Ludolf Wienbarg
Aesthetische Feldzüge
Dem jungen Deutschland gewidmet

Vorwort

[1] Vorwort.
I.

Ich schreibe gern für das neugedruckte Buch dieses tapferen Holsteiners den Auftakt. Ehrlich zu sprechen: ich hab' ihn bis jetzt nicht genauer gekannt. Heute weiß ich, daß er eins von den brennenden Geblüten war, für die (wie für unsereinen) alles Aesthetische nur ein Aushängeschild bleibt, ein Vorwand, ein Anlaß: die Welt vorwärtszubringen – in bessere Freiheit und klügere Menschlichkeit.

Ludolf Wienbarg (welcher das Wort vom Jungen Deutschland in dieser Schrift geprägt hat) war einunddreißig, als er seine Reden vor der Jugend hielt, nach vier Jahrzehnten starb er, in Vergessenheit; ein Zeitungsmann; einer vom Troß. Dennoch umleuchtet.

Wienbarg hatte »das Vertrauen auf die Zeit, die Rosen und Ketten bricht.« Kam sie heut? Rosen brach sie kaum. Ketten doch. Aller guten Vorläufer soll gedacht sein.

II.

Wienbarg ist, unterirdisch, ein Schwarmgeist. Aber zugleich ein heutiger Mensch. So gewiß er das Mittelalter schätzt: so gewiß verlacht er die nach ihm rückgewandte Sehnsucht. Er haßt Schnürung der Seelen, romantischen Schlendrian ... und den »Unfug Historie«. Unfug Historie? Derlei kann bei Nietzsche stehn. Es steht bei Nietzsche – in dem Abschnitt vom »Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben.«

[1] Wer spricht: Wienbarg oder Nietzsche? wenn es etwa heißt: »Das Leben ist des Lebens höchster Zweck« –? Der Satz steht in diesem Buch. Wer spricht, Wienbarg oder Nietzsche? wenn es heißt: »Befreit die Welt von den Sünden der Schwäche« –? Der Satz steht wieder in diesem Buch. (Auch der andre: die herrschende Moral stelle »alles Treibende und Liebende in uns ... als das Sündhafte dar«.) Ja, dergleichen ist zwar ein Vorklang für Nietzsche. Doch nicht minder, scheint mir, ein Nachklang: von der deutschen Romantik; von Friedrich Schlegel und dem ganz jungen Clemens Brentano.

Nietzsche war ein wildgewordener Romantiker – das Junge Deutschland aber hat erkennenden Verstand auf die blaue Blume gepfropft. Auch Wienbarg. Es war kein Unglück.

III.

Dieser reisige Holste bleibt ein feurig edles Herz. Kein großer Stilist im Sinn eines Bahnbrechers: doch ein guter Kopf mit reiner, morgenfrischer Seele. Mit einem Ohr für die Musik der Zukunft.

Wienbarg, der vorgebliche Aesthetiker, fesselt am stärksten, wenn er die Zeit erziehen will. Wenn er Geschichtsphilosopheme zusammenträumt. Er kommt in den »Aesthetischen Feldzügen« vom Hundersten ins Tausendste, spricht manchmal sogar von Aesthetik – doch hier nicht am glücklichsten. Der Schmus, welcher mit diesem ... Wissenszweig verbunden ist, hat bei Wienbarg mildere Form.

Er ist kein Wissenschaftler: sondern ein Beflügler. Am fortreißendsten, wo er Ankläger der stumpfen Epoche wird und Künder des Ersehnten. Ein Mensch mit phantastischem Windhauch – dennoch vernunftklar. Man spürt Fördernd-Unverdrossenes, Umwehtes, Offenmütiges. Auch er hätte das Wort sagen können, das in der Einleitung zu meinen Gesammelten Schriften steht: »Beschäftigungen mit der Kunst – ja. Bis aufs Herzblut. Aber sie waren fast immer [2] ein Vorwand für den Kampf um eine kühne vernünftigere Menschenordnung.«

IV.

Wienbarg zeigt im Ausdruck zwischendurch Manches vom Jean Paul. Doch Ziel des Zeitalters wird ihm nicht der verschwärmte Freund aus Wunsiedel: sondern der revolutionäre Dichter. Das ist für ihn Heinrich Heine.

Wienbarg hat in dieser Schrift Heines Weltbedeutung früh erkannt – als Heine noch ein junger Dreißiger war. Er merkt, daß Heine, dem Byron »an Penetration des Verstandes überlegen« ist. Heine wird zur Akme des Buchs.

Ein Jrrtum begegnet ihm. Heine stammt von Juden, sagt er, »aber von einer christlichen Mutter«. Er führt nun gewisse seeleninnigere, tiefere Züge Heinrich Heines auf diese vermeinte »deutsche Mutter« zurück – darin ein drolliger (wenn auch edlerer) Vorläufer der späteren Rassenf ... f ... so.. forschung, worin H. St. Chamberlain als erster Käse geduftet hat, seit er das Material zu den »Grundlügen des neunzehnten Jahrhunderts« zusammentrog.

Ludolf Wienbarg war von adligerem Holz. Der Ammenglaube blieb ein Nebenzug an ihm. Sein Hauptzug wies in Wahnlosigkeit und bessere Ferne.

Er war einer von Vielen. Doch ein Entflammer. Ein Kämpe. Ein Mithelfer. Sein Andenken sei gesegnet.


Juni 1919.

Alfred Kerr.

Worte der Zueignung

[3] [5]Worte der Zueignung.

Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, nicht dem alten. Ein jeder Schriftsteller sollte nur gleich von vornherein erklären, welchem Deutschland er sein Buch bestimmt und in wessen Hände er dasselbe zu sehen wünscht. Liberal und illiberal sind Bezeichnungen, die den wahren Unterschied keineswegs angeben. Mit dem Schilde der Liberalität ausgerüstet sind jetzt die meisten Schriftsteller, die für das alte Deutschland schreiben, sei es für das adlige, oder für das gelehrte, oder für das philiströse alte Deutschland, aus welchen drei Bestandteilen dasselbe bekanntlich zusammengesetzt ist. Wer aber dem jungen Deutschland schreibt, der erklärt, daß er jenen altdeutschen Adel nicht anerkennt, daß er jene altdeutsche tote Gelehrsamkeit in die Grabgewölbe ägyptischer Pyramiden verwünscht, und daß er allem altdeutschen Philisterium den Krieg erklärt und dasselbe bis unter den Zipfel der wohlbekannten Nachtmütze unerbittlich zu verfolgen willens ist.

[5] Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, flüchtige Ergüsse wechselnder Aufregung, aber alle aus der Sehnsucht des Gemüts nach einem besseren und schöneren Volksleben entsprungen. Ich hielt sie als Vorlesungen auf einer norddeutschen Akademie, hoffe aber, sie werden den Geruch der vier Fakultäten nicht mit sich bringen, der bekanntlich nicht der frischeste ist. Ich war noch von der Luft da draußen angeweht, und der Sommer 1833 war der erste und letzte meines Dozierens. Universitätsluft, Hofluft und sonstige schlechte und verdorbene Luftarten, die sich vom freien und sonnigen Völkertage absondern, muß man entweder gänzlich vermeiden oder nur auf kurze Zeit einatmen. Riechflaschen mit scharfsatirischem Essig, wie ihn z. B. Börne in Paris destilliert, sind in diesem Fall nicht zu verachten. Lobenswert ist auch die Vorsicht, die man beim Besuch der Hundsgrotte beobachtet – sonderlich wenn's in die Hofluft geht –, man bücke sich nicht zu oft und zu tief. Abschreckend ist das Beispiel von Ministern und Hofleuten, die des Lichtes ihrer Augen und ihres Verstandes dadurch beraubt worden sind und schwer und ängstlich nach Luft schnappen.

Dir junges Deutschland widme ich diese Reden, dem bräunlichen wie dem blonden, welches letztere mich umgab und die Muse war, die mich zweimal in der Woche begeisterte. Ja begeisternd ist der Anblick aufstrebender Jünglinge, aber Zorn und Unmut mischt sich in die Begeisterung, wenn man sie als Züchtlinge gelehrter Weckanstalten vor sich sieht. Sklaverei ist ihr Studium, [6] nicht Freiheit. Stricke und Bande müssen sie flechten für ihre eigenen Arme und Füße, dazu verurteilt sie der Staat. Die Unglücklichen, wie haben sie mich gesucht und geliebt, als ich ihnen die Freiheit wenigstens im Bilde zeigte.

Preußen trägt sich mit dem Plan, die alten Universitäten umzuschmelzen. Immerhin und mag das gelehrte Deutschland auch Blut über den Frevel schwitzen. Ich traue freilich dem neuen Gusse nicht, weil ich nicht einsehe, woher Preußen das rechte Metall dazu nehmen will, es wäre denn preußischevangelisches Kanonen- und Glockengut. Aber auch dieses halte ich für besser als die alte tonlose Mischung, die selbst unter Thors Hammerschlägen keinen Klang mehr von sich geben würde.

Zur Zeit der Reformation waren die Universitäten Stützpunkte für den Hebel des neuen Umschwungs. Gegenwärtig bewegen sie nichts, ja sie sind Widerstände der Bewegung und müssen als solche aus dem Wege geräumt werden.

Zu warnen aber sind junge Männer von Kraft und Talent, sich nicht unbedacht jener edlen Täuschung hinzugeben, als ob sich dennoch ein zeitgemäßer und volkstümlicher Wirkungskreis für sie auf unseren Universitäten erschwingen lasse. Glaubt mir, ihr hebt den Fluch nicht auf, den die Zeit über jene alten Gemäuer ausgesprochen hat, ihr setzt euch hingegen der Gefahr aus, mit demselben Fluche auf euren eigenen geistigen Schwingen belastet zu werden. Zittert vor der greisen alma mater, die als Ahnfrau unserer Universitäten ihr faltenreiches, mottenzerfressenes Gewand auf dem Boden der Aula einherschleift [7] und ihre alten Liebhaber-Pedanten durch junge und frische zu rekrutieren sucht. Zittert vor ihrer dürren Umarmung, vor dem Kuß ihrer gespenstischen grauen Lippen, denn sie saugt euch das Blut langsam aus den Adern und schrumpft die Hochgefühle eurer Brust zu jenem Minimum zusammen, das etwa einem alten ausgedörrten Wilhelm Traugott Krug oder Christian Daniel Beck kaum verschlägt, um damit den letzten Atemzug für den Himmel zu bestreiten. Denkt daran, daß alle großen Deutschen der neueren Zeit nur zu ihrem Unglück deutsche Universitätslehrer geworden sind, daß ein Fichte, Schelling, Niebuhr, Schleiermacher, geborene Tribunen des Volks, für das Volk und ihren eigenen höheren Ruhm verlorengegangen sind. Fichtes Reden an die deutsche Nation verhallten nicht bloß deswegen in den Wind, weil die Nation taub war, sondern weil zwischen ihr und ihm eine Scheidewand aufgerichtet war, die selbst Fichtes eherne Stimme nicht zu durchdringen vermochte.

Nun denn, junges Deutschland, mit Gott! Wir leben ja noch einen Tag zusammen, und wer weiß, ob unser Hort und Führer uns so lange durch die Wüste ziehen läßt wie Moses die Israeliten.

Ist aber eine Silberlocke unter deiner Schar, ein Greis mit jugendlichem Herzen, ich küsse ihm Auge und Stirn und wünsche auch mir einen warmen Frühling unter der Eisdecke künftiger Jahre.

[8]

1. Vorlesung

[1] Erste Vorlesung.

Meine Herren. Sie wollen mir die Ehre geben, meinen Vorträgen über Ästhetik beizuwohnen. Ich freue mich über Ihre Zahl, und ich bemerke mit Vergnügen, aber nicht ohne Gefühl meiner unzulänglichen Kräfte und Hilfsmittel, die Teilnahme und Aufmerksamkeit, womit Sie der Eröffnung dieser in mehr als einer Hinsicht bedenklichen Vorträge entgegensehen. Es ist zwar das, was die Seele, das Prinzip der Ästhetik ausmacht, nämlich das Schöne, die Form, die Gestalt schon im Altertum von den tiefsinnigsten Weisen behandelt worden; allein wie abstechend von dieser Behandlung ist die heutige Form einer akademischen Disziplin, in welcher die Ästhetik seit Baumgartens Zeit in Deutschland aufgetreten ist. Selbst der Name rührt aus dieser Zeit her, er ist von Baumgartens Erfindung und war den alten Griechen und Römern in diesem Sinne völlig unbekannt.

Aesthetica betitelt Baumgarten die beiden Volumina, welche im Jahr 1750 und 1758 aus Licht [1] traten. Den Barbarismus des Wortes will ich nicht tadeln, nur den Barbarismus, der darin lag, ein solches Werk in lateinischer Sprache zu schreiben. Barbarisch – pedantisch war der Ursprung der Ästhetik oder der vagen Wissenschaft, welche man mit diesem Namen bald allgemeiner zu bezeichnen anfing. Riedel und Sulzer machten daraus eine Theorie der schönen Künste und letzterer schrieb sogar eine solche »allgemeine Theorie der schönen Künste« nach alphabetischer Ordnung, zwei Quartbände unfruchtbarer Theorien, die weder dem Philosophen noch dem Künstler förderlich sein konnten. In ein höheres Gebiet wurde die Ästhetik aufgenommen, als Kant seinen eminenten Scharfsinn auch nach dieser Seite wandte und in »der Kritik der Urteilskraft« eine von seinem Standpunkt und seinen Prinzipien ausgehende Kritik des Geschmacks aufstellte. Nach ihm wurde die Ästhetik von mehreren Professoren der Philosophie bearbeitet, am vollständigsten von Fr. Bouterwek, dessen Werk (in zwei Bänden) das bekannteste ist und drei Auflagen erlebt hat. Grundzüge ästhetischer Vorlesungen schrieb 1808 Heinrich Luden, die auf seine bekannte Weise geistreich und gediegen sind. Blühender und an wahrem ästhetischen Gehalt reicher ist die Vorschule der Ästhetik von Jean Paul, die 1813 eine neue Auflage erlebte.

Ich werde mein Urteil über diese akademischen Schriften (die Jean Paulische gehört nicht in ihren Kreis) zusammenfassen und nur vorher bemerken, daß die Ästhetik nicht immer mit den Ansprüchen auf [2] wissenschaftliche Form und Vollständigkeit in Deutschland aufgetreten, sondern daß es sehr interessante ästhetische Abhandlungen gibt, die sich ungebundener und freier auslassen. Dazu gehören die ästhetischen Abhandlungen von Schiller, die ich als bekannt voraussetze, z.B. sein Aufsah über die ästhetische Erziehung des Menschen, über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen (!), über naive und sentimentale Dichtung, über das Erhabene, seine Gedanken über den Gebrauch des Gemeinen und Niedrigen in der Kunst usw. Auch lassen sich viele Aufsätze von Goethe in den Propyläen und in Kunst und Altertum als sehr bedeutende Beiträge zu der Ästhetik des Goetheschen Jahrhunderts betrachten. Was Schiller betrifft, so behandelte er die Theorie des Schönen mehr in Beziehung auf dichterische Form und geselliges Leben, dagegen Goethe mehr die bildenden Künste, insbesondere die Antike ins Auge faßte. Bildender für den Geschmack sind bei weitem die Bemerkungen von Goethe, insofern sie mehr aus dem einheitlichen Quell des Goetheschen Lebens hervordringen und die ungetrübtesten Anschauungen der Welt und ihrer Schönheiten in Natur, Kunst und Leben enthalten, wie die sämtlichen Goetheschen Werke, seien sie Gedichte oder Prosa. Während Goethes geistige Magnetnadel sich unverwandt gegen den schönen Kunstpol neigte, bewegt sich Schillers ringende Natur nach den entgegengesetztesten Richtungen und strebt vergebens nach dem Schwerpunkt, der seiner geistigen Natur angemessen war. Reinhold hatte ihn in Jena in die Kantische Philosophie eingeführt, als [3] Schiller auf dortiger Akademie historische Vorlesungen hielt. Nun geriet er zwischen zwei Feuer, das griechische der Kunst und Poesie, das in Weimar glühte, und das nordische der Philosophie, welches zu jener Zeit mit kritisch verzehrendem Feuer, von der Ostsee, aus Königsberg ausgebrochen war. Es ist gewiß, daß seine schönere Natur zuletzt den Sieg davontrug, was besonders seit der Zeit merklich wird, als die Vorurteile zwischen ihm und Goethe hinweggefallen waren und beide große Naturen durch gegenseitigen Umtausch ihrer Gedanken und persönlichen Umgang in Weimar wetteifernd ihrer Ausbildung entgegenschritten. Allein seine erwähnten ästhetischen Ansichten tragen noch deutlich die Spuren geistiger Entzweiung, die aus dem Studium der Kantischen Philosophie für ihn resultierte. Er ist sich selbst nicht klar und läßt daher auch einen sehr unklaren Eindruck auf den Leser zurück. Die Bewunderung für Kants diktatorisches und von der moralischen Seite so erhabenes Genie, die ihm Rein holds Vorträge und Studium der Kantischen Kritiken eingeflößt hatte, verleitete ihn zur Annahme Kantischer Prinzipien, die, wie man sie sonst auch versteht, auslegt, billigt oder verwirft, von niemand so leicht als kunstförderlich oder auch nur verträglich mit den Forderungen des ästhetischen Sinnes betrachtet werden mögen. Es gibt vielleicht keinen konsequenten Kantianer gegenwärtig auf der Welt, damals aber war alle Welt kantisch, es ging eine Seuche durch Deutschland, sich kantisch auszudrücken, und bei Dietrich in Göttingen erschien im Jahr 1801 sogar eine Kantische Postlehre mit dem Titel: »Vorläufige [4] Darstellung der Begründung einer allgemeinen Postanstalt.«

Daher findet man denn auch die meisten Handbücher der Ästhetik, die aus jener Zeit stammen, mehr oder weniger in die abstrakten Formeln der Kantischen Philosophie gebannt, z.B. die von Ben David und von Krug, welcher schon als solcher und inmitten seiner Philosophie, der leibhaftige Tod für Ae Ästhetik ist.

An sich, meine Herren, gehört das Element der Ästhetik, das Schöne, ohne Zweifel in den Kreis der erhabensten Philosophie. Die Wirkungen der Schönheit, die Schönheit selber ist uns ein Geheimnis, ein Rätsel, zu dessen Auflösung wir den Schlüssel bei einer Wissenschaft suchen, von der, wie Sie wissen, wenigstens die Rede geht, daß sie den großen goldenen Schlüssel zu allen Geheimnissen der Welt, wenn auch nicht besitzt, doch wenigstens zu schmieden beflissen sei. Dennoch, meine Herren, und wenn, der Schlüssel auch gefunden wäre, ist Aufschließen und Schauen offenbar zweierlei. Nehmen wir z.B. an, daß der verstorbene Hegel, unter dessen Schriften man ebenfalls eine Ästhetik findet, die im geschlossenen Ringe seiner Philosophie ihren bestimmten Platz und Namen hat, daß Hegel den Grund und das Wesen aller Dinge nicht allein tiefer erforscht hätte, als alle seine Vorgänger, sondern auch wirklich und wahrhaftig in diesem Grunde angelangt wäre und von da aus imstande wäre, die ganze Welt dem lieben Gott nachzukonstruieren und zu beweisen, warum alles so wäre und nicht anders sein könnte, als es ist, könnte er mehr tun, als uns das Warum [5] der Schönheit in abstrakter Formel auszusprechen, könnte er uns mit schöpferischer Kraft eine Ahnung der Schönheit selbst ins Herz flößen? Muß nicht das Schöne auch wieder durch das Schöne bezeichnet werden, um sich als schön fühlen zu lassen, kann man durch undichterische Schönheitslehren über die Schönheit belehren, hebt nicht eine abstrakte Definition die Schönheit, die sie definieren will, und daher sich selber auf, kann man die geistigste Blüte alles Erschaffenen, sei es dem unmittelbaren Quell der Natur oder den Händen der Kunst entsprungen, unter das anatomische Seziermesser bringen, und ist das, was unter solchen Händen seufzt, tot oder lebendig zu nennen?

Nicht jede Philosophie also hat, als solche, die Kraft und die Eigenschaft, das Prinzip der Schönheit würdig darzustellen, und noch weniger läßt sich er warten von den Schriften der gelehrten Pedanterie, wie ein solches musterhaftes Beispiel oder Gegenspiel der Ästhetik in Baumgartens lateinischen Werken vorliegt, der die ausländische Form natürlich noch zum geringsten Vorwurfe dient. Schon der Name Ästhetik ist so unpassend als möglich, dieser Name, der das verdiente Schicksal gehabt hat, anfangs nur unter lateinisch-deutschen Gelehrten, unter akademischen Kathedristen bekannt zu sein, bei seinem Eintritt ins große Publikum aber, so wie in gegenwärtiger Zeit, von den Gelehrten fast verachtet, von süßlichen Schöngeistern erniedrigt und in der meisten Munde bespöttelt zu werden. Es wäre in der Tat sehr zu wünschen, daß der Name und die ganze Behandlung dessen, was man unter diesem [6] Namen zusammenfaßte, in Deutschland gar nicht aufgekommen wäre. Das Gefühl des Schönen ist unter den Deutschen keineswegs so verbreitet, befestigt und veredelt, daß es geschützt und sicher genug wäre vor den erkältenden Einflüssen, womit dasselbe auf der einen Seite von dem hölzernen Zepter der Schulgelehrsamkeit, auf der anderen von dem leichfertigen Geckentum des Gallizismus bedroht wird Die Ästhetik ist als Wissenschaft für Deutschland viel zu früh gekommen. Das Gefühl des Schönen muß sich vor allem erst durch das Leben befruchten und bilden, wenn es in Büchern und Hörsälen würdig dargestellt und ein wahrhaft integranter Teil der Philosophie werden soll. Das Schöne selbst aber schwebt nicht in der Luft, ebensowenig wie die Blüte und das Rosenblatt, es muß befestigt sein an einem Stamme, es muß Charakter haben, und nichts fehlte zur Zeit, als Baumgarten seine Ästhetik schrieb, der deutschen Nation mehr als diese. Nationalgefühl muß dem Gefühl fürs Schöne, politische Bildung der ästhetischen vorausgehen. Ohne Kraft gibt es keine Gewandtheit, ohne Charakter keinen Ausdruck, ohne Ausdruck keine Schönheit, weder im Stil des Bildhauers, noch im Stil des Schriftstellers. Beglückter war das griechische Volk als wir. Es besaß freilich keine Ästhetik, aber dafür platonische Dialogen, worunter wahre Opfer an die Göttin der Schönheit, behandelten sie auch nicht, wie sie tun, das χαλου χάγαϑου als ihren Hauptgegenstand und identifizierte ihr Urheber auch nicht, wie er tut, das Schöne mit dem ewig Einen, mit Gott selber. Unsere neuere Ästhetik beschränkt sich [7] daher auch, aus Mangel an Lebensfülle, gänzlich auf das Schöne oder die Schönheiten in Poesie und Kunst und sind, wie auch viele den Namen führen, bloße Theorien der sogenannten schönen Künste und Wissenschaften, die zu Anfang einige vorläufige Definitionen vom Schönen, Erhabenen, Anmutigen, Witzigen usw. aufstellen und dann allerlei und mancherlei aus der Geschichte und Technik der schönen Künste und Wissenschaften folgen lassen. Es gibt nur eine einzige Schrift über gewöhnliche Ästhetik, die genial und ästhetisch ist, die Jean Paulische, wie nur ein einziges Werk, das die Ästhetik im höhern, im griechisch-platonischen Sinne auffaßt,der Erwin von Solger. Allein schon aus der allgemeinen Unkunde dieses Werks muß sich zweierlei klarmachen, daß es entweder nicht in zeitgemäßer Form geschrieben, oder daß sein Inhalt nicht zeitansprechend sei. Beides ist mir ausgemacht. Die Form ist dialogisch und der Inhalt eine Vergötterung des Schönen mit einem Anschein des Enthusiasmus, der dem Platonischen nicht allein nahekommt, sondern ihn noch zu übertreffen scheint, der aber lange nicht die Wärme und Kunstlosigkeit hat, als der des griechischen Meisters. Um sich davon einen Begriff zu machen, vergleiche man die so wahre als genievolle Schilderung, die Jean Paul von den Griechen gibt, mit dem Leben, das wir Deutsche in Deutschland führen, so wird man einsehen, daß die Begeisterung eines platonischen Dialogs, wie des Symposions, eine natürliche, Solgers aber eine gemachte war, wie mehr und weniger jede Begeisterung, die isoliert steht und ihre Quelle nicht aus der Zeit nimmt.

2. Vorlesung

[8] Zweite Vorlesung.

Meine Herren. Ich bitte Sie, sich aus der ersten Vorlesung den Satz ins Gedächtnis zurückzurufen, daß der Gegenstand der Ästhetik, die Schönheit und deren Erscheinung in den Gebieten des Lebens und der Kunst weder von abstrakter Philosophie, noch von geist-und ahnungsloser Gelehrsamkeit aufgewiesen und dargestellt werden könne; daß aber die deutsche Ästhetik, als akademische Wissenschaft, mit wenigen Ausnahmen eben das Schicksal gehabt habe, von solchen Männern geschrieben und gelehrt worden zu sein, denen der rechte Natursinn und die Bildung für die Schönheit bald völlig abging, bald nur in sehr geringem Grade beiwohnte. Einseitigkeit in jeder Art ist keiner Wissenschaft nachteiliger, als der Lehre vom Schönen, ja es steht eben die Einseitigkeit im graden Widerspruch mit der Schönheit, welche die freie Entfaltung liebt und nur im Elemente der Freiheit sowohl gedeihen, als verstanden werden kann. Wenn in der Philosophie, in der Wissenschaft eine große einseitige Schärfe des [9] Verstandes, der Abstraktion, wenn in Sachen der Gelehrsamkeit eine gewisse einseitige Stärke des Gedächtnisses bedeutenden Leistungen nicht nur nicht hinderlich, sondern förderlich scheint – eine Bemerkung, die sich Ihnen bei der Geschichte der Philosophie und der Gelehrsamkeit aufdringen wird –, so ist dies der umgekehrte Fall bei den Lehren des Geschmacks, welche bei einseitigen Richtungen der darstellenden Individuen und ganzer Zeitalter um desto geschmackloser und den Sinn für das Schöne um desto weniger erregend und bildend sind, je naturwidriger und unharmonischer, das heißt, je einseitiger die Bildung ihrer Urheber war. Ich möchte noch immer, nach allem, was bisher in Deutschland Ästhetisches und über Ästhetik geschrieben worden, so viele Goldkörner Lessing, Herder, Jean Paul, Schiller, selbst Bouterwek auf diesen dürren Boden hingestreut haben, ich möchte noch immer dem Jünger des Schönen und dem Freund seiner eigenen harmonischen Ausbildung den Rat geben, sich seinem eigenen Genius zu überlassen und statt sich durch mehr oder minder willkürliche Räsonnements über die Schönheiten in Kunst und Poesie verwirren zu lassen, sich nur an die meisterhaften Kunstprodukte der alten und neuen Zeit selbst zu halten und bei ihrer Lesung, ihrem Anschauen sich von den unausbleiblichen Wirkungen der geistigen Kraft der Schönheit lebendig zu erfüllen, wozu dem Deutschen insbesondere Goethes Werke als musterhaft vorschweben.

Doch vielleicht, meine Herren, kommt den Deutschen, als Nation, die Schönheitslehre und [10] der Schönheitssinn viel zu früh, und dies war der zweite Hauptsatz der ersten Vorlesung, in der ich diese Behauptung aufzustellen gewagt habe. Die Schönheit, sagte ich, beruht auf Kraft und Charakter, sie beruht auf leiblicher und geistiger Gesundheit, auf Lebensfrische, auf Behaglichkeit, auf Freiheit und Harmonie; denn unter diesen Grundbedingungen kann jedes Volk des Erdbodens, nicht allein das griechische unter seinem ewigblauen Himmel und mit seiner offenen, sonnigheitern Sinnlichkeit, sondern auch der Deutsche, der Nordmann unter rauherem Himmel, den Sinn für Schönheit unter sich ausbilden und aller Segnungen desselben und des doppelten und dreifachen Lebensgenusses, der aus diesem Sinn entspringt, teilhaftig werden. Aber fast mehr noch als der Grieche, der Sohn des Südens, hat der Deutsche, der Nordmann auf die Ausbildung seines Charakters hinzuarbeiten; unser Geist ist von Natur formloser, als der griechische; zwischen untätiger Ruhe und träger Beharrung und momentaner heftiger Aufregung und aufblitzenden Leidenschaften schwanken die Besseren und die Besten unter uns hin und her, die geistigsten Äußerungen und die tiefsten Gemeinheiten vereinigen sich oft in einer und derselben Person. An Leuten, die vor Gelehrsamkeit strotzen und halb darüber platzen, wie an Leuten, die vor lauter Scharfsinn und Spitzfindigkeit beständig auf Nadeln gehen, an überschwänglichen Poeten, an wahnsinnigen Musicis, an eingehimmelten, augenverdrehenden Frömmlern, an Charakteren dieser Art, fehlt es allerdings nicht in Deutschland, allein ihre Fülle und [11] Anzahl bestätigt eben meine Behauptung, daß man zu wenig Charakter und Ausbildung desselben unter uns antreffe. Es sind diese und ähnliche bizarre Originale (die noch dazu oft nur schlechte Kopien), lebendige Muster der charakterlosen Einseitigkeit einer zersplitterten Zeit, die sich zum wahren Charakter der Humanität in gar kein anderes Verhältnis stellen lassen, als in das der Scheuchbilder einer menschlichen Gestalt zur menschlichen Gestalt selber. Daß solche und ähnliche Charaktere oder Charakterverzerrungen unfähig sind, den Stempel der Schönheit aufzunehmen, bedarf wohl keiner Erläuterung. Eine zweite und noch zahlreichere Gattung von Charakteren liefern uns die Geschäftsmänner in allen Zweigen des Lebens;die Amtleute, Juristen, Advokaten, Sachwalter; diese Generalpächter des Gesetzes und der Gerechtigkeit, die noch in so vielen Ländern die Barbarei eines unbekannten, undeutschen, unvolkstümlichen und daher rechtlosen Rechts täglich verewigen und die daher seit alter Zeit eine pedantisch gelehrte Kaste bilden, welche, wie alles Kastenwesen, der freien Bildung und schönen Humanität schnurstracks entgegenläuft, – die Ärzte, welche ebenfalls ihre Wissenschaft und ihr ganzes Treiben vor den Augen der gebildeten Nation verbergen und sich in den Nimbus einer Kunst hüllen, die an unsern eigenen Leibern experimentiert und tastet, – die Schulmänner, die sich noch immer nicht entschließen können, ihre Perücke abzulegen und deutsche Jünglinge statt Latinisten und Gräzisisten fürs Leben heranzubilden [12] – die Theologen – kurz alle Ämter, die als sogenannte Brotstudien auf unseren Universitäten in eigenen abgeschlossenen Disziplinen gelehrt werden, wie wenig entsprechen sie im ganzen, großen, wie im einzelnen dem reinen Bilde der Humanität, und wie selten kann man beim Anblick des Wirkens der in diesen und durch diese Disziplinen ausgebildeten Männer freudig ausrufen, hier ist ein Charakter, der rein und freudig im Geiste seines Volkes und im Höheren der Menschheit ruht, ein individueller Mensch, der natürlich und aus dem Grunde lebt, der die Wissenschaft, die Kunst und alles was er treibt, nicht auf angelernte Weise handwerksmäßig treibt, sondern mit innerem Drang, mit eigenem Denken und nach selbstgemachten Erfahrungen, ein Geist, dessen charakterischer Zug es eben ist, die Bahn, die Art und Weise seiner Tätigkeit sich weder von außen aufdringen zu lassen, noch sich selber mit Willkür zu setzen, sondern mit klarer Besonnenheit zu wählen. An der Bildung eines solchen Mannes, meine Herren, mag vielleicht die letzte Feile fehlen, seiner geistigen Gestaltung, seiner leiblichen Erscheinung noch manches abgehen, was der Grieche des Perikles, der auf jeden Zug, auf jedes Wort, auf jede Bewegung achtete, Sorgfalt verwandte, was der ungern vermißt hätte, es mag ihm noch nicht der rechte Sinn aufgegangen sein für die tiefe Bedeutsamkeit der äußeren schönen Form, für die himmlische Blüte des Geistes, für den reinen Abdruck der innern Harmonie, es mag ihm Sinn und Gemüt noch nicht gehörig aufgeschlossen sein für die Freuden der Kunst, für den Genuß der Poesie, er [13] mag den Apoll von Belvedere noch nicht bewundern, sich für die Goethesche Iphigenie noch nicht begeistern, sich vom Zauber einer schönen Gegend, einer Mozartschen Musik nicht hinreißen lassen, sich überhaupt noch nicht über den bloßen baren Ernst des Lebens in die freiere Region erhoben haben, wo der Ernst ein Spiel und das Spiel ein Ernst ist, ich meine die Region der Kunst, der ästhetischen Anschauungen des Lebens – aber er ist vorbereitet, er ist des Besten würdig, was Gott für uns bestimmt hat, des Genusses, den nur derjenige ahnt, dem er dafür Empfänglichkeit gegeben, und dem Welt, Erziehung und Gesellschaft dessen nicht beraubt haben.

Allein, solange noch das Leben selbst, das uns von der Wiege auf umfängt, solange noch die Schule, die Universität, diese Bildungsmittel unseres Geistes, später der Staat und das, was jetzt unter dem Namen der guten Societé und im weitern Umfang der bürgerlichen Gesellschaft besteht, solange dies alles der eigentümlichen Bildung und Entwicklung unsers Charakters mit Händen und Füßen entgegenarbeitet, werden solche Männer immer nur zu den seltenen Erscheinungen gehören und somit auch die Ausbildung des Schönheitsinnes, nach meiner innigsten Überzeugung, eine vergebliche, ja in vielen Fällen schädliche sein, eine Erfahrung, die wir sowohl an jenen geschmackvollen Kunstkennern machen, welche in unmännlicher Sorglosigkeit und Unbekümmertheit die Wissenschaft ums Vaterland und die großen Interessen der Zeit, in italienischen und antiken Kunstgenüssen [14] schwelgen, oder wenn sie es nicht zur Kunstkennerschaft bringen, fade Schöngeister werden, die sich bei den Gebildeten und die Ästhetik mit ihrer. Person beim großen Haufen lächerlich machen. Vom letzteren habe ich bisher noch gar nicht einmal gesprochen, indem ich die Unfähigkeit unserer Zeit Zum Genuß und zur Würdigung des Schönen in dieser Einleitung berührte. Wer hat ihn, diesen großen Haufen, besser geschildert als Kant in seinem Werke über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, wenn er spottend fragt: wohlbeleibte Personen, deren Autor der Koch ist und deren Werke von seinem Geschmack im Keller liegen, werden bei gemeinen Zoten und einem plumpen Scherz in eben so lebhafte Freude geraten, als diejenige ist, worauf Personen von edler Empfindung so stolz sind. Ein bequemer Mann, der die Lektüre der Bücher liebt, weil es sich so wohl dabei einschlafen läßt; der Kaufmann, dem alles Vergnügen läppisch erscheint, dasjenige ausgenommen, das ein kluger Mann genießt, wenn er seinen Handlungsvorteil überschlägt; der Liebhaber der Jagd, er mag nun Fliegen jagen, wie Domitian, oder wilde Tiere, alle diese haben ein Gefühl, welches sie fähig macht, Vergnügen nach ihrer Art zu genießen, ohne daß sie andere beneiden dürfen oder auch von andern sich einen Begriff machen können – allein, ich wende für jetzt keine Aufmerksamkeit darauf. Es gibt noch ein Gefühl von feinerer Art, und so fort, unter diesem Gefühl verstand Kant das Gefühl für das Schöne und Erhabene, das in ihm selbst, wenn auch mit Übergewicht[15] für das geistig und moralisch Erhabene lebendiger war als in den meisten seiner späteren Jünger, Fichte und Schelling ausgenommen.

Überhaupt bin ich weit entfernt, wenn ich den Deutschen der nächstvergangenen und heutigen Welt das rechte Lebenselement und daher den rechten Sinn der Schönheit abspreche, in dieser Behauptung den Einflüsterungen gewisser Schriftsteller Raum zu geben, die allzu leichtfertig über unsere Nation den Stab brechen. Vor dieser Gesinnung schütze uns nicht eben die Stumpfheit, die man uns überm Rheine vorwirft und die Gleichgültigkeit gegen das Urteil der Welt – denn man kann wohl sagen, daß die ganze Welt über uns richtet, und daß wir nicht allein dem raschen Franzosen, sondern auch dem bedächtigen Engländer, ja selbst dem knechtisch-feigen Italiener ein willkommner satirischer Stoff sind – sondern der Glaube an unsere Nation, das Vertrauen auf die Zeit, die Rosen und Ketten bricht, die Kenntnis unserer Geschichte, die uns einen Spiegel vorhält, worin wir eine bessere und glänzendere Vorzeit beschauen.

Ja, ich bin im Gegenteil so weit entfernt von Kleinmut, daß ich der Überzeugung lebe, keine einzige von den großen europäischen Nationen sei von der Natur besser bedacht, als eben die unsrige, Das sehen wir am Mittelalter, an demselben Mittelalter, das, als es veraltet war, Luthers Hand, und der dreißigjährige Krieg, und der siebenjährige, und die Revolution und Napoleon und die Befreiungskriege, alles, was auf Deutschland [16] losgestürmt hat, nicht so weit hat zerstören und abbrechen können, daß nicht noch gegenwärtig die alten zerbröckelten Säulen und Bogengänge in Schulen und auf Universitäten, in Kirche und Staat vor unsern Augen daständen und uns an eine Zeit ermahnten, deren geistiges Prinzip längst untergegangen ist, deren leiblicher Schutt aber noch immer unausgekehrt, Leben und Wachstum hemmend in der Gegenwart liegt. So großartig baute jenes granitne Mittelalter, solche Massen türmte es in die Luft, mit so festem Kitt band es die Formen seines Lebens aneinander fest und so lange Zeit muß es dauern, daß nach seinem Fall, eine neue Generation sich wieder erheben und auf eigenem Grund und Boden für sich dastehen kann. Unzweifelhaft leiden wir Deutschen bloß am Mittelalter – daher unsere Pfaffen, daher unsere Höfe, daher unsere Ritter, daher unsere lateinischen Juristen, medici, theologi, Promotionen und Dissertationen und das ganze Spießbürgertum unserer politischen und gelehrten Welt, worüber unsere Nachbarn und wir selbst im guten Humor uns so oft lustig machen. Allein, beweist nicht eben diese Zähigkeit und Unzerstörbarkeit der mittelaltrigen Formen, die ein ganz anderer Geist beseelte, für die ungeheure aufbauende Kraft jener Zeiten?

Das ist aber klar, sagt Moriz Arndt, daß, wenn man diese Zeit aus ihren Werken und Schöpfungen erklären und erkennen will, man bei ihnen nicht stehen bleiben darf. Ein tapferer und höherer Lebensgrund, in der frühsten Zeit geworfen, eine uralte, geistreiche und seelenvolle Religion [17] die aus Asien in die Wälder Germaniens eingewandert war, die innigste und tiefste Weltanschauung und Weltdurchdringung, die sich in tausend Zeichen und Bildern in der frühesten Sprache widerspiegelt, einer Sprache, welche die Geister des Lichts erfunden haben – alles dieses muß man glauben, wenn man begreifen will, wie ein Volk, das sie im neunten Jahrhundert noch Barbaren nannten, im zwölften und dreizehnten Jahrhundert schon so herrlich schaffen und bilden konnte. Woher ist alles das Namenlose und Unendliche, was jene frühste Zeit geboren hat? Aus welcher Brust klang zuerst das Nibelungenlied und so viele süße Volksgesänge? Wer hat die Dome in Mailand, Ulm, Köln, Wien, Straßburg und Pisa gebaut? Woher entsprangen die unendlichen Bilder, gleichsam aller Weltkräfte Spiegel, die in tausend Gestalten uns wie Träume und Dämmerungen aus einer lange vergangenen oder wie Andeutungen und Weissagungen einer zukünftigen Zeit zu umflattern scheinen? Wahrlich, diese Werke und Bilder sind beides, denn diese freudigen Menschen lebten mitten in Gott, und er selbst schuf aus ihnen.

In der Tat, wenn es nach des schönen Griechenlands Entartung eine Epoche in der Weltgeschichte gab, welche sich durch ihr reges Walten und Wirken und durch ihren Sinn für Kunst und Schönheit die Auszeichnung erwarb, nicht mit Griechenland verglichen, sondern Griechenland an die Seite gestellt zu werden, so ist dieses die Epoche des deutschen Mittelalters.

[18] Von sonstiger Vergleichung zwischen beiden kann allerdings nicht die Rede sein, jede ist zu eigentümlich ausgeprägt und kann daher nur aus sich selbst begriffen und mit sich selbst verglichen werden. Man hat die Kunst und Poesie des Mittelalters mit dem Namen der romantischen, die Kunst und Poesie der Alten mit dem Namen der klassischen getauft, welcher Name und Gegensatz von einer deutschen Dichterschule, Tieck und den beiden Schlegeln, die man selbst zur neuromantischen Klasse zählte, ausging, in Deutschland viel Streit und Gerede machte und seit einem Dezennium auch in Frankreich und Italien die größten Spaltungen erregte, indem die jungen französischen und italienischen Dichter sich zu den deutschen Romantikern schlugen, und im Gegensatze zu den Nachahmern des altklassischen Stils sich mehr der britischen und deutschen Phantasiefülle und Regellosigkeit hingaben, worin sie hauptsächlich das Wesen der Romantik erblickten. Überhaupt hat man viel Mißbrauch mit beiderlei Namen getrieben, und man ist sich noch jetzt, weder in Deutschland, noch bei unsern Nachbarn selten klar, worin denn eigentlich das unterschiedliche Wesen der einen und der andern Art bestehe. Vielleicht drückt man sich darüber am richtigsten aus, wenn man sagt, die Kunst der Alten, das ist die Klassik, habe darin bestanden, daß sie jede Idee, die sie darstellen wollten, sei's mit dem Meißel, am Stoff des Marmors, sei's mit dem Griffel, am Stoff der Sprache, daß sie jede darzustellende Idee, so vollkommen an diesem Stoffe ausdrückten, daß nichts [19] mehr und nichts weniger als eben die Idee selbst sinnlich vor Augen trat; dagegen die Kunst der Romantiker darin bestand und besteht, daß sie die Idee im sinnlichen Stoff keineswegs vollkommen erschöpften, sondern nur symbolisch an ihm darstellten, so daß man bei ihren Gebilden immer etwas mehr hinzuzudenken habe, als man vor Augen sähe. Die Ursache war denn die, daß die alten griechischen Künstler, nach ihren Begriffen von sinnlicher Form und Schönheit, alle diejenigen Ideen Zur Darstellung verschmähten und von sich wiesen, welche sie nicht in feste Form vollkommen einfassen konnten, die Künstler und Dichter des Mittelalters aber sich kein Bedenken daraus machten, das Höchste und Tiefste, was nur die Menschenbrust fassen, aber kaum ein sterblicher Mund aussprechen konnte, symbolisch in Formen und Gestalten wenigstes anzudeuten. Daß uns eine solche Kunst der Bedeutsamkeit, eine solche Symbolik der Religion und der Liebe aus den Denkmälern des Mittelalters überall anweht, uns bald heimlich, bald großartig, band abenteuerlich ergreift und etwas Unendliches, Ahnungsvolles, Sehnsüchtiges in uns anregt, wird jeder gestehen, dem das Mittelalter bekannter geworden ist wie aus Büchern der neuern Zeit über dasselbe.

Sollte es nun diese romantische Art der Schönheit sein, die uns als Muster, als nationelles Element vorschweben muß, wenn wir uns aus dieser Zeit nach einer schöneren umsehen?

Ehe ich mir diese Frage zu beantworten getraue, werfe ich einen kritischen Blick auf gewisse [20] Erscheinungen des Mittelalters, die als die glänzendsten von den romantischen Dichtern gepriesen worden sind; bewähren sich diese als echt, als für alle Zeiten echt, sind sie nicht allein dem Schoß einer gewissen Bildungsstufe, sondern dem ewigen Schoße der Natur selbst entsprungen, so würden sie für die romantische Schönheit, mit welcher sie in sehr genauer Verbindung stehen, in unsern Augen ein sehr günstiges Vorurteil erwecken. Ich meine hier insbesondere die Andacht, die Ritterehre und die Frauenliebe des Mittelalters, drei der schönsten Strahlen aus dem Leben dieser wunderbaren Zeit.

War, frage ich mit Herder, war jene Andacht hes Mittelalters, ich spreche nur von der reinen und uneigennützigen, von der hohen, mystischen Andacht und nicht von der pfäffischen mit ihrem Klingklang und ihrer Selbstsucht, jene Andacht, welche die ungeheuren Dome baute, welche sich unermeßlichen und unnennbaren Gefühlen hingab, war sie rein menschlich, oder lag nicht etwas Übertriebenes, Ungestaltetes und Falsches darin? Ich glaube, ja. Das Unermeßliche, sagt Herder, hat sein Maß, das Unendliche keinen Ausdruck. Je länger man an diesen Tiefen schwindelt, desto mehr verwirret sich die Zunge, Du sagst nichts, Wenn Du vorhattest, etwas Unaussprechliches zu fragen.

Und jene Frauenliebe, jene Galanterie der Liebe, war sie nicht ein falscher Geschmack, war es die Sprache des Herzens, der rein menschliche Erguß des Gefühls und natürlicher Neigungen, [21] welche in diesen Bildern, Schwüren, Worten, Witzen und Wendungen der mittelaltrigen Gerichte (das Nibelungenlied ist überall auszunehmen) spielt. – Ich denke ja, und dasselbe denke ich von der übertriebenen Ritterwürde. Alles Geklirr, sagt derselbe Herder, alles Geklirr an Mann und Roß kann uns, wo Verstand, Zweck, Ebenmaß, wo Humanität fehlt, kein Klang einer himmlischen Muse werden. – Daß die Raubritter des spätern Mittelalters zu diesem Gemälde nicht einmal gesessen haben, sehen Sie von selbst.

3. Vorlesung

[22] Dritte Vorlesung.

Indem ich dem deutschen Leben von gestern und heute denjenigen Charakter absprach, der überhaupt nur fähig wäre, sich zur Schönheit zu steigern und zu verklären, wies ich zugleich die Beschuldigung von mir, als ob ich unserer Nation überall Charakterbefähigung und daher Schönheitsbefähigung abzusprechen gedächte. Ich hielt Ihnen den Spiegel des deutschen Mittelalters vor, Sie sahen den nationalen Quell des deutschen Lebens eröffnet, in jugendlicher Freiheit dahinströmend, gewaltige und zugleich schöne Unternehmungen, starke und zugleich kunstreich gebildete Menschen, Künste, die der Reichtum ernährt, kunstreiche Kirchen und öffentliche Gebäude, Ernst im Schaffen, Lust im Spiel, Kriegsübungen, weidliche Ritter, tapfere Bürger, welche das Schwert zu führen verstanden, keusche Weiber, die in Anmut, Zucht und Unschuld aufblühten und daher nach allem auch eine Poesie, welche der Widerschein dieses Lebens war und in der sich alle Strahlen sammelten, die romantische Poesie des Mittelalters.

[23] Mußte nun dies Spiegelbild viel Anziehendes für unsere Phantasie haben, die in der Gegenwart aus Mangel an Nahrung zu verschmachten droht, ja, lag uns die Frage nahe, ob es nicht eben diese romantische Schönheit des Mittelalters sei, dessen Wiederbelebung der Zeit und dem deutschen Volke not tue, so ließen wir uns doch nicht darauf ein, diese Frage eher zu beantworten, als bis eine andere aufgeworfen und beantwortet wäre, nämlich die: trägt die romantische Schönheit des Mittelalters auch in der Tat den Stempel der schönen Humanität an sich, der uns als Ideal vorschwebt, war sie lautre Natur, frei von Künstelei und Überspannung, war sie dem deutschen Geiste so eigentümlich, daß keine spätere Zeit ihre Kraft entfalten kann, ohne sich in diese Form zu schmiegen, muß die neue schönere Zeit, die heranzieht, die als Samenkorn in tausend und aber tausend deutschen Herzen verschlossen liegt, um an irgend einem Frühlingsmorgen neuerwacht ins Leben zu blühen, muß sie haben Barone, Ritter, Knechte, Dome, Pfaffen, galanten Frauendienst, Minnegesang und alle jene Denk- und Lebensformen, wodurch sich das Mittelalter auszeichnete. Und da glaubten wir mit nein antworten zu müssen, und ich denke, alles was jung ist in Deutschland steht auf unserer Seite und lebt der frohen Hoffnung, daß auch ohne Verjüngung mittelaltriger Formen eine Wiedergebärung der Nation, eine poetische Umgestaltung des Lebens, eine Ergießung des heiligen Geistes, eine freie, natürliche, zwanglose Entfaltung alles Göttlichen und Menschlichen in uns möglich sei.

[24] Das Mittelalter hat sich überlebt, sein Geist ist ein Schatten der Geschichte, der auf verwitterten Ruinen einherwandelt. Poesie mag ihn beschwören, mag ihn in romantischem Mondlicht unserm Auge vorüberführen, der helle Tag sieht und kennt ihn nicht mehr. Schon zur Zeit der Reformation gehörte er zu den Abgeschiedenen, die Erfindung des Pulvers, der erste Kanonenschuß, die Entdeckung der griechischen und lateinischen Klassiker, die Endeckung von Amerika hatten ihn in Europa, und hauptsächlich in Deutschland allmählich geschwächt und vernichtet, als Luther auftrat und durch den Erfolg seiner kühnen Worte und Unternehmungen dartat, daß seine älteste Burg und sein festestes Prachtgebäude, die Kirche, nur sein eignes Mausoleum sei.

