Christoph Martin Wieland
Geschichte der Abderiten

Erster Teil

Vorbericht

Diejenigen, denen etwan daran gelegen sein möchte, sich der Wahrheit der bei dieser Geschichte zum Grunde liegenden Tatsachen und charakteristischen Züge zu vergewissern, können wofern sie nicht Lust haben, solche in den Quellen selbst, nämlich in den Werken eines Herodots, Diogenes Laertius, Athenäus, Aelians, Plutarchs, Lucians, Paläphatus, Cicero, Horaz, Petrons, Juvenals, Valerius, Gellius, Solinus, u.a. aufzusuchen – sich aus den Artikeln Abdera und Demokritus in dem Baylischen Wörterbuche überzeugen, daß diese Abderiten nicht unter die wahren Geschichten im Geschmacke der lucianischen gehören. Sowohl die Abderiten, als ihr gelehrter Mitbürger Demokritus, erscheinen hier in ihrem wahren Lichte; und wiewohl der Verfasser, bei Ausfüllung der Lücken, Aufklärung der dunkeln Stellen, Hebung der wirklichen und Vereinigung der scheinbaren Widersprüche, die man in den vorbemeldten Schriftstellern findet, nach unbekannten Nachrichten gearbeitet zu haben scheint: so werden doch scharfsinnige Leser gewahr werden, daß er in allem diesem einem Gewährsmanne gefolget ist, dessen Ansehen alle Aeliane und Athenäen zu Boden wiegt, und gegen dessen einzelne Stimme das Zeugnis einer ganzen Welt, und die Entscheidung aller Amphictyonen, Areopagiten, Decemvirn, Centumvirn und Ducentumvirn, auch Doctoren, Magistern und Baccalauren, samt und sonders ohne Wirkung ist, nämlich der Natur selbst.

Sollte man dieses kleine Werk als einen, wiewohl geringen, Beitrag zur Geschichte des menschlichen Verstandes ansehen wollen: so läßt sichs der Verfasser sehr wohl gefallen; glaubt aber, daß es auch unter diesem so vornehm klingenden Titel weder mehr noch weniger sei, als was alle Geschichtbücher sein müssen, wenn sie nicht sogar unter die schöne Melusine herabsinken, und mit dem schalsten aller Märchen, der Dame D'Aunoy in Eine Rubrik geworfen werden wollen.

[125]
Erstes Buch
Erstes Kapitel
Vorläufige Nachrichten vom Ursprung
der Stadt Abdera
und dem Charakter ihrer Einwohner

Das Altertum der Stadt Abdera in Thracien, verliert sich in der fabelhaften Heldenzeit. Auch kann es uns sehr gleichgültig sein, ob sie ihren Namen von Abdera, einer Schwester des berüchtigten Diomedes, Königs der bistonischen Thracier 1, – der ein so großer Liebhaber von Pferden war und deren so viel hielt, daß er und sein Land endlich von seinen Pferden aufgefressen wurde 2, – oder von Abderus, einem Stallmeister dieses Königs, oder von einem andern Abderus, der ein Liebling des Herkules gewesen sein soll, empfangen habe.

Abdera war, einige Jahrhundert nach ihrer ersten Gründung, vor Alter wieder zusammengefallen: als Timesius von Klazomene, um die Zeit der ein und dreißigsten Olympiade, unternahm, sie wieder aufzubauen. Die wilden Thracier, welche keine Städte in ihrer Nachbarschaft aufkommen lassen wollten, ließen ihm nicht Zeit, die Früchte seiner Arbeit zu genießen 3. Sie trieben ihn wieder fort, und Abdera blieb unbewohnt und unvollendet, bis, ungefähr um das Ende der Olympiade 59, die Einwohner der ionischen Stadt Teos – weil sie keine Lust hatten, sich dem Eroberer Cyrus zu unterwerfen – zu Schiffe gingen, [126] nach Thracien segelten, und, da sie in einer der fruchtbarsten Gegenden desselben dieses Abdera schon gebauet fanden, sich dessen als einer verlassenen und niemanden zugehörigen Sache bemächtigten, auch sich darinnen gegen die thracischen Barbaren so gut behaupteten, daß sie und ihre Nachkommen von nun an Abderiten hießen, und einen kleinen Freistaat ausmachten, der (wie die meisten griechischen Städte) ein zweideutig Mittelding von Demokratie und Aristokratie war, und regieret wurde, – wie kleine Republiken von je her regieret worden sind.

»Wozu (rufen unsre Leser) diese nichtsbedeutende Deduction des Ursprungs und der Schicksale des Städtchens Abdera in Thracien? Was kümmert uns Abdera? Was liegt uns daran, zu wissen, oder nicht zu wissen, wann, wie, wo, warum, von wem, und zu was Ende eine Stadt, welche längst nicht mehr in der Welt ist, erbaut worden sein mag?«

Geduld! günstige Leser! Geduld, bis wir, eh ich weiter fort erzähle, über unsre Bedingungen einig sind. Verhüte der Himmel, daß man euch zumuten sollte, die Abderiten zu lesen, wenn ihr gerade was nötigeres zu tun, oder was besseres zu lesen habt! –

»Ich muß auf eine Predigt studieren. – Ich habe Kranke zu besuchen. – Ich hab' ein Gutachten, einen Bescheid, eine Leuterung, einen untertänigsten Bericht zu machen. – Ich muß recensieren. – Mir fehlen noch sechzehn Bogen an den vier Alphabeten, die ich meinem Verleger binnen acht Tagen liefern muß. – Ich hab' ein Joch Ochsen gekauft. – Ich hab' ein Weib genommen. –« In Gottes Namen! Studiert, besucht, referiert, recensiert, übersetzt, kauft und freiet! – Beschäftigte Leser sind selten gute Leser. Bald gefällt ihnen alles, bald nichts; bald verstehn sie uns halb, bald gar nicht, bald (was das schlimmste ist) unrecht. Wer mit Vergnügen, mit Nutzen lesen will, muß gerade sonst nichts anders zu tun noch zu denken haben. Und wenn ihr euch in diesem Falle befindet: warum solltet ihr nicht zwo oder drei Minuten daran wenden wollen, etwas zu wissen, was einem Salmasius, einem Barnes, einem Bayle, – und, um aufrichtig zu sein, mir selbst (weil mir nicht zu rechter Zeit einfiel, den Artikel Abdera im Bayle nachzuschlagen,) eben so viele Stunden gekostet hat? Würdet ihr mir doch geduldig zugehöret haben, wenn ich euch die Historie vom König in Böhmenland der sieben Schlösser[127] hatte, oder die Geschichte der drei Calender zu erzählen, angefangen hätte.

Die Abderiten also, hätten (dem zufolge, was bereits von ihnen gemeldet worden ist,) ein so feines, lebhaftes, witziges und kluges Völkchen sein sollen, als jemals eines unter der Sonne gelebt hat. –

»Und warum dies?«

Diese Frage wird uns vermutlich nicht von den Gelehrten unter unsern Lesern gemacht. Aber, wer wollte auch Bücher schreiben, wenn alle Leser so gelehrt wären, als der Autor? Die Frage warum dies ist allemal eine sehr vernünftige Frage. Sie verdient, wo die Rede von menschlichen Dingen ist, allemal eine Antwort; und wehe dem, der verlegen, oder beschämt, oder ungehalten wird, wenn er sich auf warum dies vernehmen lassen soll. Wir unsers Orts würden die Antwort ungefodert gegeben haben, wenn die Leser nicht so hastig gewesen wären. Hier ist sie!

Teos war eine atheniensische Colonie, von den zwölfen oder dreizehn eine, welche unter Anführung des Neleus, Kodrus Sohns, in Ionien gepflanzt wurden.

[128] Die Athenienser waren von je her ein muntres und geistreiches Volk, und sind es noch, wie man sagt. Athenienser, nach Ionien versetzt, gewannen unter dem schönen Himmel, der dieses von der Natur verzärtelte Land umfließt, wie Burgunderreben durch Verpflanzung aufs Vorgebirge. Vor allen andern Völkern des Erdbodens waren die ionischen Griechen die Günstlinge der Musen. Homerus selbst war, der größten Wahrscheinlichkeit nach, ein Ionier. Die erotischen Gesänge, die milesischen Fabeln (die Vorbilder unsrer Novellen und Romanen,) erkennen Ionien für ihr Vaterland. Der Horaz der Griechen Alcäus, die glühende Sappho, Anakreon, der Sänger – Aspasia, die Lehrerin – Apelles, der Maler – der Grazien, waren aus Ionien; Anakreon war sogar ein geborner Tejer. Dieser letzte mochte etwa ein Jüngling von achtzehn Jahren sein, (wenn anders Barnes recht gerechnet hat,) als seine Mitbürger nach Abdera zogen. Er zog mit ihnen; und zum Beweise, daß er seine den Liebesgöttern geweihte Leier nicht zurückgelassen, sang er dort das Lied an ein thracisches Mädchen, (in Barnesens Ausgabe das ein und sechzigste,) worin ein gewisser wilder thracischer Ton mit der ionischen Grazie, die seinen Liedern eigen ist, auf eine ganz besondere Art absticht.

Wer sollte nun nicht denken, die Tejer – in ihrem ersten Ursprung Athenienser – so lange Zeit in Ionien einheimisch – Mitbürger eines Anakreons – sollten auch in Thracien den Charakter eines geistreichen Volkes behauptet haben? Allein (was auch die Ursache davon gewesen sein mag,) das Gegenteil ist außer Zweifel. Kaum wurden die Tejer zu Abderiten, so schlugen sie aus der Art. Nicht daß sie ihre vormalige Lebhaftigkeit ganz verloren, und sich in Schöpse verwandelt hätten, wie Juvenal sie beschuldigt 6. Ihre Lebhaftigkeit nahm nur eine wunderliche Wendung; und ihre Einbildung gewann einen so großen Vorsprung über ihre Vernunft, daß es dieser niemals wieder möglich war, sie einzuholen. Es mangelte den Abderiten nie an Einfällen; aber selten paßten ihre Einfälle auf die Gelegenheit, wo sie angebracht wurden; oder kamen erst, wenn die Gelegenheit vorbei war. Sie sprachen viel, aber immer ohne sich einen Augenblick zu bedenken, was sie sagen wollten, oder wie sie es sagen wollten. Die natürliche [129] Folge hievon war, daß sie selten den Mund auftaten, ohne etwas albernes zu sagen. Zum Unglück erstreckte sich diese schlimme Gewohnheit auch auf ihre Handlungen; denn gemeiniglich schlossen sie den Käfig erst, wenn der Vogel entflogen war. Dies zog ihnen den Vorwurf der Unbesonnenheit zu, aber die Erfahrung bewies, daß es ihnen nicht besser ging, wenn sie sich besannen. Machten sie (welches ziemlich oft begegnete,) irgend einen sehr dummen Streich, so kam es immer daher, weil sie es gar zu gut machen wollten; und wenn sie in den Angelegenheiten ihres gemeinen Wesens recht lange und ernstliche Beratschlagungen hielten, so konnte man sicher darauf rechnen, daß sie unter allen möglichen Entschließungen die schlechteste ergreifen würden.

Sie wurden endlich zum Sprichwort unter den Griechen. Ein abderitischer Einfall, ein Abderitenstückchen war bei diesen ungefähr, was bei uns ein Schildbürger- oder bei den Helvetiern ein Lalleburgerstreich ist; und die guten Abderiten ermangelten nicht, die Spötter und Lacher reichlich mit sinnreichen Zügen dieser Art zu versehen. Für itzt mögen davon nur ein paar Beispiele zur Probe dienen. Einsmals fiel ihnen ein, daß eine Stadt wie Abdera billig auch einen schönen Brunnen haben müsse. Er sollte in die Mitte ihres großen Marktplatzes gesetzt werden, und zu Bestreitung der Kosten wurde eine neue Auflage gemacht. Sie ließen einen berühmten Bildhauer von Athen kommen, um eine Gruppe von Statuen zu verfertigen, welche den Gott des Meeres auf einem von vier Seepferden gezogenen Wagen, mit Nymphen, Tritonen und Delphinen umgeben, vorstellte. Die Seepferde und Delphinen sollten eine Menge Wassers aus ihren Nasen hervorspritzen. Aber wie alles fertig stund, fand sich, daß kaum Wasser genug da war, um die Nase eines einzigen Delphins zu befeuchten; und als man das Werk spielen ließ, sah es nicht anders aus, als ob alle diese Seepferde und Delphinen den Schnuppen hätten. Um nicht ausgelacht zu werden, ließen sie also die ganze Gruppe in den Tempel des Neptunus bringen; und so oft man sie einem Fremden wies, bedauerte der Küster sehr ernsthaft im Namen der löblichen Stadt Abdera, daß ein so herrliches Kunstwerk aus Kargheit der Natur unbrauchbar bleiben müsse. [130] Ein andermal erhandelten sie eine sehr schöne Venus von Elfenbein, die man unter die Meisterstücke des Praxiteles zählte. Sie war ungefähr fünf Fuß hoch, und sollte auf einen Altar der Liebesgöttin gestellt werden. Als sie angelangt war, geriet ganz Abdera in Entzücken über die Schönheit ihrer Venus; denn die Abderiten gaben sich für feine Kenner und schwärmerische Liebhaber der Künste aus. Sie ist zu schön, riefen sie einhellig, um auf einem niedrigen Platze zu stehen. Ein Meisterstück, das der Stadt so viel Ehre macht, und so viel Geld gekostet hat, kann nicht zu hoch aufgestellt werden; sie muß das Erste sein, was den Fremden beim Eintritt in Abdera in die Augen fällt. Diesem glücklichen Gedanken zufolge stellten sie das kleine niedliche Bild auf einen Obelisk von achtzig Fuß; und wiewohl es nun unmöglich war zu erkennen, ob es eine Venus oder Austernymphe vorstellen sollte, so nötigten sie doch alle Fremden, zu gestehen, daß man nichts vollkommners sehen könne.

Uns dünkt, diese Beispiele beweisen schon hinlänglich, daß man den Abderiten kein Unrecht tat, wenn man sie für warme Köpfe hielt. Aber wir zweifeln, ob sich ein Zug denken läßt, der ihren Charakter stärker zeichnen könnte, als dieser: daß sie (nach dem Zeugnis des Justinus) die Frösche in und um ihre Stadt dergestalt über Land nehmen ließen, daß sie selbst endlich genötiget wurden, ihren quäkenden Mitbürgern Platz zu machen, und, bis zu Austrag der Sache, sich unter dem Schutze des Königs Kassander an einen dritten Ort zu begeben. Dies Unglück befiel die Abderiten nicht ungewarnt. Ein weiser Mann, der sich unter ihnen befand, sagte ihnen lange zuvor, daß es endlich so kommen würde. Der Fehler lag in der Tat bloß an den Mitteln, wodurch sie dem Übel steuern wollten; wiewohl sie nie dazu gebracht werden konnten, dies einzusehen. Was ihnen gleichwohl die Augen hätte öffnen sollen, war, daß sie kaum etliche Monate von Abdera weggezogen waren, als eine Menge von Kranichen aus der Gegend von Geranien ankamen, und ihnen alle ihre Frösche so rein wegputzten, daß eine Meile rings um Abdera nicht einer übrig blieb, der dem wiederkommenden Frühling Βρεκεκεκ κοαξ κοαξ entgegen gesungen hätte.

[131]
Zweites Kapitel
Demokritus von Abdera
Ob und wie viel seine Vaterstadt berechtigt war, sich etwas auf ihn einzubilden?

Keine Luft ist so dicke, kein Volk so dumm, kein Ort so unberühmt, daß nicht zuweilen ein großer Mann daraus hervorgehen sollte, sagt Juvenal. Pindarus und Epaminondas wurden in Böotien geboren, Aristoteles zu Stagira, Cicero zu Arpinum, Virgil im Dörfchen Andes bei Mantua, Albertus Magnus zu Lauingen, Martin Luther zu Eisleben, Sixtus V. im Dorfe Montalto in der Mark Ancona, und einer der besten Könige, die jemals gewesen sind, zu Pau in Bearn. Was Wunder, wenn auch Abdera, zufälliger Weise, die Ehre hatte, daß der größte Naturforscher des Altertums, Demokritus, in ihren Mauern das Leben empfing!

Ich sehe nicht, wie ein Ort sich eines solchen Umstandes bedienen kann, um Ansprüche an den Ruhm eines großen Mannes zu machen. Wer geboren werden soll, muß irgendwo geboren werden; das übrige nimmt die Natur auf sich; und ich zweifle sehr, ob, außer dem Lykurgus, ein Gesetzgeber gewesen, der seine Fürsorge bis auf den Homunculus ausgedehnt, und alle mögliche Vorkehrungen getroffen hätte, damit dem Staat wohl organisierte, schöne, und seelenvolle Kinder geliefert würden. Wir müssen gestehen, in dieser Rücksicht hatte Sparta einiges Recht, sich mit den Vorzügen seiner Bürger Ehre zu machen. Aber in Abdera (wie beinahe in der ganzen Welt) ließ man den Zufall und den Genius walten,


– natale comes qui temperat astrum,


und wenn ein Protagoras 8 oder Demokritus aus ihrem Mittel entsprang, so war die gute Stadt Abdera gewiß eben so unschuldig daran, als Lykurgus und seine Gesetze, wenn in Sparta ein Dummkopf oder eine Memme geboren wurde.

Diese Nachlässigkeit, wiewohl sie eine dem Staat äußerst angelegene Sache betrifft, möchte noch immer hingehen. Die Natur, wenn man sie nur ungestört arbeiten läßt, macht meistens [132] alle weitere Fürsorge für das Geraten ihrer Werke überflüssig. Aber wiewohl sie selten vergißt, ihr Lieblingswerk mit allen den Fähigkeiten auszurüsten, aus welchen ein vollkommner Mensch gebildet werden könnte: so ist doch eben diese Ausbildung das, was sie der Kunst überläßt; und es bleibt also jedem Staate noch Gelegenheit genug übrig, sich ein Recht an die Vorzüge und Verdienste seiner Mitbürger zu erwerben. Allein auch hierin ließen die Abderiten sehr viel an ihrer Klugheit zu vermissen übrig; und man hätte schwerlich einen Ort finden können, wo für die Bildung des innern Gefühls, des Verstandes und des Herzens der künftigen Bürger weniger gesorgt worden wäre.

Die Bildung des Geschmacks, d.i. eines feinen, richtigen und gelehrten Gefühls alles Schönen, ist die beste Grundlage zu jener berühmten sokratischen Kalokagathie oder innerlichen Schönheit und Güte der Seele, welche den liebenswürdigen, edelmütigen, wohltätigen und glücklichen Menschen macht. Und nichts ist geschickter, dieses richtige Gefühl des Schönen in uns zu bilden als – wenn alles, was wir von der Kindheit an sehen und hören, schön ist. In einer Stadt, wo die Künste der Musen in der größten Vollkommenheit getrieben werden, in einer schön gebauten und mit Meisterstücken der bildenden Künste angefüllten Stadt, in einem Athen, geboren zu sein, ist daher allerdings kein geringer Vorteil; und wenn die Athenienser zu Platons und Menanders Zeiten mehr Geschmack hatten als tausend andere Völker, so hatten sie es unstreitig ihrem Vaterlande zu danken.

Abdera führte in einem griechischen Sprüchworte (über dessen Verstand die Gelehrten, nach ihrer Gewohnheit, nicht einig sind,) den Beinamen, womit Florenz unter den italiänischen Städten prangt – die Schöne. Wir haben schon bemerkt, daß die Abderiten Enthusiasten der schönen Künste waren; und in der Tat, zur Zeit ihres größten Flors, das ist, eben damals, da sie auf einige Zeit den Fröschen Platz machen mußten, war ihre Stadt voll prächtiger Gebäude, reich an Malereien und Bildsäulen, mit einem schönen Theater und Musiksaal (Ωδειον) versehen, kurz, ein kleines Athen – bloß den Geschmack ausgenommen. Denn zum Unglück erstreckte sich die wunderliche Laune, von welcher wir oben gesprochen haben, auch auf ihre Begriffe vom Schönen und Anständigen. Latona, die Schutzgöttin ihrer Stadt, hatte den [133] schlechtesten Tempel; Jason, der Anführer der Argonauten, hingegen (dessen goldenes Vließ sie zu besitzen vorgaben,) den prächtigsten. Ihr Rathaus sah wie ein Magazin aus, und unmittelbar vor dem Saale, wo die Angelegenheiten des Staats erwogen wurden, hatten alle Kräuter-, Obst- und Eierweiber von Abdera ihre Niederlage. Hingegen ruhte das Gymnasium, worin sich ihre Jugend im Ringen und Fechten übte, auf einer dreifachen Säulenreihe. Der Fechtsaal war mit lauter Schildereien von Beratschlagungen und mit Statuen in ruhigen oder tiefsinnigen Stellungen ausgeziert 9. Dafür aber stellte das Rathaus den Vätern des Vaterlandes eine desto reizendre Augenweide dar. Denn wohin sie in dem Saal ihrer gewöhnlichen Sitzungen die Augen warfen, glänzten ihnen schöne nackende Kämpfer, oder badende Dianen und schlafende Bacchanten entgegen; und Venus mit ihrem Buhler, im Netze Vulcans allen Einwohnern des Olympus zur Schau ausgestellt, (ein großes Stück, welches dem Sitz des Archons gegenüber hing,)wurde den Fremden mit einem Triumphe gezeigt, der den ernsten Phocion selbst genötiget hätte, zum erstenmal in seinem Leben zu lachen. Der König Lysimachus (sagten sie,) habe ihnen sechs Städte und ein Gebiet von vielen Meilen dafür angeboten; aber sie hätten sich nicht entschließen können, ein so herrliches Stück hinzugeben, zumal da es – gerade die Höhe und Breite habe, um eine ganze Seite der Ratsstube eizunehmen; und über dies habe einer ihrer Kunstrichter in einem weitläuftigen, mit großer Gelehrsamkeit angefüllten Werke die Beziehung des allegorischen Sinnes dieser Schilderei auf den Platz, wo sie stehe, sehr scharfsinnig dargetan.

Wir würden nicht fertig werden, wenn wir alle Unschicklichkeiten, wovon diese wundervolle Republik wimmelte, berühren wollten. Aber noch eine können wir nicht vorbeigehen, weil sie einen wesentlichen Zug ihrer Verfassung betrifft, und keinen geringen Einfluß auf den Charakter der Abderiten hatte. In den ältesten Zeiten der Stadt war, vermutlich einem orphischen Institut zufolge, der Nomophylax, oder Beschirmer der Gesetze, (eine der obersten Magistratspersonen,) zugleich Vorsänger bei den gottesdienstlichen Chören, und Oberaufseher über das [134] Musikwesen. Dies hatte damals seinen guten Grund. Allein mit der Länge der Zeit ändern sich die Gründe der Gesetze; diese werden alsdann durch buchstäbliche Erfüllung lächerlich, und müssen also nach den veränderten Umständen umgegossen werden. Aber eine solche Betrachtung kam nicht in abderitische Köpfe. Es hatte sich öfters zugetragen, daß ein Nomophylax erwählt wurde, der zwar die Gesetze ganz leidlich beschirmte, aber entweder schlecht sang, oder gar nichts von der Musik verstund. Was hatten die Abderiten zu tun? Nach häufigen Beratschlagungen machten sie endlich die Verordnung: Der beste Sänger aus Abdera sollte hinfür allezeit auch Nomophylax sein; und dabei blieb es, so lang Abdera stund. Daß der Nomophylax und der Vorsänger zwo verschiedene Personen sein könnten, war in zwanzig öffentlichen Beratschlagungen keiner Seele eingefallen.

Es ist leicht zu erachten, daß die Musik, bei so bewandten Sachen, zu Abdera in großer Achtung stehen mußte. Alles in dieser Stadt war musikalisch; alles sang, flötete und leierte. Ihre Sittenlehre und Politik, ihre Theologie und Kosmologie, war auf musikalische Grundsätze gebaut; ja, ihre Ärzte heilten sogar die Krankheiten durch Tonarten und Melodien. So weit scheint ihnen, was die Speculation betrifft, das Ansehen der größten Weisen des Altertums, eines Orpheus, Pythagoras und Plato, zu statten zu kommen. Aber in der Ausübung entfernten sie sich desto weiter von der Strenge dieser Philosophen. Plato verweiset alle sanften und weichlichen Tonarten aus seiner Republik; die Musik soll seinen Bürgern weder Freude noch Traurigkeit einflößen; er verbannet mit den ionischen und lydischen Harmonien 10 alle Trink- und Liebeslieder; ja die Instrumente selbst scheinen ihm so wenig gleichgültig, daß er vielmehr die vielsaitigen, und die lydische Flöte, als gefährliche Werkzeuge der Üppigkeit ausmustert, und seinen Bürgern nur die Leier und die Cithar, so wie den Hirten und dem Landvolke nur die Rohrpfeife gestattet. So strenge philosophierten die Abderiten nicht. Keine Tonart, kein Instrument war bei ihnen ausgeschlossen, und – einem sehr wahren, aber sehr oft von ihnen mißverstandnen Grundsatze zufolge – behaupteten sie: daß man alle ernsthaften [135] Dinge lustig, und alle lustigen ernsthaft behandeln müsse. Die Ausdehnung dieser Maxime auf die Musik brachte bei ihnen die widersinnigsten Wirkungen hervor. Ihre gottesdienstlichen Gesänge klangen wie Gassenlieder; allein dafür konnte man nichts feierlichers hören, als die Melodie ihrer Tänze. Die Musik zu einem Trauerspiel war gemeiniglich komisch; hingegen klangen ihre Kriegslieder so schwermütig, daß sie sich nur für Leute schickten, die an den Galgen gehen. Diese Widersinnigkeit er streckte sich über alle Gegenstände des Geschmacks. Ein Leierspieler wurde in Abdera nur dann für vortrefflich gehalten, wenn er die Saiten so zu rühren wußte, daß man eine Flöte zu hören glaubte; und eine Sängerin, um bewundert zu werden, mußte gurgeln und trillern wie eine Nachtigall. Die Abderiten hatten keinen Begriff davon, daß die Musik nur in so fern Musik ist, als sie das Herz rührt: sie waren wohl zufrieden, wenn nur ihre Ohren gekützelt, oder wenigstens mit nichtssagenden, aber vollen und oft abwechselnden Harmonien gestopft wurden. Mit einem Worte, bei aller ihrer Schwärmerei für die Künste hatten die Abderiten keinen Geschmack; und es ahnete ihnen gar nicht, daß das Schöne aus einem höhern Grunde schön sei, als weil es ihnen so beliebte.

Dieses alles ungeachtet, konnte Natur, Zufall und gutes Glück mit zusammengesetzten Kräften wohl einmal so viel zuwege bringen, daß ein geborner Abderite Menschenverstand bekam. Aber wenigstens muß man gestehen, wenn sich so etwas begab, so hatte Abdera nichts dabei geholfen. Denn ein Abderit war ordentlicher Weise nur in so fern klug, als er kein Abderit war; – ein Umstand, der uns ohne Mühe begreifen läßt, warum die Abderiten von demjenigen unter ihren Mitbürgern, der ihnen in den Augen der Welt am meisten Ehre machte, immer am wenigsten hielten. Dies war keine ihrer gewöhnlichen Widersinnigkeiten. Sie hatten eine Ursache dazu, die so natürlich ist, daß es unbillig wäre, sie ihnen zum Vorwurf zu machen.

Diese Ursache war nicht (wie einige sich einbilden), weil sie z.E. den Naturforscher Demokritus – lange zuvor, eh er ein großer Mann war – mit dem Kreisel spielen, oder auf einem Grasplatze Burzelbäume machen gesehen hatten. –

[136] Auch nicht: weil sie aus Neid oder Eifersucht nicht leiden konnten, daß einer aus ihrem Mittel klüger sein sollte als sie. Denn – bei der untrüglichen Aufschrift der Pforte des delphischen Tempels! – dies zu denken hatte kein einziger Abderit Weisheit genug, oder er würde von dem Augenblick an kein Abderit mehr gewesen sein.

Der wahre Grund, meine Freunde, warum die Abderiten aus ihrem Mitbürger Demokritus nicht viel machten, war dieser: weil sie ihn für – keinen weisen Mann hielten.

»Warum das nicht?«

Weil sie nicht konnten.

»Und warum konnten sie nicht?«

Weil sie sich alsdann selbst für Dummköpfe hätten halten müssen. Und dies zu tun waren sie gleichwohl nicht widersinnisch genug.

