt, wie Mnemarch es wünscht.«

»Wäre es das erstemal, daß ich dir die Netze gestellt habe, in denen du dein Wild fingst?« erwiderte Chlenusa mit der Überlegenheit eines Verbündeten, der seine Unentbehrlichkeit für den anderen kennt.

»Schon gut; ich weiß, daß du eine listige Schlange bist,« murrte die andere, »aber Schlangen traut man nicht; hast du ihr in den Händen gelesen und so prophezeit, wie ich es dir befahl?«

»Ich hab' es dir gesagt,« erwiderte das Mädchen, indem es, wie widerwillig, die schwarzen Locken schüttelte.

[67] »Es ist eine Böotierin,« fuhr Timoessa, über ihren Schlachtplan nachsinnend, fort, »hübsch genug, das ist wahr, und wenn sie eine Athenerin wäre, so müßte sie bald die erste aller Hetären sein; aber dazu fehlt ihr der Geist; sie wird ewig zu stumpf dazu bleiben; sie hat keinen Ehrgeiz. Also bleibt nur die Angst; durch Furcht muß sie kirre gemacht werden, bis daß sie nicht mehr anders zu wollen wagt, als Mnemarchos will. Laß dir das gesagt sein,« wandte sie sich wieder an Chlenusa, »und nun zu Bett und spioniere mir nicht im Hause umher.«

Sobald sie hinausgegangen, stürzte Chlenusa hinter ihr her bis zur geschlossenen Tür, und indem sie die geballten Hände schüttelte, spie sie auf die Stelle aus, wo Timoessa zuletzt gestanden. Der Ausdruck maßlosen Hasses verzerrte ihr Gesicht.

»Du Diebin,« flüsterte sie mit bebenden Lippen, »du Kröte, willst du wieder den Saft deiner schmutzigen Seele in das Herz eines Menschen spritzen, bis du es in deinen räuberischen Fingern zusammenpressen kannst wie einen Schwamm, aus dem Goldstücke in deinen Sack träufeln? O, alle Flüche auf dich, du Verderberin meiner Seele, die du dich meine Mutter nennst, was du nicht bist! Nein,« ächzte sie, indem sie zur Erde fiel und die Hände flehend erhob, »laßt es nicht also sein, Ihr Götter, laßt es nicht wahr sein, was sie sagt, daß sie, dieses Weib, meine Mutter sei!« Sie lag, wie gebrochen, am Boden, und ihre Augen suchten unwillkürlich den Weg zu dem Gemache, wo das schöne, gefahrbedrohte Mädchen aus Tanagra lag. Das wilde Gesicht ward sanft und die Tränen flossen darüber hin. In Timoessas kupplerischem Gewerbe zu den schnödesten Handlangerdiensten gemißbraucht, war sie bisher wie eine wilde Katze allem nachgeschlichen, was Schönheit und Glanz hieß, den Haß, den sie dafür erntete, hatte sie mit Haß vergolten und ihre Seele war ganz von Neid gegen alles vergiftet, was sie über sich empfand. Heute beim Anblick des schönen, vertrauensvollen Wesens, das sie wieder aus ihrer reinen Welt in den Kot hinabziehen helfen sollte, der sie selbst umgab, erfaßte sie ein Gefühl, das sie nicht begriff und dem sie sich doch nicht entziehen konnte, weil es sie mit einer dunklen, ungeahnten Wonne erfüllte. Sie schüttelte, wie über sich selbst erstaunt, das Haupt, als suchte sie nach einer Erklärung, denn sie wußte noch nicht, daß Liebe sich nicht erklären läßt.


[68] * * *


»Heda, Polymakron,« so rief in der Werkstatt des Praxiteles, in der sich die zahlreichen Schüler des Meisters an der Arbeit befanden, ein schwarzlockiger, wilder Bursche einem der Genossen zu, »was sitzest du mit lässigen Händen da? Soll der Satyr durch Anschauen fertig werden? Da nimm dir ein Beispiel an der böotischen Biene; sieh ihn an, den Tanagräer, wie er an seiner Aphrodite herumschnörkelt, emsig, ohne rechts und links zu blicken, ohne an eine Kephisias zu denken, die dir, heilloser Liebling des Eros, nicht aus den Gedanken weicht, weil er nur an seinen Ruhm denkt, mit dem er uns alle dereinst überstrahlen wird, uns armselige Athenienser!« Diese, auf Myrtolaos gemünzten Worte, die mit lärmendem Gelächter der übrigen Genossen aufgenommen wurden, bezeichneten die Stellung, in der er sich, seitdem er bei Praxiteles war, den Kameraden gegenüber befand.

»Er ist ein pfiffiger Kopf,« gab Polymakron zur Antwort, »er will seinen Ruhm plötzlich und überraschend aufgehen lassen, darum hält er jetzt mit seinen Talenten so vorsichtig zurück, daß man schier glauben könnte, sie wären gar nicht da.« Abermaliges Gelächter belohnte den Scherz, der auf Myrtolaos Rechnung ging.

Schweigend ließ dieser die Spott- und Hohnwellen über sich hinrauschen. Sie würden ihn wenig gekränkt haben, denn zum größten Teile, das wußte er wohl, verdankten sie ihren Ursprung dem Neide seiner Genossen über die bevorzugte Stellung, die er vor ihnen bei Praxiteles genoß; aber das war es, was jenen Worten einen bitteren Stachel verlieh, daß sein eigenes Bewußtsein auf die Seite der Spötter trat und Partei nahm gegen ihn selbst.

Mit glühendem Eifer hatte er sich an die Arbeit gemacht, und dieser Fleiß war es, der ihm bei seinen Genossen den Spitznamen der »böotischen Biene« eingetragen hatte, der erste Anlauf, den er genommen, schien das beste zu versprechen, denn zu seinem eigenen Erstaunen und zur gerechten Bewunderung des Meisters entwickelte er ein so angeborenes Talent in der äußeren Technik, daß er mit spielender Leichtigkeit über die ersten Anfangsgründe hinweggekommen und zu größeren Aufgaben gelangt war, aber nun trat ein verhängnisvoller Zustand ein: seine Phantasie ging nicht gleichen Schritt mit seiner Fertigkeit, er kam über die äußerliche Nachbildung der Praxitelischen Vorbilder nicht hinweg, mit [69] ihrem Geiste vermochte er sich nicht zu erfüllen. Immer und immer wieder trat jener Augenblick vor seine Seele, als er zum ersten Male in der Werkstatt des Praxiteles dessen Gebilden gegenübergestanden hatte, und was damals ein dumpfes, unverstandenes Gefühl der Beängstigung gewesen, trat ihm mit immer schreckhafterer Klarheit entgegen: das Bewußtsein, daß sein Geist keine Verwandtschaft mit dem des Meisters besaß, daß dessen Wege nicht die seinen waren und daß infolge davon die Kluft zwischen ihnen breiter und immer breiter ward. So bemächtigte sich eine tiefe Verzagtheit seiner Seele, das Gefühl eines verfehlten Daseins begann seine Schatten in seine Seele zu verbreiten, und unter dem grauen Himmel, den dieses Bewußtsein im Gemüte des Menschen ausspannt, treibt die Schaffenskraft keine Blüten mehr.

Dem Meister entging dieses alles nicht, aber er hielt sich zurück, denn es gibt Zeiten, da der Mensch sich selbst beraten muß. Für Myrtolaos aber waren es Augenblicke der verzweiflungsvollsten Selbsterniedrigung, wenn er Praxiteles in unbewachten Augenblicken beobachtete, wie derselbe mit kummervollem Erstaunen die Werke dessen betrachtete, von dem er so viel erwartet hatte und so wenig empfing.

Dann geschah es, daß der Jüngling aus der Werkstatt hinausstürzte, dann verwünschte er seine Hände, die ihn durch ihre Geschicklichkeit zu dem Wahne verleitet hatten, daß sie die Instrumente eines schaffenden Geistes seien, dann schrie er in seiner Not zu den Göttern, denen er einstmals geglaubt hatte, und flehte sie um ein Zeichen an, ob er dem Berufe des Künstlers treu bleiben oder ihn mit raschem Entschlusse von sich werfen sollte. Und mitten in diesen qualvollen Kämpfen regte sich dann wieder, mächtig wie am ersten Tage, der unauslöschliche Drang zum Schaffen und Bilden, und während er sich zu entsagen bemühte, entstanden in seinen Händen, beinahe unbewußt, neue Gestalten und Figuren. Aber so eng in der Auffassung, so dürftig in allen Verhältnissen erschienen sie ihm, wenn er im Vergleich damit an die mächtigen, blühenden Formen dachte, die unter Praxiteles Händen entstanden, daß er ingrimmig seine Erzeugnisse zertrümmerte und zerstampfte, um sie nie mehr vor Augen zu sehen. Alle die Stimmen, die ihm in früheren Tagen zur begeisterten Seele gesprochen, verlachte er mit grimmigem Hohne, denn sie waren es ja, die seiner Natur die Eigenschaften [70] aufgeprägt hatten, die unfähig machten für die große, freie Kunst des Praxiteles; sie hatten ihn zum Schwärmer, zum weltabgeschlossenen Träumer gemacht, sie hatten sein Auge blöde gemacht, so daß er aus der sinnlich rauschenden Welt, die ihn umgab, keine Nahrung zu finden vermochte – und darum beschloß er nun, ein Ende zu machen mit den Erinnerungen früherer Tage, seine innerste Natur abzutun und alles das zu suchen, was er bisher aus törichter Scheu vermieden hatte.

Das Leben und Treiben seiner Genossen, die im zügellosen Strom des athenischen Lebens dahinschwammen, war ihm zuwider gewesen; von nun an beschloß er, einer der ihrigen zu werden, hinabzutauchen in den Strom, mochte er ihn treiben, wohin er wollte, und wenn er keine Kephisias besaß, so hatte er ja Hellanodike.

Als ihm dieser Gedanke, der sich tastend und scheu wie ein Verbrecher aus den Tiefen seines verdüsterten Innern erhoben hatte, zum ersten Male deutlich wurde, erging es Myrtolaos wie einem Menschen, der zum ersten Male die Wirkung eines Erdbebens verspürt. Das Gefühl, daß der Grund und Boden, auf dem sich wie auf einer unanfechtbaren Grundlage das Gebäude des menschlichen Bewußtseins erhebt, selbst der Vernichtung anheim fallen könne, entwurzelt den Menschen und versetzt ihn mit lebendigen Sinnen in die Vorempfindung des Todes. Wirre Bilder durchzuckten sein Gehirn. Er sah plötzlich in greifbarer Lebendigkeit eine Statue vor sich von fleckenloser Weiße: es war Hellanodike. Dann kamen zwei Hände, die sich heiß um das schöne Gebilde herumschlangen, wo sie gelegen, erschienen schwarze widrige Flecke, und er sah, wie das marmorne Antlitz sich schmerzlich verzog. Dann wieder war es ihm, als reckten sich zwei weiße hilfesuchende Arme nach seinem Halse aus; er schüttelte sie von sich, und während die Arme versanken, hörte er deutlich eine klagende Stimme, die seinen Namen rief. Auch des Myronides mildes Angesicht erschien ihm und sah ihn mit einem Ausdrucke an, wie er ihn nie gekannt: sein greiser Bart war zerzaust und geschändet. –

Aber der Gedanke war geboren, er blieb und wuchs, und es kam ein Ereignis, das ihn plötzlich und unerwartet zur Reife bringen sollte.

Bald nach den oben geschilderten Vorgängen er schien in der Werkstatt des Praxiteles ein Mann, der nach Myrtolaos [71] von Tanagra fragte, es war Phayllas. An dem hastigen Auftreten des Fremden, an dem rauhen Tone seiner Stimme und dem bleichen Gesichte bemerkten die Schüler des Praxiteles, daß etwas Besonderes im Werke sei. Er brauchte nicht lange zu suchen, denn Myrtolaos stand an seiner Arbeit.

»Myrtolaos,« sagte er, indem er ohne Gruß auf ihn zutrat, »du weißt, warum ich komme.« Der Jüngling sah auf; ein finsterer Trotz lagerte sich auf seinem Gesicht; er schwieg.

»Du willst mir nicht Rede stehen,« fuhr der andere fort; »aber du sollst; im Namen des Myronides, du sollst mir sagen, wo sie ist, wo du sie verbirgst.«

Ein allgemeines »Hoho« erhob sich bei diesen Worten unter den Kunstschülern; die Köpfe wurden zusammengesteckt, man lachte, man freute sich, daß man der böotischen Biene hinter ihr Geheimnis gekommen war.

»Ich weiß, daß sie dir nachgelaufen ist,« rief Phayllas, durch des andern Schweigen zur Wut gereizt, »und ich sage dir, ich gehe nicht ohne sie zurück! Räuber und Entführer, wo hast du Hellanodike? Gib sie mir heraus!« Er hatte Myrtolaos an der Schulter gepackt und schüttelte ihn. Mit einem plötzlichen Ruck richtete dieser sich auf, warf die Hand des Gegners von seiner Schulter und indem er ihm mit flammenden Augen in das blasse Gesicht blickte, rief er: »Nie sollst du Hellanodike zurückhaben, nie!«

In seiner schlanken Schönheit stand er da, jung und herrlich, wie ein zürnender Apoll.

Unberechenbar, wie Menschen es sind, doppelt unberechenbar, wie Athenienser damaliger Zeiten, schlug plötzlich die Stimmung der Kunstgenossen zugunsten des schönen Tanagräers um.

»Seht ihn an,« rief der schwarze Lysias, »bei den Göttern seht den Tanagräer an, welch ein herrliches Gewächs er ist! Bleib so stehen, Preis meiner Augen, und ich mache einen Dioskuren aus dir, der dich und mich unsterblich machen soll.«

»Brav, Myrtolaos,« rief Polymakron, »laß dir dein Mädchen nicht nehmen, wir stehen dir bei für Hellanodike.« Ein wildes, jauchzendes Gelärm war die zustimmende Antwort der übrigen.

»Ihr Jünglinge von Athen,« wandte sich Phayllas, bleich und zitternd vor Aufregung, an die Schüler, »Ihr würdet nicht also sprechen, wenn Ihr wüßtet, was er getan; wenn ich Euch [72] sage, daß er seinem Pflegevater, der ihn jahrelang an seinem Tische essen, in seinem Hause wohnen ließ, das einzige geliebte Kind raubte –«

»Wer sagt dir, daß ich das getan? Wer gibt das Recht, mich zu verleumden?« rief mit donnernder Stimme Myrtolaos. »Nicht geraubt habe ich sie, freiwillig ist sie mir gefolgt, um dir zu entfliehen, dir, den sie haßt.«

»Sie zeigt Geschmack und ich muß sie loben,« schrie Lysias dazwischen, »wenn sie ihn dir vorzieht, du eifersüchtiger Liebhaber.«

»Glaubt Ihr, ich werde es mit ansehen,« sagte Phayllas, der statt des einen plötzlich so viele Feinde sich gegenüber sah, »daß er das Mädchen, die ich zu meinem Weibe zu machen gedachte, zu seiner Buhlerin erniedrigt?«

»Wer sagt dir das?« rief Myrtolaos und ballte die Faust gegen sein Gesicht.

»Das weiß ich,« schrie ihm Phayllas zurück, »denn ich kenne dich und weiß, daß du ein Betörer und Verführer der Herzen bist.« Der lang gehegte Neid brach wie ein Dolch, der endlich das ersehnte Ziel findet, schneidend aus seinen Worten hervor.

»Hört mich,« wandte er sich noch einmal an die Schüler des Praxiteles, »Ihr hört die Stimme der Gerechtigkeit: führt mich zu Praxiteles, er ist ein rechtlich denkender Mann, er wird mir sagen, wo ich das betörte Mädchen finde.«

»Praxiteles?« rief höhnend der schwarze Lysias; »glaubst du, er hätte Zeit, sich um unsere Geliebten zu kümmern? Mach', daß du heim kommst, rate ich dir, Böotier, und vergiß nicht, daß hier Athen ist und daß du ein Fremder in Athen. Praxiteles ist über Land.«

»Wenn Ihr dem Fremden sein Recht verweigern wollt, so bedenkt,« sagte Phayllas, »daß auch dieser hier und daß auch jenes Mädchen Fremde in Athen sind, es ist ein Streit zwischen Fremden.«

»Fehlgeschossen, Böotier,« höhnte Polymakron, »er ist ein Schüler des Praxiteles, und wer sich einen solchen nennen darf, der ist Athener geworden.«

»Er ist Athener!« schrie das ganze Chor, »Myrtolaos ist ein Athener.«

»Und die Schüler des Praxiteles stehen einer für den andern, das merke dir,« sagte ein starkgliedriger Geselle, der drohend aus der Schar der übrigen auf Phayllas zutrat.