Meine Herren, man hat es unserm Luther verdacht, und ich kann große Männer dafür anführen, daß er beim Werk der Reformation so wenig auf der einmal gegebenen historischen Basis fortbaute, daß er der Kirche, welche er stiftete, so wenig aus der Nachlassenschaft der alten zertrümmerten aneignete, daß er das ehrwürdige Erbe der Väter zu unbedenklich preisgegeben, die Tradition verworfen, die Zeremonien und Äußerlichkeiten verachtet habe; allein dieser Vorwurf beruht auf Mißverständnis sowohl der Reformation, als überhaupt der geschichtlichen Fortbildung der Menschheit, wie sie uns eben in der Geschichte selbst zutage liegt, wenn wir unsere Augen nicht durch willkürliche Vorurteile blenden. Die Reformatoren waren begreiflicherweise keine Anhänger der historischen[25] Schule, welche gerade in unserer Zeit so viele Häupter und Verfechter findet und deren Prinzip der allmählichen, schrittweisen Entwicklung des Positiven, des Staats, des Rechts usw. zu kleinlichen und engherzigen Ansichten und Irrtümern Veranlassung gibt. Hätte Luther das traditionelle Prinzip zugegeben, so hätte er es nicht wagen dürfen, auch nur einen Stein an Sankt Peter zu rühren, dazu hatte das Gebäude der alten Kirche viel zu viel Konsequenz, als daß ein Einzelner hätte mit Einzelnem willkürlich schalten und walten dürfen. Luther, der schwach anfing, ward durch innere Notwendigkeit auf seinem Wege immer weiter fortgetrieben und sah sich am Ziel seiner Laufbahn durch eine unübersteigliche Kluft von der Kirche des Mittelalters getrennt, nicht etwa, als hätte er ein positiv Lebendiges dem positiv Toten gegenübergestellt – denn was Luther aus der Bibel und der frühsten christlichen Zeit dogmatisch Positives zum Behuf seiner Kirche aufzustellen sich veranlaßt fand, war in ihm selbst allerdings mit gewaltsamen und großartigen Zügen ausgeprägt, zeigte sich aber bald in versteinertem Zustande der Orthodoxie und ohne jugendliche Zeugungskraft – sondern weil er gegen die Unvernunft und gegen die Historie protestierte und Papst, Religion und Kirche seinen lutherischen Kopf entgegensetzte, der denn auch so fest, eisern war, daß er unbeschadet an ihrem Fels anrennen konnte.

Dies Protestieren gegen die Historie, meine Herren, das ist die große Erbschaft, die Luther uns [26] überwacht hat, und wollte Gott, seine Kraft und sein Geist senkte sich auf uns nieder und wir wären imstande, das begonnene Werk der Reformation nach allen Seiten hin würdig zu vollenden. So wie aber die Reformation einseitig stehengeblieben ist, so wie dieselbe sich in aller Hast vermählt hat mit der Einseitigkeit des Verstandes, mit der Prosa des Lebens, hängt die schöne Frucht leider saftlos und traurig am dürren Ast und sehnt sich abzufallen und einer neuen Blüte Platz zu machen. Wehmut ergreift mich, sehe ich den Lorbeerbaum von tausend Wucherpflanzen umschnürt, seiner besten Säfte und Kräfte durch Schmarotzer beraubt, fröstelnd in kalter Luft, absterbend in fremdem Boden, ohne einen Fuß breit vaterländische Erde, im Treibhaus der Unnatur, statt frei und offen dazustehen in Gottes schöner Welt, seine Wurzel befruchtet durch die uralten Quellen der Poesie, seine Blätter dem Säuseln der Liebe und dem Sturm der Leidenschaften preisgegeben, seine Krone dem Himmel, dem Frieden, der Sehnsucht und den Segnungen der himmlischen Sonne, Religion.

Wie sich aber unser nationales Leben in Zukunft gestalten und entfalten wird, soviel scheint gewiß zu sein, daß die Hoffnung der Zukunft einerseits beruhe auf der Jugend, andererseits auf der Wahl desselben Weges, auf dem Luther den ersten Riesenschritt machte und auf dem ihm die Pygmäen der Folgezeit in Stich gelassen haben. Ich meine auf dem Wege des Protestierens, des Protestierens gegen alle Unnatur und Willkür, [27] gegen den Druck des freien Menschengeistes, gegen totes und hohles Formelwesen, Protestieren wider die Ertötung des jugendlichen Geistes auf unsern Schulen, wider das handwerksmäßige Treiben der Wissenschaften auf unsern Universitäten, Protestieren wider den Beamtenschlendrian im Leben, wider die Duldung des Schlechten, weil es herkömmlich und historisch begründet, wider die Reste der Feudalität, wider die ganze feudal-historische Schule, die uns bei lebendigem Leibe aus Kreuz der Geschichte nageln will, und vor allen Dingen protestieren gegen den Geist der Lüge, der tausend Zungen spricht und sich mit tausend Redensarten und Wendungen eingeschlichen hat in alle unsere menschlichen und bürgerlichen Verhältnisse.

Es ist eben zu dieser Zeit, wo der Geist aus veralteten Formen gänzlich herausgewichen ist, die Historie selber zur Lüge geworden und die Behauptung, es müsse sich das Neue aus dem Alten, das tot und abgetan ist, allmählich fortentwickeln, ist eben die abgeschmackteste Lüge, womit der Anbruch des Neuen zurückgehalten werden soll. Es ist wahr, es liegt im Gange der Menschheit, sich in der Dauer gewisser Epochen am Positiven weiterzubilden; allein nicht weniger wahr ist es, daß mit dem Schlusse dieser Epochen die geistige Entwicklung völlig aufhört – das Positive verfault, es muß ein neuer Lebensfunke in die Brust der Menschheit fallen, zur neuen Entwicklung von Formen und Gebilden, welche ebenfalls ihre Zeit haben, um zu blühen, zu wachsen, zu welken und zu vergehen. Betrachte ich die geistige und leibliche [28] Lebendigkeit jugendlicher Völker, z.B. einst der Griechen und unsers eigenen Volks, und vergleiche diese mit den europäischen der Gegenwart, so sehne ich mich unter jenen geschichtlosen Menschen zu leben, die nichts hinter sich sehen, als ihre eigenen Fußstapfen und nichts vor sich als Raum, freien Spielraum für ihre Kraft. Die Menschheit, sagen freilich die feudalen Historiker, ist nicht so übel daran, immerfort bildet und beseelt sie das Alte, den Teil, der sich nicht länger bilden und beseelen läßt, streift sie von sich ab und sie hat daher auf ihrem Wege nichts weiter zu tragen, als sich selbst. – Was nicht ist, bemerken andere, sollte wenigstens so sein: sukzessive Fortentwicklung ist das Gesetz des Lebens, jede Gegenwart hat die Aufgabe, ihren Schatz zu revidieren, durch Stehenlassen und Ausmerzen heute und gestern miteinander zu versöhnen. Aber, frage ich, wer schreibt denn die Gesetze des Lebens, Ihr oder die Geschichte. Seht Ihr nicht, daß den fortlaufenden Generationen sich von selbst und trotz aller Gegenmühe spanische Stiefel an die Füße hängen, daß die Ausdünstungen des Lebens sich nach und nach am Busen der Völker versteinern, sich als Krusten um ihre Brust setzen und ihnen das Atemholen schwer machen, daß es für die Völker keine Wohltat, sondern Plage ist, Tausende von Jahren hinter sich her am Schlepptau zu ziehen? Alle Ursagen der Völker bestätigen uns, daß selbst die früheste, schöpfungsjunge Menschheit sich bald, sehr bald ausgelebt und gleichsam abgenutzt habe; bildet es doch ein Hauptstück in den hebräischen, indischen, griechischen Sagen, daß[29] Sündfluten das früh gealterte, seiner eigenen Geschichte verfallene Geschlecht der Menschen wegraffen und vom Erdboden vertilgen? Muß nicht eine neue Jugend die Erde bevölkern, wenn die Elohim, die Götter den Anblick der erbärmlichen sündigen und ausgearteten Söhne des Staubes nicht länger ertragen können? Und in der Geschichte – man werfe nur einen Blick auf die Römer und Griechen zur Zeit des Heilandes: Was hatte die frühere Götter- und Heroenwelt, die Zeit der Aristide und der Katonen ihnen zum Erbteil überlassen? Ihren Leichengeruch. Und dieses weltverjüngende Christentum, das nicht neuen Most in alte Schläuche füllte, dieses Christentum in den Tagen vor Luther? Ausgearteter, als das Judentum je gewesen. Statt Kinder Gottes, wie die Christen sein sollten, nicht einmal Knechte Gottes, was die Juden waren, Knechte des Papstes, der Pfaffen, der Tradition, der Geschichte, die ihren Abfall und Kehricht den Menschen turmhoch auf die Seele geschichtet hatte. Die Anwendung auf unsere Zeit überlasse ich Ihnen selbst. Wir sind krank an unserer Historie und wir werden vielleicht darüber hinsterben, ehe wir uns den Mut fassen, den unheilbaren Sitz unserer Krankheit einzusehen, und uns dem wunderbaren Genius anvertrauen, der verjüngend durch die Welt schreitet. Jedoch steht dem Trübsinnigen, das in dieser Ansicht für uns liegt, der Spruch der Hoffnung gegenüber, daß ein Augenblick alles umgestalten kann, so im Schicksal des einzelnen, als im Schicksal der Völker und Nationen. Was aber der Jugend, als dem[30] Element im Staat, das die neue Geschichte bildet, jedenfalls obliegt, ist der feste Vorsatz, nach Kräften den bezeichneten Weg einzuschlagen, ist der feste Wille, sich immer entschiedener von der Lüge loszusagen, immer deutlicher sich des Gegensatzes zwischen dem Alten und Neuen bewußt zu werden, jung und jugendlich zu leben, das Handwerk fahren zu lassen und die Kunst zu ergreifen, das Unschöne in Wort und Tat an sich und andern nicht zu dulden, ihr Ohr dem Wehen des nahen Geistes nicht zu schließen und, weder gedankenlos und leichtfertig dahinlebend, noch schwermütig brütend, die Blüten des Lebens und der Wissenschaft mit jugendlicher Unschuld und Heiterkeit zu pflücken.

Es muß anders werden, das sollte das Gefühl sein, das sich aller bemächtigte, wir selbst sind dazu berufen, das starke Echo dieses Gefühls. Wieviel dürre Blätter wir dazu aus dem Kranze unseres Lebens herausreißen müssen, wieviel Unschönes wir von uns abtun, wieviel gemeine Prosa wir für ewig in den Schlamm und Schlick der abgestandenen Zeit versenken müssen, welche neue Ansichten der Wissenschaft, der Kunst, der Poesie, der Religion, des Staats, des Lebens wir fassen And zum Eigentum unseres Herzens machen müssen, dies alles muß uns oft und lebhaft beschäftigen und das Befreundete muß sich verbinden mit dem Befreundeten, um sich gegenseitig auszutauschen und zu befestigen.

Jetzt, darauf komme ich zurück, jetzt liegt alles noch, Ansicht, Gefühl, und gar das Leben und Treiben gar zu sehr in roher Unbildung, in [31] Verwirrung, Uneinigkeit und Zwist, und es hält schwer, wenn nicht unmöglich, für den einzelnen, sich leicht und rein hinzustellen und sich aus dem trüben unästhetischen Fahrwasser gemeiner Ansichten immer glücklich herauszuziehen. Schon habe ich mit wenig Worten unserer Schulen, Akademien und Brotstudien als solcher Erwähnung getan, die im schneidendsten Kontraste ständen mit individueller und volkstümlicher Bildung, der Grundbedingung charakteristischer Schönheit und ihres Verstehens und Auffassens. Doch unterliegen nicht geringerem Tadel unsere Ansichten und Studien jener allgemeineren Wissenschaften, welche den Schlußstein unserer höheren Geistesbildung ausmachen sollten, und ich will darunter nur die der Philosophie und der Geschichte mit Namen aufführen, vom Studium und der wissenschaftlichen Aneignung der Religion aber gänzlich schweigen.

Beginnen wir von der Geschichte. Welche unleidliche, leblose Ansicht machen wir uns über dieselbe. Überall, wo wir zurückgehen auf die frühesten Zeiten eines Volkes, ist es leicht zu merken, wie Poesie und Historie ungetrennt von einem Gemüt aufbewahrt und von einem begeisterten Munde verkündet wurde. Beide vereinigen sich darin, das Leben mit allen seinen Äußerungen aufzufassen und darzustellen. Erst eine spätere gelehrte Ansicht mußte sie trennen, welche die Historie auf kritische Wahrheit beschränkt, die epische Poesie aber dem Dichter überläßt. Allein die kritische Wahrheit hat an sich gar keinen Wert, sondern erhält ihn nur in Verbindung mit poetischer;[32] nicht irgendeine äußere Tatsache wollen wir wissen, sondern ihren Zusammenhang mit dem Leben. Was will man von der Geschichte anders, als ein Bild der Zeiten gewinnen, welche sie darstellt, und muß nicht also unsere jetzige kritische Historie wieder, wenn auch auf einem andern Wege, eins werden mit der Poesie, mit dem Epos der Völker? Denken Sie an das beste Geschichtswerk der neuern Zeit, an unsers Niebuhrs römische Geschichte. Ist nicht eine contradictio in adjecto in diesem Titel, kann jemals durch gelehrte Forschungen etwas, was einmal nicht Geschichte war und ist, zur Geschichte erhoben werden? Lassen Sie uns doch einen Augenblick bedenken, was es heißt: Roms Geschichte soll vor unsern Augen entstehen, sich fortspinnen, mannigfach verknüpfen, in immer größeren Radien anschießen bis zur Vollendung des äußersten und zur gewaltsamen Durchlöcherung und Zerfetzung des ganzen Weltspinnengewebes durch die furchtbaren Stürme des Nordens.

Die ersten Fäden aller Völkergeschichten verlaufen sich in den Morgenhimmel des Mythus, Götter spinnen sie aus ihrem Busen, sie fliegen wie verklärte Genien in einem losen, lieblichen Durcheinander und man sieht es kaum, wo sie ihren leichten Fuß auf den glatten Boden der Geschichte setzen. Dichter und Künstler sind darüber leicht zu trösten; allein Geschichtsforscher und Mythologen wandern verzweifelnd in der poetischen Götterdämmerung umher, vielfach geneckt von den rätselhaften verzauberten Gestalten, die nicht selten mit schelmischer Ironie sich gerade vor sie [33] hinstellen, sich geduldig entkleiden, befühlen und betasten lassen, und dann auf einmal wie der Wind aus ihren Händen entschlüpfen. Doch läßt man sich auf die Länge nicht abschrecken. Man macht sich an das Geschäft, die flüchtigen Wesen, so gut es gehen will, zu klassifizieren, die einen nennt man religiöse, die andern naturhistorische, die dritten völkerhistorische Mythen, die widerspenstigsten Schwärmer läßt man laufen, hartnäckig widerstrebende bringt man auf die Folter und von da zum Geständnis, oder man bindet ihnen so triftige Argumente und eine so schwerfällige Gelehrsamkeit aus Bein, daß sie sich seufzend und abgemattet in ihr Geschick begeben.

Sie wissen, meine Herren, auch die römische Urgeschichte verläuft sich in Götter- und Heroendunkel. Bewunderungswürdig ist es zu sehen, mit welchem Mut, welcher Ausdauer, welcher Vor- und Umsicht unser Niebuhr dies dunkle Gebiet durchirrt hat, mit wie scharfen, unverwandten Blicken er die kümmerlichen Spuren verfolgt hat, die vor den Stadttoren Roms an die Ursitze der italischen Volksstämme leiten, Spuren, die unaufhörlich kreuz und quer von Göttertritten und Schweinepfoten, griechischen Flüchtlingen und säugenden Wölfinnen Heroen und Banditen verwirrt und verwischt werden. Ohne Glauben kommt man ihm nicht nach. Seine Schüler schlagen ein Kreuz, fassen ihn getrost beim Rockzipfel und gehen mit ihm durch dick und dünn, was freilich am Ende nichts schadet, da die Leitung eines ausgezeichneten Mannes, selbst in die Irre, immer belehrend [34] und fruchtreich ist. Allein wir fragen nur, ist das der Weg zur Geschichte, kann selbst in späteren, sogenannten hellen und historischen Zeiten etwas zur Geschichte erhoben werden, was nicht im Ursprung Geschichte war? Dürfen altertümliche Forschungen, wären sie noch so geistreich und scharfsinnig, den großen Namen »Geschichte« an der Stirn führen? Nein, meine Herren, das dürfen sie nicht. Geschichte ist nicht das Resultat gelehrter Forschungen, sie springt nackt und schön wie Aphrodite aus dem Schaum der Wellen, wie Minerva in unmittelbarer Vollendung aus dem Haupte der kreisenden Zeit.

Nehmen Sie an, man könnte es in einer nachträglichen Geschichte zu einer gewissen äußerlichen, ich möchte sagen peinlichen, dem Verhör von hundert durcheinandersprechenden Zeugen abgewitzigten Wahrheit bringen, was wäre diese? Ein totes Residuum von Kräften, die, längst im großen Weltenraum zerstoben und verflogen, kein Zauberspruch zurückbeschwört, Muschel, kalkene Schale auf den Gebirgen, die nur schwache, unsichere Spuren ehemaliger Beseelung erlugen läßt. Aber die Seele? die innere Wahrheit?

Wahrheit, seliger Reinhold, was ist Wahrheit? Ich fühle es, was ich geschichtliche Wahrheit nenne, hat für mich etwas Unmittelbares und Zuversichtliches, etwas, was allen kleinlichen Zweifel niederschlägt, was meinen Geist mit süßem Verständnis in seine Kreise zieht. Ich höre das Fernste aus fernen Zeiten und verstehe es sonder Mühe; ich sehe die wunderbarsten Gestalten und [35] Erscheinungen an mir vorüberziehen und bin mit ihnen vertraut, wie mit alten Bekannten und kann mir ihre Wirklichkeit nicht anders denken, als wie sie mir eben erscheint. Denn so kristallisch klar steht, die Tat, der geschichtliche Heldenleib vor meinen Augen da, daß ich die innerste Seele, die alles belebt und bewegt, die zartesten Adern, die feinsten Gefäße, den ganzen lebendigen Organismus hell und offen vor mir liegen sehe. Ist das nun, wie ichs besser fühle als aussprechen kann, hervorstechender Charakterzug der Geschichte, so sind mir Homers göttliche Gesänge tausendmal geschichtlicher, als die assyrische, ägyptische, persische Historie, ja, Homers Achilles hat in meinen Augen mehr Fleisch und Bein, als Cyrus und der große Alexander. Alexander – welche Verkehrtheit, von einer Geschichte Alexanders zu sprechen. Wissen wir nicht, daß es der einzige große Schmerz des Welteroberers war, keinen würdigen Geschichtschreiber, keinen Homer zu besitzen? Dessenungeachtet haben wir eine Geschichte von ihm? Was man unter Gevattern Geschichte nennt, in der Tat aber so wenig eine, so sehr keine, daß man heutigentags nicht weiß, soll man ihn einen jungen Gott oder einen wahnsinnigen Melech nennen. Wer zeichnet uns das lebendige Alexandergesicht? Plutarch von Chäronea, Quintus Curtius, Schlosser von Heidelberg, oder die allgemeine Welthistorie, so in England durch eine Gesellschaft von Gelehrten usw. – o über den armen großen Alexander!

Geschichtliche Wahrheit ist lebendige Harmonie zwischen Leib und Seele der Geschichte, zwischen[36] Gedanke und Tat. Wie in Tönen die Seele des Musikers atmet, so atmet die Seele des Helden in der Tat. Den wahren Geschichtschreiber muß das Spiel der Harmonien in unmittelbarer Gegenwärtigkeit ergreifen, im historischen Konzertsaal, unter den schwellenden Tönen, den ringenden, jauchzenden Menschen, da fesselt er mit unnachahmlichem Zauber das Unsichtbare an das Sichtbare, den Geist an die Erscheinung, den Sinn an die Tat. Geschichtliche Wahrheit – mich überfällt ein Grauen, denke ich an den Totentanz, den man Geschichte nennt – geschichtliche Wahrheit, ist sie nicht das Leben, selbst gelebt und angeschaut von einem Genius, schwebend auf den Flügeln seiner Zeit, in ihre Ströme seine Feder senkend, wie ein begeisterter Apostel niederschreibend, was der zur Tat gewordene, der Fleisch gewordene Geist der Zeiten ihm diktiert? Wer schrieb Geschichte, die solches Namens würdig war? Sind es nicht Männer, die gleich Thukydides, Macchiavelli, Segür, der Zeit im Schöße saßen? Geschichte wird einmal nicht geschrieben, sie schreibt sich selber, sie wählt einen ihrer Lieblinge unter den Sterblichen zur Verzeichnung ihrer großen Tatengedanken. Wir haben keine Geschichte Roms, Griechenlands, Italiens, Frankreichs, wir haben keine Weltgeschichte im gewöhnlichen Sinn und Stil, aber die echte Blume der Geschichte, die blühendste Entfaltung der Völkerkraft, blüht und duftet durch alle Jahrhunderte, wenn auch das Volk, dem sie angehört, längst erstarrt, abgestorben, zerstreut oder ausgeartet ist. So haben wir eine [37] Geschichte der Griechen unter Miltiades und Perikles, eine Geschichte der Römer während der Karthagerkriege, eine Geschichte der lombardischen Städte, als Freiheit sie begeisterte, eine Geschichte Frankreichs unter dem siegreichen Kaiser, eine Geschichte Deutschlands – welche die Zukunft geschehen lassen und dann auch schreiben wird. In der Geschichte, hat man gesagt, gibt es großartige Epopöen; allein ich kenne keine andere Geschichte, als die sich von selbst zur großartigen epischen Dichtung gestaltet, Verherrlichung eines Volkes, das sich selbst verherrlicht hat. Traum und Phantasieleben, vegetatives Fortwuchern, Krankengeschichten gehören nicht ins goldene Buch des Lebens. So hat Tazitus, der über die unnatürlichen Krämpfe der römischen Kaiser und die fallende Sucht ihrer Untertanen schrieb, nur einen ärztlichen Bericht, aber keine Geschichte geschrieben. Das Gemälde eines Pesthofes, wo das gelbe Fieber auf hundert verzerrten Gesichtern brennt, ist kein Gemälde, kein Kunstwerk, – und Geschichte, sie ist Kunst, Kunst auf ihrem höchsten Gipfel.

Ich schließe, meine Herren. Möchte Ihnen diese Diatribe über den wahren, ästhetischen Begriff der Geschichte, über ein so wichtiges Studium die Augen öffnen.

4. Vorlesung

[38] Vierte Vorlesung.

Gegen den Unfug Historie, gegen die schlechten Gewohnheiten, die das Leben umstricken, gegen die gemeinen Ansichten, gegen das unfreie und knechtische Formelwesen, das nur den blinden Gehorsam und das tote Gedächtnis in Anspruch nimmt, gegen alles, was die Äußerungen der schönen und wahren Natur im Keim erstickt, kühn und offen zu protestieren, das sei die Aufgabe der edleren Jugend, war der Inhalt und die Aufforderung meiner letzten Vorlesung.

Um Ihnen aber diese Aufgabe recht nahezulegen und Sie auf den ganzen Umfang derselben aufmerksam zu machen, führte ich Sie zum Schluß in die Hallen zweier Wissenschaften, welche sich humaniora nennen und durch dieses epitheton ornans schon in der Benennung sich über jene Studien erheben, welche das Positive der drei Fakultäten umfassen und denen der Name: Brotstudien, leider nur mit zu vollem Rechte zukommt. Warnen und verwahren wollte ich bei so passender [39] Gelegenheit vor dem Irrtum, als bringe das Studium der Geschichte und Philosophie, wie es an noch damit gehalten wird von den Studierenden, in jenen höheren Kreis der Humanität, und als sei dasselbe in der Tat etwas Besseres und Edleres, als z.B. das Studium des Rechts oder der Medizin oder der Diplomatik oder der Genealogie und Wappenkunde, welche letzere, wie Hegel spöttisch sagt, die positiveste aller Wissenschaften ist. Von dem Ungeschichtlichen, das ist Unepischen unserer Geschichte habe ich dies ausführlicher und aus dem Begriff der Geschichte selbst zu erweisen gesucht, und ich zweifle nicht daran, daß manches Wort aufgehen wird, als Samenkorn, das die schönere Idee und Ansicht zur Reise bringt; bin ich mir doch selbst bewußt, daß mir von der Zeit an, als mir die Ahnung der Geschichte aufging, das ganze Leben klarer geworden ist, und ich für das Theoretische und Praktische, für das Wahre und Schöne, das sich gemeiniglich polarisch gegenüber zu stehen pflegt, einen Mittelpunkt gefunden habe, in dem sich beide geschwisterlich vereinigen. Es bleibt mir noch, Sie auf das Studium der Philosophie aufmerksam zu machen, und auch in dieser Hinsicht der lebendigeren Ansicht, der mit der Schönheit verwandteren die Tür zu öffnen, wogegen die unästhetische Ansicht breitstämmig sich anlehnt. Ich habe aber absichtlich die Philosophie hinter der Geschichte genannt, um von ihr einen Übergang zu machen zu der Philosophie jener Kunst oder Wissenschaft, welche der beabsichtigte Inhalt dieser Vorlesungen ist.

[40] In welcher Absicht studiert man auf Universitäten die Philosophie? In der Regel aus keiner, oder um des Examens wegen. Aus keiner; denn welche Absicht soll einen zur Erlernung einer Wissenschaft hintreiben, deren Wesen und Zweck so unbekannt sind, wie die Philosophie den meisten, die von der Schule auf die Universität ziehen. Auch hier findet sich das klägliche Mißverhältnis zwischen den höheren und niederen Bildungsanstalten, das überall durchbricht und nach allen Seiten eine Scheidewand zwischen den beiden großen Schritten zieht, welche der studierende Jüngling zu machen gezwungen ist, dem Schritt der Schulbildung und dem Schritt der akademischen Bildung. In der Tat sind die beiden Prinzipien, worauf hier die Schule, dort die Akademie gegründet sind, durchaus voneinander verschiedene und bewegen sich in entgegengesetzten Elementen. Die Schulbildung leitet in die alte klassische Welt, oder wenigstens macht Anstalten, bestrebt sich, gibt sich das Ansehen, dieses zu tun. Die Universitätsbildung dagegen bereitet vor zum praktischen Leben, zum Staatsdienst, zur Ausfüllung derjenigen Ämter, welche herkömmlich in diese große hölzerne Maschine eingreifen, welche wir unser öffentliches Leben nennen. Ich wüßte aber nicht, welche beide Richtungen sich kontrastierender nach ganz verschiedenen Regionen verlaufen, als die Richtung auf das Leben der Alten und auf unser Leben, sie berühren sich wirklich ebenso nahe, als der Nordpol und der Südpol am Himmel, als Hemmung und Freiheit, Kunst und Unkunst, Poesie und Prosa, Geist und [41] Geschmacklosigkeit, freier Marktplatz und enge Stube, bewußter Genuß und dumpfe Vegetation, Männerwürde und ergebenste Diener usw. Doch wird es glücklicher- oder unglücklicherweise mit dem Studium des freien Altertums auf unseren Schulen nicht so gründlich ernsthaft gemeint, als sollte denn nun auch im Gemüt der Jugend aufgehen der Strahl, der jene untergegangene Welt verklärte, als sollte es in Liebe entflammen für den großen Sinn und die Großtaten einer Heldenwelt, als sollte es sich mit der ahnungsvollen frischen Begeisterung jener glücklichen Jahre, die wir in den höheren Klassen der gelehrten Schule zubringen, den erzgegossenen Pforten des Heiligtums nähern, sich unter die Schatten jener fröhlichen Menschheit mengen, die ihn bevölkern, und aus ihren Gesichtern, Bewegungen, Reden und Gesängen den schönen Geist studieren, der über allem thront und schimmert – so ist es denn nicht so recht eigentlich gemeint, obgleich uns gelegentlich und in Schulreden und Schulprogrammen viel Schönes und Rührendes vom bildenden Studium der alten Klassiker vorgesprochen wird, und wir selbst auch selten verfehlen, beim Abgang in lateinischen oder deutschen, gereimten oder ungereimten Abschiedsworten, die hohe Wichtigkeit der Freundschaft und der Vaterlandsliebe u. dgl. nach Mustern des Altertums darzustellen und diesem mit dem besten Kranze unserer er sten jugendlichen Beredsamkeit, mit den erlesensten Floskeln aus Cicero das Haupt schmücken. Allein ich frage Sie selbst und die Mehrzahl deutscher Studierender, ob diese festliche Begeisterung, [42] die ich soeben erwähnte, der natürliche, aufrichtige und ungekünstelte Erfolg und Erguß ist aus den Studien, die wir in der Klasse getrieben, oder nicht vielmehr ein hergebrachter Aktus, bei dem wir entweder nichts fühlen und denken, oder, im besseren Fall, bei dem wir mit Phantasie und einigem Gefühl gleichsam wehmütig das aussprechen, was uns das Altertum hätte sein sollen und werden können in der blühenden Zeit, als wir in Prima saßen, und über der Schale nicht zum Kern gelangen konnten. Zerstreut sind wir worden und ermüdet vor der Zeit, ein nacktes, dürftiges Wissen von Vokabeln und Regeln, von Stellen und Gebräuchen haben wir in die Fächer unseres Gedächtnisses eingesammelt, roh und ungebildet oder frostig gelehrt und altklug gehen wir aus der Schule der Alten hervor, und nicht dürfen uns beneiden jene Gespielen unserer ersten Jahre, welche nicht, wie wir, zur Fahne der Gelehrsamkeit schworen, sondern mit dürftigem Wissen, aber desto derberem und fröhlicherem Lebensgefühl sich dem Landbau oder andern bürgerlichen Geschäften widmeten. Sie haben sich noch selbst behalten, sie sind sich noch der Einheit ihres Lebens bewußt, ihre Seele wird nicht hin und her geworfen durch widersprechende Gefühle und Ansichten, sie lieben die nahe Gegenwart, die kernhafte Arbeit des Tages, sie ruhen von ihrem Geschäft, spannen sich an und ab nach dem ältesten Gesetze der Natur, das im behaglichen Wechsels zwischen Tätigkeit und Ruhe besteht, und wenn ihr Geist auch nicht für den Genuß höherer Freuden ausgebildet [43] ist, so schwebt er auch nicht, wie Tantalus, durstig an der verbotenen Quelle, ohne einen Tropfen der Labung erhaschen zu können, so ist er auch nicht verbildet, halbgebildet, unfruchtbar gebildet, und durch die verschiedenen Elemente seiner Bildung mit sich selbst in Kampf und Streit geraten, was alles, wie wir selbst am besten wissen, unserer jetzigen gelehrten Schulbildung saure Frucht zu sein pflegt. Es unterliegt keinem Zweifel, daß es für den tüchtigsten Schulmann eine unendlich schwere Aufgabe ist, den Dichter, den Redner, den Geschichtschreiber, den Philosophen des griechischen und römischen Altertums, bei unseren heutigen gesellschaftlichen Zuständen, bei der Mechanik des Staatslebens, dessen hölzerne Räder auch in der Schulstube klappern, fruchtreich in den Schulen zu erklären; allein eben so gewiß ist es, daß den wenigsten nur einmal die Ahnung aufgegangen ist von der Bedeutung der Alten für das jetzige Leben, daß sie selbst jene großen und leuchtenden Züge in den Pergamenten klassischen Altertums, die Züge der reinen Natur, des tiefen Sinnes für die Mysterien der Welt, für Wahrheit und Schönheit nur selten einmal mit verwandtem Auge selbst angeschaut und sich von ihnen durchdrungen haben. Wie sollte es anders kommen. Ein Schulmann bildet den andern, und die Philologie ist soweit aus dem Leben gerückt und das Leben selbst äußert sich noch so glatt, schwach, dürftig und widersprechend, daß es immer ein halbes Wunder bleiben muß, wenn ein Voß, ein August Wolf mitten aus philologischem Wuste sich erheben und Funken [44] poetischer Lebendigkeit ausströmen, die kein Mensch vor ihnen dieser Wissenschaft zutraute.

Wären und würden nun solche Männer häufig und häufiger, entvölkerten sich die Schulämter nach und nach von Leuten, die mit dem Altertum nicht bloß ein Silbenstechen halten, konjugieren und deklinieren lehrten, sondern dessen Geist zu erläutern und Jünglingen einzuflößen verständen, so würde dies eine Reaktion auf die Universitäten verursachen, welche sich auf alle die humanen und inhumanen Studien erstrecken würde, die man herkömmlich auf ihnen treibt, und es würden nicht allein die sogenannten Brotstudien davon gut haben und zu Geiststudien aufrücken und mit der Humanität mehr Hand in Hand gehen, sondern auch selbst die humaniora würden humaner werden und nicht so leicht einer Geschichte und Philosophie nur darum etwas studieren, weil etwas Kenntnis davon im Examen verlangt wird, sondern aus innerem Antrieb, aus reiner Bildungslust und mit der, auf Schulen bereits erzielten Vorbereitung zum würdigen Eintritt in diese höheren Gebiete der Wissenschaft. Denn es ist eben das Leben der Alten, wie es in den Schriften derselben erscheint, wahrhaft geeignet, eine solche Vorbereitung zu bewerkstelligen und eine Gesinnung und Gemütsstimmung zu erzeugen, die auf das Ideale in jeder Kunst und Wissenschaft gerichtet ist. Und schon allein das Studium, das ist das lebendige Ergreifen der schönsten platonischen Dialoge, in welchen die ewigen Ideen der Schönheit wie Fixsterne für alle Zeiten leuchten, ist hinlänglich, um die Weihe [45] für ein ganzes Leben zu erhalten, hinlänglich zunächst, um auf das Studium der Philosophie und der mit der Philosophie unmittelbar verwandten, aus ihr entsprungenen und durch sie zu befestigenden Wissenschaften eingeleitet zu werden; denn wie Böckh richtig sagt, in dem Maß, als der Jüngling ergriffen wird vom Geist der Alten, in demselben ist er fähiger zum Philosophieren. Aber man glaube nicht, daß man Philosophie studiert, wenn man sich die logische Technik zu eigen macht, wenn man alles das lernt und weiß, was die Philosophen von Indien durch Griechenland bis nach Deutschland, von der ältesten Zeit bis auf die jetzige gewußt und nicht gewußt haben, wenn man ungekochte und unverdaute Meinungen über Gott und Welt in sein Hirn preßt, wenn man die Sprache der Philosophen als ein Abrakadabra unverstanden und unverständlich nachbetet, oder sich auch selbst »mit Worten ein System bereitet«, weil man, um mich eines Ausdruckes von Goethe über das hohle scholastische Treiben einer Gattung von Philosophie zu bedienen, weil man der Ansicht lebt:


An Worte läßt sich trefflich glauben,

Von einem Wort läßt sich kein Jota rauben.


Philosophie ist nichts, was sich lehren und lernen läßt auf dem Wege historischer Mitteilung. Die Philosophie steht nicht auf dem Katheder und spricht die Zuhörer zu Philosophen, der Lehrer kann sie dem Schüler nicht in die Hand drücken, wie ein Stück zurechtgekauter Wissenschaft, wie ein fertiges Machwerk, die Philosophie ist eben nichts anderes als das Philosophieren, als das [46] wissenschaftliche Bearbeiten seiner eigenen Begriffe, als das Selbstdenken, wenn sie sich theoretisch, das Selbstfühlen und Selbstanschauen, wenn sie sich praktisch äußert. Das ist nun aber ebensowenig eines jeden Menschen Sache, als die Poesie, die Liebe, und was einem sonst als freies Geschenk vom Himmel fällt, und das man wohl durch Fleiß und Mühe ausbilden und veredeln, aber im Schweiße seines Angesichts sich nicht anschaffen kann, wenn das Organ dafür nicht angeboren ist. Allerdings sind alle Menschen zum Denken, zum Selbstdenken berufen, und wenn man die Menge so gedankenlos in den Tag leben sieht, so schreibe man dies eben ihrer Erziehung und dem bleiernen Druck der Verhältnisse zu, der auf ihr lastet; wird dieser Druck aufgehoben, so fangen auch die Federn ihres Verstandes an zu spielen, und die Geburtstunde der, freilich immer relativen, Selbständigkeit hat für sie geschlagen. Allein auch der gebildetste Mensch, geschweige denn die Masse, ist nicht immer für jene Art der Bearbeitung seiner Begriffe geschaffen, welche im heutigen Sinn und unter uns Deutschen vorzugsweise die philosophische heißt und die in ihrer letzten scharfen Bestimmung auch nur als Laie zu ahnen, man einigermaßen von Natur begünstigt sein muß, die also mit einem gelegentlichen Wort nicht abgetan werden kann. Das Philosophieren in diesem strengen Sinn, mag es nun für den Philosophierenden ein Glück oder Unglück sein, mag es ein Zustand der Gesundheit oder Krankheit des Geistes genannt werden müssen – und darüber lauten bedeutende Stimmen sehr verschieden – [47] kann und darf nur als eine freie Kunst getrieben werden, zu der niemand gezwungen ist, ja, zu der niemand aufgefordert werden soll, noch weniger, von dessen Resultaten er zu Glückstadt oder Schleswig endliche Rechenschaft zu liefern hätte, es muß sich freiwillig und von selbst einfinden, es muß ihm, wie jedem freien Erzeugnis des Geistes allerdings nichts in den Weg geschoben werden, im Gegenteil muß er die Mittel seiner Nahrung auf den vaterländischen Bildungsanstalten antreffen, und der Staat muß seinem späteren Einfluß auf Gesellschaft und öffentliches Leben ruhig entgegensehen – das sind die Bedingungen, unter welchen die höhere Philosophie bei uns wachsen und gedeihen müßte, wenn sie Jünger und Enthusiasten findet, die, nach gewissenhafter Prüfung, ihr Leben ihr zu widmen gedächten; denn darauf, auf die Widmung eines ganzen Lebens mit allen seinen Tendenzen macht sie Anspruch, denn sie will nicht etwa dann und wann, und hie und da, zu diesem oder jenem Behufe, studiert, zitiert und benutzt werden, sondern rein um ihrer selbst willen, und verlangt alle die Opfer, welche eine eifersüchtige und gerechtstolze Geliebte ihrem Liebhaber zum Gesetze macht. Ihr Bild soll er auf dem Herzen tragen, ihr Gedanke soll ihm vorschweben Tag und Nacht, nur für ihre Gespräche soll er ein Ohr haben, und in ihrem Umgang sich glücklich fühlen und gegen jedermänniglich behaupten und ausfechten, daß sie die Unvergleichlichste und Schönste sei unter allen ihren Schwestern auf der Welt.

[48] Ist das nun, meine Herren, dieser Urania echter und wesentlicher Charakterzug, an der sie jeder Selbstphilosophierende erkennt, an der sie ein Plato, ein Kant, ein Fichte, ein Reinhold wiedererkannt hätten, so fühlen und begreifen Sie wohl, daß Philosophie in diesem deutschen Sinn – denn Franzosen und Engländern ist der Begriff der Philosophie so weit, daß die ersteren eine leichte lustige Lebensansicht und die letzteren die Experimentalphysik für Philosophie und Elektrisiermaschinen und Luftpumpen für philosophische Instrumente ausgeben – daß Philosophie in diesem Sinn nur einer kleinen Zahl von Sterblichen angehöre, wozu namentlich weder ich, noch vielleicht einer von den Anwesenden sich zählen möchte. Und da hören Sie offen und freimütig ausgesprochen, was man so selten gesteht, womit man sich untereinander ein Geheimnis macht, das aber die Wände unserer Hörsäle längst ausgeplaudert haben, das Geständnis, Philosophie liegt de fakto außer dem Kreis der größten Anzahl der Menschen, ja mehr, außer dem Kreis selbst jener Auserwählteren, welche sich auf Akademien dem Studium der Wissenschaften hingeben. –

Wollten die Wände noch etwas hinzufügen, so könnten sie auch sagen: das gerade ist eine von euren vielen Lügen, daß ihr dutzendweise auftretet und sagt: mit der Philosophie auf vertrautem Fuß zu leben, obgleich euch diese verschleierte, edle Dame kaum dem Namen nach kennt.

Sie sehen hieraus, meine Herren, daß ich nicht der Meinung bin, als müsse die Lesung der [49] Alten auf Schulen und was man sonst noch auf denselben zur Vorbereitung für die Akademie zu treiben Pflegt, eine vorherrschende Richtung auf die Philosophie bekommen, im Gegenteil glaube ich, daß der Schulmann sich in dieser Hinsicht darauf zu beschränken hat, die geistreiche Fassung, die wunderbare Form und Schönheit bemerklich zu machen, wodurch sich die philosophischen Schriften des Altertums so sehr zu ihrem Vorteil von den neuen Schriftstellern der Philosophie unterscheiden. Und sind es nicht überall vorzüglich diese idealen Formen des Altertums, zu deren Anschauung und Würdigung der Schüler frühzeitig soll hingeleitet werden und auf denen am Ende die Frucht jener mühseligen und zeitraubenden Studien beruht, denen sich der Schüler unterziehen muß, um zum Verständnis der Quellen zu gelangen? Sind es nicht diese süßen, wohllautenden Töne der Ilias, an denen sein Ohr Harmonie und Rhythmik erlauschen soll, ist es nicht die klare und durchsichtige Darstellung der homeridischen Welt, die seinen Geist mit gewissem Zauber befangen und ihn aufmerksam machen soll auf die dichterische Iuweleneinfassung eines Stoffes, der unter anderen Händen, als unter Homers, von jedem anderen gemeinen Stoffe vielleicht nur durch den tragischen Ausgang und die Zerstörung einer blühenden Stadt verschieden wäre. Und wird darum nicht Herodot, Thuzydides recht eigentlich auf Schulen gelesen, oder sollten sie nicht darum gelesen werden, um den Schülern den echten epischen Stil der Geschichte frühzeitig an so ausgezeichneten [50] Mustern vor Augen zu stellen und ihnen den Unterschied zwischen ihm und der modernen Oeschichtsklitterung klar und augenfällig zu machen? Und Platons Symposium, Phädrus nicht hauptsächlich, um ihrem Geschmack attisches Salz auf die Zunge zu legen, Besonnenheit in der Begeisterung, Beherrschung des Stoffes und sokratische Ironie zu lernen? Hat denn wirklich noch außerdem der deutsche Schulmann einen höheren Zweck bei Lesung der Alten vor Augen, oder darf und soll er ihn haben? Soll er vollkommene Griechen aus unseren deutschen Jünglingen machen, auch im besten Sinn Griechen, und nicht bloß Gräculi? Einmal müßte er notwendig in seiner Absicht scheitern, da sich der Charakter einer Nation nicht überdozieren läßt auf eine andere, und zweitens, wäre schon die Absicht ein Hochverrat gegen die eigene Nation, die, so schmählich sie auch zerrissen und zerrüttet ist, doch noch immer nicht an sich selbst zu verzweifeln braucht und noch im Grunde ihres Daseins tieflaufende Adern bewahrt, die neu entdeckt und ausgegraben plötzlich über die Wüste hersprudeln und dem schmachtenden Zustande ein Ende machen können. Erziehung des Jünglings nicht zum Philosophen, nicht zum Griechen, sondern zum wackeren, gebildeten Deutschen, ist des deutschen Lehrers höchste, zum lebendigen Glied jener Kette der Nationalität, die Gottlob von Tage zu Tage mehr Glieder und Ringe in sich aufnimmt und von der Donau bis zur Ostsee mehr freudig hoffende Seelen umspannt, ist des deutschen Lehrers nächste Pflicht.

[51] Bildung, meine Herren, ist ein weites Wort und läßt sich viel darein fassen. Von theologischer, philosophischer, juristischer Bildung macht man sich leichter Begriffe, aber, wo von höherer, allgemeiner, von humaner Bildung die Rede ist, da schwebt der Begriff ins Unbestimmte und weder der Bildung Ziel noch Umfang tritt den meisten recht klar vor Augen. Das kommt, wir sind, wie die Fische außer dem Wasser, und leben in keinem rechten Element, wir geben uns im ganzen Mühe genug uns zu bilden und vielleicht mehr als irgend je eine Nation auf dem Erdboden; allein, obgleich wir schon behaupten können, daß wir unendlich viel mehr wissen und lernen, als z.B. unsere Nachbarn überm Rhein und selbst die Engländer, so möchten wir uns schwerlich mit Recht, wenn wir im Leben mit ihnen zusammenstoßen, mehr Bildung beilegen dürfen, als ihnen. Gutmütig scheinen wir den Fremden, und das ist alles, was sie gutes von uns sagen. Hören wir dagegen unsere Philosophen, so liegt die Nnvollkommenheit unserer Bildung darin, daß wir noch nicht tief genug in die Paragraphen ihrer Philosophie eingedrungen sind, und, während der Franzose, der Engländer, die äußere Form und Fassung an uns vermißt, vermißt ein Hegel noch die erste, notwendige philosophische Grundbildung bei den Gebildeten der Nation. Wenn wir uns nun keineswegs dazu verstehen können, in eine uns fremde oberflächliche Form und Feinheit nach Franzosenart Wert zu setzen; auch nicht mit Allgemeinheit das tiefere philosophische Bedürfnis fühlen, so müssen wir doch anerkennen, daß uns selbst noch [52] jenes schöne Mittel zwischen dem Allerinnersten und Äußersten, zwischen dem mysteriösen Grund der Philosophie und der mit Leichtsinn und Flittergold belegten Oberfläche des Lebens nicht so recht innewohne, so daß wir sagen könnten, wir lebten darin, wie die Vögel in der Luft, und wie die Fische im Wasser. Vielmehr ist es gar vielen nicht einmal zum Bewußtsein gekommen, daß ihnen der eigentliche Mittelpunkt der Bildung abgehe, daß sie, um sich zu fördern und in guter Absicht rechts und links umhergreifen, um sich Elemente zur Bildung anzueignen, welche dann oft die allerheterogensten sind und eine wunderliche musivische Arbeit hervorbringen, wo rote, blaue, gelbe und grüne Steine seltsam und abenteuerlich nebeneinander liegen. Wo die Grundwurzel dieses Übels liege, ist leicht abzusehen. Die Griechen hatten es leichter, sich zu bilden, sie wuchsen schon als Kinder in solche Bildung hinein, Religion, Politik, Moral, der Himmel selbst begünstigte sie. Wir haben es dagegen schwer, oft ist uns alles entgegen, wir werden von früh auf hierhin gerissen, dorthin gerissen, sind eine Beute der widersprechendsten Neigungen und haben nirgends einen breiten sicheren Grund, um in Gemeinschaft mit andern darauf fortzuwandeln. Es mangelt uns an großen gemeinsamen Zwecken, es mangelt uns an öffentlichem Leben, und wenn die Schwingungen des griechischen Geistes zwischen Wissenschaft und Staat, zwischen Wahrheit und Schönheit, zwischen Religion und Poesie, zwischen Himmel und Erde gleichmäßig hin und her gingen und sich nie aus der Wahn entfernten, so schwanken die unsrigen ohne [53] rechtes Maß bald zu der einen, bald zu der andern Seite über, und es können in einem Hause der tiefsinnigste und abstrakteste Philosoph, der plattste Lebemensch, der wütendste Demagoge und der ledernste Philister wohnen.

Es fehlt uns also an gemeinsamen Mitteln der Bildung, weil es uns an Äußerungen des gemeinsamen Lebens fehlt. Doch schon diese Einsicht, die sich in der Tat immer mehr verbreitet, ist schon ein halber Schritt zur Besserung, und diese Einsicht, zur höchsten Evidenz und Klarheit gebracht, die ein jeder ihr zu geben imstande ist, steht schon mitten in der Vorhalle derjenigen Wissenschaft, welche, unter Voraussetzung eines rechten und tüchtigen nationalen Lebens, sich den Zweck setzt, die Elemente jener höhern, allgemeineren Bildung darzustellen und an Werken der Kunst und Wissenschaft zu erläutern, der Ästhetik, oder der Philosophie der Kunst, dies Wort im weitesten Sinn befaßt, worin auch der Mensch als ein Kunstwerk erscheint.

5. Vorlesung

[54] Fünfte Vorlesung.

Es fehlt uns nicht an Philosophie, wenigstens nicht an Philosophen, es fehlt uns nicht an Gelehrsamkeit, es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittelpunkt der Bildung, und Ursache dessen, es fehlt uns an gemeinsamem Leben.

Was ist der Zweck der Erziehung? Der Zweck der Erziehung ist Vorbereitung auf den Zweck des Lebens. Was ist Zweck des Lebens? Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst.

Scheint etwas einfacher zu sein als diese Antworten auf diese Fragen? Gewiß nicht. Dennoch hat man den Ruf der Natur überhört und die künstlichsten Systeme, Erziehungspläne und Lebensansichten auf die Bahn gebracht.

Leben wir, um zu lernen? Oder lernen wir vielmehr, um zu leben? Daß man die Natur auf den Kopf stellen kann, um das erstere zu behaupten! Hat es doch in Deutschland sogar den Anschein, als ob die Menschen der Bücher wegen geboren würden. Kläglicher Irrtum mönchische Verdumpfung, trauriger Rest aus den Klosterzellen.

[55] Leben, was ist Leben? Kein Wort ist schwerer, oder vielmehr weniger zu definieren. Leben ist ein Hauch, ein wehender Atem, eine Seele, die Körper baut, ein frisches, wonnigliches, tatkräftiges Prinzip, und wenn es jemand nicht wüßte oder fühlte, er erinnere sich einer Stunde, wo sein Herz voll aufging, wo seine Muskeln sich spannten, seine Augen glänzten, und ein männlicher Entschluß allen Hindernissen zum Trotz in seiner Seele aufstieg; auch schlage er nur das Buch des Lebens auf, die Geschichte, und frage nach den Griechen, nach den Römern, den Römern, die soviel Tatenfülle auf einen kleinen Punkt der Welt, zwischen sieben armselige Hügel zusammendrängten, daß sie damit das ganze Erdenrund überschnellten. Die haben gelebt, und darum sind sie auch unsterblich.

Aber großartiges und ruhmvolles Leben, obwohl am würdigsten für die Träume der Jugend, ist oft nur Resultat der Zeit und Umstände, bei einzelnen, wie bei ganzen Völkern. Es gibt ein Leben, das dem Griffel der Geschichte keine Nahrung gibt und dennoch aus der göttlichen Quelle entsprungen ist, aus der alles Lebendige abstammt. Sie wissen aus Herodot, wie wenig dazu gehörte, einem alten Perser im Sinne seines Volkes eine solche Lebensbildung zu geben. Man gab ihm ein Pferd, Pfeil und Bogen, lehrte ihn die Wahrheit sprechen und damit war er fertig. Sollen wir mit christlichem Mitleid auf des armen Menschen Unwissenheit herabsehen? Ich denke, wir lassen es bleiben. Ein Perser auf seinem schnellen Roh, hinter Tigern durchs Gebirge streifend, Pfeil und Bogen in den schlanken [56] Händen, Augen voll Feuer, trotziges Lächeln auf den von Lüge unentweihten Lippen, das war ein Mensch, auf den die Sonne, die er anbetete, mit Lust und Wohlgefallen herabsah – wir würden eine schlechte Rolle an seiner Seite spielen.