Auch hätten sie eben so leicht auf dem Kopfe tanzen, oder den Mond mit den Zähnen fassen, oder den Zirkel quadrieren können, als einen Menschen, der in Allem ihr Gegenfüßler war, für einen weisen Mann zu halten. Dies folgt aus einer Eigenschaft der menschlichen Natur, die schon zu Adams Zeiten bemerkt worden sein muß, und gleichwohl, da Helvetius daraus folgerte – was daraus folgt, vielen ganz neu vorkam; die seit dieser Zeit niemanden mehr neu ist, und dennoch im Leben alle Augenblicke Vergessen wird.

Drittes Kapitel
Was Demokritus für ein Mann war
Seine Reisen
Er kommt nach Abdera zurück
Was er mitbringt, und wie er aufgenommen wird
Ein Examen, das sie mit ihm vornehmen, welches zugleich eine Probe einer abderitischen Conversation ist

Demokritus – ich denke nicht, daß es Sie gereuen wird, den Mann näher kennen zu lernen –

Demokritus war ungefähr zwanzig Jahre alt, als er seinen Vater, einen der reichsten Bürger von Abdera, erbte. Anstatt nun [137] darauf zu denken, wie er seinen Reichtum erhalten oder vermehren, oder auf die angenehmste oder lächerlichste Art durchbringen wollte, entschloß sich der junge Mensch, solchen zum Mittel – der Vervollkommnung seiner Seele zu machen.

»Aber was sagten die Abderiten zum Entschlusse des jungen Demokritus?«

Die guten Leute hatten sich nie träumen lassen, daß die Seele ein anderes Interesse habe, als der Magen, der Bauch und die übrigen integranten Teile des sichtbaren Menschen. Also mag ihnen freilich diese Grille ihres Landsmannes wunderlich genug vorgekommen sein. Allein, dies war nun gerade was er sich am wenigsten anfechten ließ. Er ging seinen Weg fort, und brachte viele Jahre mit gelehrten Reisen durch alle festen Länder und Inseln zu, die man damals bereisen konnte. Denn wer zu seiner Zeit weise werden wollte, mußte mit eignen Augen sehen. Es gab noch keine Buchdruckereien, keine Journale, Bibliotheken, Magazine, Encyklopädien, Realwörterbücher, und wie alle die Werkzeuge heißen, mit deren Hülfe man itzt, ohne zu wissen wie, ein Philosoph, ein Kunstrichter, ein Autor, ein Alleswisser wird. Damals war die Weisheit so teuer, und noch teurer als – die schöne Lais. Nicht jedermann konnte nach Korinth reisen. Die Anzahl der Weisen war sehr klein; aber die es waren, waren es auch desto mehr.

Demokritus reisete nicht bloß um der Menschen Sitten und Verfassungen zu beschauen, wie Ulysses; nicht bloß um Priester und Geisterseher aufzusuchen, wie Plato; oder um Tempel, Statuen, Gemälde und Altertümer zu begucken, wie Pausanias; oder um Pflanzen und Tiere abzuzeichnen und unter Classen zu bringen, wie Doctor Solander: sondern er reisete, um Natur und Kunst in allen ihren Wirkungen und Ursachen, den Menschen in seiner Nacktheit und in allen seinen Einkleidungen und Verkleidungen, roh und bearbeitet, bemalt und unbemalt, ganz und verstümmelt, und die übrigen Dinge in [138] allen ihren Beziehungen auf den Menschen, kennen zu lernen. Die Raupen in Aethiopien (sagte Demokritus,) sind freilich nur – Raupen. Was ist eine Raupe, um das erste, angelegenste, einzige Studium eines Menschen zu sein, Aber, da wir nun einmal in Aethiopien sind, so sehen wir uns immer, nebenher, auch nach den äthiopischen Raupen um. Es gibt eine Raupe im Lande der Seren, welche Millionen Menschen kleidet und nährt: wer weiß ob es nicht auch am Niger nützliche Raupen gibt?

Mit dieser Art zu denken hatte sich Demokritus auf seinen Reisen einen Schatz von Wissenschaft gesammelt, der in seinen Augen alles Gold in den Schatzkammern des Königs von Indien und alle Perlen an den Hälsen und Armen seiner Weiber wert war. Er kannte von der Zeder Libanons bis zum Schimmel eines arkadischen Käses eine Menge von Bäumen, Stauden, Kräutern, Gräsern und Moosen; nicht etwan bloß nach ihrer Gestalt, und nach ihren Namen, Geschlechtern und Arten: er kannte auch ihre Eigenschaften, Kräfte und Tugenden. Aber, was er tausendmal höher schätzte als alle seine übrigen Kenntnisse, er hatte allenthalben, wo er es der Mühe wert fand sich aufzuhalten, die Weisesten und die Besten kennen gelernt. Es hatte sich bald gezeigt, daß er ihres Geschlechtes war. Sie waren also seine Freunde geworden, hatten sich ihm mitgeteilt, und ihm dadurch die Mühe erspart, eignen Fleißes, Jahre lang, und vielleicht doch vergebens, zu suchen, was sie mit Aufwand und Mühe oder auch wohl nur glücklicher Weise schon gefunden hatten.

Bereichert mit allen diesen Schätzen des Geistes und Herzens kam Demokritus, nach einer Reise von zwanzig Jahren, zu den Abderiten zurück, die seiner beinahe vergessen hatten. Er war ein feiner stattlicher Mann; höflich und abgeschliffen, wie ein Mann, der mit mancherlei Arten von Erdensöhnen umzugehen gelernt hat, zu sein pflegt; ziemlich braungelb von Farbe; kam von den Enden der Welt, und hatte ein ausgestopftes Krokodil, einen lebendigen Affen, und viele andere sonderbare Sachen mitgebracht. Die Abderiten sprachen etliche Tage von nichts anderm, als von ihrem Mitbürger Demokritus, der wieder gekommen war und Affen und Krokodile mitgebracht hatte. Allein in kurzer Zeit zeigte sichs, daß sie sich in ihrer Meinung von einem so weit gereiseten Manne sehr verrechnet hatten.

[139] Demokritus war von den wackern Männern, denen er indessen die Besorgung seiner Güter anvertrauet hatte, um die Hälfte betrogen worden, und gleichwohl unterschrieb er ihre Rechnungen ohne Widerrede. Natürlicher Weise mußte dies der guten Meinung von seinem Verstande den ersten Stoß geben. Die Advocaten und Richter wenigstens, die sich zu einem einträglichen Processe Hoffnung gemacht hatten, merkten mit einem bedeutenden Achselzucken an, daß es bedenklich sein würde, einem Manne, der seinem eigenen Hause so schlecht vorstehe, das gemeine Wesen anzuvertrauen. Indessen zweifelten die Abderiten nicht, daß er sich nun unter die Mitwerber um ihre vornehmsten Ehrenämter stellen würde. Sie berechneten schon, wie hoch sie ihm ihre Stimme verkaufen wollten; gaben ihm eine Tochter, Enkelin, Schwester, Nichte, Base, Schwägerin zur Ehe; überschlugen die Vorteile, die sie zur Erhaltung dieser oder jener Absicht von seinem Ansehen ziehen wollten, wenn er einmal Archon oder Priester der Latona sein würde, u.s.w. Aber Demokritus erklärte sich, daß er weder ein Ratsherr von Abdera, noch der Ehgemahl eine Abderitin sein wollte, und vereitelte dadurch abermal alle ihre Anschläge. Nun hoffte man wenigstens durch seinen Umgang in etwas entschädiget zu werden. Ein Mann, welcher Affen, Krokodile und zahme Drachen von seinen Reisen mitgebracht hatte, mußte eine ungeheure Menge Wunderdinge zu erzählen haben. Man erwartete, daß er von zwölfellenlangen Riesen und von sechsdaumenhohen Zwergen, von Menschen mit Hund- und Eselsköpfen, von Meerfrauen mit grünen Haaren, von weißen Negern, und blauen Centauren sprechen würde. Aber Demokritus log so wenig, und in der Tat weniger, als ob er nie über den thracischen Bosporus gekommen wäre.

Man fragte ihn, ob er im Lande der Garamanten keine Leute ohne Kopf angetroffen habe, welche die Augen, die Nase und den Mund auf der Brust trügen; und ein abderitischer Gelehrter (der, ohne jemals aus den Mauern seiner Stadt gekommen zu sein, sich die Miene gab, als ob kein Winkel des Erdbodens wäre, den er nicht durchkrochen hätte,) bewies ihm in großer Gesellschaft, daß er entweder nie in Aethiopien gewesen sei, oder dort notwendig mit den Agriophagen, deren König nur ein Auge [140] über der Nase hat, mit den Sambern, die allezeit einen Hund zu ihrem König erwählen, und mit den Artabatiten, die auf allen Vieren gehen, Bekanntschaft gemacht haben müsse 11. Und wofern Sie bis in den äußersten Teil des abendländischen Aethiopien eingedrungen sind, fuhr der gelehrte Mann fort, so bin ich gewiß, daß Sie ein Volk ohne Nasen angetroffen haben, und ein anderes, wo die Leute einen so kleinen Mund führen, daß sie ihre Suppe durch Strohhalmen einzuschlürfen genötiget sind 12.

Demokritus beteuerte beim Kastor und Pollux, daß er sich nicht erinnere, diese Ehre gehabt zu haben.

Wenigstens, sagte jener, haben Sie in Indien Menschen angetroffen, die nur ein einziges Bein auf die Welt bringen, aber dem ungeachtet wegen der außerordentlichen Breite ihres Fußes so geschwind auf dem Boden fortrutschen, daß man ihnen zu Pferde kaum nachkommen kann 13. Und was sagten Sie dazu, wie Sie an der Quelle des Ganges ein Volk antrafen, das ohne alle andre Nahrung vom bloßen Geruche wilder Äpfel lebt 14?

O erzählen Sie uns doch, riefen die schönen Abderitinnen, erzählen Sie doch, Herr Demokritus! Was müßten Sie uns nicht erzählen können, wenn Sie nur wollten!

Demokritus schwur vergebens, daß er von allen diesen Wundermenschen in Aethiopien und Indien nichts gesehen noch gehört habe.

Aber was haben Sie denn gesehen, fragte ein runder dicker Mann, der zwar weder einäugig war wie die Agriophagen, noch eine Hundsschnauze hatte wie die Cymolgen, noch die Augen auf den Schultern trug wie die Omophthalmen, noch vom bloßen Geruche lebte wie die Paradiesvögel, aber doch gewiß nicht mehr Gehirn in seinem großen Schädel trug, als ein mexicanischer Colibri, ohne darum weniger ein Ratsherr von Abdera zu sein – Aber was haben Sie denn gesehen, sagte Wanst, Sie, der zwanzig Jahre in der Welt herum gefahren sind, wenn Sie nichts [141] von allem dem gesehen haben, was man in fernen Landen wunderbares sehen kann?

Wunderbares? versetzte Demokritus lächelnd. Ich hatte so viel mit Betrachtung des Natürlichen zu tun, daß ich fürs Wunderbare keine Zeit übrig behielt.

Nun das gesteh ich, erwiderte Wanst; das verlohnt sich auch der Mühe, alle Meere zu durchfahren, und über alle Berge zu steigen, um nichts zu sehen, als was man zu Hause eben so gut sehen konnte!

Demokritus zankte sich nicht gerne mit den Leuten um ihre Meinungen, am allerwenigsten mit Abderiten; und gleichwohl wollt' er auch nicht, daß es aussehen sollte, als ob er gar nichts sagen könne. Er suchte unter den schönen Abderitinnen, die in der Gesellschaft waren, eine aus, an die er das richten könnte, was er sagen wollte; und fand eine mit zwei großen junonischen Augen, die ihn, trotz seiner physiognomischen Kenntnisse, verführten, ihrer Eigentümerin etwas mehr Verstand oder Empfindung zuzutrauen als den übrigen. Was wollten Sie, sagte er zu ihr, daß ich, zum Exempel, mit einer Dame, die die Augen auf der Stirne oder am Ellebogen trüge, hätte anfangen sollen? Oder was würde mirs nun helfen, wenn ich noch so gelehrt in der Kunst wäre, das Herz einer – Menschenfresserin zu rühren? Ich habe mich immer zu wohl befunden, mich der sanften Gewalt von zwei schönen Augen, die an ihrem natürlichen Platze stehen, zu überlassen, um jemals eine Versuchung zu bekommen, das große Stierauge auf der Stirn einer Cyklopin zärtlich zu sehen.

Die Schöne mit den großen Augen, zweifelhaft, was sie aus dieser Anrede machen sollte, guckte dem Mann, der so sprach, mit stummer Verwunderung in den Mund, lächelte ihm ihre schönen Zähne vor, und sah sich zur rechten und linken Seite um, als ob sie den Verstand seiner Rede suchen wollte.

Die übrigen Abderitinnen hatten zwar eben so wenig davon begriffen; weil sie aber aus dem Umstande, daß er sich gerade an die Großäugige gewendet hatte, schlossen, er habe ihr etwas Schönes gesagt: so sahen sie einander jede mit einer eignen Grimasse an. Diese rümpfte eine kleine Stumpfnase, jene zog den Mund in die Länge, eine dritte spitzte den ihrigen, der ohnehin groß genug war, eine vierte riß ein paar kleine Augen auf, eine [142] fünfte brüstete sich mit zurückgezogenem Kopfe, u.s.w. Demokritus sah es, erinnerte sich, daß er in Abdera war, und schwieg.

Viertes Kapitel
Das Examen wird fortgesetzt, und verwandelt sich in eine Disputation über die Schönheit, wobei dem Demokritus sehr warm gemacht wird

Schweigen – ist zuweilen eine Kunst; aber doch nie eine so große, als uns gewisse Leute glauben machen wollen, die dann am klügsten sind, wenn sie schweigen.

Wenn ein weiser Mann sieht, daß er es mit Kindern zu tun hat, warum sollt' er sich zu weise dünken, nach ihrer Art mit ihnen zu reden?

Ich bin zwar (sagte Demokritus zu seiner neugierigen Gesellschaft) aufrichtig genug gewesen, zu gestehen, daß ich von allem, was man will, daß ich gesehen haben sollte, nichts gesehen habe; aber bilden Sie sich darum nicht ein, daß mir auf so vielen Reisen zu Wasser und zu Lande nichts aufgestoßen sei, das Ihre Neubegierde befriedigen könnte. Glauben Sie mir, es sind Dinge darunter, die Ihnen vielleicht noch wunderbarer vorkommen würden, als diejenigen, wovon die Rede war.

Bei diesen Worten rückten die schönen Abderitinnen näher und spitzten Mund und Ohren. Das ist doch ein Wort von einem gereisten Manne, rief der kurze dicke Ratsherr. Des Gelehrten Stirne entrunzelte sich durch die Hoffnung, daß er etwas zu tadeln und zu verbessern bekommen würde, Demokritus möchte auch sagen was er wollte.

Ich befand mich einst in einem Lande, fing Demokritus an, wo es mir so wohl gefiel, daß ich in den ersten drei oder vier Tagen, die ich darinnen zubrachte, unsterblich zu sein wünschte, um ewig darin zu leben.

»Ich bin nie aus Abdera gekommen, sagte der Ratsmann; aber ich dachte immer, daß es keinen Ort in der Welt gäbe, wo es mir besser gefallen könnte, als in Abdera. Auch geht es mir gerade, wie Ihnen mit dem Lande wo es Ihnen so wohl gefiel; ich wollte mit Freuden auf die ganze übrige Welt Verzicht [143] tun, wenn ich nur ewig in Abdera leben könnte! Aber warum gefiel es Ihnen nur drei Tage lang so wohl in dem Lande?«

Sie werden es gleich hören. Stellen Sie sich ein unermeßliches Land vor, dem die angenehmste Abwechslung von Bergen, Tälern, Wäldern, Hügeln und Auen unter der Herrschaft eines ewigen Frühlings und Herbstes, allenthalben wohin man sieht, das Ansehen des herrlichsten Lustgartens gibt: alles angebaut und bewässert, alles blühend und fruchtbar; allenthalben ein ewiges Grün, und immer frische Schatten und Wälder von den schönsten Fruchtbäumen, Datteln, Feigen, Zitronen, Granaten, die ohne Pflege, wie in Thracien die Eicheln, wachsen; Haine von Myrten und Schasmin; Amors und Cytheräens Lieblingsblume nicht auf Hecken, wie bei uns, sondern in dichten Büscheln auf großen Bäumen wachsend, und vollaufgeblüht wie die Busen meiner schönen Mitbürgerinnen –

(Dies hatte Demokritus nicht gut gemacht; und es kann künftigen Erzählern zur Warnung dienen, daß man sich vorher wohl in seiner Gesellschaft umsehen muß, ehe man Complimente dieser Art wagt, so verbindlich sie auch an sich selbst klingen mögen. Die Schönen hielten die Hände vor die Augen und erröteten. Denn zum Unglück war unter den Anwesenden keine, die dem schmeichelhaften Gleichnis Ehre gemacht hätte; wiewohl sie nicht ermangelten sich aufzublähen so gut sie konnten.)

– und diese reizenden Haine, fuhr er fort, vom lieblichen Gesang unzähliger Arten von Vögeln belebt, und mit tausend bunten Papageien erfüllt, deren Farben im Sonnenglanz die Augen blenden. Welch ein Land! Ich begriff nicht, warum die Göttin der Liebe Cythere zu ihrem Wohnsitz erwählt hätte, da ein Land wie dieses in der Welt war. Wo hätten die Grazien angenehmer tanzen können, als am Rande von Bächen und Quellen, wo, zwischen kurzem dichtem Gras vom lebhaftesten Grün, Lilien und Hyacinthen, und zehen Tausenden noch schönern Blumen, die in unsrer Sprache ohne Namen sind, freiwillig hervorblühn, und die Luft mit wollüstigen Wohlgerüchen erfüllen?

Die schönen Abderitinnen hatten, wie leicht zu erachten, die Einbildungskraft nicht weniger lebhaft als die Abderiten; und das Gemälde, das ihnen Demokritus, ohne dabei an Arges zu denken, vorstellte, war mehr, als ihre kleinen Seelchen aushalten [144] konnten. Einige seufzten laut vor Behäglichkeit; andere sahen aus, als ob sie die wollüstigen Gerüche, die in ihrer Phantasie düfteten, mit Mund und Nase einschlürfen wollten; die schöne Juno sank mit dem Kopf auf ein Polster des Kanapees zurück, schloß ihre großen Augen halb, und befand sich unvermerkt am blumichten Rand einer dieser schönen Quellen, von Rosen und Zitronenbäumen umschattet, aus deren Zweigen Wolken von ambrosischen Düften auf sie herab wallten. In einer sanften Betäubung von süßen Empfindungen begann sie eben einzuschlummern: als sie einen Jüngling, schön wie Bacchus und dringend wie Amor, zu ihren Füßen liegen sah. Sie richtete sich auf, ihn desto besser betrachten zu können, und sah ihm so schön, so zärtlich, daß die Worte, womit sie seine Verwegenheit bestrafen wollte, auf ihren Lippen erstarben. Kaum hatte sie –

Und wie meinen Sie (fuhr Demokritus fort) nennt sich dies zauberische Land, von dessen Schönheiten alles, was ich davon sagen könnte, Ihnen kaum den Schatten eines Begriffs geben würde? Es ist eben dieses Aethiopien, welches mein gelehrter Freund hier mit Ungeheuern von Menschen bevölkert, die eines so schönen Vaterlandes ganz unwürdig sind. Aber eine Sache, die er mir für wahr nachsagen kann, ist: daß es im ganzen Aethiopien und Libyen, wiewohl diese Namen eine Menge verschiedener Völker umfassen, keinen Menschen gibt, der seine Nase nicht eben da trüge wo wir, nicht eben so viel Augen und Ohren hätte als wir, und kurz –

Ein großer Seufzer von derjenigen Art, wodurch sich ein von Schmerz oder Vergnügen gepreßtes Herz Luft zu machen sucht, hob in diesem Augenblicke den Busen der schönen Abderitin, welche, während daß Demokritus in seiner Rede fortfuhr, in dem Traumgesichte, worin wir sie zu belauschen Bedenken trugen, (wie es scheint,) auf einen Umstand gekommen war, an welchem ihr Herz auf die eine oder andre Art sehr lebhaft Anteil nahm. Da die übrigen Anwesenden nicht wissen konnten, daß die gute Dame einige hundert Meilen weit von Abdera unter einem äthiopischen Rosenbaum, in einem Meer der süßesten Wohlgerüche schwamm, tausend neue Vögel das Glück der Liebe singen hörte, tausend bunte Papageien vor ihren Augen herum flattern sah, und, zum Überfluß, einen Jüngling mit gelben [145] Locken und Korallenlippen zu ihren Füßen liegen hatte, – so war es natürlich, daß man den besagten Seufzer mit einem allgemeinen Erstaunen empfing. Man begriff nichts davon, daß die letzten Worte Demokrits die Ursache einer solchen Wirkung gewesen sein könnten. Was fehlt Ihnen, Lysandra? riefen die Abderitinnen aus Einem Munde, indem sie sich sehr besorgt um sie stellten. Die schöne Lysandra, die in diesem Augenblicke wieder gewahr wurde, wo sie war, errötete, und versicherte, daß es nichts sei. Demokritus, der nun zu merken anfing was es war, stund ihnen gut dafür, daß ein paar Züge frische Luft alles wieder gut machen würden; aber in seinem Herzen beschloß er, künftig seine Gemälde nur mit Einer Farbe zu malen, wie die Maler in Thracien. Gerechte Götter! dacht er, was für eine Einbildungskraft diese Abderitinnen haben!

Nun meine schönen Neugierigen, fuhr Demokritus fort, was meinen Sie, von welcher Farbe die Einwohner eines so schönen Landes sind?

»Von welcher Farbe? – Warum sollten sie eine andre Farbe haben als die übrigen Menschen? Sagten Sie uns nicht, daß sie die Nase mitten im Gesichte trügen, und in allem Menschen wären wie wir Griechen?«

Menschen, ohne Zweifel; aber sollten sie darum weniger Menschen sein, wenn sie schwarz oder olivenfarb wären?

»Was meinen Sie damit?«

Ich meine, daß die schönsten unter den äthiopischen Nationen (nämlich diejenigen, die nach unserm Maßstabe die schönsten, das ist, uns die ähnlichsten sind,) durchaus olivenfarb wie die Aegyptier, und diejenigen, welche tiefer im festen Lande und in den mittäglichsten Gegenden wohnen, vom Kopf bis zur Fußsohle so schwarz und noch ein wenig schwärzer sind als die Raben zu Abdera.

»Was Sie sagen! – Und erschrecken die Leute nicht vor einander, wenn sie sich ansehen?«

Erschrecken: Warum dies? Sie gefallen sich sehr mit ihrer Rabenschwärze, und finden, daß nichts schöner sein kann.

»O das ist lustig! – riefen die Abderitinnen! – Schwarz am ganzen Leibe, als ob sie mit Pech überzogen wären, sich von Schönheit träumen zu lassen! Was das für ein dummes Volk [146] sein muß! Haben sie denn keine Maler, die ihnen den Apollo, den Bacchus, die Göttin der Liebe, und die Grazien malen könnten? Oder könnten sie nicht schon vom Homer lernen daß Juno weiße Arme, Thetis Silberfüße, und Aurora Rosenfinger hat?«

Ach, erwiderte Demokritus, die guten Leute haben keinen Homer; oder wenn sie einen haben, so dürfen wir uns darauf verlassen, daß seine Juno kohlschwarze Arme hat. Von Malern habe ich in Aethiopien nichts gehört. Aber ich sah ein Mädchen, dessen Schönheit unter seinen Landesleuten beinahe eben so viel Unheil anrichtete, als die Tochter der Leda unter den Griechen und Trojanern; und diese africanische Helena war schwärzer als Ebenholz.

»O beschreiben Sie uns doch dies Ungeheuer von Schönheit« – riefen die Abderitinnen, die, aus dem natürlichsten Grunde von der Welt, an dieser Unterredung unendlich viel Vergnügen fanden.

Sie werden Mühe haben sich einen Begriff davon zu machen. Stellen Sie sich das völlige Gegenteil des griechischen Ideals der Schönheit vor: die Größe einer Grazie, und die Dicke einer Ceres; schwarze Haare, aber nicht in langen wallenden Locken um die Schultern fließend, sondern kurz und von Natur kraus wie Schafwolle. Die Stirne breit und stark gewölbt; die Nase kurz aufgestülpt, und in der Mitte des Knorpels flach gedrückt; die Wangen rund wie die Backen eines Trompeters, der Mund groß – (Philinna lächelte, um zu zeigen, wie klein der ihrige sei.)

Die Lippen sehr dick und aufgeworfen, und zwo Reihen von Zähnen wie Perlenschnuren –

(Die Schönen lachten insgesamt, wiewohl sie keine andre Ursache dazu haben konnten, als ihre eignen Zähne zu weisen: denn was war sonst hier zu lachen?)

»Aber ihre Augen?« fragte Lysandra. –

O was die betrifft, die waren so klein und so wasserfarbig, daß ich lange nicht von mir erhalten konnte, sie schön zu finden – [147] »Demokritus ist für Homers Kuhaugen, wie es scheint«, sagte Myris, indem sie einen höhnischen Seitenblick auf die Schöne mit den großen Augen warf.

In der Tat, (versetzte Demokritus, mit einer Miene, woraus ein Tauber geschlossen hätte, daß er ihr die größte Schmeichelei sage,) schöne Augen müßten sehr groß sein, wenn ich sie zu groß finden sollte; und häßliche können, deucht mich, nie zu klein sein.

Die schöne Lysandra warf einen triumphierenden Blick auf ihre Schwestern, und schüttete dann eine ganze Glorie von Zufriedenheit aus ihren großen Augen auf den glücklichen Demokrit herab.

»Darf man wissen, was Sie unter schönen Augen verstehen?« fragte die kleine Myris, indem sich ihre Nase merklich spitzte.

Ein Blick der schönen Lysandra schien ihm zu sagen: Sie werden nicht verlegen sein, die Antwort auf diese Frage zu finden.

Ich verstehe darunter Augen, in denen sich eine schöne Seele malt, sagte Demokritus.

Lysandra sah albern aus, wie eine Person, der man etwas unerwartetes gesagt hat, und die keine Antwort darauf finden kann. Eine schöne Seele! – dachten die Abderitinnen alle zugleich – Was für wunderliche Dinge der Mann aus fernen Landen mitgebracht hat! Eine schöne Seele! Dies ist noch über seine Affen und Papageien!

»Aber mit allen diesen Subtilitäten, sagte der dicke Ratsherr, kommen wir von der Hauptsache ab. Mir deucht, die Rede war von der schönen Helena aus Aethiopien, und ich möchte doch wohl hören, was die ehrlichen Leute so schönes an ihr finden konnten?«

Alles, antwortete Demokritus.

»So müssen sie gar keinen Begriff von Schönheit haben«, sagte der Gelehrte.

Um Vergebung, erwiderte der Erzähler; weil diese äthiopische Helena der Gegenstand aller Wünsche war, so läßt sich sicher schließen, daß sie der Idee von Schönheit glich, die Jeder in seiner Einbildung fand.

[148] »Sie sind aus der Schule des Parmenides?« sagte der Gelehrte, indem er sich in eine streitbare Positur setzte 16.

Ich bin nichts – als ich selbst, welches sehr wenig ist; erwiderte Demokritus halb erschrocken. Wenn Sie dem Wort Idee gram sind, so erlauben Sie mir, mich anders auszudrücken. Die schöne Gulleru – so nannte man die Schwarze, von der wir reden –

Gulleru? riefen die Abderitinnen, indem sie in ein Gelächter ausbrachen, das kein Ende nehmen wollte; Gulleru! welch ein Name! – Und wie ging es mit Ihrer schönen Gulleru? fragte die spitznasige Myris mit einem Blick und in einem Tone, der noch dreimal spitziger als ihre Nase war.

Wenn Sie mir jemals die Ehre erweisen, mich zu besuchen, antwortete der Philosoph mit der ungezwungensten Höflichkeit, so sollen Sie erfahren, wie es mit der schönen Gulleru gegangen ist. Itzt muß ich diesem Herrn mein Versprechen halten. Die Gestalt der schönen Gulleru also –

(Der schönen Gulleru, wiederholten die Abderitinnen und lachten von neuem; aber ohne daß Demokritus sich diesmal unterbrechen ließ.)

– flößte zu ihrem Unglück den Jünglingen ihres Landes die stärkste Leidenschaft ein. Dies scheint zu beweisen, daß man sie schön gefunden habe; und ohne Zweifel lag der Grund, weswegen man sie schön fand, in allem dem, warum man sie nicht für häßlich hielt. Diese Aethiopier fanden also einen Unterschied zwischen dem was ihnen schön und was ihnen nicht schön vorkam; und wenn zehn verschiedene Aethiopier in ihrem Urteil von dieser Helena übereinstimmten, so kam es vermutlich daher, weil sie einerlei Begriff von Schönheit und Häßlichkeit hatten.