[73] »Und alles mag man ihnen nehmen,« rief ein anderer, »nur ihre Mädchen nicht.«

»Nein, bei den Göttern, wer mir an meine Kephisias rühren wollte –« lachte Polymakron.

»Und kurz und gut,« entschied Lysias, »Hellanodike ist sein und also bleibt's.«

Ein jauchzendes Hohngeschrei übertäubte die Worte des Phayllas. Tränen der ohnmächtigen Wut flossen ihm über das Gesicht, denn er sah keine Aussicht, zum Ziele zu gelangen.

Er schüttelte die Faust gegen Myrtolaos.

»Nun denn,« rief er, »wenn es wahr ist, daß jene Dirne so tief gesunken ist, daß sie dir aus freien Stücken gefolgt ist, so geh zu ihr und bringe ihr den Fluch ihres greisen Vaters, den sie zum Gespött seiner Stadt gemacht und den sie in Kummer und Verzweiflung gestürzt hat um deinetwillen, du Lotterbube.«

»Höre nicht auf diesen krächzenden Raben,« schrie der schwarze Lysias, »und hinaus mit dir, du neidischer meckernder Ziegenbock!«

»Hinaus mit ihm« – der ganze wilde Schwarm war plötzlich über Phayllas her, »hinaus und zurück mit ihm nach Böotien, wo er Disteln fressen kann, der schreiende Esel!«

Kräftige Fäuste griffen von allen Seiten zu, einen Augenblick später befand sich Phayllas außerhalb der Werkstatt, drehte sich wie ein Kreisel um sich selbst und schlug der Länge nach in den Staub der Straße hin. In der Tür stand Lysias und drohte hinter ihm her: »Wenn wir dich hier länger umherschleichen sehen, oder wenn du es versuchen solltest, hinter unserm Rücken zu Praxiteles zu gelangen, dann sich dich nach einem andern Schädel um, denn den, den du jetzt auf den Schultern trägst, bringst du dann nicht heil nach Hause zurück.«

Phayllas erhob sich, klopfte seine Kleider ab und ging, ohne zurückzublicken, lautlos davon wie eine böse Spinne.

Myrtolaos war mit einem Schlage der Held des Tages geworden. Er, den man für einen Kopfhänger gehalten, hatte ein Abenteuer aufzuweisen, wie keiner seiner Genossen, das machte Eindruck; und während die anderen nicht laut genug mit ihren Geliebten prahlen konnten, hatte er sein Besitztum mit vornehmer Ruhe geheim gehalten – das riß hin.

Und wie er seinen Genossen plötzlich als ein anderer erschien, so hatte sich auch seine Empfindung ihnen gegenüber gewandelt, [74] seitdem er sie so tatkräftig für seine Wünsche hatte eintreten sehen. Er war ein Gleicher unter Gleichen und das Kraftgefühl, welches das Bewußtsein der Zusammengehörigkeit mit Gleichgestimmten verleiht, kam zum ersten Male mit voller Gewalt über ihn. Ein unbestimmter Drang erfaßte ihn, seinem wachsenden Herzen Luft zu machen, er sprang auf seinen Arbeitsschemel und »Evoe Hellanodike!« schrie er wild jauchzend in den Saal hinein.

»Evoe Myrtolaos und Hellanodike!« scholl es lachend und jauchzend zurück.

»Heute nichts mehr von Arbeit,« sagte Polymakron, indem er den Meißel in die Ecke warf, »in der Schenke draußen am Ilissos ist junger Wein aus Thasos angekommen, ein Schwarm von Krammetsvögeln ist heute morgen dem Phaedimos, dem trefflichen Wirt, ins Garn gegangen, kommt, laßt uns hinausziehen, unseren Sieg durch ein Gastmahl zu feiern.«

Der Gedanke fand rauschenden Beifall; das Arbeitszeug ward abgetan, und bald darauf zog die ganze Schar auf dem Weg zum Stadttore dahin, der außerhalb der Mauern gelegenen Schenke zu.

Unterwegs machte Polymakron halt.

»Brüder,« sagte er, »sollen wir wie Skythen oder Paphlagonier ohne die Würze schöner Weiber tafeln? Ich hole Kephisias ab, tue ein jeder desgleichen, und Myrtolaos mache uns mit seiner Hellanodike bekannt.«

Dieser Vorschlag leuchtete um so mehr ein, als selbstredend nach den heutigen Vorgängen alle gespannt waren, Hellanodike von Angesicht kennen zu lernen. Myrtolaos schien einen Augenblick zu überlegen; allein es gab keine Möglichkeit, dem Wunsche seiner Kameraden, die gewissermaßen ein Recht an seiner Geliebten erworben hatten, auszuweichen, und außerdem befand er sich in einem Zustande innerer glücklicher Berauschtheit, der kein Bedenken aufkommen ließ.

»Geht voran,« rief er, »wir werden Euch finden,« und er machte sich nach dem Hause des Mnemarchos auf, welches unweit des Fußes der Akropolis lag.

Er traf es günstig; Mnemarch, der ihm die letzte Zeit, so oft er Hellanodike zu besuchen kam, ein wenig freundliches Gesicht gezeigt hatte, war nicht zu Hause. Hellanodike hatte sich soeben im Bade erquickt, und so reizend und schön war sie ihm noch nie erschienen als jetzt, da sie, fröhlich bei seinem Eintritt [75] in den Gartenhof aufjauchzend, auf ihn zu und in seine Arme flog.

Er drückte sie an sich und küßte die letzten Wasserperlen, die wie Tautropfen an ihren braunen Locken hingen, hinweg; und indem er daran dachte, daß dieses entzückende Geschöpf, von Vater und Vaterstadt geschieden, nun ganz und ausschließlich nur sein noch war, fühlte er sein Herz von namenloser Wonne schwellen.

»Hellanodike,« sagte er, »meine Schöne, Geliebte, nun endlich habe ich dich mir ganz erobert; weißt du, wer heute bei mir war?« Sie sah ihn fragend an. »Phayllas, der von mir verlangte, daß ich dich ihm zurückgeben sollte.«

»Phayllas?« erwiderte sie erschrocken, »was hast du ihm zur Antwort gegeben?«

»Kannst du danach fragen? Daß er dich nie haben sollte, habe ich ihm gesagt, nie! Oder hätte ich ihm etwas anderes sagen sollen?« fuhr er fort, da er sah, wie ihr Auge plötzlich von stummen Tränen überfloß.

»Nein,« sagte sie leise, indem sie sich enger an ihn schmiegte, »nein, aber du weißt – mein Vater –« und ihre Tränen flossen reichlicher.

»Weine nicht,« sagte er zärtlich, »es mußte kommen, wie es gekommen ist; deinem Vater, das weißt du, will ich dich nicht rauben, aber daß wir von dem Verhaßten befreit sind, darüber wollen wir uns freuen.«

»Und er weiß nicht, wo ich mich befinde?« fragte sie schüchtern.

»Er weiß es nicht und wird es auch niemals erfahren,« sagte er zuversichtlich; »und nun komm, sieh dort –« und er zeigte über die Mauer des Gartens hinweg zur Akropolis hinüber, wo die goldene Lanzenspitze der Athene Promachos flimmernd emporragte, »sieh, wie sie emporweist zum warmen, strahlenden Himmel, als wollte sie sagen: seht ihn an und genießt; die Welt liegt offen vor uns, ein weiter, herrlicher Tummelplatz für unsere Liebe, komm, wir wollen wie ein Paar glücklicher, verliebter Tauben durch sie hinflattern, ich werde sie dir zeigen, und du sollst jauchzen, wenn du erkennst, wie schön das Leben mundet, wenn man es in Athen genießen kann.«

Die Freude machte ihn beredt und der Abglanz derselben strahlte von seinem Gesichte auf Hellanodike hinüber.

[76] »O du treuloser, geliebter Myrtolaos,« rief sie mit reizendem Lächeln, »so hast du Tanagra schon über Athen vergessen? Wer weiß, du bringst es fertig und schwatzest mir mit deinen süßen Worten die eigene Vaterstadt aus der Seele?«

Sie gingen mit verschlungenen Armen um den Hof herum, als Chlenusa hastig eintrat. Sie warf einen scharfen, prüfenden Blick auf Myrtolaos, dann sagte sie kurz: »Timoessa kommt.«

Im nämlichen Augenblicke trat die Alte ein und näherte sich den beiden mit kriechender Artigkeit.

»Besuch gekommen, wie ich sehe? Der schöne Schüler des Praxiteles wieder einmal hier? Das ist recht, unser Täubchen lebt einsam, denn mein Sohn hält auf ein ehrsames Haus. Nun, wie geht es dem göttlichen Meister Praxiteles und Phryne, seiner angebeteten Freundin?«

Mit Genugtuung bemerkte sie, daß Myrtolaos errötete und daß ein Schatten über Hellanodikes Antlitz flog.

»Gute Mutter,« unterbrach sie Myrtolaos, »ich komme, dir deinen Schützling zu rauben, und ihr Athen ein wenig zu zeigen.«

»Das ist recht,« sagte Timoessa aufmerksam werdend, »was habt Ihr vor? Wo wollt Ihr hin?«

»Bei Phaedimos draußen am Ilissos haben wir ein kleines Fest bereitet, du wirst nichts dawider haben, und Mnemarch, dein Sohn, hoffentlich auch nicht, daß ich Hellanodike zu dem Feste einlade?«

Um die gekniffenen Winkel des zahnlosen Mundes spielte ein augenblickliches grinsendes Lächeln.

»Zu Phaedimos am Ilissos? Ah – ich weiß nichts von ihm, aber ich hörte ihn manchmal rühmen; Ihr werdet Euch einen lustigen Tag machen, Ihr Söhne des Praxiteles? He? Nun, Hellanodike ist frei, frei wie der Vogel, der hinfliegen kann, wohin es ihm beliebt; geh mit ihm, mein Täubchen, sei fröhlich und guter Dinge, das Leben ist kurz und man muß hinter den guten Stunden her sein; ich werde meinem Sohne Bescheid geben, und er wird sich freuen, wenn er hört, daß unser Täubchen sich in guter Gesellschaft einen guten Tag macht.«

Sie schien ganz entzückt, und nur die ungeduldige Gebärde des Jünglings verhinderte, daß sie ihrer Schwatzhaftigkeit noch einmal freien Lauf ließ.

[77] »Ihr habt es eilig,« sagte sie mit unterwürfiger Gebärde, »und ich will nicht aufhalten.« Damit verschwand sie und ließ die beiden in Verwunderung zurück.

»Nach dem Ilissos willst du mich führen?« rief Hellanodike, fröhlich wie ein Kind; »komm, ich mache mich fertig.« Sie verschwand in ihrem Gemache und kam gleich darauf, im langen Oberkleide, das zierlich bis zu den Füßen niederfloß, und den runden, flachen Hut auf dem Haupte, zu ihm zurück.

»Ich werde mich vor den Athenern schämen müssen,« sagte sie, »wenn ich mich mit meinem tanagräischen Hute vor ihnen zeige.«

Statt aller Antwort schlang er den Arm um sie, führte sie an den Rand des Wasserbeckens und zeigte ihr auf dem dunklen Spiegel desselben ihr Abbild.

»Glaubst du, daß diejenige, die so aussieht, sich vor einem Menschen auf der Welt schämen müßte?« Sie betrachtete vergnügt ihr liebliches Konterfei; dabei erschien auch sein Antlitz im Wasser, sie winkte ihm zu, er nickte zurück, sie fielen sich in die Arme und waren zwei glücklich lachende Kinder.

Chlenusa hatte sich unterdessen, scheinbar ohne auf das, was gesprochen und getan ward, zu achten, mit ihrem Spinnknäuel beschäftigt. Als jetzt Myrtolaos mit Hellanodike den Garten verlassen wollte, trat sie plötzlich, indem sie ihren Knäuel fortwarf, auf beide zu.

»Ich habe dich etwas zu bitten,« sagte sie zu Hellanodike. Diese blickte sie erstaunt an.

»Ich bitte dich,« und sie stockte ein wenig, »geh nicht zu Phaedimos an den Ilissos.«

»Warum soll sie nicht?« rief Myrtolaos.

»Weil –« und sie blickte ihm scharf und starr in die Augen, »weil schlechte Leute dorthin kommen.«

»Was für Leute meinst du?« fuhr der Jüngling auf.

»Es ist besser, wenn du danach nicht fragst; aber glaube mir, daß es Leute sind, in deren Mitte sie nicht gehört, glaube mir, daß ich es weiß, denn ich bin manches Mal und öfter wohl als du in der Schenke am Ilissos gewesen.«

»Dann freilich,« sagte er ärgerlich, »mag die Gesellschaft schlecht genug gewesen sein;« und erblick te wegwerfend auf das braune Mädchen herab. Eine düstre Röte überflammte ihr Gesicht.

»Du tust unrecht, mich zu kränken,« sagte sie, die blitzenden Augen auf ihn gerichtet, »da ich dir zu deinem Besten rate, [78] denn ihr Bestes« – und sie wies mit dem Haupte nach Hellanodike hin – »ist doch auch das deinige, nicht wahr?« Sie sprach das letzte langsam mit seltsam abwägendem Tone. Unwillkürlich errötete er.

»Hast du nicht gehört, was Timoessa gesagt hat? Wird sie Phaedimos weniger kennen als du?«

Das Mädchen brach in ein rauhes Lachen aus. »Timoessa,« rief sie, »Timoessa! Ah –« sie schüttelte ungeduldig das Haupt und sah ihn an, wie man jemanden anblickt, von dem man nicht weiß, ob er nicht verstehen kann, oder nicht verstehen will.

»Komm fort,« sagte Myrtolaos ungeduldig, »ich weiß nicht, was dieses Mädchen will.« Er wollte mit Hellanodike an ihr vorübergehen, Chlenusa aber vertrat ihnen zur Tür den Weg.

»Höre mich,« sagte sie, und ihre Stimme klang gellend vor innerer Erregung, während sie, wie um Hellanodike festzuhalten, beide Ellbogen der letzteren mit ihren Händen berührte, »gehe nicht an den Ilissos, denn wenn du gehst –« sie verstummte, es war, als würgte ihr das Wort den Hals.

»Nun was endlich, wenn sie geht?« rief Myrtolaos, während Hellanodike sprachlos auf das leidenschaftliche Mädchen blickte; »was, wenn sie geht? Sprich deutlich endlich!«

Mit einem Sprunge war Chlenusa an der Ausgangstür, beugte lauschend den Kopf, dann legte sie den Finger auf den Mund, und den Saum an Hellanodikes Kleid erfassend, zog sie dieselbe und Myrtolaos mit ihr hastig bis an den fernsten Teil des Hofes. Ihre Brust arbeitete wie im Krampfe, ihre Augen suchten angstvoll umher.

»Verloren ist sie,« flüsterte sie mit heiserer Stimme, »preisgegeben ohne Hilfe und Rettung, und ich will es nicht, will es nicht.« Sie fiel zu Hellanodikes Füßen nieder und verbarg ihr Gesicht, das jetzt in Tränen gebadet war, in den Falten ihres Kleides.

»Warum verloren? Preisgegeben wem?« fragte Myrtolaos rauh.

»Preisgegeben dem Herrn dieses Hauses,« erwiderte sie, die Augen auf die Ausgangstür gerichtet, als fürchtete sie jeden Augenblick, daß dort jemand hereintreten und sie bei ihrem schrecklichen Geheimnis überraschen würde.

»Mnemarchos,« schrie Hellanodike entsetzt auf.

[79] »O, bei den Göttern, sprich leise,« flehte sie, »ja, Mnemarch: höre mich, du mußt es nun erfahren: jenes Weib, Timoessa, ist nicht seine Mutter; wie ein Wolf schleicht er um dich her; seine unreinen Gedanken haben den Weg schon tausendmal gemacht, den er selbst noch nicht gemacht hat, weil er sich scheut vor dem keuschen Weibe und dem Urteil des Volkes, das ihn strafen würde für eine Gewalttat an dem unbefleckten Weibe.« –

»Welchen Weg meinst du?« fragte Hellanodike zitternd. Chlenusa sprang auf und flüsterte ihr ein Wort ins Ohr; eine tödliche Blässe lagerte sich auf Hellanodikes Antlitz; sie zitterte und wankte.

»Was hat sie dir gesagt?« rief Myrtolaos, sie in seinen Armen haltend.

»O, still,« flüsterte sie, »still, es ist zu schrecklich, es zu sagen.«

»Noch hat er es nicht gewagt,« fuhr Chlenusa leidenschaftlich eindringlich fort, »aber wenn du zu Phaedimos hinausgehst, wird er es wagen. Wisse, die Schenke am Ilissos ist bekannt in ganz Athen; Hetären sind es, die dort verkehren.«

»Hetären?« – und Hellanodike trat schaudernd zurück.