Das bloße Wissen, meine Herren, hat kein inneres Maß und Ziel, es geht ins Unendliche, sein Stoff zerfließt in Zentillionenteilchen. Wie manche Wissenschaft, ja wie mancher Ast einer früheren, erfordert gegenwärtig eines Menschen volles Leben, tägliches und nächtliches Arbeiten und Lernen, um sich des Stoffes nur einigermaßen zu bemächtigen. Nun stellen Sie sich vor, wir hätten eine Welthistorie nach zweitausend Jahren, die mit Begebenheiten so reich ausstaffiert wäre, als das letzte Jahrtausend, oder imaginieren Sie sich einen Professor, der a dato nach zweitausend Jahren im Kollegio Welthistorie vorzutragen hätte – bedenken Sie, daß nicht bloß Europa, daß auch Asien, Afrika, Amerika, die Inseln der Südsee eine Geschichte haben werden, und wenn Sie auch der Ansicht leben, daß die Geschichte sich immer mehr vergeistigen und die inneren Umgestaltungen der Künste, Erfindungen, des Lebens befassen werde, bedenken Sie, welche Flut von Erfindungen, Veränderungen, Evolutionen im Staatsleben, in der Kunst, in der Wissenschaft müssen tausend Millionen gebildeter Menschen in tausend und aber tausend Jahren beständiger Generationserneuerung hervorbringen und beurteilen Sie darnach die Angst und Verlegenheit besagten Professors der Geschichte, wenn er das alles in einen halbjährigen oder einjährigen oder [57] dreijährigen akademischen Kursus einzwängen soll. Wie will er es nur selbst zu einem Stückwerk von Gelehrsamkeit, zu einer oberflächlichen Materialienkenntnis bringen in einem Fache, das so unendlich, unübersehlich sein wird, wie das Weltmeer, von so unzählbaren Einzelheiten, wie Tropfen darin. Ins Unendliche teilen müßte man die gelehrte Arbeit, wie es in Fabriken geschieht, wo der eine den Knopf, der andere den Schaft, der Dritte die Spitze der Nadel fabriziert. Der eine Professor verstände sich auf das Jahr 2000, der andere auf das Jahr 1999, oder der eine wäre gelehrt in der Geschichte aller großen Männer, deren Name mit dem Buchstaben A, der andere in der Geschichte der berühmten Leute, deren Name mit dem Buchstaben Z anfängt, und wie man sich noch weiter scherzhafterweise den lächerlichen Wirrwarr entknäueln mag, der aus der ungeheuerlichen Menge und Zerfallenheit des Stoffes mehr und mehr entspringen wird.

Also, Wissen als solches kann nicht Aufgabe und Zweck des Lebens sein, weil dasselbe maßlos mit dem Anwachsen des Stoffes sich selbst zerstört und aufhebt. Diesem maßlosen Wissen gegenüber steht ein Geist, dessen Kräfte nur zu wohl gemessen und abgewogen sind. Die Vergrößerung der Wissensmasse macht das menschliche Hirn nicht größer, seine Kapazität bleibt dieselbe wie vor alters. O wie dieses gelehrte Unwesen seit Jahrhunderten die edelsten Kräfte Deutschlands zur unfruchtbaren Tantalusarbeit verurteil hat, wie wir Deutsche aus wandernden Helden Stubensitzer, aus Kriegern und Jägern lebenssieche, tatenscheue Magister geworden sind!

[58] Hatten die Griechen nicht auch Gelehrte, Wissende? Ich meine. Aber kein griechischer Gelehrter konnte sich dermaßen verknöchern, weil Welt und Studium sich die Hand boten und die Palästra neben der Stoa sich befand. Die Wissenschaft der Griechen war die Frucht ihres Lebens, uns ist sie der traurige Rest desselben. Als jenes griechische Leben verfiel, als jenes schöne Herz stockte und stillstand, da ward es in der Kapsel nach Ägypten gebracht, zu Alexandrien einbalsamiert und die trockene Mumie nannte Eratosthenes Philologie. Meine Herren, als das Leben tot war, hielt die Gelehrsamkeit Leichenschau.

Hätten wir nur das eine von den alten Griechen gelernt, das eine, wie wir den Organismus unseres Geistes, die Einheit unseres Lebens über alles, alles übrige aber danach zu schätzen wüßten, ob es sich unserm Organismus lebendig verassimiliert.

Eine kleine Welt nennt man den Menschen und man hat recht. Mikrokosmus könnte und sollte der Mensch sein, denn eingeschlossen sind in seinem Wesen die Elemente und die Kräfte des Alls, und er ist im buchstäblichen Sinne die ganze Schöpfung, im Auszug. Alles Geschaffene ist freilich Mikrokosmus, Stern, Tier und Blume, doch in trüberer Gestalt und bewußtlos. So ist es, und doch für uns ist der Ausdruck und die Wahrheit nur beschämend, wir ahnen, was wir sein sollten, und fühlen, was wir nicht sind. Wir repräsentieren nicht unsere eigene Welt, wir tragen nur eine fremde zur Schau, unsere Gebildeten, unsere Dichter und Denker begnügen sich damit, die Welt in kalter Geschliffenheit wieder [59] abzuspiegeln, unsere Gelehrten dünken sich eine Welt zu sein, wenn sie sich eine Welt von Gedanken, Sachen, Zahlen und Wörtern in den Kopf gelernt haben.

Daher, klein genug sind wir, aber wo bleibt unsere Welt, die lebendig organische Ganzheit, die gesunde, vollblühende Gegenwart? Die kleinste Alpenrose beschämt uns. Sie hat ein pulsierendes Herz, Lebenseinheit, sie gleicht einer Welt im kleinen. Was uns geistig zusammenhält, ist nicht innerer Hauch, nicht polarische Attraktion, sondern gemeine Kohäsion. Die Alpenrose mit ihren klaren, klugen Augen ist auf ihre Weise auch nicht ungelehrt, sie ist eine kleine Studentin, hört Kollegia über Felserde, Wetterkunde, Tautropfen, Frühlingsatem, aber sie weiß alles besser in succum et sanguinem zu vertieren, das ist bei uns nur eine schulfüchsische Redensart, womit wir unser ödes, lateinisches Treiben selbst verspotten.

Das Lebend ist des Lebens höchster Zweck, und höher kann es kein Mensch bringen, als den lebendigen Organismus darzustellen. Kenntnisse und Wissenschaften sind nicht für sich, sind nur für den Geist vorhanden, dessen Trank und Speise sie sind. Der Geist ist kein Magazin, keine kalte, steinerne Zisterne, die den Regen des Wissens auffängt, um sich damit bis an den Rand zu füllen. Er gleicht einer Blume, die ihren Kelch den Tautropfen aufschließt und aus den Brüsten der Natur Leben und Nahrung saugt. Aufzublühen, ins Leben hineinzublühen, Farben auszustrahlen, Düfte auszuhauchen, das ist die Bestimmung der Menschenblumen.

[60] Wir haben uns herausstudiert aus dem Leben, wir müssen uns wieder hineinleben. So gründlich, wie wir studieren, so gründlich sollen wir leben. Deutschland war bisher nun die Universität von Europa, das Volk ein antiquarisches, ausgestrichen aus der Liste der Lebendigen und geschichtlich Fortstrebenden. Tausend Hände rührten sich, um der Vergangenheit Geschichte zu schreiben, wenige Hände, um der Zukunft eine Geschichte zu hinterlassen. Deutschland hatte nur Bibliotheken, aber kein Pantheon. Die Deutschen waren nur Zuschauer im Theater der Welt, aber hatten selbst weder Bühne noch Spieler. Sie waren stolz auf ihre Unparteilichkeit, ihre vorurteilsfreie Anerkennung und Würdigung aller Lebens- und Kraftäußerungen fremder Nationen, aber sie selbst wurden nicht wieder anerkannt, denn sie hatten keinen positiven Lebensgehalt zur Rückanerkennung fremden Völkern zu bieten. Nur die Kraft mag anerkennen und sie erhöht ihren Wert, wenn sie es nicht unterläßt – die Schwäche muß. Der Kräftige fragt den Schwächling nicht, ob er ihn und seine Kraft gelten lassen will, dem Schwächling bleibt keine Wahl, er muß, er sieht sich dazu gezwungen, aller Bettel stolz hilft ihm zu nichts. Der kleinste Funke einer schöpferischen Lebenskraft hat seinen Altar auf der Welt, seine Priester, Verehrer, aber ohne den ist alles nichts.

Bloßes Wissen, sage ich, kann nicht Zweck der Erziehung, nicht Aufgabe des Lebens sein, und ich habe unter Wissen bisher nur den Ballast historischer Positivitäten verstanden, womit Deutschland [61] zum Versinken befrachtet ist. Es gibt aber ein dem historischen und dogmatischen Wissen entgegengesetztes höheres, ein Wissen nicht des Gedächtnisses, sondern des Verstandes, ein selbsttätiges, verstehendes Wissen, das man mit dem Namen des philosophischen bezeichnet. Der tiefsten metaphysischen Seite desselben ist in voriger Stunde mit schuldiger Ehrerbietung Erwähnung getan, sie führt vom Leben ab, das liegt in ihrer Natur und die Tatsache leidet keinen Zweifel; denn sie muß die Welt erst zerstören, um sie aufzubauen, sie ist der Tod der Sinne und der Sinnlichkeit, und schon Plato definierte sie als ein langsames Absterben für die bunten und wechselnden Gestalten und Erscheinungen der Welt und ein Festwerden in den Ideen der Ewigkeit. Auch hängt sie in höherem Grade, als eine bloß dialektische, kritische und psychologische Sekte der modernen Philosophie zugestehen mochte, mit dem religiösen Mystizismus eng zusammen.

Neben und außer der Philosophie, die sich in der Gesellschaft gleichsam isoliert, herrscht ein weites Reich des Gedankens, das sich, gleich jener, über den Zwang des Gegebenen, Historischen und Positiven erhebt, keineswegs aber mit ihr gleichsam an die äußersten Grenzen der erschaffenen Welt verliert, sondern in der Mitte und Fülle der lebendigen Schöpfung stehen bleibt und sich an den organischen und gebildeten Naturen derselben erfreut. Auch hier ist Zweck und Resultat ein Wissen und zwar ebenfalls ein solches, das sich sowohl durch die Analogie der Erscheinungen, als durch die Harmonie mit den Gesetzen unseres Denkvermögens bewährte, ein Wissen, [62] zu dem am Ende auch die abstrakte Philosophie gelangen muß, wenn sie, wie Herbart in Königsberg dies witzig und scharfsinnig ausgedrückt hat, wenn sie Rechnungsproben zu ihren allgemeinen Sätzen sucht. Es hat dieses Wissen bald die Natur, bald den Staat und die Gesellschaft, bald die einzelnen Produktionen derselben, die Werke der Kunst, Beredsamkeit und Poesie im Auge. Es zerstört nicht das Gegebene, es erhebt sich nur über dasselbe, es läßt sich in freie Betrachtungen ein, es untersucht, urteilt, prüft und vergeistigt sich den Stoff, indem es ihn geistig bearbeitet und reproduziert. Der Naturforscher untersucht den Organismus der Pflanzenwelt, die Metamorphosen eines Gewächses, die Brechungen des Lichts, die Kristallisationen des Flüssigen, und es ist überall sein höchstes Bemühen, den organischen Zusammenhang und die Identität des Mannigfaltigen an einem Werke, einer Erscheinung der Natur aufzufassen. So untersucht und erforscht der Politiker den Organismus des Staats, der Ästhetiker den Organismus der Kunst und die Gesetze und Bedingungen, unter denen sich die Kunstschönheit entfaltet. Zweck und Resultat alles dessen ist und bleibt das Wissen, so sehr es sich auch durch Frische und Individualität vom abstrakten und gar vom geistlosen historischen Wissen unterscheidet.

Aber auch dieses Wissen, das Kennzeichen der Bildung, das allgemeinste Erfordernis, um auf den Namen eines denkenden und gebildeten Menschen Anspruch zu machen, habe man sich nunmehr auf die eine oder auf die andere Seite desselben geworfen,ist nicht und ersetzt nicht das [63] Leben; wenn sie auch in naturgemäßem Zustande denkbar wäre, ohne Voraussetzung des Letzteren.

Denn es ist der Mensch nicht bloß der Spiegel, der die Schöpfung reflektiert und geistig wieder auffaßt, er ist ja selbst eine Schöpfung und ihm angeboren ist das Recht und die Kraft, selbst etwas für sich zu sein und unter den Existenzen der Welt seinen Platz einzunehmen. Er soll sich dort behaupten durch selbsteigene schöpferische Tätigkeit, er soll, da wo er geboren ist, mit den Füßen Wurzel fassen in der Gegenwart und die Hand rühren zu Werken, welche sein flüchtiges Dasein beurkunden, er soll sich freuen an menschlicher Tat, sich hingeben menschlichem Genüsse, das Spiel seiner Kräfte entfalten, für Recht und Wahrheit in die Schranken treten, die Unschuld lieben, die Tugend ehren, die Lüge hassen, die Bosheit entlarven, den Frevel rächen, die Gefahr verachten, und wenn es nötig, sein Leben für die höchsten Güter, sei es zur Erringung oder Behauptung derselben, für Freiheit und Vaterland in die Schanze zu schlagen.

Wir sind nicht bloß auf die Welt gesetzt, um über die Welt zu räsonnieren, um Philosophen, Naturforscher, Ärzte und Politiker zu sein. Die Welt geht ihren Gang ohne uns, wir sollten nur mehr unsern eigenen Gang gehen, die Sinne schärfen, die Kraft ausbilden und Kraft gegen Kraft abreiben. Um das Denken und die humane Bildung ist es eine schöne Sache, aber fehlt ihr der Mittelpunkt, fehlt ihr das Herz, das Leben, der ungebrochene starke Wille, so ist das Denken nur ein Spiel und die Bildung ohne [64] Gehalt. Denke dir den Blitz und fühle ihn, sagt ein Schwede, und das Wort ist selbst ein Blitz, das man denkend fühlt.

Das Leben ist des Lebens höchster Zweck, kein Wissen und keine Wissenschaft, keine Bildung ersetzt den Fond des Lebens, könnte sie auch ohne Voraussetzung des letzteren im naturgemäßen Zustande gedacht werden.

Allein, meine Herren, das kann keine Wissenschaft. Nur im Element des Lebens bilden sie sich naturgemäß, außer diesem sind es künstliche Gewächse, die mehr oder minder die Flecken und Gebrechen der Willkür, der Unnatur, der Geschmacklosigkeit an sich tragen. Das Leben rächt sich an seinen Verächtern, und seine Rache besteht darin, daß es die großen, einfachen Wahrheiten, die sonst jedermann einleuchten, mit einem Nebel von Vorurteilen verhüllt und sie dem Auge der Naturforscher, der Philosophen, der Politiker, der Ästhetiker entzieht. Zum schlagenden Beweise führe ich die unnatürliche Geschmacklosigkeit an, die in den letztvergangenen zwei Jahrhunderten in allen Kreisen der Kunst und Wissenschaft an der Tagesordnung war. Die Politik, diese hohe Wissenschaft, die den vollkommensten aller Organismen, den Staat, analysieren soll, wie konnte sie sich zu der Höhe dieser Bedeutung aufschwingen, da die europäischen Staaten so unendlich tief unter ihr standet und ein französischer König mit edler Dreistigkeit zu behaupten sich unterstand: l'état c'est moi. Was konnte sie anders sein zu dieser Zeit, als ein trauriges Abbild dieses höfischen Ichs, das sein gepudertes [65] Haupt aus allen Fenstern und Erkern des Staatsgebäudes heraussteckte, als eine Wissenschaft des Despotismus, der Intrige, der Geheimniskrämerei, als eine Satire auf den Staat? Und die Ästhetik, die Lehre des Geschmacks, die Analyse der Schönheit, konnte sie auch nur im entferntesten der Idee entsprechen, zu einer Zeit, wo die Natürlichkeit der menschlichen Lebensäußerungen untergegangen war im steifsten Zeremoniell, wo nichts sich rührte und regte, als auf den Wink pedantischer Zuchtmeister, wo man schwarze Lappen auf geschminkten Wangen Schönpflästerchen nannte, und die Damen ihre Hüften mit ungeheuern Reifbändern umgaben, wo das Volk sich in die Pfütze warf, wenn abgeschmackte goldene Karossen mit betreßten und bezopften Hanswürsten hinterm Kutschenschlag vorüberrasselten, wo im ausbrechenden Kriege die Generale und Kondottieris miteinander Schach spielten, moderne Helden, die durch Maitressen ebenso oft ihre Stelle erhielten als verloren und noch öfter die Feldzugspläne aus dem Schlafgemach des Königs ins Lager mitnahmen. Wie war zu dieser Zeit eine schöne Natur möglich in Frankreich oder gar in Deutschland, wo man sich der plumpesten Nachahmung des französischen Unsinnes hingab. Wie war zu dieser Zeit ein Künstler, ein Dichter möglich und nun gar ein Ästhetiker, der doch der Schönheit, der Kunst, der Poesie, nicht gesetzgeberisch vorauf, sondern gesetzempfangend hintennach geht. Sie werden vom Abbé Batteux gehört haben. Sein unique principe des belles lettres war einmal ein europäisch berühmtes Werk der Ästhetik, und [66] Rammler hat es in vier deutsche Bände gebracht. Dieser Abbe nannte die Nachahmung der Natur, und zwar der schönen Natur, das einzige große ästhetische Prinzip, das den Arbeiten des Geschmackes zugrunde gelegt werden müsse. Lesen Sie das Werk eines sonst geistreichen Mannes, das noch immer die Art von Verachtung nicht verdient, womit man gegenwärtig davon spricht, was das eigentlich mit der schönen Natur und ihrer Nachahmung auf sich hatte und in einer Epoche auf sich haben konnte, als alle wirkliche Natur aus dem Leben geschwunden war, und Malerei, Bildhauerei, Musik, Poesie, Baukunst, Gartenkunst, und was es sonst für Künste gibt, die an einem gegebenen Stoff das Schöne verwirklichen wollen, unglaublich verschroben und manieriert waren.

Diderot und Rousseau hießen die beiden unsterblichen Männer, die sich aus der Unnatur ihres Jahrhunderts zuerst herausrissen. Rousseaus Emil legte den Grund zu einer neuen Erziehung der europäischen Jugend, sein contrat social den Grund zur französischen Revolution, dem Todesstoß der europäischen Tyrannis in Kunst, Sitte und Staat. Für die Deutschen ging zu gleicher Zeit Shakespeare auf und damit ein flutendes Luftmeer von Genien und Kräften, woran die unersättlichste Phantasie ewigen Stoff zur Schwelgerei findet. Lange Zeit nahm man den Genuß nur so hin, ohne über die Quelle desselben nachzudenken; so wie man sich auch die französische Revolution mit der Phantasie aneignete, ohne etwas Arges dabei zu denken und ohne aus der Schläfrigkeit des bürgerlichen Lebens zu erwachen. [67] Dann aber kam eine Zeit, und sie dauert fort, wo man sich fragt, woher stammt diese Fülle von Leben und Kraft, die uns an Shakespeare entzückt und seine dichterischen Gebilde so lebensderb, so kühn, so unübertrefflich macht? Und da lautete die Antwort: das hat er sich nicht auf seinem Stübchen zusammengedichtet, das hat er nicht aus dem Stegreif phantasiert, das hat er gelernt und herausgeschaut aus dem wildbewegten, großartigen Leben, das seine Jugendträume umflatterte und ihn später als Jüngling und Mann in seine Mitte aufnahm.

Und so kommt uns von allen Seiten die Bestätigung zu, daß das Leben das höchste ist und allem übrigen, wenn es gedeihen soll, zugrunde liegen muß, geschweige der Kunst, der Schönheit und der sich mit ihr beschäftigenden Ästhetik.

Und so schließe ich diese Vorlesung mit den Schlußworten der vorigen:

Es fehlt uns an einem gemeinsamen Mittel der Bildung, weil es uns an gemeinsamem Leben fehlt. Doch schon diese Einsicht, die sich immer mehr verbreitet, ist ein Schritt zur Besserung, und dieselbe zur höchsten Evidenz und Klarheit gebracht, die ein jeder ihr zu geben imstande ist, steht schon damit in der Vorhalle derjenigen Wissenschaft, welche unter Voraussetzung eines rechten und tüchtigen Lebens, die Schönheit der Bildungen in Leben und Kunst aufweist und erläutert, der Ästhetik.

6. Vorlesung

[68] Sechste Vorlesung.

Nach der gegebenen Einleitung, meine Herren, wird es Ihnen klar geworden sein, daß wir der Ästhetik sowohl einen weitern Umfang, als eine tiefere Bedeutung einzuräumen haben, als dies in den gewöhnlichen Ästhetiken zu geschehen pflegt. Es gibt Wissenschaften, deren Zeitraum und Peripherie seit alters so ziemlich gleichmäßig bestimmt gewesen, wie z.B. die Mathematik, die Logik. Diese stehen gleichsam über der Geschichte, indem sie sich zu allen Zeiten wesentlich gleich sehen und in Anlage und Ausführung, wenn auch nicht unveränderlich, dennoch nur solcher Veränderungen fähig sind, welche als bloße Erweiterungen von innen heraus treten. Sie gedeihen in allen Zeitläuften und auch, wenn die Zeit stille steht, das heißt, wenn das geschichtliche Leben der Völker tot und abgestorben ist; daher denn auch Logik und Mathematik am allerwenigsten den menschlichen Geist in seiner Bewegung abspiegeln, und wie dies die Erfahrung lehrt, das eifrige Studium derselben keinen Schluß auf die Wüte anderer Studien zu ziehen erlaubt. Es erscheint [69] in ihnen das Geistige nur in den allgemeinsten Formen, Denk- und Anschauungsgesetzen, aber man vermißt Herz und Leben und hat es nur mit einem Skelett zu tun. Mit vollem Recht kann man behaupten, daß der Logiker, Mathematiker weder Blut noch Gewissen, weder Geist noch Herz zu besitzen braucht, daß ihm alles fremd bleiben kann, was des Menschen Busen erfüllt und begeistert, was ihn zum Menschen macht, daß ein Logiker und Mathematiker ebenso gut auf dem Jupiter oder Uranus seine Heimat finde, daß es nur gleichsam reine Zufälligkeit ist, wenn er seine Operationen und Berechnungen auf der Erde innerhalb der gewölbten Wände eines menschlichen Gehirns anstellt. Diese Wissenschaften geben uns keine Ahnung von der Fülle der Menschheit, es ist ihr Charakter, ihre Aufgabe von allem denkbaren Inhalt zu abstrahieren. Glauben Sie nicht, daß dies zur Verachtung derselben gesagt werden soll, ich verehre insbesondre die Mathematik und erkenne nur zu wohl ihren ungeheueren jetzigen und künftigen Einfluß auf die materielle Fortbildung der Gesellschaft. Allein es war auch nur meine Absicht, diese Wissenschaft in ihrer theoretischen Abstraktheit aufzustellen und sie zum Gegensatz auf jene andern Zweige des Wissens zu leiten, welche von vornherein sich mit irdischem Heimatsgefühl zum Menschen gesellen und an den höheren geistigen Evolutionen des Geschlechts innigen Anteil nehmen. Dahin zähle ich die Studien der Natur und Kunst, die gleichsam Hand in Hand mit ihren Zeitaltern fortgehen, ihre Geschichte teilen. Dieselbe geschichtliche [70] Natur hat die Ästhetik. Sie beruht auf dem Leben, ist mehr oder minder lebendig, tief oder oberflächlich, welk oder blühend, je nachdem das Herz, das in einem Zeitalter pulsierte, das eine oder das andere war. Man sieht sie von Zeit zu Zeit bei Plato, Plotin, Hemsterhuis, Solger in verändertem Gewande hervortreten, in schöner Form, in Unform, als tiefsinnigste Lebensphilosophie, als Tagesgeschwätz, bald unter diesem, bald unter jenem Namen. Lassen Sie sich nicht irre machen über ihre Natur und Existenz! Jeder ausübende Künstler, jeder handelnde und fühlende Mensch trägt seine Ästhetik in sich, bewußt oder unbewußt fällen wir täglich Hunderte von ästhetischen Urteilen, aus denen gerade das Eigentümlichste unserer Gesinnungs- und Denkweise unmittelbar hervorbricht.

Folgen Sie mir, meine Herren, in das Gebiet der Geschichte. Es müßte Schuld meiner Darstellung sein, oder es wird aus den wenigen großen welthistorischen Zügen, welche ich anzuführen gedenke, in Ihrer Seele der Begriff der Ästhetik in höchster Potenz sich als der Begriff dessen lebendig machen und erweitern, was man in neuerer Zeit so passend Weltanschauung genannt hat, eine Bezeichnung, die ebenfalls nur der deutschen Sprache oder vielmehr dem deutschen Gedanken eigentümlich ist.

Erkennen und Handeln sind die beiden Pole unseres Geistes. Das ästhetische Element tritt zwischen beide in die Mitte, es ist ein Denken und zugleich ein Fühlen, das in jedem Moment beim Künstler ins Handeln umschlägt. Alle ästhetischen [71] Urteile sind von diesem Gefühl begleitet, sie sind nichts ohne dasselbe, das bald anziehend, bald abstoßend, bald beifällig, bald mißfällig das Gemüt in elektrischen Strömungen lebendig erhält. Was uns nur als schön oder häßlich, als gut oder böse anmutet oder widersteht, ist ästhetischer Natur, hat seine Wurzel im sinnlich-geistigen Urgrund unseres Wesens und erkennt in dieser Unmittelbarkeit keinen höheren Richter über sich. Nach Verschiedenheit der Individualitäten sind die ästhetischen Gefühle und Urteile so verschieden, wie die menschlichen Grundnaturen; alle vereinigen sich wieder in gewissen Grundgefühlen, Ansichten und Urteilen, welche den besonderen Charakter eines Volks, einer geschichtlichen Epoche ausmachen.

Schlagen wir zunächst unsere Blicke auf jene uralte indische Welt, von deren Größe uns nur ein armseliger Schatten übrig geblieben; betrachten wir jene träumerischen Menschen, welche die Ufer des Ganges bevölkerten und gleich menschlichen Sinnpflanzen unter Lotos und Bananen blühten. Große Werke der Religion, Philosophie, Poesie und Kunst haben sie uns hinterlassen, zu deren Verständnis erst die neueren Zeiten den Schlüssel geliefert. Dennoch können wir über das Verständnis nicht so recht zum Genuß derselben durchdringen – die ästhetische Grundanschauung der Inder ist zu verschieden von der unsrigen. Legen wir den Maßstab unserer Moral und Ästhetik an die Moral und Ästhetik der Inder, so offenbart sich das entschiedenste Mißverhältnis, obgleich wir bekennen müssen, es spreche sich wirkliche Natur und wirklicher menschlicher [72] Zustand nicht weniger im Indischen als im Europäischen aus. Bedenken wir uns nun jenes ästhetische Grundprinzip, das der indischen Weltanschauung zugrunde liegt und das Krischnas in der Bagavadgita (Unterredung des Krischnas) mit den Worten ausspricht: nie ist der Wert einer Handlung in die Frucht gesetzt, so fühlen wir schon gleich alle Konsequenzen, welche aus diesem Grundsatz für Leben und Kunst ohnedies herausfließen müßten.Nie ist der Wert des Handelns in die Frucht gesetzt: das heißt: nicht die Tat ist etwas, nicht der Erfolg, nur der Gedanke, die Absicht. Wilhelm Humbod, der über die Bagavadgita sich in einer eigenen Schrift verbreitet hat, nennt eine solche Stimmung eine unleugbar philosophische, eine an das Erhabene grenzende. Das erstere wird man ihm leicht zugestehen, da die Philosophie als solche, oder die Metaphysik, sich nicht allein aus dem Kreise menschlicher Handlungen, sondern aus allem Stoffartigen der Natur und Menschheit zurückzieht und, wie schon bemerkt, mit der entkörpernden Mystik in nahen Verhältnissen steht. Auch die Bezeichnung des Erhabenen oder dessen, was an das Erhabene grenzt, mag man unangetastet lassen, da das Erhabene auch in unsern Augen dann hervortritt, wenn ein Mensch, ohne Aussicht auf Erfolg, sich für eine große Sache aufopfert und nur die Heiligkeit und Schönheit des Gedankens, der ihn begeistert, vor Augen hat. Allein schon hierin müssen wir auf der Hut sein, das indische Gesetz nicht europäisch auszulegen und darin etwa Kants kategorischen [73] Imperativ zu sehen, nach dem man die Pflicht nur um ihrer selbst willen tun soll; selbst Schleiermachers in denMonologen ausgesprochenes Prinzip, das fast wörtlich so lautet wie das indische in der Bagavadgita, stimmt dem Sinne nach, wenigstens nicht in allen indischen Konsequenzen, damit völlig überein.


Denn, betrachten wir nun, wie das indische Leben, ihre Philosophie und Poesie sich gestaltet hat, so sehen wir so recht deutlich, wie tiefgreifend der ästhetische Grundsatz durch alles dieses hindurchgeht und dem ganzen Indertum Farbe und Gepräge gibt. Die Negation der Tat ist nichts anderes als die indische Geschichte, Kunst und Poesie selber.


Das Handeln wird überall vom Denken, Träumen, Phantasieren absorbiert; selbst dieses Denken und Phantasieren zieht sich immer weiter zurück von der Welt der Sinne, es versenkt sich in sich selbst, es läßt im indischen Philosophen und Mystiker die ganze Welt hinter sich zurück, um als einsames Ich über seinem Ich zu brüten und das goldene Ei der indischen Weltphilosophie auszuhecken, das nichts und doch alles in sich faßt. Nichts zu denken, war gerade die höchste Aufgabe der Yogalehre.


In der Vertiefung der Mensch muß so vertiefen, sinnentfremdet sich,

Tilgend jeder Begier Streben, von Eigenwillens Sucht erzeugt,
Der Sinne Inbegriff bändigend mit dem Gemüte ganz und gar,
[74] So strebend nach und nach ruh' er, im Geist gewinnend Stätigkeit,
Auf sich selbst das Gemüt heftend und irgend etwas denkend nicht –

So lauten Krischnas Worte in der Bagavadgita. Weitere Vorschriften und Züge stellt Wilhelm Humboldt aus indischen Schriften zusammen: der Fromme soll in einer menschenleeren reinen Gegend einen nicht zu hohen, nicht zu niedrigen, mit Tierfellen bedeckten Sitz haben, Hals und Nacken unbewegt, den Körper im Gleichgewicht halten, den Odem hoch in das Haupt zurückziehen und gleichmäßig durch die Nasenlöcher aus- und einhauchen, nirgends umherblickend, seine Augen gegen die Mitte der Augenbrauen und die Spitze der Nase richten und die berühmte Silbe Om! aussprechen. – Zu solchem unschönem, unnatürlichem, stumpfem und dumpfem Zustande führte auf geradem Wege das Prinzip, das der indischen Weltanschauung zugrunde lag. Dennoch haben wir es bezeichnet als ein ästhetisches, obwohl es in unserm und griechischem Sinne der Ästhetik geradezu als unästhetisch erscheint. Allein ebensogut wie wir die Poesie in indischen Gedichten Poesie nennen und zur Anerkennung derselben uns genötigt fühlen, ebensogut dürfen und müssen wir jene Grundansicht, die auch der Poesie vorschwebt, als ästhetisch bezeichnen, weil sie auf einem ästhetischen Punkt wenigstens beginnt und von ihm ausgeht: nämlich von einembestimmten Grundgefühl des Lebens, das einmal vorhanden war, mögen wir dasselbe gegenwärtig teilen oder nicht.

[75] Nur kann uns keine Pietät gegen die Geschichte und gegen die geistigen Äußerungen eines der Urvölker des Menschengeschlechts die Freiheit benehmen, nach unsern Ansichten und Grundgefühlen sowohl das Prinzip selbst, als dessen Einfluß auf Leben, Kunst und Poesie zu beurteilen. Der in den indischen Dichtungen herrschende Geschmack ist für uns ein Ungeschmack, und als solchen hat ihn auch Goethe gegen die Anpreisung der modernen Inder dargestellt. Wir verlangen für Poesie und Kunst vor allen Dingen Charaktere mit scharfbegrenzter Individualität, sie sollen ihren Geist auf bestimmte Zwecke richten, deren Verwirklichung fordern und anstreben, und nur in dieser Eintracht des Willens mit der Tat sehen wir poetische Lebendigkeit und poetische Wirkung. Der indische Dichter hingegen, dem es auf die Tat nicht ankommt, der die Harmonie zwischen Verstand und Willen, Denken und Tun nicht als das höchste Gesetz anerkennt, überläßt sich ganz naiv der vollen Absurdität der Phantasie und der träumerischen Richtung der Gefühle und erfüllt auf diese Weise das ästhetische Gesetz im Sinne seines Volks, wie er es im Sinne der neueren Völker übertritt. Man kann sich kaum einen Begriff machen von den ungeheuerlichen Schöpfungen, mit denen ein indisches Dichterhirn schwanger ging. Am ausführlichsten und glänzendsten ist in dieser Hinsicht die Episode des Ramajuna, dieses indischen Nationalgedichts, das sich der größten Berühmtheit erfreut.


Verfolgen Sie nur die charakteristischen Züge, die den Umriß des Gedichts ausmachen:

[76] Wuschista, ein Brahmin, lebt in einer Einsiedelei, die mit Blumen, rankenden Pflanzen bedeckt ist, beobachtend heilige Gebräuche, umringt von Weisen, die dem Opfer und der Wiederholung des heiligen Namens (Om! Om!) ihr Leben widmen, 60000 Weisen, entsprungen aus den Haaren und Nägeln Brahmas, alle so groß wie ein Däumling. Nun kam einmal der König Wischwamitra zu jenem Weisen, weil er die Kuh besaß, die der König zu erhalten wünschte; zum Preise bietet er erst 100000 Kühe, dann 14000 Elefanten mit Sätteln und Zeug von purem Gold und außerdem 100 goldene Wagen, jeden von vier weißen Rossen gezogen. Aber umsonst. Er nimmt sie also mit Gewalt. Durch Brahmas Hilfe erhält der Weise eine Armee von hundert andern Königen, und diese zerstören die Armee des Königs Wischwamitra; und Wischwamitra geht verzweiflungsvoll in eine Wildnis. So groß ist die Macht des Brahma.

Allein in der Wildnis übernimmt der Flüchtige die strengsten Übungen, um Shivas oder Mahadevas, des bösen Geistes, Geist und Unterstützung zu erlangen; er steht auf den Spitzen seiner großen Zeh, mit aufgehobenen Händen, wie eine Schlange von Luft gefüttert – hundert Jahre lang. Der Gott gewährt dem Könige die von ihm verlangte Kunst des Bogens in ihrem ganzen zerstörenden Umfang. Er gebraucht sie, um an dem betenden Brahminen Wuschista Rache zu nehmen, er verbrennt und verwüstet den Wald, den Schauplatz der Devotion desselben, so daß die Weisen, Tiere, Vögel zu Tausenden davonfliehen. Aber Wischnus [77] Bogen, vor dem sonst die Götter und alle drei Welten in Schrecken geraten, wird zuschanden vor dem einfachen Stabe, den Wuschista in der Hand führt. So groß ist Brahmas Macht. Der König sieht es, seufzt und fängt eine neue Laufbahn strenger Übungen und Abstraktionen an, um nur erst Brahmane zu werden. Darüber bringt er tausend Jahre zu.

Dieses gefällt Brahma, und nach Berlauf der Zeit erklärt er ihn für einen königlichen Weisen.

Wischwamitra läßt aber sein Haupt mit Scham hängen und spricht voll Verdruß: nachdem ich solche Übungen vollbracht, nur ein königlicher Weiser (die königliche Weisheit muß schon damals für nicht weit her gehalten sein). Ich achte mich für nichts, und damit beginnt er von neuem seine Übungen und Abstraktionen. Indessen fällt es einem gewissen FürstenTrichunko, einem Mann der Wahrheit, von besiegten Leidenschaften, ein, ob er nicht in seinem körperlichen Zustande unter die Götter kommen könne. Er wendet sich an Wuschista, allein dieser erklärt ihm die Unmöglichkeit der Sache, spricht einen Fluch über seinen Frevel und macht eine niedrige Kreatur aus ihm. Der eifersüchtige Wischwamitra aber erbietet sich, durch ein Opfer den unglücklichen Fürsten wirklich in den Himmel zu versetzen. Er ladet den Wischusta und die Götter zu diesem Opfer ein, aber unwillig schlagen sie die Einladung aus. Voll Zorn ergreift nun der große Wischwamitra den geheiligten Kochlöffel und schwört, kraft seiner geübten Enthaltsamkeiten, seinen Freund und Schützling wohl von selbst in den Himmel zu [78] bringen. Trichunko steigt wirklich in den Himmel empor; allein, angekommen, wirst ihn Indra, der Gott des Himmels, wieder heraus. Wischwamitra sieht ihn fallen und nach Hilfe schreien; er ruft halt, und auf diesen Zuruf bleibt er so zwischen Himmel und Erde hangen. Dann schafft Wischwamitra im vollen Zorn einen ganz neuen Himmel und andere Götter darin und an ihrer Spitze einen neuen Indra.

Die Götter und Weisen, versteinert vor Erstaunen, wenden sich hierauf an Wischwamitra um Einhalt und bitten ihn demütig, nicht auf die Versetzung eines vom Brahminen Verfluchten ohne vorhergängige Reinigung zu bestehen und überhaupt die alte gute Ordnung im Himmel und auf Erden zu zerstören. Der König beharrt auf dem, was er sprach, doch vereinigt er sich zuletzt auf gütliche Weise über einen Platz nicht im Himmel, sondern am Himmel.

Nach tausend Jahren vollbrachter Abstraktionen erklärt Brahma den König für einen obersten Weisen. Noch nicht zufrieden damit, fängt er einen neuen Kursus an; hier kommt aber zu seinem Unglück ein schönes Mädchen (die Mutter der Sakontula) zu ihm und nimmt so sehr seine Sinne gefangen, daß er 25 Jahr mit ihr vertändelt. Erwachend aus dieser Vergessenheit fängt er ein neues Jahrtausend strenger Büßungen an. Die Götter geraten schon in Bangigkeit, er werde ihnen durch seine stupende Frömmigkeit neues Unglück bereiten. Brahma gesteht ihm darauf das Prinzipat unter den obersten Weisen zu. Auf des Königs Frage, warum er noch nicht zu einem Brahmaweisen ernannt [79] werde, erklärt Brahma: noch hast du deine Leidenschaften, Zorn, Lust und Liebe nicht unterjocht.

Abermals beginnt er seine Übungen; aber vergebens sucht ihn Indra durch das schönste Mädchen zur Liebe und durch allerhand Schelmenstreiche zum Ärger zu reizen. Nachdem der Chef der Weisen tausend Jahr lang geschwiegen, wird dem Gott Indra im Himmel bang um den Himmel. Er wendet sich an Brahma. In diesem großen Weisen, sagt er, ist nicht der kleinste Schatten einer Sünde mehr – wenn das Verlangen seines Geistes nicht gestillt wird, wird er mit seiner Abstraktion das ganze Universum zerstören. Die Extreme der Welt sind in Verwirrung, das Meer braust, die Berge stürzen ein, die Erde zittert – o Brahma!

So wird nun Wischwamitra von Brahma endlich zum Brahmaweisen erklärt und versöhnt sich mit Wuschista, der, weniger kühn, es noch nicht so weit gebracht hat als er.

In diesem Gedicht liegt die indische Weltanschauung, wie in dem Satz des Krischna die ästhetische Quelle derselben. Wie anders lautet das ästhetische Prinzip im Wunde eines griechischen Gottes, und wie sehr verschieden ist das christliche von beiden. Die ästhetische Weltanschauung, die im Griechentum und Christentum sich offenbart, wird das Objekt der nächsten Vorlesung sein.

7. Vorlesung

[80] Siebente Vorlesung.

Im Indischen, wie wir gesehen, verwirrt sich der von der Tat und der Welt der Sinne sich lossagende Gedanke einerseits in das Gebiet der abstrusesten Phantasiebilder, andererseits in einen bodenlosen Abgrund der Mystik, wo er überhaupt aufhört, Gedanke zu sein und als ein Nichts über dem Nichts in schauerlicher Öde hinbrütet. Die ästhetische Weltanschauung der Indier machte nur die Augen auf, um sie wieder zu schließen, sie ward sich der Sinne nur bewußt, als zu vernichtender Widerspiele des Geistes, des Geistes nur als einer zu tötenden Mannigfaltigkeit von Gedanken, Gefühlen und Bestrebungen, der ganzen Welt nur, als einer kriminalistischen Mummerei wechselnder Gestalten, welche aus Blumen und Tieraugen den Menschen wehmütig schmerzlich ansehen und in Gemeinschaft mit ihm nach der Zeit schmachten, wo ihre Larven fallen und sie wieder in den Zustand der Seligkeit, das ist der Bewußtlosigkeit, der Vernichtung zurückkehren. – Zu verwesen bei lebendigem Leibe, diese schauderhafte Sehnsucht zieht sich durch die indische [81] Welt, und erfüllt uns mit einem seltsamen, unheimlichen Gefühl, das uns durch den ganzen Orient begleitet und uns nicht eher verläßt, als bis wir an den Ufern des lebensfrischen und lebensfrohen Griechenlands Atem holend angelangt sind. Welcher Himmel, welche Erde, welche Menschen, welche Götter, welche Geschichte, welche Gedichte, welche Natur, welche Kunst, das alles ist Griechenland, und man muß staunen und sich verwundern, daß zwei so ungleiche Länder, wie Indien und Griechenland, auf einem und demselben Planeten zusammenliegen. Unauflöslich würde in der Tat das Rätsel sein, wie die Weltanschauung und das Leben bei Geschöpfen von einerlei Natur und Art, aus einerlei Teig geknetet und mit demselben geistigen Odem durchweht, so grundverschieden, ja in jedem Punkt und nach allen Richtungen entgegengesetzt sich gestalten konnte, wäre uns die Urgeschichte des griechischen Geistes völlig unbekannt und könnten wir nicht einige ahnungsvolle Blicke auf den früheren Zusammenhang orientalischer und europäischer Bildung werfen. Die Natur, das ist unsere Überzeugung, kennt keine Widersprüche, keine schreienden Dissonanzen, sie arbeitet sich durch tausend Mittelglieder hindurch und verbindet die Enden der Welt mit einem unsichtbaren Zauberbande, das im Dunkel des Mythos und der Geschichte flattert und nur vom Auge des Geistes erkannt wird. Alle die Töne der Weltenlyra klingen zusammen in einen einzigen ungeheuren Akkord, in dem nichts Einzelnes mehr unterscheidbar ist, und so haben alle Sprachen und Sagen aller Völker, so fremd und dissonierend sie klingen, einige [82] Grundlaute miteinander gemein, die eben den geistigen Urlaut des menschlichen Daseins bilden. Aber durch allen Sinn und Unsinn der Geschichte, durch den Wirrwarr aller Völkerstimmen geht dieser rein menschliche Ton, diese Stimme der Natur, welche ihre Kinder, die Schwarzen und die Weißen und die Olivenfarbigen und die tausendjährigen Toten und die Lebendigen heutigentags um den einen gemeinschaftlichen Urborn des leiblichen und geistigen Lebens der Menschheit versammelt.

Europäer sind Asiaten, das lehrt die Geschichte: Europa ist ein Stück von Asien, lehrt die Geographie. Die europäische Bildung hat ihre Wurzeln in Asien, das deuten uns die ältesten Mythen und die Urelemente der Sprache, der Schrift, der Sitten und Gesetze der europäischen Völkerschaften; auch die Bildung der Griechen hat ihre Wurzel jenseit des Hellesponts, oder vielmehr sie hat sich mit dieser Wurzel von asiatischem Boden losgerissen und sie in griechische Erde verpflanzt. Es gab eine Zeit, wo die Griechen noch nicht Griechen waren, eine Zeit, wo ihr Geist noch versenkt war in den starren Natursymbolen des Orients, wo Priesterherrschaft und Kastengeist noch die Entfaltung des öffentlichen Lebens hemmte, wo ihre Sinne sich noch mit einem dämmernden Flor umzogen und sie nur noch die ersten Versuche machten, sich aus den bleiernen Armen der asiatischen Tradition loszuringen und ihr Leben auf eigentümliche Weise zu gestalten. Nicht immer ward der griechische Olymp von Göttern bewohnt, wie Homer sie schildert, nicht immer war den Griechen wüste Phantasie und Abgeschmacktheit ein [83] Greuel, ihre ältesten Götterdynastien, ihre Tier- und Menschenungeheuer, Sphinxen und Kentauren, ihre pelasgischen Kabiren verraten uns nur zu deutlich eine frühere Bildungsstufe, auf der sie den Ägyptern und Indiern ähnlicher sehen als sich selbst in späterer Zeit. Lange Zeit mögen sie in dieser dunklen Naturmystik befangen gewesen sein, worin sie, wie die alten Indier noch schlaftrunken und mondsüchtig am Abgrund des Wesens hintaumelten und ihr Hirn schwindeln machten von den mysteriösen Dünsten, welche später die Pythia allein einsog. Nur allmählich kam die Menschheit zur Besinnung, sie aber waren die ersten, welchen das menschliche Bewußtsein aufging, die menschliche Persönlichkeit gegen die dunklen Mächte der Natur geltend machten, die, wenn der Ausdruck nicht zu kühn ist, das Nabelband zerschnitten, das den Menschen bisher, wie ein Tier, mit dem Schoß der Erde verknüpfte und ihm das Bewußtsein eigner freier Existenz fortwährend verdüsterte. Der Indier hatte kein Gefühl von seiner Kraft, daher war auch seine Weltanschauung eine leidende und auf Vernichtung aller Persönlichkeit, aller selbständigen Tat abzielende. Des Griechen Weltanschauung ward eine tätige und drang mit Bewußtsein auf die Harmonie des Gedankens und Willens und griff in alle Seiten der Seele und wühlte Töne auf, die kein sterbliches Ohr bisher geahnt, und setzte Gedanken ins Leben, die nicht untergehen werden, solange die Welt steht. Suchen wir einen Namen, um die besondere Art ihrer ästhetischen Weltanschauung zu bezeichnen, so dürfen wir nur die Augen aufschlagen und auf ihren Werken [84] den eingeprägten Stempel betrachten, die schöne, die freie, die plastische, die persönliche, die harmonische, die rein menschliche; Namen für eine Sache, Strahlen eines Lichts, Blumen auf einem Stengel; denn nur als Persönlichkeit, nur als freie und schöne Persönlichkeit ist der Mensch ein reiner Mensch, ein nach allen Kräften seiner Natur durchgearbeitetes Wesen, ein wachendes, handelndes, freudiges Geschöpf, das den schönen Kreis, der seine bewußte Existenz umgibt, nur dann durchbricht, wenn Schlaf, Traum oder Tod es unwillkürlich herbeiführen. Dem träumenden Indier ward das ganze Leben zum Traum und der Traum selber eine Sehnsucht nach dem Austräumen, das heißt nicht nach dem Erwachen, sondern nach Stillstand, Tod, Auflösung.

Vor Traum und Tod, welche die Lebendigen und Wachenden umlauern, fand der Grieche keinen Schutz, aber er träumte nicht, wenn er wachte, und er tötete sich nicht ab, um dem Tode den Sieg zu verschaffen; ja die Vorstellung des letztern suchte er sich zu verschönern und zu erheitern, und statt eines grinsenden Schädels blickte ihn auf Grabmalen der Jüngling mit umgekehrter Fackel an. Die Spanne zwischen Geburt und Grab, die Stunden zwischen Schlaf und Wachen, die nannte er seine Welt, seine Zeit, sein Eigentum, darin blühten seine Hoffnungen, darin reisten seine Pläne, darin herrschte seine Tat; was draußen und dahinter lag, war für ihn kein Gegenstand der Sehnsucht und der Aufopferungen. Nur das menschlich Gestaltete, das Organische gedieh ihm zur Lust und Freude, und [85] daher belebte er die ganze Natur, Erde, Himmel und Meer, mit Gestalten, die ihm glichen und die zum Mitgefühl seiner Leiden und Freuden sich herabließen. Und nicht allein auf den Gipfeln des Olymps und des poetischen Parnassus lebte eine persönliche, vielgestaltige Götterwelt, sondern auch auf den Höhen der Philosophie regte sich das plastische Streben des griechischen Geistes, und ich sehe in der platonischen Ideenlehre nur Götter, die Plato Ideen nennt und denen er die Idee der Ideen, das Eine, das Gute, als einen Ideenzeus überordnet, so aber, daß jede durch Teilnahme an der Natur des Einen eine volle und selbständige Göttlichkeit genießt.

Wie in Philosophie, Poesie und Kunst, so insbesondere im Staate war das plastische Prinzip der Griechen wirksam, welches wir als ihr oberstes ästhetisches Grundgesetz betrachteten. Unter den Griechen tritt die Beseelung des Staates als eines Kunstwerks zuerst hervor, und zwar nach dem allgemeinen Gang und der Natur des Prinzips durchaus demokratisch. Die erwachte Freiheit machte sich ganz und gar als Besonderheit geltend, auf sich strebte jede Persönlichkeit sich zu basieren, jeder reklamierte im allgemeinen Wechselverkehr seine natürlichen und angeborenen Rechte. Zu gleicher Zeit fügten sich alle diese Einheiten der höhern Einheit des Staats, sie waren frei und beseelt, aber sie teilten ihre Seele miteinander. Es war eine strahlende Lebendigkeit in allen diesen Gestalten, ein inneres, heroisches Ungestüm trieb die Gemüter ins Leben und aus jeder häuslich dürftigen Beschränkung heraus, der [86] Schwung der Gemüter drückte gegen jede Fessel und drohte sie zu zersprengen. Und doch zerfloß das Ganze nicht in Anarchie, denn die verborgene Einheit zügelte wieder den Übermut, diese Einheit, nicht des dumpfen Zwanges der Natur oder Gewohnheit, sondern des Geisterreiches, der Kraft und Zügel, Bedenken und Tun sinnig vereinte, kein modernes Abstraktum, kein logischer Staatsbegriff, sondern die Einheit des Lebens, der Kunst und der Schönheit, welche im Mannigfaltigen das Identische festhält. In dieser Elastizität der Willenskräfte, die federnd nach außen wirkten, verbunden mit jener Sympathie der Vaterlandsliebe, ging das großartige Leben des Altertums hervor. So hatten sie ganz und gar ihren Bestand im Sinnlichen gegründet, waren Autochthone, wie sie sich auch nannten, und hingen mit dem verwitterten Urstamme der asiatischen Menschheit nur insofern zusammen, als sie die nachquillenden rohen Natursäfte desselben zu ihrer eigenen Blüte verwandten.

Leider war auch diese Blüte vom Schicksal bestimmt, um zu verwelken und andern Blüten des menschlichen Geistes Platz zu machen. Die Römer haben Griechenland nicht zerstört, sie haben nur die letzte Hand daran gelegt, sie haben die sterbende Nationalexistenz nach höherem Beschluß exekutiert. Sie stehen überhaupt in der Geschichte als unerbittliche Exekutoren da, die alles Leben, was nicht auf den Beinen feststeht, vor sich niederwerfen und mit eisernem Fuße auf eine unterjochte und zertrümmerte Welt hintreten. Die Griechen waren sich selbst genug, daher machten sie keine auswärtigen [87] Eroberungen, außer geistigen. Die Römer hingegen drängten sich, mit aller Kraft einer isolierten Richtung, aus sich heraus und wurden Eroberer und Unterjocher, weil ihnen das innere poetische Leben und der gestaltende Sinn der Kunst abging. Rom hat keine großen Dichter und Künstler erzeugt, noch viel weniger einen Philosophen, aber Roms Redner besaßen eine dämonische Kraft, weil die Beredsamkeit des Forums mit der Richtung ihres Geistes übereinstimmte und einen tatsächlichen Charakter trug; Männer der Tat hat kein Volk in so großer Zahl und so ununterbrochener Reihe aufzuweisen. Positiv und praktisch war die Weltanschauung der Römer im geraden Gegensatz zur indischen, die sich in sich zurückzog, während die griechische sich in der Harmonie des Geistigen und Leiblichen schwebend erhielt, daher denn auch mit Recht Virgilius den Römern zurief:


Tu regere imperio populos, Romane, memento
Hae tibi erunt artes.