»Dies folgt nicht; (sagte der abderitische Gelehrte;) konnte nicht unter zehn jeder etwas anderes an ihr liebenswürdig finden?«

Der Fall ist nicht unmöglich; aber er beweist nichts gegen mich. Gesetzt, der eine hätte ihre kleinen Augen, ein anderer ihre schwellenden Lippen, ein dritter ihre großen Ohren bewundernswürdig [149] würdig gefunden: so setzt auch dies immer eine Vergleichung zwischen ihr und andern äthiopischen Schönen voraus. Die übrigen hatten Augen, Ohren und Lippen, so wohl wie Gulleru. Wenn man also die ihrigen schöner fand, so mußte man ein gewisses Modell der Schönheit haben, mit welchem man z. E. ihre Augen und andre Augen verglich; und dies ist alles, was ich mit meinem Ideal sagen wollte.

»Indessen (erwiderte der Gelehrte,) werden Sie doch nicht behaupten wollen, daß diese Gulleru schlechterdings die schönste unter allen schwarzen Mädchen vor ihr, neben ihr, und nach ihr gewesen sei? ich meine, die Schönste in Vergleichung mit dem Modelle, wovon Sie sagten.«

Ich wüßte nicht, warum ich dies behaupten sollte, versetzte Demokritus.

»Es konnte also eine geben, die z. E. noch kleinere Augen, noch dickere Lippen, noch größere Ohren hatte?«

Möglicher Weise, so viel ich weiß.

»Und in Absicht dieser letztern gilt ohne Zweifel die nämliche Voraussetzung, und so ins Unendliche. Die Aethiopier hatten also kein Modell der Schönheit; man müßte denn sagen, daß sich unendlich kleine Augen, unendlich dicke Lippen, unendlich große Ohren denken lassen?«

Wie subtil die abderitischen Gelehrten sind! dachte Demokritus. Wenn ich eingestund, sagte er, daß es ein schwarzes Mädchen geben könne, welche kleinere Augen oder dickere Lippen hätte als Gulleru, so sagte ich damit noch nicht, daß dieses schwarze Mädchen den Aethiopiern darum schöner hätte vorkommen müssen als Gulleru. Das Schöne hat notwendig ein bestimmtes Maß, und was über solches ausschweift, entfernt sich eben so davon, wie das, was unter ihm bleibt. Wer wird daraus, daß die Griechen in der Größe der Augen und in der Kleinheit des Mundes ein Stück der vollkommenen Schönheit setzen, den Schluß ziehen: eine Frau, deren Augapfel einen Daumen im Durchschnitt hielten, oder deren Mund so klein wäre, daß man Mühe hätte, einen Strohhalm hineinzubringen, müßte von den Griechen für desto schöner gehalten werden?

Der Abderite war geschlagen, wie man sieht; und er fühlte es. Aber ein abderitischer Gelehrter hätte sich eher erdrosseln lassen, [150] als so was einzugestehen. Waren nicht Philinnen und Lysandren, und ein kurzer dicker Ratsherr da, an deren Meinung von seinem Verstand ihm gelegen war? Und wie wenig kostete es ihm, Abderiten und Abderitinnen auf seine Seite zu bringen? – In der Tat wußte er nicht sogleich, was er sagen sollte. Aber in fester Zuversicht, daß ihm wohl noch was einfallen werde, antwortete er indessen durch ein höhnisches Lächeln; welches zugleich andeutete, daß er die Gründe seines Gegners verachte, und daß er im Begriff sei, den entscheidenden Streich zu führen. »Ists möglich, rief er endlich in einem Ton, als ob dies die Antwort auf die letzte Rede des Demokritus sei 17, können Sie die Liebe zum Paradoxen so weit treiben, im Angesicht dieser Schönen zu behaupten, daß ein Geschöpf, wie Sie uns diese Gulleru beschrieben haben, eine Venus sei?«

Sie haben vergessen, versetzte Demokrit sehr gelassen, daß die Rede nicht von mir und diesen Schönen, sondern von Aethiopiern war. Ich behauptete nichts; ich erzählte nur was ich gesehen hatte. Ich beschrieb Ihnen eine Schönheit nach äthiopischem Geschmack. Es ist nicht meine Schuld, wenn die griechische Häßlichkeit in Aethiopien Schönheit ist. Auch seh ich nicht, was mich berechtigen könnte, zwischen den Griechen und Aethiopiern zu entscheiden. Ich vermute, es könnte sein, daß beide Recht hätten.

Ein lautes Gelächter, dergleichen man aufschlägt, wenn jemand etwas unbegreiflich Ungereimtes gesagt hat, wieherte dem Philosophen aus allen anwesenden Hälsen entgegen.

»Laß hören, laß doch hören, rief der dicke Ratsherr, indem er seinen Wanst mit beiden Händen hielt, was unser Landsmann sagen kann, um zu beweisen, daß beide Recht haben! Ich höre für mein Leben gerne so was behaupten. Wofür hätte man auch sonst euch gelehrte Herren? – Die Erde ist rund; der Schnee ist schwarz; der Mond ist zehnmal so groß als der ganze Peloponnesus; Achilles kann keine Schnecke im Laufen einholen – Nicht wahr, Herr Antistrepsiades? – Nicht wahr, Herr Demokritus? – Sie sehen, daß ich auch ein wenig in Ihren Mysterien eingeweiht bin. Ha, Ha, Ha!«

[151] Die sämtlichen Abderiten und Abderitinnen erleichterten sympathetischer Weise ihre Lungen abermals, und Herr Antistrepsiades, der einen Anschlag auf die Abendmahlzeit des jovialischen Ratsherrn gemacht hatte, unterstützte gefällig das allgemeine Gelächter mit lautem Händeklatschen.

Fünftes Kapitel
Unerwartete Auflösung des Knotens, mit einigen neuen Beispielen von abderitischem Witz

Demokritus war in der Laune, sich mit seinen Abderiten und den Abderiten mit sich Kurzweile zu machen. Zu weise, ihnen irgend eine von ihren National- oder Individualunarten übel zu nehmen, konnt' er es sehr wohl leiden, daß sie ihn für einen überklugen Mann ansahen, der seinen abderitischen Mutterwitz auf seiner langen Wanderschaft verdünstet hatte, und nun zu nichts gut wäre, als ihnen mit seinen Einfällen und Grillen etwas zu lachen zu geben. Er fuhr also, nachdem sich das Gelächter über den witzigen Einfall des dicken Ratsherrn endlich gelegt hatte, mit seinem gewöhnlichen Phlegma fort, wo ihn der kleine jovialische Mann unterbrochen hatte.

Sagte ich nicht, wenn die griechische Häßlichkeit in Aethiopien Schönheit sei, so könnte wohl sein, daß beide Teile Recht hätten?

»Ja, ja, das sagten Sie, und ein Mann steht für sein Wort.«

Wenn ich es gesagt habe, so muß ich's wohl behaupten; das versteht sich, Herr Antistrepsiades?

»Wenn Sie können.«

Bin ich etwan nicht auch ein Abderit? Und zudem brauch ich hier nur die Hälfte meines Satzes zu beweisen, um das Ganze bewiesen zu haben: denn daß die Griechen Recht haben, darf nicht erst bewiesen werden; dies ist eine Sache, die in allen griechische Köpfen schon längst ausgemacht ist. Aber daß die Aethiopier auch Recht haben, da liegt die Schwierigkeit! Wenn ich mit Sophismen fechten, oder mich begnügen wollte, meine Gegner stumm zu machen, ohne sie zu überzeugen; so würd' ich, als Anwalt der äthiopischen Venus, die ganze Streitfrage dem innern Gefühl [152] zu entscheiden überlassen. Warum, würd' ich sagen, nennen die Menschen diese oder jene Figur, diese oder jene Farbe, schön? Weil sie ihnen gefällt. Gut; aber warum gefällt sie ihnen? Weil sie ihnen angenehm ist. Und warum ist sie ihnen angenehm? – O mein Herr, würde ich sagen, Sie müssen endlich aufhören zu fragen, oder – ich höre auf zu antworten. Ein Ding ist uns angenehm, weil es – einen Eindruck auf uns macht, der uns angenehm ist. Ich fordre alle Ihre Grübler heraus, einen bessern Grund anzugeben. Nun würd' es lächerlich sein, einem Menschen abstreiten zu wollen, daß ihm angenehm sei, was ihm angenehm ist; oder ihm zu beweisen, er habe Unrecht, sich wohlgefallen zu lassen, was einen gefallenden Eindruck auf ihn macht. Wenn also die Figur einer Gulleru seinen Augen wohl tut, so gefällt sie ihm, und wenn sie ihm gefällt, so nennt er sie schön, oder es müßte nur kein solches Wort in seiner Sprache sein.

»Und wenn – und wenn ein Wahnwitziger Pferdäpfel für Pfirschen äße?« sagte Antistrepsiades.

»Pferdäpfel für Pfirschen! – gut gesagt, bei meiner Ehre! gut gesagt, rief der Ratsherr. Knacken Sie das auf, Herr Demokritus?« –

»Fi, Fi, doch, Demokritus, lispelte die schöne Myris, indem sie die Hand vor die Nase hielt; wer wird auch von Pferdäpfeln reden? Schonen Sie wenigstens unsrer Nasen!«

Jedermann sieht, daß sich die schöne Myris mit diesem Verweise an den witzigen Antistrepsiades hätte wenden sollen, der die Pferdäpfel zuerst aufgetragen hatte, und an den Ratsherrn, der dem Demokritus gar zumutete sie aufzuknacken. Aber es war nun einmal darauf abgesehen, den Demokritus lächerlich zu machen; der Instinct vertrat bei den sämtlichen Anwesenden hierin die Stelle einer Verabredung, und Myris konnte diese schöne Gelegenheit zu einem Stich, der die Lacher auf ihre Seite brachte, unmöglich entwischen lassen. Denn gerade der Umstand, daß Demokrit, der ohnehin an den Pferdäpfeln des Antistrepsiades genug zu schlucken hatte, noch obendrein einen Verweis deswegen erhielt, kam den Abderiten und Abderitinnen so lustig vor, daß sie alle zugleich zu lachen anfingen, und sich völlig so gebärdeten, als ob der Philosoph nun aufs Haupt geschlagen sei und gar nicht wieder aufstehen könne.

[153] Zu viel ist zu viel. Der gute Demokritus hatte zwar in zwanzig Jahren viel erwandert: aber seitdem er aus Abdera gegangen war, war ihm kein zwotes Abdera aufgestoßen; und nun, da er wieder drin war, zweifelte er zuweilen auf einen oder zween Augenblicke, ob er irgendwo sei? Wie war es möglich, mit solchen Leuten fertig zu werden?

»Nun, Vetter? – sagte der Ratsherr, kannst du die Pferdäpfel des Antistrepsiades nicht hinunter kriegen? Ha, ha, ha!«

Dieser Einfall war zu abderitisch, um die Zärtlichkeit der sämtlichen gebogenen, stumpfen, viereckigen und spitzigen Nasen in der Gesellschaft nicht zu überwältigen.

Die Damen kicherten ein zirpendes Hi, hi, hi, in das dumpfe donnernde Ha, ha, ha, der Mannspersonen.

Sie haben gewonnen, rief Demokritus; und zum Zeichen daß ich mein Gewehr mit guter Art strecke, sollen Sie sehen, ob ich die Ehre verdiene, Ihr Landsmann und Vetter zu sein. Und nun fing er an, mit einer Geschicklichkeit, worin ihm kein Abderite gleich kam, von der untersten Note stufenweise Crescendo, bis zum Unisono mit dem Hi, hi, der schönen Abderitinnen, ein Gelächter aufzuschlagen, dergleichen, so lang Abdera auf thracischem Boden stund, nie erhört worden war.

Anfangs machten die Damen Miene, als ob sie Widerstand tun wollten; aber es war keine Möglichkeit, gegen das verzweifelte Crescendo auszuhalten. Sie wurden endlich davon wie von einem reißenden Strom ergriffen; und da die Gewalt der Ansteckung noch dazu schlug, so kam es bald so weit, daß die Sache ernsthaft wurde. Die Frauenzimmer baten mit weinenden Augen um Barmherzigkeit. Aber Demokritus hatte keine Ohren, und das Gelächter nahm überhand. Endlich ließ er sich, wie es schien, bewegen, ihnen einen Stillstand zu bewilligen; allein in der Tat bloß, damit sie die Peinigung, die er ihnen zugedacht, desto länger aushalten könnten. Denn kaum waren sie wieder ein wenig zu Atem gekommen, so fing er die nämliche Tonleiter, eine Terze höher, noch einmal zu durchlachen an, aber mit so vielen eingemischten Trillern und Rouladen, daß sogar die runzlichten Beisitzer des Höllengerichts, Minos, Aeakus und Rhadamanthus, in ihrem höllenrichterlichen Ornat, aus der Fassung dadurch gekommen wären.

[154] Zum Unglück hatten zwo oder drei von unsern Schönen nicht daran gedacht, ihre Personen gegen alle mögliche Folgen einer so heftigen Leibesübung in Sicherheit zu setzen. Scham und Natur kämpften auf Leben und Tod in den armen Mädchen. Vergebens flehten sie den unerbittlichen Demokritus mit Mund und Augen um Gnade an; vergebens forderten sie ihre vom Lachen gänzlich erschlafften Sehnen zu einer letzten Anstrengung auf. Die tyrannische Natur siegte, und in einem Augenblicke sahe man den Saal, wo sich die Gesellschaft befand, unter **********

Der Schrecken über eine so unversehene Naturerscheinung (die desto wunderbarer war, da das allgemeine Auffahren und Erstaunen der schönen Abderitinnen zu beweisen schien, daß es eine Wirkung ohne Ursache sei,) unterbrach die Lacher auf etliche Augenblicke, um sogleich mit verdoppelter Gewalt wieder loszudrücken. Natürlicher Weise gaben sich die erleichterten Schönen alle Mühe, den besondern Anteil, den sie an dieser Begebenheit hatten, durch Grimassen von Erstaunen und Ekel zu verbergen, und den Verdacht auf ihre schuldlosen Nachbarinnen fallen zu machen, welche durch unzeitige, aber unfreiwillige Schamröte den unverdienten Argwohn mehr als zu viel bestärkten. Der lächerliche Zank, der sich darüber unter ihnen erhub; Demokrit und Antistrepsiades, die sich boshafter Weise ins Mittel schlugen, und durch ironische Trostgründe den Zorn derjenigen, die sich unschuldig wußten, noch mehr aufreizten; und mitten unter ihnen allen der kleine dicke Ratsherr, der unter berstendem Gelächter einmal über das andre ausrief, daß er nicht die Hälfte von Thracien um diesen Abend nehmen wollte; alles dies zusammen machte eine Scene, die des Griffels eines Hogarth würdig gewesen wäre, wenn es damals schon einen Hogarth gegeben hätte.

Wir können nicht sagen, wie lange sie gedaurt haben mag: denn es ist eine von den Tugenden der Abderiten, daß sie nicht aufhören können. Aber Demokritus, bei dem alles seine Zeit hatte, glaubte, daß eine Komödie, die kein Ende nimmt, die langweiligste unter allen Kurzweilen sei. Er packte also alle die schönen Sachen, die er zur Rechtfertigung der äthiopischen Venus hätte sagen können, wofern er es mit vernünftigen Geschöpfen zu tun gehabt hätte, ganz gelassen zusammen, wünschte den [155] Abderiten und Abderitinnen – was sie nicht hatten, und ging nach Hause, nicht ohne Verwunderung über die gute Gesellschaft, die man anzutreffen Gefahr lief, wenn man – einen Ratsherrn von Abdera besuchte.

Sechstes Kapitel
Eine Gelegenheit für den Leser, um sein Gehirn aus der schaukelnden Bewegung des vorigen Kapitels wieder in Ruhe zu setzen

Gute, kunstlose, sanftherzige Gulleru, – sagte Demokritus, da er nach Hause gekommen war, zu einer wohlgepflegten krauslockigen Schwarzen, die ihm mit offnen Armen entgegenwatschelte – komm an meinen Busen, ehrliche Gulleru! Zwar bist du schwarz wie die Göttin der Nacht; dein Haar ist wollicht, und deine Nase platt; deine Augen sind klein, deine Ohren groß, und deine Lippen gleichen einer aufgeborstnen Nelke. Aber dein Herz ist rein und aufrichtig und fröhlich, und fühlt mit der ganzen Natur. Du denkst nie Arges, sagst nie was Albernes, quälst weder andre noch dich selbst, und tust nichts, was du nicht gestehen darfst. Deine Seele ist ohne Falsch, wie dein Gesicht ohne Schminke. Du kennst weder Neid noch Schadenfreude; und nie hat sich deine ehrliche platte Nase gerümpft, um eines deiner Nebengeschöpfe zu höhnen oder in Verlegenheit zu setzen. Unbesorgt, ob du gefällst oder nicht gefällst, lebst du, in deine Unschuld eingehüllt, im Frieden mit dir selbst und der ganzen Natur; immer geschickt Freude zu geben und zu empfangen, und wert, daß das Herz eines Mannes an deinem Busen ruhe! Gute, sanftherzige Gulleru! Ich könnte dir einen andern Namen geben; einen schönen, klangreichen, griechischen Namen auf ane oder ide, arion oder erion: aber dein Name ist schön genug, weil er dein ist; und ich bin nicht Demokritus, oder die Zeit soll noch kommen, wo jedes ehrliche gute Herz dem Namen Gulleru entgegenschlagen soll!

Gulleru begriff nicht allzuwohl, was Demokritus mit dieser empfindsamen Anrede haben wollte; aber sie sah, daß es eine Ergießung seines Herzens war, und so verstund sie gerade so viel davon, als sie vonnöten hatte.

[156] »War diese Gulleru seine Frau?«

Nein.

»Seine Beischläferin?«

Nein.

»Seine Sklavin?«

Nach ihrem Anzug zu schließen nicht.

»Wie war sie denn angezogen?«

So gut, daß sie eine Fille d'honneur der Königin von Saba hätte vorstellen können. Schnüre von großen feinen Perlen zwischen den Locken, und um Hals und Arme; ein Gewand voll schön gebrochner Falten, von dünnem feuerfarbnem Atlaß mit Streifen von welcher Farbe ihr wollt, unter ihrem Busen von einem reichgestickten Gürtel zusammengehalten, den eine Agraffe von Smaragden schloß; und – was weiß ich alles –

»Der Anzug war reich genug.«

Wenigstens können Sie mir glauben, daß, so wie sie war, kein Prinz von Senegal, Angola, Gambia, Congo und Loango sie ungestraft angesehen hätte.

»Aber –«

Ich sehe wohl, daß Sie noch nicht am Ende Ihrer Fragen sind. – Wer war denn diese Gulleru? War es eben die, von welcher vorhin gesprochen wurde? Wie kam Demokritus zu ihr? Auf welchen Fuß lebte sie in seinem Hause? – Ich gesteh' es, dies sind sehr billige Fragen; aber sie zu beantworten, seh' ich vor der Hand keine Möglichkeit. Denken Sie nicht, daß ich hier den Verschwiegnen machen wolle, oder daß ein besonderes Geheimnis unter der Sache stecke. Die Ursache, warum ich sie nicht beantworten kann, ist die aller simpelste von der Welt. Tausend Schriftsteller befinden sich tausendmal in dem nämlichen Falle; nur ist unter Tausend kaum einer aufrichtig genug, in solchen Fällen die wahre Ursache zu bekennen. Soll ich Ihnen die meinige sagen, Sie werden gestehen, daß sie über alle Einwendung ist. Denn, kurz und gut, – ich weiß selbst kein Wort von allem dem, was Sie von mir wissen wollen; und da ich nicht die Geschichte der schönen Gulleru schreibe, so begreifen Sie, daß ich in Absicht auf diese Dame zu nichts verbunden bin. Sollte sich (was ich nicht vorhersehen kann,) etwa in der Folge Gelegenheit finden, von Demokritus oder von ihr selbst etwas näheres zu erkundigen: [157] so verlassen Sie sich darauf, daß Sie alles von Wort zu Wort erfahren sollen.

Siebentes Kapitel
Patriotismus der Abderiten
Ihre Vorneigung für Athen als ihre Mutterstadt
Ein paar Proben von ihrem Atticismus, und von der unangenehmen Aufrichtigkeit des weisen Demokritus

Demokritus hatte noch keinen Monat unter den Abderiten gelebt, als er ihnen, und zuweilen auch sie ihm, schon so unerträglich waren, als Menschen einander sein müssen, die mit ihren Begriffen und Neigungen alle Augenblicke wider einander stoßen.

Die Abderiten hegten von sich selbst und von ihrer Stadt und Republik eine ganz außerordentliche Meinung. Ihre Unwissenheit alles dessen, was außerhalb ihrem Gebiet in der Welt Merkwürdiges sein oder geschehen möchte, war zugleich eine Ursache und eine Frucht dieses lächerlichen Dünkels. Daher kam es denn, durch eine sehr natürliche Folge, daß sie sich gar keine Vorstellung machen konnten, wie etwas recht oder anständig oder gut sein könnte, wenn es anders als zu Abdera war, oder wenn man zu Abdera gar nichts davon wußte. Ein Begriff, der ihren Begriffen widersprach, eine Gewohnheit, die von den ihrigen abging, eine Art zu denken oder etwas ins Auge zu fassen, die ihnen fremde war, hieß ihnen, ohne weitere Untersuchung, ungereimt und belachenswert. Die Natur selbst schrumpfte für sie in den engen Kreis ihrer eigenen Tätigkeit zusammen; und wiewohl sie es nicht so weit trieben, sich, wie die Japaner, einzubilden, außer Abdera wohnten lauter Teufel, Gespenster und Ungeheuer: so sahen sie doch wenigstens den Rest des Erdbodens und seiner Bewohner als einen ihrer Aufmerksamkeit unwürdigen Gegenstand an; und wenn sie zufälliger Weise Gelegenheit bekamen, etwas Fremdes zu sehen oder zu hören, so wußten sie nichts damit zu machen, als sich darüber aufzuhalten, und sich selbst Glück zu wünschen, daß sie nicht wären wie andere Leute. Dies ging so weit, daß sie denjenigen für keinen guten Bürger [158] hielten, der an einem andern Orte bessere Einrichtungen oder Gebräuche wahrgenommen hatte als zu Hause. Wer das Glück haben wollte, ihnen zu gefallen, mußte schlechterdings so reden und tun, als ob die Stadt und Republik Abdera, mit allen ihren zugehörigen Stücken, Eigenschaften und Zufälligkeiten, ganz und gar untadelich, und das Ideal aller Republiken gewesen wäre.

Von dieser Verachtung gegen alles, was nicht abderitisch hieß, war die Stadt Athen allein ausgenommen; aber auch diese vermutlich nur deswegen, weil die Abderiten, als ehmalige Tejer, ihr die Ehre erwiesen, sie für ihre Mutterstadt anzusehen. Sie waren stolz darauf, für das thracische Athen gehalten zu werden; und wiewohl ihnen dieser Name nie anders als spottweise gegeben wurde, so hörten sie doch keine Schmeichelei lieber als diese. Sie bemühten sich, die Athenienser in allen Stücken zu copieren; und copierten sie genau – wie der Affe den Menschen. Wenn sie, um lebhaft und geistreich zu sein, alle Augenblicke ins Possierliche fielen; wichtige Dinge leichtsinnig, und Kindereien ernsthaft behandelten; das Volk oder ihren Rat um jeder Kleinigkeit willen zwanzigmal versammelten, um lange, alberne Reden pro und contra über Sachen zu halten, die ein Mann von alltäglichem Menschenverstand in einer Viertelstunde besser als sie entschieden hätte; wenn sie unaufhörlich mit Projecten von Verschönerung und Vergrößerung schwanger gingen, und, so oft sie etwas unternahmen, immer erst mitten im Werke ausrechneten, daß es über ihre Kräfte gehe; wenn sie ihre halbthracische Sprache mit attischen Redensarten spickten; ohne den mindesten Geschmack eine ungeheure Passion für die Künste affectierten, und immer von Malerei und Statuen und Musik und Rednern und Dichtern schwatzten, ohne jemals einen Maler, Bildhauer, Redner oder Dichter, der des Namens wert war, gehabt zu haben; wenn sie Tempel bauten, die wie Bäder, und Bäder, die wie Tempel aussahen; wenn sie die Geschichte von Vulcans Netze in ihre Ratsstube, und den großen Rat der Griechen über die Zurückgabe de schönen Chryseis in ihre Akademie malen ließen; wenn sie in Lustspiele gingen, wo man sie zu weinen, und in Trauerspiele, wo man sie zu lachen machte; und in zwanzig ähnlichen Dingen glaubten die guten Leute – Athenienser zu sein, und waren – Abderiten.

[159] Wie erhaben der Schwung in diesem kleinen Gedicht ist, das Physignatus auf meine Wachtel gemacht hat! sagte eine Abderitin. Desto schlimmer! sagte Demokritus.

Sehen Sie, sprach der erste Archon von Abdera, die Fassade von diesem Gebäude, welches wir zu unserm Zeughause bestimmet haben? Sie ist von dem besten parischen Marmor. Gestehen Sie, daß Sie nie ein Werk von größerm Geschmack gesehen haben!

Es mag die Republik schönes Geld gekostet haben, antwortete Demokritus.

Was der Republik Ehre macht, kostet nie zu viel, erwiderte der Archon, der in diesem Augenblick den zweiten Perikles in sich fühlte; ich weiß, Sie sind ein Kenner, Demokritus: denn Sie haben immer an allem etwas auszusetzen. Ich bitte Sie, finden Sie mir einen Fehler an dieser Fassade?

Tausend Drachmen für einen Fehler, Herr Demokritus, rief ein junger Herr, der die Ehre hatte, ein Neffe des Archon zu sein, und vor kurzem von Athen zurückgekommen war, wo er sich aus einem abderitischen Bengel für die Hälfte seines Erbgutes zu einem attischen Gecken ausgebildet hatte.

Die Fassade ist schön, sagte Demokritus ganz bescheiden; so schön, daß sie es auch zu Athen oder Korinth oder Syrakus sein würde. Ich sehe, wenn's erlaubt ist, es zu sagen, nur Einen Fehler an diesem prächtigen Gebäude.

»Einen Fehler?« – sprach der Archon, mit einer Miene, die sich nur ein Abderite, der ein Archon war, geben konnte.

Einen Fehler! Einen Fehler! wiederholte der junge Geck, indem er ein lautes Gelächter aufschlug.

»Darf man fragen, Demokritus, wie ihr Fehler heißt?«

Eine Kleinigkeit, versetzte Demokritus; nichts als daß man eine so schöne Fassade – nicht sehen kann.

»Nicht sehen kann? Und wieso?«

Je, beim Anubis! wie wollen Sie daß man sie vor allen den alten übelgebauten Häusern und Scheunen sehen soll, die hier ringsum zwischen die Augen der Leute und Ihre Fassade hingesetzt sind?

»Diese Häuser stunden lange eh Sie und ich geboren wurden«, sagte der Archon.

[160] Dergleichen Dialogen gab es, so lange der Philosoph unter ihnen lebte, alle Tage, Stunden und Augenblicke.

»Wie finden Sie diesen Purpur, Demokritus? Sie sind zu Tyrus gewesen; nicht wahr?«

Ich wohl, Madame, aber dieser Purpur nicht; dies ist Coccinum, das Ihnen die Syrakusaner aus Sardinien bringen und für tyrischen Purpur bezahlen lassen.

»Aber wenigstens werden Sie doch diesen Schleier für indianischen Byssus von der feinsten Art gelten lassen?«

Von der feinsten Art, schöne Atalanta, die man in Memphis und Pelusium verarbeiten läßt.

Nun hatte sich der ehrliche Mann zwo Feindinnen in Einer Minute gemacht. Konnte aber auch was ärgerlicher sein, als eine solche Aufrichtigkeit?

Achtes Kapitel
Vorläufige Nachricht von dem abderitischen Schauspielwesen
Demokritus wird genötigt,
seine Meinung davon zu sagen

Die Abderiten wußten sich sehr viel mit ihrem Theater. Ihre Schauspieler waren gemeine Bürger von Abdera, die entweder von ihrem Handwerke nicht leben konnten, oder zu faul waren, eines zu lernen. Sie hatten keinen gelehrten Begriff von der Kunst, aber eine desto größere Meinung von ihrer eignen Geschicklichkeit; und wirklich konnt' es ihnen an Anlage nicht fehlen, da die Abderiten überhaupt geborne Gaukler, Spaßmacher und Pantomimen waren, an denen immer jedes Glied ihres Leibes mitreden half, so wenig auch das, was sie sagten, zu bedeuten haben mochte.