»Ja, ja, Hetären! Und wenn er erfährt, daß du unter ihnen gewesen bist, dann braucht er sich vor niemandem länger zu scheuen, dann wird er dich behandeln wie eine Hetäre und dann – dann –«

»Es ist genug, schweig,« unterbrach sie Myrtolaos. Er ging im Hofe auf und nieder; ein dunkler Sturm wühlte in seinem Herzen; dann trat er auf Chlenusa zu.

»Weißt du, was ich nun tun werde,« sagte er mit verschränkten Armen, »alles, was du uns gesagt hast, werde ich Mnemarch wiederholen.«

Sie sah ihn starr, mit einem seltsamen, kalten Lächeln ins Gesicht.

»Du willst es Mnemarchos wiederholen?«

»Das will ich; und was meinst du, wird die Folge sein?«

»Ich will es dir sagen,« erwiderte sie tonlos; »dann werden sie mich peitschen.«

»Sehr möglich,« sagte er.

»Und vielleicht,« fuhr sie fort, »werden sie es so lange tun, bis ich davon sterbe.«

[80] »Und gewiß wirst du es verdient haben,« sagte er zornig. Ein rauher, abgebrochener Schrei entwand sich ihrem Busen; sie schüttelte die schwarzen Locken um das braune Gesicht.

»Du Tor,« rief sie, »denn ich glaube noch, daß du nur töricht bist, nicht schlecht, und dann wird niemand mehr sein, um sie zu schützen, die dich liebt und die du preisgibst, wie ein Elender! Niemand, niemand!« Sie schlug die Hände vor das Gesicht und brach in ein furchtbares Weinen aus.

Es entstand eine schweigende, ängstliche Pause.

Dann knüpfte Hellanodike langsam den Hut vom Haupte und trat zu Chlenusa.

»Weine nicht,« sagte sie, und ihre weiße Hand legte sich sanft auf das dunkle, wirre Haar, »ich werde nicht zu Phaedimos gehen; und er wird nichts zu Mnemarch sagen; geh jetzt hinaus.«

»Du willst nicht?« sagte Myrtolaos, nachdem Chlenusa gegangen.

Sie senkte das Haupt. »Ich glaube, es ist besser, wenn ich nicht gehe.«

Sein Gesicht verdüsterte sich; er biß sich stumm auf die Lippen.

»Myrtolaos,« sagte sie, indem sie die Hände auf seine Schultern legte und ihm in die Augen blickte, »könntest du es noch wollen?«

»Warum öffnest du Herz und Ohren den Phantastereien eines tollen Mädchens?« sagte er unwirsch.

»Aber wenn es denkbar wäre, daß sie die Wahrheit gesprochen? Wenn wirklich – solche Frauen –« ihr keusches Gesicht erglühte, und sie vermochte das Wort nicht auszusprechen.

»Es sind keine Hetären,« rief er, »es sind Freundinnen der Künstler; mögen die Menschen, die es nicht verstehen, falsch von ihnen denken, ich habe dir gesagt, in welchem Verhältnis sie zueinander stehen.« Sie beugte das Antlitz und ihre Brust rang in stummem Kampfe. Er trat dicht an sie heran und faßte sie an beiden Händen.

»Hellanodike,« sagte er, »wer die Kunst des Praxiteles lernen will, muß sich hinauswagen in das Meer des Lebens und darf sich nicht fürchten, wenn die Ufer ihm auf Augenblicke entschwinden. Sieh die Werke dieses Mannes an, sie haben nur ein Gesetz und eine Grenze: die, welche die Natur ihnen vorschreibt. [81] Aber den engen Geist, der vor ihnen erschrickt, verlachen sie, denn sie sind wie die Natur, die sich in sich selbst bespiegelt und nicht fragt, ob wir sie mit reinen oder unreinen Augen betrachten. Hellanodike,« und in seinen dunklen Augen flackerte ein verzehrendes Feuer empor, »ich kann nicht hinaufgelangen in den olympischen Äther dieser Kunst, wenn ich nicht, gleich den anderen, trinken darf aus dem Quell des Lebens, nach dem mich verlangt. Mich dürstet danach, denn ich sehe ihn vor mir, atme seinen Duft, aber wenn ich mich hinabbeugen will, entflieht er vor meinen brennenden Lippen.« Er hatte den Arm um sie geschlungen und fühlte, wie ihr zarter Leib an seinem Herzen bebte.

»Ach,« stammelte sie, »daß ich dich verstände.«

Er ließ den Arm sinken und trat einen Schritt zurück.

»Du verstehst mich nicht?« sagte er, »fühlst du nicht, daß ich nicht länger so leben kann, immer von dir getrennt, nur auf Augenblicke bei dir? Daß du ganz bei mir, mit mir sein mußt, weil ich deiner bedarf, wie der Lebensluft, von der ich mich nicht auf Sekunden trennen darf, wenn ich leben soll?«

Sie hob die großen hilfesuchenden Augen zum Himmel und rang die Hände ineinander.

»Daß ich in Athen geboren und in seiner Luft erwachsen wäre,« sagte sie, »oder daß du mich nie in Tanagra gesehen und gekannt hättest, es wäre besser für dich und mich!«

»Nein,« sagte er, »denn nur von deinem Willen hängt es ab, ob es uns Glück bringen soll.«

»Habe Erbarmen mit mir,« rief sie, »ich wollte alles, was du verlangst, aber ich kann es nicht, Myrtolaos, ich kann es nicht!«

Ihre Brust hob und senkte sich wie im Krampfe, und man sah, daß sie an einer Grenze stand, über welche auch die Liebe nicht hinwegträgt, an den Schranken angeborener Natur.

Er wandte sich schweigend zum Gehen.

»Myrtolaos,« schrie sie in schneidendem Jammer.

Er blieb stehen, sie stürzte auf ihn zu und fiel ihm um den Hals.

»Du gehst,« schluchzte sie, »wann wirst du wiederkommen?«

Betroffen schaute er sie an.

»Ich sehe dein Herz,« sagte sie verzweiflungsvoll, »wie es sich abwendet von der, die dich nicht verstehen kann, ich weiß, [82] daß du aufhören wirst, mich zu lieben, um bei den Athenerinnen zu finden, was sie dir nicht zu geben vermochte, und was bleibt dann für die, die dir aus Tanagra folgte, weil sie an dich glaubte, den sie geliebt?«

Von Schmerz überwältigt hing sie in seinem Arme, kraftlos wie eine Blume, die der Gewitterregen zur Erde beugte. Er blickte auf sie herab und sah die Fülle von Liebreiz, die in seinem Arme ruhte, reich, wie ihn keine Phryne zu bieten vermochte. Aber Tränen – die Götterwerke des Praxiteles weinten nicht, und Kummer und Jammer waren die Vorbilder nicht, an denen sie gereift waren.

»Weine nicht,« sagte er, und doch hatte er ein Gefühl, als stände ihm kein Recht zu, diesen Tränen Einhalt zu gebieten; »die Götter mögen uns einen Weg zeigen in diesen Wirrnissen und Qualen.«

Er löste ihre Arme von seinem Nacken und ging.

Am Rande des Wassers, an der Stelle, wo sich ihr Spiegelbild mit dem seinigen begrüßt hatte, saß Hellanodike nieder, und das teilnahmlose Element trank ihre Tränen so ruhig, wie es ihr Lächeln wiedergegeben hatte.

Mit dumpfem Herzen und wild entflammten Sinnen begab sich Myrtolaos zur Schenke am Ilissos.

Ein finsterer Groll gegen Hellanodike stieg in seiner Seele empor, denn er begann sie wie eine Last zu empfinden, die seine Phantasie in Fesseln schlug. Er dachte an ihre Tränen; aber sie rührten sein Herz nicht mehr, da sie ihm nur wie der Ausdruck der Angst erschienen, welche kalte Seelen vor der nahenden Liebe empfinden; er fühlte sich getrennt von ihr, die Böotierin bleiben und nicht Athenerin werden wollte, und er gedachte ihrer Worte, daß er bei Athenerinnen Ersatz suchen würde. Er stampfte mit dem Fuße auf:

»Deine Prophezeiung,« murmelte er vor sich hin, »kann in Erfüllung gehen.«

Bei Phaedimos war das Fest bereits in vollstem Gange, und er sah sich sofort in den wilden Strudel hineingerissen. Die erste Frage war natürlich, warum er Hellanodike nicht mitgebracht habe.

»Sie ist krank,« gab er zur Antwort.

»Krank?« rief ein üppiges Weib, das sich neben ihn setzte und ohne Umstände den Arm um seinen Nacken schlang. »Ich [83] will dich trösten, du einsamer Knabe,« und auf seinen Lippen, die noch den Druck des süßen Mundes empfanden, der sie vorhin berührt hatte, brannten die glühenden Küsse der Hetäre. Die Schönheit des Jünglings zog Augen und Sinne der Weiber so unwiderstehlich an, daß er sich bald von einem Schwarme derselben umgeben sah und sich ihrer Liebkosungen schier gewaltsam erwehren mußte.

Ein Becher thasischen Weines ward vor ihn hingeschoben; er stürzte ihn hinunter, um einen zweiten und dritten folgen zu lassen, und in der süßen, heißen Flut gingen die finstern, quälenden Zweifel unter, die ihn auf dem Wege herbegleitet hatten.

Er fuhr plötzlich wie aus einem Traume empor, und indem er mit der Faust auf den Tisch schlug, rief er: »Bei den Göttern, dies ist Athen!«

Ein Gelächter erhob sich unter den Anwesenden.

»Hast du daran gezweifelt, schöner Tanagräer?« sagte die schwarzäugige Kephisias, indem sie sich auf seine Schultern lehnte und ihm mit lachenden Augen ins Gesicht sah.

»Bevor ich dich gesehen hatte, ja,« versetzte er; »aber von nun an, siehst du, zweifle ich nicht länger.« Er umfing den üppigen Nacken des Weibes und bedeckte ihre Wangen und Augen mit Küssen, bis daß Polymakron, der am anderen Ende des Tisches saß, ihn mit einem »Holla!« unterbrach.

»Laß gut sein,« beschwichtigte ihn Lysias, »du wirst dich an seiner Hellanodike schadlos halten.«

Ein wieherndes Gelächter erschallte, und Myrtolaos lachte am lautesten mit.

Man tafelte und zechte in geschlossenem Raume, und allmählich verbreitete sich eine schwüle Hitze. Myrtolaos, des Trinkens weniger gewöhnt als seine Kameraden, ging hinaus, um an den Ufern des Ilissos einige Kühlung zu suchen.

Es war später Nachmittag geworden, und als er jetzt etwa hundert Schritte am Bache hinausgegangen war und über denselben hinsah, stand er plötzlich, wie angewurzelt vor einem wunderbaren Bilde, das sich vor ihm entfaltete.

Gerade vor ihm lag die Akropolis, und hinter ihren Zinnen tauchte die Sonne in das eleusische Meer hinab.

Mit einer Purpurglut war der Himmel bedeckt, daß es aussah, als loderte eine verbrennende Welt zu ihm empor, und aus [84] dem leuchtenden Hintergrunde trat markig und gewaltig der mächtige Felsen hervor, der die Heiligtümer Athens trug.

Er stand und schaute, keiner Bewegung fähig – da schlug der tobende Lärm aus der Schenke des Phaedimos an sein Ohr, und er floh den Bach weiter hinauf, denn unerträglich erschienen ihm diese Laute im Angesicht des feierlichen Schauspiels.

Endlich blieb er stehen; lautlose Stille war um ihn her, und in schweigender Majestät erhoben sich drüben die Säulen des Parthenon, des Erechtheus-Tempels und die ragende Gestalt der Pallas Athene. Und als er diese Säulen, Giebel und Bildwerke anschaute, die wie ein marmornes Gewebe sich auf dem goldigen Grunde abzeichneten, und die emporstrebten in den unermeßlichen Abendhimmel, ein verkörpertes Bild des Menschengeistes, der in die Geheimnisse der Ewigkeit zu tauchen begehrt, da überkam es ihn wie eine Offenbarung; die alten sehnsüchtigen Träume wachten wieder auf, die er vorzeiten als Knabe in den lokrischen Bergen geträumt, es war ihm, als erhöbe sich vom fernen Meere herüber eine brausende Stimme, die ihm zurief: »Dies ist das Athen, nach dem du mit ahnender Seele verlangtest;« und indem er der Worte gedachte, die er vorhin in der weindunsterfüllten Schenke des Phaedimos gesprochen, sank er in die Knie und schlug die Hände vor das Gesicht, als wollte er den Myrtolaos von jetzt vor dem Myrtolaos der einstigen Zeiten verbergen.

Der Morgen des nächsten Tages war angebrochen, als er nach langer, ungestümer Wanderung nach Hause kam. Bis zum Ufer des Meeres am Phaleron hatte ihn seine Unruhe getrieben, seine Glieder waren tödlich ermattet, aber Ruhe hatte er nicht gefunden. Alles was ihn gequält, war mit verdoppelter Gewalt wiedergekehrt: er hatte seine Natur abwerfen wollen, und jener Augenblick hatte ihn belehrt, daß es ein nutzloser Frevel war, da sie sich nicht abwerfen ließ. Seine Natur aber, das wußte er nun aus Erfahrung, brachte ihn da nicht hin, wo Praxiteles stand.

Er sah keinen Ausweg mehr, und Verzweiflung kam über ihn. An der Schwelle des Hauses begegnete er sich mit Praxiteles, und beide blieben, beim gegenseitigen Anblick, betroffen stehen.

Wie ein dämonisches, mit übernatürlichen Kräften begabtes Wesen erschien der Meister dem Jüngling. Was er mit Aufopferung seiner selbst nicht zu erreichen vermochte, dieser Mann [85] besaß es alles, und der feurige Blick des klaren Auges verriet, daß er nichts hatte aufgeben, nicht hatte unrein werden müssen, um es zu erlangen. Hatte auch er dereinst in Kämpfen gerungen, wie jetzt sein Schüler sie erleiden mußte, oder konnte es Naturen geben, die so gänzlich von der seinigen verschieden waren, daß Glut der Sinne sich ihnen unmittelbar in Glut des Gefühls umwandelte?

Und nicht minder überrascht blickte Praxiteles auf Myrtolaos, in dessen Antlitz die Seelenerregung der vergangenen Stunden tiefe, wunderbare Spuren gezeichnet hatte. Das schöne Knabengesicht war zu schwerem Ernste gereift, aus den einst so glücklich träumerischen Augen blickte stumme, klagende Erkenntnis und auf der Stirn lagerte sich der Unmut in tiefer, breiter Falte.

»Wie Hermes,« sprach Praxiteles vor sich hin, »der aus der Unterwelt zurückkehrt und an ihre Schauer zurückdenkt.«

Er trat auf Myrtolaos zu und faßte ihn an der Hand. »Komm,« sagte er, »diese Stunde ist die rechte; heute muß der Hermes von Olympia werden.«

Der Jüngling folgte ihm schweigend; er hatte gegen diesen Mann keine Fähigkeit zum Widerstande in sich. Aber ein Gefühl trostloser Vereinsamung zog in sein Herz. Er hätte Praxiteles zu Füßen fallen und ihn um Hilfe anflehen mögen in seiner Bedrängnis, und er war ihm nichts als eine Studie für seinen künstlerischen Gedanken; und jede Linie, die der Schmerz auf sein Antlitz grub, machte diese Studie nur um so wertvoller.

In der Werkstatt des Meisters, welche von der der Schüler entfernt lag, angekommen, hieß ihn Praxiteles die Gewandung ablegen und dann gab er ihm die Stellung, in der er ihn darzustellen gedachte. Der Geist des Künstlers schien seinen Händen vorgearbeitet zu haben, denn in kürzester Zeit war die denkbar schönste Haltung gefunden, die der schöne Körper anzunehmen vermochte. Der linke Arm ruhte leicht auf einen Säulenstumpf gelehnt, während die erhobene Rechte den Hermesstab halten sollte; der Kopf war träumerisch ein wenig gesenkt. Und nun ging es ans Werk.

Myrtolaos hatte Praxiteles noch nicht arbeiten gesehen; mit Staunen sah er es jetzt: Mit einer Rastlosigkeit und zugleich mit einer Sicherheit, als würde jedes Glied an seinem Körper von [86] stählernen Federn regiert, griff er den Ton an, aus dem er zu modellieren begann; und wenn er die Augen auf den Jüngling richtete, um die Linien von seiner Gestalt abzulesen, so glaubte dieser, körperlich die sengende Gewalt dieser Augen zu fühlen; sie waren wie Diamanten, die das Glas zerschneiden.

Stunde zog nach Stunde hin, und rastlos arbeitete Praxiteles.