Der Zuruf kam freilich zu spät, die Römer hatten Künste und Wissenschaften bekommen, aber ihre Kraft war gebrochen und der Koloß ihrer Herrschaft ging in Fäulnis und Gärung über.

Das nun hervortretende Christentum, das sich nicht als Volks-, sondern als Völkerreligion geltend zu machen suchte, wurzelte allerdings im Judentum und in den Ideen des Orients, ward aber von einem durchaus neuen und eigentümlichen Geiste beseelt, wie es auch andrerseits von den heidnischen Religionen des Okzidents sich wesentlich unterschied und unter den jüngeren Generationen, welche sich auf [88] dem Ruin der alten okzidentalischen Welt anbauten, eine von allen bisherigen Erfahrungen verschiedene Anschauungsweise hervorrief. Über dem alten Götterhimmel wölbte sich ein neuer Himmel, und wenn einst der sinnlich glückliche Grieche sich von seinen Göttern selbst über die irdische Seligkeit beneiden ließ, so schlug nun die Sehnsucht ihren Blick in die Höhe und die himmlische Seligkeit überstrahlte die irdische, welche keine mehr war, sondern eine Prüfung, ein vergänglicher Wandel, ein Leben im Fleisch, in dem das Böse wohnt und das gekreuzigt werden muß, damit das Leben im Geist beginne. Drängt sich uns danach dieresignierende Natur der christlichen Weltanschauung auf, so geraten wir doch nicht auf die irrtümliche Verwechselung der christlichen Resignation mit der indischen Negation des Sinnlichen. Diese hob nicht allein das Sinnliche, sondern mit dem Sinnlichen das verwandte Geistige auf, während der resignierende Christ nur noch energischer und kräftiger die höhere Welt anstrebte und die gedemütigte Seele wieder erhob und zu reineren Regionen mit sich fortriß. Balsam war sie für ihre Zeit; die gesunkene Menschheit richtete sich an ihr wieder auf, und die Millionen Sklaven warfen ihre Fesseln hin, um mit ihren Herren vor den Altar des Herrn aller Herren zu treten. So bemächtigte sie sich anfangs aller Geister, die hienieden nichts zu hoffen hatten, im Fortgang der irdischen Großen die viel zu fürchten hatten, und krönte ihr Werk mit Ergreifung jener jugendlichen Nationen von germanischem Stamm, die wild und feurig in der Welt umherstreiften und sich noch erst [89] Wohnplätze auf der weiten Erde aufsuchten. Neues Blut und neue Kraft drängte sich nun auf die Bühne der Geschichte, und nun erst bekam die neue Lehre ihre wahren Jünger, welche die alte abgestorbene Zeit ihr kaum bilden konnte. Das Element des Mystizismus, das in ihrem Grundcharakter ursprünglich lag, aber in ihrem Verkündiger ganz in unmittelbar praktische Lebenssitte, Kindlichkeit und Reinheit der Gesinnung eingeschleiert war, aber schon in den nächsten Nachfolgern zum Vorschein kam, wurde nun von den nordischen Naturen, die innere Anlage diesem Ziel entgegentrieb, mit frischer, junger Kraft und Energie ausgebildet und zur romantischen Entwickelung hinangetrieben. Es war das Ferment, das mit der ursprünglichen Kraft des Nordens durchgärte und die ganze mittlere Geschichte, Papsttum, Kaisertum, Rittertum, Feudalismus, gotische Baukunst, Poesie, Malerei und Skulptur des Mittelalters bilden half. Solche Gestaltung des Lebens war nur durch die christliche Anschauungsweise möglich, war nur einmal da in der Welt und wird nicht wiederkommen. Selbst die Kunst, welche das Christentum eine Zeitlang verherrlichte, die Malerkunst des 14. und 15. Jahrhunderts trug mit zur Ausartung desselben bei; sie war bei den Griechen in die Schule gegangen und hatte die Schönheiten der Form an der Antike studiert und mit griechischem Auge im Leben aufgesucht. Offne und freie Schönheit der Form aber ist dem Christentume fremd, das Christentum ist ernst, verhüllt und züchtig, und immer ahnt es die Schlange, die hinter den Rosen versteckt liegt. Auf einer raphaelischen Madonna [90] würde der Blick eines Paulus schwerlich mit demselben Wohlgefallen geruht haben wie etwa der unsrige, derselbe Apostel, der der Jungfrau verbot, ihre Haare wallen zu lassen und Kränze auf ihr Haupt zu setzen, mußte auch die Absicht des Malers verraten, bei aller Heiligkeit und Unschuld der Madonna doch hauptsächlich das Bild eines schönen und reizenden Wesens vor Augen zu bringen.

Ebenso gefährlich als die neu erwachende Sinnlichkeit der griechischen Kunst ward der ursprünglichen Anschauungsweise des Christentums der scharfe Verstand, der ungläubige Witz, der scharf die Dinge scheidet, der klar und hell in die Erscheinungen blickt und der fressend, zehrend den Zauber, der ihn fangen will, durchschneidet. Und so sieht sich dasselbe von zwei Richtungen in die Mitte genommen, von der Sinnlichkeit und vom Verstande, und es gärt wieder, wie ehemals, in einem neuen geschichtlichen Prozesse, und jeder von uns fühlt sich mitbegriffen, bewegt und erschüttert im Weben der Zeit und sucht der Richtung zu folgen, welche sich am herrschendsten in ihm geltend macht. Ohne Zweifel wird sich aus diesem Kampf eine neue ästhetische Anschauungsweise entwickeln und damit eine Umgestaltung der Dinge, welche eine neue Kunst, eine neue Poesie, ein neues Leben herbeiführen wird. Mehr in ahnenden Zügen als in wirklichen Umrissen sie darzustellen, wird meine Aufgabe für die nächste Vorlesung sein.

8. Vorlesung

[91] Achte Vorlesung.

Die Manifestation einer neuen Anschauungsweise, und damit eines neuen Lebens, einer neuen Kunst und Poesie ist, wie wir am Beispiel der griechischen und christlichen gesehen, kein momentaner Akt, der sich sofort aller geschichtlichen Elemente bemächtigte und die Formen der früheren Anschauungsweise auf einmal zertrümmerte, sondern ein progressiver Akt, dem nur allmählich die Überwältigung und Ausscheidung der zuckenden, abgestorbenen Lebensreste gelingt. Es verharrt die Zeit so lange im Verpuppungszustande, bis ihr unter der Decke die Flügel ausgewachsen sind, sie dehnt sich, lockert sich, erwartet den Augenblick – dann kostet es nur einen Sonnenstrahl, vielleicht den ersten nach schwerem Gewitter, und gesprengt ist der alte Leib, und die Psyche der Menschheit atmet wieder die Freiheit ein.

In solch verpupptem Zustande erscheint uns die Gegenwart. Sie trägt noch die Larve der alten Zeit, die häßliche, runzlige Larve, und das Leben, das sich im Innern entfaltet, ist nur noch ein hüpfender [92] Punkt, ist noch gemischt aus Seufzern der Hoffnung und Seufzern des Schmerzes. Aber es ist ein neues Leben, so gewiß und wahrhaftig, als das alte tot ist und nur noch mit gespenstischer Hülle das junge drückt, verschließt und beängstigt.

Täuschen wir uns nicht, vieles scheint noch lebendig, weil es leibhaft vor uns steht. Groß ist die Wacht, die im Schein des Sichtbaren liegt, tiefgewurzelt die gläubige Gewohnheit, hinter dem Sichtbaren das Unsichtbare vorauszusetzen. Nur mehr, unendlich mehr, wir selbst sind die Träger der abgestorbenen Zeit, wir selbst sind verhüllt von Kopf bis zu Füßen, sprechen und handeln im Charakter unserer Maske, bewußtlos wie die Menge, mit Bewußtsein, wie viele. Nur wenige haben die Aufrichtigkeit, mit dem Finger auf ihre Maske hinzudeuten, noch wenigere den Mut, sie sich und andern vom Antlitz zu reißen.

So steht es bei uns. Es ist eine drückende Zeit. Man ist unwohl in seiner eigenen Haut, und doch lügt man sich die Haut voll. Das Herz kann man sich nicht belügen. Die Zunge freilich ist ein furchtsames Glied, dem einen ist sie der Klöppel der ehernen Unverschämtheit, dem andern das Lämmerschwänzchen demütiger Ergebenheit. Auch die Wange ist kein treuer Spiegel der Seele mehr, sie wird eher rot oder blaß, wenn die Wahrheit, als wenn die Lüge zum Vorschein kommt. Aber das Herz kann man sich nicht belügen, schon das Auge nicht; täglich, stündlich können wir uns unsere moralischen, religiösen, politischen Lügen aus dem Auge herauslesen. Das ist der Fluch der Zeit, der auf einer Übergangsepoche [93] wie der unsrigen ruht, das ist der Schmerz, der die edelsten Geister durchdringt, der in so vielen Stunden die Hoffnung übertäubt und die Unruhe, die Zerrissenheit, den Zweifel erzeugt, Plagegeister der Menschheit, wenn sie nächtlich mit neuen Geburten schwanger geht.

Dennoch sollte die Hoffnung größer sein als die Furcht. Schon deswegen, weil die Furcht hemmt, die Hoffnung beflügelt, weil die Furcht Zweifel erregt, die Hoffnung sie zerstreut, weil die Furcht trennt und zerrüttet, die Hoffnung einigt und auferbaut, vor allen Dingen, weil die Furcht den Feinden Mut gibt, die Hoffnung aber ihnen denselben lähmt. Vergebens aber schminkt sich diese alte Zeit mit Hoffnungen, die Totenfarbe schimmert hindurch; vergebens sucht sie sich an das junge Leben anzuklammern, jeder Pulsschlag drängt sie weiter zurück.

Unsere Zeit gleicht der Zeit des Kaisers Julian, und sie gleicht ihr in so überraschenden Zügen, daß wir darin eine wunderbare Fügung des Schicksals erblicken müssen. Unserer Zeit ging vorauf die Revolution und Napoleon ihr Erbe, der Konduktor ihrer elektrischen Freiheitsschläge; dann kam die heilige Allianz, der Bund der alten Mächte gegen die neuen und es begann der Kampf zwischen dem alten und neuen Genius, überall, wo dieser aus dem webenden Dunkel hervortrat und Gestalt anzunehmen versuchte, glücklich oder unglücklich, bisher ohne Sieg, Niederlage und Abschluß. Auch der Zeit des Julian ging eine Revolution vorher, und Konstantin hieß der Kaiser, der die Klugheit hatte, sich an ihre Spitze [94] zu stellen und ihr Symbol, das Kreuz, auf die Standarten jener Legionen zu pflanzen, welche Christum gekreuzigt und Jerusalem zerstört hatten. Aber noch schwankte der Sieg, denn die Institute des Heidentums waren zu massiv und das Christentum war nur noch ein reiner Spiritus, ein überirdischer Pilger, der ohne Schimmer und Prunk einherging und sein zweischneidiges Schwert unter dem Mantel der Armut und Demut verbarg. Julian versammelte die bisherigen Götter der Welt zu einer »heiligen Allianz« gegen den neuen Gott und sprach den Bann über ihn aus. Er ließ seine Trabanten das Kreuz umstoßen, seine Philosophen das Kreuz lächerlich machen und ein zeitgemäßeres Heidentum fabrizieren; aber umsonst. Die Götter sahen aus toten Augen, die Speere zerbrachen wie Glas und die Philosophie sah sich genötigt, ihre Ohnmacht und Unfruchtbarkeit zu bekennen. Die neue Weltanschauung behielt den Sieg.

Drum soll die Hoffnung größer sein als die Furcht, denn unsere Zeit gleicht der Zeit des Julian.

Sie gleicht ihr – bis auf einen Zug –, denn nichts wiederholt sich vollkommen in der Weltgeschichte. Erkläre ich, was ich meine. Über das neue Leben, das Julian zu verdrängen, zu vernichten trachtete, war schon damals und gleich vom Ursprung an, die Formel der Bedeutung ausgesprochen, einer hatte es offenbart, zwölf hatten es der Welt verkündigt und Tausende und Millionen schwuren auf das Wort, das Mensch geworden war. Welche Lippe hat aber das Wort ausgesprochen, worin sich der neue Geist inkarnieren will, wo ist [95] der Messias, wo sind die Apostel, wo sind die gemeinsamen Symbole dieses Geistes? Es ist wahr, er weht durch die ganze Welt und wir hören sein Brausen, aber wissen wir auch, woher er kommt, wohin er geht? Es ist wahr, wir reißen uns allmählich aus der Umarmung des starrgewordenen Lebens los, wir fühlen uns mit Geist und Sinnen in eine neue Strömung versetzt, die uns unaufhaltsam mit sich fortreißt, wir sehen neue Sterne vor unserm Blicke aufgehen, aber wissen wir auch, welchen Ufern die Welle uns zutreibt? Prophetisch ist jede Zeile, die gedruckt, jedes Wort, das gesprochen, jede Tat, die vollführt wird, aber messianisch keine. Sollen wir, wie die Juden, den Messias erwarten, als eine Person, oder sollen wir einer innern Ahnung Glauben schenken, die uns zuflüstert, vorüber sind die messianischen Zeiten, wo die Offenbarung ausging von einem einzigen, die Zeit selbst ist forthin der gebenedeite Schoß der Jungfrau, der vom Geist befruchtet wird, und das ist die Erfüllung der alten Weissagung von einer Zeit, wo alle Jünglinge und Jungfrauen sich dem Zuge der Begeisterung überlassen?

Wie dem auch ist, so unbezeugt hat sich die Zukunft nicht gelassen, so unsicher, verwirrt und schwach sind nicht die Äußerungen des neuen Geistes bisher gewesen, um jeden divinatorischen Vergleich, die Elemente und Grundzüge der werdenden Weltanschauung ahnungsvoll aufzufassen, schon a priori zu einem nichtigen zu machen. Es ist hingegen Pflicht, sein Bewußtsein zu schärfen und das Ziel ins Auge zu fassen, um nicht die Kraft, wie es so oft [96] geschieht, in unnützen Bestrebungen zu verzehren nach einem Ziel, das uns nicht im Angesicht, sondern im Rücken liegt.

Sieh auf die Zeit, betrachte die nächste Vergangenheit, erforsche die Gegenwart und beachte, was sich im kleinen und großen lebendig regt und den Progressus der Geschichte bildet, beachte vor allen Dingen die Phänomene deines eigenen Geistes, schwärme nicht, aber sei noch weniger stumpfsinnig, reibe dir nur die Augen aus und sieh, was in dir und um dich vorgeht. Dann denke an die längst vergangenen Zeiten, an die Welt vor einem Halbtausend von Jahren, an die Menschen und die Erscheinungen, welche jene Zeit hervorrief, und vergleiche sie mit den Menschen und Erscheinungen in der Gegenwart; tritt dir dann nicht der schlagendste Kontrast entgegen, magst du dann noch glauben oder hoffen, jene Zeit könne sich auf eine Art, durch eine Art nur wieder erneuern, so sei überzeugt, du bist ein Nachtwandler unter den Lebendigen und kannst als Poet die schönsten Träume haben und als Prediger die feurigsten Reden halten, als Politiker die feinsten Staatspläne spinnen, aber du kannst es auch zum Heil der Welt ebenso gut lassen, denn dein Traum entzückt nicht, deine Rede bekehrt nicht, dein Gespinnst hält nicht, du bist der Zeit verfallen, die Geschichte kennt dich nicht, und wenn du dem Lebendigen und Wachen über den Weg kommst, so wirst du beiseite geschoben.

Kaum aber läßt sich erwarten, daß ein aufrichtiger und unparteilicher Zuschauer der Weltbegebenheiten, ein Prüfer seines eigenen Herzens [97] die mächtige Scheidewand verkennen wird, die unwiderruflich zwischen uns und der alten Zeit niedergefallen ist. Schon vor 400 Jahren begann die Bildung der neueren Zeit, und ein Deutscher war es, der den ersten Grundstein dazu legte. Die Erfindung der Buchdruckerkunst durch Faust hat die geistige Kastenordnung in der europäischen Welt zuerst gebrochen, und indem sie eine unbeschränkte Gemeinschaft der Geister einführte, die Schranken umgestürzt, welche der Despotismus des Staats und der Wissenschaft um sich erbaut. Eine unendliche Masse von Licht hat sich über Europa ausgegossen und Luther Flammen aus Licht gezaubert und verzehrend die alten Heiligtümer angetastet. Der Sohn dieses Lichts und dieser Flamme, der Verstand, er rang die Herrschaft und hat sie von Tage zu Tage mehr ausgebreitet. Man legte Bänder um ihn her, aber er schlüpfte hindurch wie eine Sylphe, man wollte ihn gewaltsam greisen und halten, aber er zerrann in den Händen seiner Feinde und spottete ihres nichtigen Beginnens. Er war es auch, der die Riegel wegschob vor der eingekerkerten Sinnlichkeit, und nun im Verein mit der sinnlichen Kraft offen die Spitze bot und die französische Revolution zustande brachte.

Verstand und Sinnlichkeit habe ich schon in voriger Stunde als diejenigen Kräfte gedacht, welche die entschiedenste Richtung gegen die Anschauungsweise der alten Zeit eingeschlagen. Unzweifelhaft sind es diese beiden Elemente, auf deren harmonischer Vereinigung die Form der neuen Anschauungsweise beruhen wird. Historisch denkreich ist [98] es wieder, daß unser protestierendes Deutschland auch der geistige Herd war, wo der zurückgedrängte Funke des sinnlichen Lebens zuerst aus der Asche der Schulweisheit aufblitzte. Nicht nur poetische, sondern historische Bedeutsamkeit hat die Sage vom Faustus, der seine Bücher an die Wand wirst und im Ueberdruß nichtiger Weisheit sich in das bunte Leben stürzt, um sein verwelktes Herz wieder mit den Strömen der Liebe und des Hasses aufzufrischen. Daß diese deutsche Volkssage mit der Erfindung der Buchdruckerkunst koinzidiert, ja, daß sie sogar den Erfinder uns als Faustus vorstellt, ist tief und charakteristisch. Kein Dichter hat die ganze Tiefe dieses ernsthaften Märchens so geistreich nachempfunden, als der große Goethe, der im Faust niemand anders, als sich selbst und den Drang der neuen Zeit geschildert hat. Freilich stammt das Märchen noch aus einer Zeit, wo: das Recht des Sinnlichen geltend zu machen gegen die Anmaßungen des Spiritualismus, als ein schwarzes Verbrechen erschien, woher denn auch der Faustus nach der Sage von Gott abfällt und einen Bund mit dem Bösen schließt – einen volkstümlichen Zug, den Goethe als Dichter wieder aufzunehmen nicht versäumte.

Das hat, sagt ein bekannter Schriftsteller, das hat nun das deutsche Volk längst geahnt, daß die Menschen nicht bloß zu einem himmlischen, sondern auch zu einem irdischen Glück berufen sind; denn das deutsche Volk ist selbst jener gelehrte Doktor Faust, der nach materiellen Genüssen verlangt und dem Fleische seine Rechte wiedergibt – doch noch [99] befangen in der katholischen Symbolik, wo Gott als der Repräsentant des Geistes und der Teufel als der Repräsentant des Fleisches gilt, bezeichnete man jene Rehabilitation des Fleisches als einen Abfall von Gott, als ein Bündnis mit dem Teufel.

Jener brennende Glaube, jene Kasteiung des Fleisches, jener heroische Sinn, der sich selbst und sein Liebstes opfert um der Liebe Gottes willen, war die Seele des Mittelalters. Glaube ist aber der kindlich unschuldige Sinn, die einfältige Hingebung an die äußere Autorität.

Nie wird die Liebe aus der Welt gehen, wie der Heroismus, wie der Glaube, daß in Gott alle Dinge leben, weben und sind. Aber eben darum, und weil noch immer in der zertrümmerten Welt Heroismus, Glaube und Liebe die Wache halten, gibt es eine neue Geschichte, gibt es Märtyrer der Freiheit und des Glaubens, gibt es Enthusiasten und Opfer, gibt es Hochgefühle in unserer Brust, die erhabener und reiner sind als die, welche der verwitterte Glaube und die erkaltete, Liebe der Vorzeit zu erregen imstande sind.

Fürchtet nicht, daß der Verstand der neuen Zeit alles Heilige zum Gespötte, alle Ahnung zum Kindertraum, alles Schöne zum Bedürftigen herabwürdigen wird. Wohl ist der Verstand ein Handelsherr, Maschinenmeister, Konstitutionsschmieder, und an sich mehr Feind als Freund des Gemüts und des Poetisch sinnlichen Lebens. Aber ihm gegenüber macht sich geltend ein poetischer Sinn, der in der Kraft der Jugend wurzelt, der dem Verstande allerdings dankbar ist für die in [100] der Befreiungssache geleistete Hülfe, keineswegs aber gesonnen, sich von ihm als einem neuen Despoten unter ein neues Joch spannen zu lassen. Fürchtet auch nicht, daß diese üppige Jugend aus ihren felsigen Ufern hervortreten und die Blüten des Geistes, die sie selbst hervorgerufen und befruchtet, überschwemme und zerstöre. Sie ist ja eben die Poesie und das Leben selber und alle edlen und großen Leidenschaften, und die schöpferische Kraft der Geschichte fließt aus ihrem Blut und Nervengeiste. Sie ist das bewegende Prinzip und nimmt alle Keime der Bildung auf in ihrem Schöße, wie man es sieht an jenem Mittelalter, an der Jugend unserer Nation, welche die schönen und herrlichen Erscheinungen des Christentums, (wie wirkte dasselbe im greisen Orient?) erst möglich und wirklich machte.

Behauptung der Rechte des Verstandes und des sinnkräftigen Gemüts, darauf drängt der Geist der neuen Zeit. Über unserer Asche wird sich ein neues europäisches Griechentum erheben, angemessen dem geistigen Fortschritt, den das Christentum vorbereitet hat. Nur zweimal hat der Erdball, die Erscheinung erlebt, daß Menschen in sinnlichgeistiger Eintracht organische Monaden bildeten und ein Leben der Frische und Gesundheit führten. Von dem einen berichtet uns die Sage des Paradieses, von dem andern die Geschichte Griechenlands. Indien vernichtete das Sinnliche, Palästina überhob das Geistige, zwischen beiden blühte Griechenland wie zwischen zwei Abgründen, deren bodenlose Tiefe es ahnungslos mit Rosen und[101] Lorbeeren überstreute. Aber die Menschheit mußte hinüber und dem germanischen Stamm war es vorbehalten, in die tiefste Tiefe hinabzuschauen und selig den zu Preisen, »der lebt im rosigen Licht«. Dem germanisierten Europa bleibt die dritte Entwicklungsstufe der Menschheit vorbehalten, in der das Sinnliche durchgeistigter wie bei den Griechen das Geistige durchsinnlichter wie bei den Christen zur Erscheinung kommt. So gleicht das Menschengeschlecht in seiner geschichtlichen Entwicklung einem wahren Organismus, einer erhabenen Pflanze, die von Zeit zu Zeit in neue Knoten anschießt, sich zusammenschließt, um sich desto kräftiger wieder zu entfalten.

9. Vorlesung

[102] Neunte Vorlesung.

Wir haben uns in die Weltanschauung der Indier, der Griechen, des christkatholischen Mittelalters versetzt, und gesehen, wie eine nach der andern mit Leben, Kunst und Dichtung ihren Kreis in der Zeit beschloß und einem unabänderlichen Schicksal anheimfiel. Dadurch bestätigte sich uns die aufgestellte Ansicht, daß die Ästhetik, wenn irgend etwas eine geschichtlich geschlossene Disziplin ist und als solche einem viel höhern, aber zugleich auch beschränkteren Standpunkt angehört, als man ihr gewöhnlich einräumt, nämlich dem Standpunkt der jedesmaligen Weltanschauung selber. In diesem Sinne ist freilich keine Ästhetik der Indier, der Griechen, des Mittelalters vorhanden, wenn wir unter diesem Namen den ganzen heutigen Umfang ästhetischer Gesetze und Urteile begreifen, allein teils ist diese Art wissenschaftlicher Vollständigkeit überhaupt mehr eine Erscheinung der neueren Zeiten, worauf es das Altertum nicht ablegte, teils besitzen wir in den Gedichten, Philosophemen und[103] Kunstwerken der Indier, der Griechen, des Mittelalters die lebendigste Ästhetik jener Zeiten und Völker, um so lebendiger, da sie aus dem Leben selbst geschöpft ist.

Von Geschmack und Ungeschmack kann auf diesem Standpunkt nicht die Rede sein. Die absurdesten Extravaganzen der indischen Phantasie, ein Fluß, die Ganga, die vom Himmel herabfällt, und sich in dem wulstigen Haupthaar eines Gottes verstrickt, ein Gott mit Elephantenrüssel u. dergl. sind für die Anschauungsweise des indischen Ästhetikers ebenso mustergültige Bilder und Vorstellungen, wie nur irgend ein Bild und eine Vorstellung aus dem griechischen und christkatholischen Anschauungskreise, wie z.B. die Venus Anadiomene, die sich aus dem Schaum der Wellen erhebt, oder die weiße heilige Taube, die bei der Taufhandlung Christi über den Wassern des Jordan flattert. Entweder man hat den Geschmack, oder man hat ihn nicht, das ist alles, was sich sagen läßt; denn dies heißt dann weiter nichts, als daß man entweder als Indier, oder als Grieche, oder als Christ die Welt und ihre Erscheinungen auffaßt. So geschieht es allerdings oft, daß dem christlichen Auge mißfällig und unschön vorkommt, was dem griechischen schön und gefällig, was beiden vielleicht übereinstimmend schön, dem indischen Auge als das gerade Gegenteil, oder umgekehrt, daß, was den Indier entzückt, dem Griechen und Christen ein Abscheu und Gräuel ist.

Alle diese verschiedenen Geschmacksurteile sind keineswegs willkürlich und zufällig, nicht etwa nur aus augenblicklicher Laune gefällt, oder aus [104] individueller Mißbildung der Organe hervorgegangen; sondern man muß sie betrachten als direkte, gesetzmäßige Ausflüsse aus der Grundquelle ästhetischer Urteile, als volkstümliche Formen, die nach dem Urtypus der jedesmaligen Weltanschauung ausgeprägt sind.

Solche Gesetze und Formen mußte die Ästhetik, wie schon bemerkt, nach dem wissenschaftlichen Bedürfnisse unserer Zeit, in möglichster Vollständigkeit enthalten, und dies ist eine Aufgabe, welche die Reflexion des Ästhetikers ohne Schwierigkeit zur Lösung bringen kann, sobald sein Leben in eine Zeit fällt, der eine eigentümliche, alles durchdringende Weltanschauung zuteil geworden, sobald sein Leben einer Menschheit angehört, die mit ihm und mit sich selbst sympathisiert und gleichsam aus einem Zeuge gewebt ist. Da denke ich mir den Ästhetiker, wie er zunächst aus dem tausendfältig Gegebenen, vermöge eines Aktes poetisch divinierender Abstraktion, die einfache Formel des ästhetischen Bewußtseins oder, was dasselbe, der zeitig lebendigen Weltanschauung aufsucht. Hat sich ihm diese ahnungsvoll erschlossen, so mag er sie im Eingang seines Werkes aussprechen, als eine Definition der Schönheit, womit auch die modernen Ästhetiker den Anfang zu machen pflegen, und daß in ihrer geschichtlosen und toten Weise der Begriff der Schönheit zur allgemeinen Abstraktion wird, während sie bei jenem eine konkrete Innigkeit gewinnt, da er sie aus den schönsten Blüten der Gegenwart selbst ausgesogen und eingeatmet hat. So mochte z.B. der indische Ästhetiker [105] auftreten und sagen, die Schönheit oder das, was gefällt, ist der Über- oder Untergang des Wirklichen und Natürlichen in Brahm, das hieße bei uns, in das Nichts; der Grieche, die Schönheit oder das, was gefällt, ist die göttliche Idee der Einheit im Mannigfaltigen und Wirklichen, welche verklärt zur Erscheinung kommt; eine Absorption des Geistigen durch das Sinnliche; der Christ, die Schönheit oder das, was gefällt, ist der Sieg des Unsichtbaren über das Sichtbare, des Himmlischen über das Irdische die Absorption des Sinnlichen durch das Geistige, oder wie jeder von diesen Supponierten das eigentümlichste seiner ästhetischen Grundanschauung aussprechen mochte.

Nach diesem denke ich mir den Ästhetiker, wie er den Begriff der Kunst entwickelt und zwar nach dem weitesten Umfang, in dem nicht nur die Poesie und die bekannten Künste eingehen, sondern auch und vorzüglich die größte und erhabenste Kunst, die Kunst, sein inneres und äußeres Leben als einzelner, als Glied der Familie, als Glied des Staats, als Glied der Menschheit zu gestalten, die Kunst also, die sich unser Sittliches und Sinnliches selbst zum Stoffe auswählt, um an ihm die Schönheit zu betätigen. Hierauf hat er auf eine Reihe von Kunstlehren sich einzulassen und in jeder besonderen darauf sein Hauptaugenmerk zu richten, daß das ursprüngliche Gesetz, die Grundanschauung seiner Zeit und seiner Ästhetik durch nichts Fremdartiges verdunkelt werde, sondern möglichst klar und individuell heraustrete und seine Rechtfertigung in sich selber und im [106] ganzen finde. Da aber der Ästhetiker nicht eigentlich Gesetze gibt, sondern nur zurückgibt, sie nur entdeckt und nicht erfindet, kurz, da sie zu den geschichtlichen Wissenschaften gehört, so wird ihm die kritische Betrachtung vorhandener Kunstwerke, des Lebens, der Sitten, der Zeitdichtungen und überhaupt der Produkte des Genies, den Beschluß jener Kunstlehren bilden, wie sie in der Tat auch ihren Anfang erst möglich machten.

Dieses ist in kurzen Zügen das Bild eines. Ästhetikers und einer Ästhetik, wie es mir vorschwebt, vorschwebt, ohne daß ich die entfernteste Möglichkeit sähe, wie es ein sterblicher Mensch heutzutage realisieren könnte, weil Leben, Sitten, Künste, Dichtungen in einem widrigen Zwielicht stehen, wie alles Charakteristische total untergegangen ist, weil noch die Zeit ihren Geist sucht, der ihr abhanden gekommen ist wie Peter Schlemihl seinen Schatten, und weil das, was man vorläufig Zeitgeist nennt, bisher nur mehr negative als positive Lebensäußerung von sich gegeben hat.

Was man bisher deutsche Ästhetik nannte, war ein unästhetisches Gemengsel sogenannter ästhetischer Gesetze und Formen, woraus die Dichter des Ramanja und Mahabarat, wonach Firdusi und Sophokles, wonach Pindar und Horaz, Calderon, Shakespeare und Goethe, jeder etwas und alle nichts hätten schöpfen können. So war auch die Zeit zusammengemischt aus allen möglichen Elementen, und man möchte die größten Dichter derselben poetische Kamäleons nennen, die bald im reichen orientalischen Talar, bald im spanischen [107] Mantel, bald als eiserne Ritter in Helm und Panzer, bald als Moderne im Pariser Frack auftraten und die Poesie fremder Völker und Zeiten auf die täuschendste Weise nachzuahmen verstanden; dadurch ward die Poesie allerdings immer poetischer, und die Zahl der Poeten in einem Poeten nahm mit den Jahren immer zu; allein auf der andern Seite ward das Leben immer prosaischer, immer fader, immer mehr platt wirklich. Die nationale Quelle der Poesie war vertrocknet, und hätten die Poeten auch das poetische Weltmeer ausgeschöpft und den Strom aller himmlischen und irdischen Poesien über die schmachtende Gegenwart ergossen, sie wäre darob um nichts poetischer und blühender geworden, als sie war. Eben dieser Zeitraum, den wirklich geniale und große Dichter, wie Schiller und Goethe verherrlichten, liefert uns den schlagendsten Beweis, daß die Poesie und alles Schönste immer und ewig ein Fremdling bleibt, wenn es aus der Fremde kommt und nicht geboren und aufgewachsen mit den Kindern der Heimat. Und die Poesie unserer Dichter war das Mädchen aus der Fremde, wovon Schiller singt, die erscheint, man weiß nicht woher, und spurlos verschwindet, wenn sie Abschied nimmt. So kam die Poesie zu den Deutschen, so lasen sie Schillers und Goethes Gedichte, so sahen sie den Tell auf der Bühne, und wenn die Poesie wieder weggegangen war, so war ihre Spur verloren und des Philisteriums breite, ausgetretene Fußstapfen wurden betreten, nach wie vor.

Gegenwärtig ist es freilich anders. Nicht, daß [108] wir schöner lebten; doch fühlen wir allmählich Sehnsucht danach, und es fängt uns an zu dämmern von einer Poesie des Lebens, die aller Kunstpoesie Mutter ist und zwar mater, filia pulchrior. Die großen Dichter sind tot und wir grämen uns nicht so sehr darüber, überall sind wir mehr gleichgültig gegen Kunst und Poesie geworden, in dem Verstand, worin beide bisher gepflegt, auch das nenne ich ein gutes Zeichen, auch dieses, daß die sogenannte Prosa, die ungebundene Rede wirklich ungebundener und poetischer zu strömen anfängt, als bisher, wo die Prosa eben den von den Stricken der Philister gebundenen Simson vorstellte und die sogenannte gebundene Rede, die Poesie, schrankenlos umherschwärmte.

Unsere Dichter sind prosaischer geworden, unsere Prosaiker aber poetischer, und das ist ein bedeutsamer Wechsel, ein Wechsel, der zu den erfreulichen Zeichen und Erscheinungen der Zeit gehört, weil Prosa unsere gewöhnliche Sprache und gleichsam unser tägliches Brot ist, weil unsere Landstände in Prosa sprechen, weil wir unsere Person und Rechte nachdrücklicher in Prosa verteidigen können, als in Versen.

Doch ist dem Ästhetiker mit alledem nicht viel geholfen; die Stagnation des Lebens ist noch zu allgemein und vorherrschend, und das grüne, trübschmutzige Wasser ist kaum trinkbar für einen Mülleresel, geschweige für das geflügelte Roß, das seinen Durst in der klaren Flut der Hippokrene stillen will.

Also, es gibt keine Ästhetik im angegebenen Sinn, es kann keine echte Ästhetik geben, wer sie [109] schriebe, müßte vorher (neue Religion, eine neue Moral) eine neue Kunst, ein neues Leben herbeischaffen. Weder in München, noch in Berlin wird sie ein Professor lesen, alle Gemälde, Bildsäulen und geschnittene Steine der Könige von Preußen und Bayern reichen nicht aus, um einen Paragraphen der Ästhetik zu füllen, die der neuen Geschichte, ich meine, der Zukunft angehört. Ist doch selbst jene sogenannte neue Kunst- und Malerschule an beiden genannten Orten nur die Schule einer Schule, nur ein Anfang zur Wiederholung von Kunstideen und Kunstformen, die, wie alles, ihre Zeit gehabt haben.

Indem ich dies Geständnis, das ich schon in der er sten Stunde ablegte, wiederhole, nachdem mir alles bisherige zur Erläuterung und Argumentation desselben gedient hat, schreite ich zur Beantwortung der Frage, was denn, da die Ästhetik gegenwärtig ihrer Aufgabe, eine lebendig geschichtliche zu sein, durchaus nicht entsprechen kann, von Ästhetik noch bleibt.

Zunächst wird jeder gleich sehen, daß uns hier ein reicher Spielraum für individuelle Ansichten aufnimmt, und daß jeder heutige Ästhetiker sich in den Fall versetzt findet, mit hinlänglicher Willkür den alten Weg zu verfolgen und aus dem Chaos untergegangener Schönheiten beliebig dies und jenes auszuwählen, bald mehr die klassischen, bald mehr die romantischen zu begünstigen, bald mehr die Kunst, bald mehr die Poesie in sein Gebiet hereinzuziehen, oder auch den rhetorischen Schönheiten das Uebergewicht zu verstatten.

[110] Aus diesem Wirrwarr ist wirklich das, was wir heutigen Tages Ästhetik nennen, entsprungen. Man ist ausgegangen, sagt Herbart, von der Tatsache, daß über Sachen des Geschmacks verschieden geurteilt wird; man wünscht aber zu einer sicheren Entscheidung zu kommen, und nun betrachtet und behandelt man die Ästhetik als eine der vorhandenen unsicheren Beurteilung des Schönen in der Natur und Kunstvorgeschobene und zum Dienst derselben bestimmte Wissenschaft. Sehr richtig. Jeder abstrahierte nun die Gesetze des guten Geschmacks (ein Wort, das den Alten natürlicherweise nicht bekannt war, da ihr Schönheitssinn nicht allein guten Geschmack an Artistik und Poeterei, sondern auch am Leben bezeichnete, mit dem unser guter Geschmack gar nichts zu schaffen hat, jeder, sage ich, abstrahierte die Gesetze des guten Geschmacks aus den ihm bekannten Poeten und Künstlern. Da nun das vorige Jahrhundert die Livree von Ludwig XIV. trug, so war man anfangs ziemlich einig über die echten Muster der Poesie und Kunst, und daher auch über die Kunsterzeugnisse, welche bei der Abfassung jener steifzierlichen, französisch antiken Meisterwerke zur Richtschnur dienen sollten.

In Deutschland wurde solche Kritik des Geschmacks Ästhetik, und nur etwas langweiliger, gelehrter, philosophischer unter diesem Namen auf den Universitäten doziert. Das durch Winckelmann wieder aufblühende Studium der Antike, die Bekanntschaft mit Shakespeare, mit Kalderon und anderen ausländischen Dichtern, mit dem romantischen Mittelalter, mit Indien und Persien zuletzt, [111] alles dieses, was zur neueren Geschmacksbildung, das heißt, zur neueren Geschmacksverwirrung gehört, bereicherte und verwirrte auch die Ästhetik. Bouterwek, die Schlegel, gaben den Leuten, die ihren Geschmack bilden wollten, die halbe Welt durchzuschmecken, woraus aber mehr Ekel als Genuß und Bildung hervorging, und wovon allmählich Widerwille gegen alles Ästhetische die natürliche Folge war.

Beantworte ich also die Frage, was uns gegenwärtig als Ästhetik noch bleibt, damit, daß ich sage: die alte Ästhetik für die, die ihrer noch nicht überdrüssig geworden sind, für die anderen aber, das leise ästhetische Gefühl, das im Schoß der Zeit sich regt, das prophetische Gefühl einer neu beginnenden Weltanschauung, das sich von Tage zu Tage bewußter und deutlicher wird, die Einleitung zur künftigen Ästhetik.

Als eine solche, meine Herren, mögen Sie auch die gegenwärtigen Vorlesungen betrachten. Was uns betrifft, so könnte uns schon deswegen die gewöhnliche Ästhetik nicht genießlich sein, da wir im Norden aller künstlerischen Bildung ermangeln, da es am hiesigen Ort weder Gemäldesammlungen, noch Gipsabdrücke, noch Daktiliotheken gibt, da ich auch auf keine Anschauungen der Art hinweisen, noch mich auf frühere berufen könnte. Hören Sie also den Plan, den ich in der Zukunft befolgen werde. Was den Stoff betrifft, so müssen wir uns, einige Allgemeinheiten abgerechnet, allerdings beschränken auf Poetik und Rhetorik, was den Geist und die Darstellung betrifft, [112] hoffe ich Sie aber an die unfruchtbare Pedanterie früherer Behandlungen, so wenig als möglich zu erinnern, indem es meine Aufgabe sein wird, sowohl Poesie als Prosa im Zusammenhang mit den Richtungen der Zeit aufzufassen und Sie das Gesetz der Schönheit, das über beiden gemeinschaftlich waltet, als das Gesetz der werdenden Weltanschauung ahnen zu lassen. Meine Bemerkungen werden sich anreihen an die Werke einiger neuerer Schriftsteller, an Byron und Goethe in poetischer, an Heinrich Heine in prosaisch stilistischer Beziehung. Die Prosa wird vor allen Dingen unser Augenmerk sein, und ich hoffe, Sie selbst in den letzten Stunden zu praktischen Übungen zu bewegen. Die Prosa ist eine Waffe jetzt, und man muß sie schärfen; dies allein schon wäre ein erfreuliches Resultat unseres Zusammentreffens.

10. Vorlesung

[113] Zehnte Vorlesung.

Haben wir die ästhetische Weltanschauung als eine Offenbarung der Geschichte angesprochen, unserer Zeit aber eine solche abgesprochen, so müssen wir dessenungeachtet das Zugeständnis machen, daß das ästhetische Gefühl auch zu unserer Zeit Ansprüche mache, Urteile fälle, zu Handlungen reize, Befriedigung suche. Wir schreiben uns einen Geschmack zu, um eine schöne Tat von einer häßlichen zu unterscheiden, um eine Sudelei nicht mit einem Meisterwerk zu verwechseln; und sind wir selbst die Handelnden und die Künstler, so trachten wir bei unsern Handlungen und Produktionen sowohl nach eigenem als nach fremdem Beifall und suchen das Mißfallende nach Kräften zu vermeiden. Was also unterscheidet uns und unsere Zeit von solchen Menschen und Zeiten, die sich einer gemeinsamen Weltanschauung zu rühmen haben? Nach dem bisherigen und Ihrem eigenen Gefühl ist die Antwort: der Mangel an Einheit und daher der Mangel an Kraft und Sicherheit und daher der Mangel an Wahrheit. Wir sind im Handeln eben so unsicher [114] wie im Genießen, im Schaffen eben so schwankend wie im Beurteilen, Kopf stößt sich an Kopf, Gefühl an Gefühl, es ist eine Welt von Dissonanzen, die ihren Generalbaß erst von der Zukunft er wartet.

Was ist schön? Was nennt man heutzutage unisono eine schöne Tat? Denken Sie an den Aufstand der Polen! – Daß vor vielen Jahrhunderten die Schweizer sich von Österreich losrissen, daß Tell den Geßler erschoß, daß Winkelried der Freiheit eine Mauer war und die feindlichen Lanzen in seine eigene Brust schob, das finden wir allerdings unisono schön, und es ist jedem Deutschen sowohl polizeilich als ästhetisch erlaubt, darüber in gelinden Enthusiasmus zu geraten. Allein, daß ein schändlich zerstücktes und unterdrücktes Volk vor unsern Augen die Eisdecke der Tyrannei in die Luft sprengt, daß es eine Nacht gab, wo wir ruhig in unseren Betten schliefen und Gott weiß von welcher Oper träumten, eine Nacht, wo eine Handvoll kühner Jünglinge den Palast zu Warschau stürmten und nach der Flucht und dem Tode von wenig feilen Kreaturen einer Morgenröte zujauchzten, welche die gesprengten Ketten einer großen und edelmütigen Nation beleuchtete, dieses Ereignis und alle die glänzenden Taten und Opfer die es nach sich zog – fand es so allgemeinen Anklang, riß es so allgemein und wahrhaft die Gemüter hin, oder hörte man nicht, wo zwölf zusammenstanden, den einen verabscheuen, den anderen bewundern und zehn mit den Händen klatschen, als wohnten sie nur im Theater der Welt der Aufführung eines schönen Stückes bei.

[115] Ich führe eben dieses tragische, uns so naheliegende Beispiel an, um zu zeigen, was es für eine Bewandtnis habe mit unseren ästhetischen Gefühlen, wenn auch die glühendste Tatenschönheit sich vor unsern Blicken auftut. Hier sehen Sie eine Tat, von deren Schönheit man durchdrungen sein muß, wenn man einen Tropfen Römerblut, einen Hauch aus Timoleons Seele in sich spürt, wenn nicht alles Lüge und Schulgeschwätz ist, was wir der alten Geschichte nachrühmen, der kontrastierenden Beurteilung anheimfallen, nach den Extremen der Bewunderung und des Abscheus hingetrieben und bei der Menge entweder dumpfes Staunen, stupides Ergötzen, oder eine Art von künstlerischem, dramatisch-theatralischem Wohlgefallen erregend. Ein solches Schicksal, meine Herren, wird jede andere schöne Tat unter uns erleben: viele werden sie schön finden, nicht als Ereignis der Geschichte, nicht als sittliche Handlung, nicht als wiederbegeisternde Begeisterung schöner Seelen, sondern als ein schönes Natur- oder Kunstprodukt, dessen bequeme und ruhige Betrachtung wohl eine angenehme Wärme im Herzen verbreitet, aber eine Wärme, die für das Herz so flau und unschuldig ist wie eine Tasse Tee für den Magen; immer nur wenige wird es geben, denen die Tat aufs Herz schießt wie ein Blitz, entzündend, begeisternd, zu ähnlichen Taten beflügelnd, kurz, auf deren Gemüt die geschichtliche, lebendige Schönheit, wie es in ihrem ursprünglichen Wesen liegt, geschichtlich und lebendig wirksam ist.

[116] Leichter, werden Sie sagen, vereinigt man sich über die Schönheiten der Kunst und Dichtung. Sie haben recht, und das ist es auch eben, was dem Künstler und Dichter nicht allen Mut nimmt in dem Maß wie dem handelnden Menschen, das ist sogar die Ursache, weswegen der Ästhetiker, wenn er auch seiner Aufgabe nicht entsprechen kann, die Ästhetik nicht ganz fahren läßt. Lassen Sie ein Dichtergenie, gleich dem des Shakespeare, die Polenrevolution, den Kampf und Untergang der Freiheit, großartig poetisch in ruhiger Zeit auf die Bretter bringen, »welche nicht die Welt sind, sondern die Welt bedeuten« wie Schiller sagt, dann werden Sie hören, wie alle Urteile sich vereinigen, wie das Parterre klatscht, wie die Fähnriche sich in die Brust werfen, wie die Kritiker ihre Brillen wischen, welcher Enthusiasmus sich in den Logen verbreitet, und wie vielleicht selbst ein erstarrtes Amts-und Ministergesicht am Schluß des Stücks und der Freiheit Tränenwasser und einen Rest von Mitgefühl und Wehmut auf den Wangen hat.

Woher diese Erscheinung? Hat der Dichter Begeisterung und Schmerz der Tat erst hinzugedichtet, oder gehören sie nicht vielmehr der Tat an; hat der Dichter Erhabenes und Schönes aus seinem Hirn geboren, oder ist nicht bereits die Tat erhaben und schön, liegt alles, was so mächtig, rührt, nur darin, daß es in Versen ausgesprochen und in fünf Akte verteilt ist, oder hat die Poesie einen tieferen Grund, weswegen sie zum Herzen spricht? Ja, die Poesie hat einen tieferen Grund. [117] Die dramatische Poesie wäre gar keine ohne die Poesie der Tat, der Dichter ist kein Gott, der uns aus angeborenem Kraftvermögen neue Welten erschaffen könnte, er ist auch kein Taschenspieler, der durch Reim und Klang, durch eine rhythmische Abwechselung von sechs metrischen Füßen, allerhand Phantome der Lust und des Schmerzes, der Furcht und der Begeisterung in der Seele seiner Zuhörer aufregen könnte; der Dichter nimmt Stoff und Begeisterung aus der Tat, und die höchste Palme hat er errungen, wenn die Schönheit der Tat aus dem Leben in eine andere Welt, in die Kunstwelt, von ihm verpflanzt, sein Gedicht durchstrahlt und wieder vom Gedicht, wie ein Juwel in der Einfassung, neuen Glanz annimmt. So durchläuft die Schönheit einen doppelten Kreis und bringt zweifache Wirkung hervor, einmal im Leben als sittliche, poetische, historische, gesellschaftliche, das andere Mal in der Dichtung als künstlerische, dramatische, epische. In beiden Fällen wirkt sie ein ästhetisches Gefühl, aber im ersten mehr ein tätiges, im andern mehr ein leidendes, im ersten mehr ein unmittelbar, im zweiten ein mehr mittelbar rückwirkendes. So sollte, wollte ich sagen, die Schönheit einen doppelten Kreis durchlaufen und sowohl auf den Willen wie auf das Gefühl ihren zaubervollen Einfluß ausüben; allein wir gingen mit Recht davon aus, daß der Zauberstab der Schönheit, womit sie die Zuschauer und Hörer schöner, großer Taten, selbst wieder zu schöner und großer Tat bewegt, leider keine Macht über uns ausübt, und daß nur das Lustigere der Kunst unsere [118] Gemüter bewegt, und zur passiven Mitempfindung anreizt.

Über das Schöne in Kunst und Dichtung findet daher eine leidliche Verständigung in der Regel statt, auch teilen wir beim Anblick schöner Gemälde und Gedichte miteinander so ziemlich denselben Eindruck; allein im Gebiet des Tatsächlichen zerfallen die Meinungen und Gefühle, und hier, wo das Schöne unmittelbar aus der Quelle sprudelt, wo es vom göttlichen Atem noch gleichsam warm angehaucht ist, hier läßt es so viele kalt; hier wird es von so vielen verschmäht. Plato wollte keine Dichter in seine Republik aufnehmen, sondern nur handelnde Männer, unsere Gesetzgeber wollen keine Männer, nur Dichter im Staat, keine Taten, nur die Schatten derselben, keine anderen Schönheiten als gereimte und gemalte.

Ebendaher ist uns denn auch der Begriff der Schönheit so zusammengeschrumpft, daß der Name: ein schöner Geist, eben nur einen Belletristen von Fach andeutet, der Ausdruck einer schönen Tat uns an ein gegebenes Almosen und an alles eher, als an eine heroische Handlung erinnert; die schönen Wissenschaften und Künste aber mitsamt den Schönheiten der Natur, schönen Weibern, schönen Blumen den ganzen Inbegriff des Schönen ausfüllen.

Unsere Ästhetiker, wenn sie die Frage, was ist die Schönheit, aufwerfen, haben dabei fast nur die Proportionen des Gesichts und der menschlichen Gestalt vor Augen, und wenn sie diese besondere Schönheit in eine Definition gezwängt [119] haben, so glauben sie die Weihe der Ästhetik damit erteilt zu haben, noch dazu schlug der Gott der Schönheit die meisten mit Blindheit.

Übereinstimmung der Teile erklären viele als das Mysterium der Schönheit, wobei noch dazu die kläglichste Verirrung zur Einseitigkeit hinzutritt; denn die Teile eines Kamschadalen stimmen ebensogut überein wie die Teile eines Antinous, und überhaupt ist Proportion nichts weiter als Maß. Man kann alle Verhältnisse beobachten, jede Figur in so und so viel Kopflängen einteilen, ohne doch eine schöne Gestalt zustande zu bringen. Die Schönheit liegt auch da wieder in etwas, was in der Definition nicht liegt. Andere sprachen von der Angemessenheit jedes einzelnen Teils zum Zweck des Ganzen. Aber Polyphems großes Stirnauge ist ebensogut zum Sehen geschickt als Apolls, und so zweckmäßig auch und harmonisch mit dem ganzen Leibe die Stacheln eines Stachelschweins emporstarren, so wenig schön finden wir diesen Anblick. Der englische Maler Hogarth fand die Lineamente der Schönheit in der Wellenlinie, wonach denn auch das unförmlichste Ganze, die ödeste Seeküste mit den Spuren der Wellenlinie darin schön genannt werden müßte.