Sie besaßen auch einen eignen Schauspieldichter, Hyperbolus genannt, der, wenn man ihnen glaubte, ihre Schaubühne so weit gebracht hatte, daß sie der atheniensischen wenig nachgab. Er war im Komischen so stark als im Tragischen, und machte überdies die possierlichsten Satyrenspiele 18 von der Welt, worin er [161] seine eignen Tragödien so schnakisch parodierte, daß man sich, wie die Abderiten sagten, dar über bucklicht lachen mußte. Ihrem Urteile nach vereinigte er in seiner Tragödie den hohen Schwung und die mächtige Einbildungskraft des Aeschylus mit der Beredsamkeit und dem Pathos des Euripides, so wie in seinen Lustspielen des Aristophanes Laune und mutwilligen Witz mit dem feinen Geschmack und der Eleganz des Agathon. Die Behendigkeit, womit er seiner Werke entbunden wurde, war das Talent, worauf er sich am meisten zu gute tat. Er lieferte jeden Monat seine Tragödie, mit einem kleinen Possenspielchen zur Zugabe. Meine beste Komödie, sprach er, hat mich nicht mehr als vierzehn Tage gekostet, und gleichwohl spielt sie ihre vier bis fünf Stunden wohlgezählt.

Da sei uns der Himmel gnädig! dachte Demokritus.

Nun drangen die Abderiten immer von allen Seiten in ihn, seine Meinung von ihrem Theater zu sagen; und so ungern er sich mit ihnen über ihren Geschmack in Wortwechsel einließ, so konnt'er doch auch nicht von sich erhalten, ihnen zu schmeicheln, wenn sie ihm sein Urteil mit gesamter Hand abnötigten.

»Wie gefällt Ihnen diese neue Tragödie?«

Das Süjet ist glücklich gewählt. Was müßte der Autor auch sein, der einen solchen Stoff ganz zu Grunde richten sollte?

»Fanden Sie sie nicht sehr rührend?«

Ein Stück könnte in einigen Stellen sehr rührend, und doch ein sehr elendes Stück sein, sagte Demokritus. Ich kenne einen Bildhauer von Sicyon, der die Wut hat, lauter Liebesgöttinnen zu schnitzen.

Diese sehen überhaupt sehr gemeinen Dirnen gleich; aber sie haben alle die schönsten Beine von der Welt. Das ganze Geheimnis von der Sache ist, daß der Mann seine Frau zum Modelle nimmt, die, zum Glücke für seine Venusbilder, wenigstens die Beine schön hat. So kann dem schlechtesten Dichter zuweilen eine rührende Stelle gelingen, wenn es sich gerade zutrifft, daß er verliebt ist, oder einen Freund verloren hat, oder daß ihm sonst ein Zufall zugestoßen ist, der sein Herz in eine Fassung setzt, die es ihm leicht macht, sich an den Platz der Person, die er reden lassen soll, zu stellen.

»Sie finden also die Hekuba unsers Dichters nicht vortrefflich?«

[162] Ich finde, daß der Mann vielleicht sein Bestes getan hat. Aber die vielen, bald dem Aeschylus, bald dem Sophokles, bald dem Euripides, ausgerupften Federn, womit er seine Blöße zu decken sucht, und die ihm vielleicht in den Augen mancher Zuhörer, denen jene Dichter nicht so gegenwärtig sind als mir, Ehre machen, schaden ihm in den meinigen. Eine Krähe, wie sie von Gott erschaffen ist, dünkt mich so noch immer schöner, als wenn sie sich mit Pfauen- und Fasanenfedern ausputzt. Überhaupt fodre ich von dem Verfasser eines Trauerspiels mit gleichem Rechte, daß er mir für meinen Beifall ein vortreffliches Trauerspiel, als von meinem Schuster, daß er mir für mein Geld ein Paar gute Stiefeln liefere; und wiewohl ich gerne gestehe, daß es schwerer ist, ein gutes Trauerspiel als gute Stiefeln zu machen: so bin ich darum nicht weniger berechtiget, von jedem Trauerspiel zu verlangen, daß es alle Eigenschaften habe, die zu einem guten Trauerspiel, als von einem Stiefel, daß er alles habe, was zu einem guten Stiefel gehört.

»Und was gehört denn, Ihrer Meinung nach, zu einem wohlgestiefelten Trauerspiel?« fragte ein junger abderitischer Patricius, herzlich über den guten Einfall lachend, der ihm, wie er glaubte, entfahren war.

Demokritus sprach mit einem kleinen Kreise von Personen, die ihm zuzuhören schienen, und fuhr, ohne auf die Frage des witzigen jungen Herrn Acht zu haben, fort. Die wahren Regeln der Kunstwerke, sprach er, können nie willkürlich sein. Ich fordre nichts von einem Trauerspiele, als was Sophokles von den seinigen fodert; und dies ist weder mehr noch weniger, als die Natur und Absicht der Sache mit sich bringt. Einen einfachen wohldurchgedachten Plan, worin der Dichter alles vorausgesehen, alles vorbereitet, alles natürlich zusammengefügt, alles auf Einen Punkt geführt hat; worin jeder Teil ein unentbehrliches Glied, und das Ganze ein wohlorganisierter, schöner, frei und edel sich bewegender Körper ist! Keine langweilige Exposition, keine Episoden, keine Scenen zum Ausfüllen, keine Reden, deren Ende man mit Ungeduld herbeigähnt, keine Handlungen, die nicht zum Hauptzwecke arbeiten! Interessante, aus der Natur genommene Charaktere, veredelt, aber so, daß man die Menschheit in ihnen nie verkenne; keine übermenschliche Tugenden, [163] keine Ungeheuer von Bosheit! Personen, die immer ihren eigenen Individualbegriffen und Empfindungen gemäß reden und handeln; immer so, daß man fühlt, nach ihrem besondern Charakter, nach allen ihren vorhergehenden und gegenwärtigen Umständen und Bestimmungen, müssen sie im gegebenen Falle so reden, so handeln, oder aufhören zu sein was sie sind. Ich fodre daß der Dichter nicht nur die menschliche Natur kenne, in so ferne sie das Modell aller seiner Nachbildungen ist; ich fodre, daß er auch auf die Zuschauer Rücksicht nehme, und genau wisse, durch welche Wege man sich ihres Herzens Meister macht; daß er jeden starken Schlag, den er auf solches tun will, unvermerkt vorbereite; daß er wisse wenn es genug ist, und, eh er es uns durch einerlei Eindrücke völlig ermüdet, oder einen Affect bis zu dem Grade, wo er peinigend zu werden anfängt, in uns erregt, dem Herzen kleine Ruhepunkte zur Erholung gönne, und die Regungen, die er uns mitteilt, ohne Nachteil der Hauptwirkung, zu vermannichfaltigen wisse. Ich fodre von ihm eine schöne, und ohne Ängstlichkeit mit äußerstem Fleiße polierte Sprache; einen immer warmen kräftigen Ausdruck, einfach und erhaben, ohne jemals zu schwellen noch zu sinken, stark und nervicht, ohne rauh und steif zu werden, glänzend, ohne zu blenden; wahre Heldensprache, die immer der lebende Ausdruck einer großen Seele und unmittelbar vom gegenwärtigen Gefühl eingegeben ist, nie zu viel, nie zu wenig sagt, und, gleich einem dem Körper angegoßnen Gewand, immer den eigentümlichen Geist des Redenden durchscheinen läßt. Ich fodre, daß derjenige, der sich unterwindet, Helden reden zu lassen, selbst eine große Seele habe; und indem er durch die Allgewalt der Begeisterung in seinen Helden verwandelt worden ist, alles, was er ihm in den Mund logt, in seinem eignen Herzen finde. Ich fodre –

»O, Herr Demokritus«, – riefen die Abderiten, die sich nicht länger zu halten wußten – »Sie können, da Sie nun einmal im Fodern sind, alles fodern was Ihnen beliebt. In Abdera läßt man sich mit wenigerm abfinden. Wir sind zufrieden, wenn uns ein Dichter rührt. Der Mann, der uns lachen oder weinen macht, ist in unsern Augen ein göttlicher Mann, mag er es doch anfangen wie er selbst will. Dies ist seine Sache, nicht die unsrige! Hyperbolus gefällt uns, rührt uns, macht uns Spaß; und gesetzt auch, [164] daß er uns mitunter gähnen macht, so bleibt er doch immer ein großer Dichter! Brauchen wir eines weitern Beweises?«

Die Schwarzen an der Goldküste, sagte Demokritus, tanzen mit Entzücken zum Getöse eines armseligen Schaffells und etlicher Bleche, die sie gegen einander schlagen. Gebt ihnen noch ein paar Kuhschellen und eine Sackpfeife dazu, so glauben sie in Elysium zu sein. Wie viel Witz brauchte eure Amme, um euch, da ihr noch Kinder waret, durch ihre Erzählungen zu rühren? Das albernste Märchen, in einem kläglichen Tone hergeleiert, war dazu gut genug. Folgt aber daraus, daß die Musik der Schwarzen vortrefflich, oder ein Ammenmärchen gleich ein herrliches Werk ist?

»Sie sind sehr höflich, Demokritus –«

Um Vergebung! Ich bin so unhöflich, jedes Ding bei seinem Namen zu nennen; und so eigensinnig, daß ich nie gestehen werde, alles sei schön und vortrefflich, was man so zu nennen beliebt.

»Aber das Gefühl eines ganzen Volkes wird doch mehr gelten, als der Eigendünkel eines einzigen?«

Eigendünkel? Das ist es eben, was ich aus den Künsten der Musen verbannt sehen möchte. Unter allen den Foderungen, wovon die Abderiten ihren Günstling Hyperbolus so gütig loszählen, ist keine einzige, die nicht auf die strengste Gerechtigkeit gegründet wäre. Aber das Gefühl eines ganzen Volkes, wenn es kein gelehrtes Gefühl ist, kann und muß in unzähligen Fällen betrüglich sein.

»Wie, zum Henker! (rief ein Abderite, der mit seinem Gefühl sehr wohl zufrieden schien,) Sie werden uns am Ende wohl gar noch unsre fünf Sinne streitig machen?«

Das verhüte der Himmel! antwortete Demokritus. Wenn Sie so bescheiden sind, keine weitere Ansprüche zu machen, als auf fünf Sinne, so wär' es die größte Ungerechtigkeit, Sie im ruhigen Besitze derselben stören zu wollen. Fünf Sinne sind allerdings, zumal wenn man alle fünfe zusammennimmt, vollgültige Richter in allen Dingen, wo es darauf ankömmt, zu entscheiden, was weiß oder schwarz, glatt oder rauh, weich oder hart, dick oder dünn, bitter oder süß ist. Ein Mann, der nie weiter geht, als ihn seine fünf Sinne führen, geht immer sicher; und in der Tat, wenn [165] euer Hyperbolus dafür sorgen wird, daß in seinen Schauspielen jeder Sinn ergötzt und keiner beleidiget werde, so stehe ich ihm für die gute Aufnahme, und wenn sie noch zehnmal schlechter wären als sie sind.

Wäre Demokritus zu Abdera weiter nichts gewesen, als was Diogenes zu Korinth war, so möchte ihm die Freiheit seiner Zunge vielleicht einige Ungelegenheit zugezogen haben. Denn so gerne die Abderiten über wichtige Dinge spaßten, so wenig konnten sie ertragen, wenn man sich über ihre Puppen und Steckenpferde lustig machte. Aber Demokritus war aus dem besten Hause in Abdera, und, was noch mehr zu bedeuten hat, er war reich. Dieser doppelte Umstand machte, daß man ihm nachsah, was man einem Philosophen in zerrißnem Mantel schwerlich zu gut gehalten hätte. »Sie sind auch ein unerträglicher Mensch, Demokritus!« schnarrten die schönen Abderitinnen, und – ertrugen ihn doch.

Der Poet Hyperbolus machte noch am nämlichen Abend ein entsetzliches Sinngedicht auf den Philosophen. Des folgenden Morgens lief es bei allen Putztischen herum; und in der dritten Nacht ward es in allen Gassen von Abdera gesungen. Denn Demokritus hatte eine Melodie dazu gesetzt.

Neuntes Kapitel
Gute Gemütsart der Abderiten, und wie sie sich an dem Philosophen Demokritus wegen seiner Unhöflichkeit zu rächen wissen
Eine seiner Strafpredigten zur Probe
Die Abderiten machen ein Gesetz gegen alle Reisen, wodurch ein abderitisches Mutterkind hätte klüger werden können
Merkwürdige Art, wie de Nomophylax Gryllus eine aus diesem Gesetz entstandene Schwierigkeit auflöst

Es ist ordentlicher Weise eine gefährliche Sache, mehr Verstand zu haben als seine Mitbürger. Sokrates mußt' es mit dem Leben bezahlen; und wenn Aristoteles mit ganzer Haut davon kam, als ihn der Oberpriester Eurymedon zu Athen der Ketzerei anklagte, so kam es bloß daher, weil er sich in Zeiten aus dem Staube machte. Ich will den Atheniensern keine Gelegenheit geben, [166] sagte er, sich zum zweitenmale an der Philosophie zu versündigen 19.

Die Abderiten waren bei allen ihren menschlichen Schwachheiten wenigstens keine sehr bösartigen Leute. Unter ihnen hätte Sokrates so alt werden können als Nestor. Sie hätten ihn für eine wunderliche Art von Narren gehalten, und sich über seine vermeintliche Torheit lustig gemacht; aber die Sache bis zum Giftbecher zu treiben, war nicht in ihrem Charakter. Demokritus ging so scharf mit ihnen zu Werke, daß ein weniger jovialisches Volk die Geduld dabei verloren hätte. Gleichwohl bestund alle Rache, die sie an ihm nahmen, darin, daß sie (unbekümmert mit welchem Grunde) eben so übel von ihm sprachen als er von ihnen, alles tadelten, was er unternahm, alles lächerlich fanden, was er sagte, und von allem, was er ihnen riet, gerade das Gegenteil taten. »Man muß dem Philosophen durch den Sinn fahren, sagten sie; man muß ihm nicht weis machen, daß er alles besser wisse als wir« – und, dieser weisen Maxime zufolge, begingen die guten Leute eine Torheit über die andre, und glaubten, wie viel sie dabei gewonnen hätten, wenn es ihn verdrösse. Zum Unglück verfehlten sie darin ihres Zweckes gänzlich. Denn Demokritus lachte dazu, und wurde, aller ihrer Neckereien wegen, nicht einen Augenblick früher grau. O die Abderiten, die Abderiten! rief er zuweilen; da haben sie sich wieder selbst eine Ohrfeige gegeben, in Hoffnung, daß es mir weh tun werde!

»Aber (sagten die Abderiten) kann man auch mit einem Menschen schlimmer daran sein? Über alles in der Welt ist er andrer Meinung als wir. An allem, was uns gefällt, hat er etwas auszusetzen. Es ist doch sehr unangenehm, sich immer widersprechen zu lassen!«

Aber, wenn ihr nun immer Unrecht habt, antwortete Demokritus. – Und laßt doch einmal sehen, wie es anders sein könnte! Alle eure Begriffe habt ihr eurer Amme zu danken; und über alles denkt ihr noch eben so, wie ihr als Kinder davon dachtet. Eure Körper sind gewachsen, und Eure Seelen liegen noch in der Wiege. Wie viele unter euch haben sich die Mühe gegeben, den Grund zu erforschen, warum sie etwas wahr oder gut oder schön [167] nennen? Gleich den Unmündigen und Säuglingen ist euch alles gut und schön, was eure Sinnen kitzelt, was euch gefällt. Und auf was für kleinfügige, oft gar nicht zur Sache gehörende, Ursachen und Umstände kömmt es an, ob euch etwas gefallen soll oder nicht? Wie verlegen würdet ihr oft sein, wenn ihr sagen solltet, warum ihr dies liebt und jenes hasset? Grillen, Launen, Eigensinn, die Gewohnheit, euch von andern Leuten gängeln zu lassen, mit ihren Augen zu sehen, mit ihren Ohren zu hören, und was sie euch vorgepfiffen haben, nachzupfeifen, – sind die Triebfedern, die bei euch die Stelle der Vernunft ersetzen. Soll ich euch sagen, woran der Fehler liegt? Ihr habt euch einen falschen Begriff von Freiheit in den Kopf gesetzt. Eure Kinder von drei oder vier Jahren haben freilich den nämlichen Begriff davon; aber dies macht ihn nicht richtiger. Wir sind ein freies Volk, sagt ihr; und nun glaubt ihr, die Vernunft habe euch nichts einzureden. »Warum sollten wir nicht denken dürfen, wie es uns beliebt? lieben und hassen wie es uns beliebt? bewundern oder verachten was uns beliebt? Wer hat ein Recht uns zur Rede zu stellen, oder unsern Geschmack und unsre Neigungen vor seinen Richterstuhl zu fordern?« – Nun dann, meine lieben Abderiten, so denkt und faselt, liebt und haßt, bewundert und verachtet, wie, wenn, und was euch beliebt! Begeht Torheiten so oft und so viel euch beliebt! Macht euch lächerlich wie es euch beliebt! Wem liegt am Ende was daran? So lang es nur Kleinigkeiten, Puppen und Steckenpferde betrifft, wär es unbillig, euch im Besitze des Rechtes, eure Puppe und euer Steckenpferd nach Belieben zu putzen und zu reiten, stören zu wollen. Gesetzt auch, eure Puppe wäre häßlich, und das, was ihr euer Steckenpferd nennt, sähe von vorn und von hinten einem Öchslein oder Eselein ähnlich: was tut das? Wenn eure Torheiten euch glücklich und niemand unglücklich machen, was geht es andre Leute an, daß es Torheiten sind? Warum sollte nicht der hochweise Rat von Abdera, in feierlicher Procession, einer hinter dem andern, vom Rathause bis zum Tempel der Latona Burzelbäume machen dürfen, wenn es dem Rat und Volke von Abdera so gefällig wäre? Warum solltet ihr euer bestes Gebäude nicht in einen Winkel, und eure schöne kleine Venus nicht auf einen Obelisk setzen dürfen? Aber, meine lieben Landsleute, nicht alle eure Torheiten sind so unschuldig [168] wie diese; und wenn ich sehe, daß ihr euch durch eure Grillen und Aufwallungen Schaden tut, so müßt' ich euer Freund nicht sein, wenn ich stille dazu schweigen könnte. Zum Exempel, euer Frosch- und Mäusekrieg mit den Lemniern, der unnötigste und unbesonnenste der jemals angefangen wurde, um der albernsten Ursache von der Welt, um einer Tänzerin, willen? – Es fiel in die Augen, daß ihr damals unter dem unmittelbaren Einfluß eures bösen Dämons waret, da ihr ihn beschlosset. Allein, alles half nichts, was man euch dagegen vorstellte. Die Lemnier sollten gezüchtiget werden; und wie ihr Leute von lebhafter Einbildung seid, so schien euch nichts leichters, als euch von der ganzen Insel Meister zu machen. Denn die Schwierigkeiten einer Sache pflegt ihr nie eher in Erwägung zu nehmen, als bis euch eure Nase daran erinnert. Doch dies alles möchte noch hingegangen sein, wenn ihr nur wenigstens die Ausführung eurer Entwürfe einem tüchtigen Mann aufgetragen hättet. Aber den jungen Aphron zum Feldherrn zu machen, ohne daß sich irgend ein möglicher Grund davon erdenken ließ, als weil eure Weiber fanden, daß er in seiner prächtigen neuen Rüstung so schön wie ein Paris sei; und – über dem Vergnügen, einen großen feuerfarbenen Federbusch auf seinem hirnlosen Kopfe nicken zu sehen – zu vergessen, daß es nicht um ein Lustgefechte zu tun war: dies, leugnets nur nicht, dies war ein Abderitenstreich! Und nun, da ihr ihn mit dem Verlust eurer Ehre, eurer Galeeren und eurer besten Mannschaft bezahlt habt, was hilft es euch, daß die Athenienser 20, die ihr euch in ihren Torheiten zum Muster genommen habt, eben so sinnreiche Streiche, und zuweilen mit eben so glücklichem Ausgang zu spielen pflegen?

In diesem Tone sprach Demokritus mit den Abderiten, so oft sie ihm Gelegenheit dazu gaben; aber, wiewohl dies sehr oft geschah, so konnten sie sich doch unmöglich gewöhnen, diesen [169] Ton angenehm zu finden. »So geht es, sagten sie, wenn man naseweisen Jünglingen erlaubt, in der weiten Welt herum zu reisen um sich ihres Vaterlandes schämen zu lernen, und nach zehn oder zwanzig Jahren mit einem Kopfe voll ausländischer Begriffe als Kosmopoliten zurückzukommen, die alles besser wissen als ihre Großväter, und alles anderswo besser gesehen haben als zu Hause. Die alten Aegyptier, die niemand reisen ließen eh' er wenigstens funfzig Jahre auf dem Rücken hatte, waren weise Leute!«

Und eilends gingen die Abderiten hin, und machten ein Gesetz: daß kein Abderitensohn hinfür weiter als bis an den korinthischen Isthmus, länger als ein Jahr, und anders als unter der Aufsicht eines bejahrten Hofmeisters von altabderitischer Abkunft, Denkart und Sitte, sollte reisen dürfen. »Junge Leute müssen zwar die Welt sehen, sagte das Decret; aber eben darum sollen sie sich an jedem Orte nicht länger aufhalten, als bis sie alles, was mit Augen da zu sehen ist, gesehen haben. Besonders soll der Hofmeister genau bemerken, was für Gasthöfe 21 sie angetroffen, wie sie gegessen, und wie viel sie bezahlen müssen; damit ihre Mitbürger sich in der Folge diese ersprießlichen Geheimnachrichten zu Nutze machen können. Ferner soll, (wie das Decret weiter sagt,) zu Ersparung der Unkosten eines allzu langen Aufenthalts an einem Orte, der Hofmeister dahin sehen, daß der junge Abderite in keine unnötige Bekanntschaften verwickelt werde. Der Wirt oder der Hausknecht, als an dem Orte einheimisch, kann ihm am besten sagen, was da merkwürdiges zu sehen ist, wie die dasigen Gelehrten und Künstler heißen, wo sie wohnen, und um welche Zeit sie zu sprechen sind: dies bemerkt sich der Hofmeister in sein Tagebuch; und dann läßt sich in zween oder drei Tagen, wenn man die Zeit wohl zu Rate hält, vieles in Augenschein nehmen.«

Zum Unglück für dieses weise Decret befanden sich zween abderitische junge Herren von großer Wichtigkeit eben außer Landes, als es abgefaßt, und, nach alter Gewohnheit, dem Volk auf den Hauptplätzen der Stadt vorgesungen wurde. Der eine war der Sohn eines Krämers, der, durch Geiz und niederträchtige [170] Kunstgriffe in seinem Gewerbe, binnen vierzig Jahren ein beträchtliches Vermögen zusammengekratzt, und in Kraft desselben seine Tochter (das häßlichste und dümmste Tierchen von ganz Abdera) kürzlich an einen Neffen des kleinen dicken Ratsherrn, dessen oben rühmliche Erwähnung getan worden, verheiratet hatte. Der andere war der einzige Sohn des Nomophylax, und sollte, um seinem Vater je bälder je lieber in diesem Amte beigeordnet werden zu können, nach Athen reisen, und sich mit dem Musikwesen daselbst genauer bekannt machen; während daß der Erbe des Krämers, der ihn begleiten wollte, mit den Putzmacherinnen und Sträußermädchen allda genauere Bekanntschaft zu machen gesonnen war. Nun hatte das Decret an den besondern Fall, worin sich diese jungen Herren befanden, nicht gedacht. Die Frage war also, was zu tun sei? Ob man auf eine Modification des Gesetzes antragen, oder beim Senat bloß um Dispensation für den vorliegenden Fall ansuchen sollte? – Keines von beiden, sagte der Nomophylax, der eben mit der Composition eines neuen Tanzes auf das Fest der Latona fertig, und außerordentlich mit selbst zufrieden war. Um etwas am Gesetze selbst zu ändern, müßte man das Volk deswegen zusammenberufen; und dies würde unsern Mißgünstigen nur Gelegenheit geben, die Mäuler aufzureißen. Was die Dispensation betrifft, so ist zwar an dem, daß man die Gesetze meistens um der Dispensationen willen macht; und ich zweifle nicht, daß der Senat uns ohne Schwierigkeit zugestehen würde, was jeder, in ähnlichen Fällen, Kraft des Gegenrechtes fodern zu können wünscht. Indessen hat doch jede Befreiung das Ansehen einer erwiesenen Gnade; und wozu haben wir nötig, uns Verbindlichkeiten aufzuhalsen? Das Gesetz ist ein schlafender Löwe, bei dem man, so lang er nicht aufgeweckt wird, so sicher als bei einem Lamme vorbeischleichen kann. Und wer wird die Unverschämtheit oder die Verwegenheit haben, ihn gegen den Sohn des Nomophylax aufzuwecken?

Dieser Beschirmer der Gesetze war, wie wir sehen, ein Mann, der von den Gesetzen und von seinem Amte sehr verfeinerte Begriffe hatte, und sich der Vorteile, die ihm das letztere gab, fertig zu bedienen wußte. Sein Name verdient aufbehalten zu werden. Er nannte sich Gryllus, des Cyniskus Sohn.

[171]
Zehntes Kapitel
Demokritus zieht sich aufs Land zurück, und wird von den Abderiten fleißig besucht
Allerlei Raritäten, und eine Unterredung vom Schlaraffenlande der Sittenlehrer

Demokritus hatte sich, da er in sein Vaterland zurückkam, mit dem Gedanken geschmeichelt, daß er demselben, mittelst alles dessen, um was sich sein Verstand und sein Herz indessen gebessert hatte, nützlich werden könnte. Er hatte sich nicht vorgestellt, daß es mit den abderitischen Köpfen so gar übel stünde, als er es nun wirklich befand. Aber da er sich einige Zeit unter ihnen aufgehalten, sah er augenscheinlich, daß es ein eitles Unternehmen gewesen wäre, sie verbessern zu wollen. Alles war bei ihnen so verschoben, daß man nicht wußte, wo man die Verbesserung anfangen sollte. Jeder ihrer Mißbräuche hing an zwanzig andern; es war unmöglich, einen davon abzustellen, ohne den ganzen Staat umzuschaffen. Eine gute Seuche (dacht er) welche das ganze Völkchen – bis auf etliche Dutzend Kinder, die gerade groß genug wären, um der Ammen entbehren zu können – von der Erde vertilgte, wäre das einzige Mittel, das der Stadt Abdera helfen könnte; den Abderiten ist nicht zu helfen!

Er beschloß also, sich mit guter Art von ihnen zurückzuziehen, und ging ein kleines Gut zu bewohnen, das er in der Gegend von Abdera besaß, und mit dessen Benutzung und Verschönerung er die Stunden beschäftigte, die ihm sein Lieblingsstudium, die Erforschung der Naturwirkungen, übrig ließ. Aber zum Unglück für ihn lag dies Landgut zu nah bei Abdera. Denn weil die Lage desselben ungemein schön, und der Weg dahin einer der angenehmsten Spaziergänge war: so sah er sich alle Tage Gottes von einem Schwarm von Abderiten und Abderitinnen, lauter Vettern und Basen, heimgesucht, welche das schöne Wetter und den angenehmen Spaziergang zum Vorwande nahmen, ihn in seiner glücklichen Einsamkeit zu stören.

Wiewohl Demokritus den Abderiten wenigstens eben so wenig gefiel als sie ihm, so war doch die Wirkung davon sehr verschieden. Er floh sie, weil sie ihm Langeweile machten; und sie suchten ihn, weil sie sich die Zeit dadurch vertrieben. Er [172] wußte die seinige anzuwenden; sie hingegen hatten nichts bessers zu tun.

»Wir kommen, Ihnen in Ihrer Einsamkeit die Zeit kürzen zu helfen«, sagten die Abderiten. – Ich pflege in meiner eigenen Gesellschaft sehr kurze Zeit zu haben, sagte Demokritus.

»Aber wie ist es möglich, daß man immer so allein sein kann, rief die schöne Pithöka. Ich würde vor Langerweile vergehen, wenn ich einen einzigen Tag leben sollte, ohne Leute zu sehen.«

Sie versprachen sich; von Leuten gesehen zu werden, meinen Sie, sagte Demokritus.