Kein Wort wurde gesprochen, und der einzige Laut, den man vernahm, war das leise Stöhnen des Jünglings, in dem die Aufregung der schlaflosen Nacht eine tiefe Ermattung hervorgerufen hatte.

Praxiteles hörte es nicht und sah nicht sein bleich und bleicher werdendes Gesicht. Stumm und beinahe mit Grausen blickte Myrtolaos auf den Mann, der an seinem Werke wie der Tiger über seinem Raube saß.

So unerbittlich gegen sich und andere mußte also der Mensch beschaffen sein, der Werke schaffen wollte, wie Praxiteles; eine Ahnung kam ihm von der Furchtbarkeit der Kunst, die so milde in ihren Zielen und so grausam in der Verfolgung ihres Zieles ist; er fühlte, daß sein weiches Herz diese stählerne Härte nicht besaß; eine düstere Wahnvorstellung schwamm wie ein graues Gewölk aus seinem Herzen zu seinen Augen empor: es war ihm, als würde er, wie Metall, aus dem man ein Bildwerk gießen will, in die Glut einer feurigen Esse geschoben – er fühlte die Qual der Vernichtung. –

»Ich kann nicht mehr,« sagte er plötzlich mit lallender Stimme; sein Haupt senkte sich, und in der Ohnmacht, die ihn befiel, wäre er schwer zur Erde niedergeschmettert, wenn Praxiteles ihn nicht aufgefangen hätte.

Indem er ihn auf ein Ruhebett legte, blickte der Bildhauer zum ersten Male zur Sonne auf; sie war längst über den Mittag hinüber.

Als Myrtolaos aus seiner Ohnmacht zu sich kam und die noch verschleierten Augen halb öffnete, sah er ein weibliches Antlitz auf sich gebeugt und eine weiche Hand stützte sein müdes Haupt.

»Hellanodike?« flüsterte er leise.

»Nicht Hellanodike,« gab eine lachende Stimme zur Antwort; er blickte auf und erkannte Phryne.

»Armer Hermes,« sagte sie, »ich weiß, was es heißt, in die Hände jenes Schrecklichen zu fallen; er tötet uns, damit er uns [87] unsterblich mache.« Sie hob einen Becher an seine Lippen und flößte ihm einige Tropfen Wein ein, so daß er die erloschenen Kräfte allmählich wiederfand.

»Ist er wieder bei uns?« fragte Praxiteles, der sich von seinem Werke erhob. Er trat heran und legte die Hand auf die bleiche Stirn des Jünglings.

»Armer Junge,« sagte er lächelnd, »es war dir zu viel geworden, du hattest noch keine Nahrung zu dir genommen.«

»Und wovon lebst du?« rief Phryne, indem sie die Augen zu Praxiteles erhob, »denn ich weiß, daß auch du noch keinen Bissen heute genossen hast.«

»Ich?« rief Praxiteles. Er lachte jauchzend auf und fiel wieder über seine Arbeit her.

»Bei den Göttern,« sagte das Weib, »er ist kein Mensch, er ist einer von den Dämonen.«

Sie trat hinter ihn, und da er von seinem Werke nicht aufsah, legte sie die Hände auf seine Schultern und blickte über dieselben hinweg auf die Wunderblume, die unter seinen Händen entstand.

»Du Zauberer,« flüsterte sie mit tiefer Bewunderung und schmiegte ihre Wange an die seinige. Jetzt sah er auf, warf den braunen sehnigen Arm um ihre Hüfte und zog sie auf sein Knie. Indem er in ihr Antlitz schaute und in den geistvollen Zügen desselben die Wonne las, die ihre Seele mit allen Poren aus dem Anblick des aufdämmernden Kunstwerkes sog, sprang er empor und mit einem Schrei des Entzückens, der rauh und wild aus seinem Busen brach, faßte er das schöne Weib in seinen kraftvollen Armen, warf sie, leicht wie ein Kind, empor und ließ sie an sein hochaufklopfendes Herz zurücksinken, an dem sie hangen blieb, indem sie sein Antlitz mit bacchantischen Küssen bedeckte. Staunend sah der bleiche Myrtolaos von seinem Lager diesem Schauspiele zu; wie ein spielendes Löwenpaar, das seiner Freiheit genießt, so erschienen ihm die beiden, einer Freiheit, die allem, was nicht Löwe ist, wie Wildheit erscheint.

Endlich kam Phryne mit heißen Wangen und fliegendem Atem zu ihm zurück. »Hermes,« sagte sie, »nun noch ein Wort und einen Trost für dich: morgen feiern wir ein Fest. Die Abgesandten von Knidos kommen, um die Aphrodite abzuholen, die Praxiteles für sie geschaffen; wir werden sie bewirten und dazu Mnemarch einladen und noch eine – weißt du wen?«

[88] Er senkte schweigend die Augen.

»Schwermütiger Tanagräer,« sagte sie und nahm sein lockiges Haupt zwischen ihre Hände, »morgen sollst du wieder heiter werden.«


* * *


Es war am Vormittag des nächsten Tages, als vor dem Hause des Mnemarchos das Volk zusammenlief.

»Was gibt's?« fragten die Vorübergehenden.

»Sie ist in dies Haus gegangen,« war die Antwort.

»Sie? Wer?«

»Nun wer? Phryne.«

Das genügte, und wie die Fliegen am Stocke blieben die schönheitsdurstigen Athener an der Tür hängen, um den Augenblick zu erlauern, wo sie aus derselben wieder heraustreten würde; denn der Tag, da man Phryne, den schönen Liebling der Stadt, gesehen, war kein verlorener, und wenn man deshalb von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang auf dem Straßenpflaster hätte herumstehen müssen.

Im Gartenhofe stand Hellanodike und lauschte auf den dumpfbrausenden Lärm draußen; und jetzt fuhr sie auf, denn in den Garten trat ein Weib, wie sie nie eines gesehen. Von der schlanken Sohle bis zum lachenden Auge hinauf war alles sprühendes Leben, Duft und Schönheit, und wenn sie nicht geahnt hätte, wer die Fremde wäre, so hätte sie es aus Mnemarchs Munde erfahren, der seinen Gast begleitete und sie mit faden Schmeicheleien überschüttete.

»Göttliche Phryne,« rief er, »du begnadigst mein Haus. Man wird sagen, daß die Sonne sich mit dem Morgenstern in meinem Hause ein Stelldichein gegeben habe;« er schaute blinzelnd zu Hellanodike hinüber, die beklommen im Hintergrunde des Hofes stehen geblieben war.

Ohne auf ihn zu achten, ging Phryne geradeswegs auf Hellanodike zu.

»Hellanodike,« sagte sie, »die Tochter des Myronides aus Tanagra?« und sie bot ihr grüßend die Hand.

Leise legte die andere die ihrige hinein.

»Ich sehe,« sagte sie, »daß du mich kennst.« Sie erhob die Augen, und die beiden Frauen sahen sich einen Augenblick schweigend an. Es war ein bedeutungsvoller Blick. Schöne [89] Frauen können nicht gleichgültig nebeneinander hergehen; sie werden Freundinnen oder Feindinnen werden, und der Instinkt des Herzens, jene Naturmacht, die der Frau stärker innewohnt als dem Manne, weil sie von der unbewußten Natur noch weniger losgelöst ist als dieser, verleiht ihrem Herzen ein rascheres Verständnis für die Schwingungen des Nebenherzens, als dies dem Manne gegeben ist.

Stolz und überlegen, fast um eine halbe Kopfeslänge größer und in entwickelterer, vollerer Schönheit stand Phryne neben der zarten jungfräulichen Gestalt, und dennoch, während sie auf das bescheiden geneigte Haupt niederblickte, empfand sie, daß im verborgensten Grund dieser schüchternen Seele ein Etwas war, das ihr, der siegreichen Phryne, ein »zurück von mir« zurief, jene Kraft, die aus Schwäche geboren, einer Welt Widerstand leistet, Jungfräulichkeit. Dieses empfinden, und zugleich unbewußt beschließen, diesen Widerstand zu brechen, war in der Seele des sieggewohnten Weibes ein einziger Moment.

»Ich komme, dich einzuladen,« sagte sie; »Praxiteles gibt den Abgesandten von Knidos ein Fest, und Myrtolaos, deinem und unserm Freunde, würde die Mahlzeit nicht munden, wenn du uns dabei fehltest.«

Hellanodike errötete von der Stirn bis in den Nacken. In dem Tone dieser Worte, die ihre Liebe zu Myrtolaos so leichthin wie etwas alltäglich Selbstverständliches behandelten, lag etwas, das sie abstieß und empörte. Das keusche Geheimnis ihres Innern war kein Geheimnis mehr; fremde Augen hatten darin gelesen und sich daraus die Schlüsse gezogen, die ihnen die richtigen erschienen.

»Frauen an der Tafel mit Männern?« fragte sie mit erzwungenem Lächeln. Im Hause ihres Vaters wäre ihr das unmöglich erschienen.

»O ich weiß,« erwiderte Phryne, »daß es den griechischen Frauen wie eine Verletzung ewiger Gesetze erscheint, wenn sie das Frauengemach verlassen und sich unter Männer begeben sollen. – Welche Torheit; sind wir nicht aus den Händen einer und derselben Natur hervorgegangen, und heißt Verschiedenheit der Geschlechter Feindschaft zwischen ihnen? Nimmermehr; sondern Ergänzung heißt das Gesetz, das über Mann und Weib regiert. Ja, ich liebe die Männer, denn ich sonne mich gern in den Strahlen, die aus dem Auge des geistesgewaltigen Mannes [90] leuchten, ich zittre gern vor der ungestümen Kraft, und ich lache der Frauen, die mich tadeln, weil ich so denke, wie ich spreche, und tue, wie ich denke; und ich liebe das Weib, denn in seiner Schönheit verehre ich das sichtbar gewordene Gesetz der großen Harmonie, die den zügellosen Mann bändigt und den trägen zur Tat erweckt. Und so wie ich den Mann verachte, der solcher Macht sich entzieht, so zürne ich den griechischen Frauen, die sich in törichter Scheu vor den Männern verstecken, statt daß sie die Weisung verstehen lernen, die die Götter mit leuchtender Schrift auf ihre prangenden Glieder geschrieben, statt daß sie heraustreten unter die Männer und die Wilden zu Gesitteten, und diese Menschenwelt zu einem Elysium machen, in dem die Leidenschaften nur noch erwärmen, aber nicht mehr verzehren, die Kräfte wetteifernd ringen, nicht aber mehr in tödlicher Fehde sich zerstören. Komm doch,« ihre Stimme ward sanft, einschmeichelnd, und sie schlang den Arm um den immer noch glühenden Nacken des Mädchens, »warum willst du dich fürchten? Furcht ist solch ein häßlicher Wurm in der süßen duftenden Rose der Lebensfreude. Komm, geh mit mir, fühle den Reiz, den es gewährt, wenn die Augen edler Männer an deiner Schönheit aufleuchten und du zwischen ihnen stehst, wie ein Gestirn, dessen Dasein schon genügendes Verdienst ist – oder glaubst du,« und ihr Ton ward ernster, »daß andere als edle Männer im Hause des großen Praxiteles verkehren dürfen? Oder sollte er es dir noch nicht gesagt haben, daß du es wagen darfst, vor das Auge aller Preisrichter der Schönheit zu treten und zu sagen: Richtet?«

Sie hatte die Hand unter Hellanodikes Kinn gelegt und hob ihr Antlitz empor, indem sie ihr schalkhaft lächelnd in die Augen sah.

Unwillkürlich lächelte Hellanodike wieder, als sich die sprühenden dunklen Augen in die ihrigen tauchten; und Phryne hatte gewonnen.

Sie klatschte vergnügt in die Hände.

»Mnemarchos,« wandte sie sich an diesen, der mit gespitzten Ohren der Verhandlung gefolgt war, »sammle allen Witz und Geist, über den du gebietest, damit du heute würdig seiest in der Gesellschaft der zwei schönsten Frauen von Athen zu speisen.« Mnemarch verneigte sich mit süßlichem Lächeln.

»Und nun kein Säumen,« fuhr Phryne zu Hellanodike fort; »ich nehme dich stehenden Fußes von hier zu uns hinüber und werde selbst die Zofe spielen, die dich geziemend kleidet.«

[91] »Du selbst wolltest?« fragte Hellanodike.

»O, du sollst sehen, daß ich bei den Bildhauern gelernt habe.«

Während Mnemarch sich entfernte, begaben sich die Frauen in Hellanodikes Gemach und suchten die Kleider und Schmuckstücke hervor, die Phryne für das heutige Fest passend schienen. Sie nahm die Sache ernst und es währte geraume Zeit, bis daß sie ihr Werk zu ihrer Zufriedenheit vollbracht hatte. Endlich war es beendet, und kein Künstler hätte vermocht, die schöne, junge Gestalt reicher und angemessener zur Geltung zu bringen, als Phrynes Hände.

»Nun fehlt uns noch ein Schmuck,« sagte sie, indem sie sich vor sie hinstellte und das lichtblaue Obergewand, das Hellanodikes schlanke Figur umfloß, in die letzten Falten rückte; »wie ist es, brachte er dir nicht die Spange, die ich ihm für dich mitgab?«

»Sie war zu weit für meinen Arm,« erwiderte Hellanodike errötend; »dort liegt sie.«

In Phrynes Augen zuckte ein böser Blick. »Ei wie, zu weit,« sagte sie, »ihr habt nicht zugesehen, sie läßt sich enger machen.«

Die Spange, aus feinstem Golde gearbeitet, ließ sich in der Tat zusammendrücken, so daß die Schlußplatten, statt aneinander zu stoßen, einander überragten. In dieser Weise schlang Phryne den Schmuck um Hellanodikes linken Oberarm, kalt fühlte diese das Metall auf ihrer Haut, und ein Schauer überlief sie.

Phryne hielt den schönen Arm einen Augenblick in der Schwebe.

»Du Reizende,« sagte sie, indem sie ihn sinken ließ und einen plötzlichen Kuß auf die runde, weiße Schulter drückte, die voll und weich aus der Gewandung hervorblickte.

Die Pforten öffneten sich, und den Arm um ihre Schulter geschlungen, trat Phryne mit Hellanodike auf die Straße hinaus.

Unwillkürlich schrak diese zurück, als sie das tobende Jubelgeschrei vernahm, das ihnen entgegenschlug.

»Nur Mut,« flüsterte ihr Phryne lächelnd zu; »die guten Athener sind nun einmal ein wenig laut, wenn sie sich freuen.«

Mit königlichem Anstande schritt sie durch die umdrängende Volksmasse hin.

Ein dunkelgebräunter Bursche, halb Knabe, halb Jüngling, machte sich durch seinen Eifer besonders bemerkbar. Er ging vor den Frauen wie ein Herold einher, indem er sich von Zeit zu [92] Zeit mit leuchtenden Augen umsah und lachend seine weißen Zähne zeigte.

»Heil der göttlichen Hetäre, Heil der schönen Phryne!« schrie er mit einem Male mit fanatischem Jubel, und sofort pflanzte sich der Ruf durch die Masse fort: »Heil der göttlichen Hetäre!«

Hellanodike zuckte zusammen. »Die Kecken,« flüsterte sie, »hörst du, was sie sagen?«

Phryne lachte und schlang den Arm fester um ihre Schultern.

»Wer mag die andere sein, die mit ihr geht?« sagte ein älterer Mann so laut zu seinem Begleiter, daß Hellanodike jedes Wort vernahm; »sie ist kaum minder schön als Phryne.«

»Ich weiß nicht,« versetzte der Angeredete; »jedenfalls eine neue Hetäre, die den Olymp des Praxiteles bevölkern soll.«

»Glückseliger Olympier,« sagte der erste; und beide lachten. Hellanodikes Antlitz war wie mit Blut übergossen; der Boden, über den sie schritt, erschien ihr wie glühendes Metall, und sie wagte die Augen nicht mehr zu erheben.

Wie eine Erlösung erschien es ihr, als sie endlich das Haus des Praxiteles erreicht hatten.

Die Abholung des Kunstwerkes durch die Gesandten von Knidos war ein Ereignis, denn sie offenbarte von neuem die geistige Überlegenheit Athens über das übrige Griechenland; in den Vormittagsstunden hatte daher vor dem versammelten Rate der Stadt ein feierlicher Akt stattgefunden, in welchem die Gesandten begrüßt wurden; das Fest bei dem Künstler und die eigentliche Übergabe des Werkes sollten den Schluß machen, und die ersten Bürger der Stadt waren als Teilnehmer des Festes geladen.