Fragt die Kröte, sagt Voltaire, was schön ist, oder einen Schwarzen von Guinea, oder einen Philosophen, – dieser allein wird euch mit einem Gallimathias antworten. Man kann Voltaire nur beistimmen. Selbst Platons Erklärung der Schönheit ist nur eine schöne Mythe, welche bei näherer Betrachtung das Wesen der Schönheit [120] eigentlich aufhebt. Sie erinnern sich, wo er von dem Entzücken spricht, worein jemand geraten würde, erschien ihm die Idee der Schönheit selbst in leicht verkörpertem Gewände. Allein dies Entzücken wird keinem Sterblichen zuteil werden, Platons Idee der Schönheit ist, bei Licht betrachtet, von jeder anderen abstrakten Idee durch nichts unterschieden, wir können die Schönheit nicht ablösen von den individuellen Organismen, in denen sitz zur Erscheinung kommt, die schöne Tat nicht vom Charakter des Menschen, der sie ausführt, die schöne Rosenknospe nicht von dem schlanken, grünen Stengel, worauf sie wächst, die schönen Augen, den bezaubernden Mund, die seine Nase nicht von dem Gesicht und das Gesicht nicht von dem Rumpfe des einzelnen Wesens getrennt und abgesondert denken, ohne uns überhaupt den Eindruck der Schönheit zu zerstören.

Es ist nicht meine Absicht, hier alle Definitionen der Schönheit zu beleuchten. Bemerke ich nur, daß gerade die tiefsinnigste auf dem Grundfehler beruhe, die Schönheit als ein ideelles Etwas, als eine einzige bestimmte Ursache für alle Wirkungen des Schönen zu betrachten. Allein mannigfaltig ist des Schönen Natur und viele Elemente gibt es, die das Schöne darstellen.

Doch halte ich es für wichtig, ehe ich Ihnen darüber meine Ideen mitteile, Sie vor der so gewöhnlichen Verwechselung des Schönen, sei es mit dem Nützlichen und Angenehmen, sei es mit dem Interessanten, zu warnen. Ganze philosophische Sekten, wie die stoische, haben das Schöne mit dem [121] Nützlichen verwechselt; alle Dialektik der Stoiker konnte den ästhetischen Sinn nicht ersetzen. Das Schöne befriedigt wie das Nützliche und Angenehme, allein das Schöne befriedigt, wie es gesucht wird, um seiner selbst willen, das Nützliche nur um eines andern willen, wozu es nütz ist, und, obwohl wir das Angenehme oft ohne weitere Nebenrücksichten begehren, und es also mit dem Gefallenden und Mißfallenden im nahen Verhältnis steht, so fehlt uns doch noch öfter der bestimmte Gegenstand dafür, und es schwebt nur als ein dunkles Gefühl in uns, ohne uns, wie das Schöne, als Gegenstand entgegenzutreten und sich der Beurteilung zu unterwerfen. Das Angenehme ergötzt sich mit augenblicklichen Gefühlen, die, sobald man sie aufklärt, in nichts zurücktreten und verschwinden, dagegen ist das Schöne, je länger man es betrachtet, je schärfer man seine Natur untersucht, desto lebendiger und nachhaltiger von Wirkung auf das Gefühl, so wie nur der Kenner der Kunst den vollsten Genuß vom Anschauen der Meisterwerke hat und dem Kenner der Musik tausend Fibern im Ohr berührt werden bei Anhörung eines wohlexerzierten Orchesters, gegen eine Fiber im Ohr des Unkundigen. Nur das Schöne, wenn man den Ausdruck genau nehmen will, nur das Schöne gefällt, nicht das Nützliche, nicht einmal das Angenehme, obwohl dieses auf unmerklichen Wegen sich zum Schönen steigern kann; besonders wenn es den Sinn des Gesichts affiziert, wie bei den Farben, als bloßen Pigmenten, oder bei einem Stück blauer Luft, oder grünem Rasen und dergleichen. [122] Doch ist der Sprachgebrauch hierin ziemlich lax, und obwohl niemand sagen wird, daß ihm der Zirkel gefällt, weil er rund ist, so wird mancher schon von dem Geruch einer Hyazinthe, als etwas, das ihm gefalle, sprechen können.

Das Interessante ist aber, was sich dem Schönen beigesellt, ohne selbst das Schöne zu sein. Gin Dichter, der es darauf anlegt, unsere Aufmerksamkeit auf mehrere Stunden in Anspruch zu nehmen, erreicht diesen Zweck selten nur mit bloßer Hilfe des Schönen, er muß unsere Aufmerksamkeit durch den Wechsel der Personen und Szenen, durch den Wechsel des Ernsten und Heitern, überhaupt durch Abwechselung zu unterstützen suchen, er muß für unsere Unterhaltung sorgen, wenn er uns das Schöne zu genießen gibt. So kann z.B. ein Trauerspiel von 24 Akten sehr schön sein, aber ich zweifle, daß es auch unterhaltend ist. Voltaire hat nicht unrecht, wenn er von den Gattungen der Dichtkunst sagt: jedes Genre ist gut, ausgenommen das langweilige.

11. Vorlesung

[123] Elfte Vorlesung.

Die Empfindung des Schönen, das Schöne selbst, haben wir völlig dem Kreis des Historisch-Subjektiven vindiziert. Allein wir dürfen nicht bei diesem Satze stehenbleiben; auch das Gute, auch das Wahre gehört in dieses Gebiet. Wer es leugnet, verkennt die Geschichte und den innigen Zusammenhang des Guten, Schönen und Wahren, wie er sich geschichtlich kundtut.

Wir haben den Punkt zu bezeichnen gesucht, der auf den verschiedenen Kulturstufen des Völkerlebens als der Mittelpunkt aller geistig-sinnlichen Tätigkeiten erschien, und in welchem alle individuellen Anschauungen sich in eine große epochenartige Weltanschauung konzentrierten. Nur eine Zeit, der gar keine gemeinsame Anschauungsweise zugrunde liegt, konnte scheiden, was Gott vereinigt hat, konnte mit dürren Schulbegriffen in der geheimnisvollen Werkstatt des Lebens operieren. So wenig in solcher Zeit die Theologie mit der Religion, so wenig hat die Moral mit der Sittlichkeit, mit der Anwendung auf das öffentliche und einzelne [124] Leben zu schaffen. Was man Moral nennt, wird ein totes Abstraktum von Pflichten- und Tugendlehre, die sich den Anstrich geben, absolut gültig zu sein und jedem Menschenkinde als apodiktische Richtschnur des Handelns zu dienen. Was man Ästhetik nennt, wird ein ähnliches Abstraktum von Schönheitslehren für alle Zeiten und Generationen von der absoluten Natur moralischer Nötigungen nur dadurch unterschieden, daß diese auf einem kategorischen Imperativ beruhe, jene aber, trotz ihrer anmaßlichen Allgemeinheit, der Wahl und Willkür weiteren Spielraum öffnen. Unter den Händen der Philosophen bekam die Ästhetik eine sehr untergeordnete Stellung, wie besonders im System des Heros der kritischen Philosophie. Während Kant die Erhabenheit der Pflicht, die Majestät des Gesetzes mit kräftigen und glänzenden Farben schilderte, stand ihm das Bewußtsein und das Gefühl des Schönen ein klein wenig über den tierischen Vorstellungskräften; das Schöne selbst ist ihm etwas Begriffloses, eine gewisse Form der Zweckmäßigkeit eines Gegenstandes, welche notwendigerweise gefällt, sofern sie ohne Vorstellung eines Zweckes wahrgenommen wird, eine Definition, die so einseitig als falsch ist, da die Zweckmäßigkeit, das ist das Treffen des Mittels zum Zweck, wie schon bemerkt, weder an sich die Schönheit ist, da es sehr viele zweckmäßig häßliche Erscheinungen gibt, noch überhaupt schön genannt werden kann, indem sie nur in dem Bedürftigen der Natur ihren Sitz hat. Betrachtet man mit physiologischen Augen das Innere des menschlichen Leibes, so erscheint uns [125] darin alles durch die Verhältnisse von Zweck und Mittel geordnet, was aber durchaus keine ästhetische Betrachtungsweise zuläßt. Zweck und Mittel sind dort in stetigem Übergang ineinander und zwar allerdings auf die künstlichste Weise, die auch nichts von der Willkür unserer Künsteleien hat, sondern die Notwendigkeit einer höheren Kunst. Allein alles dieses hat die Natur unseren Augen wohltätig verborgen, und wir drängen uns, um unsere Kenntnisse zu bereichern, in ihre innere Werkstätte. Nicht den Prozeß ihrer Tätigkeit, etwas viel Schöneres führt sie uns vor Augen, das Produkt derselben, in welchem alle ihre inneren Anstalten ihr Ziel erreicht haben, vollendet erscheinen, bei welchem man also gar nicht mehr von Mittel und Zweck als abgesonderten Gegenständen sprechen darf, sondern wo Mittel und Zweck ineinander aufgelöst und verflossen sind. Niemand hat dies scharfsinniger auseinandergesetzt als Solger im Ervin.

Moral und Ästhetik haben in Kants Philosophie nichts miteinander gemein; der Geschmack am Guten und der gute Geschmack sind sich durchaus fremd; es ist nicht bloß gut, das Gute zu empfinden in dem Sinn, wie es schön ist, das Schöne zu empfinden, nein, das Gute ist ein Muß, eine Pflicht, ein moralisches Gesetz, dem sich der Wille beugen und unterwerfen muß, ohne sich an der Güte und Schönheit der Tat zu erfreuen, ja, ein solches Wohlgefallen, das der Tat vorhergeht oder sie begleitet, ist verdächtig, denn Lust und Liebe sind trübe Quellen, und nur die steinernen Tafeln des Gesetzes bewahren die Welt vor dem Verfall der Sittlichkeit. [126] Denken Sie nur an eine Menge lyrischer Gedichte und insbesondere auch an die ästhetischen Abhandlungen des kantisierenden Schillers. Hier sehen Sie, wie das freie Spiel der Schönheit dem Ernst der moralischen Gesetzgebung gegenübergestellt, dort, wie die Lust mit der Pflicht in grausamem Kampfs dargestellt wird.

Solange noch Möglichkeit vorhanden ist, sagt unter anderen Schiller in seiner Abhandlung über die notwendigen Grenzen beim Gebrauch schöner Formen: solange noch Möglichkeit vorhanden ist, daß Neigung und Pflicht in demselben Objekt des Begehrens zusammentreffen, so kann diese Repräsentation des Sittengefühls durch das Schönheitsgefühl keinen positiven Schaden anrichten; obgleich, streng genommen, für die Moralität der einzelnen Handlungen dadurch nichts gewonnen wird. Aber der Fall verändert sich gar sehr, wenn Empfindung und Vernunft ein verschiedenes Interesse haben, wenn die Pflicht ein Betragen gebietet, das den Geschmack empört, oder wenn sich dieser zu einem Objekt hingezogen fühlt, das die Vernunft als moralische Richterin zu verwerfen gezwungen ist.

Jetzt nämlich tritt auf einmal die Notwendigkeit ein, die Ansprüche des moralischen und ästhetischen Sinns auseinanderzusetzen, ihre gegenseitigen Befugnisse zu bestimmen und den wahren Gewalthaber im Gemüt zu erfahren. Aber eine so ununterbrochene Repräsentation hat ihn in Vergessenheit gebracht und die lange Observanz, den Eingebungen des Geschmacks unmittelbar zu [127] gehorchen und sich dabei wohl zu befinden, müßte diesem unvermerkt den Schein eines Rechtes erwerben.

Und nun führt Schiller die Liebe an, die er unter allen Neigungen, die von dem Schönheitsgefühl abstammen, diejenige nennt, die sich dem moralischen Gefühl als ein veredelter Affekt vorzüglich empfehle und nachdem er erst eine dichterische Schilderung von ihr gegeben, daß sie göttliche Funken aus gemeinen Seelen schlage, daß sie jede eigennützige Neigung verzehre, durch ihre allmächtige Tatkraft Entschlüsse beschleunige, welche die bloße Pflicht den schwachen Sterblichen umsonst würde abgefordert haben, ruft er auf einmal aus: aber man wage es ja nicht mit diesem Führer, wenn man nicht schon vorher durch einen besseren gesichert ist, was, beiläufig zu sagen, so viel heißt, als: man liebe nicht ohne Kants kategorischen Imperativ.

Das Beispiel, das er nun anführt, mag uns zugleich diensam sein, die Natur des Irrtums über Pflicht und Schönheitssinn aufzudecken und uns auf die richtige Spur zu leiten.

Der Fall soll eintreten, sagt Schiller, daß der geliebte Gegenstand unglücklich ist, daß es von uns abhängt, ihn durch Aufopferung einiger moralischer Bedenklichkeiten glücklich zu machen. Sollen wir ihn leiden lassen, um ein reines Gewissen zu behalten. Erlaubt dieses der uneigennützige, großmütige, seinem Gegenstand ganz dahingegebene, alles vergessende Affekt? Heißt das lieben, wenn man beim Schmerz der Geliebten noch an [128] sich selbst denkt? So sophistisch, fährt er fort, weiß dieser Affekt die moralische Stimme in uns verächtlich zu machen und unsere sittliche Würde als ein Bestandstück unserer Glückseligkeit vorzustellen, das zu veräußern in unserer Macht steht.

Der Fall ist gut gewählt, doch schützt er nicht, um den Trugschluß der ganzen Ansicht, die Willkür philosophischer Lehrsätze eines Jahrhunderts hinter der Willkür eigener Natur zu verstecken.

Wir sehen hier einen Menschen, den die Liebe verführt, dem, was er für Pflicht hält, untreu zu werden oder vielmehr, der sich eine höhere Pflicht der Liebe erdichtet, um Pflichten der Menschheit zu übertreten. Seine Neigung war an sich eine edle, sie war entsprungen aus dem Schönheitsgefühl, hatte sich gesteigert zur Leidenschaft und drohte nur als solche der Sittlichkeit und dem Pflichtgefühl gefährlich zu wer den, sie war also in ihrem Laufe eine andere geworden, das Schönheitsgefühl, das eine zarte Neigung erzeugte, und sich mit dieser verschmolz, war getrübt worden durch heftige Leidenschaft, diese aber verbindet sich bekanntlich ebensooft mit der Liebe als mit dem Hasse, diese strebt ebensooft das Häßlichste als das Schönste an, diese, wie sie die Erzeugerin alles Großen in her Weltgeschichte ist, war auch die Mutter aller Gewalttaten und Greuel, die nicht vom kalten Blut und der vertrockneten Bosheit diktiert wurden. Nicht allein die Liebe, die auf dem Schönheitsgefühl beruht, hat ihre Leidenschaften, auch die Religion hat die ihrigen, und die liebevollste unter allen, die christliche, hat sich mit den furchtbarsten gesellt [129] und ist durch sie in die blindeste Befangenheit trauriger Irrtümer gestürzt. Ja noch mehr, selbst diese kalte Pflichtenlehre, welche das moralische Gesetz mit eiserner Rute über das Gewissen ihrer Untertanen walten läßt, selbst diese kann sich leidenschaftlich äußern, und es ist mir von einem Kantianer erzählt, der mit einer Art kaltphilosophischer Wut alle Blumen der Lust und Poesie aus seinem Herzen riß und nach den Trommel-und Taktschlägen des Kantischen Moralprinzips so eifrig, wie ein neuangeworbener Rekrut, auf dem Felde der Sittlichkeit sich einexerzierte. Können wir uns nicht an der Stelle des Schillerschen Beispiels ein anderes denken, wo gerade das zur höchsten Einseitigkeit ausgebildete sogenannte Pflichtgefühl in Kollision mit den schöneren Gewalten der Liebe, sei's nun durch Begehen oder Unterlassen, empörend und abscheulich wird? Versuchen wir ein solches; denken wir uns einen ängstlich gewissenhaften Pflichtmenschen, der sich ärgert, wenn es ihm einmal widerfährt, das Gute aus Lust zu tun und das Böse aus Widerwillen zu unterlassen, der sich aber glücklich schätzt, daß er es ziemlich so weit gebracht hat, entweder seine Neigungen zu töten oder trotz seinen Neigungen (natürlich auch seinen schönen und edlen Neigungen) nur auf die strengen Gebote dessen zu achten, was er Pflicht nennt. Denken Sie sich also einen Mann, der es nach Schillers obigem Ausspruch wagen kann, sich zu verlieben. Er liebt wirklich. Der Gegenstand seiner Liebe ist ein schönes und edles Mädchen, lange geht es glücklich, lange teilt er die Neigungen der Liebe mit Pflichten der [130] Moral, bis ihn die Voraussicht eines möglichen, ja wahrscheinlichen Kollisionsfalles unruhig und ängstlich macht und die bloße Furcht, in diesem Kampfe der Liebe mehr als der Pflicht zu gehorchen, das Gebot einer Pflicht annimmt, die ihm anbefiehlt, sein höchstes Gut, die Moralität, den kategorischen Imperativ, beizeiten in Sicherheit zu bringen und sich, wenn auch mit blutendem Herzen, von dem geliebten Gegenstand loszureißen. Mag nun auch aus den Tiefen seiner besseren und schöneren Natur die Stimme der Liebe, der Ehre sich empören über das eisige Gebot einer künstlichen, mißverstandenen Pflicht, er hört sie, überhört sie, flieht, macht ein edles Wesen, sich selbst im Grunde der Seele unglücklich, triumphiert aber als guter Kantianer über den Sieg der Pflicht über die Leidenschaft, nach unserm Gefühl der sophistischen Unnatur über die menschliche Natur, welche uns unbewußter und leiser, aber desto richtiger die Pfade des Lebens führt, als ein willkürliches und erdichtetes Moralgesetz, als ein Götzenbild unserer Philosophie.

Untersuchen wir nun, worauf die Herabsetzung des Ästhetischen in dieser Ansicht, beruht, so finden wir, daß eine völlige Verkennung sowohl des Schönen als des Sittlichen ihre Quelle ist. Wesen, die schön denken und schön handeln, ist das Gute mit dem Schönen völlig identisch. Allein wenn das Leben verdirbt und von der Schönheit nur die Kunst nachbleibt, so taucht eine Moral auf, die um so unerbittlicher den Rest schöner Neigungen bekämpft, als diese wirklich, aus ihrem Zusammenhang mit dem Leben gerissen, nur zu oft in Gefahr [131] stehen, dem bloßen sinnlichen Trieb anheimzufallen und durch gemeine Beisätze entadelt zu werden. Niemand hat in solcher Zeit den rechten Mut, sich seiner Natur zu überlassen, als ob jeder fürchtete, sich in seiner Blöße zu zeigen und die schlaffen, unreinen Sprungfedern seines inneren Lebens vor den Augen der Welt aufzudecken. Aber je armseliger und nackter das Innere, desto prachtvoller ist der moralische Apparat, den man nach außen auftürmt, desto stoischer hüllt man sich in den Mantel der Entsagung, desto scheinheiliger verdammt man die nackte Natur und desto niedriger und erbärmlicher fühlt man sich im Angesicht jenes selbstgeschaffenen erhabenen Pflichtprinzips, das man weder zu erfüllen noch zu leugnen die Kühnheit hat. Nun trägt die arme Sinnlichkeit alle Schuld, nun ist die Schönheit selbst, die nicht lebendig mehr im Herzen lebt, die Verführerin, das Gewissen aber der Pilatus, der sich die Hände in Unschuld wäscht und alle Schuld auf die unbändigen Triebe wirst und auch die Phantasie anklagt, als ob sie beständig durch den Reiz ihrer zügellosen Einfälle zu Übertretungen des moralischen Gesetzes verführe. So wird unsere Seele dann vorgestellt als der Kampfplatz aller möglichen widerstrebenden Kräfte und Neigungen und über dem Gewühl und Wellen der ruhig ernste kategorische Imperativ, der quos ego donnert. Eine solche Vorstellung schickt sich in der Tat für solche Zeiten, die wir erlebt; aber sie ist gottlob nicht die natürliche und wahre, sie gehört dem Gebiet an, woraus sie stammt, dem Gebiet der Schwäche und der Unnatur. Schafft [132] uns ein kräftiges Geschlecht, sprengt die Bande, die den Krafterguß schöner Neigungen und Triebe, sündhaft gefesselt halten, befreit die Welt von den Sünden der Schwäche, und dann seht, wie viele Rudera eurer jetzigen Pflichtenlehre sich in der Umgestaltung des Lebens erhalten werden, und um wie vieles kürzer und bündiger das Kapitel von den Kollisionsfällen zwischen Moral und Trieb ausfallen wird. Aber das ist eben der Haupt-und Grundfehler unserer Moral, nur zu negieren, nur zu verbieten, nur zu vernichten, dagegen sie sich Mühe gibt, alles Treibende und Liebende in uns als das Unmoralische, als das zu Negierende, als das Sündhafte darzustellen.

Sie, der es nicht gelang, auch nur ein einziges Gebot der Liebe zu predigen, wollte es mit der Achtung und Ehrfurcht zwingen, die nach ihrer Behauptung jeder Sterbliche dem kategorischen Imperativ schuldig sei. Mein, so groß auch die Zahl ihrer Berehrer war, es fehlte schon früher nicht an solchen, die den Imperativ geradezu ablehnten, die rechte Lust zur schönen Tat empfanden, rechten Abscheu vor dem Häßlichen und denen das Schöne und Häßliche in bezug auf die Persönlichkeit eben in dem Begriff des Guten und Schlechten enthalten war. Eine solche kernhaft schöne Natur war Goethe, nie hat dieser seine Lippe oder Feder mit einem Miserere vor dem Kampf zwischen Schönheit und kategorischem Imperativ beschwert.

12. Vorlesung

[133] Zwölfte Vorlesung.

Nur die deutsche Kathedermoral konnte das Gesetz der Schönheit so schnöde verkennen, um das ganze sittliche Leben in ihren dürren Formelkreis bannen zu wollen. Man lege jetzt ihren Kodex auf das Grab ihrer Schreiber und Urheber. Die Zeit hat sich über den Wert der Moralkompendien hinlänglich aufgeklärt, man wünscht mehr Moral im Leben und weniger auf dem Papier, und man wünscht eine Moral der Tat, eine Moral der Jugend, die, statt uns die Flügel zu beschneiden und unsere Fortschritte zu hemmen, uns beflügelt und zur Ausübung alles Guten und Schönen anleitet. Die Menschheit, das edle Roß, läßt sich nicht länger mehr trainieren, sie ist der Reitschule mit ihren veralteten Künsteleien überdrüssig, sie will nicht länger im Umkreis weniger Schritte, im verdeckten Kasten, auf den Wink ihres Bereiters ihre edle Kraft vergeuden, und peitscht sie nur, quält sie nur, reißt sie nur im Zügel, sie hat die offene Tür und das reiche, grüne Feld gesehen, ein Schlag, ein Satz und ihr liegt unter ihren Hufen und ein anderer Reiter schwebt mit ihr der Freiheit entgegen.

[134] Ich habe bisher nur von der philosophischen Moral dieses und des vorigen Jahrhunderts gesprochen, von dieser Antagonistin der menschlichen Kraft und Schönheit, die mit der Anmaßung, eine absolute zu sein, in Deutschland auftrat. Ich darf Ihnen wohl kaum erklären, daß jede philosophische Moral, erscheine sie, zu welcher Zeit sie wolle, die sich für absolut ausgibt, nur ein Machwerk her Schule und keine Moral des Lebens sei, da dieses immer um unter konkreten Bedingungen zur Erscheinung kommt. Jede geschichtliche Weltanschauung hat ihr eigenes moralisches Prinzip und solange die christliche blühte, gab es außer der, christlichen Moral keine andere, die das Gesetz des Lebens in sich trug: Man schreibe, wenn man kann, ein Moralkompendium des 13. Jahrhunderts, eine Moral christlichen Rittertums und Bürgertums, da besäße man doch wenigstens ein verdienstvolles historisches Werk, das alle die aus dem abstrakten Begriff des Christentums abstrahierten heutigen Moralen an wissenschaftlichem Wert übertreffen würde; würde man zeigen, wie die ursprüngliche menschliche Kraft jenes Zeitalters sich durchdrang von den geschichtlich gegebenen Elementen des Christentums und wie diese Mischung sich in den eigentümlichsten Formen kristallisierte und das Größte wie das Kleinste in den sittlichen Äußerungen so und nicht anders gestaltete, wie es die Geschichte lehrt. Aber nun, nachdem sich die Grundbestrebungen der Zeit außer dem früheren, innigeren Kontakt mit dem christlichen sahen, eine Art formeller philosophischer christlicher Moral der geschichtlich [135] christlichen substituieren und nach willkürlichen Abstraktionen aus dieser das Gewissen der neuen Zeit regeln und beschweren zu wollen, ist ein nichtiges Unternehmen, das auf die Gestaltung des Lebens keinen Einfluß haben und finden, obwohl auf Akademien, wie alles, sich eine Zeitlang so hinschleppen wird, bis etwas Besseres dafür an die Stelle tritt. Was sollen wir mit solcher Moral anfangen, wozu sollte sie uns nützlich sein? Entweder sie geht unsern Weg, und dann ist sie nicht das, wofür sie sich ausgibt, dann muß sie sich bescheiden, ihr Zentrum noch nicht gefunden zu haben, oder sie geht ihn nicht, und dann predigt sie tauben Ohren. Sie gibt freilich überall nur einen undeutlichen Ton von sich, so daß niemand sich leicht ihrethalben zum Kampfe rüstet. Was sagt sie uns von der Moralität oder Unmoralität unserer Staatseinrichtungen, was hat sie für ein Urteil über Freiheit und Knechtschaft? ist es moralisch oder unmoralisch, oder gleichgültig, sich in den Kampf der Zeit einzulassen, das Schwert für Recht und Freiheit zu zücken, das Bollwerk der Privilegien, die Mißbrauche des Kastenwesens anzugreisen? ist es ein moralischer oder unmoralischer Zustand, daß unser Volk kein vaterländisches, verständliches Recht hat, daß es in so vielen Ländern noch keine Stimme führt, wo es ihre vornehmlichsten und heiligsten Interessen betrifft? Fragt sie über diese und ähnliche Verhältnisse und Zustände und hört, welch undeutlich zwitschernder Ton aus ihrem Munde geht, wie sie im selben Atem zugestehen und ableugnen, einräumen und beschränken, oder gar, [136] wie sie diese Fragen, die allein gegenwärtig das Rad der Zeit umdrehen, als außer ihrem Kreise liegende, außermoralische oder außerakademische, was weiß ich, von sich ablehnen. Wirklich letztere sind noch die besten, man weiß doch, woran man mit ihnen ist. Es ist unseres Amtes nicht, sagen sie, in der Moral über das Bestehende und Werdende zu diskutieren, die Hauptsache ist, daß man erst moralisch wird, nach Anleitung unseres Kompendiums, oder vielmehr, daß man erst lernt, was Moral ist, und daß man sich die großen Schwierigkeiten zu Gemüt zieht, die für einen Moralkompendienschreiber nach Erscheinung der Schleiermacherschen Kritik aller Moral auf diesem Gebiet erwachsen sind. Mit der Gegenwart, mit dem Leben hat die Moral als Moral nichts zu tun, denn die Moral ist eine akademische Wissenschaft, und die Akademie ist gar kein Leben, sondern eine bloße Studienanstalt, deren Wirkungskreis sich völlig innerhalb der vier Wände unserer Auditorien abschließt.

Sehen Sie, man weiß doch, woran man sich zu halten hat, wenn man solche Stimmen hört. Man kann ihnen gleich nur erwidern, so hütet euch, daß die Fenster eurer Auditorien nicht offen stehen, denn der Luftzug aus der wirklichen Welt strömt herein und erinnert die junge Brust an ihre Hoffnungen, an ihren Zusammenhang mit dem Leben, an alles, was draußen liebt und haßt, kämpft und strebt, siegt und unterliegt, an die Zeit, an die Gegenwart.

[137] Es wäre leicht zu zeigen, daß sich diese Herren versündigten an der Moral wie an der Zeit, allein diese selbst hat dafür gesorgt, daß jene Sünde nicht groß wird, und daß ihre eunuchische Tendenz sich selbst vernichtet.

Eine männlichere und edlere Moral wird sich herbilden aus dem Schöße der Zeit, eine Moral, die dem neuen Zeitalter so innig angehören wird wie die christkatholische dem Mittelalter. Jene habe ich im Sinn, wenn ich behaupte, die echte Moral müsse mitten in das Gebiet der Ästhetik verpflanzt werden. Wohin sich die heutige akademische stellt und wo sie am Ende bleibt, kann uns gleichgültig sein. Mitten in der Ästhetik wird die Moral ihren Platz haben, wenn die Zeit erlaubt, die eine wie die andere in ihren lebendig geschichtlichen Zügen aufzustellen; denn aus einem Grundgefühl müssen beide entsprießen, ein Geist muß sie beide beseelen, eine Tat muß sie beide vereinigen. Es gibt vielerlei schöne Künste – die Kunst, sein eigenes Leben zu gestalten und ihm eine würdige, zeitentsprechende Form zu geben, die Moral wird eine derselben und zwar die schönste und edelste von allen. Man werfe mir nicht entgegen, daß der Meister der Lebekunst, der Bildner seiner eigenen Persönlichkeit schon deswegen himmelweit vom Bildner einer Statue, vom Verfertiger eines Gemäldes verschieden sei, daß jenem eine moralische Gottheit, ein Gewissen, das ihn lohne und strafe, im Herzen throne, während dieser ohne moralisches Gewissen zu Werke gehe: dann kennt ihr den Genius des Künstlers schlecht, wenn ihr glaubt, er arbeite [138] gewissenlos, er fühle nicht den warmen, lohnenden Kuß der Göttin, wenn ihm ein Meißelschlag, ein Pinselzug unter den Händen gelungen, oder nicht den kalten, schneidenden Blick des Tadels, wenn ihm durch Leichtsinn, Unvorsichtigkeit das ganze Werk oder ein Teil desselben mißlungen ist, hat Nicht jedes Amt, jedes Handwerk, auch das gemeinste, sein Gewissen, und die göttliche Kunst sollte keines haben, sie, die nur eine so schmale, zarte Linie hat, worauf das Gesetz der Schönheit ihr erlaubt, den Fuß zu setzen, sie sollte mit ihrer Gewissenhaftigkeit zurückstehen können vor irgend einer anderen und nun gar vor jener plumpen und weiten der gemeinen Moral, wie sie alltäglich im Leben ausgeübt wird. Haltet ihr denn auch nichts vom Gewissen des Dichters, des Musikers, habt ihr keine Ahnung von dem wirklichen Schmerz des letzteren, wenn seinem Instrument ein falscher Ton entschlüpft, wenn der Violinspieler nur eine Linie breit auf dem Stege fehlgegriffen hat? Leider, ich sage das zu unserer Schande, leider ist im Gegenteil die Kunst gewissenhafter als die Moral, der Künstler gewissenhafter als der Mensch. Ach, während in unseren Konzertsälen himmlische Melodien die Luft erfüllen und das Reich der Töne in der durchgreisendsten Harmonie sich unseren Ohren auftut, schreien die stummen Dissonanzen unserer Brust zum Himmel an, und, könnten sie laut werden, sie würden die Musik der Engel übertönen und die schrillendsten Mißlaute am Throne der Harmonie selbst laut werden lassen. Ja, die jämmerlichste Katzenmusik wäre eine solche moralische,[139] welche wir in guter Gesellschaft aufführen würden, falls durch Zauberei unsere Empfindungen Trompeten-, Geigen- und Flötentöne würden. Und woher das? Weil unsere Moral kein so seines Gewissen hat als unsere Musik, weil wir die Gewissenlosigkeit haben, die schändlichen Disharmonien der Gesellschaft, des Staatslebens, unseres eigenen, ruhig und mit geduldig langen Ohren zu ertragen.

Auch den Einwurf stelle man mir nicht entgegen, daß die Moral Opfer verlange, die Kunst hingegen genieße. Beide, wenn sie echt sind, teilen Genuß und Entsagung, und beide beruhen in Ewigkeit auf dem Grundsatz: nichts Großes kann der Mensch vollbringen, nichts Großes der Künstler gestalten, ohne seine Kräfte zu konzentrieren, d.h. ohne Selbstentsagung, ohne Aufopferung, ohne Ausscheidung des Unwesentlichen, Störenden und Feindlichen. Und hier tritt nun derselbe Fall ein wie bei dem vorigen Einwurf; man muß ihn leider gerade auf den Kopf stellen und behaupten, daß die bisherige Moral, bei aller Rigorosität ihrer Prinzipien in der Anwendung eben die flaue und laue ist und nicht imstande, einen kernhaften Menschen zu bilden und ihn zu zwingen, um eines Höchsten willen den Genuß, den Besitz und die Güter der Welt fahren zu lassen; dagegen die Kunst an Hunderten von Künstlern unserer Zeit das Beispiel gibt, zu welch anhaltendem Streben, zu wieviel durchwachten Nächten, zu welcher Menge und Größe der Opfer, Entsagungen und Entbehrungen sie ihre erwählten Lieblinge anspornt. Und man lese das Leben der großen Maler und Dichter der [140] Vergangenheit, und man lese, ob einer von ihnen groß geworden ist ohne den heiligen Entschluß, seinem Talent zu leben und zu sterben, und der Kunst alle Opfer zu bringen, welche mit ihrer großartigen, leidenschaftlichen Ausübung verbunden sind. Freilich jene Opfer wurden entschädigt und wohl überreichlich aufgewogen durch den freudigen Genuß und die Seligkeit, die sie überströmte. Nicht der Entsagung wegen entsagten sie, nein, des Genusses wegen, sie brannten im Feuer der Begeisterung, das alles Unreine verzehrt und selbst den Schmerz in Rauch und Asche auflöst.

Armselige Moralisten, die auftreten und den Leichtsinn der Kunst anklagen, der in unserer Zeit immer mehr einreiße und um sich greife. Tretet beschämt zurück und schweigt; denn wo noch in der Gegenwart der schönere Funke der Natur, der Wahrheit und der Freiheit hervorbricht, da sieht man ihn überall eher im Gesang und Gedicht als im Leben, das unter der schalen, gedankenlosen und leichtfertigen Oberfläche nur erst spärliche Lichter durchzucken läßt. Nicht die Kunst ist es, die das Leben, das Leben ist es, das die Kunst verdirbt und zu allen Zeiten, zu den schlechtesten unter Nero, ist diese noch immer besser und heiliger gewesen als jenes.

Nur wenige sind zu Künstlern geboren: alle um Selbstkünstler, Bildner ihrer eigenen Persönlichkeit zu sein; dieses eben, die Allgemeinheit und Unerläßlichkeit der Forderung ist es, was die Lebenskunst, die Moral, von den übrigen Künsten unterscheidet, die man auch in dieser Beziehung frei [141] nennen kann, indem es auf Talent und Lust ankommt, sich mit ihnen zu befassen, während jedem die Lust angemutet, das Talent zugesprochen werden muß, seine eigene moralische Bildung zu unternehmen.

So sind beide nur in ihrem Umfang, aber nicht in ihrem Ursprung und in ihrer ästhetischen Geltung unterschieden. Beide teilen auch dasselbe Ziel, Organisierung der ästhetischen Elemente zu einem gebildeten Ganzen, das bei der größten Mannigfaltigkeit seiner Teile von einer Grundidee durchdrungen und zur Einheit verknüpft wird. Nicht die Art und Menge dieser Teile, nicht die Art und Beschaffenheit der Grundidee ist das, was dem Ganzen Wert und Würde gibt, sondern einerseits die Stärke und Mächtigkeit des zugrunde liegenden Lebens, andererseits die mehr oder weniger durchgeführte Einigung und Durchdringung der zum Ganzen gehörigen Teile. So bei Menschen, so bei Kunstwerken, so bei einzelnen, so bei ganzen Zeitaltern. Nicht tief genug kann man sich diese Wahrheit einprägen, nicht lebhaft genug kann man es fühlen und ausrufen: der Mensch ist nichts wert, der Künstler ist nichts wert, der nicht Drang und Kraft und aufspringende Fibern im Herz und Hirn hat, alles, was er bildet, und wär es die vollkommenste Idee im feinsten Material, ist nichts wert vor Gott und Menschen.

Solche Kraft ist aber ein Erbteil der Geburt und der einzige Adel, der die Probe der Zeit besteht. Sie kann nicht, wo sie fehlt, ersetzt, kann aber, wo sie ist, geschwächt, ja vertilgt werden. Welchem [142] Geschlecht hat die Natur sie ganz versagt, welchem hat sie den Brunnen ihres Lebenswassers ganz verschlossen. Was wäre die Geschichte, welche armselige Rolle hätte selbst das Christentum auf der Weltbühne gespielt, ohne diese älteste und ewige Offenbarung und Ergießung des Lebensgeistes, welche Gabe des Himmels käme einer schwindsüchtigen und ohnmächtigen Menschheit zugute welche Engelszunge kann ein mattes, erstorbenes Herz in Begeisterung setzen. In jener geistig-leiblichen Urkraft ruht das Gute und Schöne wie im befruchtenden Schoß, ohne sie sind beide welk und unfreundlich und verdienen den Sonnenschein des Himmels nicht.

Auf dieser Kraft beruht unsere Wiedergebärung – wer sie in sich fühlt, der wehre dem Raube, womit die Zeit sie bedroht.

13. Vorlesung

[143] Dreizehnte Vorlesung.

Wir haben die Moral als die Kunst eines jeden, seinen Charakter zu bilden und sein Leben zu gestalten, dem Kreis der schönen Künste vindiziert, indem wir die irrigen Ansichten vom Leichtsinn und der Gewissenlosigkeit der Kunst als dem Ernst und Gewissen der Moral entgegengesetzt in die gehörige Beleuchtung stellten. In der Tat, jedermann ist Künstler und Kunstwerk zugleich; beobachten Sie nur die moralischen Äußerungen der Menschen, mit denen Sie umgehen, mit künstlerischem Auge, so werden Sie etwas von dem Eindruck empfinden, den ein Gedicht, eine Malerei, ein Bildwerk auf Sie zu machen pflegt. Hier sehen Sie einen Menschen, der durch und durch Charakter ist, stark im Wollen, wenn auch beschränkt und einseitig, mit starken, kühnen, aber wenigen Strichen gezeichnet; dort einen Menschen, der bei vielseitiger, formeller Ausbildung nur einen schwachen Nerv, zu wollen und zu handeln, verrät und während der erstere als die besonderste Individualität dasteht, von allen Seiten schroff, gebieterisch und [144] unzugänglich, dieser glatt, gefällig, lenkbar und sich allen Umständen und Charakteren anschmiegend. Sie werden auch nicht lange unter Ihrer Bekanntschaft zu suchen haben, um sich einen Dritten zur Anschauung zu bringen, der von der Natur in punktierter Manier ausgearbeitet ist und allen seinen Geschäften, Handlungen und Reden den Charakter ängstlicher Ausführlichkeit und Genauigkeit verleiht, sowie einen Vierten, den die Natur nur als flüchtige Skizze hingeworfen hat und der daher mehr nach Einfällen und Launen die Dinge angreift, als sie auszuführen und zu vollenden strebt. Und so mag sich ein jeder unter seinen Freunden und Bekannten eine Galerie lebendiger Porträts sammeln, die einem Bildersaal der Kunst ähnlich, im verschiedensten Stil gearbeitet sind. Doch – glaube ich, sträubt sich noch immer bei Ihnen, und das mit Recht, etwas gegen diese Ansicht, welche die Moral in den Kreis der Kunst und des Ästhetischen zieht. – Spreche ich es richtig aus, wenn ich Sie so verstehe: allerdings muß zugegeben werden, daß das, was man gemeiniglich unter dem Namen schöne Kunst begreift, ihr besonderes Gewissen hat und auch nicht ohne Opfer vonseiten des Künstlers zustandekommt; allein damit ist es noch nicht getan und die Moral von Kunst noch himmelweit unterschieden, denn das Gewissen der Moral setzt unbedingt die Möglichkeit voraus, seinen Anforderungen Genüge zu leisten, da die Moral für jedermann ist und alle ihre Gebote oder Anforderungen oder leise Winke, sowohl absolut zu erfüllende, als, vermöge der menschlichen [145] Freiheit, auch absolut erfüllbare sind. Es gibt nur eine Moral und nur eine Art, wie der Mensch sie ausübt, dagegen läßt die Kunst einen weiten Spielraum für verschiedene Bearbeitungen derselben, und man spricht daher von mehreren Kunstschulen, von italienischen, altdeutschen, holländischen Malerschulen, allein bisher ist es noch niemand eingefallen, von einer besonderen italienischen, deutschen oder französischen Moral zu sprechen. Darauf antworte ich denn folgendes: wenn wir uns recht verstehen und einmal abstrahieren von der absolut tuenden Kathedermoral, welche der deutsche Student in sein Heft niederschreibt und es dabei bewenden läßt, falls er nicht rationalistischer Prediger oder auch wieder Professor wird; wenn wir also statt gemachter und papierner Moral die Moral des Lebens, die Moral der Geschichte unserer Betrachtung würdigen, so muß es möglich sein, uns über den beregten Punkt zu verständigen. Wir denken doch, daß es eine solche Moral im Leben und in der Geschichte gibt, und daß die Moral nicht bloß in den Lehrbüchern und auf dem Papier stehe; wir haben doch den Glauben, ich meine den lebendigen, daß das Göttliche in der Welt wirklich zur Erscheinung gekommen, daß Gott sich in der Geschichte offenbart hat, wie in der Natur, welche gleichsam nur die Vorhalle seines Offenbarungstempels ist. Es wäre ja gottlos, daran zu zweifeln, daß Gottes Eigenschaften sich irgendwo unbezeugt gelassen, unverständig, ja unsinnig z.B. zu sagen, der gerechte Gott fände sich nicht in der Natur und [146] in dem, was nach christlicher Terminologie natürlicher Mensch heißt, und wir müßten es, in Ermangelung reeller Offenbarungszeugnisse, Gott auf sein Wort bloß glauben, daß er gerecht sei, ohne die Idee der Gerechtigkeit in uns, in der Natur, in der Geschichte ausgeprägt zu finden. Also, betrachten wir die Moral der Geschichte, sehen wir, wie die göttlichen Ideen sich in diesem, in jenem Volke, Zu dieser und zu jener Zeit verkörperten, in der Brust der Menschenkinder lebten und sich zu Taten entfalteten, so sehen wir zugleich, daß das eigentliche und wahre Leben dieser Ideen, der Güte, der Gerechtigkeit, der Weisheit, der Tapferkeit nur in einer gewissen eigentümlichen Beschränwng, so und so gefärbt und ausgeprägt, seinen Bestand habe, was gerade das Charakteristische der Zeit und des Volkes ausmacht und was wir die jedesmalige Weltanschauung genannt haben. Nun wäre es ja ein Aberwitz, das sittliche Leben der Indier nach dem Sittengesetz der Griechen, dieses nach der evangelischen Moral des Testaments, alle nach dem Moralkompendium eines deutschen Professors zu beurteilen und zu richten – ein Aberwitz freilich, den man oft genug findet, der aber die ganze Geschichte mit all ihrer Größe, Erhabenheit und göttlichen Mannigfaltigkeit in dem Mühlwerk einer beschränkten Ansicht zerstampft und des Herrn Geist und Werke so wenig begreift wie ein Maulwurf den Straßburger Münster oder ein bigotter Hengstenberg und Tholuck die griechische Iliade und den Jupiter des Phidias. Bedenken wir also den Satz, daß die Moral der Völker nicht [147] minder ein geschichtliches Produkt sei als die Kunst und die Poesie der Völker und daher auch nicht minder verschieden und wechselnd als diese, so müssen wir die Behauptung, es gäbe nur eine Moral, wenn sie Sinn, Verstand und Wahrheit haben soll, dahin fassen, daß wir bekennen, die göttlichen Ideen, die Begriffe der Moral sind elementarisch durch die ganze Welt zerstreut, und alle Menschen, wenn sie auf Moralität Anspruch machen wollen, müssen den elementarischen Gott in ihrem Busen tragen, müssen die Keime der Liebe, der Gerechtigkeit usw. sich eingepflanzt fühlen; obwohl dies zum moralischen Leben keineswegs hinreicht und das Göttliche in der Geschichte nicht elementarisch und abstrakt sich aufweist, sondern als gebildet uns zu den verschiedenartigsten Charakteren verarbeitet, zur Erscheinung kommt. Derselbe Fall ist es mit der Kunst. Es kann ebensowenig eine abstrakte Kunst geben, die dem ganzen menschlichen Geschlecht angehörte als eine Moral; dagegen findet sich das Elementarische der Kunst, die ästhetischen Ideen in den Kunstwerken aller Zeiten und Völker wieder, und nur der individuelle Komplex derselben, der organische Zusammenhang und alles, was zur konkreten Lebendigkeit gehört, macht das Unterschiedliche und Eigentümliche in der Kunst der Völker aus. So also unterscheiden wir zunächst in der einen Moral und Kunst die besondere Weltanschauung, welche im ganzen und großen ihren Zeitcharakter bildet. Allein hierbei bleiben wir noch nicht stehen. Die eine Moral und Kunst der besonderen Weltanschauung spaltet [148] sich nun wieder tausendfach in ihrem Kreise, nach dem Naturell der Völker, der Individuen, welche sich mit ihrer Ausübung beschäftigen. Hier verschmilzt sich der Volkscharakter mit dem Charakter des einzelnen zu einer Kraft, der einzelne, auch der Talentreichste und Größte bleibt immer ein Kind seiner Zeit, ein Sohn seines Volkes, und als solcher steht er zwischen ihm und der Menschheit und empfängt die Aufgabe, seine Individualität geltend zu machen, ohne weder dem rein Menschlichen, noch dem Volkstümlichen den gerechten und notwendigen Tribut zu versagen. Welche unendlichen Modifikationen erleiden nun nicht Moral und Kunst durch das Gesetz des Lebens, und welche Anwendung gestatten jene abstrakten Moralien und Kunstlehren dem Menschen und Künstler, der nach individueller tüchtiger Bildung strebt und andere nur insofern und in dem Maß achtet, als sie im selbigen Streben begriffen sind. Haben nicht selbst die verschiedenen Lebensalter, ganz allgemein betrachtet, ihre besondere Moral, und wird man vom Jüngling die Ruhe, Umsicht und Weisheit des Greises, vom Greise die Tapferkeit des Jünglings, vom Kinde die Beständigkeit des Mannes verlangen? Was will man also am Ende sagen mit der einen, absoluten Moral, die weder kalt noch warm macht und mit der man, um mich dieses Ausdrucks zu bedienen, keinen Hund hinterm Ofen hervorlockt. Ja es gibt eine Moral der verschiedenen Alter, der verschiedenen Stände, Talente, Stellungen, Charaktere, es gibt eine Moral der verschiedenen Zeitalter und Weltanschauungen, ebenso [149] wie es in den genannten Rücksichten eine verschiedene Theorie der Kunst und Poesie gibt. Daß man nicht von spanischer, französischer, deutscher Moral in ihren Schulen spricht, ist kein Grund, um die sprechende Tatsache zu leugnen. Ein Gemälde vom spanischen Maler Morillo, ein Gemälde vom französischen Maler David, ein anderes von unserm Albrecht Dürer, jedes derselben kann nicht entschiedener die charakteristischen Züge der Nationalität an sich tragen als die sittliche Persönlichkeit seines Malers selbst, angeschaut vom seinen und geübten Auge des Menschenkenners und nicht vom toten des Gelehrten, das sich ebensowenig auf die Individualität der Kunst, als auf die der Moral versteht.

Diese Andeutungen stehen leicht weiter auszuführen und mit anderen zu befestigen, allein, ich hoffe, sie werden genügen, um die Ansicht vom Zusammenhange des Ästhetischen und Moralischen und von der Moral als einer Kunst unter den Künsten zu rechtfertigen und etwaige Gewissensskrupel, die sich dieserhalb regen möchten, zu beseitigen.

Gingen wir nun von der Ansicht aus, daß eine allgemeine Kunstlehre eben ein solches Ding und Unding sei als eine allgemeine Moral, so wollten wir doch damit keineswegs den allgemeinen Teil einer Moral und Kunstlehre negieren, vielmehr hätte ich schon in früheren Stunden bei der ideellen Konstruktion einer künftigen Ästhetik dieses allgemeinen Teils als eines solchen Erwähnung tun sollen, der die Aufzählung der ästhetischen [150] Elemente, die aller Moral und Kunst zugrunde liegen, mit möglichst größter Vollständigkeit enthalten müßte. Dagegen verlangt jede einzelne Kunstlehre, gehöre sie der Poesie oder Prosa, der Malerei oder Bildhauerei an, daß sie vom besonderen Standpunkt der Zeit und des Volkes aufgefaßt und dargestellt werde. Ein andres hieße, in den Tag hineinzureden und einen bunten Kolibri in einem Netz mit meilenweiten Maschen fangen zu wollen.