»Aber woher nehmen sie auch, daß Demokritus Langeweile hat; sein ganzes Haus ist mit Seltenheiten angefüllt. Mit Ihrer Erlaubnis, Demokritus – lassen Sie uns doch alle die schönen Sachen sehen, die Sie auf Ihrer Reise gesammelt haben.«

Nun ging das Leiden des armen Einsiedlers erst recht an. Er hatte in der Tat eine schöne Sammlung von Naturalien aus allen Reichen der Natur; ausgestopfte Tiere, Vögel, Fische, Schmetterlinge, Muscheln, Versteinerungen, Erze, u.s.w. Alles war den Abderiten neu; alles erregte ihr Erstaunen. Der gute Naturforscher wurde in einer Minute mit so viel Fragen übertäubt, daß er, wie die Fama, aus lauter Ohren und Zungen hätte zusammengesetzt sein müssen, um auf alles antworten zu können.

»Erklären Sie uns doch, was dieses ist, wie es heißt? woher es ist, wie es zugeht, warum es so ist!«

Demokritus erklärte so gut er konnte und wußte; aber den Abderiten wurde nichts klärer dadurch; es war ihnen vielmehr, als begriffen sie immer weniger von der Sache je mehr er sie erklärte. Seine Schuld war es nicht!

»Wunderbar! Unbegreiflich! Sehr wunderbar!« – war ihr ewiger Gegenklang. –

So natürlich als etwas in der Welt! erwiderte Demokritus ganz kaltsinnig. –

»Sie sind gar zu bescheiden, Demokritus; oder vermutlich wollen Sie nur, daß man Ihnen desto mehr Complimente über Ihren guten Geschmack und über Ihre großen Reisen machen soll?« –

Setzen Sie sich deswegen in keine Unkosten, meine Herren; ich nehme alles für empfangen an.

[173] »Aber es mag doch eine angenehme Sache sein, so tief in die Welt hinein zu reisen?« – sagte ein Abderit.

»Und ich dächte gerade das Gegenteil, sprach ein anderer. – Nehmen Sie alle die Gefahren und Beschwerlichkeiten, denen man täglich ausgesetzt ist; die schlimmen Straßen, die schlechten Gasthöfe, die Sandbänke, die Schiffbrüche, die wilden Tiere, Krokodile, Einhörner, Greifen und geflügelte Löwen, von denen in der Barbarei alles wimmelt.«

»Und dann, was hat man am Ende davon, (fiel ein Matador von Abdera ein,) wenn man gesehen hat, wie groß die Welt ist? Ich dächte, das Stück, das ich selbst davon besitze, käme mir dann so klein vor, daß ich keine Freude mehr daran haben könnte.«

»Aber rechnen Sie für nichts, so viel Menschen zu sehen?« – erwiderte der Erste.

»Und was sieht man denn da? Menschen! Die konnte man zu Hause sehen. Es ist allenthalben wie bei uns.«

»Ei, hier ist gar ein Vogel ohne Füße«, rief ein junges Frauenzimmer.

»Ohne Füße? – Und der ganze Vogel nur eine einzige Feder! das ist erstaunlich!« – sprach eine andere. »Begreifen Sie das?«

»Ich bitte Sie, Demokritus, erklären Sie uns, wie er gehen kann, da er keine Füße hat?«

»Und wie er mit einer einzigen Feder fliegt?«

»O, was ich am liebsten sehen möchte, sagte eine von den Basen, das wäre ein lebendiger Sphinx! Sie müssen deren wohl viele in Aegypten gefunden haben?«

»Aber ists möglich, ich bitte Sie, daß die Weiber und Töchter der Gymnosophisten in Indien – wie man sagt – Sie verstehen mich doch, was ich fragen will?«

Nicht ich, Frau Salabanda?

»O, Sie verstehen mich gewiß! Sie sind ja in Indien gewesen? Sie haben die Weiber der Gymnosophisten gesehen?«

O ja, und Sie können mir glauben, daß die Weiber der Gymnosophisten weder mehr noch weniger Weiber sind als die Weiber der Abderiten.

»Sie erweisen uns viele Ehre. Aber dies ist nicht, was ich wissen wollte. Ich frage, ob es wahr ist, daß sie – (Hier hielt Frau Salabanda eine Hand vor ihren Busen, und die andere – kurz, sie [174] setzte sich in die Attitüde 22 der mediceischen Venus, um dem Philosophen begreiflich zu machen, was sie wissen wollte.) Nun verstehen Sie mich doch?« sagte sie.

Ja, Madam, die Natur ist nicht karger gegen sie gewesen als gegen andre. Welch eine Frage das ist!

»Sie wollen mich nicht verstehen, Demokritus; ich dächte doch, ich hätte Ihnen deutlich genug gesagt, daß ich wissen möchte, ob es wahr sei, daß sie – weil Sie doch wollen, daß ichs Ihnen unverblümt sage – so nackend gehen, als sie auf die Welt kommen?«

»Nackend! – riefen die Abderitinnen alle auf einmal. Da wären sie ja noch unverschämter als die Mädchen in Sparta! Wer wird auch so was glauben?«

Sie haben Recht, sagte der Naturforscher; die Weiber der Gymnosophisten sind weniger nackend als die Weiber der Griechen in ihrem vollständigsten Anzuge: sie sind vom Kopf bis zu den Füßen in ihre Unschuld und in die öffentliche Ehrbarkeit eingehüllt. 23

»Wie meinen Sie das?«

Kann ich mich deutlicher erklären?

»Ach, nun versteh ich Sie! Es soll ein Stich sein? Aber Sie scherzen doch wohl nur mit ihrer Ehrbarkeit und Unschuld. Wenn die Weiber der Gymnosophisten nicht haltbarer gekleidet sind, so – müssen sie entweder sehr häßlich, oder ihre Männer sehr frostig sein.«

Keines von beiden. Ihre Weiber sind wohlgebildet, und ihre Kinder gesund und voller Leben; ein unverwerfliches Zeugnis zu Gunsten ihrer Väter, deucht mich!

[175] »Sie sind ein Liebhaber von Paradoxen, Demokritus, sprach der Matador; aber Sie werden mich in Ewigkeit nicht überreden, daß die Sitten eines Volkes desto reiner seien, je nackender die Weiber desselben sind.«

Wenn ich ein so großer Liebhaber von Paradoxen wäre, als man mich beschuldigt, so würd' es mir vielleicht nicht schwer fallen, Sie dessen durch Beispiele und Gründe zu überführen. Aber ich bin dem Gebrauch der Gymnosophistinnen nicht günstig genug, um mich zu seinem Verteidiger aufzuwerfen. Auch war meine Meinung gar nicht, das zu sagen, was mich der scharfsinnige Kratylus sagen läßt. Die Weiber der Gymnosophisten schienen mir nur zu beweisen, daß Gewohnheit und Umstände in Gebräuchen dieser Art alles entscheiden. Die spartanischen Töchter, weil sie kurze Röcke, und die am Indus, weil sie gar keine Röcke tragen, sind darum weder unehrbarer noch größerer Gefahr ausgesetzt, als diejenigen, die ihre Tugend in sieben Schleier einwickeln. Nicht die Gegenstände, sondern unsre Meinungen von denselben sind die Ursache unordentlicher Leidenschaften. Die Gymnosophisten, welche keinen Teil des menschlichen Körpers für unedler halten als den andern, sehen ihre Weiber, wiewohl sie bloß in ihr angebornes Fell gekleidet sind, für eben so gekleidet an, als die Scythen die ihrigen, wenn sie ein Tigerkatzenfell um die Lenden hangen haben.

»Ich wünschte nicht, daß Demokritus mit seiner Philosophie soviel über unsre Weiber vermöchte, daß sie sich solche Dinge in den Kopf setzten«, sagte ein ehrenfester steifer Abderit, der mit Pelzwaren handelte. »Ich auch nicht«, sagte ein Leinwandhändler. Ich wahrlich auch nicht, sagte Demokritus, wiewohl ich weder mit Pelzen noch Leinwand handle.

»Aber eins erlauben Sie mir noch zu fragen, lispelte die Base, die so gerne lebendige Sphinxe gesehen haben möchte. Sie sind in der ganzen Welt herumgekommen; und es soll da viele wunderbare Länder geben, wo alles anders ist als bei uns –«

(Ich glaube kein Wort davon, murmelte der Ratsherr, indem er, wie Homers Jupiter, das ambrosische Haar auf seinem weisheitschwangern Kopfe schüttelte.)

»Sagen Sie mir doch, in welchem unter allen diesen Ländern es ihnen am besten gefallen hat?«

[176] Wo könnt' es Einem besser gefallen, als – zu Abdera?

»O wir wissen schon, daß dies Ihr Ernst nicht ist. Ohne Complimente! antworten Sie der jungen Dame wie Sie denken«, sagte der Ratsherr.

Sie werden über mich lachen, erwiderte der Philosoph: aber weil Sie es verlangen, schöne Klonarion, so will ich Ihnen die reine Wahrheit sagen. Haben Sie nie von einem Lande gehört, wo die Natur so gut ist, neben ihren eigenen Verrichtungen auch noch die Arbeit der Menschen auf sich zu nehmen, von einem Lande, wo ewiger Friede herrscht; wo niemand Knecht und niemand Herr, niemand arm und jedermann reich ist? wo der Durst nach Golde zu keinen Verbrechen zwingt, weil man das Gold zu nichts gebrauchen kann; wo eine Sichel ein eben so unbekanntes Ding ist als ein Schwert; wo der Fleißige nicht für den Müßiggänger arbeiten muß; wo es keine Ärzte gibt, weil niemand krank wird; keine Richter, weil es keine Händel gibt; keine Händel, weil jedermann zufrieden ist; und jedermann zufrieden ist, weil jedermann alles hat, was er nur wünschen kann; – mit einem Worte, von einem Lande, wo alle Menschen so fromm wie die Lämmer, und so glücklich wie die Götter sind? Haben Sie nie von einem solchen Lande?

»Nicht, daß ich mich erinnerte.«

Dies nenn ich ein Land, Klonarion! Da ist es nie zu warm und nie zu kalt, nie zu naß und nie zu trocken; Frühling und Herbst regieren dort nicht wechselsweise, sondern, wie in den Gärten des Alcinous, zugleich in ewiger Eintracht. Berge und Täler, Wälder und Auen sind mit allem angefüllt, was des Menschen Herz gelüsten kann. Aber nicht etwa, daß die Leute sich die Mühe geben müßten, die Hasen zu jagen, die Vögel oder Fische zu fangen, und die Früchte zu pflücken, die sie essen wollen; oder daß sie die Gemächlichkeiten, deren sie genießen, erst mit vielem Ungemach erkaufen müßten. Nein! alles macht sich da von selbst. Die Rebhühner und Schnepfen fliegen einem gespickt und gebraten um den Mund, und bitten demütig, daß man sie essen möchte; Fische von allen Arten schwimmen gekocht in Teichen von allen möglichen Brühen, deren Ufer immer voll Austern, Krebse, Pasteten, Schinken und Ochsenzungen liegen. Hasen und Rehböcke kommen freiwillig herbeigelaufen, streifen [177] sich das Fell über die Ohren, stecken sich an den Bratspieß, und legen sich, wenn sie gar sind, von selbst in die Schüssel. Allenthalben stehen Tische, die sich selbst decken; und weichgepolsterte Ruhebettchen laden allenthalben zum Ausruhen vom – Nichtstun und zu angenehmen Ermüdungen ein. Neben denselben rauschen kleine Bäche von Milch und Honig, von cyprischem Wein, Citronenwasser und andern angenehmen Getränken; und über sie her wölben sich, mit Rosen und Jasmin untermengt, Stauden voller Becher und Gläser, die sich, so oft sie ausgetrunken werden, gleich von selbst wieder anfüllen. Auch gibt es da Bäume, die statt der Früchte kleine Pastetchen, Bratwürste, Mandelkrapfen und Buttersemmeln tragen; andere, die an allen Ästen mit Geigen, Harfen, Cithern, Theorben, Flöten und Waldhörnern behangen sind, welche von sich selbst das angenehmste Concert machen, das man hören kann. Die glücklichen Menschen, nachdem sie den wärmern Teil des Tages verschlafen, und den Abend vertanzt, versungen und verscherzt haben, erfrischen sich dann in kühlen marmornen Bädern, wo sie von unsichtbaren Händen sanft gerieben, mit feinem Byssus, der sich selbst gesponnen und gewebt hat, abgetrocknet, und mit den kostbarsten Essenzen, die aus den Abendwolken wie feuchter Duft heruntertauen, eingebalsamt werden. Dann legen sie sich auf schwellenden Polstern um volle Tafeln her, und essen und trinken und lachen, singen und tändeln und küssen, die ganze Nacht durch, die ein ewiger Vollmond zum sanftern Tage macht; und – was noch das Angenehmste ist –

»O gehen Sie, Herr Demokritus, Sie haben mich zum besten! was Sie mir da erzählen, ist ja das Märchen vom Schlaraffenlande, das ich tausendmal von meiner Amme gehört habe, wie ich noch ein kleines Mädchen war.«

Aber Sie finden doch auch, Klonarion, daß sichs gut in diesem Lande leben müßte?

»Merken Sie denn nicht, daß unter allem diesem eine geheime Bedeutung verborgen liegt? sagte der weise Ratmann; vermutlich eine Satyre auf gewisse Philosophen, welche das höchste Gut in der Wollust suchen.«

Schlecht geraten, Herr Ratsherr! dachte Demokritus.

[178] »Ich erinnere mich in den Amphiktyonen des Teleklides eine ähnliche Beschreibung des goldnen Alters gelesen zu haben«, sagte Frau Salabanda 24.

Das Land, das ich der schönen Klonarion beschrieb, sprach der Naturforscher, ist keine Satyre; es ist das Land, in welches von jedem Dutzend unter euch weisen Leuten zwölfe sich im Herzen hineinwünschen und nach Möglichkeit hineinarbeiten, und in welches uns eure abderitischen Sittenlehrer hineindeclamieren wollen; wenn anders ihre Declamationen irgend einen Sinn haben.

»Ich möchte wohl wissen, wie Sie dies verstehen«, sagte der Ratsherr, der (vermög' einer vieljährigen Gewohnheit, nur mit halben Ohren zu hören, und sein Votum im Rat schlummernd von sich zu geben) nicht gerne die Mühe nahm einer Sache lange nachzudenken.

Sie lieben eine starke Beleuchtung, wie ich sehe, Herr Ratsmeister, erwiderte Demokritus. Aber zu viel Licht ist zum Sehen eben so unbequem, als zu wenig. Helldunkel ist, deucht mich, gerade so viel Licht, als man gebraucht, um weder zu viel noch zu wenig zu sehen. Ich setze zum voraus, daß Sie überhaupt sehen können. Denn wenn dies nicht wäre, so begreifen Sie wohl, daß wir beim Licht von zehentausend Sonnen nicht besser sehen würden, als beim Schein eines Feuerwurms.

»Sie sprechen von Feuerwürmern?« – (sagte der Ratsherr, indem er bei dem Worte Feuerwurm aus einer Art von Seelenschlummer erwachte, in welchen er über dem Gaffen nach Salabandas Busen, während daß Demokritus redete, gefallen war.) – »Ich dachte wir sprächen von den Moralisten.«

Von Moralisten oder Feuerwürmern, wie es Ihnen beliebt, [179] versetzte Demokritus. Was ich sagen wollte, um Ihnen die Sache, wovon wir sprachen, deutlich zu machen, war dies: Ein Land, wo ewiger Friede herrscht, und wo alle Menschen in gleichem Grade frei und glücklich sind; wo das Gute nicht mit dem Bösen vermischt ist, Schmerz nicht an Wollust, und Tugend nicht an Untugend grenzt, wo lauter Schönheit, lauter Ordnung, lauter Harmonie ist, – mit einem Wort, ein Land, wie eure Moralisten den ganzen Erdboden haben wollen, ist entweder ein Land, wo die Leute keinen Magen und keinen Unterleib haben, oder es muß schlechterdings das Land sein, das uns Teleklides schildert, aus dessen Amphiktyonen ich (wie die schöne Salabanda sehr wohl bemerkt hat) meine Beschreibung genommen habe. Vollkommene Gleichheit, vollkommene Zufriedenheit mit dem Gegenwärtigen, immerwährende Eintracht – kurz, die saturnischen Zeiten, wo man keine Könige, keine Priester, keine Soldaten, keine Ratsherren, keine Moralisten, keine Schneider, keine Köche, keine Ärzte und keine Scharfrichter braucht, sind nur in dem Lande möglich, wo einem die Rebhühner gebraten in den Mund fliegen, oder (welches ungefähr eben so viel sagen will) wo man keine Bedürfnisse hat. Dies ist, wie mich deucht, so klar, daß es demjenigen, dem es dunkel ist, durch alles Licht im Feuerhimmel nicht klärer gemacht werden könnte. Gleichwohl ärgern sich eure Moralisten darüber, daß die Welt so ist wie sie ist; und wenn der ehrliche Philosoph, der die Ursachen weiß, warum sie nicht anders sein kann, den Ärger dieser Herren lächerlich findet: so begegnen sie ihm, als ob er ein Feind der Götter und der Menschen wäre; welches zwar an sich selbst noch lächerlicher ist, aber zuweilen da, wo die milzsüchtigen Herren den Meister spielen, einen ziemlich tragischen Ausgang nimmt.

»Aber was wollen Sie denn, daß die Moralisten tun sollen?«

Die Natur erst ein wenig kennen lernen, eh sie sich einfallen lassen, es besser zu wissen als sie; verträglich und duldsam gegen die Torheiten und Unarten der Menschen sein, welche die ihrigen dulden müssen; durch Beispiele bessern, statt durch frostiges Gewäsche zu ermüden, oder durch Schmähreden zu erbittern; keine Wirkungen fodern, wovon die Ursachen noch nicht da sind, und nicht verlangen, daß wir die Spitze eines Berges erreicht haben sollen, ehe wir hinauf gestiegen sind.

[180] »So unsinnig wird doch niemand sein?« – sagte der Abderiten einer.

So unsinnig sind neun Zehnteile der Gesetzgeber, Projectmacher, Schulmeister und Weltverbesserer auf dem ganzen Erdenrund alle Tage! – sagte Demokritus.

Die zeitverkürzende Gesellschaft, welche die Laune des Naturforschers unerträglich zu finden anfing, begab sich nun wieder nach Hause; und dahlte unterwegs, beim Glanz des Abendsterns und einer schönen Dämmerung, von Sphinxen, Einhörnern, Gymnosophisten und Schlaraffenländern; und so viel Mannichfaltigkeit auch unter allen den Albernheiten, welche gesagt wurden, herrschte, so stimmten doch alle darin überein: daß Demokritus ein wunderlicher, einbildischer, überkluger, tadelsüchtiger, wiewohl bei allem dem ganz kurzweiliger Sonderling sei.

»Sein Wein ist das Beste, was man bei ihm findet«, sagte der Ratsherr.

Gütiger Anubis! dachte Demokritus, da er wieder allein war: was man nicht mit diesen Abderiten reden muß, um sich – die Zeit von ihnen vertreiben zu lassen!

Eilftes Kapitel
Etwas von den abderitischen Philosophen, und wie Demokritus das Unglück hat, sich mit ein paar wohlgemeinten Worten in sehr schlimmen Credit zu setzen

Daß man sich aber gleichwohl nicht einbilde, als ob alle Abderiten, ohne Ausnahme, durch ein Gelübde oder durch ihren Bürgereid verbunden gewesen seien, nicht mehr Verstand zu haben als ihre Großmütter, Ammen und Ratsherren! Abdera, die Nebenbuhlerin von Athen, hatte auch Philosophen, das heißt, sie hatte Philosophen – wie sie Maler und Dichter hatte. Der berühmte Sophist Protagoras war ein Abderit gewesen, und hatte eine Menge von Schülern hinterlassen, die ihrem Meister zwar nicht an Witz und Beredsamkeit gleich kamen, aber ihm dafür auch an Eigendünkel und Albernheit desto überlegener waren.

Diese Herren hatten sich eine bequeme Art von Philosophie [181] zubereitet, vermittelst welcher sie ohne Mühe auf jede Frag' eine Antwort fanden, und von allem, was unter und über der Sonne ist, so geläufig schwatzten, daß – in so ferne sie nur immer Abderiten zu Zuhörern hatten – die guten Zuhörer sich festiglich einbildeten, ihre Philosophen wüßten sehr viel mehr davon als sie selbst; wiewohl im Grunde der Unterschied nicht so groß war daß ein vernünftiger Mann eine Feige darum gegeben hätte. Denn am Ende lief es doch immer darauf hinaus, daß der abderitische Philosoph, etliche lange nichtsbedeutende Wörter abgerechnet, gerade so viel von der Sache wußte, als derjenige unter allen Abderiten, der – am wenigsten davon zu wissen glaubte.

Die Philosophen, vermutlich weil sie es für zu klein hielten, in den Detail der Natur herabzusteigen, gaben sich mit lauter Aufgaben ab, die außerhalb der Grenzen des menschlichen Verstandes liegen. Bis in diese Region, dachten sie, folgt uns niemand, als – wer unsers Gleichen ist; und was wir auch den Abderiten davon vorsagen, so sind wir wenigstens gewiß, daß uns niemand Lügen strafen kann.

Zum Exempel, eine ihrer Lieblingsmaterien war die Frage:

»Wie, warum, und woraus die Welt entstanden sei?«

»Sie ging aus einem Ei hervor, sagte Einer; der Aether war das Weiße, das Chaos der Dotter, und die Nacht brütete es aus 25

»Sie ist aus Feuer und Wasser entstanden«, sagte ein Andrer.

»Sie ist gar nicht entstanden, sprach der Dritte. Alles war immer so wie es ist, und wird immer so bleiben wie es war.«

Diese Meinung fand in Abdera wegen ihrer Bequemlichkeit vielen Beifall. Sie erklärt alles, sagten sie, ohne daß man nötig hat, sich erst lange den Kopf zu zerbrechen. Es ist immer so gewesen, war die gewöhnliche Antwort eines Abderiten, wenn man ihn nach der Ursache oder dem Ursprung einer Sache fragte; [182] und wer sich daran nicht ersättigen wollte, wurde für einen stumpfen Kopf angesehen.

»Was ihr Welt nennt, sagte der Vierte, ist eigentlich eine ewige Reihe von Welten, die, wie die Häute einer Zwiebel, über einander liegen, und sich nach und nach ablösen.«

Sehr deutlich gegeben, riefen die Abderiten, sehr deutlich! Sie glaubten den Philosophen verstanden zu haben, weil sie sehr gut wußten, was eine Zwiebel war.

»Schimäre! sprach der Fünfte. Es gibt freilich unzählige Welten; aber sie entstehen aus der ungefähren Bewegung unteilbarer Sonnenstäubchen, und es ist viel Glück, wenn, nach zehntausendmal tausend übelgeratenen, endlich eine herauskömmt, die noch so leidlich vernünftig aussieht wie die unsrige.«

»Atomen geb' ich zu, sprach der Sechste; aber keine Bewegung von Ungefähr und ohne Richtung. Die Atomen sind nichts, oder sie haben bestimmte Kräfte und Eigenschaften, und, je nachdem sie einan der ähnlich oder unähnlich sind, ziehen sie einander an, oder stoßen sich zurücke. Daher machte der weise Empedokles (der Mann, der, um die wahre Beschaffenheit des Aetna zu erkundigen, sich weislich mitten in den Crater desselben hineingestürzt haben soll,) Haß und Liebe zu den ersten Ursachen aller Zusammensetzungen; und Empedokles hat Recht.«

»Um Vergebung, meine Herren, ihr habt alle Unrecht, sprach der Philosoph Sisamis. In Ewigkeit wird weder aus euerm mystischen Ei, noch aus euerm Bündnis zwischen Feuer und Wasser, noch aus euern Atomen, noch aus euern Homöomerien, eine Welt herauskommen, wenn ihr keinen Geist zu Hülfe nehmt. Die Welt ist, wie jedes andre Tier, eine Zusammensetzung von Materie und Geist. Der Geist ist es, der dem Stoffe Form gibt; beide sind von Ewigkeit her vereinigt; und, so wie einzelne Körper aufgelöst werden, sobald der Geist, der ihre Teile zusammenhielt, sich zurückzieht, so würde, wenn der allgemeine Weltgeist aufhören könnte das Ganze zu umfassen und zu beleben, Himmel und Erde im nämlichen Augenblick in einen einzigen, ungeheuren, gestaltlosen, finstern und toten Klumpen zusammenfallen.«

Davor wolle Jupiter und Latona sein! riefen die Abderiten, nicht ohne sich zu entsetzen, wie sie den Mann eine so fürchterliche [183] Drohung ausstoßen hörten. Es hat keine Gefahr, sagte der Priester Strobylus; so lange wir die Frösche der Latona in unsern Mauern haben, soll es der Weltgeist des Sisamis wohl bleiben lassen, solchen Unfug in der Welt anzurichten.

»Meine Freunde, sprach der Achte, der Weltgeist des weisen Sisamis ist mit den Atomen, Homöomerien, Zwiebeln und Eiern meiner Collegen von gleichem Schlage. Einen Demiurg müssen wir annehmen, wenn wir eine Welt haben wollen: denn ein Gebäude setzt einen Baumeister oder wenigstens einen Zimmermeister voraus; und nichts macht sich von sich selbst, wie wir alle wissen.«

Aber man spricht doch alle Tage: Dies wird von sich selbst kommen, von sich selbst gehen – sagten die Abderiten.

»Man spricht wohl so, antwortete der Philosoph: allein, wo habt ihr jemals gesehen, daß es wirklich so erfolgt wäre? Ich habe freilich unsre Archonten wohl tausendmal sagen hören: es wird sich schon geben; es wird schon kommen! dies oder jenes wird sich schon machen! Aber wir hatten gut warten! Es gab sich nicht, kam nicht, und machte sich nicht.«

Nur allzuwahr, was die Werke unsrer Archonten betrifft; (sagte ein alter Schuhflicker, der für einen Mann von Einsicht beim Volke galt, und große Hoffnung hatte, bei der nächsten Wahl Zunftmeister zu werden;) aber mit den Werken der Natur, wie die Welt ist, mag es doch wohl anders bewandt sein. Warum sollte die Welt nicht eben so gut aus dem Chaos hervorwachsen können, wie ein Pilz aus der Erde wächst?

»Meister Pfrieme, versetzte der Philosoph, zum Zunftmeister soll er meine und aller meiner Vettern Stimme haben; aber keine Einwürfe gegen mein System, wenn ich bitten darf! Die Pilze wachsen freilich von selbst aus der Erde hervor, weil – weil – weil sie Pilze sind; aber eine Welt wächst nicht von selbst, weil sie kein Pilz ist; versteht Er mich nun, Meister Pfrieme?«

Alle Anwesende lachten von Herzen, daß Meister Pfrieme so abgeführt war. »Die Welt ist kein Pilz; dies ist klar wie Taglicht, riefen die Abderiten; da ist nichts einzuwenden, Meister Pfrieme!« –

Verzweifelt! murmelte der künftige Zunftmeister; aber so [184] geht es, wenn man sich mit den Herren abgibt, welche beweisen können, daß der Schnee weiß ist.

»Schwarz ist, wolltet ihr sagen, Nachbar.«

Ich weiß, was ich gesagt habe, und was ich sagen wollte, antwortete Meister Pfrieme; und ich wünsche nur, daß die Republik –

»Vergeß' Er die vierzehn Stimmen nicht, die ich Ihm verschaffe, Meister Pfrieme!« rief der Philosoph. –

Wohl, wohl! alles wohl! Aber Demiurg – das klingt mir bald so wie Demagog; und ich will weder Demagogen noch Demiurgen haben; ich bin für die Freiheit, und wer ein guter Abderite ist, der schwinge seinen Hut und folge mir!

Und hiemit ging Meister Pfrieme davon, (denn der Leser merkt von selbst, daß alles dies in einer Halle von Abdera gesprochen wurde;) und einige müßige Tölpel, die ihn allerwegen zu begleiten pflegten, folgten ihm.