Jetzt kamen von der Akropolis Sklaven herbeigestürzt, die die Nachricht brachten, daß der feierliche Zug unterwegs sei; im Hause des Praxiteles ertönte der laut hallende Schlag eines messingenen Beckens, das im Vorderraume hing; die Sklaven sammelten sich, festlich geschmückt, an der Pforte des Hauses, und dann kamen, begleitet von den drei Archonten, den Oberhäuptern der Stadt und von anderen ansehnlichen Bürgern, die knidischen Gesandten an.

Auf der Schwelle des Hauses trat ihnen der Hausherr entgegen und begrüßte sie mit stolzer Höflichkeit.

Der Duft von frischen Blumen wogte durch das ganze Haus, im Vorraume, der die Eintretenden empfing, waren die [93] erlesensten Bildwerke des Meisters aufgestellt, und wohin das Auge sich wenden mochte, begegnete es Anordnungen eines so überlegenen Geschmackes, daß die Gäste sich in eine höhere geistige Welt versetzt fühlten.

Praxiteles schritt voran, und sie betraten den von Säulen umgebenen, oben offenen Mittelraum des Gebäudes. Zwischen den Säulen, dem Eingang gegenüber, so daß er den Hintergrund verdeckte, war ein Vorhang von schwerem, dunklem Stoffe angebracht und vor demselben Sessel aufgestellt, auf denen die Eintretenden sich niederließen. Der Hausherr verschwand hinter dem Vorhange, und gleich darauf ertönte eine sanfte Musik von Flöten und Saiteninstrumenten; der Vorhang rauschte langsam und geräuschlos an den Säulen nieder, und wie gebannt saßen die Gäste bei dem unaussprechlich schönen Anblick, der sich ihnen bot:

Inmitten des Raumes, schneeweiß sich abhebend von dem dunklen Hintergrunde, den dichte grüne, zwischen den Säulen aufgerankte Blumen- und Laubgewinde bildeten, stand die Aphrodite des Praxiteles.

Eine lautlose Pause tiefsten Schweigens trat ein, dann aber sprang alles von den Sitzen auf, und ein wirres Durcheinander entzückter Ausrufe verkündete den Eindruck, den das wunderbare Kunstwerk hervorgerufen hatte.

Die Archonten vergaßen ihre staatliche Ehrwürdigkeit; die Gesandten ihre amtliche Zurückhaltung, alles drängte sich an Praxiteles, und jeder wollte der erste sein, der ihn umarmte und an das Herz drückte. Einzelne gingen in ihrer Begeisterungswut soweit, daß sie das leuchtende Marmorbild umarmten und mit Küssen bedeckten, so daß der Meister ihnen lachend Einhalt tun mußte.

So war schon alles in begeistertster Stimmung, als jetzt die Sklaven erschienen und, indem sie die Gäste mit Rosenkränzen schmückten, das Zeichen gaben, daß die Mahlzeit bereitet war.

Man trat in den Speisesaal, und ein neuer Ausruf des Staunens und der Überraschung rauschte durch die Versammlung.

An der den Eintretenden gegenüberliegenden Hinterwand des Saales waren Stufen, und auf der obersten derselben stand ein Weib, das in den schönen nackten Armen einen zweihenkligen Krug emporhielt, während ihr zu Füßen ein Jüngling und ein Mädchen auf den Stufen saßen, die jedes einen Becher zu ihr emporhoben.

[94] Die lachenden Augen des Weibes, die tief errötenden Wangen des Mädchens und des Jünglings, und das leise Zittern, das den Leib des Mädchens bewegte, verrieten, daß dieses Dreigestirn von Schönheit und Lieblichkeit nicht aus Marmor, sondern Fleisch und Blut war.

»Aphrodite! Aphrodite!« so erscholl es unter den Gästen, denn man hatte in dem schönen Weibe das Urbild des eben gesehenen Marmorwerkes erkannt. »Aphrodite, welche dem Ganymed und der Hebe den Becher füllt,« erklärte einer der Archonten.

»Nicht Hebe, sondern Iris,« sagte ein anderer; »darauf deutet das lichtblaue Gewand, in dem ihr sie erblickt.«

Phryne-Aphrodite neigte den Krug, füllte die erhobenen Becher und die zwei ersten Archonten traten heran, um die Pokale in Empfang zu nehmen.

Nachdem die Becher die Runde durch die Versammelten gemacht hatten und jeder einen Zug daraus getrunken, sprang Phryne lachend von ihrem Piedestal herab und trat zu Praxiteles heran, während Myrtolaos und Hellanodike sich gleichfalls erhoben.

»Bist du zufrieden? Und habe ich in deiner Schule gelernt?« fragte sie den Bildhauer mit leuchtenden Augen.

»Ihr Männer von Knidos,« sagte dieser, indem er den Arm um ihre Hüfte legte, »wenn ihr in eure Heimat zurückkehrt, werdet ihr sagen können, daß ihr Phryne gesehen habt, der Aphrodite ihren Leib, Pallas ihren Geist –«

»Und Praxiteles seinen Meißel lieh,« unterbrach ihn das Weib mit zärtlichem Stolze.

Im Sturm hatte Phryne Sinne und Herzen der Anwesenden erobert, und einstimmig ward beschlossen, ihr das Amt des Symposiarchen, d.h. des Festordners, zu übertragen. Diese Stellung gab ihr die Befugnis, alles dasjenige anzuordnen, was zur Unterhaltung der Gäste und Erhöhung der Festfreude dienen konnte; der Geist des Festes ruhte in ihren Händen.

Mit glänzendem Geschick entledigte sie sich ihrer Aufgabe, und staunend sah und hörte ihr Hellanodike zu, welche schüchtern und schweigsam in der ungewohnten Männergesellschaft saß. Niemand schenkte ihr besondere Aufmerksamkeit, denn alles hing an Phryne. Myrtolaos hatte fern von ihr am anderen Ende der Tafel seinen Platz, und nur einer war in der ganzen Versammlung, dessen Augen an Phryne vorübergingen, um an [95] Hellanodike hangen zu bleiben. Es war Mnemarch. Er sprach wenig, und seine stummen Blicke nahmen, je mehr er von dem feurigen Weine genoß, einen immer heißeren, verzehrenderen Ausdruck an. Nie war ihm das Mädchen so schön und begehrenswert erschienen wie heute.

Nachdem man bereits einige Stunden getafelt und die Stimmung der Anwesenden ihren Höhepunkt erreicht hatte, winkte die schöne Festordnerin einen der aufwartenden Sklaven zu sich heran und flüsterte ihm einige Worte zu. Gleich darauf öffneten sich die Pforten des Saales, und mit rauschendem Lärm, mit Flöten und rasselnden Tamburinen kam ein Schwarm von Mädchen und Jünglingen hereingestürmt. Alle Gespräche verstummten, und alles wandte seine Aufmerksamkeit den neuen Ankömmlingen zu, die sich zum Tanze ordneten.

Anfänglich war der Reigen gemessen und die Bewegungen der Tanzenden zurückhaltend; mit zunehmender Wärme aber wurden die Verschlingungen kühner, die Jünglinge griffen fester zu und ließen ihre Tänzerinnen höher im Schwunge emporfliegen; einzelnen der Mädchen lösten sich die Haare, anderen rissen die Tänzer die Bänder auf, welche das Haar auf ihrem Haupte zusammenhielten, und so raste der wilde Schwarm wie eine Schar von Mänaden jauchzend und tobend durcheinander.

Die Augen der Gäste glühten, Phryne stand aufgerichtet am Ende der Tafel und blickte mit ruhigem Lächeln auf das wilde Schauspiel.

»Haltet ein!« rief sie plötzlich mit heller Stimme in den Haufen hinein, und unverzüglich leistete man ihrem Gebote Folge. »Euer Tanz wird zu wild,« sagte sie, »und es fehlt ihm das Beste. Ist keine unter Euch, die uns durch einen Einzeltanz erfreuen könnte?«

Eins der Mädchen trat vor.

»Schöne Phryne,« sagte sie, indem sie das lange Haar aus dem erglühenden Gesichte strich, »bei anderen Festen bin ich es, die den anderen vortanzt; hier aber darf ich mich dessen nicht unterfangen.«

»Weshalb nicht hier?«

»Weil Phryne anwesend ist, vor der meine Kunst zuschanden werden müßte, denn jedermann in Athen weiß, daß niemand zu tanzen versteht wie sie.«

Die Gäste sprangen von ihren Sitzen auf.

[96] »Zeige uns deine Kunst, Phryne,« hieß es, »Phryne soll tanzen.«

Sie schien einen Augenblick zu überlegen, dann trat sie mitten in den Saal; die Mädchen, sowie die Jünglinge wichen zurück, um ihr Platz zu machen. Sie winkte dem einen der Flötenspieler zu, und zum Rhythmus, den er blies, begann sie einen der Musik entsprechenden, langsamen, feierlichen Tanz. Das lange Gewand, das bis auf ihre Füße ging, hinderte sie an schnelleren Bewegungen, und ihr Tanz bestand wesentlich nur in einem abgemessenen Schreiten, einem Neigen des Körpers, einem Aufraffen und Wiederfallenlassen des Gewandes. Trotzdem waren ihre Bewegungen von solcher Anmut, daß sich ein Beifallsgeschrei unter den Anwesenden erhob.

»Ihr seid zu nachsichtig,« sagte Phryne lachend, »wenn Ihr Euch mit solch schläfrigem Tanze begnügt.«

»So zeige uns einen munterern,« rief Praxiteles, vom Wein erhitzt.

Die Augen des Weibes blinkten in einem seltsamen Feuer auf.

»Wartet einen Augenblick,« rief sie und verschwand aus dem Saale.

Ein gespanntes Schweigen trat ein, flüsternd unterhielten sich die Gäste, und alle Augen waren erwartungsvoll auf die Pforte gerichtet, durch welche Phryne gegangen war. Plötzlich schlugen die Vorhänge zurück, und ein Schrei des entzückten Staunens brach aus allen Kehlen.

Das Obergewand hatte sie abgeworfen, das Unterkleid von feinstem weißen Linnen, das sich eng um die üppigen Formen des Oberleibes schloß, war bis zu den nackten leuchtenden Knien aufgeschürzt, und auch der Sandalen hatte sie sich entledigt.

Elastisch wie ein Panther war sie mit einem Sprunge unter den Mädchen, riß dem einen derselben das Tamburin aus der Hand und indem sie sich selbst begleitete, begann sie einen wilden bacchantischen Tanz.

Jede Linie des reizenden Leibes war Wollust der Bewegung, und wie sie die Augen der Männer mit verzehrender Glut auf sich gerichtet fühlte, überkam sie die Wonne vergangener wilder Tage; sie war wieder Phryne, die Hetäre, und ihre Augen, die bald in wilder Glut aufloderten, bald in süßem Schmachten erloschen, bekundeten den üppigen Rausch, in dem sie mit Leib und [97] Seele aufgegangen war, ihrer selbst vergessend, umrauscht vom Beifallsgejauchze der Männer, der Weiber und aller, welche zuschauten; immer wilder ging der schwärmende Tanz, immer enger schloß sich das zarte Gewand an den fliegenden Busen und ließ die Geheimnisse des schönen Leibes mehr und mehr erraten; plötzlich brach sie den Tanz ab, und während alles in Ekstase war und sich nicht zu fassen vermochte, stand sie, die Versammlung lächelnd überblickend, scheinbar die einzige, die ganz ruhig und ihrer selbst mächtig war.

Sie machte eine Bewegung, als ob sie schauerte, und hob den einen der unbeschuhten Füße von den Marmorfliesen des Bodens.

»Dieser Boden ist kalt,« sagte sie, »mich fröstelt; bei wem finde ich Schutz?«

»Bei mir!« und »bei mir!« scholl es lachend von allen Seiten zur Antwort, und dieser und jener reckte die Arme verlangend nach der schönen Schutzbedürftigen.

Sie achtete nicht darauf.

»Bei dem Schönsten!« rief sie mit einem hellen, klingenden Schrei und jählings, bevor die verblüfften Gäste sich dessen versahen, sprang sie auf das Polster, auf welchem Myrtolaos ruhte, und schmiegte sich eng an den schönen überraschten Jüngling.

Hellanodike flog halb von ihrem Sitz empor.

Phryne hatte es bemerkt; mit wildem, tollem Lachen schlang sie die Arme um Myrtolaos, während ihre Augen mit herausforderndem Hohne zu dem Mädchen hinüberzuckten.

Sie ergriff den Becher, der vor ihr stand.

»Füllt die Becher, Ihr Sklaven,« rief sie, »und gebt auch jenen Mädchen und Knaben dort Wein, daß niemand hier sei, der mit kalter Nüchternheit auf die Trunkenheit der Seligen blicke!«

Die Sklaven gehorchten; Phryne hob den Pokal empor.

»Hört, was die Festordnerin gebietet, sterben soll die Nüchternheit, sterben die Kälte und die Ehrsamkeit.«

»Sterben sollen sie, sterben,« scholl es im wilden Chor.

»Und leben soll der heilige Wahnsinn, die göttliche Raserei.«

»Leben sollen sie,« erklang es als Antwort.

Ein wildes, sinnentaumelndes Bacchanal begann, und während die Männer die Dirnen an sich heran und auf den Schoß rissen, beugte Phryne die Lippen dicht zu Myrtolaos Ohr.

[98] »Hör' mich an, du schöner, törichter Knabe,« flüsterte sie mit heißer Stimme, »dem ich wohl will, obgleich du so wenig nach mir fragst, ich sehe dir an, daß du leidest, und ich weiß, was dir fehlt: du möchtest ein Künstler sein, wie Praxiteles, und kannst es nicht werden, weil du ein heißes Herz an eine kalte Geliebte geknüpft hast.«

Myrtolaos sah sie betroffen an und verstummte.

»Siehst du, daß ich in deinen Gedanken lese,« fuhr Phryne leise triumphierend fort – »wohlan, ich will dir helfen, ich will dich zu einem Künstler und deine Böotierin zu einer Athenerin machen.«

»Wie meinst du das?« fragte er staunend.

»Du wirst es sehen,« versetzte sie hastig; »laß mich gewähren und störe mich nicht; bedenke, daß alles zu deinem Wohle geschieht.«

Bevor er noch den Sinn ihrer Worte zu fassen vermocht, erhob sie sich auf dem Polster, darauf sie lag.

»Gebt Frieden!« rief sie in den tosenden Schwarm, und ein augenblickliches Schweigen trat ein.

»Ihr Männer,« sagte sie mit heller Stimme, »Ihr kennt das Urbild, nach welchem Praxiteles seine knidische Göttin schuf – ist einer unter Euch, der Phryne tadelt, daß sie dem Meister dazu ihren Leib geliehen?«

»Wer das täte,« sagte einer der Gesandten von Knidos mit lallender Junge, »den sollte man zu den Paphlagoniern schicken und Eicheln essen lassen.«

»Sei nicht zu streng,« wandte sich Phryne lächelnd an den Gesandten, »denn dein Wort möchte ein Weib treffen, und dann wäre es nicht zart.«

»Eine Frau?« sagte Praxiteles.

»Hört denn,« und Phrynes Stimme wurde schärfer, »es ist eine unter uns, die im Innersten ihres Herzens Phrynes Tun verdammt; die Freundin eines Künstlers, wie Phryne die Freundin eines solchen ist, die ihrem Freunde verweigert, was Phryne dem ihren gewährt.«

»Wen meinst du?« scholl es jetzt von allen Seiten.

»Dort – Hellanodike, die Tochter des Myronides aus Tanagra.«

Aller Augen wandten sich auf Hellanodike, die zitternd an allen Gliedern, wie in Feuer gebadet saß.

[99] »Seht sie an,« fuhr Phryne fort, »saht Ihr je eine Gestalt, die Pallas mehr nach ihrem Ebenbilde erschuf? Ist es recht, was sie tut, daß sie ihrem Freunde verweigert, sich als Pallas zu zeigen?«

Myrtolaos fuhr auf –

»Was tust du?« sagte er halblaut zu Phryne.

Sie legte die Hand auf seine Schulter und drückte ihn lächelnd nieder.

»Dort sitzt der Gebieter im Reiche des Schönen,« sagte sie, indem sie auf Praxiteles zeigte. »Wohlan denn, sprich, ob die Kunst ein Recht hat an diesem Weibe, und ob sie der Kunst ihr Recht noch länger verweigern darf?«

Praxiteles erhob sich lachend von seinem Sitze.

»Dazu bedarf es keines Meisters der Kunst,« sagte er, »um zu erkennen, daß dieses schöne Kind –«

»Pallas, sie soll sich als Pallas zeigen,« unterbrach ihn ein wüstes Geschrei aus zwanzig Kehlen. Die Gäste hatten Phrynes Meinung erkannt und ergriffen den Gedanken mit Begierde.