Es bleibt mir nun immer noch übrig, ehe ich für diese Vorlesungen den angekündigten Weg einschlage, im allgemeinen der Art und Weise zu gedenken, wie nach Goethes Ausdruck das glücklichste Ergebnis einer kunstreichen Behandlung des Stoffes, das Schöne zur Wirksamkeit gelangt. Ich habe der verfehlten Definition des Schönen gedacht und bin nicht gesonnen, einen gleich unglücklichen Versuch zu machen, in drei, vier ärmliche Worte den mysteriösen Grund und Reichtum der Schönheit einzufassen. Allein ich hoffe, sowohl mich zu verstehen, als verstanden zu werden, wenn ich mich darüber so ausdrücke:

Die Schönheit, oder wie man das nennen mag, was den Menschen als das Gelungenste in Natur und Kunst, kräftig, reizend und wohlgefällig in die Augen springt, ist zunächst nichts Ideelles und Abstraktes, sondern allemal etwas Konkretes und Besonderes, das an einem bestimmten Stoffe, sei's Tat, sei's Marmor, sei's Fleisch und Blut, zur Erscheinung kommt. Ebenso individuell wie die Schönheit selber muß das Auge sein, das sich [151] ihrer erfreut, und so sehen wir es im Wesen der Schönheit selbst begründet, daß sie nicht allen schön ist und daß sie in verschiedenen Anschauungskreisen verschiedene Gefühle erregt, verschiedene Urteile hervorruft, wenn man auch alles das vom Geschmack der Völker und des einzelnen abrechnet, was seiner Anschauungsweise nur zufällig und außerwesentlich ist, wie dem Chinesen der Geschmack für winzig kleine Füße. So erscheint uns also zunächst die Schönheit vom historischen Standpunkte. Allein, man ist nur zu geneigt, diesen Standpunkt zu verlassen und, sich auf einen höheren stellend, zu behaupten, daß die echte Schönheit nur in der Harmonie zwischen unserem Auge und dem Objekte beruhe und daß andere Augen aus Ungeschmack Schönheiten bemerken, welche keine wären. Dies erregt einen Streit, bei dem jeder sich auf sein Gefühl zu berufen Pflegt wie auf den letzten Schiedsrichter, und das mit Recht, da im Ästhetischen keine andere Appellation zulässig ist als auf Gefühl und Gewissen. Damit soll aber, nicht gesagt sein, daß das subjektive Recht auch ein objektives sei; vielmehr findet sich der Nachdenkende veranlaßt, eine größere und geringere Kapazität des Schönen, ein Plus und Minus in der Bildung des Schönheitssinns unter den Menschen zu statuieren. Haben wir doch selbst, von diesem Standpunkte aus, über die indische Kunst den Stab gebrochen, obgleich wir sie als historische Erscheinung in ihrer Gültigkeit anzuerkennen gezwungen waren. Dagegen sahen wir in der griechischen Kunst und [152] Sitte eine Art der Schönheit, welche wir unserm Geschmack bei weitem angemessener fanden, was kein Munder, da wir wirklich das Bessere unseres Geschmacks eben den Griechen verdanken, das Bessere, Höhere und Edlere aber, das wir an Geschmack und Gesinnung vor den Griechen voraufhaben könnten, nur erst elementarisch im Schoß der keimenden Zeit ruht und weder zur Darstellung noch zur Anschauung bisher gelangt ist. Genug also, mit leben der Überzeugung, daß sowohl das Schaffen als das Genießen und Beurteilen des Schönen seine Geschichte hat, seine Bildungsstufen durchläuft, und in dieser Überzeugung begrüßen wir das Schöne, das wir empfinden, sowohl als wirklich und lebendig, als auch als die vollkommenste Wirklichkeit, deren wir uns bewußt werden können, ohne damit die möglichen Erweiterungen und Veredelungen des Schönheitssinns für die Zukunft abzuweisen. Fragen wir nun, wie das Schöne uns wirklich wird, so geben wir, in etwas belehrt, die obige Antwort, nur im besonderen und Individuellen, und damit sprechen wir aus, daß das Schöne jedesmal, um schön zu sein,Charakter haben muß. Lange hat man sich in Deutschland darüber gestritten, was der höchste Grundsatz der Alten in Sachen der Kunst gewesen. Winckelmann sagte: die Schönheit, Lessing die klassische Ruhe, Fernow das Idealische, Hirt das Charakteristische, bis Goethe nach langem Forschen und sinnigem Studium alle Parteien mit der Äußerung zur Ruhe brachte: »der höchste Grundsatz der Alten war das [153] Bedeutende, das höchste Resultat aber einer glücklichen Behandlung das Schöne«, welche Worte uns als Text dienen sollen, um in den nächsten Vorlesungen uns mit wohlerwogenen Schlußworten über die Natur des Schönen, über das Höchste der Kunst und über das Verhältnis der Künste untereinander zu verständigen.

14. Vorlesung

[154] Vierzehnte Vorlesung.

»Der höchste Grundsatz der Alten war das Bedeutende, das höchste Resultat aber einer glücklichen Behandlung das Schöne«, diese Worte Goethes mögen uns heute zum Text dienen, um unsere Betrachtungen über Natur und Kunst und über das Schöne als die Blüte von Natur und Kunst daran fortzuspinnen.

Ebenso richtig hätte Goethe sagen können: der höchste Grundsatz der Natur ist das Bedeutende und ihr glücklichstes Resultat das Schöne; doch leidet dieser Satz, von der Natur verstanden, eine bedeutende Einschränkung, indem wir tagtäglich eben, daß in der Natur das Prinzip der Erhaltung, der bloßen Lebensrettung, wo es not tut, mit rückichtsloser Gewalt sich geltend macht, und in diesem Fall sowohl dem Charakter als der Schönheit des individuellen Naturprodukts Abbruch tut. Verständigen wir uns zunächst über diesen so wichtigen Akt, der die Produkte der Natur von den Produkten der Kunst charakteristisch unterscheidet.

[155] Das Bedeutende in Natur und Kunst ist eben die individuelle Bestimmtheit der Natur- und Kunstprodukte, ihr Charakter, ihr Begriff.

Je entschiedener sich dieser Begriff ausgesprochen bei einer Pflanze, einem Tier, einem Menschen, desto vollkommener ist das Produkt. So stellen wir den Schmetterling höher als die Raupe, denn, obwohl schon an der Raupe und deren Verpuppung die Ringe, Flügel, Einschnitte und andere Gliederungen des künftigen Schmetterlings wirklich vorhanden sind, so sind sie es doch nur der Anlage und Tendenz nach, ihre Entfaltung bleibt der höheren Lebensstufe des Schmetterlings vorbehalten. Ebenso übertrifft die Palme an Charakter und Schönheit, nicht nur an Größe und Dicke, den Grashalm, obgleich dieser von den Naturforschern zu den Palmenarten gezählt wird und eine noch unentwickelte Palme im Kleinen vorstellt. Durch dasselbe Prinzip berechtigt sprechen wir sowohl im Pflanzenreich als im Tierreich von höheren und niederen Bildungen, je nachdem wir Pflanzen und Tiere vollkommener oder unvollkommener gegliedert und durchgebildet sehen, und so stellen wir z.B. im Animalischen die Gestalt des Menschen als die individuellste, kunstreichste, verwickeltste Organisation, als das Meisterwerk der Schöpfung, dem Mollusk und dem ganzen Geschlecht der Würmer, dem unentwickelten, kriechenden, zuckenden Schleim gegenüber, den ersten Anfang der schönsten Vollendung des animalischen Lebens auf der Erde.

Ich sage, als die schönste Vollendung. Denn [156] im selben Grade wie wir den Charakter einer Pflanze, eines Tieres sich deutlicher entwickeln sehen, im selbigen schreiben wir ihm auch eine größere Schönheit zu; und umgekehrt, je schöner wir die Bildungen der Natur finden, desto vollkommener wird sich bei näherer Untersuchung ihre Charakteristik ausweisen. Wem z.B. gefällt nicht das bloße grüne Blatt eines Rosenstrauchs, einer Weinrebe vor hundert anderen Blättern, wenn ihm auch die Ursache dieses Gefallens nicht klar ist, er wird aber bei genauerer Betrachtung auch diese entdecken, und die feineren Fasern, die zarteren Verzweigungen, den regelmäßigeren Schnitt, die gelungene Auszackung des Blattes dafür halten. Mem gefällt nicht die Gestalt eines Pferdes besser als die Gestalt einer Kuh, und wer sieht nicht gleich, daß er das Pferd darum schöner findet, meil dasselbe schön im Nußern, schärfere Sinne, schlankere Glieder aufweist und daher eine gebildetere Organisation des Innern verrät, also einer entschiedeneren Tiercharakteristik angehört. Mit gleichem Recht halten wir daher die menschliche Gestalt nicht allein für die entschiedenste, an Organen feinste, an Funktionen reichste, an Bewegung freieste, sondern auch, und aus demselben Grunde für die schönste, für die idealischste Gestaltung der Animalisation.

Wir sehen also, daß die Natur, indem sie die Leiter ihrer Bildungen hinaufsteigt, dabei den Grundsatz vor Augen hat, Schritt vor Schritt an Bedeutung wie an Schönheit zu gewinnen, bis sie bei der bedeutsamsten Gestalt, der menschlichen, [157] anlangt und mit dieser, gleichsam als Resultat ihres Strebens, die höchste Schönheit vereinigt.

Insofern finden wir die Natur auf demselben Wege mit der Kunst und die Kunstgeschichte gewissermaßen analog mit der Geschichte der Naturreiche, indem die Anfänge beider sich erst allmählich aus unbestimmter Charakterlosigkeit, aus roher Masse, schwachen Andeutungen der Glieder aufarbeiteten zu individuelleren Formen und Gestalten, bis das Prinzip der Schönheit sich merklich machte und die höchste Charakteristik mit der höchsten Anmut zusammenfiel. Man kann sogar darauf anspielen, daß die älteste Malerei und Bildhauerei von Tiersymbolen ausging und allmählich erst sich zur Darstellung des Menschlichen steigerte, dieses selbst aber jahrhundertelang noch sehr unvollkommen blieb, steife, eckige Umrisse, geschlossene Arme und Beine, kaum bemerklichen Unterschied der Geschlechter beibehielt, bis nach der Sage Dädalus die Bildsäulen wandeln ließ, das heißt getrennte Beine, fortschreitende Füße, freie Arme, offene Augen, entschiedene Geschlechtscharakter am Marmorblocke ausführte.

So ward auch für die Kunst das Bedeutende immer mehr Grundsatz, und da die Zeichnung der festen Teile, der Knochenbau als der Träger des Bedeutsamsten an der menschlichen Figur anerkannt werden mußte, so gab es in der griechischen, wie in jeder anderen nationalen Kunstgeschichte, einen Zeitraum, wo die Bildung der festen Teile, des Charakters in seinem starren Typus, in seinen stark ausgedrückten Grundzügen, [158] das überwiegende Prinzip war und den sogenannten Stil ausmachte. Winckelmann bezeichnet diesen zweiten Zeitraum als den großen und hohen Stil der griechischen Kunst, in dem Phidias, Zeitgenosse des Miltiades und Themistokles, der ausgezeichnetste Meister war. Erst im dritten Zeitraum offenbarte sich der schöne Stil, der mit Beibehaltung des charakteristisch Festen auch das charakteristisch Weiche und Zarte ausdrückte, aus welcher Behandlung eben die hohe Schönheit ihrer Meisterwerke, wozu unter anderen der Laokoon gehört, resultierte; ebenso wie die Natur unter allen Schönheiten, die sie bildet, bei der Bildung eines schönen Jünglings oder Mannes sich gleichsam ihr äußerstes Ziel gesetzt hat, da in einer männlich schönen Gestalt das Feste und Weiche harmonischer ineinander aufgehen als in der schönsten weiblichen Gestalt.

Allein die Meisterin Natur hat andere Schwierigkeiten zu besiegen als die Meister der Kunst. Keine Schönheit kann freilich die ihrige übertreffen, wenn und sooft sie sich einer ungestörten Entwickelung erfreut, die kühnste Bildnerei und Malerei wird zuschanden vor ihrer nackten Einfalt. Während aber der echte Künstler bei hinlänglich gutem Material allezeit imstande ist, die Verwirklichung des ästhetischen Gesetzes charakteristischer Schönheit ungehindert und ausschließlich anzustreben, wird die Künstlerin Natur nur zu oft in ihrem Streben gehemmt, und während sie es auf das Höchste anlegte, auf das bloß Notwendige der Existenz, auf die Rettung des Daseins ihrer Geschöpfe, [159] auf Selbsterhaltung reduziert. Sehen Sie hier, meine Herren, den wesentlichen Unterschied zwischen dem Bildungsgange der Natur und der Kunst. Die Kunst gehört dem Reiche der Freiheit, die Natur dem Reiche der Notwendigkeit an, die Kunst kann nur wollen, und ihrem Willen gelingt das Schönste, die Natur aber, beim besten Willen, sieht sich nicht selten genötigt, durch den Schrei der nackten Existenz innerlich gezwungen, ihren auf das Schöne gerichteten Willen zu brechen und zunächst nur die ärmlichen Forderungen des Daseins zu erfüllen. Die ganze Organisation ist ja nur die Frucht eines Kampfes der bildenden Natur mit den rohen und regellosen Kräften des Chemischen, Unorganischen, Chaotischen, das von allen Seiten auf das Organische eindringt, tückisch auf jede Blöße lauert, welche dasselbe darbietet und dann sogleich den nagenden, zerstörenden Zahn unmittelbar auf den Nerv der kranken Stelle heftet. So kann man z.B. das ganze Verdauungssystem der Tiere als einen defensiven Akt der organischen Natur be trachten, die Speisen, die wir zu uns nehmen, und die unser Magen mit so gebieterischer Regelmäßigkeit verlangt, sind bei weitem weniger zu unserer Ernährung als zu unserer Verteidigung bestimmt, wir werfen die animalischen und vegetabilischen Stoffe dem Zerstörer hin zur chemischen Zersetzung, damit nicht unser eigener Körper ihm zur Zersetzung und Zerstörung anheimfalle. Hier sehen wir also einen Erhaltungsakt, der einem regelmäßigen System des Körpers angehört, auf dem seine ganze Existenz basiert ist; allein, nun bedenken [160] Sie die tausend möglichen, unvorhergesehenen Zufälle, in welchen der geschlossene Organismus durchbrochen und feierlich angegriffen werden kann, das Heer der Störungen und Krankheiten, welche die Hilfsmittel der Natur auf einem Punkt in Anspruch nehmen und sich ihrer harmonischen Verwendung für das Ganze widersetzen, und Sie begreifen, daß diese Meisterin selten in voller Kraft, und gleichsam in Ruhe und Muße fortarbeiten und die Idee, die ihr vorschwebt, zur Ausführung und Vollendung bringen kann. Licht, Luft, Erde, Wasser, Wärme, Kälte usw. bedingen unaufhörlich die ideale Tätigkeit der Natur, und was zu den schönsten Formen berechnet war, kann der Zufall in die ärmlichsten und schlechtesten hinabdrücken.

15. Vorlesung

[161] Fünfzehnte Vorlesung.

Ich glaube annehmen zu dürfen, meine Herren, daß die aufgestellte Ansicht vom Verhältnis der Natur zur Kunst manchem unter Ihnen Veranlassung gegeben, sein Nachdenken auf diesen wichtigen Gegenstand zu richten, der Ihnen vielleicht unter neuem Gesichtspunkte erschien. Um so mehr darf ich hoffen, Ihre Aufmerksamkeit mir zu bewahren, wenn ich den Faden wieder aufnehme und das Allgemeine noch einer besonderen Betrachtung unterwerfe.

Natur und Kunst, so ließen wir uns vernehmen, teilen dieselbe Aufgabe, organische Einheiten zu bilden, Begriffe, Charaktere auszuprägen und dieselben mit der Blüte der Schönheit anzuhauchen.

Für diejenigen nun, welche gewohnt sind, die Natur als ein rein Materielles, Totes, Begriffloses zu betrachten, welche daher die Schönheit selber nur in der Ausdehnung und in räumlichen Verhältnissen finden, hat eine solche Ansicht wenig Empfehlendes. Sie gehen weder in der Natur noch in der Kunst von der Seele aus, und unbekannt [162] bleibt ihnen daher jene gemeinschaftliche Quelle dessen, was ihr Auge an den Produkten der Natur und Kunst in Entzückung setzt.

Erkennen wir jene positive geistige Kraft an, welche den zufälligen und willkürlichen Stoff zur Einheit des Begriffes verbindet und die widerstrebenden Atome zwingt, sich um diesen zu versammeln. Eine geistige Symmetrie beherrscht die körperliche, der Blick des Auges, die ausstrahlende Seele wirkt der äußere Bau und die Wohl- oder Mißverhältnisse unseres Sehorgans. Kann man daher behaupten, daß es bloß körperliche Schwingungen, Winkel und Linien sind, womit uns das Auge der Schönheit anlächelt, oder ist es nicht vielmehr das geistige Etwas, das sich durch diese Linien und Winkel symbolisch verrät?

Ich berühre hier einen Punkt, um den sich die deutsche Naturphilosophie wie um ihr Zentrum dreht. Wenn die Natur nicht ebensogut Verstand und Kunst besäße als wir Menschen, wenn die Natur nicht ebensogut Begriffe enthielte, als das philosophische Hirn, wie sollte der Mensch zum Begriff und Verständnis der Natur gelangen. Bleibt es doch unumstößlich wahr, daß das Fremde das Fremde nicht begreift, daß nur Gleiches von Gleichem erkannt wird, daß die Seele nichts wissen könnte von den Dingen, wenn die Dinge nicht seelisch, seelischer Natur, seelischen Ursprungs wären. Wodurch unterscheidet sich denn die Wirksamkeit der Naturdinge von der Wirksamkeit unseres Geistes? Durch das Bewußtsein, jene Sonne, die auf den niedersten Stufen der Natur sich hinter [163] dem Horizont verbirgt und nach graduellen Dämmerungen leuchtend in der Seele des Menschen hervortritt. Die Natur stellt keine Reflexionen an. Bei der Rose ist der Begriff zugleich die Tat, der Entwurf die Ausführung. Daher ist auch sinnliche Anschauung Anfang und Ende der Naturforschung. Der Physiolog ergreift mit dem Auge den verkörperten Gedanken der Naturgegenstände, den Begriff, die Operationen der Natur in ihren immanenten Urteilen und Schlüssen; er hütet sich weislich, seine eigenen Begriffe, Urteile und Schlüsse der Natur unterzuschieben. So z.B. sieht ein Goethe den generellen Pflanzenbegriff im Blatt der Pflanze, die Pflanze ist ihm Wiederholung des Blattes, das sich periodisch sukzessive entfaltet und schließt, Stengel, Knoten, Blüte und Frucht bildet und so an sich selbst die Urteile und Schlüsse vornimmt, die der beobachtende Physiolog nur zu wiederholen und gleichsam in menschliche Sprache zu übersetzen hat. Selbst die rohe Materie trachtet ja nach Einheit und Gestaltung, sie nimmt stereometrische Formen an, die dem Reich der Begriffe angehören und etwas Geistiges in der verhärtetsten Materie repräsentieren. »Den Gestirnen«, sagt Schelling, »ist die erhabenste Zahl und Meßkunst eingeboren, die sie ohne einen Begriff derselben in ihren Bewegungen ausüben; deutlicher, obwohl ihnen selbst unfaßlich, erscheint die lebendige Erkenntnis in Tieren, welche wir unzählige Wirkungen hervorbringen sehen, die viel herrlicher sind als sie selbst; der Vogel, der von Musik berauscht in seelenvollen Tönen sich selbst übertrifft,[164] das kleine, kunstbegabte Geschöpf, das ohne Übung und Unterricht leichte Werke der Architektur vollbringt, alle aber geleitet von einem übermächtigen Geist, der schon in einzelnen Blitzen von Erkenntnis hervorleuchtet.«

Es ist derselbe Geist, der im Menschen als Freiheit erscheint. Schon in den Naturwesen bemerken wir die Tätigkeit, welche über die Existenz des Tieres hinausgeht, welche nicht bloß im Innern Knochen baut und die äußere Haut mit Federn und Haaren besetzt, sondern nach außen sich ablöst, ein künstlerisches Residuum zurückläßt, einen Gesang, ein Gespinst, ein Nest und dergleichen zutage fördert. Das ist dieselbe bildende Kraft, die den Arm des Michel Angelo bewegte, die sich zum menschlichen Genius verklärt und zugleich mit dämonischer Unwiderstehlichkeit, mit unbewußtem Drang wie mit menschlich bewußter Freiheit Meißel und Pinsel ergreift und eine zweite höhere Schöpfung in der Schöpfung hervorbringt.

Nur auf den höchsten Stufen der Individualität wirkt die unbewußte Natur seelische Schönheit und Anmut, der bewußte Mensch steht schon oder sollte schon auf dieser stehen, er findet das Gesetz der Schönheit in sich, außer sich, die Wahl des Schönsten steht seiner Künstlerhand offen, und wenn er sich vergreift, wenn er statt Seelen nur Leiber, statt Edlem Unedles bildet, so fällt die Schuld einzig und allein auf sein Haupt, er hat seine Freiheit gemißbraucht, den Beruf der Kunst, sein schönstes Vorrecht vor der blind und notdürftig waltenden Natur, ungehinderte Bildung des [165] Schönsten im Charakter des Individuellen, verkannt.

Diese glückliche Lage der Kunst zur Natur sollte man richtig einsehen und fleißig bedenken, will man über den Wert der verschiedenen Kunstleistungen ein richtiges Urteil fällen. Wirkt und schafft der Künstler blind, so unterscheidet er sich durch nichts von der Natur als durch die Unvollkommenheit seines Werkes, verglichen mit demselben Werk der Natur. Will er sich aber mit Bewußtsein der Natur bloß unterordnen, so wird es ihm nicht darauf ankommen, welchen Gegenstand er für die Kunst bearbeitet, er wird mit knechtischer Treue diesen Gegenstand wiedergeben, verdoppeln, Abschreiber der Natur, aber kein Künstler sein. Künstler ist er nur dann, wenn er Seelen erfaßt, wenn er seelische Schönheit in ihrer Verkörperung darstellt, wenn er alles Körperliche nur als Symbol des Geistigen betrachtet und solche Symbolik aus seinem Kunstwerk klärlich durchblicken läßt. Jenen, im Innern der Dinge wirksamen, durch körperliche Sinnbilder zum Auge sprechenden Naturgeist soll er in sich lebendig machen und erst nach lebendiger Ergreifung desselben zur Nachahmung des Naturwerkes schreiten. Dann hat er etwas Künstlerisches geschaffen, das weder Natur noch Ideal ist; denn es ist etwas Höheres als die Natur, etwas Wahrhafteres als Ideal, als eine Grille, die willkürliche Schönheiten willkürlich zusammenrafft.

Es bedarf nämlich wohl keiner besonderen Erwähnung und Ausführung, daß für die Kunst das Überschwengliche, Idealische eben so unzulässig sei als das Gemeine, Sklavische, Kopierte.

[166] Die Forderung zu idealisieren, sagt Schelling sehr treffend, die manche an den Künstler machen, scheint aus einer Denkart entsprungen zu sein, nach welcher nicht die Wahrheit, Schönheit, Güte, sondern von allem das Gegenteil das Wirkliche ist. Wäre das Wirkliche der Wahrheit und Schönheit entgegengesetzt, so müßte es der Künstler nicht idealisieren, sondern vernichten, um an dessen Stelle die Schönheit hinzupflanzen.

16. Vorlesung

[167] Sechzehnte Vorlesung.

Nicht das Wirkliche als wirklich will der Künstler nachahmen, sondern dem Wirklichen eine künstlerische Bedeutung geben. Der Künstler hütet sich wohl, die marmornen Wangen seiner Diane rot zu färben. Er vermeidet selbst den Schein, als habe er mit der Natur wetteifern wollen. Er verachtet den Trug natürlicher Lebendigkeit, jedes Insekt, das auf dem Boden kriecht, würde ihn beschämen. Er fühlt sich nicht geschmeichelt, wenn sein Gemaltes oder Gemeißeltes des Zuschauers Sinne in die Täuschung versetzt, als sei es ein Lebendiges und Leibhaftes. Jene griechischen Anekdoten von gemalten Trauben und anpickenden Vögeln, von gemalten Pferden und anwiehernden lebendigen sind zweifelsohne reine Erdichtung; jedenfalls aber keine Beweise großer Kunst.

Wollte man sie dafür ausgeben, so wären Wachsfiguren die Meisterwerke der Kunst, sie kommen dem Leben am nächsten, stehen aber eben deswegen vom Leben am entferntesten ab. Dadurch erregen sie dem natürlichen Betrachter den [168] widerlichsten Eindruck. Sie stieren uns an, als wollten sie uns weiß machen, daß sie lebten, aber uns graut vor diesem wächsernen Blick, vor diesen unbegrabenen Leichen mit offenen Augen und roten Wangen, und wir verwünschen die Fingerfertigkeit des Wachskünstlers, der uns mit den Haaren zur Täuschung herbeiziehen will. Dagegen betrachten wir mit Lust und Bewunderung die Arbeiten des Bildhauers, die uns lebendige Wesen, Götter, Helden, Frauen vors Auge führen – ihre marmorne Haut scheint uns nicht gespenstisch, ebensowenig ihr sternloses Auge; ja, wir würden eher von dieser Empfindung beschlichen werden, wenn ein solcher Stern des Marmorauges unseren Blicken begegnete. Wir sehen, der Künstler hat uns kein qui pro quo vormachen wollen, er gab uns das Leben der Kunst ohne Wetteifer mit dem Leben der Natürlichkeit, ohne Falschmünzerei wie der Wachsbossierer. Lebendig und wahr soll also die Kunst sein wie die Natur, aber die Kunst wie es ihr selbst, nicht wie es der Natur zukommt.

Dieses Gesetz gilt in allen Kreisen der Kunst, und man erkennt eben den Pfuscher in der Malerei, den Maler, dem die Weihe der Kunst abgeht, sähe man ihn auch im Besitz vortrefflicher Kunstgriffe und mechanischer Fertigkeiten, man erkennt ihn hauptsächlich an der falschen Bestrebung naturwahr, statt kunstwahr zu sein, mit Früchten, Figuren, Gegenständen aller Art das Auge des Beschauers gleichsam aufzufordern, sie mit natürlichen in Vergleich zu stellen.

[169] In der Malerei fällt dies Bestreben um so mehr auf, da sie nicht freie, rings von Luft umgebene Bilder liefert wie die Bildhauerei, sondern, da man ausdrücklich ihre Bilder als Bilder ansehen soll. Sie legt ja darum auch weniger Gewicht auf die Materie als die Plastik, will schon mehr als Seele zur Seele sprechen, dagegen die Bildhauerei, dem Material nach, ganz und gar in der Sinnenwelt ruht und ein Tastbares, Irdisches darstellt. Daher stammen die verschiedenen Gesetze, die der Bildhauer und der Maler in der Darstellung befolgen. Während jener sich in acht nimmt, die Züge der Leidenschaft seinen Figuren über ein gewisses Maß einzuprägen, ja während er sich's zum Gesetze macht, das bloße Leiden, den reinen Schmerz im Stein nicht zu verewigen, ist dem Maler keine so ängstliche Grenze gesetzt, und der höchste Schmerz wie die höchste Lust, Leidenschaft, Leiden, Duldung, Tat gelingen seinem Pinsel aufs vollkommenste, falls er anders nicht vergißt, daß auch ihm ein gewisses Maß der Leidens- und Tatäußerungen vonnöten bleibt.

Aus diesem leicht bewährten Gegensatz der Malerei und der Plastik ergibt sich das Vorherrschen der letzteren im Altertum, das Vorherrschen der ersteren in der neueren Geschichte. Beide aber, Plastik und Malerei, werden für ewig in ihren bestimmten Kreisen getrennt operieren; die Plastik darf nichts ins Malerische, die Malerei nicht ins Plastische ausarten. Nicht ohne Zeitbedeutung scheint es zu sein, daß die Plastik der neuesten Zeit an Canova, besonders an Thorwaldsen so große [170] Meister gefunden; es ist ein Sieg der Tat über die bloße Empfindung des Griechentums, über das Mittelalter.

Noch geistiger als die Malerei zeigte sich die Poesie und gerade um so viel geistiger als ihr Material, die Buchstaben, geistiger sind, als geriebene Farbenerde. Lessing drückte das Verhältnis der Poesie zur Malerei mit den Worten aus: die Malerei schildert Körper und andeutungsweise durch Körper Bewegungen (Leidenschaften usw.); die Poesie schildert Bewegungen und andeutungsweise durch Bewegungen Körper. Wie dieser Ausspruch nun das ganze Verhältnis durchaus richtig angibt, so ist auch der Schluß daraus von Lessing bündig und richtig abgeleitet, daß die Malerei (wie die Plastik überhaupt) sich mit dem Simultanen, die Poesie sich mit dem Sukzessiven beschäftigen müsse. Die Poesie soll es also unterlassen, körperliche Schönheiten zu schildern; sie kann nur Zug für Zug verfahren, und während sie bei den Füßen anlangt, ist das Bild des Kopfes schon wieder verwischt. Der Malerei, die alle Schönheiten auf einmal darstellt, soll sie dieses überlassen, die Malerei aber der Poesie die komplizierten Züge einer Handlung, die bewegte Schönheit darzustellen; ihr gehört das Bewegte, der Plastik das Ruhende.

Sehen Sie hier, meine Herren; die Ursache, warum Naturschilderungen, selbst wenn Walter Scotts eminentes Talent sie ausführt, je länger und breiter sie hinausgezeichnet sind, desto vergeblicher und unerfreulicher unsere Phantasie abmartern und keine lebhafte Anschauung hervorzubringen [171] imstande sind. Die englischen Dichter sind diesem Fehler sehr unterworfen. Walter Scott wird nicht selten aus einem Dichter Maler, Architekt, Kleiderseller. Der echte Dichter schildert, wie Lessing sich ausdrückt, Bewegung, Handlung und nur andeutungsweise durch diese Körper. Zwingen, wie derselbe Lessing bemerkt, den Homer besondere Umstände, unseren Blick auf einzelne körperliche Gegenstände zu lenken, so wird doch kein Gemälde daraus, dem der Maler mit dem Pinsel folgen könnte; Homer weiß diesen Gegenstand in eine Folge von Augenblicken zu versetzen und uns auf diese Art seine Genesis vor Augen zu legen. Will er uns z.B. den Wagen der Juno sehen lassen, so muß Hebe ihn Stück für Stück zusammensetzen, wir sehen die Räder, die Achsen, den Sitz, die Deichsel usw. nicht sowohl wie es beisammen ist, sondern wie es unter den Händen der Hebe zusammenkommt. Will er uns zeigen, wie Agamemnon bekleidet gewesen, so muß der König vor unsern Augen Mantel, Stiefel, Schwert antun, und wenn er damit fertig ist, ergreift er das Zepter. So ist auch die Beschreibung des Zepters eine Geschichte des Zepters, die Beschreibung des Achilleischen Schildes eine Reihe von Geschichten. Für ein Ding hat Homer gewöhnlich nur einen Zug. Ein Schiff ist ihm das dunkle, das schnelle, wenn's hoch kommt, das wohlberuderte, dunkle Schiff. Aber wohl dient ihm das Schiffen, die Abfahrt, das Anlanden eines Schiffes zu ausführlichen Gemälden, woraus der Maler jedesmal ein halbes Dutzend verfertigen müßte, wollte er sie ganz auf die Leinwand bringen. [172] Mit gleicher Kunst behandelt er die menschlichen Schönheiten. Nireus war schön, Achilles noch schöner, Helena besaß göttliche Schönheit; das ist alles. Nirgends läßt er sich auf umständliche Schilderungen ein. Im Vorbeigehen erfahren wir, daß sie weiße Arme hatte. Welchen Luxus würde ein schlechterer Dichter als Homer mit Helenas Schönheiten getrieben haben. Aber würde er uns auch, gleich Homer, durch einen einzigen Zug die Schönheit der Helena als die höchstdenkbare fühlbar gemacht haben? Helena tritt ins Tor, wo die Greise Versammlung halten; da flüstert einer dem andern zu:


οὐ νεμεσις Τρωας και ἐϋκνημιδας Ἀχαιους
τοιη δ᾽ἀμφι γυναικι πολυν χρονον ἀλγεα πασχειν
αἰνως ἀϑανατησι ϑεης εἰς ὠπα εἰοικεν,

welche Worte im Munde von Graubärten, die Blut und Tränen und erschlagene Söhne nicht achten, um eines so göttlichen Weibes wegen.

So viel im allgemeinen vom Verhältnis der Poesie zur Plastik, von dem der geistigsten aller Künste, welche der Plastik im Kunstkreise polarisch gegenübersteht, der Musik in nächster Vorlesung.

17. Vorlesung

[173] Siebzehnte Vorlesung.

Man sollte denken, daß die Musik diejenige unter den Künsten wäre, welche am wenigsten Gefahr liefe, ihr eigentümliches Gebiet zu verkennen; allein die Erfahrung hat gelehrt und lehrt noch täglich, daß der Musiker bald den Maler, bald den Dichter zu überbieten strebt und dabei die eigentümliche Würde seiner Kunst außer Augen setzt. Im Gegensatz zu einer Musik, deren Noten weder einer Empfindung noch einer Idee entsprechen, die wie meistens die italienische, insbesonders die frühere, ein reines, gedankenloses, schwelgerisches Tonspiel ausdrückten, bildete sich eine Charaktermusik, die aus lauter Andeutungen, physischen und geistigen, bestehen sollte, die Gewitter, Mondscheinküsse, Pferdegalopp nachahmte und alles Malerische und Dichterische ohne Ausnahme in ihr unnatürlich erweitertes Gebiet aufnahm.

Allerdings, meine Herren, ist nicht zu verkennen, daß Poesie und Musik innig verwandte Künste sind, die in ihrer Vereinigung, z.B. in der Oper, im Liede, die wunderbarsten Wirkungen auf [174] unser Gemüt äußern. Allein, man erkläre sich den Umstand, daß die Sprache und die Musik so selten, ja fast nie selbständig zusammenwirken, daß bald die Sprache der Musik, bald die Musik der Sprache untergeordnet er scheint, jenes in unseren heutigen Opern, wo der Text nur so mitläuft, dieses in den Schau- und Trauerspielen der Alten, wo Text die Hauptsache, Musik und Tanz nur als Begleiterinnen auftraten. Woher diese Schwierigkeit, beide Künste in ihrer Selbständigkeit miteinander zu verbinden? Die Antwort gab schon Lessing. Die Musik bedient sich natürlicher, die Poesie willkürlicher Zeichen, die Musik der Töne, die Poesie der Buchstaben. Beide Zeichen wirken allerdings in der Folge der Zeit, allein das Zeit maß ist verschieden. Ein einziger Laut der Sprache, als willkürliches Zeichen, kann in einem flüchtigen Augenblick so viel Gedanken und Empfindungen ausdrücken, als die Musik nur in einer langen Reihe von Tönen nach und nach hörbar und fühlbar machen kann. Die hieraus entspringende Regel nehmen sich auch die Dichter der Operntexte zunutze, wenn sie darauf ausgehen, den Gedanken so wortreich als möglich auszuspinnen und die längsten und geschmeidigsten Worte den energisch kurzen vorziehen. Man hat den Komponisten vorgeworfen, daß ihnen die schlechteste Musik die beste wäre; aber sie ist ihnen nicht deswegen die liebste, weil sie schlecht ist, sondern weil die schlechte nicht gedrängt und gepreßt zu sein pflegt. Sie sind oft genötigt, ein Wort, eine Silbe ein halbes dutzendmal zu wiederholen, um den entsprechenden musikalischen Eindruck [175] zu machen. Dennoch scheint die Verbindung der Musik mit der Poesie die älteste und ursprünglichste zu sein, die Trennung eine spätere. Die Regeln des Versbaues gründen sich alle auf Harmonie, alle musikalischen Abwechselungen, Pausen sind auch in der Sprache der Poesie denkbar. So waren die ältesten Dichter zugleich auch Sänger, die älteste Poesie zugleich Musik. Wenn es heißt, daß Orpheus' Leier den Marmor schmolz und Ströme in ihrem Lauf hemmte, wenn Amphion Theben baute, so wurden unter den Tönen der Leier nicht bloße musikalische Laute, noch bloße Worte, sondern der wunderbare Einklang von Poesie und Musik verstanden.

Überhaupt war die Musik der Alten immer mit Poesie verbunden, selbständige Instrumentalmusik war ihnen fremd. Die Ursache liegt nahe. Ihre Instrumente waren weder vollzählig, noch vollkommen, was ließ sich mit der Harfe, Zither oder Forminx, mit der Lyra oder Laute, mit der Tibia oder Hoboe, mit der trompetenartigen Tuba und mit dem Syrinx der Hirten aufstellen? Erst in späteren Zeiten, besonders unter Italienern und Deutschen, bildete sich die Musik zur eigentlich darstellenden Kunst. Vorher war sie nur die Hülle, das Gewand der Poesie. Jetzt riß sie sich, den eigenen Kräften vertrauend, von ihr los, jedoch, wenigstens nicht bei den Deutschen, um sich ganz von ihr zu trennen, sondern, um sich ihr mit Freiheit wie der zu nähern. Selbst das Wort musikalisch ward nun selbständig gebraucht für die Kunst der Musik, früher bezeichnete es den Verein von Poesie [176] und Gesang, von Mimik und Deklamation, in dem jeder griechische Jüngling sich ausbilden mußte; in diesem Sinne muß man immer den musikalischen Unterricht verstehen, wovon Plato, Plutarch und andere griechische Schriftsteller so oft sprechen, als von dem wesentlichsten Bildungsmittel der Jugend, das auf Geist und Gemüt den unwiderstehlichsten Einfluß ausübe.

Die Alten sahen nur auf Melodien, ihre Chöre wurden nur nacheinander abgesungen und deklamiert. Künstliche Harmonien, Durcheinanderlassen der Töne auf verschiedenen Instrumenten, Tonversetzungen, Fugen, Auflösungen künstlicher Dissonanzen, kurz Werke eines Haydn oder Mozart, ganze große, durchdachte, auf die Regeln der Harmonie gegründete, mit Kraft, Geschicklichkeit, großartiger Phantasie ausgeführte musikalische Kunstwerke waren den Alten unerreichbar.

Räumen wir diese Selbständigkeit der Musik in neuerer Zeit ein, so kehrt mit verdoppeltem Nachdruck die Frage zurück, welche Stelle nimmt die Musik unter den Künsten ein, welche Grenzen sind ihr gesetzt, was ist ihr Reich, ihr Gebiet?

Kant in seiner Kritik der Urteilskraft sagt von der Tonkunst, daß sie unter den Künsten den größten Genuß, aber für sich die wenigste Kultur gewähre, indem sie mit bloßen Empfindungen spiele, welche auf unbestimmte Ideen von Affekten führten.

Die Musik stand also dem Königsberger nicht sehr hoch; auch Hegel machte sich nicht viel aus der Musik, weil sie ihm, wie er sagte, zu wenig zu denken gebe. Wie anders mußte Luthers [177] Ohr vom Zauberstabe der Musik berührt werden, wenn er ausruft: ich sage es frei heraus, daß nach der Theologie keine Kunst sei, so mit der Tonkunst kann verglichen werden, der die Flöte und noch kunstreicher die Laute spielte, und seinen hellen männlichen Tenor jeden Abend in seinem Hause ertönen ließ. Es ist nur Mangel an Tonsinn, an kindlicher Stimmung, an poetisch-webenden Gefühlselementen, was Kant, Hegel und andere Philosophen wie Nichtphilosophen zur Herabsetzung der Musik bestimmte. Schon das Medium, der Stoff der Musik erregen für ihre ästhetische Würde ein günstiges Vorurteil. Sie spricht durch den Sinn des Gehörs zu uns, ihr Medium, die Luft, ist unsichtbar wie die Töne, welche sie hervorruft, in diesem Unsichtbaren wirkt sie selber als etwas Unsichtbares, als etwas aus fremder Welt, und zwar nicht als Totes, Unbewegtes, Ruhendes, sondern als etwas Eilendes, Fließendes, über, neben, unter uns Hinschwebendes. Ihre Melodien sind uns die Sinnbilder unserer geistigen Regsamkeit, unsere stummen Gefühle, Ahnungen, Hoffnungen, unsere Schmerzen und Freuden, alles wird laut in unserer Brust, wir fühlen doppelt stark, allein wir erheben uns über den Schmerz und genießen diesen nur als Ton, der unser Ohr entzückt, ohne im Herzen einen Stachel zurückzulassen. Die Töne, sagt Heinse in seinem musikalischen Roman, greifen die Nerven und alle Teile des Gehörs an und verändern dadurch das innere Gefühl außer allen Vorstellungen der Phantasie. Unser Gefühl selbst ist nichts anderes als eine innere Musik, immerwährende Schwingung [178] der Lebensnerven. Die Musik rührt sie so, daß es ein eigenes Spiel, eine ganz besondere Mitteilung ist, die alle Beschreibung von Worten übersteigt. Sie stellt das innere Gefühl von außen in der Luft dar. Das Ohr, sagt er an einer andern Stelle, ist gewiß unser wichtigster Sinn und selbst das Gefühl, was man bisher für den untrüglichsten gehalten hat, bildet sich nach ihm. Das geübteste Auge eines Malers, Meßkünstlers ist gewiß nicht imstande, uns so, wie der Musiker, die leichten Verhältnisse der Hälften, Drittel, Fünftel und Sechstel einer Linie, irgendeiner Länge und Größe in Wirklichkeit auf ein Haar zu treffen. Deswegen sind die Taubstummen um so vieles unglücklicher als die Blinden, weil sie den Hauptsinn des Verstandes, der die andern zur Richtigkeit gewöhnt, nicht haben, und so gibt die Musik unter allen Künsten der Seele den hellesten und frischesten Genuß. Ein Glück, daß das Ohr des Menschen an seiner und mannigfaltiger Aufnehmung und Unterscheidung von Tönen das Ohr aller anderen Tiere übertrifft, obwohl ein vollkommen zartes, festes, reines und noch mehr, ausgebildetes Gehör ebenso selten ist, wie alle hohe Schönheit und man durch schlechte Gewohnheit diesen göttlichen Sinn sehr verderben kann.

In der Tat, vor der Musik muß jede Kunst, die am Sichtbaren haftet, an innerer Wirksamkeit übertroffen werden, wie der Körper vom Geiste: denn sie ist Geist, verwandt mit der Natur der in uns waltenden Kraft, der Seele, der Bewegung. Was anschaulich dem Menschen nicht [179] werden kann, wird ihm durch Musik mitteilbar. Vorübergehend ist jeder Augenblick dieser Kunst, denn eben das Kürzer und Länger, das Stärker und Schwächer, das Höher und Tiefer ist ihre Bedeutung, ihr Eindruck. Im Kommen und Fliehen, im Werden und Gewesensein liegt die Siegeskraft des Tons und der Empfindung. Dagegen jede Kunst des Anschauens, die an beschränkten Gegenständen und Gebäuden und nun gar an Lokalfarben haftet, dennoch nur langsam begriffen wird, obwohl sie alles auf einmal zeigt.

Vergangenheit und Zukunft unserer Empfindungen ist das Eigentümlichste der Musik. Sie soll die Natur nicht malen, nicht dichtend darstellen wie Maler, Bildhauer und Dichter, sondern anregen, nichts als anregen. Daher wirkt die Musik niebestimmt wie der Dichter, sondern unbestimmt; daher artet die Bemühung, einzelne Begebenheiten und Erscheinungen der Natur in der Musik nachzuahmen, z.B. das Klappern der Mühlen, das Schnurren der Räder, das Knirschen der Zähne usw. in lächerliche und unerträgliche Spielerei aus. Die Musik darf nie aus dem reinen Äther herabsinken und ihren Fuß auf den glatten Boden der Wirklichkeit setzen. Unsere Gefühle begegnen ihr von selbst, wir tauchen uns in ihrem reinen, dunkelwogenden Strom, wir trinken ihre Töne und stillen und reinigen uns in ihren harmonischen Fluten.

Man kann die Tonkunst unter den Künsten diefreieste nennen, weil sie am unmittelbarsten sich unserer Seele, unserer Einbildungskraft bemächtigt[180] und mit den musikalischen Formen der Schönheit anfüllt, ohne durch das Verstandesgebiet der Begriffe und noch weniger durch die Welt der wirklichen Anschauungen hindurchzugehen. In ihr verbindet sich am leichtesten das Individuelle mit dem Idealen, in ihr drückt sich am fühlbarsten das Unendliche durch das Endliche aus.

Daß die Töne, sagt Jean Paul, die in einem dunklen Mondlicht von Kräften ohne Körper unser Herz umfließen, die unsere Seele so verdoppeln, daß sie sich selber zuhört, und mit denen unsere tiefheraufgewühlten, unendlichen exaltierten Hoffnungen und Erinnerungen gleichsam im Schlafe reden, daß die Töne ihre Allmacht vom Sinne des Grenzenlosen empfangen, dies brauche ich nicht erst zu sagen. Die Harmonie füllt uns zum Teil durch ihre arithmetischen Verhältnisse; aber hie Melodie, der Lebensgeist der Musik erklärt sich aus nichts, als etwa aus der poetischen Nachahmung der roheren Töne, welche unsere Schmerzen und Freuden von sich geben. Die äußere Musik erzeugt die innere, und daher geben uns alle Töne einen Reiz zum Singen.

Wir schließen mit diesen Worten unsere Gedanken über den Kunstkreis der Musik. Nachdem wir bisher die eigentümliche Bahn der sämtlichen Künste beschrieben, flüchtig durchlaufen sind, werden wir in nächster Vorlesung unmittelbar nach unserm Plane diejenige von den Künsten behandeln, welche sich der Worte als ihrer symbolischen Zeichen bedient, der Poesie und Rhetorik.

18. Vorlesung

[181] Achtzehnte Vorlesung.

Nach der allgemeinen Charakteristik der Künste, welche in den Kreis der Ästhetik gehören, beschränken wir uns verabredetermaßen auf die Kunst der Rede, der poetischen wie der prosaischen. Diese Kunst bedient sich der Sprache, als ihres Materials, wie der Bildhauer des Marmors, der Musiker des Tons. Nicht alle Sprachen sind gleich geeignet für die kunstreiche Bearbeitung, einige sind zu spröde, andere zu weich, einige zu roh, andere zu gebildet, einige zu arm, andere, man möchte sagen, zu reich, wie die deutsche, was zwar ein schöner Fehler ist, wenn überall einer, was aber doch dem Dichter oder Redner bei der Wahl der Wörter und Ausdrücke nicht selten auch die Qual verursacht. Allein der wichtigste Unterschied, den dieses Material, dieser Gedankenmarmor, die Sprache darbietet, ist der, ob dasselbe unmittelbar und ursprünglich aus dem Urfels der Nationalität gebrochen und gewonnen wird, oder ob es nur ein ausgebrochenes Stück Sprache ist, das vom Urfelsen getrennt, nur bedeutungslose, gesprungene [182] und unterbrochene Adern aufweist; ich meine, ob die Sprache eine Grundsprache oder eine abgeleitete ist. Keiner kann die Tiefe dieses Unterschiedes begreifen, als der, dessen Begriffe in einer Grundsprache wurzeln, der selbst das Glück genießt, einem Volke anzugehören, dessen Sprache eine ewig fortrieselnde Quelle ist, deren Ursprung sich in die Felsen und Gebüsche der dunkelsten Vorzeit verliert. Man disputiere nicht mit einem Franzosen über den Vorzug der beiderlei Sprachen, und wenn der Franzose, was jetzt häufig von jungen und geistreichen Parisern zum Studium Goethes, Hoffmanns und anderer deutschen Schriftsteller geschieht, wenn er auch das Deutsche mit einiger Fertigkeit lesen und sprechen gelernt hat und den besten Willen zeigt, ohne altfranzösisches Vorurteil die Vergleichung beider Sprachen anzustellen, so wird er doch nie den größten Vorzug des Deutschen vor dem Französischen, die Ursprünglichkeit begreifen und mit auf die Wagschale legen. Niemand hat diesen Punkt eindringlicher und tiefer erörtert als Fichte in seinen unsterblichen Reden an die deutsche Nation; ich verweise Sie auf diese Stelle, wenn Sie Ihr Herz recht mit dem stolzen Gefühl durchdringen wollen, wie hoch unsere deutsche Muttersprache über den neuen europäischen steht. Freilich an äußerem Reiz ist manche ihr überlegen, heiterer, anmutiger, gesellschaftlicher ist die französische, grandiöser die spanische, sangreicher die italienische, allein seelenvoller und herzinniger, gestaltreicher und gedankendurchsichtiger als alle ist und bleibt die deutsche. Die französische [183] und alle abgeleiteten Sprachen mehr und minder sind mehr rhetorischer, die deutsche und alle ursprünglichen Sprachen mehr poetischer Natur. In jener hat sich die Sprache abgelöst vom sprachschaffenden, sprachbildenden Genius, vom Herzen, vom Bewußtsein der Nation, sie ist ein Äußeres und Fremdes geworden, und wer sich ihrer bedient, nimmt sie nicht aus sich, sondern aus dem Vorrat konventioneller Formeln und Redensarten, die für alle Zeiten gestempelt sind. In dieser, der ursprünglichen, ist Sprache und Seele eins, wer Deutsch spricht, spricht es aus seinem eigenen Innern heraus und bedient sich der Sprache nicht wie einer bloßen Konvention, sondern als eines Naturprodukts, das in seinem eigenen Lebensblute Wurzel faßt und seinen Geist vielastig mit Blüten und Früchten durchwächst. Goethe vergleicht daher sehr richtig die französische Sprache mit ausgeprägter Scheidemünze, die jeder in der Tasche bei sich trägt und der er sich auf das schnellste im Handel und Wandel bedienen kann, die deutsche aber mit einer Goldbarre, die sich ein jeder erst münzen und prägen muß; woher es auch ein gewöhnlicher Fall, daß der gemeinste Franzose rasch und fließend spricht, da er seine Wörter ungezählt nur so ausgibt, der Deutsche aber, selbst der gebildete, sich nur selten so rund und voll auszudrücken vermag, als er wohl wünscht. Demselben Umstande hat die französische Prosa ihre Vollkommenheit zu verdanken und sie, die Prosa, ist es vor allen Dingen, was den Ruhm und auch den Wert der französischen Literatur gegründet hat, obwohl darüber noch [184] manche im unklaren sind und die französische Poesie, die Trauerspiele eines Corneille, Racine, die gereimten Lustspiele eines Moliere, die Henriade eines Voltaire usw. für die einflußreichsten und am meisten klassischen Produkte der französischen Literatur erachten. Ich weiß nicht, ob die Franzosen ein rein poetisches Produkt zustande gebracht haben, ich wüßte keins, wo nicht der Redner den Poeten überwöge oder wenigstens ihm den Rang abzulaufen versuchte; selbst in der neuesten romantischen Schule, an deren Spitze Viktor Hugo steht, und die ohne Zweifel an poetischem Gehalt die altfranzösisch klassische überflügelt, spielt die Rhetorik, die Floskelei, die Tiradensucht die Hauptrolle. Was sind die französischen Poeten gegen die französischen Prosaiker, welche Sterne des Parnassus kann man einem Büffon, Rousseau, Diderot, Voltaire, Chateaubriand und anderen entgegenstellen? Im Deutschen möchte der Fall umgekehrt sein, den europäischen Ruhm unserer Literatur verdanken wir unsern Dichtern, und ich glaube, mit Recht. Abstrahieren wir von den tiefsinnigen Gedanken, von den wissenschaftlichen Systemen, welche unsere Prosa seit 50 Jahren entwickelt hat – wir wollen uns diesen Ruhm nicht schmälern, aber wir wollen nur bedenken, welch ein geringer Teil der Nation von diesem Tiefsinn, dieser Wissenschaftlichkeit Frucht gezogen hat –, was bleibt uns nach; sei es politisch oder moralisch oder sonst was in Prosa, was wir gegen die Werke unserer Poesie, gegen nur einen einzigen Dichter, wie Goethe, ja gegen nur ein einziges Gedicht, wie den Faust, [185] in die Schanze schlagen möchten? Ich wüßte es nicht. Es kann aber auch nicht anders sein, als daß bisher die deutsche Poesie die Prosa hinter sich ließ. Ich glaube, den Grund schon einmalangedeutet zu haben und zwar bei der Gelegenheit, als ich meine Freude über das kräftigere Aufblühen unserer heutigen jugendlichen Prosaiker aussprach. Die deutsche Prosa wird nie der französischen gleichgeartet werden, wer es von unserer Seite auf Nachahmung anlegte, wie es von diesem und jenem wirklich geschieht, der ahnt den Genius nicht, den er verhöhnt. Herz und immer wieder Herz muß dringen und klingen aus deutscher Rede, ob sie einfach-prosaisch dahinfließt, oder rhythmische Echos hören läßt; wir haben eine Natursprache, die sowohl an den Gedanken als an die Empfindung sich anschmiegt, ohne der gallonierten Kleider zu bedürfen: Natur, Wahrheit, Herzlichkeit, das sind die drei Farben, welche dem Deutschen so wohl stehen und die keine Kunst der Rednerei, der Witzelei, der Phantasterei ersetzt. Allein, bedenken wir die bisherigen Zustände der Deutschen, bedenken wir diese miserablen bürgerlichen und gesellschaftlichen Zustände der Deutschen, so begreifen wir leicht, warum die deutsche Prosa, der treue Spiegel dieser Zustände, jetzt im allgemeinen ebenso miserabel aussehen mußte, als sie wirklich tat und tut. Ja, nehmen wir nur die ausgezeichnetsten Prosaiker der neueren Zeit, die viel Mühe und Fleiß auf die Ausbildung ihrer Sprache verwandt haben, und denen es besser wie Tausenden geglückt ist, einen Fichte, Schleiermacher, Schiller, Goethe, welchen,[186] selbst Goethe nicht ausgeschlossen, möchte man der Jugend als reines Muster empfehlen. Fichtes Periodengeflechte sind mehr dornicht als blumicht, Schleiermacher spinnt fast unsichtbare Gewebe, und in dem Werk, was man für das Meisterstück seines Sprachskeletts ausgibt, in den Monologen, schreibt er Jamben statt Prosa; Schiller überbietet sich in einer glänzenden, aber nur zu oft undeutschen und hohl klingenden Paradesprache, und Goethe, der weit entfernt von diesem Fehler ist, hat in seinen Prosaromanen eine solche Menge glatter, höfischer Wendungen bei der Hand, daß man oft nicht weiß, wie man mit ihm daran ist. Der Stil ist der Mensch selber, sagt Büffon, und Jean Paul: wie jedes Volk sich in seiner Sprache, so malt jeder Autor sich in seinem Stil. Kräftigen, reinen und schönen Stil wird kein Schriftsteller in unkräftiger, unreiner und unschöner Zeit erwerben, füge ich hinzu, denn der Schriftsteller ist im höheren Grad als ein anderer, oder vielleicht nur sichtbarer, ein Kind seiner Zeit.