Aber der Philosoph, ohne zu tun als ob er es gewahr werde, fuhr fort: »Ohne einen Baumeister, einen Demiurgen, oder wie ihr ihn nennen wollt, läßt sich vernünftiger Weise keine Welt bauen. Aber, merket wohl, es kam auf den Demiurg an, ob er bauen wollte; und laßt sehen wie er es anfing. Stellt euch die Materie als einen ungeheuren Klumpen von vollkommen dichtem Krystall vor 26; und den Demiurg, wie er mit einem großen Hammer von Diamant diesen Klumpen auf einen Schlag in so viele unendlich kleine Stückchen zerschmettert, daß sie durch den leeren Raum viele Millionen Cubicmeilen herumstieben. Natürlicher Weise brachen sich diese unendlich kleine Stückchen Krystall auf verschiedene Art; und indem sie, mit der ganzen Heftigkeit der Bewegung, die ihnen der Schlag mit dem diamantenen Hammer gab, auf tausendfache Art wider einander fuhren, und sich unter einander auf allen Seiten stießen, schlugen und rieben, so entstund daraus notwendig eine unzählige Menge Körperchen von allerlei regelmäßigen und unregelmäßigen Figuren: dreieckige, viereckige, achteckige, vieleckige, und runde. Aus den runden wurde Wasser und Luft, welche nichts anders als verdünntes [185] Wasser ist; aus den dreieckigen Feuer; aus den übrigen die Erde, und aus diesen vier Elementen setzt die Natur, wie ihr wißt, alle Körper in der Welt zusammen.«

Das ist wunderbar, sehr wunderbar! aber es begreift sich doch, sagten die Abderiten. Ein Klumpen Krystall, ein diamantner Hammer, und ein Demiurg, der den Krystall so meisterhaft in Stücken schlägt, daß aus den Splittern, ohne seine weitere Bemühung, eine Welt entsteht! In der Tat die scharfsinnigste Hypothese, die man sehen kann, und gleichwohl so simpel, daß man dächte, man hätte sie alle Augenblicke selbst erfinden können!

»Ich erkläre mittelst dieser so simpeln Voraussetzung alle möglichen Wirkungen der Natur«, sagte der Philosoph mit selbst zufriednem Lächeln.

»Nicht ein Wespennest, rief ein Neunter, Dämonax genannt, der den Behauptungen seiner Mitbrüder bisher mit stillschweigender Verachtung zugehöret hatte. Es gehören andre Kräfte und Anstalten dazu, ein so großes, so schönes, so wundervolles Werk, als dieses Weltgebäude ist, zu Stande zu bringen. Nur ein höchstvollkommner Verstand konnte den Plan davon erfinden; wiewohl ich gerne gestehe, daß zur Ausführung geringere Werk- meister hinlänglich waren. Er überließ sie verschiedenen Klassen der subalternen Götter, wies einer jeden Klasse ihren besondern Kreis an, in welchem sie arbeitet, und begnügte sich, die allgemeine Aufsicht über das Ganze zu führen. Es ist lächerlich, den Ursprung der Weltkörper, des Erdhodens, der Pflanzen, der Tiere, und alles dessen, was in Luft und Wasser ist, aus Atomen oder Sympathien oder ungefährer Bewegung, oder einem einzigen Hammerschlag erklären zu wollen. Geister sind es, welche in den Elementen herrschen, die Sphären des Himmels drehen, die organischen Körper bilden, das Frühlingsgewand der Natur mit Blumen sticken, und die Früchte des Herbstes in ihren Schoß ausgießen. Kann etwas faßlicher und angenehmer sein als diese Theorie? Sie erklärt alles; sie leitet jede Wirkung aus einer ihr angemessenen Ursache ab; und durch sie begreift man die, in jedem andern System unerklärbare, Kunst der Natur eben so leicht, als man begreift, wie Zeuxis oder Parrhasius mit ein wenig gefärbter Erde eine bezaubernde Landschaft oder ein Bad der Diana erschaffen kann.«

[186] Was für eine schöne Sache es um die Philosophie ist! sagten die Abderiten. Alles, was man daran aussetzen möchte, ist, daß einem unter so viel feinen Theorien die Wahl sauer wird.

Indessen machte doch der Pythagoräer, der alles durch Geister bewerkstelligte, das meiste Glück. Die Poeten, die Maler, und alle übrigen Schutzverwandten der Musen, mit dem sämtlichen Frauenzimmer von Abdera an ihrer Spitze, erklärten sich für- die Geister; doch unter der Bedingung, daß es ihnen erlaubt sein müsse, sie in so angenehme Gestalten, als jedem gefällig sei, einzukleiden.

Ich bin nie ein besonderer Freund der Philosophie gewesen, (sagte der Priester Strobylus,) und aus Ursache: aber wenn die Abderiten ihr Grübeln über das Wie und Warum der Dinge nun einmal nicht lassen können, so habe ich gegen die Physik des Dämonax noch immer am wenigsten einzuwenden; unter den gehörigen Einschränkungen verträgt sie sich noch so ziemlich. –

»O sie verträgt sich mit allem in der Welt, sagte Dämonax; dies ist eben die Schönheit davon!«

Soll ich euch meine Meinung sagen? sprach Demokritus. Wenn es euch etwan wirklich darum zu tun sein sollte, die Beschaffenheit der Dinge, die euch umgeben, kennen zu lernen, so deucht mich, ihr nehmt einen ungeheuren Umweg. Die Welt ist sehr groß; und von dem Standort, woraus wir in sie hineingucken, nach ihren vornehmsten Provinzen und Hauptstädten ist es so weit, – daß ich nicht wohl begreife, wie sich einer von uns einfallen lassen kann, die Charte eines Landes aufzunehmen, wovon ihm (sein angebornes Dörfchen ausgenommen) alles übrige, und sogar die Grenzen unbekannt sind. Ich dächte, ehe wir Kosmogonien und Kosmologien träumten, setzten wir uns hin und beobachteten, zum Exempel, den Ursprung einer Spinnewebe; und dies so lange, bis wir so viel davon herausgebracht hätten, als fünf Menschensinne, mit Verstand angestrengt, daran entdecken können. Ihr werdet zu tun finden, das könnt ihr mir auf mein Wort glauben. Aber dafür werdet ihr auch erfahren, daß euch diese einzige Spinnewebe mehr Aufschluß über das große System der Natur, und würdigere Begriffe von seinem Urheber geben wird, als alle die feinen Weltsysteme, die ihr zwischen Wachen und Schlaf aus eurem eignen Gehirne herausgesponnen habt.

[187] Demokritus meinte dies im ganzen Ernst; aber die Philosophen von Abdera glaubten, daß er ihrer spotten wolle. Er versteht nichts von der Pneumatik, sagte der eine. Von der Physik noch weniger, sagte der andere. Er ist ein Zweifler – er glaubt keine Grundtriebe – keinen Weltgeist – keinen Demiurg – keinen Gott! – sagte der dritte, vierte, fünfte, sechste und siebente. Man sollte solche Leute gar nicht im gemeinen Wesen dulden, sagte der Priester Strobylus.

Zwölftes Kapitel
Demokritus zieht sich weiter von Abdera zurück
Wie er sich in seiner Einsamkeit beschäftigt
Er könnt bei den Abderiten in den Verdacht, daß er Zauberkünste treibe
Ein Experiment, das er bei dieser Gelegenheit mit den abderitischen Damen macht, und wie es abgelaufen

Bei dem allen war Demokritus ein Menschenfreund in der echtesten Bedeutung des Worts. Denn er meinte es gut mit der Menschheit, und freute sich über nichts so sehr, als wenn er irgend etwas Böses verhüten, oder etwas Gutes tun, veranlassen oder befördern konnte. Und wiewohl er glaubte, daß der Charakter eines Weltbürgers Verhältnisse in sich schließe, denen, im Collisionsfall, alle andere weichen müßten: so hielt er sich doch darum nicht weniger verbunden, als ein Bürger von Abdera, an dem Zustande seines Vaterlandes Anteil zu nehmen, und so viel er könnte, zu dessen Verbesserung beizutragen. Allein, da man nur in so fern Gutes tun kann, als das Subject dessen fähig ist: so fand er sein Vermögen durch die unzähligen Hindernisse, die ihm die Abderiten entgegensetzten, in so enge Grenzen eingeschlossen, daß er Ursache zu haben glaubte, sich als eine der entbehrlichsten Personen in dieser kleinen Republik anzusehen. Was sie am nötigsten haben, dacht' er, und das Beste was ich an ihnen tun könnte, wäre, sie klug zu machen. Aber die Abderiten sind freie Leute. Wenn sie nun nicht klug sein wollen: wer kann sie nötigen?

Da er also bei so bewandten Umständen wenig oder nichts für die Abderiten als Abderiten tun konnte, glaubte er hinlänglich gerechtfertigt zu sein, wenn er wenigstens seine eigene Person in Sicherheit zu bringen suchte, und einen so großen Teil als immer[188] möglich von derjenigen Zeit rettete, die er der Erfüllung seiner weltbürgerlichen Pflichten schuldig zu sein vermeinte.

Weil nun seine bisherige Freistätte entweder nicht weit genug von Abdera entfernt war, oder wegen ihrer Lage und anderer Bequemlichkeiten so viel Reiz für die Abderiten hatte, daß er, ungeachtet seines Aufenthalts auf dem Lande, sich doch immer mitten unter ihnen befand: so zog er sich noch etliche Stunden weiter in einen Wald, der zu seinem Gute gehörte, zurück, und bauete sich in die wildeste Gegend desselben ein kleines Haus, wo er die meiste Zeit – in der einsamen Ruhe, die das eigene Element des Philosophen und des Dichters ist, – dem Erforschen der Natur und der Betrachtung oblag.

Einige neuere Gelehrte – ob Abderiten oder nicht, wollen wir hier unentschieden lassen – haben sich von den Beschäftigungen dieses griechischen Bacons in seiner Einsamkeit wunderliche, wiewohl auf ihrer Seite sehr natürliche Begriffe gemacht. »Er arbeitete am Stein der Weisen, sagt Borrichius, und er fand ihn, und machte Gold.« Zum Beweis davon, beruft er sich darauf, daß Demokritus ein Buch von Steinen und Metallen geschrieben habe. Die Abderiten, seine Zeitgenossen und Mitbürger, gingen noch weiter; und ihre Vermutungen – die in abderitischen Köpfen gar bald zur Gewißheit wurden – gründeten sich auf eben so gute Schlüsse, als jener des Borrichius. Demokritus war von persischen Magis erzogen worden 27; er war zwanzig Jahre in den Morgenländern herumgereist; hatte mit ägyptischen Priestern, Chaldäern, Brachmanen und Gymnosophisten Umgang gepflogen, und war in allen ihren Mysterien initiert; hatte tausend Arcana von seinen Reisen mit sich gebracht, und wußte zehntausend Dinge, wovon niemals etwas in eines Abderiten Sinn gekommen war. – Machte dies alles zusammengenommen nicht den vollständigsten Beweis, daß er ein ausgelernter Meister in der Magie und allen davon abhängenden Künsten sein mußte? – Der ehrwürdige Pater Delrio hätte Spanien, Portugall und Algarbien [189] auf die Hälfte eines Beweises, wie dieser ist, verbrennen lassen.

Aber die guten Abderiten hatten noch nähere Beweistümer in Händen, daß ihr gelehrter Landsmann – ein wenig hexen könne. Er sagte Sonnen- und Mondfinsterungen, Mißwachs, Seuchen und andre zukünftige Dinge zuvor. Er hatte einem verbuhlten Mädchen aus der Hand geweissagt, daß sie – zu Falle kommen, und einem Ratsherrn von Abdera, dessen ganzes Leben zwischen Schlafen und Schmausen geteilt war, daß er – an einer Unverdaulichkeit sterben würde; und beides war genau eingetroffen. Überdem hatte man Bücher mit wunderlichen Zeichen in seinem Cabinette gesehen; man hatte ihn bei allerlei, vermutlich magischen Operationen mit Blut von Vögeln und Tieren angetroffen; man hatte ihn verdächtige Kräuter kochen gesehen; und einige junge Leute wollten ihn sogar in später Nacht bei sehr blassem Mondschein zwischen Gräbern sitzend überschlichen haben. »Um ihn zu schrecken, hatten wir uns in die scheußlichsten Larven verkleidet, sagten sie: Hörner, Ziegenfüße, Drachenschwänze, nichts fehlte uns, um leibhafte Feldteufel und Nachtgespenster vorzustellen; wir bliesen sogar Rauch aus Nasen und Ohren, und machten es so arg um ihn herum, daß ein Herkules vor Schrecken hätte zum Weibe werden mögen. Aber Demokritus achtete unser nicht; und, da wir es ihm endlich zu lange machten, sagte er bloß: Nun, wird das Kinderspiel noch lange währen 28? –«.

Da sieht man augenscheinlich, sagten die Abderiten, daß es nicht recht richtig mit ihm ist; Geister sind nichts Neues für ihn; er muß wohl wissen, wie er mit ihnen steht! – »Er ist ein Zauberer; nichts kann gewisser sein, sagte der Priester Strobylus; wir müssen ein wenig besser Acht auf ihn geben!«

Man muß gestehen, daß Demokritus, entweder aus Unvorsichtigkeit, oder, (welches glaublicher ist,) weil er sich wenig aus der Meinung seiner Landsleute machte, zu diesen und andern bösen Gerüchten einige Gelegenheit gab. Man konnte in der Tat nicht lange unter den Abderiten leben, ohne in Versuchung zu geraten, ihnen etwas aufzuheften. Ihr Vorwitz und ihre Leichtgläubigkeit [190] auf der einen Seite, und die hohe Einbildung, die sie sich von ihrer eignen Scharfsinnigkeit machten, auf der andern, foderten einen gleichsam heraus; und überdies war auch sonst kein Mittel, sich für die Langeweile, die man bei ihnen hatte, zu entschädigen. Demokritus befand sich nicht selten in diesem Falle; und da die Abderiten albern genug waren, alles, was er ihnen ironischer Weise sagte, im buchstäblichen Sinne zu nehmen: so entstunden daher die vielen ungereimten Meinungen und Märchen, die auf seine Rechnung in der Welt herumliefen, und noch viele Jahrhunderte nach seinem Tode von andern Abderiten für bares Geld angenommen, oder wenigstens ihm selbst, unbilliger Weise, zur Last geleget wurden.

Demokritus hatte sich, unter andern, auch mit der Physiognomie abgegeben, und teils aus seinen eigenen Beobachtungen, teils aus dem was ihm andere von den ihrigen mitgeteilt, sich eine Theorie davon gemacht, von deren Gebrauch er (sehr vernünftig, wie uns deucht) urteilte, daß es damit eben so wie mit der Theorie der poetischen oder irgend einer andern Kunst beschaffen sei. Denn so wie noch keiner durch die bloße Wissenschaft der Regeln ein guter Dichter oder Künstler geworden sei und nur derjenige, welchen angebornes Genie, emsiges Studium hartnäckiger Fleiß und lange Übung zum Dichter oder Künstler gemacht, geschickt sei, die Regeln seiner Kunst recht zu verstehen und anzuwenden: so sei auch die Theorie der Kunst, aus dem Äußerlichen des Menschen auf das Innerliche zu schließen, nur für Leute von großer Fertigkeit im Beobachten und Unterscheiden brauchbar, für jeden andern hingegen eine höchst ungewisse und betrügliche Sache; und eben darum müsse sie als eine von den geheimen Wissenschaften oder großen Mysterien der Philosophie immer nur der kleinen Zahl der Epopten 29 vorbehalten bleiben.

Diese Art von der Sache zu denken bewies, daß Demokritus kein Scharlatan war; aber den Abderiten bewies sie bloß, daß er ein Geheimnis aus seiner Wissenschaft mache. Daher ließen sie nicht ab, ihn, so oft sich die Rede davon gab, zu necken und zu [191] plagen, daß er ihnen etwas davon entdecken sollte. Besonders drückte dieser Vorwitz die Abderitinnen. Sie wollten von ihm wissen – an was für äußerlichen Merkmalen ein getreuer Liebhaber zu erkennen sei? ob Milon von Krotona 30 eine sehr große Nase gehabt habe, ob eine blasse Farbe ein notwendiges Zeichen eines Verliebten sei? – und hundert Fragen dieser Art, mit denen sie seine Geduld so sehr ermüdeten, daß er endlich, um ihrer los zu werden, auf den Einfall kam, sie ein wenig zu erschrecken.

Aber das haben Sie sich wohl nicht vorgestellt, sagte Demokritus, daß die Jungferschaft ein unbetrügliches Merkzeichen in den Augen haben könnte?

»In den Augen? riefen die Abderitinnen. O! das ist nicht möglich! Warum just in den Augen?«

Es ist nicht anders, versetzte Demokritus; und was Sie mir gewiß glauben können, ist, daß mir dieses Merkmal schon öfters von den Geheimnissen junger und alter Schönen mehr entdeckt hat, als diese Lust gehabt haben würden, mir von freien Stücken anzuvertrauen 31.

Der zuversichtliche Ton, womit er dies sagte, verursachte einige Entfärbungen; wiewohl die Abderitinnen (die in allen Fällen, wo es auf die gemeine Sicherheit ihres Geschlechtes ankam, einander getreulich beizustehen pflegten,) mit großer Hitze darauf bestunden, daß sein vorgebliches Geheimnis eine Schimäre sei.

Sie nötigen mich durch Ihren Unglauben, daß ich Ihnen noch mehr sagen muß, fuhr der Philosoph fort. Die Natur ist voll solcher Geheimnisse, meine schönen Damen; und wofür sollt' ich auch, wenn es sich der Mühe nicht verlohnte, bis nach Aethiopien und Indien gewandert sein? Die Gymnosophisten, deren Weiber – wie Sie wissen – nackend gehen, haben mir sehr artige Sachen entdeckt.

[192] »Zum Exempel?« – sagten die Abderitinnen.

Unter andern ein Geheimnis, welches ich, wenn ich ein Ehmann wäre, lieber nicht zu wissen wünschen würde.

»Ach, nun haben wir die Ursache, warum sich Demokritus nicht verheiraten will«, rief die schöne Thryallis.

»Als ob wir nicht schon lange wüßten, sagte Salabanda, daß es seine äthiopische Venus ist, die ihn für unsre griechische so unempfindlich macht. – Aber Ihr Geheimnis, Demokritus, wenn man es keuschen Ohren anvertrauen darf.«

Zum Beweise, daß man es darf, will ich es den Ohren aller gegenwärtigen Schönen anvertrauen, antwortete der Naturforscher. Ich weiß ein unfehlbares Mittel, wie man machen kann, daß ein Frauenzimmer, im Schlafe, mit vernehmlicher Stimme alles sagt, was sie auf dem Herzen hat.

»O gehen Sie, riefen die Abderitinnen, Sie wollen uns bange machen; aber – wir lassen uns nicht so leicht erschrecken.«

Wer wird auch an Erschrecken denken, sagte Demokritus, wenn von einem Mittel die Rede ist, wodurch einer jeden ehrlichen Frau Gelegenheit gegeben wird, zu zeigen, daß sie keine Geheimnisse hat, die ihr Mann nicht wissen dürfte?

»Würket Ihr Mittel auch bei Unverheirateten?« fragte eine Abderitin, die weder jung noch reizend genug zu sein schien, um eine solche Frage zu tun.

Es würkt vom zehnten Jahre an bis zum achtzigsten, erwiderte Demokritus, ohne Beziehung auf irgendeinen andern Umstand, worin sich ein Frauenzimmer befinden kann.

Die Sache fing an ernsthaft zu werden. – »Aber Sie scherzen nur, Demokritus,« sprach die Gemahlin eines Thesmotheten, nicht ohne eine geheime Furcht des Gegenteils versichert zu werden.

Wollen Sie die Probe machen, Lysistrata?

»Die Probe? – Warum nicht? – Voraus bedungen, daß nichts Magisches dazu gebraucht wird. Denn mit Hülfe Ihrer Talismane und Geister könnten Sie eine arme Frau sagen machen, was Sie wollten.«

Es haben weder Geister noch Talismane damit zu tun. Alles geht natürlich zu. Das Mittel, das ich gebrauche, ist die simpelste Sache von der Welt.

[193]

Die Damen fingen an, bei allen Grimassen von Herzhaftigkeit, wozu sie sich zu zwingen suchten, eine Unruhe zu verraten, die den Philosophen sehr belustigte. »Wenn man nicht wüßte, daß Sie ein Spötter sind, der die ganze Welt zum Besten hat – Aber darf man fragen, worin Ihr Mittel besteht?«

Wie ich Ihnen sagte, die natürlichste Sache von der Welt. Ein ganz kleines unschädliches Ding, einem schlafenden Frauenzimmer aufs Herzgrübchen gelegt, das ist das ganze Geheimnis; aber es tut Wunder, dies können Sie mir glauben. Es macht reden, so lange noch im innersten Winkel des Herzens was zu entdecken ist.

Unter sieben Frauenzimmern, die sich in der Gesellschaft befanden, war nur eine, deren Miene und Gebärde unverändert die nämliche blieb wie vorher. Man wird denken, sie sei alt, oder häßlich, oder gar tugendhaft gewesen; aber nichts von allem diesem! Sie war – taub.

»Wenn Sie wollen, daß wir Ihnen glauben sollen, Demokritus, so nennen Sie Ihr Mittel.«

Ich will es dem Gemahl der schönen Thryallis ins Ohr sagen, sprach der boshafte Naturkündiger.

Der Gemahl der schönen Thryallis war, ohne blind zu sein, so glücklich, als Hagedorn einen Blinden schätzt, dessen Gemahlin schön ist. Er hatte immer gute Gesellschaft, oder wenigstens was man zu Abdera so nannte, in seinem Hause. Der gute Mann glaubte, man finde so viel Vergnügen an seinem Umgang, und an den Versen, die er seinen Besuchen vorzulesen pflegte. In der Tat hatte er das Talent, die schlechten Verse, die er machte, nicht übel zu lesen; und weil er mit vieler Begeisterung las: so ward er nicht gewahr, daß seine Zuhörer, anstatt auf seine Verse Acht zu geben, mit der schönen Thryallis liebäugelten.

Kurz, der Ratsherr Smilax war ein Mann, der eine viel zu gute Meinung von sich selbst hatte, um von der Tugend seiner Gemahlin eine schlimme zu hegen.

Er bedachte sich also keinen Augenblick, dem Geheimnis des Demokritus sein Ohr darzubieten.

Es ist weiter nichts, flüsterte ihm der Philosoph ins Ohr, als die Zunge eines lebendigen Frosches, die man einer schlafenden Dame auf die linke Brust legen muß. Aber Sie müssen sich beim [194] Ausreißen wohl in Acht nehmen, daß nichts von den daranhängenden Teilen mit geht, und der Frosch muß wieder ins Wasser gesetzt werden.

»Das Mittel mag nicht übel sein, sagte Smilax leise; nur Schade daß es ein wenig bedenklich ist! Was würde der Priester Strobylus dazu sagen?«

Sorgen Sie nicht dafür, versetzte Demokritus: ein Frosch ist doch keine Diana, der Priester Strobylus mag sagen was er will. Und zudem geht es dem Frosche ja nicht ans Leben.

»Ich darf es also weiter geben?« fragte Smilax.

Von Herzen gerne! alle Mannspersonen in der Gesellschaft dürfen es wissen; und ein jeder mag es ungescheut allen seinen Bekannten entdecken; nur mit der Bedingung, daß es keiner weder seiner Frau noch seiner Geliebten wieder sage.

Die guten Abderitinnen wußten nicht was sie von der Sache glauben sollten. Unmöglich schien sie ihnen nicht; und was sollte auch Abderiten unmöglich scheinen? – Ihre gegenwärtigen Männer oder Liebhaber waren nicht viel ruhiger; jeder setzte sich heimlich vor, das Mittel ohne Aufschub zu probieren, und jeder (den glücklichen Smilax ausgenommen) besorgte, gelehrter dadurch zu werden als er wünschte.

»Nicht wahr, Männchen – sagte Thryallis zu ihrem Gemahl, indem sie ihn freundlich auf die Backen klopfte, du kennst mich zu gut, um einer solchen Probe nötig zu haben?«

»Der meinige sollte sich so etwas einfallen lassen, sagte Lagiska. Eine Probe setzt Zweifel voraus, und ein Mann, der an der Tugend seiner Frau zweifelt –«

– Ist ein Mann, der Gefahr läuft, seine Zweifel in Gewißheit verwandelt zu sehen, setzte Demokritus hinzu, da er sah, daß sie einhielt. Das wollten Sie doch sagen, schöne Lagiska?

»Sie sind ein Weiberfeind, Demokritus, riefen die Abderitinnen allzumal; aber vergessen Sie nicht, daß wir in Thracien sind, und hüten Sie sich vor dem Schicksal des Orpheus!«

Wiewohl dies im Scherz gesagt wurde, so war doch Ernst dabei. Natürlicher Weise läßt man sich nicht gerne ohne Not schlaflose Nächte machen; eine Absicht, von welcher wir den Philosophen um so weniger frei sprechen können, da er die Folgen seines Einfalles notwendig voraussehen mußte. Wirklich [195] gab diese Sache den sieben Damen so viel zu denken, daß sie die ganze Nacht kein Auge zutaten; und da das vorgebliche Geheimnis des Demokritus den folgenden Tag in ganz Abdera herumlief, so verursachte er dadurch etliche Nächte hinter einander eine allgemeine Schlaflosigkeit.

Indessen brachten die Weiber bei Tage wieder ein, was ihnen bei Nacht abging; und weil verschiedene sich nicht einfallen ließen, daß man ihnen das Arcanum, wenn sie unter Tages schliefen, eben so gut applicieren könne als bei Nacht, und daher ihr Schlafzimmer zu verriegeln vergaßen: so bekamen die Männer unverhofft Gelegenheit, von ihren Froschzungen Gebrauch zu machen. Lysistrata, Thryallis, und einige andere, die am meisten dabei zu wagen hatten, waren die ersten, an denen die Probe, mit demjenigen Erfolg, den man leicht voraussehen kann, gemacht wurde. Aber eben dies stellte in kurzem die Ruhe in Abdera wieder her. Die Männer dieser Damen, nachdem sie das Mittel zwei oder dreimal ohne Erfolg gebraucht hatten, kamen in vollem Sprunge zu unserm Philosophen gelaufen, um sich zu erkundigen, was dies zu bedeuten hätte. So? rief er ihnen entgegen; hat die Froschzunge ihre Wirkung getan? Haben Ihre Weiber gebeichtet? – Kein Wort, keine Sylbe, sagten die Abderiten. Desto besser, rief Demokritus; triumphieren Sie darüber! Wenn eine schlafende Frau mit einer Froschzunge auf dem Herzen nichts sagt, so ist es ein Zeichen, daß sie – nichts zu sagen hat. Ich wünsche Ihnen Glück, meine Herren! Jeder von Ihnen kann sich rühmen, daß er den Phönix der Weiber in seinem Hause besitze.

Wer war glücklicher als unsre Abderiten! Sie liefen so schnell, als sie gekommen waren, wieder zurück, fielen ihren erstaunten Weibern um den Hals, erstickten sie mit Küssen und Umarmungen, und bekannten nun freiwillig, was sie getan hatten, um sich von der Tugend ihrer Hälften (wiewohl wir davon schon gewiß waren, sagten sie) noch gewisser zu machen.

Die guten Weiber wußten nicht, ob sie ihren Sinnen glauben sollten. Aber, wiewohl sie Abderitinnen waren, hatten sie doch Verstand genug, sich auf der Stelle zu fassen, und ihren Männern ein so unzärtliches Mißtrauen, als dasjenige war, dessen sie sich selbst anklagten, nachdrücklich zu verweisen. Einige trieben die [196] Sache bis zu Tränen; aber alle hatten Mühe, die Freude zu verbergen, die ihnen eine so unverhoffte Bestätigung ihrer Tugend verursachte; und wiewohl sie, der Anständigkeit wegen, auf den Demokritus schmälen mußten, so war doch keine, die ihn nicht dafür hätte umarmen mögen, daß er ihnen einen so guten Dienst geleistet hatte. Freilich war dies nicht, was er gewollt hatte. Aber die Folgen dieses einzigen unschuldigen Scherzes mochten ihn lehren, daß man mit Abderiten nicht behutsam genug scherzen kann!

Indessen (wie alle Dinge dieser Welt mehr als eine Seite haben) so fand sich auch, daß aus dem Übel, welches unser Philosoph den Abderiten wider seine Absicht zugefügt hatte, gleichwohl mehr Gutes entsprang, als man vermutlich hätte erwarten können, wenn die Froschzungen gewirkt hätten. Die Männer machten die Weiber durch ihre unbegrenzte Sicherheit, und die Weiber die Männer durch ihre Gefälligkeit und gute Laune glücklich. Nirgends in der Welt sah man zufriednere Ehen als in Abdera. Und bei allem dem waren die Stirnen der Abderiten so glatt, und – die Ohren und Zungen der Abderitinnen so keusch, als die von andern Leuten.