»Du hörst,« wandte sich Phryne an Hellanodike, »du mußt dich ihrem Gebote fügen; dort steht der Paris, zeige dich ihm so, wie Pallas vor dem Sohne des Priamus stand.«

Das geängstigte Mädchen drückte beide Arme auf die Brust.

»Nimmermehr,« keuchte sie hervor, »nimmer, nimmermehr!«

»Du mußt,« schrie Phryne mit scharfer, schneidender Stimme. Sie war zu Hellanodike geeilt, und mit einem Griffe hatte sie die Agraffe, die das Kleid auf der Schulter hielt, gefaßt und gelöst. Mit der Kraft der Verzweiflung sprang Hellanodike auf, stieß die Angreiferin zurück und wollte aus dem Saale entfliehen.

»Helft mir,« schrie Phryne den Tänzerinnen zu, und wie ein Schwarm von Dämonen fielen sie über Hellanodike her, der sie den Weg zum Ausgang versperrten.

Es bildete sich ein dichter, wirrer Knäuel um sie, und die schönen, entsetzten Augen irrten in stummer Not im Kreise ihrer Peinigerinnen umher, während sie krampfhaft das Gewand auf der Schulter festzuhalten versuchte.

»Haltet den Böotier fest,« ertönte jetzt plötzlich Mnemarchs Stimme, welcher bemerkt hatte, wie Myrtolaos von seinem Polster aufsprang.

[100] Zwei Sklaven warfen sich über ihn, faßten ihn an den Armen und Schultern und drückten ihn mit Aufbietung aller Kraft auf den Sitz nieder.

»Laßt mich,« schäumte Myrtolaos, aber sie ließen ihn nicht, sondern hielten ihn wie mit eisernen Fäusten fest.

Dies war die Losung zum Äußersten und Letzten.

Die Dirnen verwandelten sich in rasende Mänaden; sie faßten Hellanodike an Händen und Armen, und ein Triumphgeschrei ertönte, als das blaue Gewand zerrissen von ihren Schultern herniederflatterte. Schneeweiß leuchtete es inmitten des dunklen Gewirrs von schwarzen Locken und glühenden Gesichtern auf, und mit der Anstrengung der letzten Todesangst preßte sie die Arme auf den entblößten Busen, um das sinkende Kleid zu halten.

Jetzt stürzte Mnemarch, dessen Gesicht den Ausdruck eines Raubtieres angenommen hatte, mitten in den Schwarm und auf Hellanodike zu; mit einer Hand faßte er die schönen, nackten Arme, um ihren Widerstand zu brechen, mit der anderen griff er in den Busen ihres Gewandes, um es mit einem letzten frechen Griffe vollends herunterzureißen.

»Myrtolaos!« gellte ein zitternder, verzweifelter Schrei.

Da erscholl am andern Ende des Saales ein wild aufheulender Schmerzensschrei, über den Tisch hinweg kam es mit einem gewaltigen Sprunge mitten in den tobenden Haufen hinein, die Dirnen taumelten rechts und links zur Seite, und rücklings fühlte sich Hellanodike von einem riesenstarken Arme umfaßt. Im nächsten Augenblicke fiel es krachend auf Mnemarchs Scheitel nieder, sein Haupt knickte auf die Brust, seine Hände sanken herab, und von einem Faustschlage getroffen, der mit der Gewalt eines Schmiedehammers geführt zu sein schien, stürzte er ächzend zur Erde.

Eine heisere, rauhe Stimme flüsterte zu Hellanodikes Ohren, sie verstand nicht, was sie sagte, denn die wütende Erregung brach die Worte in Stücke, bevor sie die Lippen verlassen, aber den Ton der Stimme erkannte sie, und mitten in Angst und tödlicher Verzweiflung durchschauerte sie ein Gefühl namenloser Wonne.

Sie schlang die Arme um seinen Nacken, drängte sich an ihn, so dicht, daß sie das stürmende Klopfen seines Herzens an ihrer Brust empfand, und blickte in Myrtolaos' wilde, schöne, geliebte Augen empor.

Mit der Linken hielt er sie an sich gedrückt, während er mit der Rechten einen der schweren Mischkrüge ergriffen hatte, die [101] leer am Boden standen, und indem er ihn wie eine Waffe drohend am Henkel emporschwang und mit zuckenden Lippen und flammenden Augen die Versammelten maß, glich er einem jungen Theseus, der mit den Kentauren kämpfte.

Am andern Ende des Saales krümmte sich, nach Luft ringend, der eine der Sklaven, welche Myrtolaos gehalten hatten und der durch einen Fußstoß des Jünglings bis an die Wand geflogen war. –

Einen Augenblick war alles in lautloser Betroffenheit zurückgewichen, auch Phryne stand, von ihrer Geistesgegenwart auf Augenblicke verlassen, schweigend unter den übrigen. Ihre finster gefalteten Brauen, die krampfhaft geballten Hände verrieten indessen den Sturm des Grimmes, der ihr Inneres durchtobte. Da bemerkte sie, wie es sich hinter dem Rücken des Jünglings am Boden regte; Mnemarch war zu sich gekommen. Sein erstes Lebenszeichen war ein Blick voll tödlichen, unersättlichen Hasses auf Myrtolaos. Phrynes scharfem Auge entging dieser Blick nicht, und zugleich bemerkte sie, wie die Hand Mnemarchs krampfhaft unter seinem Gewand zu nesteln begann. Sie wußte, was er suchte, und ein furchtbarer Gedanke durchzuckte ihr rachedürstendes Herz. Es kam darauf an, Mnemarch Zeit zu verschaffen und Myrtolaos zu verhindern, daß er sich nach dem Gegner umblickte. Plötzlich trat sie auf den Jüngling zu.

»Was unterfängst du dich im Hause des Praxiteles?« rief sie, und der Zorn gab ihrer Stimme einen kreischenden Ton – »was tust du, Böotier?«

»Ich schütze sie vor dir,« gab er zur Antwort, und seine Hand griff den Henkel des Mischkruges fester.

In diesem Augenblick geschah etwas, das allen Anwesenden Atem und Besinnung raubte.

Mit rasender Hast stürzte sich Praxiteles auf Myrtolaos zu, und mit ungeheurer Kraft riß er ihn, indem er ihn mit beiden Armen umschlang, zwei Schritte zur Seite.

»Schurke!« rief er, seine Stimme klang mächtig wie der Donner, und im nächsten Augenblick hatte er den, dem dieser Zuruf galt, Mnemarch, am Halse gepackt und hielt ihn zappelnd wie eine Eidechse schwebend in der Luft.

Ein langes, zweischneidiges Messer blinkte in Mnemarchs Hand, und jetzt, von Praxiteles eiserner Faust gewürgt, ließ er die Mordwaffe kraftlos zu Boden fallen.

[102] Der Bildhauer ließ die Hand von seiner Kehle, und Mnemarch brach keuchend zusammen.

Praxiteles stand über ihm – eine tiefe, düstre Falte, wie mit dem Meißel gerissen, legte sich zwischen seine Augen – und es sah aus, als ob er den Fuß erheben und Mnemarch in den Staub treten würde. Der letztere kauerte am Boden und hob den Blick nicht empor. –

Ein tödlich schweigendes Entsetzen herrschte im Saale; es war, wie wenn ein Löwe in die Versammlung eingebrochen sei und zu brüllen begonnen hätte. –

Hellanodike bebte, wie vom Fieber geschüttelt, in Myrtolaos' Arm.

»Komm,« hörte sie jetzt des Geliebten hastig flüsternde Stimme, »komm.«

Willenlos schmiegte sie sich an ihn, der für sie handelte und dachte. Aller Augen und Ohren waren auf Praxiteles und Mnemarch gerichtet; niemand beachtete die zwei, die lautlos hinter den übrigen verschwanden. –

Nun trat Praxiteles zurück, und der Bann löste sich, der die Umstehenden in atemlosem Kreise zusammengehalten hatte.

Eilend, in erschrecktem Durcheinander drängten die Tänzer und Tänzerinnen zum Ausgange, und das Licht der Fackeln, welche Sklaven jetzt in den dunkelnden Saal trugen, fiel auf blasse, verstörte Gesichter.

Mnemarch raffte sich auf und wollte sich, gesenkten Hauptes, davonmachen.

»Nimm dein Messer mit,« rief ihm Praxiteles nach, und bei dem furchtbaren Tone dieser Worte kehrte Mnemarch, gehorsam wie ein Hund, zurück, nahm das Messer vom Boden auf und schlich hinaus. –

Phryne war mitten in dem Tumult lautlos verschwunden.

»Kommt, laßt uns hinausgehen,« sagte der Bildhauer zu seinen Gästen; »es tut mir leid, daß unser Fest solche Störung erlitten hat.«

Sie verließen den Saal; aber es wollte kein Gespräch mehr aufkommen, und wie in stummer Verabredung nahmen sämtliche Gäste gleichzeitig und plötzlich Abschied. – Im Hause des Praxiteles ward es still. –

Er sah sich um – er schien etwas zu suchen. –

»Habt Ihr Myrtolaos gesehen?« fragte er die Sklaven.

[103] Keiner hatte den Jüngling bemerkt; er winkte die Sklaven hinweg. –

Mit der Fackel in der Hand ging er durch sein Haus, seine Schritte widerhallten mit ödem Klange. Er trat in die Kammer, die er Myrtolaos zum Wohnen eingeräumt hatte, sie war leer; er ging in seine Werkstatt. Aus dem halben Lichte, das die Fackel verbreitete, trat in dämmernden Umrissen die Gestalt des Hermes hervor. –

Im eisernen Haken, der aus der Wand ragte, befestigte er die Fackel, dann stand er in dunklen Gedanken vor dem Bildwerk. In seiner Erinnerung erschienen die beiden schönen, unschuldigen Kinder, wie sie am Hermesfeste zu Tanagra vor ihm gestanden hatten, und er dachte an das Schauspiel von heute. – Das Licht der Flamme spielte über das schöne Gesicht des Bildwerks; die starren Züge wurden lebendig, und es sah aus, als neigte der Hermes in stummer Trauer das Haupt gegen ihn. – Der Abschiedsgruß des Hermes von Tanagra. – Dumpf sank Praxiteles auf seinen Sessel, eine Empfindung, die er noch nie gekannt, zog dunkel und schwer durch seine Seele – er blickte umher und fühlte, daß er einsam war. –

Finsternis lag über die Gassen Athens gebreitet, als Myrtolaos mit Hellanodike das Haus des Praxiteles verließ.

Ohne zu zögern, ohne rechts noch links zu blicken, überschritten sie die Schwelle. Stumm und hastig schritten sie ihren Weg; sie fragte nicht, wohin der Weg sie führte, sie wußte nur, daß es hinwegging von dem Orte des Schreckens und daß sie bei ihm war, von seinem Arm noch immer umschlungen.

»Es ist kalt, und du schauerst,« sagte er leise zu ihr, denn er fühlte, wie ihr Leib, den nur das leichte Festgewand vor der kühlen Nachtluft schützte, in seinen Armen bebte.

»Nein,« sagte sie, »mich friert nicht,« und sie ging mit verdoppelter Schnelligkeit neben ihm her.

Einige hundert Schritt mochten sie so gegangen sein und eben waren sie um eine Ecke des Weges gebogen, als sie hörten, wie jemand hinter ihnen hergelaufen kam, atemlos keuchenden Laufs.

Hellanodike zuckte zusammen.

»Nur fort,« sagte Myrtolaos und riß sie weiter.

»Nicht diesen Weg!« tönte es heiser an ihr Ohr. –

»Chlenusa,« sagten beide wie mit einem Munde – im nächsten Augenblicke war Chlenusa an ihrer Seite. Der lange [104] dunkle Mantel, der sie vom Hals bis an die Füße umhüllte, flatterte hinter ihr her.

»Warum nicht diesen Weg?« fragte Myrtolaos; »ist dies nicht die Straße zum nördlichen Tore?«

»Sie sind hinter Euch her,« sagte sie stöhnend vor Atemlosigkeit, »Ihr rennt in ihre Hände.«

»Wer verfolgt uns?« fragte Myrtolaos.

»Timoessa mit den Knechten – hier herein.« Bei diesen Worten faßte sie Myrtolaos' Hand und riß ihn mit der Energie der Verzweiflung in eine Seitengasse, die eng und finster ihnen entgegengähnte.

»Weiter, nur weiter,« schrie sie, als sie bemerkte, daß Myrtolaos stehen bleiben wollte – und der Ton der halberstickten Stimme deutete auf eine so schreckliche Gefahr, daß der Jüngling ihr blindlings folgte. Die Gasse endigte in einen Sack, sie konnten nicht weiter.

»Bleibt hier und gebt keinen Laut,« sagte Chlenusa; »und du nimm dies,« wandte sie sich zu Hellanodike, indem sie den Mantel von ihren Schultern riß und ihn dem zitternden Mädchen umhing, »die Nacht wird kalt und Ihr müßt noch weit in dieser Nacht.«

»Aber du?« fragte Hellanodike.

»Ich brauche keinen Mantel mehr,« – in ihrer Stimme war ein dumpfer Jammer – »und leb' wohl, leb' wohl, leb' wohl,« und indem sie Hellanodikes Antlitz in der Dunkelheit mit den Lippen suchte, küßte sie sie bei jedem Worte auf Augen, Mund und Wangen. Dann verließ sie die beiden und eilte aus der Gasse hinaus auf die Hauptstraße zurück. In dem Augenblicke kam ein dumpfes Getrappel von Schritten um die Ecke der Straße, Lichtschein drang in die Gasse hinein, und Timoessa, von zwei mit Fackeln versehenen Sklaven begleitet, erschien vor der Mündung der Gasse.

Die qualmende Glut der Fackeln beleuchtete das Megärengesicht der Alten und die vertierten Gesichter der Knechte mit blutigem Rot. Der eine von diesen trug einen Pack Stricke um den Arm geschlungen, in des andern Hand funkelte ein nacktes Schwert. An der Gasse machten sie Halt, und bis in die Gasse hinein tönte das Geschnauf ihrer schwer nach Atem ringenden Brust.

»Sie sind vom Wege ab,« sagte einer der Knechte, »und ich hatte sie auf dem Wege vor uns gesehen.«

[105] »Dann haben sie uns bemerkt und sich hier irgendwo versteckt,« entschied Timoessa, »laßt uns suchen.«

Hellanodike sank an Myrtolaos' Brust, und auch ihm schlich der eisige Frost durch Mark und Gebein.

Plötzlich fuhr der, welcher das Schwert trug, auf.

»Seht da,« rief er – und von der andern Seite der Straße her trat Chlenusa in den Kreis des Fackellichtes.

Wie ein Geier stürzte sich Timoessa auf das Mädchen zu.

»Wo sind sie? Du weißt es!« schrie sie, und ihre Hände krallten sich um den Hals des Mädchens.

Chlenusa sank in die Knie.

»Wirst du sprechen,« sagte der Knecht, der mit dem Schwerte zum Stoß ausholend auf sie zutrat; jeder Nerv des sehnigen Armes zitterte in satanischer Mordlust. –

»Laßt mich leben,« erwiderte Chlenusa, »ich will alles gestehen. Ihr sucht falsch – sie sind dort hinunter« – und sie zeigte in der entgegengesetzten Richtung – »um die Akropolis herum wollen sie zum Hause des Praxiteles zurück – ich habe sie gewarnt.«

»Du hast sie gewarnt?« schrie Timoessa; »lauft ihnen nach,« wandte sie sich an die Sklaven, »fangt sie, greift sie, wenn sie Praxiteles' Haus erreichen, sind sie für uns verloren!«

»Und diese hier?« fragte der Sklave, das Schwert über Chlenusa erhebend.

»Gib deinen Strick her,« sagte Timoessa; sie riß dem anderen eines der Seile vom Arme, die er trug, und mit Hilfe des Sklaven warf sie Chlenusa auf den Boden.

»Mit dieser rechnen wir nachher ab,« sagte sie, während sie dem Mädchen auf dem Rücken kniete und ihr die Hände rücklings zusammenband.

»Hinweg, hinter ihnen drein, und wenn Ihr sie habt, schafft sie beide hierher!«

Die Sklaven wandten sich, und wie zwei blutdürstige Panther stürmten sie durch die gegenüberliegende Gasse davon.

Timoessa blieb auf Chlenusa kniend zurück; die gepreßte Brust des gemarterten Mädchens ächzte, halberstickt.

»Habe Erbarmen,« seufzte sie, »bist du nicht meine Mutter?«

»Ich deine Mutter?« und Timoessas Zähne schlugen knirschend aneinander – »an der Straße habe ich dich gefunden und aufgelesen, du –«

[106] Sie konnte nicht vollenden, denn eine schwere Hand griff plötzlich aus der Dunkelheit heraus und legte sich wie ein eiserner Riegel vor ihren zuckenden Mund. –

Sie wollte aufschreien, aber nur ein gurgelnder Laut ward vernehmbar; sie wollte aufspringen, aber von der dunklen, gewaltigen Faust im Nacken gefaßt, taumelte sie um sich selbst und schlug krachend auf das Pflaster nieder.