Doch dieses sind Gedanken, die wir später noch weiter auszuführen haben; für jetzt und zunächst soll es nicht die Prosa, sondern die Poesie der neuen Zeit sein, an welche wir unsere Ästhetik zu knüpfen gedenken.

Es ist ein alter Satz, daß die Poesie älter ist als die Prosa. Bewiese es nicht die Geschichte der Menschheit, so bewiese es die Bildungsgeschichte eines jeden Kindes, dem wir die Fibel mit gereimten Sprüchen und Sprichwörtern füllen. Mit Recht. Die Poesie gehört den Kindern, und was [187] in uns kindlich geblieben ist, gehört der Poesie. Gebt mir eine frische Kinderfreude, eine Seligkeit um nichts, eine taufrische Anschauung, einen von jenen lebhaften Eindrücken, die keine Zeit verwischt, und deren der Greis sich noch am Stabe erinnert, alles das gehört der Poesie an. Jede Empfindung gehört der Poesie an, wenn sie aus ihrem ordinären Zustande entrückt, reiner, frischer, tiefer wird, ohne zu wissen wie, so auch jeder Gedanke, dessen Mutter nicht gerade das Einmaleins oder die logische Formel des Widerspruchs und des exclusi tertii ist, jeder Gedanke kann einen poetischen Körper annehmen und aus der abstrakten Luft in den grünen Garten der Poesie herabgezogen werden. Unsere Dichter treiben dergleichen Geschäft als Kunst, den uralten Dichtern und den Kindern und dem Volke ist es Natur, so zu denken und zu fühlen. Ich will die Poesie nicht definieren, es geht ihr wie der Schönheit und allem Besten, was gottlob den Definitionshäschern zu hoch liegt, aber wenn ich sage: zieht von diesem Menschen, diesem Volke, dieser Zeit das ab, was ihre Religion, ihr Katechismus, ihr besonderer geschichtlicher Charakter, ihr positiver Gehalt, ihre spezielle Weltanschauung ist, so bleibt jedem Menschen, jedem Volk eine Saite, die rein menschlich oder rein göttlich tönt, eine Saite, deren Klang und Ton alle Menschen verstehen, und ständen sie auch Tausende von Jahren auseinander, das ist die Poesie. Gerade diesen Gedanken, diesen Begriff der Poesie wünschte ich Ihnen recht lebhaft zur Aneignung darzustellen. Die Poesie ist die Vermittlerin aller Zeiten und [188] Völker, die Vermittlerin aller Menschen, die Dolmetscherin aller Gefühle und Bestrebungen, und sie ist es dadurch, daß sie unmittelbar aus dem Herzen dringt, aus jener unergründlichen Tiefe, wo die Kraft neben der Leidenschaft schläft, aus jenem Kern des menschlichen Wesens, der, wenn er verwitterte, die ganze Menschheit in Staub zerfallen ließe. Nicht als ob die Poesie in ihrer Äußerung bei diesem, jenem Volke, diesem, jenem Menschen keine persönlichen, volkstümlichen, charakteristischen Elemente und Beisätze enthielte – es gibt ebensowenig eine abstrakte Poesie, als überhaupt etwas abstrakt Lebendiges –, sondern es hat die Poesie vom Himmel die Gabe empfangen, trotz ihrer beschränkt geschichtlichen Äußerung im Tiefsten das Reinmenschliche, allen Verständliche, allen bis zu einem gewissen Grade Genießliche für ewige Zeit aufzubewahren; eine Gunst, der sich weder Philosophie noch Religion zu rühmen vermag. Wie auch der Indier, der Chinese denkt und handelt, das mag uns ungereimt, unverständlich vorkommen, so daß wir uns ebensogut ein außermenschliches Wesen, einen Mondbürger in seiner Person imaginieren können, aber er liebt wie wir, er haßt wie wir, er hofft, er verzweifelt, er jauchzt, er blutet wie wir, und diese rein menschliche Empfindung macht sich unwiderstehlich Luft aus der Maske seines geschichtlichen Charakters und erinnert uns an die Bande der Brüderschaft, die alle Menschengeschlechter miteinander verknüpfen. Lesen Sie das indische Gedicht Naal und Damajanti – vieles wird Ihnen fremdphantastisch und Gewächs der [189] indischen Zone scheinen –, aber nicht die göttliche Liebe und Treue, welche sich darin verkörpert. Lesen Sie den Tschi-King, das Liederbuch der Chinesen 1, mit dessen Übersetzung uns Rückert sein neuestes Geschenk gemacht hat, und Sie werden hinter dieser wundersam geschnörkelten, steifen Schale des so ganz eigentümlichen Volks den Kern des Reinmenschlichen bewahrt sehen. In die Poesie flüchtet sich das mißhandelte Herz, hier und hier allein war es vom Priesterzwange frei, der sonst das ganze Leben und selbst den Gedanken des Volkes beherrschte. Und darum hat der herrliche Rückert recht, wenn er in der poetischen Einleitung sagt:


Ich fühle, daß der Geist des Herrn,
Der redet in verschiedenen Zungen,
Hat Völker, Zeiten nah und fern
Durchhaucht, durchleuchtet und durchsungen,
Ob etwas herber oder reifer,
Ob etwas reicher oder steifer –
Ihr seid Gewächs aus einem Kern
Für meinen Liebeseifer.
Nicht ist der Liebe Morgenrot
Von Chinas Mauer ausgeschlossen,
Auch dort liebt Liebe bis in Tod,
Und treu bleibt Liebe, auch verstoßen.
[190]
Und alle starken Herzensbande
Um Kinder, Eltern und Verwandte
Und Vorfahr'n, aller Lebensnot
Entrückt zum Götterstande.
Der Mutter, die uns alle trug,
Der Erde pflegen sie und warten,
Der Kaiser selber lenkt den Pflug,
Und um ihn blüht des Reiches Garten.
Dann Landesnot und Kriegesjammer,
Beweinte Bräut' in öder Kammer,
Und Unmut, der die Saiten schlug,
Heiligen Zorns Entflammer.
Und den letzten Vers schließt Rückert mit den tiefsinnigen Worten:
Daß ihr erkennt: Weltpoesie
Allein ist Weltversöhnung.

Bleibe ich zum Schluß noch einige Augenblicke bei diesem neugewonnenen Liederschatze stehen und hebe eins derselben heraus. Der bei weitem größte Teil derselben enthält Reklamationen des menschlichen Gefühls, Klagen und Protestationen, gegenüber dem strengen Gesetz oder der willkürlichen Handhabung desselben. Nur der kleinste Teil derselben ist servil und weihräuchert dem Kaiser, der Regierung, den Sitten – im Gegenteil sind manche sogar geradezu revolutionär. Es ist der Schmerz und Ruf der Natur unter dem Druck barbarischer Gesetzkonsequenzen, und als solches charakterisiert [191] sich auch folgendes Lied eines Eunuchen, der seinen Fluch ausspricht über den Urheber seiner Schande, einen Verleumder:


Der sein Zungenschwert gewetzet
Und zu Tod mich hat gehetzet,
Gebet ihn den scharfen Tatzen
Aller Leun und Tigerkatzen.
Wenn die Tiger und die Leuen
Sich ihn anzugreifen scheuen,
Bringet ihn hinauf nach Norden,
Gebt ihn den Barbarenhorden.
Wenn die nordischen Barbaren
Selber ihm das Leben sparen,
Gebet ihn der Hölle hin
Ihm zu tun nach meinem Sinn.
Ich Mong-Tsee, der dies Lied gesungen,
Bin ein Opfer von Verleumdungen,
Im Palast des Kaisers ein Eunuch.
Die ihr höret meinen Spruch,
Gebet ihm, dem es gelungen,
Mich dazu zu machen, euren Fluch.

So weiß sich ein chinesischer Eunuch in poetischem Zorn Luft zu schaffen, während die geistigen Eunuchen unserer schlaffen Zeit das Messer küssen, das sie geschändet hat.

Fußnoten

1 Diese Anführung ist aus Menzels Literaturblatt.

19. Vorlesung

[192] Neunzehnte Vorlesung.

Vielerlei sind der Sprachen, Zungen und Charaktere auf der Welt, die einander nicht verstehen; die Poesie aber ist die heilige Flammenzunge, die aus aller Herzen zu aller Herzen spricht und jeden Menschen mit süßem Verständnis bewegt. Die Poesie ist die Natur, die ursprüngliche Menschheit, die sich mit jeder besonderen Erscheinung der Menschheit auf dem Felde der Geschichte gattet und daher, so allgemein menschlich sie in ihrer Quelle ist, doch jedesmal einer besonderen Menschheit, einem gewissen Zeitalter eigentümlich angehört. Man kann daher mit Recht von einer katholischen und griechischen Poesie sprechen, von einer romantischen und klassischen, nur wird man sich hüten, den Gegensatz unmittelbar in das Wesen der Poesie selbst zu setzen, die Poesie ist nur die eine bei allen Völkern, Zeiten und Zuständen, aber der Strahl dieser einen Sonne bricht sich tausendfach in der geistigen Atmosphäre und verursacht dadurch ein buntes Farbenspiel von Weltpoesien, deren Verständnis, nach Rückerts Ausdruck, allein zur Weltversöhnung führt.

[193] Die Geschichte der Poesie, diese Blüte der Geschichte der Menschheit, lehrt uns, daß jene Gattung von Poesie, welche man die epische nennt, bei allen Völkern die ursprünglichste und älteste war. Für die griechische und indische Poesie ist dies außer allem Zweifel gesetzt; für die römische hat Niebuhr es wahrscheinlich gemacht, indem er die ganze sogenannte älteste römische Geschichte, wie sie im Livius vorliegt, auf einen dichterischen Sagenursprung zurückführt und stellenweise in den Büchern des Livius noch die alten rhythmischen Klänge nachweist. Auch die deutsche Poesie verrät ihren epischen Ursprung, mag man diesen in die älteste Zeit des Augustus und der Hermannschlachten oder in die spätere der Völkerwanderung versetzen. Von jener ältesten ist uns allerdings kein einziges Denkmal übrig geblieben, allein die Nachrichten, die Tazitus in der Germania über die Poesie der Deutschen gibt und die Erwähnung altdeutscher Heldenlieder, welche Karl der Große zu sammeln befahl, setzen es beinah außer Zweifel, daß zur Zeit, als Virgil seine künstliche Aeneis schrieb, das geschichtliche Lied von den Taten der Vorfahren, das Epos noch als ein Naturgesang in den Wäldern Germaniens widerhallte. Noch zweifelloser ist die epische Natur der deutschen Poesie, die sich aus der Völkerwanderung entwickelt hat und worauf sich unsere heutige poetische Sprache als auf ihre erste ersichtliche Quelle zurückführt. Das Nibelungenlied des 13. Jahrhunderts bildet die künstlerische Vereinigung aller jener epischen Mythenstrahlen, welche seit dem 6. Jahrhundert einzeln den deutschen[194] Himmel überflogen, das Band der Rhapsodien, welche bis dahin, gleich den homerischen, von wandernden Sängern bei festlichen Gelegenheiten, einzeln vorgetragen wurden.

Fragen wir nach der Ursache, warum eben die älteste Poesie einen epischen Charakter trug, warum ein Homer früher kommen mußte als ein Sophokles? Ich denke, wir können uns auf folgende Weise über diese Erscheinung verständigen. Je weiter man den ersten Anfängen einer Volksgeschichte nachgeht, desto lebhafter wird man angereizt durch einen stehenden Charakterzug, der die frühere Menschheit von der jetzigen unterscheidet. Man sieht die Vorfahren und Stammväter eines jeden Volkes weit mehr als ihre Nachfolger und Enkel von einem gewissen einheitlichen Gefühl des Lebens durchdrungen, das sich nicht allein auf die Gegenwart erstreckt, sondern auf die Vergangenheit zurückwirkt und diese mit jener in unmittelbare Verbindung setzt. Bei uns ist es anders. Wir reißen uns allerdings nicht vollkommen aus der Verbindung mit der Vorzeit heraus, sondern unterhalten eine solche mittels der Geschichte, welche uns die früheren Zustände pragmatischkritisch vor Augen führt. Allein es verhält sich das, was wir Geschichte nennen, zum Epos des Altertums wie ein frisch blühender Baum zu einer eingetrockneten Pflanze, die im Herbarium des wissenschaftlichen Naturforschers liegt; oder es verhält sich die Kunde, welche das Altertum von seiner Vergangenheit hatte, zu der Kunde, welche die neue Zeit von früheren Dingen nimmt, wie die [195] Praxis zur Theorie, wie die unmittelbare Anschauung zum leblosen Bilde. Wir studieren die Geschichte aus Büchern, der eine weiß viel, ein anderer wenig oder nichts von dem, was vor Zeiten in der Welt und im Vaterlande vorging, wer aber ein Wissen davon hat, hat eben auch nur ein solches Wissen, das ihm in seiner indifferenten Objektivität unendlich fernliegt vom wirklichen Leben, von seinen eigenen Gefühlen, Überzeugungen und Anschauungen. Der frühere Mensch aber identifiziert die Vorzeit mit der Vergangenheit, er sog die Vergangenheit ein mit der Muttermilch, sie war ihm ein integrierender Teil seines Wesens, und alle Erscheinungen, Taten, Gefühle derselben blieben ihm so verständlich, wie die Erscheinungen, Taten und Gefühle der Gegenwart selber. Was daher ein Dichter von der Gegenwart sang, das sang er im gewissen Sinn auch von der Vergangenheit, und umgekehrt, was er der Vergangenheit Großes nachrühmte, davon traf er die lebendigen Bilder in der Gegenwart. Warum aber der Dichter am liebsten die Taten der Vergangenheit darstellte, mit denen dann die Ansichten und Gefühle der Gegenwart zusammenschmolzen, davon lag der Grund, wie es mir scheint, in der volkseinheitlichen, unpersönlichen Richtung der Poesie, welche den Dichter mit seinen individuellen Ansichten von Zeitcharakteren und Zeitereignissen ganz in den Hintergrund treten ließ und statt dessen nur den vollen, ungeteilten Strom der Volkssage, in die Dichtung einleitete. Die Poesie verlangte eine gewisse Ferne, ein Läuterungsfeuer der Zeit, [196] um alle Privatvorurteile und Nichtigkeiten beschränkter Ansichten von sich abzuscheiden und nur die Stimme des Volkes, Gottes Stimme walten zu lassen. Der Dichter sang nicht sich, sondern dem Volk und den Vorfahren zum Ruhm, und daher ward auch weniger der Dichter als das Gedicht unter dem Volk berühmt, wie z.B. der Name des Dichters, dem das Nibelungenlied seine jetzige Gestalt verdankt, gänzlich unbekannt geblieben ist, und wie selbst Homer allem Vermuten nach, erst in späterer Zeit seinen Ruf, ja seinen Namen erhalten hat.

Damit wäre nun freilich das Vorwalten des Epischen vor dem Lyrischen hinlänglich motiviert, weniger aber das Zurückstehen und das spätere Hervorteten des Dramatischen. Warum ist wie das Lyrische, so auch das Dramatische in ältester Zeit nur ein Element des Epischen, ohne selbständige Ausbildung, als Trauerspiel oder Lustspiel? Ich antworte, weil im Epos, wie überhaupt in der ältesten Zeit die ganze ungeteilte Weltansicht vorherrscht, weil sich darin keine Kraft des Geistes isoliert, sondern Empfinden, Wissen, Handeln harmonisch zusammenwirkt. In der Lyrik ist die Empfindung, im Drama die Tat oder vielmehr das Leiden der Persönlichkeit überwiegend, im Epos aber tritt beides in die gehörige Schranke zurück, in den Kreis, welcher der Erzählung gleichsam durch den Stab des Rhapsoden um die Dichtung gezogen wird. Das Drama sondert einen Helden, eine Begebenheit aus dem Kreise der Helden und Begebenheiten ab und gibt dadurch der einzelnen [197] Darstellung eine überwiegende Wichtigkeit; das Epos läßt den Helden, seine Leiden und Taten nur in einer ganzen Welt von Helden und Taten zur Erscheinung kommen. Das Epos ist seiner Natur nach unendlich wie die Geschichte, das Drama hingegen begrenzt, wenn auch nicht mit innerer Notwendigkeit so enge, daß eines Tages Sonne über den Helden auf- und untergehen müßte. Es kommt hinzu, daß nach Goethes Bemerkung das epische Gedicht vorzüglich denaußer sich wirkenden Menschen darstellt, Schlachten, Stürme, Reisen, jede Art von Unternehmungen, die eine sinnliche Breite erfordern, das dramatische Gedicht aber mehr den nach innen geführten Menschen, daher auch dieses sich in wenig Raum und Zeit zusammendrängen läßt, ja wenn es echter Natur ist und streng in seinem Charakter gehalten wird, nur wenig Ortsveränderungen und Zeiträume bedarf. Auch dieses lag gänzlich in der Gemütsart des Altertums, es mußte den äußeren Bestand, das Objekt der gemeinsamen Anschauung, die Tat als den Vereinigungspunkt aller Meinungen überwiegend darstellen, und daher war eben jene alte Poesie, die epische, ein Gemeingut der ganzen Nation im höheren Grade, als es je die lyrische und dramatische werden konnte. Während nämlich das Drama, die Ode auf einen einzigen Dramen- und Odendichter als Verfasser zurückweist, hatte das Epos eine ganze Nation von Dichtern, aufzuweisen, wo keiner der Vorsänger so kühn sein konnte, sich allein mit dem Lorbeer zu schmücken, der allen gebührte.

[198] Indem ich auf diese Weise versucht habe, den Grund dafür anzugeben, warum das Epos die älteste Gattung der Poesie sei, habe ich zugleich den Grund mit berührt, warum die spätere Zeit nicht mehr imstande sei, ein echtes Epos zu schaffen. Der Versuche freilich sind bis auf die neueste Zeit sehr viele, noch vor einigen Jahren hat ein Landsmann von uns, der Bürgermeister Lindenhan, ein großes, episches Gedicht unter dem Namen Malta in die Welt geschickt, wo es aber nicht sehr weit hingekommen zu sein scheint. Selbst ein bedeutenderes, ja das bedeutendste dichterische Talent muß notwendig an der Aufgabe scheitern, mit der Iliade oder den Nibelungen in die Schranken zu treten. Ich erwähne der Aeneide des Virgil nicht, denn sie ist eben nur einer dieser verfehlten Versuche, durch willkürlichen Entschluß und mit persönlichem Talent die innere organische Notwendigkeit einer Volksdichtung nachzuahmen. Ein Epos im modernen Sinn, konzipiert von dem und dem namhaften Verfasser, ist seinem Charakter nach das gerade Widerspiel vom alten echten Epos, und die Strafe, sich an diesem versündigt zu haben, folgt den Verfassern gewöhnlich auf dem Fuße nach, indem ihr willkürliches Machwerk keine Seele erwärmt und begeistert, sondern herzliche Langeweile erregt, wenn auch ganze Zeiten und gewisse Menschen bemüht sind, sich, zu Ehren der epischen, vaterländischen Muse, darüber in Selbsttäuschung zu erhalten. Noch vor einigen und dreißig Jahren mußte jeder patriotische Deutsche den Namen des Klopstockischen Messias schimpfshalber mit einiger [199] Entzückung aussprechen, mochte er den Messias gelesen haben oder nicht; gegenwärtig, wo vielleicht kein Mensch in Deutschland lebt, der sich der vollständigen Durchlesung der Messiade berühmen kann, ist es erlaubt, bei aller Achtung für die riesenhafte Arbeit eines abstrakten Dichtergenius, sich dessen nicht zu schämen und jeder Anmutung der Art durch schlagende Gründe zu begegnen. Es ist ausgemacht, daß jedes epische Gedicht neuerer Zeit, je länger es geriet, desto langweiliger geraten ist, und daß nur die besondere romantisch- katholische Natur der Comoedia divina des Ariosts und des befreiten Jerusalems von Tasso, diesen epischen Gedichten einen Kreis gebildeter Leser erhalten hat und erhalten wird. Das Epos aber kann die Länge und Ausführlichkeit gar nicht vermeiden, denn sie sind ihm, wie schon bemerkt, wesentlich charakteristisch, mag der Dichter sich nun durch zwölf, oder gar durch vierundzwanzig Gesänge hindurchschlagen. Diese Erbsünde des modernen Epos: Langweiligkeit, entsprungen aus nötiger Länge, hat Jean Paul sehr humoristisch dargestellt im folgenden Abschnitt, der der Mitteilung bei dieser Gelegenheit vorzüglich wert ist.

20. Vorlesung

[200] Zwanzigste Vorlesung.

Die Zeiten des Epos sind vorüber, an die Stelle des Epikers ist der Romandichter getreten, der mit Entäußerung der epischen Maschinerie und des Rhythmus sich im allerfreiesten Element bewegt und den in moderne Prosa, moderne Gesinnung überpflanzten Epiker darstellt. Wir lassen aber die Charakteristik des Romans nicht unmittelbar auf das Epos folgen, sondern behalten uns dieselbe für die Darstellung der Prosa vor.

Das Drama, dessen wir schon im Gegensatz des Epos erwähnt haben, ging einst unmittelbar, wie alle echte Poesie, aus dem Schoß des Volks, des nationellen Geistes, der nationellen Sitte hervor. Wie in Griechenland, so im Mittelalter entsprangen die ersten dramatischen Vorstellungen aus religiösen Faschings und gaben daher hier wie dort religiösmythologische Handlungen zum besten, anfangs rein mimisch, monologisch, in der Folge dialogisch, bis sich auch ihr Gegenstand und Inhalt veränderte und an die Stelle der Götter oder Heiligen, Könige und Helden traten. Dies ist die allgemeine äußere [201] Geschichte des Dramas; allein jede Nation hat ihre eigene. Das griechische bewahrte viel von seinem mythologischen Charakter und ließ Götter und Göttinnen noch in spätester Zeit persönlich auf der Bühne erscheinen; das spanische entwickelte sich durchaus religiös und katholisch-phantastisch; das englische schwang sich zuerst zu reinmenschlicher, politischer Höhe hinauf, während das französische ein à la français zugeschnittenes griechisches blieb und die deutsche nachahmend mit dem englischen und griechischen wetteiferte. Mit Nachahmung englischer Stücke machte man unter uns den Anfang, Gryphius und andere Dichter des 17. Jahrhunderts haben vieles nur so vorderhand übersetzt, man stößt in ihren Stücken sehr oft auf guten englischen Humor, der den Deutschen in damaliger Zeit ganz ausgegangen zu sein schien. Das erste Drama von Bedeutung, das ein Jahrhundert später aus dem Studium der englischen Bühne, zumal aber aus der Bewunderung des Shakespeare entsprang, war Goethes Götz von Berlichingen, nach welchem einzigen Schauspiel die ungeheure Flut der Ritterromane sich erhob, wie nach Schillers erstem Produkt, den Räubern, die ebenso starke Literatur der Räuberromane Deutschland überschwemmte. Goethes, des Dramendichters Würdigung, Goethes Bedeutung für seine Zeit ist es nun besonders, was ich mir in diesem Abschnitt zur Aufgabe setze, der vom deutschen Drama handelt: nicht vom Drama überhaupt, noch von Völkerdramen im allgemeinen, noch einmal vom deutschen Drama, als von einem Stück und Fachwerk der schönen [202] deutschen Literatur, sondern vom deutschen Drama, das nicht mehr ist, das mit Schiller und Goethe zu den Schatten hinabgestiegen ist, das mit Schiller, vornehmlich aber mit Goethe einer Zeit angehört, der wir nicht mehr angehören können, noch wollen. Wer klagt nicht über den Tod des Schönen auf der Erde, über den Hingang vorleuchtender großer Köpfe, über die Seltenheit, daß solche Verluste bald durch äquivalente Anlagen ersetzt werden, wer klagt nicht darüber, daß Deutschland keinen Schiller mehr hat, oder daß Goethe nicht ewige Jugend zuteil wurde? Wie willig stimme ich dieser Trauer bei, die ich nur zu gerecht finde, da unsere dramatische Bühne heutigestags verödet ist und ein Raupach, ein Immermann statt Schillers und Goethes auf dem deutschen Kothurn einherstolzieren. Allein man würde diesen Verlust nicht gehörig würdigen, wenn man glaubte, es sei wünschenswert oder überhaupt nur möglich, daß die kreisende Zeit uns einen andern Schiller und Goethe gebäre. Und hatten wir auch Dichter, so groß wie diese, wir hatten damit noch keine Schillerschenund Goetheschen Dramen. Zu jeder angeborenen Kraft, die sich naturgemäß äußern soll, gehört zweierlei, ein Raum, worauf sie wirkt, eine Feder, die sie springen läßt. Beides fehlt in Deutschland dem Dramendichter. Jener rein poetische Schwung, der die Köpfe am Ende des 18. Jahrhunderts ergriff und sie erst bei der Befreiung Deutschlands und dem Sturze Napoleons fahren ließ, war in der Geschichte der Poesie einzig in seiner Art, durchaus ohne Beispiel, wenn man nicht ungehörigerweise [203] das Augusteische Zeitalter damit vergleichen wollte, das allerdings eine pilzartig schnell aufwachsende Literatur aufzuweisen hat, die auf fremdem griechischen Boden entsprossen, mit keinem Lebensgeflecht des alten Roms zusammenhing, die aber sich doch eines nationalen Sonnenscheins erfreute, indem Rom, obgleich beherrscht, Herrscherin des Erdbodens war. Deutschland hingegen fand sich in Goethes Jugend und Mannesalter in dem aufgelöstesten Zustande, es war in seinem politischen Vermögen nach innen und außen paralysiert, ohne Anregung durch Siege oder Niederlagen, die den Blick poetisch zu erweitern imstande gewesen, in welche Kategorie gewiß der Siebenjährige Krieg nicht gehört, wie man an Gleim, Ramler, Kleist, den Dichtern desselben, zur Genüge ersieht. Es war jene Zeit für Deutschland, in der man durchaus nichts tat, nichts tun wollte, in der die Töchter der Tat oder der Begeisterung für die Tat, die Dramen geboren wurden. Zu andern Zeiten und bei andern Nationen fachte der dramatische Dichter das Feuer seines Genies an durch den frischen begeisternden Atem, der durch die Gegenwart ging, das Volk spielte sein Drama erst selber auf dem Markt, ehe der Dichter es auf die Bretter brachte; der Schwung der Gesinnung, die Größe der Ideen und Schicksale lag in der Zeit, nicht nur im Hirn und Busen des Dichters. Allein gegen das Ende des 18. Jahrhunderts schien es in Deutschland, als ob die Poesie sich abgelöst hätte von ihrem Stamm, als ob sie ein ideelles Leben für sich beginnen wolle, ohne Gemeinschaft [204] mit dem wirklichen. Ein Jahrhundert, das von Rechts wegen aller Poesie und aller Poeten bar und ledig hätte sein sollen, war poesie- und poetenreich, Dichter schossen an Dichtern empor und überragend blühten zwei mächtige Häupter mit den glänzendsten Lorbeeren. Der eine von ihnen, Schiller, hat sich sein ganzes Leben hindurch in dieser ideellen Richtung behauptet. Geht man die schimmernde Reihe seiner Trauerspiele durch, so findet man, die allerersten vielleicht ausgenommen, darin keine Spur, zu welcher Zeit dieselben entstanden oder vor welchem Publikum dieselben aufgeführt, es sind Kunstdramen, oder vielmehr es sind keine Dramen, sondern die Dramatik selbst, von bald abstrakten, bald historischen Personen aufgeführt. Kann man nun wirklich behaupten, daß der Charakter der ganzen Zeit dieselbe ideelle Richtung teilte, sich in Abstraktion und Historie vertiefte und die verflüchtigte Gegenwart und das leere fade Leben nicht darüber anschlug, so mag wohl Schiller eher, denn Goethe, als dramatischer Repräsentant seiner Zeit aufgestellt werden. Allein beobachten wir einen Umstand, eine Verschiedenheit in beiden Produktionen mit gehöriger Schärfe, so sind wir, wie es scheint, nicht aufgelegt, diese Meinung zu bestätigen. Es gibt keine Sukzession in Schillers Werken, keine andere, als die immer durchdachter und selbstbewußter werdende Kunst. Seine Dramen zeigen auf der einen Seite keinen inneren Zusammenhang, keine organische Einheit, keine durchlebte Geschichte von Ansichten und Gemütsstimmungen, auf der anderen Seite nach [205] außen hin keinen Zusammenhang mit den Gemütsstimmungen und Ansichten seiner Zeitgenossen. Dies ist der Fall bei Goethe, und diese Wahrnehmung berechtigt uns, eher Goethe denn Schiller als Repräsentanten seiner Zeit zu betrachten. Ziehen wir zuerst das berührte äußere Verhältnis in Erwägung, so finden wir, daß Goethes dramatische Meisterwerke, ebenso wie dessen Romane und Gedichte, mit der Zeit im innigsten Zusammenhang standen, insofern sie eine Idee, eine Stimmung der Zeit (die sich freilich zuletzt immer ins Abstrakte oder Philisterhafte oder Lächerliche verlor), poetisch, kräftig aussprachen und für einen gewissen Zeitraum im Publikum allgemein machten. Goethes Berlichingen, Egmont, Faust, Meister und andere Dramen und Romane verraten die Zeit ihrer Entstehung, und ihre Schöpfung diente Goethe meistens als dichterisches Bedürfnis, sein Gemüt von einseitig heftigen Inklinationen zu befreien und ihm die verlorene poetische Freiheit wiederzugeben. Denselben geschichtlichen Charakter findet man darum auch in persönlicher Beziehung darin. Goethes Werke und Dramen waren er selbst zu irgendeiner Zeit seines Lebens, als Jüngling, Mann, Greis, als Ritter, Weltmann, Verliebter usw. Jeder Deutsche, darf ich ferner behaupten, konnte sich für seine einzelne Person in diesen Werken spiegeln, seine Bildung ging denselben Gang wie die Goethische. Noch vor zehn, zwanzig Jahren, vielleicht noch gegenwärtig in der überwiegenden Mehrheit, konnte man den Gang der Goethischen Werke, in dem etwas seit der Zeit, [206] daß sie geschrieben, beschleunigten und zusammengedrängten Leben und Bildungslauf eines Deutschen studieren. Was am Ende des vorigen Jahrhunderts sich sukzessiver in Perioden von längerer Dauer aufeinander folgte, das ging nun ebenso sukzessive in Perioden von kürzerer Dauer vor sich. Jener Zeit in Deutschland, als der Werther gedichtet wurde, als nämlich eine unbestimmte, schmachtende, unendlich angeregte, unendlich unbefriedigte Sehnsucht sich der jugendlichen Gemüter bemächtigt hatte, entsprach und entspricht der Zustand eines Schülers, Primaners, der voll Sehnsucht und voll Hoffnungen steckt, ohne so recht eigentlich das Objekt dieser Sehnsucht zu kennen, und ohne zu wissen, was er wünscht. Jener an deren Zeit, als der Götz von Berlichingen die übermütige, ritterliche Kraftperiode der deutschen Literatur ausdrückte und repräsentierte, entsprach wieder jenes Stadium im Leben eines jungen Deutschen, wo er auf Universitäten sich erst zurechtfand, die Sporen klingen ließ, den Flammberg schwang, etwas altertümlich und ritterlich renommierte, und wenn es ihm wohl ward, das schönste Gefühl in sich, die angeborene Sehnsucht auf etwas Bestimmtes, auf das künftige Vaterland zu fixieren kam. Der Zeit hingegen, als Goethe jene größere Zahl von dramatischen und romantischen Gedichten schrieb, wo die Liebe zu einem Mädchen die Hauptrolle spielt, entspricht dieselbe Periode im Leben eines Deutschen, die auf die ritterliche folgt, wo der eiserne Götz in Splittern zerspringt und statt dessen ein schmachtender, sanfter Liebhaber zum Vorschein [207] kommt, der über sein Mädchen Welt und Vaterland vergißt. Was aber die größte und letzte Reihe der Produkte Goethes betrifft, diese Romane und Dramen, welche das Philistertum, das vornehme, wie das gemeinbürgerliche, nicht allein erträglich und behaglich, sondern auch poetisch finden, so entsprechen sie dem Deutschen, der Ehemann geworden, ein Amt, Ehre und Titel bekommen hat und der mit einer gewissen vornehmen Ironie auf die Schwärmereien seiner Jugend, auf Sehnsucht, Rittertum, Vaterland, Jugendleben zurückblickt, des Tages bei den Akten schwitzt, des Abends eine Partie L'hombre spielt und beim Zu-Bette-Gehen den Tag im Kalender durchstreicht, den er als ehrlicher Gatte und Staatsbürger durchlebt hat. So gleichen die Goethischen Schriften, besonders seine Dramen, ihm selbst und seiner Zeit; so würden sie jeder Zeit geglichen haben, in welche Goethe hineingeboren wäre; selbst der größten, von welcher nur die Geschichte meldet. Das aber ist das Kennzeichen des echten Dramatikers, wie jedes großen Dichters, daß er der Zeit ein Spiegel ist, worin sie sich selbst erkennen mag. Wie und warum dieses nicht vom Faust gelten könne, verdient eine besondere Betrachtung, welche ich der nächsten Vorlesung aufspare.

21. Vorlesung

[208] Einundzwanzigste Vorlesung.

Wir haben in der vorigen Stunde die mancherlei Phasen des Goethischen Geistes durchlaufen, die Erscheinung des Fausts aber als eine zu singuläre bezeichnet, um nicht aus der Reihe der übrigen hervorzuragen. Doch, so mannigfach und vielseitig auch das Goethesche Leben und die seinem Leben entsprechenden Dramen und Gedichte sind, so lassen sich doch zwei große Partien und Abschnitte desselben unterscheiden, die den Hauptcharakter der zu ihnen gehörigen dichterischen Produkte unverkennlich an sich tragen, Goethes Jugend und Goethes Alter, die Jugend und das Alter seiner Zeitgenossen, seiner Zeit. In seiner Jugend dichtete er jene unsterblichen Dramen, die wie ein Feuerguß aus seinem Genie, aus seinem Herzen strömten und die Nation mit der ganzen Frische der Genialität, mit dem Zauber der Sympathie ergriffen und in Begeisterung setzten, den lyrischen Werther, den ritterlichen Götz, den Egmont, den Faust. Denken Sie sich einen Augenblick lebhaft in jene Zeit zurück, als Goethes Name sich zuerst dem Klopstockschen[209] anreihte, als Goethe anfing, der Liebling der Deutschen zu werden und niemand noch die Bahn berechnen konnte, welche sein Geist in der Literatur beschreiben würde. Der große Fritz hatte ein kriegerisches Feuer in der Jugend angefacht, und während er, nach Beendigung des Siebenjährigen Krieges, wieder ruhig seine preußischen Wachtparaden in Potsdam hielt, eröffnete Klopstock die Bühne des deutschen Ruhms in den Wesergebirgen und führte den Deutschen eine Zeit ins Gedächtnis zurück, wo die furchtbarste Macht der Erde an der Kraft und dem Freiheitsgefühl ihrer Vorfahren zerbrochen und gescheitert war. Klopstock besang den Untergang des Varus und seiner Legionen, den Triumph der Germanen, den blut- und staubbedeckten Herrmann mit der Affektation des Enthusiasmus eines alten heidnischen Barden, der eben sein Schwert vom Blute der Schlacht gereinigt hat und nun in die Harfe greift, um zugleich ein Sänger und ein Held den Ruhm seiner Nation zu verkünden. Daß kein Deutscher mehr von der Varusschlacht wußte, daß alle jene gefeierten Namen, Herrmann, Thusnelda kein lebendiges Erbgut der Nation waren, sondern aus lateinischen Büchern zur Kunde der Gelehrten gelangten, das tat dem neuen Barden keinen Eintrag, Herrmann war nun einmal sein Held, der Held seines Patriotismus, während Christus, als der Held seiner Religiosität, ihm friedlich und weltversöhnend aus dem Schoße der Gottheit hervortrat, und der bloß menschlichen Kraft, dem heidnischen Heldentum, dem Blutvergießen, Freiheitsdrange, der Vaterlandsliebe, [210] die nicht das himmlische Vaterland vor Augen hat, den Stab brach. Wie aber die Namen eines Herrmann und Christus dem Dichter Klopstock mit gleicher Begeisterung von den Lippen tönen konnten, begreift niemand, der nicht die ganz besondere Art der Begeisterung erwägt, welche Klopstocks und seiner Zeit Muse war. Unstreitig hatte sie viel Gemachtes und Pedantisches, aber selbst der gemachten Begeisterung liegt ein Bedürfnis des Herzens zugrunde, das nur nicht, aus eigener oder fremder Schuld, auf naturgemäßem Wege befriedigt wird. Billigerweise zwar hätte jene Zeit keine Spur von Begeisterung verraten dürfen, denn der Siebenjährige Krieg war ein Schandfleck für die Deutschen und je mehr sich ein Name, der des großen Friedrich, durch Taten und Siege unter den Deutschen erhoben hatte, desto tiefer drückte das Gewicht dieses Namens das Deutsche Reich, das ganze alte Deutschland in den Staub der Verächtlichkeit nieder. – Preußen, jenes slavische Preußen, jene unbedeutende, für so und so viel Silberlinge gekaufte Mark des Deutschen Reiches hatte sich siegreich erhoben über den Kern des alten Deutschlands, das Haus Brandenburg stellte sich in politischer Bedeutsamkeit dem Hause Habsburg, das ebensoweit außer dem Herzen Deutschlands lag und dem es schon vor alters geglückt war, die Kraft des Reiches aus seinem Zentrum, Franken, Schwaben, Sachsen, herauszudrängen und den Herd unserer Freiheit Slavenhänden anzuvertrauen, entgegen. Durch das Übergewicht Preußens war Deutschland ganz verloren, [211] denn diese zerstückten Ländchen, die von der Donau bis zur Eider im Kern von Deutschland sich hinziehen, waren schlecht geeignet, jenen konzentrierten Mächten auf der Flanke, auf dem Flügel, der nach den Wäldern und Steppen der Barbaren hinzieht, das gehörige Gleichgewicht zu halten. Und das alles hatten die Deutschen selbst verschuldet, zu diesem allen hatten sie freiwillig ihre Arme, ihre Waffen, ihre Talente, ja ihre Begeisterung hergegeben, und nur durch ihre eigene Mitwirkung hatte das slavische Element das freie deutsche allmählich in Fesseln gelegt, was sonst, nach der Natur beider Völkerschaften, ein Ding der Unmöglichkeit war. Jener Rudolph von Habsburg, jener Burggraf von Nürnberg, jener Friedrich der Große waren vom deutschen Blut, alle Siege und Vorteile, die sie über Deutschland gewannen, wurden errungen und behauptet durch deutsche Männer, die sich ihrem Dienst widmeten und denen gewiß nicht die ganze Gefahr vor Augen schwebte, die ihr Vaterland bedrohte. Dieselbe Blindheit zeigte die ganze Nation zur Zeit des Siebenjährigen Krieges, sie bewunderte Friedrichs Genie und in der Bewunderung seiner Person, seines Glücks, dachte sie nicht daran, daß sie selbst eine große moralische Person ausmache, gegen welche die Persönlichkeit eines Fürsten, eines einzelnen Mannes verbleichen und verschwinden müsse, sie trug in ihrem Eifer ihm die Trümmer des kaiserlichen Zepters und des Reichsapfels entgegen, sie ließ sich schlagen, verspotten und jubelte über die Schlacht von Roßbach, wo der größte Teil des Heeres nicht [212] aus Franzosen, sondern aus deutschen Reichstruppen bestand. Sancta simplicitas und doch – ich begreife diese Deutschen und will nicht verschwören, daß jeder von uns zu der Zeit einPreußengänger, ein Enthusiast für Friedrichs Siege und Eroberungen gewesen, so gut, wie Vater Gleim und der Frühlingssänger Kleist. Ich weiß nicht, wer es gesagt hat, aber es ist wahr, es liegt eine Ader in der menschlichen Natur, die muß bewundern und anbeten. Ich glaube, der Deutsche hat am meisten von dieser Art, es ist ihm von jeher ein Bedürfnis des Herzens gewesen, große, entschiedene, machtvolle, Resignation, Unterwürfigkeit gebietende Persönlichkeiten lebhaft zu verehren, kindlich-fromm unter die Heiligen seines Gemüts aufzunehmen. Wer wollte diesen Zug verdammen, gehört er doch mit zu den schönen, leider nur zu sehr geschwächten und entstellten Zügen unseres Nationalcharakters, wie die Geschichte uns denselben vor Augen führt. Das Tier bewundert den Menschen nicht, aber der Mensch den Engel, den Gott. In der Bewunderung eines über uns erhabenen Wesens liegt etwas vom Stoff jener Erhabenheit, die wir bewundern, etwas Heroisches, was der Knechtssinn nicht ahnt, der nur mit hündischer Natur die Macht anwedelt, deren Überlegenheit ihm Prügel und Essen verschafft. Wir entäußern uns, nicht aus Furcht oder Interesse, sondern freiwillig unseres kleinen Ichs, um bescheidentlich ein größeres Ich in uns walten zu lassen, wir fühlen die Nähe eines göttlichen Dämons, und eben darum, weil wir imstande sind, sie zu fühlen, entsagen wir dem [213] nichtigen Kampf der Eitelkeit und verschreiben und ergeben uns ihm, um unsere Brust mit einem Gefühl anzuschwellen, das uns glücklicher, gewisser und stärker macht als das Gefühl unserer eigenen Existenz, entblößt und nackt von jener Magie des fremden Willens. Dies ist wahr und gereicht uns zur Ehre, allein wir müssen eingestehen, daß die Rezeptivität für die Größe einer Persönlichkeit in uns sich teils nicht immer nach der geistigen Größe der Person, sondern oft nur nach ihrer äußeren, angeborenen richte, teils und überhaupt abhängig sei von dem mehr oder minder entschiedenen und tätigen Zustand unserer Seele, so daß wir, wenn wir selbst am entschlossensten und tätigsten sind, uns in dem Maß am wenigsten aufgelegt fühlen, in einen bloß passiven und bewundernden Zustand überzugehen. Dieser Zustand der Entschlossenheit und Tätigkeit der Kraft des Selbstbewußtseins mangelte aber durchaus dem Deutschland, das Klopstocks Alter und Goethes Jugend sah. Deutschland war so lange verödet gewesen an Helden und Dichtern, da erschien Friedrich und Klopstock, und die Deutschen gaben sich unbedingt dem Zuge ihres Herzens hin, füllten ihre Phantasie mit den Bildern der Größe, des Krieges, mit dem Heros des Tages und der Vorzeit, mit Friedrich und Herrmann und mitten im Kriegsgetümmel, im wirklichen oder nachhallenden Donner der preußischen Kanonen, und dem nur eingebildeten Schwirren der Cherusker-Lanzen und dem Gebraus der Bardenlieder horchte eine ausgewähltere, stillere Schar [214] auf die Töne der Zionsharfe, welche »der sündigen Menschen Erlösung« sang. Dies war die Zeit, in welcher Goethe auftrat, die Zeit, in welche die erste Klasse seiner Produkte fiel, die durch einen charakteristischen Grundzug von der zweiten Hälfte abgesondert ist.

Goethe besang weder den Siebenjährigen Krieg noch stimmte er in die Barditen Klopstocks ein. Er war zu poetisch gestimmt, um beiderlei Sujets für poetisch zu halten; aber auch noch zu voll und jugendlich stürmisch, um sich, wie in späterer Zeit jedes Sujet für die Ausübung der Dichtkunst gefallen zu lassen und die Poesie nur als die Kunst, etwas Beliebigem eine poetische Form zu geben, in Betrachtung zu ziehen. Angeregt durch die Größe des Mittelalters, seine Taten und Bauwerke, dramatisierte er die Geschichte eines deutschen Helden, dessen Lebensgeschichte in den völligen Abschluß des Mittelalters fällt, und der gleichsam zu noch guter Letzt alles Rohe und Ehrliche der deutschen Ritterlichkeit in seiner Person vereinigte. Diesen und sein Zeitalter stellte er den Deutschen zur Bewunderung auf, und man weiß, wie sehr es ihm gelungen ist, die deutsche Jugend in die kurze Phantasie zu versetzen, als trüge sie noch, wie damals, eiserne Beinschienen und fühlte sich, wie Götz, berufen, die Welt aus geschlossenem Visier zu betrachten. Goethe ließ die Phantasie der Deutschen nicht rasten, er wußte ihnen beständig neuen Stoff aus dem Reich seiner Ideen und Gefühle darzubieten. Alles dies war revolutionärer Natur, stellte sich in Kontrast mit der politischen [215] und moralischen Ordnung, wenn auch unabsichtlich. Eigentlich kann man dasselbe behaupten von Friedrichs Ruhm und Klopstocks Bardenliedern, sie konnten nur durch Nichtachtung und Überdruß des damaligen Deutschlands entstehen und blühen, Friedrich und Klopstock konnten Deutschland nie entzücken, hätte es nicht tatenlose Langeweile gefühlt. Goethe trug die unzufriedene Begeisterung, in alle Gebiete des Geistigen und Sittlichen über. Faust ist ihr Kulminationspunkt, und als solchen muß man ihn auffassen, wenn man die Entstehung dieses Gedichts zu jener Zeit begreifen will, das, wie es herauskam, so wenig von der tiefen und ewigen Bedeutung desselben ahnen ließ und erst nach und nach jenen europäischen Ruf erlangt hat, in welchem es gegenwärtig steht. Dieser Faust ist der Wendepunkt des Goethischen Genies, von dieser höchsten Spitze der Begeisterung und Herzensfülle stieg es plötzlich wieder herunter, und begann die zweite Epoche seines Ruhms, die der ruhigen Plastik, der beschränkten, gegen Stoff gleichgültig sich verhaltenden Kunstdarstellung, welche das Tiefste, Aufregendste, Leidenschaftlichste sorgfältig vermeidet, sich mit der Gegenwart versöhnt und auf deren Niveau die Gestalten der Poesie aufträgt. Doch bezeichnen und verfolgen wir diese Richtung nicht weiter, denn wir haben noch Gelegenheit, auf sie zurückzukommen. Zunächst ist es uns um die geschichtliche Stelle, welche dem Faust zukommt, zu tun gewesen und da wir diese ermittelt haben, so fragt es sich, nach jener übergeschichtlichen Bedeutung, die jedermann gewohnt [216] ist, darin zu suchen. Ich habe bereits erklärt, daß ich diese nicht im Zusammenhang des Goetheschen Lebens und aus der Zeit entwickeln läßt; Faust ist ein Werk, das weit über seiner Zeit, ja selbst über dem steht, dessen Feder wir es verdanken. Faust war einmal ein Moment im Goetheschen Geiste, Goethe war einmal Faust, nämlich in den großen heiligen Jugendstunden, als der Geist dieser Dichtung über ihn kam. Aber Goethes Geist verkörperte sich auch in einen Wilhelm Meister, in einen Schenken Hafis und Gott weiß in welcherlei bunte Gestalten, die mit Fausts Tiefe nichts zu schaffen haben. Als Goethe den Faust empfunden und geschrieben hatte, schien es, als wüßte er nichts mehr von ihm, als kenne er ihn nicht mehr, als suche er ihn zu verleugnen und alles auf jugendliche Überspannung zu schieben. Goethes Fortsetzung des Faust paßt auf seinen früheren Faust, wie die Faust aufs Auge, und muß einen, wenn man diesen zweiten Teil durchblättert, jene unendliche Wehmut ergreisen, die das ganz veränderte und entstellte Bild einer Geliebten erregt, wenn man sie nach jahrelangem Zwischenraum wiedersieht. Faust ist der Hiob und das hohe Lied der Deutschen, er ist, wie ich diese Worte Heines schon einmal angeführt, das deutsche Volk selbst, das geplagt und durchgemartert vom Wissen, Glauben und Entsagung an die Rechte des Fleisches appelliert, aus einem Schatten der Geschichte ein lebendiges Wesen, aus einem Träumer ein wachender, genießender Mensch werden will. Faust, der seine Studierstube und seine Studien historischer Pergamente [217] verläßt, um sich der Welt zu nähern und der Welt Lust und Schmerzen in seine Brust zu häufen, er ist der Deutsche, der den Staub des Mittelalters von seinen Füßen schüttelt, um sich im Tau der neuen Zeit zu baden. Faust ist das nach Befreiung ringende Deutschland, ja, das befreite, das sich des Sieges seiner Freiheit im voraus bewußte Deutschland, Faust ist der erste Verkünder dieses Sieges und zugleich die Bürgschaft dafür.

22. Vorlesung

[218] Zweiundzwanzigste Vorlesung.