Dreizehntes Kapitel
Demokritus soll die Abderitinnen die Sprache der Vögel lehren
Im Vorbeigehen eine Probe, wie sie
ihre Töchter bildeten

Ein andermal geschah es, daß sich Demokritus an einem schönen Frühlingsabend mit einer Gesellschaft in einem von den Lustgärten befand, womit die Abderiten die Gegend um ihre Stadt verschönert hatten.

»Wirklich verschönert?« – Dies nun eben nicht: denn woher hätten die Abderiten nehmen sollen, daß die Natur schöner ist als die Kunst, und daß zwischen künsteln und verschönern ein Unterschied ist? – Doch davon soll nun die Rede nicht sein.

Die Gesellschaft lag auf weichen mit Blumen bestreuten Rasen, unter einer hohen Laube, im Kreise herum. In den Zweigen [197] eines benachbarten Baums sang eine Nachtigall. Eine junge Abderitin von vierzehn Jahren schien etwas dabei zu empfinden, wovon die übrigen nichts empfanden. Demokritus ward es gewahr. Das Mädchen hatte eine sanfte Gesichtsbildung und Seele in den Augen. Schade für dich, daß du eine Abderitin bist! dacht' er. Was sollte dir in Abdera eine empfindsame Seele? Sie würde dich nur un glücklich machen. Doch es hat keine Gefahr! Was die Erziehung deiner Mutter und Großmutter an dir unverdorben gelassen hat, werden die Söhnchen unsrer Archonten und Prytanen, und, was diese verschonen, wird das Beispiel deiner Freundinnen zu Grunde richten. In weniger als vier Jahren wirst du ein Abderitin sein wie die andern; und wenn du erst erfährst, daß eine Froschzunge auf dem Herzgrübchen nichts zu bedeuten hat –

Was denken Sie, schöne Nannion? sagte Demokritus zu dem Mädchen.

»Ich denke, daß ich mich dort unter die Bäume setzen möchte, um dieser Nachtigall recht ungestört zuhören zu können.«

Das alberne Ding! sagte die Mutter des Mädchens. Hast du noch keine Nachtigall gehört?

»Nannion hat Recht, sagte die schöne Thryallis; ich selbst höre für mein Leben gern den Nachtigallen zu. Sie singen mit einem solchen Feuer, und es ist etwas so wollüstiges in ihren Modulationen, daß ich schon oft gewünscht habe, zu verstehen, was sie damit sagen wollen. Ich bin gewiß, man würde die schönsten Dinge von der Welt hören. Aber Sie, Demokritus, der alles weiß, sollten Sie nicht auch die Sprache der Nachtigallen verstehen?«

Warum nicht, antwortete der Philosoph mit seinem gewöhnlichen Phlegma; und die Sprache aller übrigen Vögel dazu!

»Im Ernste?«

Sie wissen ja, daß ich immer im Ernste rede.

»O das ist allerliebst! Geschwinde, übersetzen Sie uns was aus der Sprache der Nachtigallen! Wie hieß das, was diese dort sang, als Nannion so davon gerührt wurde?«

Das läßt sich nicht so leicht ins Griechische übersetzen als Sie denken, schöne Thryallis. Es gibt keine Redensarten in unsrer Sprache, die dazu zärtlich und feurig genug wären.

[198] »Aber wie können Sie denn die Sprache der Vögel verstehen, wenn Sie nicht auf Griechisch wiedersagen können, was Sie gehört haben?«

Die Vögel können auch kein Griechisch, und verstehen einander doch?

»Aber Sie sind kein Vogel, wiewohl Sie ein loser Mann sind, der uns immer zum Besten hat.«

Daß man in Abdera doch so gerne Arges von seinem Nächsten denkt! Indessen verdient Ihre Antwort, daß ich mich näher erkläre. Die Vögel verstehen einander durch eine gewisse Sympathie, welche ordentlicher Weise nur unter gleichartigen Geschöpfen statt hat. Jeder Ton einer singenden Nachtigall ist der lebende Ausdruck einer Empfindung, und erregt in der zuhörenden unmittelbar den Unisono dieser Empfindung. Sie verstehet also, vermittelst ihres eignen innern Gefühls, was ihr jene sagen wollte; und gerade auf die nämliche Weise versteh ich sie auch.

»Aber wie machen Sie denn das?« – fragten etliche Abderitinnen.

Die Frage war, nachdem Demokritus sich bereits so deutlich erklärt hatte, gar zu abderitisch, als daß er sie ihnen so ungenossen hätte hingehen lassen können. Er besann sich einen Augenblick.

»Ich verstehe den Demokritus«, sagte die kleine Nannion leise.

»Du verstehst ihn, du naseweises Ding ? – schnarrte sie die Mutter an. – Nun laß hören, Puppe, was verstehst du denn davon?«

»Ich kann es nicht zu Worte bringen; aber ich empfind' es, deucht mich«, erwiderte Nannion.

»Sie ist, wie Sie hören, noch ein Kind, sagte die Mutter; wiewohl sie so schnell aufgeschossen ist, daß viele Leute sie für meine jüngere Schwester angesehen haben. Aber halten wir uns nicht mit dem Geplapper eines läppischen Mädchens auf, das noch nicht weiß was es sagt!«

Nannion hat Empfindung, sagte Demokritus. Sie findet den Schlüssel zur allgemeinen Sprache der Natur in ihrem Herzen, und vielleicht versteht sie mehr davon als –

»O mein Herr, ich bitte Sie, machen Sie mir die kleine Närrin nicht noch einbildischer; sie ist ohne dies naseweis und schnippisch genug –«

[199] Bravo, dachte Demokritus; nur so fortgefahren! Auf diesem Wege möchte noch Hoffnung für den Kopf und das Herz der kleinen Nannion sein.

»Bleiben wir bei der Sache! (fuhr die Abderitin fort, die, ohne jemals recht gewußt zu haben, wie und warum, die unerkannte Ehre hatte, Nannions Mutter zu sein.) Sie wollten uns ja erklären, wie es zuginge, daß Sie die Sprache der Vögel verstehen?«

Wir sind den Abderitinnen die Gerechtigkeit schuldig, nicht zu bergen, daß sie alles, was Demokritus von seiner Kenntnis der Vögelsprache gesagt hatte, für bloße Prahlerei hielten. Aber dies hinderte nicht, daß die Fortsetzung dieses Gesprächs nicht etwas sehr unterhaltendes für sie gehabt hätte: denn sie hörten von nichts lieber reden, als von Dingen, die sie nicht glaubten und doch glaubten; als da ist, von Sphinxen, Meermännern, Sibyllen, Kobolten, Popanzen, Gespenstern, und allem, was in diese Rubrik gehört; und die Sprache der Vögel gehörte auch dahin, dachten sie.

Es ist ein Geheimnis, sagte Demokritus, das ich von dem Oberpriester zu Memphis lernte, da ich mich in den ägyptischen Mysterien initieren ließ. Er war ein langer hagerer Mann, hatte einen sehr langen Namen, und einen noch längern eisgrauen Bart, der ihm bis an den Gürtel reichte. Sie würden ihn für einen Mann aus der andern Welt gehalten haben, so feierlich und geheimnisvoll sah er in seiner spitzigen Mütze und in seinem schleppenden Mantel aus.

Die Aufmerksamkeit der Abderiten nahm merklich zu. Nannion, die sich ein wenig weiter zurückgesetzt hatte, lauschte mit dem linken Ohr der Nachtigall entgegen; aber von Zeit zu Zeit schoß sie einen dankvollen Seitenblick auf den Philosophen, welchen dieser, so oft die Mutter auf ihren Busen sah oder ihren Hund küßte, mit aufmunterndem Lächeln beantwortete.

Das ganze Geheimnis, fuhr er fort, besteht darin: Man schneidet, unter einer gewissen Constellation, sieben verschiedenen Vögeln, deren Namen ich nicht entdecken darf, die Hälse ab, läßt ihr Blut in eine kleine Grube, die zu dem Ende in die Erde gemacht wird, zusammenfließen, bedeckt die Grube mit Lorbeerzweigen, und – geht seines Weges. Nach Verfluß von ein und zwanzig Tagen kömmt man wieder, deckt die Grube auf, [200] und findet einen kleinen Drachen von seltsamer Gestalt, der aus der Fäulnis des vermischten Blutes entstanden ist – 32

»Einen Drachen!« – riefen die Abderitinnen mit allen Merkmalen des Erstaunens.

Einen Drachen, wiewohl nicht viel größer als eine gewöhnliche Fledermaus. Diesen Drachen nehmen sie, schneiden ihn in kleine Stücke, und essen ihn mit etwas Essig, Öl und Pfeffer, ohne das Mindeste davon übrig zu lassen; gehen darauf zu Bette, decken sich wohl zu, und schlafen ein und zwanzig Stunden in einem Stücke fort. Darauf erwachen sie wieder, kleiden sich an, gehen in ihren Garten, oder in ein Wäldchen, und erstaunen nicht wenig, indem sie sich augenblicklich auf allen Seiten von Vögeln umgeben und gegrüßt finden, deren Sprache und Gesang sie so gut verstehen, als ob sie alle Tage ihres Lebens nichts als Elstern, Gänschen und Truthühner 33 gewesen wären.

Demokritus erzählte den Abderitinnen alles dies mit einer so gelassenen Ernstaftigkeit, daß sie sich um so weniger entbrechen [201] konnten, ihm Glauben beizumessen, da er, ihrer Meinung nach, die Sache unmöglich mit so vielen Umständen hätte erzählen können, wenn sie nicht wahr gewesen wäre. Indessen wußten sie itzt doch gerade nur so viel davon, als nötig war, um desto ungeduldiger zu werden, alles zu wissen –

»Aber, fragten sie, was für Vögel sind es denn, die man dazu braucht? Ist der Sperling, der Finke, die Nachtigall, die Elster, die Wachtel, der Rabe, der Kibitz, die Nachteule, u.s.f. auch darunter? Wie sieht der Drache aus? Hat er Flügel? Wie viele hat er deren? Ist er gelb, oder grün, oder blau, oder rosenfarb? Speit er Feuer? Beißt oder sticht er nicht, wenn man ihn anrühren will? Ist er gut zu essen? Wie schmeckt er? Wie verdaut er sich? Was trinkt man dazu?« – Alle diese Fragen, womit der gute Naturforscher von allen Seiten bestürmt wurde, machten ihm so warm, daß er sich endlich am kürzesten aus dem Handel zu ziehen glaubte, wenn er ihnen gestünde, er habe die ganze Historie nur zum Scherz ersonnen.

»O dies sollen Sie uns nicht weis machen! – riefen die Abderitinnen: Sie wollen nur nicht, daß wir hinter Ihre Geheimnisse kommen. Aber wir werden Ihnen keine Ruhe lassen; verlassen Sie sich darauf! Wir wollen den Drachen sehen, betasten, beriechen, kosten, und mit Haut und Knochen aufessen, oder – Sie sollen uns sagen, warum nicht!«

[202]
Zweites Buch
Erstes Kapitel
Eine Abschweifung über den Charakter und die Philosophie des Demokritus welche wir den Leser nicht zu überschlagen bitten

Wir wissen nicht, wie Demokritus es angefangen, um sich die neugierigen Weiber vom Halse zu schaffen. Genug, daß uns diese Beispiele begreiflich machen, wie ein bloßer zufälliger Einfall Gelegenheit habe geben können, den unschuldigen Naturforscher in den Ruf zu bringen, als ob er Abderite genug gewesen wäre, alle die Märchen, die er seinen albernen Landesleuten aufheftete, selbst zu glauben. Diejenigen, die ihm dies zum Vorwurf nachgesagt haben, berufen sich auf seine Schriften. Aber schon lange vor den Zeiten des Vitruvius und Plinius wurden eine Menge unechter Büchlein mit vielbedeutenden Titeln unter seinem Namen herumgetragen. Man weiß, wie gewöhnlich diese Art von Betrug den müßigen Gräculis der spätern Zeiten war. Die Namen Hermes Trismegistus, Zoroaster, Orpheus, Pytagoras, Demokritus, waren ehrwürdig genug, um die armseligsten Geburten schaler Köpfe verkäuflich zu machen; insonderheit nachdem die alexandrische Philosophenschule die Magie in eine Art von allgemeiner Achtung, und die Gelehrten in den Geschmack gebracht hatte, sich bei den Ungelehrten das Ansehen zu geben, als ob sie gewaltige Wundermänner wären, die den Schlüssel zur Geisterwelt gefunden hätten, und für die nun in der ganzen Natur nichts geheimes sei. Die Abderiten hatten den Demokritus in den Ruf der Zauberei gebracht, weil sie nicht begreifen konnten, wie man, ohne ein Hexenmeister zu sein, so viel wissen könne, als sie – nicht wußten; und spätere Betrüger fabricierten Zauberbücher in seinem Namen, um sich jenen Ruf bei den Dummköpfen ihrer Zeit zu Nutzen zu machen.

[203] Überhaupt waren die Griechen große Liebhaber davon, mit ihren Philosophen den Narren zu treiben. Die Athenienser lachten herzlich, als ihnen der witzige Possenreißer Aristophanes weis machte, Sokrates halte die Wolken für Göttinnen, messe aus, wie viele Flohfüße hoch ein Floh springen könne 34, lasse sich, wenn er meditieren wolle, in einem Korbe aufhängen, damit die anziehende Kraft der Erde seine Gedanken nicht einsauge, u.s.f und es dünkte sie überaus kurzweilig, den Mann, der ihnen immer die Wahrheit und also oft unangenehme Dinge sagte, wenigstens auf dem Schauplatze platte Pedantereien sagen zu hören. Und wie mußte sich nicht Diogenes (der unter den Nachahmern des Sokrates noch am meisten die Miene seines Originals hatte,) von diesem Volke, das so gerne lachte, mißhandeln lassen, Sogar der begeisterte Plato und der tiefsinnige Aristoteles blieben nicht von Anklagen frei, wodurch man sie zu dem großen Haufen der alltäglichen Menschen herabzusetzen suchte. Was Wunder also, daß es dem Manne nicht besser erging, der so verwegen war, mitten unter Abderiten Verstand zu haben?

Demokritus lachte zuweilen, wie wir alle, und würde vielleicht, [204] wenn er zu Korinth, oder Smyrna, oder Syrakus, oder an irgend einem andern Orte der Welt gelebt hätte, nicht mehr gelacht haben, als jeder andre Biedermann, der sich, aus Gründen oder von Temperaments wegen, aufgelegter fühlt, die Torheiten der Menschen zu belachen als zu beweinen. Aber er lebte unter Abderiten. Es war nun einmal die Art dieser guten Leute, immer etwas zu tun, worüber man entweder lachen, oder weinen, oder ungehalten werden mußte; und Demokritus lachte, wo ein Phocion die Stirne gerunzelt, ein Cato gepoltert, und ein Swift zugepeitscht hätte. Bei einem ziemlich langen Aufenthalt in Abdera konnte ihm also die Miene der Ironie wohl eigentümlich werden; aber daß er im buchstäblichen Verstande immer aus vollem Halse gelacht habe, wie ihm ein Dichter, der die Sachen gern übertreibt, nachsagt 35, dies hätte wenigstens niemand in Prosa sagen sollen.

Doch diese Nachrede möchte immer hingehen, zumal da ein so gepriesener Philosoph wie Seneca unsern Freund Demokritus über diesen Punkt rechtfertigt, und sogar nachahmenswürdig findet. »Wir müssen uns dahin bestreben, sagt Seneca 36, daß uns die Torheiten und Gebrechen des großen Haufens samt und sonders nicht hassenswürdig, sondern lächerlich vorkommen; und wir werden besser tun, wenn wir uns hierin den Demokritus als den Heraklitus zum Muster nehmen. Dieser pflegte, so oft er unter die Leute ging, zu weinen; jener, zu lachen: dieser sah in allem unserm Tun eitel Not und Elend; jener eitel Tand und Kinderspiel. Nun ist es aber freundlicher, das menschliche Leben anzulachen als es anzugrinsen; und man kann sagen, daß sich derjenige um das Menschengeschlecht verdienter macht, der es belacht, als der es bejammert. Denn jener läßt uns doch noch immer ein wenig Hoffnung übrig; dieser hingegen weint alberner Weise über Dinge, die er bessern zu können verzweifelt. Auch zeigt derjenige eine größere Seele, der, wenn er einen Blick über das Ganze wirft, sich nicht des Lachens – als jener, der sich der Tränen nicht enthalten kann; denn er gibt dadurch zu erkennen, daß alles, was andern groß und wichtig genug scheint, [205] um sie in die heftigsten Leidenschaften zu setzen, in sei nen Augen so klein ist, daß es nur den leichtesten und kaltblütigsten unter allen Affecten in ihm erregen kann.« 37

Im Vorbeigehen deucht mich, die Entscheidung des Sophisten Seneca habe Verstand; wiewohl er vielleicht besser getan hätte, seine Gründe weder so weit herzuholen, noch in so gekünstelte Antithesen einzuschrauben. Doch, wie gesagt, der bloße Umstand, daß Demokritus unter Abderiten lebte, und über Abderiten lachte, macht den Vorwurf, von welchem die Rede ist, so übertrieben er auch sein mag, zum erträglichsten unter allem, was unserm Weisen aufgebürdet worden. Läßt doch Homer die Götter selbst über einen weit weniger lächerlichen Gegenstand über den hinkenden Vulcan, der aus der gutherzigen Absicht, Friede unter den Olympiern zu stiften, den Mundschenken macht – in ein unauslöschliches Gelächter ausbrechen! Aber das Vorgeben, daß Demokritus sich selbst freiwillig des Gesichts beraubt habe, und die Ursachen, warum er es getan haben soll, dies setzt auf Seiten derjenigen, bei denen es Eingang finden konnte, eine Neigung voraus, die wenigstens ihrem Kopfe wenig Ehre macht.

Und was für eine Neigung mag denn das sein, – Ich will es euch sagen, lieben Freunde, und gebe der günstige Himmel, daß es nicht gänzlich in den Wind gesagt sein möge!

Es ist die armselige Neigung, jeden Dummkopf, jeden hämischen [206] Buben für einen unverwerflichen Zeugen gelten zu lassen, sobald er einem großen Manne irgend eine überschwengliche Ungereimtheit nachsagt, welche auch der alltäglichste Mensch bei fünf gesunden Sinnen zu begehen unfähig wäre.

Ich möchte nicht gerne glauben, daß diese Neigung so allgemein sei, als die Verkleinerer der menschlichen Natur behaupten. Aber dies wenigstens lehrt die Erfahrung: daß die kleinen Anekdoten, die man von großen Geistern auf Unkosten ihrer Vernunft circulieren zu lassen pflegt, sehr leicht bei den Meisten Eingang finden. Doch vielleicht ist dieser Hang im Grunde nicht sträflicher als das Vergnügen, womit die Sternseher Flecken in der Sonne entdeckt haben? Vielleicht ist es bloß das Unerwartete und Unbegreifliche, was die Entdeckung solcher Flecken so angenehm macht? Außerdem findet sich auch nicht selten, daß die armen Leute, indem sie einem großen Manne Widersinnigkeiten andichten, ihm (nach ihrer Art zu denken) noch viel Ehre zu erweisen glauben; und dies mag wohl, was die freiwillige Blindheit unsers Philosophen betrifft, der Fall bei mehr als einem abderitischen Gehirne gewesen sein.

»Demokritus beraubte sich des Gesichtes, sagt man, damit er desto tiefer denken könnte. Was ist hierin so unglaubliches: Haben wir nicht Beispiele freiwilliger Verstümmelungen von ähnlicher Art. Combabus – Origenes –«

Gut! – Combabus und Origenes warfen einen Teil ihrer selbst von sich, und zwar einen Teil, den wohl die meisten, im Fall der Not, mit allen ihren Augen, und wenn sie deren soviel als Argus hätten, erkaufen würden. Allein sie hatten auch einen großen Beweggrund dazu. Was gibt der Mensch nicht um sein Leben? Und was tut oder leidet man nicht, der Günstling eines Fürsten zu bleiben, oder gar eine Pagode zu werden? – Demokritus hingegen konnte keinen Beweggrund von dieser Stärke haben. Es möchte noch hingehen, wenn er ein Metaphysiker oder ein Poet gewesen wäre. Dies sind Leute, die zu ihrem Geschäfte des Gesichts entbehren können. Sie arbeiten am meisten mit der Einbildungskraft, und diese gewinnt sogar durch die Blindheit.

[207] Aber wenn hat man jemals gehört, daß ein Beobachter der Natur, ein Zergliederer, ein Sternseher, sich die Augen ausgestochen hätte, um desto besser zu beobachten, zu zergliedern, und nach den Sternen zu sehen?

Die Ungereimtheit ist so handgreiflich, daß Tertullianus die angebliche Tat unsers Philosophen aus einer andern Ursache ableitet, die ihm aber zum wenigsten eben so ungereimt hätte vorkommen müssen, wenn er ein besserer Raisonneur gewesen wäre, oder nicht gerade vonnöten gehabt hätte, die Philosophen, die er zu Boden legen wollte, in Strohmänner zu verwandeln. »Er beraubte sich der Augen, sagt Tertullian 40, weil er kein Weib ansehen konnte, ohne ihrer zu begehren.« – Ein feiner Grund für einen griechischen Philosophen aus dem Jahrhundert des Perikles! Demokritus, der sich gewiß nicht einfallen ließ, weiser sein zu wollen als Solon, Anaxagoras, Sokrates, hatte auch vonnöten, zu einem solchen Mittel seine Zuflucht zu nehmen! Wahr ists, der Rat des letztern 41 (der Demokriten gewiß nichts unbekanntes war, weil er Verstand genug hatte, sich ihn selbst zu geben) verfängt wenig gegen die Gewalt der Liebe; und einem Philosophen, der sein ganzes Leben dem Erforschen der Wahrheit widmen wollte, war allerdings sehr viel daran gelegen, sich vor einer so tyrannischen Leidenschaft zu hüten. Allein von dieser hatte auch Demokritus, wenigstens in Abdera, nichts zu besorgen. Die Abderitinnen waren zwar schön; aber die gütige Natur hatte ihnen die Dummheit zum Gegengift ihrer körperlichen Reizungen gegeben. Eine Abderitin war nur schön bis sie – den Mund auftat, oder bis man sie in ihrem Hauskleide sah. Leidenschaften von drei Tagen waren das Äußerste, was sie einem ehrlichen Manne, der kein Abderite war, einflößen konnte; und eine Liebe von drei Tagen ist einem Demokritus am Philosophieren so wenig hinderlich, daß wir vielmehr allen Naturforschern, Zergliederern, Meßkünstlern und Sternsehern demütig raten wollten, sich dieses Mittels, als eines vortrefflichen Recepts gegen Milzbeschwerungen, öfters zu bedienen, wenn recht zu vermuten wäre, daß diese Herren zu weise sind, eines Rates vonnöten [208] zu haben. Ob Demokritus selbst die Kraft dieses Mittels, zufälliger Weise, bei einer oder der andern von den abderitischen Schönen, die wir bereits kennen gelernt, versucht haben möchte, können wir aus Mangel authentischer Nachrichten weder bejahen noch verneinen. Aber daß er, um gar nicht, oder nicht zu stark, von so unschädlichen Geschöpfen eingenommen zu werden, und weil er auf allen Fall sicher war, daß sie ihm die Augen nicht auskratzen würden – schwach genug gewesen sei, sich solche selbst auszukratzen: dies mag Tertullianus glauben so lang es ihm beliebt; wir zweifeln sehr, daß es jemand mitglauben wird.

Aber alle diese Ungereimtheiten werden unerheblich, wenn wir sie mit demjenigen vergleichen, was ein sonst in seiner Art sehr verdienter Sammler von Materialien zur Geschichte des menschlichen Verstandes 42 die Philosophie des Demokritus nennt. Es würde schwer sein, von einem Haufen einzelner Trümmer, Steine und zerbrochener Säulen, die man als vorgebliche Überbleibsel des großen Tempels zu Olympia aus unzähligen Orten zusammengebracht hätte, mit Gewißheit zu sagen, daß es wirklich Trümmer dieses Tempels seien. Aber was würde man von einem Manne denken, der – wenn er diese Trümmer, so gut es ihm in der Eile möglich gewesen wäre, auf einander gelegt, und mit etwas Leim und Stroh zusammengeflickt hätte – ein so armseliges Stückwerk, ohne Plan, ohne Fundament, ohne Größe, ohne Symmetrie und Schönheit, für den Tempel zu Olympia ausgeben wollte?

Überhaupt ist es gar nicht wahrscheinlich, daß Demokritus ein System gemacht habe. Ein Mann, der sein Leben mit Reisen, Beobachtungen und Versuchen zubringt, lebt selten lange genug, um die Resultate dessen, was er gesehen und erfahren, in ein kunstmäßiges Lehrgebäude zusammenzufügen. Und in dieser Rücksicht könnte wohl auch Demokritus, wiewohl er über ein Jahrhundert gelebt haben soll, noch immer zu früh vom Tod überrascht worden sein. Aber daß ein solcher Mann, mit dem durchdringenden Verstande und mit dem brennenden Durste nach Wahrheit, den ihm das Altertum [209] einhellig zuschreibt, fällig gewesen sei, handgreiflichen Unsinn zu behaupten, ist noch etwas weniger als unwahrscheinlich. »Demokritus (sagt man uns) erklärte das Dasein der Welt lediglich aus den Atomen, dem leeren Raum, und der Notwendigkeit oder dem Schicksal. Er fragte die Natur achtzig Jahre lang, und sie sagte ihm kein Wort von ihrem Urheber, von seinem Plan, von seinem Endzweck, Er schrieb den Atomen allen einerlei Art von Bewegung zu, und wurde nicht gewahr 43, daß aus Elementen, die sich in parallelen Linien bewegen, in Ewigkeit keine Körper entstehen können, Er leugnete, daß die Verbindung der Atomen nach dem Gesetze der Ähnlichkeit geschehe; er erklärte alles in der Welt aus einer unendlich schnellen, aber blinden Bewegung: und behauptete gleichwohl, daß die Welt ein Ganzes sei?« u.s.f. Diesen und andern ähnlichen Unsinn setzt man auf seine Rechnung; citiert den Stobäus, Sextus, Censorinus; und bekümmert sich wenig darum, ob es unter die möglichen Dinge gehöre, daß ein Mann von Verstande (wofür man gleichwohl den Demokritus ausgibt,) so gar erbärmlich raisonnieren könnte. Freilich sind große Geister von der Möglichkeit sich zu irren, oder unrichtige Folgerungen zu ziehen, eben so wenig frei als die kleinen; wiewohl man gestehen muß, daß sie unendlichmal seltener in diese Fehler fallen, als es die Lilliputter gerne hätten; aber es gibt Albernheiten, die nur ein Dummkopf zu denken oder zu sagen fähig ist, so wie es Untaten gibt, die nur ein Schurke begehen kann. Die besten Menschen haben ihre Anomalien, und die Weisesten leiden zuweilen eine vorübergehende Verfinsterung; aber dies hindert nicht, daß man nicht mit hinlänglicher Sicherheit von einem verständigen Manne sollte behaupten können: daß er gewöhnlich, und besonders in solchen Gelegenheiten, wo auch die Dummsten allen den ihrigen zusammenraffen, wie ein Mann von Verstande verfahren werde.

Diese Maxime könnte uns, wenn sie gehörig angewendet würde, im Leben manches rasche Urteil, manche von wichtigen Folgen begleitete Verwechslung des Scheins mit der Wahrheit ersparen helfen. Aber den Abderiten half sie nichts. Denn zum [210] Anwenden einer Maxime wird gerade das Ding erfordert – das sie nicht hatten. Die guten Leute behalfen sich mit einer ganz andern Logik als vernünftige Menschen; und in ihren Köpfen waren Begriffe associiert, die, wenn es keine Abderiten gäbe, sonst in aller Ewigkeit nie zusammenkommen würden. Demokritus untersuchte die Natur der Dinge, und bemerkte die Ursachen gewisser Naturbegebenheiten ein wenig früher als die Abderiten, – also war er ein Zauberer. Er dachte über alles anders als sie, lebte nach andern Grundsätzen, brachte seine Zeit auf eine ihnen unbegreifliche Art mit sich selbst zu, – also war es nicht recht richtig in seinem Kopfe; der Mann hatte sich überstudiert; und man besorgte, daß es einen unglücklichen Ausgang mit ihm nehmen werde.