Im nämlichen Augenblick war ein Fetzen aus ihrem Kleide gerissen und ihr als Knebel in den Mund gestopft, in der nächsten Sekunde war der Strick von Chlenusas Händen gelöst, und während bisher alles in lautlosem, furchtbarem Schweigen vor sich gegangen war, vernahm Timoessa jetzt eine nur zu bekannte, wutbebende Stimme.

»Kennst du mich, Kupplerin? Räuberin? Verdammte? Nimm das und das, und bringe das an Mnemarch,« und gleichzeitig prasselte der Strick, von Myrtolaos' Hand geschwungen, in grimmigen, zischenden Streichen ihr auf Gesicht und Hände und Schultern nieder. Sein Grimm schäumte wie ein reißender Strom aus seinem Herzen, und er peitschte auf sie los, bis daß sie dumpf heulend sich am Boden wälzte und der Strick sowie das Pflaster umher von ihrem Blute besprengt war. –

Endlich warf er das Strafinstrument auf Timoessa und beugte sich zu Chlenusa.

»Kannst du stehen?« fragte er. Sie raffte sich, von seinem Arme unterstützt, mühsam vom Boden auf.

»Komm,« sagte er, »du gehst mit uns,« und er hob die schlanke Gestalt in seinen Armen empor. –

Hellanodike faßte Chlenusas herabhängende Hand, und ein leises Lächeln umspielte die Lippen des armen Geschöpfes. Wenige Schritte, und das Stadttor war erreicht, und sie traten in die Freiheit hinaus. – Schwer atmeten sie auf – sie waren gerettet. –

Rings um sie her lag die feierlich schweigende Nacht, und über ihnen blinkten die ewigen Sterne; im Norden, in der Richtung etwa, wo Tanagra lag, stand ein leuchtendes Gestirn, schimmernd in sanftem, zitterndem Lichte.

»Wohin nun?« fragte Hellanodike leise, als Myrtolaos stehen blieb und Chlenusa sanft aus seinen Armen ließ.

»Zu deinem Vater,« antwortete er.

[107] Da fiel sie ihm um den Hals, und ihre stummen Tränen mischten sich mit den seinigen.


* * *


Es war einige Tage später.

Still und heiß lag die Mittagssonne über dem Berge von Tanagra, die Häuser der Stadt flimmerten im grellen Lichte und blickten in die schweigende Landschaft zu ihren Füßen wie ebensoviele neugierige Augen herab.

Und jetzt sahen sie, wie an dem Saume des Olivenwaldes dort unten, der wie eine grüne, schattige Insel inmitten der glutgedörrten Felder und Berge lag, eine Gestalt erschien, eine schöne, schlanke Mädchengestalt, wie sie den breiten, schattenden Hut tiefer in das Gesicht zog, damit ihr die Sonnenstrahlen nicht verwehrten, hinüberzuschauen zu den bekannten, geliebten Mauern und Toren; und die Häuser von Tanagra hatten sie erkannt, und wenn sie gekonnt hätten, so hätten sie sich angestoßen und zugeflüstert: »Sie ist wieder da, sie, die wir in unseren steinernen Armen hielten und die uns treulos entwich, unser Liebling Hellanodike.«

Noch andre Augen aber hatten Hellanodike betrachtet, während sie so, vom Lichte, das Sonnenstrahlen und Baumesschatten um sie her woben, umspielt am Saume des Gehölzes stand, und diese Augen hatten mit tiefer Zärtlichkeit und Trauer auf ihr geruht. Hinter ihr, am Rande eines Baches, der sich durch das Gehölz drängte, saß Myrtolaos, und sah sie an und ward nicht satt, sie anzusehen, denn er wußte, daß es heute zum letzten Male geschah. Wenn es dunkel sein würde, wollte er sie nach Tanagra und zum Hause des Myronides führen, denn vor dem Tageslichte scheuten sie sich. Wie hatte er einst zu diesem Hause zurückzukommen gedacht, und wie kam er nun in Wirklichkeit zurück – ein bitterlicher Schmerz drängte sich in seinem Herzen empor, und in düstern Gedanken senkte er das Haupt.

Ein leichter Schritt rauschte hinter ihm, Hellanodike berührte seine Schulter.

»Chlenusa ist noch nicht zurück,« sagte sie, »sie wollte uns Brombeeren pflücken. Ich bin müde von unserem heutigen Weg.«

»Ruhe dich,« erwiderte er; »ich werde wachen.«

An der grasigen Böschung des Baches lagerte sich Hellanodike; er schob Blätter und Moos unter ihr Haupt, damit es weicher läge, und setzte sich an ihre Seite. Wie ein Kind, das [108] im Einschlafen nach seinem liebsten Spielzeug greift, faßte sie seine Hand, sah ihn mit den schlaftrunkenen Augen noch einmal freundlich an und war entschlummert. –

Er saß neben ihr und blickte auf sie herab. Der Anblick der Vaterstadt hatte die Züge des holden Gesichtes in aller unschuldigen Lieblichkeit früherer Tage wiederhergestellt und die Erinnerungen der letzten schrecklichen Tage lagen wie ein ferner Schatten darüber hingebreitet.

Da fiel sein Auge auf das Wasser, das zu seinen Füßen plätscherte, und siehe da, unter der klaren Flut leuchtete ein Geschiebe des schönsten goldbraunen Tons hervor.

»Wie sich damit bilden und formen lassen müßte,« dachte er bei sich, und er zürnte, als er sich bei diesem Gedanken ertappte, denn der Kampf war nun zu Ende, er wußte, daß er zum Künstler nicht geboren war.

Dennoch zog ihn die alte Gewohnheit; vorsichtig löste er die kleine Hand, die noch in der seinigen lag, von sich los und brach, halb in Gedanken, von dem Tone im Bette des Baches. Er fühlte die weiche, durchfeuchtete Masse in seiner Hand, er sah auf Hellanodike herab, die sanftatmend in tiefem Schlummer vor ihm hingegossen lag, so daß es aussah, als wollte sie ihm Muße gewähren, jede Linie ihrer Gestalt, jeden Zug ihres Gesichtes zu bleibender Erinnerung in sich aufzunehmen. Da regte sich, aller Vernunft zum Trotz, die alte Lust mit unwiderstehlicher Kraft in seiner Seele, und er beschloß, mit dem letzten Werke seiner Hände sich ein Erinnerungsmal des geliebten Mädchens zu schaffen. Kein Bildwerk sollte es werden, wie sie aus Praxiteles Händen hervorgingen und wie er sie in qualvollem Kampfe vergebens zu gestalten versucht hatte, nichts weiter als ein Abbild Hellanodikes; aber ähnlich, so ähnlich als er nur irgend vermochte, wollte er es machen, in jeder Falte des Gewandes, mit dem breitrandigen Hute, den sie so gerne trug, und mit jenem Lächeln, das jetzt so geheimnisvoll über das süße Gesicht hinhuschte, als wenn ein glückseliger Traum ihr von ungeahnter Freude und Zufriedenheit erzählt hätte.

In der Haltung, wie er sie zuletzt am Saume des Olivenwaldes nach Tanagra hinüberblickend belauscht hatte, so beschloß er sie darzustellen, und ohne Säumen ging er an das Werk.

Als er zu arbeiten anfing, überkam ihn eine innere Glückseligkeit, wie er sie nie gekannt; alles Leid vergangener Stunden, [109] alle Sorgen zukünftiger waren vergessen; ein leiser Wind zog duftend durch den Wald, und es war ihm, als tauchten die kleinen Waldgötter und Liebesgötter hinter den Bäumen empor und träten hinter ihn und blickten leise flüsternd über seine Schulter auf sein Werk. Und als nun wirklich der formlose Ton sich zu einem schlanken Figürchen gestaltete, als jeder Druck und Strich seiner Hände ein neues wärmeres Leben in den zierlichen Körper und die Gewandung hineinzauberte, die den Körper umgab, und als endlich, in kleinstem Maßstabe und dennoch deutlich erkennbar, Hellanodikes Antlitz selbst heraustrat, da mußte er an sich halten, um nicht in lauten Jubel auszubrechen; er murmelte nur ganz leise ihren Namen vor sich hin und schaute sie an, und sah, daß sie noch immer schlummerte und noch immer lächelte, und es überkam ihn eine schier unwiderstehliche Lust, sie mit seinem Kusse zu wecken – aber er tat es nicht, denn sie mußte schlafen, bis die Figur ganz fertig war. Und so arbeitete er weiter und weiter, jeder Falte des zarten Gewandes gab er ihren Platz, jedes Gekräusel der dunklen braunen Locken deutete er mit der feinen Spitze eines Astes, den er zu dem Behufe zurechtgeschnitten hatte, an, und so bemerkte er nicht, daß hinter ihm jemand durch den Wald dahergeschlendert kam. Es war Chlenusa, welche Brombeeren gesucht hatte und mit ihrer Ausbeute zurückkehrte. Als sie dicht herangekommen war, bemerkte er sie und legte den Finger an den Mund, daß sie Hellanodikes Schlummer nicht störte; dann zeigte er ihr das Figürchen, das nun fertig geworden war. Sie nahm es mit gleichgültigem Blick in die Hand; kaum aber hatte sie es angesehen, so verwandelte sich ihr Gesicht, die dunklen Augen blitzten auf, und »Hellanodike! Hellanodike!« rief sie, indem sie in toller Freude um die Schläferin herumtanzte. Myrtolaos wollte es ihr verweisen, schon aber war Hellanodike erwacht und blickte erstaunt um sich. Chlenusa stürzte auf sie zu und neben ihr in den Rasen.

»Kennst du diese? Kennst du sie?« schrie sie jubelnd und lachend, indem sie ihr das Figürchen zeigte, und staunend blickte Hellanodike ihr reizendes Konterfei an.

»Myrtolaos,« sagte sie, »du hast es gemacht?«

Chlenusa klatschte in die Hände. »Er hat es gemacht,« sagte sie, »er, der geschlummert hat und heute erst aufgewacht ist.« Sie riß die Figur aus Hellanodikes Händen an sich.

»Du wirst sie zerdrücken,« sagte Myrtolaos.

[110] »Ich sie zerdrücken,« versetzte das Mädchen; »du glaubst, ich könnte solches zerbrechen?«

Mit einem Sprunge war sie an dem nächsten Olivenbaume, riß einen Zweig herab und schlang denselben zu einem Kranze zusammen. Beinahe feierlich trat sie zu Myrtolaos hin.

»Höre,« sagte sie, »wenn sie dereinst in ganz Hellas dich krönen werden mit dem heiligen Olivenkranze, dann vergiß nicht, daß Chlenusa es war, die dich zuerst gekränzt hat.« Das Mädchen war wie im Taumel, und Myrtolaos wußte nicht recht, ob es ihr Ernst oder Scherz sei mit ihren sonderbaren, leidenschaftlichen Worten. Indessen ließ er es sich gefallen, daß sie sich auf den Fußspitzen erhob und den Olivenkranz auf sein Haupt drückte.

Chlenusa wandte sich zu Hellanodike. »Soll er allein bekränzt sein?« sagte sie; »warte, ich werde dir einen Kranz von wilden Rosen flechten.«

»Rosen im Olivenwald?« fragte er.

»Wenn nicht im Wald, so am Rande des Waldes,« erwiderte sie. »Kommt, ich habe Euch Brombeeren gepflückt; eßt, derweile ich suche.«

»Laß die Figur hier,« rief ihr Myrtolaos zu, als sie sich eilend entfernte. Sie aber schwang das Figürchen wie eine Trophäe lachend empor und war bald im Dickicht verschwunden.

Hellanodike und Myrtolaos setzten sich dicht zueinander und verzehrten die Beeren, von denen ihnen das Mädchen einen ganzen Haufen mitgebracht hatte; sie sprachen nicht, denn ihre Gedanken waren niedergedrückt, indem sie der kommenden Stunden gedachten.

Wie Myrtolaos ihr prophezeit hatte, fand Chlenusa im Wald keine Rosen, und ebensowenig am Rande desselben, den sie herauf- und herabstreifte; aber in der Ebene zwischen Wald und Stadt glaubte ihr scharfes Auge das Gesuchte zu entdecken. Sie machte sich eilend in der Richtung auf den Weg, und erst, als sie bis dicht an die Rosenhecken gelangt war, bemerkte sie, daß ein Graben und eine Umzäunung sie von denselben trennte.

Für das leichtfüßige Ding war dies Hindernis gering; ohne sich zu besinnen, sprang sie über den Graben, kletterte über den Zaun und pflückte sich den ganzen Schoß ihres Kleides voll Rosen.

[111] Als sie in der besten Arbeit war, kamen schwerfällige Schritte des Weges daher getrottet, und plötzlich fühlte sie sich unsanft von einer groben Faust am Arme gepackt.

»Habe ich dich, Spitzbübin,« sagte der Gärtner, »siehst du nicht, daß hier ein Garten und Besitztum ist, in welches Gelichter deiner Art nicht gehört?«

»Ich bin keine Diebin!« sagte das Mädchen und versuchte vergeblich, sich aus seiner Hand zu entwinden.

»Du keine Diebin?« und er sah auf das braune zigeunerhafte Geschöpf, das allerdings eine verzweifelte Ähnlichkeit mit einer Landstreicherin zeigte. »Mitgekommen; wir werden dir die Dornen zu deinen Rosen geben.«

Er schleppte sie mit sich, und erst jetzt sah sie, daß sie sich in einem großen, wohlgeordneten Garten befand.

Auf einem der breiten, reinlich gehaltenen Wege kam ihnen ein würdevoller Mann entgegen. Sein Haupt und Bart waren stark ergraut, und er ging, wie es schien, in tiefen Gedanken. Als er die Gruppe der beiden auf sich zukommen sah, erhob er das Haupt.

»Wen bringst du da?« fragte er den Gärtner.

An der Unterwürfigkeit, mit welcher dieser ihm gegenübertrat, bemerkte Chlenusa, daß sie vor dem Herrn des Gartens stand.

»Herr,« sagte der Gärtner, »offenbar eine von den Diebesgesellschaften, die in neuester Zeit die Gegend hier so unsicher machen; ich ertappte sie beim offenen Diebstahl.«

»Nicht Diebstahl, Herr,« rief das Mädchen, »nur einige Rosen habe ich von den Hecken in deinem Garten gepflückt; dein Garten wird dadurch nicht ärmer.«

Zum Beweise für ihre Worte entfaltete sie den Schoß ihres Kleides und ließ die Rosen zur Erde rollen; bei dieser Gelegenheit fiel auch das Figürchen, das sie im Schoß getragen und mit den Rosen bedeckt hatte, zu Boden.

Rasch wollte sie sich danach bücken, aber der Gärtner kam ihr zuvor.

»Diebische Elster,« rief er triumphierend, »ist das auch eine Rose?«

Das Mädchen brach in Tränen aus.

»Faß es nicht so grob und roh an,« schrie sie dem Gärtner zu, »siehst du nicht, du Ungeschlachter, daß du es zerstörst?«

Der Herr des Gartens ward aufmerksam.

[112] »Was ist das?« fragte er und nahm die Figur aus den Händen seines Dieners. Er hatte aber kaum einen Blick darauf geworfen, als die hohe Gestalt jählings zusammenzuckte.

»Wo hast du dieses her?« fragte er, »wo ist die, die es darstellt?«

Das Mädchen sah ihn mit den dunklen, heißen Augen an und schwieg.

»Hörst du nicht, daß der Herr dich fragt?« polterte der Gärtner dazwischen.

»Wenn du sie kennst und Böses gegen sie im Sinne führst,« erwiderte Chlenusa langsam, »so sollst du mich eher töten, bevor ich dir sage, wo du sie findest.«

Er legte die eine Hand auf ihr schwarzes Lockenhaar, während die andere in zärtlicher Sorgfalt das Figürchen umspannte. »Führe mich zu ihr,« sagte er, »und sei außer Sorge.«

Chlenusa fühlte, wie die Hand, die auf ihrem Scheitel lag, leise bebte.


* * *


Die Schatten der Bäume fielen lang durch den Wald, Myrtolaos sah zum Himmel auf; ein Seufzer hob seine Brust.

»Es wird spät,« sagte er; »wenn wir nach Tanagra kommen, wird es dunkel sein; wir müssen uns aufmachen, sonst lassen sie uns nicht mehr in das Tor der Stadt. Komm, Hellanodike.«

Sie band den Hut auf das Haupt, und ihr Herz zitterte vor Erregung; währenddessen trat er an den Bach, zerpflückte den Olivenkranz Chlenusas und ließ die einzelnen Blätter im Wasser hinabschwimmen.