Goethe ist der erste Dramatiker der neueren Zeit, Byron der erste Lyriker. Die Erscheinungen dieser beiden Dichter, zu verschiedenen Zeiten, in verschiedenen Ländern sind die bedeutsamsten, welche es für die ästhetische Anschauungsweise des neuen Europa gibt. So himmelweit entfernt der aufgehende Stern Byrons vom untergehenden Goethes am Horizonte schimmert, so nahe lag einst die Region ihres beiderseitigen Aufgangs. Auch Goethe erhob sich bei seinem ersten jugendlichen Aufbrausen zum Streit gegen die bestehende bürgerliche Gesellschaft, in lyrischer Wut schüttelte er die Ketten der Konvenienz von sich ab und warf sich in die Arme der Natur und der Freiheit. Seine ersten Dramen haben einen durchaus lyrischen Charakter, wie seine späteren den epischen. Wie es nun der Lyrik eigentümlich, daß sie des Dichters innerstes Wesen herauskehrt und die ewigen Laute der Natur vernehmen läßt, die sich in ihrer Unterdrückung durch Gesang und Töne Luft verschafft, so zückt auch durch Goethes jugendliche Dramen [219] und Romane der lyrisch revolutionäre Schrei der Natur hindurch und bildet die schrillendsten Mißlaute mit den Satzungen einer abgelebten Geschichte, mit der Schwäche und Unnatur seines Zeitalters. Von Pietät keine Spur, unbarmherzig und schonungslos läßt er seinem Spott den Zügel schießen, keck und ritterlich gesinnt stellt er in Götz eine derbe Persönlichkeit dem aufgelösten charakterlosen Wesen seiner Zeit gegenüber, in Faust einen genialen Denker, dem Nachbetertroß der Wagner und aller der tausend und aber tausend Gewohnheitsmenschen, die vor einem selbständigen Gedanken, vor einer frischen und freien Tat erschrecken und sich lieber für ihr ganzes Leben wie Ungeziefer auf dem Kadaver der Vergangenheit ernähren, als den Mut fassen, die Geburtswehen einer neuen Zeit auszuhalten und diese mit ihrem Mark und Blut groß zu säugen. Goethes Spott traf nicht allein die Satzungen der Moral, Theologie, Metaphysik, der äußeren Konvenienz, sondern auch die Satzungen der Politik, des toten Mechanismus des Staats, den Unsinn der Gesetze, wie denn jene Worte sich wie Brandmarken an den bei aller Fülle von Gesetzen gesetzlosen Zustand Deutschlands anheften, die Mephistopheles im Faust zum Schüler spricht:


Es erben sich Gesetz und Rechte
Wie eine arge Krankheit fort;
Sie schleppen von Geschlecht sich zum Geschlechte
Und rücken sacht von Ort zu Ort.
Vernunft wird Unsinn, Wohltat Plage;
Weh' Dir, daß Du ein Enkel bist
Vom Rechte, das mit uns geboren ist,
Von dem ist leider nie die Frage.

[220] Allein, wie Sie wissen, war es Goethe nicht vorbehalten, in der Politik diesen lyrisch-scharfen Charakter durchzuführen. Es lag vielleicht in seiner Natur, die mehr zum Aristokratischen und Vornehmen, als zum Demokratischen sich hinneigte, vielleicht in dem äußeren Lauf seines Lebens, in der günstigen Aufnahme, die er am Hofe zu Weimar fand, in der Freundschaft, die er mit dem Herzog und der herzoglichen Familie pflegte, in einem geheimen zarten Liebesverhältnis, worin er zu einer Prinzessin stand, in seiner späteren Stellung als Minister, vielleicht in allem diesem motiviert und zum Überfluß in dem politischen Zustand Deutschlands, in der Unempfänglichkeit der damaligen Deutschen für Politik, ihrer ewigen unfruchtbaren Listenmacherei, ihrem tatlosen Geschwätz und Geschreibe, ihrer politischen Kannegießerei, daß Goethe sich mit dem politischen und gesellschaftlichen Zustande, wie er nun einmal seit alters in Deutschland bestand, redlich versöhnte, und sich bis auf seinen Tod aller Revolutionsgedanken, aller Besserung des Staates, deren Impuls von unten aufkam, entschieden abgeneigt erklärte. Er verlangte, seltsam genug, von der Jugend, von der neuen Generation, welche den Untergang der ältesten europäischen Monarchie und die Siege der französischen Republik als ein wirklich Erlebtes schon hinter sich sah, Pietät gegen Gesetz, Staat und Fürsten, er, der in seiner Jugend die Zeiten des Faustrechts glücklich gepriesen hatte gegen die Zeit des gesetzlich wuchernden Unrechts, in der er geboren und erzogen ward. In seiner[221] letzten Zeit schrieb er ein Journal: Kunst und Altertum betitelt – »ob er wirklich glaubte,« fragt Heine, »daß Kunst und Altertum imstande waren, Natur und Jugend zurückzudrängen?«

Allein, meine Herren, welches auch der Grund war, warum Goethe sich von den äußeren Bewegungen der Zeit zurückzog und das Verdammungsurteil über sie aussprach, es wäre eine wahre und begründete Impietät, seiner Asche das Verdienst zu entziehen, die sterblichen Atome des größten Deutschen, des geistigen Befreiers der Deutschen zu befassen. Es ist wahr, Goethe war ein Aristokrat in der Politik, ein Verehrer des Hof- und Fürstenwesens, ein Panegyrist der angestammten Macht, ein Protektor der leidlichen Mißbräuche, bei denen es sich immer noch ziemlich behaglich leben läßt, ein Freund des Manierlichen und äußerlich Distinguierten, ein strenger Verteidiger des äußeren Unterschiedes der Stände, des Herkömmlichen, Anstandsvollen; aber in dieser Charakteristik Goethes liegt so wenig Charakteristisches für sein Genie, daß es auf jeden Kammerherrn und Hofmarschall im Deutschen Reiche paßt. Derselbe politische Aristokrat, dieser Mann, der das große geschichtliche Element der Völker von einem so kleinen höfischen Standpunkte betrachtete, übersah das religiöse, sittliche und wissenschaftliche Leben mit den Blicken eines Adlers, und vom Standpunkte einer Zeit, den Gott weiß, welche Generation unserer Urenkel erst mühsam erklettern wird. Goethe war der Luther seines Jahrhunderts, dessen Bibel die Natur und dessen Schüler und [222] Anhänger die Jahrhunderte selbst sind, die nach ihm kommen.

Spreche ich also das letzte Wort über ihn aus, indem ich mir seinen doppelten Charakter, als Servilen und Liberalen, als Großen und als Kleinen, als Genie und als Weltmann, durch eine Grundrichtung seines Geistes in letzter Instanz zu erklären suche. Goethe trug als Jüngling die ganze neue Zeit, die kommende Weltanschauung in seiner Brust, und was ihn damals im tiefsten Grund bewegte und womit er die Welt und seine Zeitgenossen überraschte, das wird früher oder später die Welt bewegen und Deutschland politisch und moralisch umschaffen. Allein Goethe gehört zu denjenigen Charakteren, welchen nicht die unmittelbare Gestaltung der Außenwelt, sondern zunächst die Bildung ihrer eigenen Persönlichkeit von der Natur zum Grundgesetz gemacht zu sein scheint; daher er sich auch bald aus der Gewitterregion, welche aus dem Innersten und Tiefsten der Leidenschaft Blitze in die Welt schleudert und deren Stärke einzig und allein den Luther, den Demagogen macht, zurückzog in die klarere Region eines mehr ruhigen, um die Welt scheinbar unbekümmerten Selbstbewußtseins, das, nach außen durch eine freie und würdige Stellung befriedigt, nach innen im steten Bildungsprozeß zu immer größerer Kraft und Klarheit beschäftigt wurde. Eine solche Persönlichkeit ist ganz durchaus auf sich basiert; daß andere es ebenso machen, sich ebenso unabhängig in der Welt hinstellen, mag und kann ihr nur recht sein, aber sie streckt die Hand nicht [223] aus zu diesem Zweck, sie sucht nicht durch Umwälzungen die sittlichen und politischen Fundamente fremder Persönlichkeiten zu basieren, sie schließt sich egoistisch in ihrem Kreise ab und begrüßt jeden, der diesen durchbrechen will, unwillig mit elektrischen Schlägen. So denke und erkläre ich mir den ganzen Goethe, und es sagt mir ein Etwas, daß ich dieses hohe Ziel nicht zu weit verfehlt habe.

Die Lyrik der neuen Zeit ist das poetische Ausströmen des Revolutionären; revolutionär war die Lyrik Goethes, als er jung und feurig war, revolutionär war die Lyrik des großen Briten, der in Goethes, des Jünglings, Fußstapfen trat und jene Leier mit neuen Saiten bezog, welche Goethe beiseite gelegt hatte. Byron starb in Griechenland, und seine letzte Ode war der Freiheit der Griechen gewidmet, zu deren Miterkämpfung er jahrelang Geld, Talent, Ruhe, Vergnügen freudig beigesteuert hatte. Revolutionär ist die Lyrik der neuen Zeit, das behaupte ich, aber ich bitte, mich nicht dahin mißzuverstehen, als ob ich jeder neuen und neuesten Lyrik, welche diesen Charakter nicht trägt, den Stab brechen wollte; ich erkenne sie nur nicht für voll an, ich spreche ihr nur das Herz und den Geist der Zeit ab, ohne dem Dichter Herz und Geist a priori persönlich abzusprechen. Viel Zutrauen habe ich freilich nicht zu dem poetischen Verdienst eines neuen Gedichts oder einer neuen Gedichtsammlung, von der man mir im voraus sagt, es seien nichts als poetische Büsche, Felsen, Seufzer, Ritter, Turniere, Festgesänge, Reisen, Spaziergänge und dergleichen zensurfreie und unschuldige [224] Sächelchen darin, die ganz und gar keinen Bezug auf die Stimmung der Zeit hätten – Gott sei es geklagt, jede Leipziger Messe bringt uns einige Scheffel von diesen Klingklang- und Singsangsachen deutscher Musenjünglinge, die es nicht verantworten zu können glauben, ihren Namen der Nachwelt vorzuenthalten. Dagegen kenne ich auch liebliche Gedichte der süddeutschen Sängerschule, die Uhland als ihr Haupt anerkennt, die, so zeitlos und einfach sie auch sind, mich in Momenten ebenso sehr erfreuen, als z.B. auch die liebenswürdige Persönlichkeit eines Süddeutschen, der unter Bergen und Reben, in der Nähe von alten Kloster- und Burgruinen aufgewachsen, mir heiter und unbefangen seine glückliche Beschränktheit entgegenträgt. So kann ich auch im Gegenteil Gedichte, die mit rein politischer Tendenz geschrieben sind, Zeitereignisse im Prisma der Poesie betrachten und es darauf anlegen, durch die Darstellung derselben auf den politischen Sinn der Leser zu wirken, welche mir dennoch unter dem Gesichtspunkt der Poesie und der Lyrik durchaus nicht wahr und bedeutend scheinen.

Ich verstehe unter dem Ausdruck: die moderne Lyrik ist revolutionär das: jeder große Dichter, der in unserer Zeit auftritt, wird und muß den Kampf und die Zerrüttung aussprechen, worin die Zeit, worin seine eigene Brust sich findet. Der Dichter müßte blind sein, oder kalt, oder gefühllos, oder heuchlerisch, oder kein großer Dichter, der mit seiner Leier über den ungeheuren Riß hinweghüpft, welcher die Gegenwart von der Vergangenheit [225] trennt, er müßte nicht der Dolmetscher der Natur und Menschheit sein, wenn er nicht das Ringen und den Schmerz dieser Menschheit verstände, fühlte und in den Wogen der Poesie dahinbrausen ließe. Byron war ein großer Dichter und daher war seine Lyrik, die er nur leicht in ein episches Kleid einhüllte, durch und durch revolutionär, was um so großartiger und erschütternder bei ihm hervortritt, als er im Schoß des Glücks geboren, Lord und künftiger Pair des Reichs, früh bewundert und beneidet war. Ich will kurz sein mit seiner Geschichte, um Goethe, der den Gang seines Lebens und Charakters geschildert hat, für mich reden zu lassen. Es ist wunderbar, wie dasselbe Land, Griechenland, des alten Meisters Leidenschaft beschwichtigte und ihn zu Kunst und Altertum führte, was den Jünger erst in diese Leidenschaft hineinriß, oder vielmehr die Leidenschaft, die in ihm schlummerte, ihn bewußt werden ließ. Erst als Byron kaum in den Zwanzigern die Kreideküste Englands verlassen und in den griechischen Buchten und Inseln sich umhertrieb, kam jener Geist der Poesie über ihn und ließ ihn in einer Zunge reden, die er früher, unter den Lords und Damen der englischen Gesellschaft kaum verstanden hatte. Haß gegen Aristokratie, Tyrannei, Kastengeist, Unnatur der Sitte, Pfaffentum, dagegen Liebe zur Freiheit, ungebundenes Streben, griechisch-heitere Ansicht des Lebens und der Liebe, verbunden mit den Gefühlen der Ehre und Sittlichkeit, selbst mit dem Bewußtsein alten Adels und vormaligen feudalen Geschlechtsglanzes bildeten [226] die Grundelemente seiner Poesie, worin Goethe mit tiefem Blick ein Kind des Griechentums und des Mittelalters gesehen hat. Byron war der einzige revolutionäre Dichter, den Goethe anerkannte, ja er liebte ihn und trug eine gewisse väterliche Besorgnis um ihn, die Byron von der Zeit an mit kindlicher Ehrfurcht erwiderte; wie dies interessante Verhältnis aus Thom. Moores Leben Byrons zu ersehen ist. Im zweiten Teil des Faust hat Goethe Byron ein Denkmal gesetzt, mir wenigstens unterliegt es keinem Zweifel, daß Byron und nur Byron jenes unruhige, waghalsige, himmelstürmende Kind der Liebe ist, welches die schönste Episode in diesem zweiten Teile herbeiruft; wie ich mich denn nicht enthalten kann, Ihnen folgendes daraus mitzuteilen, was dazu dient, sowohl Goethe als Byron zu charakterisieren.

23. Vorlesung

[227] Dreiundzwanzigste Vorlesung.

Wie wir als allgemeines Gesetz aufgestellt haben, daß die jedesmalige Literatur einer Zeitperiode den jedesmaligen gesellschaftlichen Zustand derselben ausdrücke und abpräge, so sahen wir dies bisher im Felde der Dramatik und Lyrik an Goethe und Byron insofern bestätigt, als wir beide zu den glänzenden Herolden ihrer Zeit rechnen mußten, unbeschadet ihres individuellen Charakters, der sie von der großen Menge ihrer Zeitgenossen unterschied. Und auf diese Weise haben wir uns überall die Repräsentation einer Zeit durch Dichter und Schriftsteller vorzustellen, auf die Weise nämlich, daß sie Zeichnung und Färbung von ihrer Zeit entlehnen, dennoch aber in Gemälden selbständig und schöpferisch zu Werke gehen und einen ihnen eigentümlichen Stil an den Tag legen. So haben wir von Byron erwähnt, daß seine Leier von den Schwingen der neuen Zeit angeregt gewesen, mehr wie die eines anderen neuen Dichters; haben aber zugleich bemerkt, daß er in seinen Gedichten den Lord nicht vergessen und bei allem Feuer für [228] die Rechte der Menschheit und der unterdrückten Völker, bei allem Enthusiasmus für die Freiheit und reine Humanität des griechischen Altertums sich mit Stolz als den Enkel eines altenglischen, feudalen Geschlechts betrachtete und kundgab. In dieser Verschmelzung des Griechischen und Mittelalterigen sah Goethe mit Recht den Grundton seiner Poesie, wie sie auch jenen besonderen, ja tiefen, charakteristischen Reiz der Byronschen Gedichte bildet, der auf des Dichters Persönlichkeit rückwirkend einen so interessanten Schimmer wirst. Allein so wenig sich in rein poetischer Beziehung Gedicht und Dichter trennen lassen, so erlaubt ist es, in allgemeiner ästhetischer den Grundton der Byronschen Gedichte in einer höheren Weltbedeutung wiederzufinden und diese Mischung des Antiken und Feudalen als eine Mischung und Vereinigung des griechischen und germanischen Geistes zu betrachten, welche tropfenweise in die Adern des europäischen Staatskörpers eindringen und seine Muskeln mit frischem Blut aufschwellen wird. Griechische Luft soll und wird die trüben Dünste, die grausigen Gespenster des Feudalismus verwehen, aber unverweht lassen jene herrlichen Blüten germanischer Tapferkeit und Tugend, welche unsere Nation in der Heimat, wie in den durch ihr Schwert eroberten Ländern, in Frankreich, Spanien, England, vor allen Nationen des Erdbodens auszeichnet. Kein Geschlechtsadel, keine Adelskaste mit angeborenen und forterbenden Unrechten soll forthin den freien Boden und die Freiheit aller Männer beschimpfen, aber diese, das ganze Volk [229] soll wahrhaft und ritterlich in die Schranke treten, und jeder einzelne, welchem Stande er auch angehöre, soll seine Person mit der Würde schmücken und umgeben, welche in früherer Zeit nur das Erbteil des Bevorrechtigten war. Man wird nicht, wie die Griechen, den Handwerker zum Sklavenstande, nicht wie das Mittelalter, ihn zur dunkeln Folie des Ritters verdammen – es wird eine Zeit kommen, sagt Goethe, wo jedermann genötigt und verpflichtet sein wird, eine Kunst, ein Gewerbe zu lernen und auszuüben, und wo es also niemand zur bürgerlichen Zurückstellung und geistigen Benachteiligung gereicht, irgendein Werk der Hände zu verstehen und seinem Nachbarn zum Beispiel einen Tisch zu drechseln, von dem er selbst die metallenen Verzierungen gegossen oder den Überzug gewirkt erhält. Es wird eine Zeit kommen, wo man des faulen, geistigen Luxus, des ewigen Wiederkäuens schimmeliger theologischer und philosophischer Streitpunkte satt und überdrüssig sein wird, wo ein jeder, reich oder arm, groß oder klein sich freuen und Glück wünschen wird, durch kunstreich geübte Hand Unterhaltung in ein Leben zu wirken, das durch geistige Überladung vergangener Jahrtausende erschöpft und aufgerieben worden ist. Diese Aussichten, die jetzt beinahe nur als Träume eines Traums erscheinen, werden sich verwirklichen durch jenen allmählichen, still fortwirkenden Akt der Weltgeschichte, welcher die Übertreibungen, Einseitigkeiten, Vorurteile früherer Jahrhunderte pulverisiert und aus der Asche eine neue Blume entstehen läßt, welche die Farbe der Gesundheit und Jugend trägt.

[230] Byron, so groß er unter den Dichtern der neueren Zeit dasteht, war nur der Vorläufer eines Genius, der, ungetrübt durch Vorurteile der Geburt und Erziehung, die heranbrechende Messiade der Menschheit besingen wird.

Ob in Versen oder in Prosa – das ist gleichgültig. Poesie ist alles, was aus der innersten Natur der Menschheit dringt, und es scheint fast, als ob Deutschland namentlich seine größeren Dichter gegenwärtig unter den Prosaisten zählt. Wenigstens würde der Schluß vom poetischen Gehalt unserer dramatischen Dichter, unserer lyrischen und epischen Dichter auf den poetischen Gehalt unserer ganzen Literatur sehr kläglich ausfallen; Platen, Immermann, Raupach usw. als Repräsentanten deutscher Poesie, von dieser keinen großen Begriff zu erregen imstande sein. Viel eher möchten wir Heinrich Heine als solchen begrüßen, und auch nicht seiner Verse, verfehlten Dramen und liederlichen Lieder wegen, als um die Prosa, die er in den Reisebildern zutage gelegt hat.

Was diesen Dichter-Prosaisten betrifft, so habe ich schon meine Absicht erklärt, ihn als ein Charakterbild der neuen Prosa in ästhetischer Rücksicht ebenso aufzufassen und darzustellen wie Goethe und Byron als Charakterbilder der neueren Poesie. Man muß Heine in dieser Gesellschaft, der Zeit, wie der Ansicht nach, als den entschiedensten Charakterschriftsteller betrachten, indem er sich, noch stärker und rücksichtsloser als Byron, der gewöhnlichen Denk- und Empfindungsmasse der früheren Schriftstellerwelt entgegengesetzt hat. In offener [231] Fehde mit allen Ansichten der Zeit, die sich ihm als verjährte und abgestandene darstellen, hat er alle diese Ansichten und die Träger derselben, ein ungeheurer Hause, wider sich und dagegen nur eine Waffe, den Witz, während Byron außer seinem Talent auch Reichtum und Adel bei seinen Anfeindungen ins Feld stellen konnte. Dennoch weiß er sich mit dieser einen Waffe hinlängliches Ansehen zu verschaffen, und wenn man es auch selten wagt oder würdigt, ihn öffentlich hoch anzuschlagen, so läßt man ihm doch, selbst feindlich gesinnt, im stillen die Gerechtigkeit widerfahren, daß sein Kopf in der deutschen Literatur über den Köpfen seiner Nebenbuhler hervorrage.

Schöpfen wir, wie wir es bei Goethe und Byron getan, aus der Geschichte seines Lebens diejenigen Andeutungen, welche uns die besondere Art und Richtung seines Talents erklären helfen. Er ward in Düsseldorf geboren als Jude, aber von einer christlichen Mutter, war zum Handel bestimmt und handelte wirklich eine Zeitlang, studierte dann in Göttingen, schrieb seine Reisebilder, führte ein flüchtiges Reiseleben, war in England, Italien und seit der französischen Juli-Revolution in Paris, wo er sich an die französischen Revolutionäre, besonders unter den Schriftstellern, anschloß und seine französischen Zustände, wie zuletzt die skizzenhafte Übersicht über die deutsche Literatur herausgab.

Stellen Sie sich nun ein poetisches Genie vor, das dem Byronschen ähnlich, ja demselben an Penetration des Verstandes überlegen, verkörpert [232] wird nicht im Palaste eines Pairs von England, sondern im bescheidenen Wohnhause eines rheinischen Juden, ein Genie, das nicht in die Schule von Eaton, sondern in die Synagoge von Düsseldorf wandert, das zum Handelsmann erzogen wird und durch Zufall oder inneren Drang eine deutsche Universität, die Universität Göttingen, besucht und dort, umgeben von Pedanterie und Roheit, von steifem Zeremoniell der Professorengesellschaften und der Sittenlosigkeit des Studentenlebens, sich seines Genies inne wird – da haben Sie den Schlüssel zum ersten Band der Reisebilder, den er noch als Student in Göttingen niedergeschrieben hat. Zu keiner Zeit ist ein dichterisches Werk erschienen, das mehr die frischen Spuren seiner Konzeption verraten hätte als dieses. Göttingen und der Harz sind einander gegenübergestellt als Prosa und Poesie, allen Ärger und Witz der Jugend schüttelt er auch über ein solches Gefängnis des Geistes, eine solche verschrobene, bestaubte Gelehrtenrepublik mit allem ihren Unsinn, allen ihren Abgeschmacktheiten und Rohheiten, allen Hofräten, Pedellen, Kommerzen, Kollegien, Grafenbänken, Duellen und Promotionen durcheinander, kurz auf dieses traurige Bild einer nur zu traurigen norddeutschen Universitätsstadt, welche wieder ein Bild des noch traurigeren literarisch-gesellschaftlichen und politischen Zustandes von Deutschland abgibt, dagegen wirft er alle Liebe und Poesie seines Herzens auf die Täler, Berge und Flüsse des Harzes, die er mit unnachahmlicher Hand personifiziert und dem Leser als flüchtig [233] verkörperte Geister der ewigen Natur vor Augen führt. Allein dies Herz war nie, oder war nicht mehr rein und unschuldig, war nie, oder war nicht mehr naiv und ubewußt begeistert, und daher, so phantasiereich die Naturschilderungen sind, stehen sie doch hinter den Sittenschilderungen des Göttinger Lebens zurück. Zur schärfsten, schonungslosesten Satire, die mit jedem Wort den rechten faulen Fleck zu treffen weiß, war Heine vom Schicksal gewissermaßen destiniert, das ihn vom Handelsjuden zum Göttinger Studenten und zum deutschen Schriftsteller bestimmt hatte. Kein Franzose und überhaupt kein Ausländer kann die Narrheiten, Schwächen, den Ahnenstolz, die Pedanterie der Deutschen nackter in aller ihrer Blöße wahrnehmen und bespötteln, als ein in Deutschland geborener Jude, der dem Herzen und der Geschichte des Vaterlandes ebenso fremd, noch einen Stachel zur Satire mitnimmt, der dem Ausländer fehlt, ich meine den Stachel der Verachtung, worin seine Glaubensgenossen in Deutschland bisher standen, das verwundete Gefühl des durch Jahrhunderte gemißhandelten Volkes, das bis auf die neueste Zeit zum Schweigen verurteilt war, indem es zu feige und zu schwach, sich früher zu äußern, ehe der Witz in Europa sich vor Scheiterhaufen und Armensünderhemden sicher wußte.

Aber Heine besaß nicht allein diesen Vorteil des Witzes, daß er als geborener Jude, gleichsam als Ausländer und Feind auftrat und zugleich die deutschen Narrheiten von Jugend auf an der Quelle studieren konnte, er hatte auch von seiner deutschen [234] Mutter diejenigen Eigenschaften geerbt, welche den Witz erst glänzend machen, indem sie ihm zur Folie dienen, nämlich die Gabe der Phantasie, einen dunklen Anflug von Gemüt, die Ahnung oder das Verstehen des poetisch Wirksamen, die Behandlung des Geheimnisvollen, was im poetischen Grunde unserer Nation ruht und leider nur zu sehr mit Alltäglichem und Gemeinem überschüttet ist. Daher zeigte sich Heine schon in seinem ersten Werk nicht bloß als witziger Kopf, als Voltaire, Swift, sondern als Humorist, als einen Byron-Voltaire, der, wie er sich selbst ausdrückt, sein Schlachtopfer erst mit Blumen kränzt, ehe er ihm den letzten tödlichen Streich versetzt. Nachdem er sich an Göttingen die Sporen verdient hatte, eröffnete er seiner poetischen Satire im zweiten und dritten Teil der Reisebilder ein weiteres Feld; die neueste Geschichte, Napoleon, Frankreich und die Revolution, Deutschland, Italien lieferten ihm Stoff zu einem poetischen Humor, der, mit gutem Bewußtsein, seine eigene Person in die Mitte der Darstellung zu bringen wußte, ohne sich eben dabei den tugendhaftesten Anstrich zu geben. Endlich scheint er für sein Leben das rechte Zentrum gefunden zu haben, denn die Hauptstadt von Frankreich, wo er sich jetzt aufhält, entspricht mit ihren Bewegungen, Umtrieben, glänzenden Gesellschaften ganz dem Charakter eines Schriftstellers, der dem witzigsten Franzosen leicht die Spitze bietet, und außerdem alles das vor ihm voraus hat, was ich vorher unserer Nation vindiziert habe. Von den Franzosen bewundert, hat er in seiner letzten Schrift diese über neue deutsche Literatur [235] belehren wollen, was er, wenn auch einseitig und zum Nachteil Deutschlands, durch die kühnsten und geistreichsten Züge unserer deutschen Koryphäen ausgeführt hat.

Heines Einfluß auf die deutsche Jugend ist unberechenbar, und dennoch würde er noch größer sein, wenn Heine von Grund aus deutsch und vom ganzen Herzen, wie Jean Paul, ein Dichter und Humorist wäre. Allein so wie er ist, müßte er vielleicht sein, um Aufsehen zu erregen und Wirkung zu tun. Inwiefern sein Talent die Aufmerksamkeit der deutschen Prosaisten verdient, werde ich in der nächsten Vorlesung berühren.

24. Vorlesung

[236] Vierundzwanzigste Vorlesung.

Heinrich Heine verdient in doppelter Hinsicht die Aufmerksamkeit der deutschen Prosaisten, sowohl wegen der Tugenden, als der Fehler seines Stils, die eben so viel Lichter und Schatten seines Genius sind. Im allgemeinen verdient er aber durchaus die Auszeichnung, die wir ihm vor andern großen Prosaisten zuteil werden lassen, als Charakterbild der neuen Prosa zu gelten; weder Goethe, noch Jean Paul, noch irgendein anderer von den ausgezeichneten Geistern der jüngst vergangenen ästhetischen Epoche ist geeignet, den Geist der Zeit und der neuesten Bewegungen aus der Abspiegelung ihrer Prosawerke erkennen zu lassen. Es liegt eine Kluft zwischen uns und jenen Werken, die dem gewöhnlichen Auge unsichtbar sein mag, die aber dem schärferen und geübteren Blick in ihrer ganzen Breite und Tiefe nicht entgeht. Dies auszuführen wird meine heutige Aufgabe sein.

Es ist schwer, mit einigen Worten diesen Unterschied anzugeben; derselbe liegt nicht allein in der Natur der ausgesprochenen Ansichten, namentlich [237] in der größeren Freiheit der politischen, sondern im verborgenen Räderwerk des Geistes, im Schwung, in der Konzentration der Gedanken nach einer gewissen Richtung, in der Wahl des Ausdrucks, im Bau der Periode, selbst in scheinbaren Kleinigkeiten, wie Absätze, Punkte und Kommata sind. Dennoch bringt es unsere Aufgabe mit sich, wenigstens den Versuch zu machen, uns über das Charakteristische des Sonst und Jetzt in der Prosa so gut, als es geschehen kann, aufs Reine zu bringen.

Gewiß, meine Herren, Sie werden sich keinen größeren Unterschied in der Schreibart denken können, als zwischen der Goetheschen und der von Jean Paul, obgleich man doch beide als Zeitgenossen zu betrachten hat; ebenso auffallend wird Ihnen die Heinesche Schreibart von der des edlen Börne abzustechen scheinen. Dennoch wird ein der Geschichte kundiger, geistreicher Mann, der nach hundert Jahren die frühere und jetzige deutsche Literatur seiner Aufmerksamkeit würdig hält, ohne weiteres Goethe mit Jean Paul, Heine mit Börne verbinden und jedem Paar seine eigentümliche Periode anweisen; so stark und durchsichtig sind die Kennzeichen, die jedes Zeitalter seinen bedeutenden Organen und Schriftstellern anhängt. Charakterisieren wir vorläufig die vier genannten Schriftsteller und ihre Schreibart durch einige der hervorstechendsten Züge, welche jedermann bei ihrer Lesung in die Augen springen. Goethe schreibt in seinen besten Werken wie ein Künstler des Altertums meißelt, jeder Meißelschlag von den Tausenden, die leicht und zierlich vor unseren Augen [238] angebracht wer den, bringt eine neue Schönheit aus Licht, zeigt uns eine neue Ader, Muskel des Apoll, der Venus, des Herkules, bis die ganze kunstreich verkörperte Idee Fleisch und Blut zu gewinnen scheint und mit der zartesten Haut umgeben vor uns steht. Während nun Goethe bei allen seinen Produktionen die Idee der Kunst vor Augen schwebte und er kein Wort, keinen Gedanken niederschrieb, um außer der Reihe der übrigen damit zu glänzen, sondern jeden Ausdruck dem höheren Ganzen unterordnete, hatte Jean Paul, sein Zeitgenosse, gar keine Ahnung von Kunst und künstlerischer Darstellung, das Herz voll unaussprechlicher tiefer Gefühle, den Kopf schwanger von Witz und Phantasie, goß er eine Flut von Gedanken und Gefühlen aufs Papier hin, sowie er jedesmal im Moment angeregt und aufgelegt war, ohne sich eben, zum Behuf einer konzipierten Kunstidee, viel um die Stelle zu bekümmern, wo er sein Genie leuchten ließ. Meistens gibt er zu viel und erdrückt, im Laufe eines Satzes fällt ihm hunderterlei ein, was als Parenthese oder zwischen Kommaten eingeschlossen wird, und so gleichen seine Perioden dem Zickzack der Blitze und sind nicht selten, wie diese, taube Schläge, die wohl erschüttern, aber nur momentan und keine Nachwirkung zurücklassen. Börne, an Gemüt ihm ähnlich, ist ihm hierin ganz entgegengesetzt, jeder Satz ein abgeschlossener Gedanke, Schlag um Schlag eine neue Behauptung, Schritt vor Schritt ein Stück Weges zurückgelegt, Stoß um Stoß irgendeine träge Masse von Vorurteilen und Dummheiten [239] verdrängt. Absicht und Kunst, wie bei Goethe, sind selten an seiner Darstellung zu merken, er drängt und fährt nur so darein und kümmert sich nicht um das, was die Leute dazu sagen. Man sollte meinen, daß Heine dies auch nur so tut, allein man würde sich irren. Vergleichen Sie den Heineschen Stil mit dem Börneschen, so werden Sie die Absichtlichkeit der Heineschen Darstellung als etwas ihr Eigentümliches nicht verkennen. Heine bedenkt sich, wo Börne unbedenklich hinschreibt und wo Jean Paul zwei Gedanken für einen ineinander mischt. Nicht, daß er um das, was er sagen will, verlegen wäre, nicht, daß ihm irgendeine Anspielung, eine Vergleichung, eine geistreiche Wendung nicht zu Gebot stände, er bedenkt sich, um den Ausdruck zu treffen, der das, was er sagen will, unvergeßlich macht, das Wort zu finden, das seinen Gedanken auf das eigentümlichste und schlagendste wiedergibt.

Hält man nun diese Züge der bewährtesten Schriftsteller miteinander zusammen, so möchte man eher Börne mit Jean Paul, Heine mit Goethe in Vergleichung setzen, wenn man bei Beurteilung eines Stilistikers von der Idee der Kunst als tertium comparationis ausgeht. Heine und Goethe, Börne und Jean Paul sind sich in der Tat auch in Anlagen und geistigem Vermögen verwandt, was auch von ihnen selbst, ich meine von den jüngeren, Heine und Börne, richtig gefühlt und ausgesprochen ist; von letzterem in der herrlichen Rede auf Jean Pauls Tod, das schönste Denkmal, das den Manen des großen Dichters errichtet [240] worden und das zugleich, sowohl durch die Begeisterung der Sprache, als durch diese selbst dem Redner einige unverwelkliche Blättter aus Jean Pauls eigenem Ehrenkranz zusichert. Von ersterem hier und da in seinen Schriften und namentlich an zwei Stellen, denselben, die ich ihrer naiven Offenheit und Wahrheit wegen anzuführen mich veranlaßt fühle.

In einer Kritik des berühmten Menzelschen Werkes über die neuere deutsche Literatur, befindlich in den Cottaischen Analen, deren Herausgeber Heine eine Zeitlang war, wirft er Menzel die unanständige Geringschätzung vor, mit welcher dieser über den König der Schriftsteller, Goethe, aburteilt und ihm nur, statt des Genies, lächerlicherweise ein Talent zur Schriftstellerei einräumt, bei welcher Gelegenheit Heine so witzig als beiläufig ausruft: Menzel muß wenigstens eingestehen, daß Goethe mitunter das Talent hat, ein Genie zu sein. Allein bei der Rechtfertigung Goethes unterläßt er selbst nicht, diesem einen Vorwurf darüber zu machen, daß er in seinen alten Tagen ganz und gar die Titanenflegeljahre seiner Jugend, den rauhen Götz, den schwülen Werther, die stachlichten Xenien vergesse, die jungen Schriftsteller von Talent nicht anerkennen wolle, und dagegegen die liebe geistige Mittelmäßigkeit seiner Nachbeter und Schüler mit vornehmer Protektion beehre. Der Goethe käme ihm vor wie ein Räuberhauptmann, der sich vom Handwerk zurückgezogen und den Abend seines Lebens in einem kleinen Landstädchen unter Philistern zubringe und vor dem [241] zufälligen Anblick eines alten kalabresischen Waldgefährten unangenehm zurückschaudere – man sieht, daß Heine sich diese Rolle zuteilt. Der anderen Stelle begegnet man in dem neuesten Heinischen Werk, Geschichte der deutschen Literatur, wo er eine unbegrenzte Ehrfurcht vor Goethes Genie ausspricht und das etwas arrogante Eingeständnis macht, nun, da Goethe tot sei, dürfe er wohl bekennen, daß alles, was er früher gegen ihn hatte und äußerte, nur Folge seiner Eifersucht gewesen.

Welches Merkmal ist es also, das die Ästhetik der neuesten Literatur, die Prosa eines Heine, Börne, Menzel, Laube von früherer Prosa unterscheidet? Ich möchte ein Wort dafür geben und sagen, dies Merkmal ist die Behaglichkeit, die sichtbar aus der Goetheschen und Jean Paulschen Prosa spricht und die der neuesten fehlt. Jene früheren Großen unserer Literatur lebten in einer von der Welt abgeschiedenen Sphäre, weich und warm gebettet in einer verzauberten idealen Welt, und sterblichen Göttern ähnlich auf die Leiden und Freuden der wirklichen Welt hinabschauend und sich vom Opferduft der Gefühle und Wünsche des Publikums ernährend. Die neueren Schriftsteller sind von dieser sicheren Höhe herabgestiegen, sie machen einen Teil des Publikums aus, sie stoßen sich mit der Menge herum, sie ereifern sich, freuen sich, lieben und zürnen wie jeder andere, sie schwimmen mitten im Strom der Welt, und wenn sie sich durch etwas von den übrigen unterscheiden, so ist es, daß sie die Vorschwimmer sind, und sei [242] es nur trocken und elegant auf dem Rücken eines Delphins, wie Heine, oder naß und bespritzt, wie Börne, den Gestaden der Zukunft entgegeneilen, welche die Zeit für »ihre hesperischen Gärten glücklicher Inseln« ansieht.

Behaglichkeit ist in solcher Lage und bei solchem Streben nicht wohl denkbar, die Schriftstellerei ist kein Spiel schöner Geister, kein unschuldiges Ergötzen, keine leichte Beschäftigung der Phantasie mehr, sondern der Geist der Zeit, der unsichtbar über allen Köpfen waltet, ergreift des Schriftstellers Hand und schreibt im Buch des Lebens mit dem ehernen Griffel der Geschichte, die Dichter und ästhetischen Prosaisten stehen nicht mehr, wie vormals, allein im Dienst der Musen, sondern auch im Dienst des Vaterlandes und allen mächtigen Zeitbestrebungen sind sie Verbündete. Ja, sie finden sich nicht selten im Streit mit jenem schönen Dienst, dem ihre Vorgänger huldigten, sie können die Natur nicht über die Kunst vergessen machen, sie können nicht immer so zart und ätherisch dahinschweben, die Wahrheit und Wirklichkeit hat sich ihnen zu gewaltig aufgedrungen, und mit dieser, das ist ihre Schicksalsaufgabe, mit dieser muß ihre Kraft so lange ringen, bis das Wirkliche nicht mehr das Gemeine, das dem Ideellen feindlich Entgegengesetzte ist. Daher begreifen sie auch, woher diese Quelle der Behaglichkeit, welche über Goethes Kunstprosa, über Jean Pauls Humor so ruhig und lieblich hinfließt, und der selbst diesem, so unkünstlerisch er auch zu Werke geht, weit mehr die Empfindung der Ruhe und Befriedigung mitteilt, [243] welche mit dem Anschauen klassischer Werke verknüpft ist, als den Heineschen Kunstprodukten.

Ich würde in Verlegenheit geraten, sollte ich im einzelsten Einzelnen an einem Satz, einer Periode das Gesagte nachweisen, nichtsdestoweniger ist eben dieser verschiedene Charakter im ganzen, großen, allen prosaischen Werken dieser und jener Zeit aufgedrückt. Die neue Prosa ist von der einen Seite vulgärer geworden, sie verrät ihren Ursprung aus, ihre Gemeinschaft mit dem Leben, von der anderen Seite aber kühner, schärfer, neuer an Wendungen, sie verrät ihren kriegerischen Charakter, ihren Kampf mit der Wirklichkeit, besonders auch ihren Umgang mit der französischen Schwester, welcher sie außerordentlich viel zu verdanken hat. Der deutsche Prosaist ist seit der französischen Revolution und eben durch französische Schriften, Herr und Meister geworden über das ungeheure Material der Sprache, das den früheren Schriftstellern in ellenlangen Perioden nachschleppte, von Goethe aber freilich schon zu Kunstarbeiten glücklich verzimmert worden war. Die größte Meisterschaft hat sich Heine darin erworben, der den flüchtigen Ruhm, Liederdichter zu sein, sehr bald mit dem größeren vertauscht hat, auf dem kolossalen, alle Töne der Welt umfassenden Instrument zu spielen, das unsere deutsche Prosa darbietet.

Die Witzader ist bekanntlich die Hauptader der Heineschen Prosa, ja der ganzen Heineschen Person, der immer etwas auf den Lippen schwebt, was einem Witz ähnlich sieht. Der Witz ist das, was Heines Schriften so verbreitet und wirksam [244] macht, was aber auch zugleich die steifen Herren, die aristokratischen Herren, die pfäffischen Herren wider sie aufbringt. Es ist überhaupt in Deutschland noch nicht lange her, daß es den Schriftstellern ungestraft hinging, witzig zu sein; die meisten Schriftsteller gehörten zur Klasse der Gelehrten und unter dieser saftlosen und hochmütigen Klasse hatte sich eine solche Verachtung der ursprünglichen und angeborenen geistigen Gaben und namentlich des Witzes eingenistet, daß es um den Ruf eines jungen Mannes unwiderbringlich geschehen war, wenn ihm das Malheur passierte, in seinen Schriften und Vorträgen eine geistreiche, blühende und witzige Sprache zu führen. Die deutschen Gelehrten mieden die witzigen Leute, als wären sie Aussätzige, und wirklich nannte der Schweizer Bodmerden Witz eine Krätze des Geistes, die nicht eher Ruhe läßt, als bis sie sich durchjuckt. Allmählich aber sind den Deutschen die Augen, wie über viele Dinge, so auch über den Witz aufgegangen. Die Notwendigkeit deutscher witziger Kultur verteidigt Jean Paul mit folgenden Worten: es gibt nicht bloß Entschuldigungen der Kultur des Witzes, sondern sogar Aufforderungen dazu, welche sich auf die deutsche Natur gründen. Alle Nationen bemerken an der deutschen, daß unsere Ideen wand-, band-, niet- und nagelfest sind und daß mehr der deutsche Kopf und die deutschen Länder zum Mobiliarvermögen gehören als der Inhalt von beiden (nämlich die Gedanken und die Menschen). Wie Wedekind den Wasserscheuen beide Ärmel aneinandernäht und beide Strümpfe, um ihnen das [245] Bewegen einigermaßen unmöglich zu machen, so werden von Jugend auf unseren inneren Menschen alle Glieder zusammengenäht, damit ruhiger Nexus vorliege und der Mann sich mehr im ganzen bewege. Aber Himmel, welche Spiele könnten wir gewinnen, wenn wir mit unseren einsamen Ideen rochieren könnten.

Zu neuen Zeiten gehören durchaus freie; zudiesen wieder gleiche; und nur der Witz gibt uns Freiheit, indem er Gleichgewicht vorhergibt. Er ist für den Geist, was für die Scheidekunst Feuer und Wasser ist. Chemica non agunt nisi soluta, das ist, nur die Flüssigkeit gibt die Freiheit zu neuer Gestaltung, oder, nur entbundene Körper schaffen neue. Besinnt sich ein Autor zum Beispiel bei Sommerflecken des Gesichts auf Herbst-, Lenz-, Winterflecken desselben, so offenbart er dadurch wenigstens ein freies Beschauen, welches sich nicht in den Gegenstand eingekerkert verliert und vertieft.

Uns fehlt zwar Geschmack für den Witz, aber gar nicht die Anlage zu ihm. Wir haben Phantasie; und die Phantasie kann sich leicht zum Witz einbücken, wie ein Riese zum Zwerg, aber nicht dieser sich zu jenem aufrichten. In Frankreich ist die Nation witzig, bei uns die Elite.

Da dem Deutschen, fährt Jean Paul satirischwitzig fort, folglich zum Witz nichts fehlt als Freiheit, so geb' er sich doch diese. Etwas glaubte er freilich für diese zu tun, daß er neuerer Zeit ein und das andere rheinische Länderstück in Freiheit setzte, nämlich in französische und wie sonst den [246] Adel, so jetzt (dieser Aufsatz ist unter Napoleons Herrschaft geschrieben) die besten Länder, zur Bildung sozusagen auf Reisen schickte zu einem Volk, das gewiß noch mehr frei ist als groß.

Hier ist nur ein alter, aber unschuldiger Weltzirkel, der überall wieder vorkommt. Die Menschheit kann nie zur Freiheit gelangen ohne geistige hohe Ausbildung: Freiheit gibt Witz, und Witz gibt Freiheit. Die Schuljugend übe man im Witz; das spätere Alter lasse sich zu dem Witz freilassen.

Soweit Jean Paul. Er selbst hat zur geistigen Emanzipation der Deutschen, durch Humor und Witz, mehr als irgend ein anderer Schriftsteller seiner Zeit, beigetragen. Ihm stand mehr Witz zu Gebot, als allen deutschen Schriftstellern zusammengenommen, eine einzige Seite seiner Schriften wird selbst durch den witzigsten Franzosen und Engländer kaum durch vier andere Seiten aufgewogen. Dennoch mangelte seinem Witz der Charakter der Einheit, welchen die Kunst und eine bestimmte Gemütsund Lebensrichtung den Strahlen des Witzes verleiht. Der Witz an sich ist ein geistiges Quecksilber, das in tausend Kügelchen über die Papierfläche rollt, ein scherzender Schmetterling, der von Blume zu Blume fliegt, ein ungewisser Strahl, der sich in Luft und Wasser bricht und das reinste Kristall, wie die trübste Glasscheibe durchflittert und vergoldet. Der Witz an sich ist der Diener aller Herren, der Dummen ausgenommen, aber nicht der Schlechten, nicht der Servilen; denn er kehrt sich nicht an Herz und Gesinnung, sondern nur an den Verstand, und ein elender Saphir, ein Mensch, [247] den man durch Furcht dahin bringen kann, die Peitsche zu küssen, die ihn gezüchtigt hat, kann einen Washington, einen Lafayette an Witz besiegen und überflügeln.

Nur wenn der Witz sich mit edlerem Vermögen paart, wenn er phantasiereichen und gemütvollen Menschen zu Gebot steht, wenn er einem Jean Paul dient, Himmel und Erde, Vergangenheit und Zukunft miteinander zu verknüpfen, kann er dem ernsteren Deutschen gefallen: um uns am Witze nicht zu ärgern, muß uns der Charakter des Witzigen nicht ärgerlich sein, um uns am Spiel des Witzes zu ergötzen, müssen wir ihn über der Tiefe des Ernstes schweben sehen. Das ist auch die Natur des deutschen Witzes, der an Zweideutigkeiten und Wortspielen wenig Geschmack findet; und daß seine Natur so ist, verdankt er eben seiner Verbindung mit der Phantasie, welche ihn auf ihre Schwingen nimmt und ihn vor der Gefahr schützt, ins Kleinliche oder Gemeine auszuarten. Allein auf der anderen Seite hat diese Verbindung des Witzes mit der Phantasie auch ihre Nachteile; wie aus dem Beispiel Jean Pauls erhellt; dessen Witz, bei einem geringeren Grad von Phantasie, schlagender gewesen wäre als bei dieser Überfülle. Das ist der Abweg des deutschen Witzes, er wird zu phantastisch, er entfernt sich zu weit von der nächsten geraden Gedankenlinie und verliert über dem Haschen das endliche Ziel aus den Augen. Sie sehen wohl, wo die Quelle dieser wildgewordenen Witze, dieser ins Blaue streifenden Phantasie zu suchen ist. Denken Sie an Jean Paul. War eine [248] Lebenseinheit in seinem Charakter, schwebte ihm ein bestimmtes Ziel vor Augen? Nein. Er strebte allem Höchsten nach, aber, nach Art der damaligen Poeten, mehr im Traum als im Wachen, er war ein edler, freier Mann, er kannte die Gebrechen der Zeit, er fühlte die Schmach des Vaterlandes, er zürnte über Aristokratismus und Möncherei, allein sein Ringen nach einer besseren Zeit zerfloß immer in Sentimentalität, und wenn er einmal eine starke Lanze einlegte und gegen einen bestimmten Feind zu Felde zog, so war ihm dieser eher das Nachdruckergesindel und sonstige deutsche Schofel und Schofeleien, als die großen Landesfeinde und Landesübel, die der Patriot aufs Korn nehmen soll. Das lag in seiner Zeit; in der unserigen hat sich der Witz einen Kampfplatz aufgesucht, wo er mit der Freiheit vereint gegen verrostete Helme und Kapuzen zu Felde zieht und gottlob, es liegen schon Splitter und Stücke genug auf dem Boden, welche seine Schärfe und Kraft beurkunden.

Man läßt den Witz nicht mehr auf seine eigene Hand und nach den Grillen der Phantasie hinlaufen, er ist nicht mehr ein ungesatteltes flüchtiges Pferd, das ohne Bahn und Steg rechts und links ausschlägt und bloß mit Lust und Bewunderung über seine Kühnheit erfüllt, es sitzt ihm ein Reiter auf dem Nacken, auf dessen Wink und Führung es die verhaßten Barrieren überspringt und niederreitet, welche die Dummheit und die Unverschämtheit vor dem Genuß der Welt aufgeschlagen hat. Der Witz unserer neuen Prosa ist nicht mehr ein reiner Phantasiewitz, sondern Charakterwitz, er ist [249] unserer heutigen Prosa, ich meine, unserm heutigen Bürgerstande, unsere bürgerliche Freiheit. Der Adel hat sich oft mit der Poesie des Lebens verglichen, mag er sie repräsentieren auf die unschädliche Weise, wie es die Goldenschnittstaschenbuchspoeten in Deutschland tun, er ist ihr ein unentbehrliches Werkzeug, um den vernichtenden Krieg zu führen, dessen Ende sich wohl bis zu künftigen Geschlechtern hinziehen wird, um das Säuberungsgeschäft im Augiasstall von Europa durchzusetzen, um reine Bahn zu machen für andere Füße, als die mit Ketten und Vorurteilen belasteten. Diese Bedeutung des Witzes für unsere Zeit spricht Heine, dessen Witz eben hierin vorleuchtet, mit folgenden Worten aus:

Es gibt trockene Leute in der Welt, die den Witz gern proskribieren möchten und man kann täglich hören, wie Pantalon sich gegen diese niedrigste Seelenkraft, den Witz, zu ereifern weiß und als guter Staatsbürger und Hausvater die Polizei auffordert, ihn zu verbieten. Mag immerhin der Witz zu den niedrigsten Seelenkräften gehören, so glauben wir doch, daß er sein Gutes hat. Wir wenigstens möchten ihn nicht entbehren. Seitdem es nicht mehr Sitte ist, einen Degen an der Seite zu tragen, ist es durchaus nötig, daß man Witz im Kopfe habe. Und sollte man auch so übellaunig sein, den Witz nicht bloß als notwendige Wehr, sondern sogar als Angriffswaffe zu gebrauchen, so werdet darüber nicht allzusehr aufgebracht, ihr edlen Pantalone des deutschen Vaterlandes. Jener Angriffswitz, den ihr Satire nennt, hat seinen guten[250] Nutzen in dieser schlechten, nichtsnutzigen Zeit. Keine Religion ist mehr imstande, die Lüste der Erdenherrscher zu zügeln, sie verhöhnen euch ungestraft und ihre Rosse zertreten eure Saaten; eure Töchter hungern und verkaufen ihre Blüten dem schmutzigen Parvenü, alle Rosen dieser Welt werden die Beute eines windigen Geschlechts von Stockjobbern und bevorrechteten Lakaien und vor dem Übermut des Reichtums und der Gewalt schützt euch nichts als der Tod und die Satire.

[251]

Notes
Erstdruck: Hamburg (Hoffmann & Campe) 1834.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wienbarg, Ludolf. Ästhetische Feldzüge. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A6F0-A