»Du freust dich nicht, daß wir zu meinem Vater zurückkehren?« fragte sie, indem sie den Arm auf seine Schulter legte.

Er wandte sich schwermütig zu ihr um.

»Du kehrst zurück zu ihm,« erwiderte er, »ich nicht.«

Sie erbleichte, und er schlang den Arm um sie.

»Myrtolaos!« rief sie erstaunt und erschreckt, denn sie hatte in ihrer Unbefangenheit an eine solche Möglichkeit nicht gedacht.

»Nein,« sagte er, »als ich mit dir von ihm entfloh und Schande auf sein greises Haupt brachte, war ich ein Knabe; jetzt habe ich gelernt, was ein Mann empfindet, dem man an dem, was er liebt, Schmach antut, und daß ein Mann es nicht vergeben kann. Komm,« – er nannte ihren Namen nicht, weil [113] er fürchtete, daß der geliebte Klang seine ganze Kraft erschüttern würde – »wir müssen hier nun voneinander Abschied nehmen.«

Schluchzend lag sie an seiner Brust. Es war ihr, als versänke ihr ganzes bisheriges Leben in einen schwarzen, bodenlosen Abgrund, und Tanagra ohne ihn war nicht mehr Tanagra für sie.

»O, daß Praxiteles nie zu uns gekommen wäre,« klagte sie.

»Still,« sagte er mit bebender Stimme, »sei still, nenne seinen Namen nicht mehr, du zerwühlst mir das Herz.«

So standen sie, Haupt an Haupt gelehnt, beide so jung, so schön und so unglücklich, von der Natur zueinander gefügt und durch das Verhängnis voneinander gerissen.

Da ertönte hinter ihnen eine Stimme, bei deren Ton sie bebend auffuhren.

»Hellanodike!« klang es ernst und traurig, und als sie umblickten, stand des Myronides hohe Gestalt wenige Schritte von ihnen zwischen den rot angestrahlten Bäumen.

»Vater,« schrie das Mädchen auf; in diesem Augenblick war alles andere vergessen, und sie hing an seinem Halse und küßte ihn unter strömenden Tränen.

Er bog ihr das Haupt zurück und blickte ernst und prüfend in ihr Gesicht. Als er aber ihre Augen auf sich gerichtet sah, da erkannte er, daß sie noch sein Kind war, sein reines unschuldiges Kind, und beinah wider seinen Willen zog ein Lächeln über seine strengen Züge.

Mit abgewandtem Haupte und in einem schrecklichen Zustande hatte unterdessen Myrtolaos gestanden, jetzt rief ihn Myronides heran.

Wie betäubt trat er einige Schritte näher und blieb dann stehen.

»Du fürchtest dich vor mir, Myrtolaos?« sagte Myronides; und bei dem Klange dieser Stimme, die wie ein weihevoller Ton über seiner ganzen Jugend geschwebt hatte, brach dem Jüngling das Herz, er fiel ihm zu Füßen und bedeckte des Myronides Hand mit Küssen und Tränen.

»Sieh dieses an,« sagte Myronides, und er zeigte dem Erstaunten das kleine Abbild Hellanodikes, »hast du das gemacht?«

Myrtolaos errötete und nickte stumm.

»Hast du das in Athen gemacht?«

[114] »Nein,« sagte Myrtolaos, »hier im Walde vor wenigen Stunden.«

Mit feuchtem Glanze ruhten die Augen des Mannes auf dem Jüngling, seine Hand legte sich milde auf sein lockiges Haupt, und er beugte sich tief zu ihm herab.

»Man braucht also nicht in Athen zu leben,« sagte er, »um solches schaffen zu können?«

»Ich weiß,« flüsterte er ihm zu, »du wolltest nicht zurückkehren in mein Haus – komm zurück zu mir, Myrtolaos, mein Sohn.«

»Mein Vater,« stammelte der Jüngling, »kannst du mir verzeihen, was ich an dir getan?«

»Muß ich nicht,« sagte Myronides, »da du einen solchen Bundesgenossen mitbringst?« und er zeigte auf Hellanodikes Bild.

Ein Jubelschrei zweier glückseligen Menschen ertönte und Hellanodike und Myrtolaos hingen am Halse des edlen Mannes.

»Laßt mich frei,« sagte er lächelnd, »hier ist noch jemand, der auf mich wartet.«

Er wandte sich um und winkte Chlenusa heran, die sich scheu im Hintergrunde auf einen Baumstumpf gekauert hatte.

»Die Rosen, die du heute pflücken wolltest,« sagte er, »sind verloren; von nun an sollst du im Garten des Myronides pflücken dürfen soviel Rosen, als du verlangst, du bist nun eine Tanagräerin.«

Sie sah ihn einen Augenblick an, als verstände sie ihn nicht, denn die Sprache eines väterlichen Herzens war ihrem einsamen Gemüt zu fremd; plötzlich aber schien sie zu begreifen; sie eilte zu Hellanodike, und indem sie sich in den Rasen zu ihren Füßen warf, brach sie in Schluchzen und Freudengeschrei aus und drückte das zitternde Gesicht in die Falten ihres Klei des.

Hellanodike beugte sich herab und küßte sie und dachte der Stunden, da sie keinen Trost und keinen Freund gehabt hatte, als das wilde braune Mädchen.


* * *


Ein Jahr war vergangen, als Praxiteles, in die Werkstatt eintretend, wo seine Schüler arbeiteten, diese in eifriger, aufgeregter Unterhaltung fand. Sie drängten sich um Polymakron zusammen und schienen einen Gegenstand zu betrachten, den dieser in Händen hatte.

[115] »Was habt Ihr?« fragte der Bildhauer.

»Du sollst entscheiden, Meister,« versetzte Polymakron. »Wir streiten über den Wert dieser Sachen, jedenfalls erscheinen sie uns neu und eigentümlich.«

Er übergab Praxiteles mehrere Figürchen aus gebranntem Ton, die weibliche Gestalten in den verschiedensten Haltungen, teils stehend, teils schreitend, teils auf einem Felsblock sitzend, darstellten. Die Gestalten waren bekleidet, und die Farben der Gewandung, unter denen ein sanftes Himmelblau am häufigsten wiederkehrte, auf das zarteste angedeutet.

Praxiteles nahm die sonderbaren kleinen Gebilde in die Hand und betrachtete sie. Plötzlich erweiterte sich sein Auge, und ohne ein Wort zu sagen, verließ er die Werkstatt. Die Schüler blieben zurück und sahen sich verdutzt an.

Mit hastigen Schritten begab er sich in seinen Arbeitsraum, stellte die Figürchen auf einen Tisch zu Füßen des Hermes-Modells, an welches, so schien es, lange keine Hand gerührt hatte, und setzte sich davor.

Lange saß er in tiefem Anschauen versunken, und wer ihn sitzen sah, hätte denken können, er läse in den Figuren.

Viel anders war es auch in der Tat nicht; denn die kleinen Gestalten dort vor ihm erzählten ihm eine Geschichte von Bangen und Leiden und endlicher, wunderbarer Erfüllung, und er lauschte dieser Erzählung, die wie ein süßes, duftendes Märchen an sein Herz wehte.

Nicht Gestalten waren es, sondern nur eine Gestalt und nur ein Gesicht, ein ihm wohlbekanntes, immer und immer wieder Hellanodike, aber die Phantasie der Liebe umspielte diese Gestalt und zauberte die eine Einzige in immer neue, immer reizendere Stellungen, und je länger er sie ansah, um so wärmer ward das Lächeln auf dem kleinen reizenden Gesicht, um so lebendiger jede Bewegung der zarten Glieder, und es war ihm, als hörte er sie sprechen, immer nur ein Wort, aber abwechselnd in allen Tonarten, mit denen Liebe auf menschlichen Worten spielt: »Myrtolaos, Myrtolaos,« und plötzlich sprang er auf und wußte, daß er inmitten des Paradieses stand, das der Geist des großen Künstlers auf die Erde zaubert, und Myrtolaos hieß dieser große Künstler.

»Hermes von Tanagra,« sagte er, indem er vor das unvollendete Modell des entflohenen Lieblings trat, »so habe ich mich [116] nicht getäuscht, als ich zum ersten Male in deine Augen sah – und so lange hast du suchen müssen, bis du fandest, was dir so nahe war?«

Die Schüler blickten auf, als Praxiteles ernst und beinah feierlich zu ihnen zurückkehrte.

»Ihr Jünglinge,« sagte er, »ich habe Euch eine Nachricht zu bringen: ein Meister der Kunst ist in Griechenland aufgestanden; es ist der, dessen Werke Polymakron mir gezeigt hat.«

Ein erstauntes Flüstern ging durch die Reihen.

»Wer kann es sein?« fragte Polymakron.

»Ich glaube, wir kennen ihn,« sagte Praxiteles, »von wem hast du die Figuren?«

»Von einem Mädchen, das über Land gekommen zu sein schien, und das die Figuren, wie sie mir sagte, in der Werkstatt des Praxiteles zum Kauf anbieten wollte.«

»Von dieser da vielleicht?« fragte Praxiteles und zeigte auf Chlenusa, die in dem Augenblick hereintrat, um sich Bescheid zu holen.

»Allerdings, von dieser.«

Praxiteles winkte das Mädchen heran.

»Wir kennen uns, denke ich, und du also bist es, die die Werke des Myrtolaos in Athen verkauft?«

»Myrtolaos? Myrtolaos hätte das gemacht?« so ging es wie ein Sturm von Munde zu Munde.

»Fragt diese da,« versetzte Praxiteles lächelnd.

»Ja, Myrtolaos in Tanagra,« rief jetzt Chlenusa, indem sie stolz um sich blickte. »In Tanagra drängt jetzt alles Volk zum Hause des Myronides, in dem er wohnt und schafft, denn keiner will sein, der nicht eine Figur von seinen Händen besäße. Und weil er ein Träumer ist, und nicht weiß, was man tun muß, um ein berühmter Mann zu werden, so habe ich mich hinter seinem Rücken aufgemacht, um sie euch zu zeigen, die ihr so etwas versteht.«

Alles lachte, denn sie sah so drollig aus in ihrer selbstbewußten Mission.

»Du also willst ihn berühmt machen?« fragte Praxiteles.

»Ja,« erwiderte sie, »denn ich habe es Hellanodike versprochen.«

»Komm mit mir,« sagte er.

Er nahm das Mädchen in seine Werkstatt, setzte sich wieder vor die Figuren, und alles was diese ihm erzählt hatten, die [117] ganze Geschichte von Liebe und Glück und reichem, künstlerischem Schaffen mußte ihm der lebendige Mund des Mädchens noch einmal erzählen.

Sie hatte geendet.

»Also Mann und Frau?« sagte er, »und – warum errötest du?«

»Nun, es ist ja ganz natürlich,« sagte sie, »und er ist so niedlich und sieht beiden so ähnlich.«

Praxiteles lächelte und trat vor den Hermes. Ein Gedanke blühte in seiner Seele auf; es mußte ein anmutiger Gedanke sein, denn er verklärte seine edle Stirn.

»Du mußt diese Nacht in meinem Hause bleiben,« wandte er sich zu Chlenusa; »denn du weißt, Mnemarch lebt noch. Morgen fahren wir zusammen nach Tanagra.«

Sie verstand ihn und zog sich zurück.

Von dieser Stunde an bis zum folgenden Tage arbeitete Praxiteles wieder mit der alten gewaltigen Freudigkeit, die ihm so lange, er wußte selbst nicht warum, abhanden gekommen war.

Was er aber geschaffen hatte, das barg er sorgfältig unter schützender Umhüllung, als er am frühen Morgen des nächsten Tages mit Chlenusa den Reisewagen bestieg.

Und wieder rollte, wie einst, der Wagen auf der Straße von Athen nach Oropos und von Oropos nach Tanagra dahin; wieder rauschte das Euböische Meer hart an den Strand und sandte dem ernsten, dunkellockigen Manne und seiner Begleiterin den erquickenden Hauch seiner schäumenden Wellen zu, und wieder flog der Stachelstock hastiger und immer hastiger auf die Rosse herab, je näher sie dem Ziele der Reise kamen. Rasselnd fuhr der Wagen am Tore des Myronides vor, stürmende Schritte eilten durch das Haus und im nächsten Augenblick ertönte in der Werkstatt, wo der junge Bildhauer über seinen Werken saß, ein jauchzender Ruf, und Myrtolaos lag in den Armen des geliebten Meisters.

Durch die weit geöffneten Pforten der Werkstatt blickte man in den grünen, blühenden Garten, über die Schwelle der Tür traten jetzt, von dem Freudenrufe gelockt, die übrigen Bewohner des Hauses.

Myronides, dessen Haar weißer und dessen Gang langsamer geworden, war dennoch der erste, den Gast zu begrüßen, und dann kam ein leichtes Rauschen über die Schwelle und ein bläulicher Schimmer wie ein Gewölk, und errötend in lieblicher Verwirrung[118] trat eine reizende junge Mutter herein, Hellanodike. Mit ihr kam noch ein vierter kleiner Hausgenosse, den Praxiteles noch nicht kannte, der aber jetzt von den Armen der Mutter zappelnd nach dem hohen freundlichen Manne strebte, bis daß dieser ihn lächelnd an sich nahm und auf seinen Armen reiten ließ.

Myrtolaos trat heran.

»Sieh dieses kluge Bürschchen,« sagte er, »es ist, als ob er wüßte, daß er deinen Namen trägt.«

»O Ihr Glücklichen,« sagte Praxiteles, indem er das Knäblein in die Arme der Mutter zurücklegte, »was soll man Euch noch schenken, da Ihr alles besitzt? Dennoch gestattet, daß ich nicht mit leeren Händen in Euren Reichtum eintrete.«

Auf seinen Wink brachte ein Diener den verhüllten Gegenstand, den er aus Athen mitgeführt hatte; vor den Augen der Erwartungsvollen löste er die Hüllen ab – und ein Ruf der Überraschung ertönte.

Vor ihnen stand, im kleinen Maßstabe ausgeführt, das vollendete Modell des Hermes.

Es war der alte, und dennoch war er ein anderer, denn aus dem düster blickenden war ein glücklich träumerischer Hermes geworden, auf seinem linken Arme schaukelte sich ein reizendes Bübchen und die erhobene Rechte des Gottes trug nicht mehr den Stab, mit dem er die Toten zur Unterwelt geleitet, sondern eine volle, schwellende Traube, die er dem kleinen Wildfang verlockend vor die Augen hielt.

»Und nun,« sagte Praxiteles lachend, »gehen wir zum Geschäft.«

Alle sahen ihn erstaunt an.

»Ja,« fuhr er fort, »du sollst mir den Preis nennen, für den ich diese hier kaufen kann,« und er zog aus dem Busen seines Gewandes die Tonfigürchen, die Chlenusa nach Athen gebracht hatte.

»Du kennst sie?« rief Myrtolaos.

»Mehr als das,« erwiderte Praxiteles, »ich besitze sie, um sie nie mehr von mir zu geben.«

»Myronides,« sagte er mit ernstem Tone, und er legte die Arme um Myrtolaos' und Hellanodikes Schultern und trat mit ihnen vor den Gastfreund, »ich riß diesen jungen Baum aus deinem Garten, und es kam, wie du sagtest, die Erde blieb an seinen Wurzeln haften; er hat fremde Sonne und fremden [119] Boden gekostet, und wenn sie für ihn zu grell und zu hart waren, so waren die Schmerzen, die er dadurch litt, heilsame Schmerzen, denn sie lehrten ihn den Boden kennen, dessen er zu seiner Entfaltung bedarf. Sei glücklich, Myronides, du wirst ihn nicht mehr verlieren, denn zunächst an deinem Herzen ist der Ort, wo dieser edle, junge Baum Wurzeln schlagen muß, damit er erwachse. Und wachsen wird er,« rief er begeistert, »und wenn je diese Stadt vom Boden der Erde verschwinden sollte, so wird über ihren Trümmern wie ein duftender Traum vergangener Zeiten der Geist dessen schweben, der diese Werke schuf, der Geist des Meisters von Tanagra. –«

Als man sich spät am Abende, um die Ruhe aufzusuchen, trennte, standen Myrtolaos und Praxiteles einen Augenblick allein.

»Und Phryne?« fragte Myrtolaos.

»Frage nicht nach ihr,« sagte Praxiteles, »sie ist jetzt in Rhodus beim Apelles.«

[120]

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TextGrid Repository (2012). Wildenbruch, Ernst von. Novellen. Der Meister von Tanagra. Eine Künstlergeschichte aus Alt-Hellas. Der Meister von Tanagra. Eine Künstlergeschichte aus Alt-Hellas. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A710-B