Zweites Kapitel
Demokritus wird eines schweren Verbrechens beschuldiget, und von einem seiner Verwandten damit entschuldiget, daß er seines Verstandes nicht recht mächtig sei
Wie er das Ungewitter, welches ihm der Priester Strobylus zubereiten wollte, noch zu rechter Zeit ableitet – ein Arcanum, dessen Wirkung selten ausbleibt, wenn es recht appliciert wird

Was hört man vom Demokritus? – sagten die Abderiten unter einander. – »Schon sechs ganzer Wochen will niemand nichts von ihm gesehen haben – Man kann seiner nie habhaft werden; oder wenn man ihn endlich trifft, so sitzt er in tiefen Gedanken, und ihr seid eine halbe Stunde vor ihm gestanden, habt mit ihm gesprochen, und seid wieder weggegangen, ohne daß er es gewahr worden ist. Bald wühlt er in den Eingeweiden von Hunden und Katzen herum; bald kocht er Kräuter, oder steht mit einem großen Blasebalg in der Hand vor einem Zauberofen, und macht Gold, oder noch was ärgers. Bei Tage klettert er wie ein Gems die steilsten Klippen des Hämus hinan, um – Kräuter zu suchen, als ob es deren nicht genug in der Nähe gäbe; und bei Nacht, wo sogar die unvernünftigen Geschöpfe der Ruhe pflegen, wickelt er sich in einen scythischen Pelz und guckt, beim Castor! durch ein Blaserohr nach den Sternen.«

[211] »Ha, ha, ha! Man könnte sichs nicht närrischer träumen lassen! Ha, ha, ha!« (lachte der kurze dicke Ratsherr.)

»Es ist, bei allem dem, Schade um den Mann, sagte der Archon von Abdera; man muß gleichwohl gestehen, daß er viel weiß.«

»Aber was hat die Republik davon?« – versetzte ein Ratsherr, der sich mit Projecten, Verbesserungsvorschlägen, und Deductionen veralteter Ansprüche eine hübsche runde Summe von der Republik verdient hatte, und in Kraft dessen immer aus vollen Backen von seinen Verdiensten um das abderitische Wesen prahlte, wiewohl das abderitische Wesen sich durch alle seine Projecte, Deductionen und Verbesserungen nicht um hundert Drachmen besser befand.

»Es ist wahr, sprach ein andrer; mit seiner Wissenschaft läuft es auf lauter Spielwerk hinaus; nichts gründliches! In minimis maximus!«

»Und dann sein unerträglicher Stolz! – Seine Widersprechungssucht! – Sein ewiges Vernünfteln, und Tadeln, und Spötteln!«

»Und sein schlimmer Geschmack!«

»Von der Musik wenigstens versteht er nicht den Guguck«, sagte der Nomophylax.

»Vom Theater noch weniger«, rief Hyperbolus.

»Und von der hohen Ode gar nichts«, sagte Physignathus.

»Er ist ein Scharlatan, ein Windbeutel –«

»Und ein Freigeist obendrein, schrie der Priester Strobylus; ein ausgemachter Freigeist, ein Mensch der nichts glaubt, dem nichts heilig ist. Man kann ihm beweisen, daß er einer Menge von Fröschen die Zungen bei lebendigem Leibe ausgerissen hat.«

»Man spricht stark davon, daß er deren etliche sogar lebendig zergliedert habe«, sagte jemand.

»Ists möglich? rief Strobylus mit allen Merkmalen des äußersten Entsetzens; sollte dies bewiesen werden können? Gerechte Latona! Wozu diese verfluchte Philosophie einen Menschen nicht bringen kann! Aber, sollt' es wirklich bewiesen werden können?«

»Ich geb' es wie ich es empfangen habe«, erwiderte jener.

»Es muß untersucht werden, schrie Strobylus, hochpreislicher Herr Archon! – Wohlweise Herren! – ich fodre Sie hiermit im Namen der Latona auf! die Sache muß untersucht werden?«

[212] »Wozu eine Untersuchung? sagte Thrasyllus, einer von den Häuptern der Republik, ein naher Anverwandter und vermutlicher Erbe des Philosophen. Die Sache hat ihre Richtigkeit. Aber sie beweiset weiter nichts, als was ich leider! schon seit geraumer Zeit an meinem armen Vetter wahrgenommen habe, daß es mit seinem Verstande nicht so gut steht, als zu wünschen wäre. Demokritus ist kein schlimmer Mann; er ist kein Verächter der Götter; aber er hat Stunden, wo er nicht bei sich selber ist. Wenn er einen Frosch zergliedert hat, so wollt' ich für ihn schwören, daß er den Frosch für eine Katze ansah.«

»Desto schlimmer!« sagte Strobylus.

»In der Tat, desto schlimmer – für seinen Kopf, und für sein Hauswesen! – fuhr Thrasyllus fort. Der arme Mann ist in einem Zustande, wobei wir nicht länger gleichgültig bleiben können. Die Familie wird sich genötiget sehen, die Republik um Hülfe anzurufen. Er ist in keinerlei Betrachtung fähig, sein Vermögen selbst zu verwalten. Er wird bevogtet werden müssen.«

»Wenn dies ist –« sagte der Archon mit einer bedenklichen Miene – und hielt inne.

»Ich werde die Ehre haben, Ihre Herrlichkeit näher von der Sache zu unterrichten«, versetzte der Ratsherr Thrasyllus.

»Wie, Demokritus sollte nicht bei Verstande sein? rief einer aus den Anwesenden. Meine Herren von Abdera, bedenken Sie wohl was Sie tun! Sie sind in Gefahr, dem ganzen Griechenland ein großes Lachen zuzubereiten. Ich will meine Ohren verloren haben, wenn Sie einen verständigern Mann diesseits und jenseits des Hebrus finden, als diesen nämlichen Demokritus. Nehmen Sie sich in Acht, meine Herren! die Sache ist kitzlicher als Sie vielleicht denken.«

Unsre Leser erstaunen – aber wir wollen Ihnen sogleich aus dem Wunder helfen. Derjenige, der dies sagte, war kein Abderit. Er war ein Fremder aus Syrakus, und (was die Ratsherren von Abdera im Respect erhielt,) ein naher Verwandter des ältern Dionysius, der sich vor kurzem zum Fürsten dieser Republik aufgeworfen hatte.

»Sie können versichert sein, antwortete der Archon dem Syrakusaner, daß wir nicht weiter in der Sache gehen werden, als wir Grund finden.«

[213] »Ich nehme zu viel Anteil an der Ehre, welche der erlauchte Syrakusaner meinem Vetter durch seine gute Meinung erweist, sagte Thrasyllus, als daß ich nicht wünschen sollte, sie bestätigen zu können. Es ist wahr, Demokritus hat seine hellen Augenblicke; und in einem solchen wird ihn der Prinz gesprochen haben. Aber leider! es sind nur Augenblicke-«

»So müssen die Augenblicke in Abdera sehr lang sein«, fiel der Syrakusaner ein.

»Hoch- und Wohlweise Herren, sagte der Priester Strobylus; die Umstände mögen beschaffen sein wie sie wollen, bedenken Sie, daß die Rede von einem lebendig zergliederten Frosche ist! Die Sache ist wichtig, und ich dringe auf Untersuchung. Denn dafür sei Latona und Apollo, daß ich fürchten sollte –«

»Beruhigen Sie sich, Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon ins Wort – der (unter uns gesagt) selbst ein wenig im Verdachte stund, von den Fröschen der Latona nicht so gesund zu denken, wie man in Abdera davon denken mußte – Auf die erste Anregung, welche von Seiten der Vorsteher des geheiligten Teiches beim Senat gemacht werden wird, sollen die Frösche alle gebührende Genugtuung erhalten!«

Der Syrakusaner ließ den Demokritus unverzüglich von allem benachrichtigen, was in dieser Gesellschaft gesprochen worden war.

Laß den fettesten jungen Pfauen 44 im Hühnerhofe würgen, [214] und an den Bratspieß stecken, sagte Demokritus zu seiner Haushälterin, und benachrichtige mich wenn er gar ist.

Des nämlichen Abends, als sich Strobylus zu Tische setzte, ward der gebratne Pfau in einer silbernen Schüssel, als ein Geschenk des Demokritus, aufgetragen. Als man ihn öffnete, siehe, da war er mit hundert goldnen Dariken 45 gefüllt. Es muß doch nicht so gar übel mit dem Verstande des Mannes stehen, dachte Strobylus.

Das Mittel wirkte unverzüglich, was es wirken sollte. Der Oberpriester ließ sich den Pfauen herrlich schmecken, trank grichischen Wein dazu, strich die hundert Dariken in seinen Beutel, und dankte der Latona für die Genugtuung, die sie ihren Fröschen verschafft hatte.

»Wir haben alle unsre Fehler, sagte Strobylus des folgenden Tages in einer großen Gesellschaft. Demokritus ist zwar ein Philosoph; aber ich finde doch, daß er es so übel nicht meint, als ihn seine Feinde beschuldigen. Die Welt ist schlimm; man hat wunderliche Dinge von ihm erzählt; aber ich denke gern das Beste von jedermann. Ich hoffe, sein Herz ist besser als sein Kopf! Es soll nicht gar zu richtig in dem letztern sein; und ich glaub es selbst. Einem Menschen in solchen Umständen muß man viel zu gut halten. Ich bin gewiß, daß er der feinste Mann in ganz Abdera wäre, wenn ihm die Philosophie den Verstand nicht verdorben hätte!«

Strobylus fing durch diese Rede zwo Fliegen mit einer Klappe. Er entledigte sich seiner Verbindlichkeit gegen unsern Philosophen, da er von ihm als von einem guten Manne sprach; und machte sich ein Verdienst um den Ratsherrn Thrasyllus, indem er es auf Unkosten seines Verstandes tat. Woraus zu ersehen ist, daß der Priester Strobylus, bei aller seiner Einfalt, oder Dummheit, (wenn man es so nennen will,) ein schlauer Gast war.

[215]
Drittes Kapitel
Eine kleine Abschweifung in die Regierungszeit Schah Bahams des Weisen
Charakter des Ratsherrn Thrasyllus

Es gibt eine Art von Menschen, die man viele Jahre lang kennen und beobachten kann, ohne mit sich selbst einig zu werden, ob man sie in die Classe der schwachen oder der bösen Leute setzen soll. Kaum haben sie einen Streich gemacht, dessen kein Mensch von einiger Überlegung fähig zu sein scheint, so überraschen sie uns durch eine so wohl ausgedachte Bosheit, daß wir, mit allem guten Willen von ihrem Herzen das Beste zu denken, uns in der Unmöglichkeit befinden, die Schuld auf ihren Kopf zu legen. Gestern nahmen wir es für ausgemacht an, daß Herr Quidam so schwach von Verstande sei, daß es Sünde wäre, ihm seine Ungereimtheiten zu Verbrechen zu machen; heute überführt uns der Augenschein, daß der Mann zu übeltätig ist, um ein bloßer Dummkopf zu sein; wir sehen keinen Ausweg, ihn von der Schuld eines bösen Willens frei zu sprechen. Aber kaum haben wir hierüber unsre Partei genommen: so sagt oder tut er etwas, das uns wieder in unsre vorige Hypothese zurückwirft, oder wenigstens in eine der unangenehmsten Seelenlagen, in die Verlegenheit setzt, nicht zu wissen, was wir von dem Manne denken, oder – wenn unser Unstern will, daß wir mit ihm zu tun haben müssen – was wir mit ihm anfangen wollen.

Die geheime Geschichte von Agra sagt, daß der berühmte Schah-Baham sich einsmals mit einem seiner Omrahs in diesem Falle befunden habe. Der Omrah wurde beschuldigt, daß er Ungerechtigkeit ausgeübt habe.

So soll er gehangen werden, sagte Schah-Baham.

»Aber, Sire, (sagte man,) der arme Kurli ist ein so schwacher Kopf, daß noch die Frage ist, ob er den Unterschied zwischen Recht und Link deutlich genug einsieht, um zu wissen, wenn er eine Ungerechtigkeit begeht oder nicht.«

Wenn dies ist, (sagte Schah-Baham,) so schickt ihn ins Narrenhospital!

»Gleichwohl, Sire, da er Verstands genug hat, einem Wagen mit Heu auszuweichen, und bei einem Pfeiler, an dem er sich den [216] Kopf zerschnellen könnte, vorbeizugehen, weil er wohl merkt, daß der Pfeiler nicht bei ihm vorbeigehen würde –«

Merkt er das? rief der Sultan; beim Barte des Propheten! so sagt mir nichts weiter. Morgen soll man sehen, ob Justiz in Agra ist.

»Indessen gibt es Leute, die Eur. Majestät versichern werden, daß der Omrah – seine Dummheit aus genommen, die ihm zuweilen boshaft macht – der ehrlichste Mann von der Welt ist.«

»Um Vergebung! (fiel ein andrer von den Anwesenden Höflingen ein,) gerade das Gegenteil! Kurli hat alles, was noch gut an ihm ist, seiner Dummheit zu danken. Er würde zehnmal schlimmer sein als er ist, wenn er Verstand genug hätte, um zu wissen wie ers anfangen soll.«

Wißt ihr auch, meine Freunde, daß in allem, was ihr mir da sagt, kein Menschenverstand ist? versetzte Schah-Baham. Vergleicht euch mit euch selbst, wenn ich bitten darf! Kurli, spricht dieser, ist ein böser Mann, weil er dumm ist – Nein, spricht jener, er ist dumm weil er boshaft ist – Gefehlt, spricht der dritte; er würde ein schlimmer Mann sein, wenn er nicht so dumm wäre –

Wie wollt ihr, daß unser einer aus diesem Galimathias klug werde? Da entscheide mir einmal jemand, was ich mit ihm anfangen soll! Denn entweder ist er zu boshaft fürs Narrenspital, oder zu dumm für den Galgen.

»Dies ist es eben, sagte die Sultanin Darejan. Kurli ist zu dumm, um sehr boshaft zu sein; und doch würde Kurli noch weniger boshaft sein als er ist, wenn er weniger dumm wäre.«

Der Henker hole den rätselhaften Kerl! rief Schah-Baham. Da sitzen wir und zerbrechen uns die Köpfe, um ausfindig zu machen, ob er ein Esel oder ein Schurke sei; und am Ende werdet ihr sehen, daß er Beides ist. – Alles wohl überlegt, wißt ihr was ich tun will, Ich will ihn laufen lassen! Seine Bosheit und seine Dummheit werden einander schon die Waage halten. Er wird, in so fern er nur kein Omrah ist, weder durch diese noch jene großen Schaden tun. Die Welt ist weit; laß ihn laufen, Itimaddulet! aber vorher soll er kommen, und sich bei der Sultanin bedanken! Nur noch vor drei Minuten wollt ich ihm keine Feige um seinen Hals gegeben haben!

Man hat lange nicht ausfindig machen können, warum Schah-Baham [217] den Beinamen des Weisen in den Geschichtbüchern von Hindostan führt. Aber nach dieser Entscheidung kann es keine Frage mehr sein. Alle sieben Weisen aus Griechenland hätten den Knoten nicht besser auflösen können, als ihn Schah-Baham zerhieb.

Der Ratsherr Thrasyllus hatte das Unglück, einer von diesen (zum Glück der Welt) nicht so gar gewöhnlichen Menschen zu sein, in deren Kopf und Herzen Dummheit und Bosheit, nach dem Ausdruck des Sultans, einander die Waage halten. Seine Anschläge auf das Vermögen des Demokritus waren nicht von gestern her. Er hatte darauf gezählt, daß sein Verwandter, nach einer so langen Abwesenheit, gar nicht wiederkommen würde und auf diese Voraussetzung hatte er sich die Mühe gegeben, einen Plan zu machen, den die Wiederkunft des Philosophen auf eine sehr unangenehme Art vereitelte. Thrasyllus, dessen Einbildung schon daran gewöhnt war, das Erbgut des Demokritus für einen Teil seines eignen Vermögens anzusehen, konnte sich nun nicht so leicht gewöhnen, anders zu denken. Er betrachtete also den Demokritus als einen Räuber, der ihm das Seinige vorenthielt. Aber unglücklicher Weise hatte dieser, der Räuber – die Gesetze auf seiner Seite.

Der arme Thrasyllus durchsuchte alle Winkel in seinem Kopfe, ein Mittel gegen diesen ungünstigen Umstand zu finden; und suchte lange vergebens. Endlich glaubte er in der Lebensart des Philosophen einen Grund, auf den er bauen könnte, gefunden zu haben. Die Abderiten waren schon vorbereitet, dachte Thrasyllus; denn daß Demokritus ein Narr sei, war zu Abdera eine ausgemachte Sache. Es kam also nur noch darauf an, dem großen Rat legaliter darzutun, daß seine Narrheit von derjenigen Art sei, welche den damit Behafteten unfähig macht, sein eigner Herr zu sein. Dies hatte nun einige Schwierigkeiten. Mit seinem eignen Verstande würde Thrasyllus schwerlich durchgekommen sein! Aber in solchen Fällen finden seines gleichen für ihr Geld immer einen Spitzbuben, der ihnen seinen Kopf leiht; und dann ist es so viel, als ob sie selbst einen hätten.

[218]
Viertes Kapitel
Kurze, doch hinlängliche, Nachrichten von den abderitischen Sykophanten
Ein Fragment aus der Rede, worin Thrasyllus um die Bevogtung seines Vettern ansuchte

Es gab damals zu Abdera eine Art von Leuten, die sich von der Kunst nährten, schlimme Händel so zurechte zu machen, daß sie wie gut aussahen. Sie gebrauchten dazu nur zween Hauptkunstgriffe: entweder sie verfälschten das Factum, oder sie verdrehten das Gesetz. Weil diese Lebensart sehr einträglich war, so legten sich nach und nach eine so große Menge von müßigen Leuten darauf, daß die Pfuscher zuletzt die Meister verdrangen. Die Profession verlor dadurch von ihrem Ansehen. Man nannte diejenigen, die sich damit abgaben, Sykophanten, weil die meisten so arme Schelme waren, daß sie für eine Feige alles sagten was man wollte.

Indessen, da die Sykophanten wenigstens den zwanzigsten Teil der Einwohner von Abdera ausmachten, und die Leute gleichwohl nicht bloß von Feigen leben konnten: so reichten die gewöhnlichen Gelegenheiten, wobei die Rechtshändel zu entstehen pflegen, nicht mehr zu. Die Vorfahren der Sykophanten hatten gewartet, bis man sie um ihren Beistand ansprach. Aber bei dieser Methode hätten die neuern Sykophanten hungern oder graben müssen! Denn zu betteln war in Abdera nicht erlaubt; welches (im Vorbeigehen zu sagen) das einzige war, was die Fremden an der abderitischen Polizei zu loben fanden. Nun waren die Sykophanten zum Graben zu faul; folglich blieb den meisten kein ander Mittel übrig, als – die Händel, die sie führen wollten, selbst zu machen.

Weil die Abderiten Leute von sehr hitziger Gemütsart und von geringer Besonnenheit waren, so fehlt' es dazu nie an Gelegenheit. Jede Kleinigkeit gab also einen Handel; jeder Abderite hatte seinen Sykophanten; und so wurde wieder eine Art von Gleichgewicht hergestellt, wodurch sich die Profession um so mehr in Ansehen erhielt, weil die Nacheiferung große Talente entwickelte.

Abdera gewann dadurch den Ruhm, daß die Kunst Facta zu verfälschen und Gesetze zu verdrehen in Athen selbst nicht so hoch gebracht worden sei; und dieser Ruhm wurde in der Folge [219] dem Staat einträglich. Denn wer einen ungewöhnlich schlimmen Handel von einiger Wichtigkeit hatte, verschrieb sich einen abderitischen Sykophanten; und es müßte nicht natürlich zugegangen sein, wenn der Sykophant eher von einem solchen Clienten abgelassen hätte, bis nichts mehr an ihm zu saugen übrig war.

Doch dies war noch nicht der größte Vorteil, den die Abderiten von ihren Sykophanten zogen. Was diese Leute in ihren Augen am vorzüglichsten machte, war – die Bequemlichkeit, eine jede Schelmerei ausführen zu können, ohne sich selbst dabei bemühen zu müssen, oder sich mit der Justiz abzuwerfen. Man brauchte die Sache nur einem Sykophanten zu übergeben, so konnte man, gewöhnlicher Weise, des Ausgangs wegen ruhig sein. Ich sage gewöhnlicher Weise; denn freilich gab es, mitunter, auch Fälle, wo der Sykophant, nachdem er sich erst von seinem Clienten wohl hatte bezahlen lassen, gleichwohl heimlich dem Gegenteil zu seinem Rechte verhalf; aber dies geschah auch niemals, als wenn dieser wenigstens zween Drittel mehr gab als der Client.

Übrigens konnte man nichts erbaulichers sehen als das gute Vernehmen, worin zu Abdera die Sykophanten mit den Magistratspersonen stunden. Die einzigen, die sich übel bei dieser Eintracht befanden, waren – die Clienten. Bei allen andern Unternehmungen, so gefährlich und gewagt sie auch immer sein mögen, bleibt doch wenigstens eine Möglichkeit, mit ganzer Haut davon zu kommen. Aber ein abderitischer Client war immer gewiß, um sein Geld zu kommen, er mochte seinen Handel gewinnen oder verlieren. Nun rechteten die Leute zwar darum weder mehr noch weniger; allein ihre Justiz kam dabei in einen Ruf, gegen welchen nur Abderiten gleichgültig sein konnten. Denn es wurde zu einem Sprüchwort in Griechenland, demjenigen, dem man das Ärgste an den Hals wünschen wollte, einen Proceß in Abdera zu wünschen.

Aber, beinahe hätten wir über den Sykophanten vergessen, daß die Rede von den Absichten des Ratsherrn Thrasyllus auf das Vermögen unsers Philosophen, und von den Mitteln war, wodurch er seinen vorhabenden Raub unter dem Schutze der Gesetze zu begehen versuchen wollte.

[220] Um den geneigten Leser mit keiner langweiligen Umständlichkeit aufzuhalten, begnügen wir uns zu sagen, daß Thrasyllus die Sache seinem Sykophanten auftrug. Es war einer von den geschicktesten in ganz Abdera; ein Mann, der die gemeinen Kunstgriffe seiner Mitbrüder verachtete, und sich viel darauf zu gut tat, daß er, seitdem er sein edles Handwerk trieb, ein paar hundert schlimme Händel gewonnen hatte, ohne jemals eine einzige directe Lüge zu sagen. Er steifte sich auf lauter unleugbare Facta; aber seine Stärke lag in der Zusammensetzung und im Helldunkeln. Demokritus hätte in keine bessern Hände fallen können. Wir bedauren nur, daß wir, weil die Acten des ganzen Processes längst von Mäusen gefressen worden, außer Stande sind, jungen neuangehenden Sykophanten zum Besten, die Rede vollständig mitzuteilen, worin dieser Meister in der Kunst dem großen Rate zu Abdera bewies: daß Demokritus seines Vermögens entsetzt werden müsse. Alles, was von dieser Rede übrig geblieben, ist ein kleines Fragment, welches uns merkwürdig genug scheint, um, zur Probe, wie diese Herren eine Sache zu wenden pflegten, ein paar Blätter in dieser Geschichte einzunehmen.

»Die größten, die gefährlichsten, die unerträglichsten aller Narren (sagte er) sind die raisonnierenden Narren. Ohne weniger Narren zu sein als andre, verbergen sie dem undenkenden Haufen die Zerrüttung ihres Kopfes durch die Fertigkeit ihrer Zunge, und werden für weise gehalten, weil sie zusammenhangender rasen als ihre Mitbrüder im Tollhause. Ein ungelehrter Narr ist verloren, so bald es so weit mit ihm gekommen ist, daß er Unsinn spricht. Bei dem gelehrten Narren hingegen sehen wir gerade das Widerspiel. Sein Glück ist gemacht und sein Ruhm befestiget, so bald er Unsinn zu reden oder zu schreiben anfängt. Denn die meisten, wiewohl sie sich ganz eigentlich bewußt sind, daß sie nichts davon verstehen, sind entweder zu mißtrauisch gegen ihren eigenen Verstand, um gewahr zu werden, daß die Schuld nicht an ihnen liegt; oder zu dumm, um es zu merken, und also zu eitel, um zu gestehen, daß sie nichts verstanden haben. Je mehr also der gelehrte Narr Unsinn spricht, desto lauter schreien die dummen Narren über Wunder; desto emsiger verdrehen sie sich die Köpfe, um Sinn in dem hochtönenden Unsinn [221] zu finden. Jener, gleich einem durch den öffentlichen Beifall angefrischten Luftspringer, tut immer desto verwegnere Sätze, je mehr ihm zugeklatscht wird. Diese klatschen immer stärker, um den gelehrten Gaukler noch größere Wunder tun zu sehen. Und so geschieht es oft, daß der Schwindelgeist eines Einzigen ein ganzes Volk ergreift; und daß, so lange die Mode des Unsinns dauert, dem nämlichen Manne Altäre aufgerichtet werden, den man zu einer andern Zeit, ohne viele Umstände mit ihm zu machen, in einem Hospital versorgt haben würde. Glücklicher Weise für unsere gute Stadt Abdera ist es so weit mit uns noch nicht gekommen. Wir erkennen und bekennen alle aus einem Munde, daß Demokritus ein Sonderling, ein Phantast, ein Grillenfänger ist. Aber wir begnügen uns über ihn zu lachen; und dies ist es eben, worin wir fehlen. Itzt lachen wir über ihn; aber wie lange wird es währen, so werden wir anfangen, etwas Außerordentliches in seiner Narrheit zu finden? Vom Erstaunen zum Bewundern ist nur ein Schritt; und haben wir diesen erst getan – Götter! wer wird uns sagen können, wo wir aufhören werden? – Demokritus ist ein Phantast, sprechen wir itzt und lachen. Aber was für ein Phantast ist Demokritus, ein eingebildeter starker Geist; ein Spötter unsrer uralten Gebräuche und Einrichtungen; ein Müßiggänger, dessen Beschäftigungen dem Staate nicht mehr Nutzen bringen, als wenn er gar nichts täte; ein Mann, der Katzen zergliedert, der die Sprache der Vögel versteht, und den Stein der Weisen sucht; ein Nekromant, ein Schmetterlingsjäger, ein Sterngucker! – Und wir können noch zweifeln, ob er eine dunkle Kammer verdient? Was würde aus Abdera werden, wenn seine Narrheit endlich ansteckend würde? Wollen wir lieber die Folgen eines so großen Übels erwarten, als das einzige Mittel vorkehren, wodurch wir es verhüten könnten? Zu unserm Glücke gehen die Gesetze dieses Mittel an die Hand. Es ist einfach; es ist rechtmäßig; es ist unfehlbar. Ein dunkles Kämmerchen, Hochweise Väter, ein dunkles Kämmerchen! So sind wir auf einmal außer Gefahr, und Demokritus mag rasen so viel ihm beliebt.

Aber, sagen seine Freunde – denn so weit ist es schon mit uns gekommen, daß ein Mann, den wir alle für unsinnig halten, Freunde unter uns hat – Aber, sagen sie, wo sind die Beweise, [222] daß seine Narrheit schon zu jenem Grade gestiegen ist, den die Gesetze zu einem dunkeln Kämmerchen erfodern? – Wahrhaftig! wenn wir, nach allem was wir schon wissen, noch Beweise fodern: so wird er glühende Kohlen für Goldstücke ansehen, oder die Sonne am Mittag mit einer Laterne suchen müssen, wenn wir überzeugt werden sollen. Hat er nicht behauptet, daß die Liebesgöttin in Aethiopien schwarz sei? Hat er unsre Weiber nicht bereden wollen, nackend zu gehen wie die Weiber der Gymnosophisten? Versicherte er nicht neulich in einer großen Gesellschaft, die Sonne stehe still, die Erde überwälze sich dreihundert und fünf und sechzigmal des Jahrs durch den Tierkreis; und die Ursache, warum wir nicht ins Leere hinausfallen, sei, weil mitten in der Erde ein großer Magnet liege, der uns, gleich eben so viel Feilspänen, anziehe, wiewohl wir nicht von Eisen sind? Doch, ich will gerne zugeben, daß dies alles Kleinigkeiten sind. Man kann närrische Dinge reden, und kluge tun. Wollte Latona, daß der Philosoph sich in diesem Falle befände! Aber (mir ist leid, daß ich es sagen muß) seine Handlungen setzen einen so ungewöhnlichen Grad von Wahnwitz voraus, daß alle Niesewurz in der Welt zu wenig sein würde, das Gehirn zu reinigen, worin sie ausgeheckt werden. Um die Geduld des erlauchten Senats nicht zu ermüden, will ich aus unzähligen Beispielen nur zwei anführen, deren Gewißheit gerichtlich erwiesen werden kann, falls sie ihrer Unglaublichkeit wegen in Zweifel gezogen werden sollten.

Vor einiger Zeit wurden unserm Philosophen Feigen vorgesetzt, die, wie es ihm deuchte, einen ganz besondern Honiggeschmack hatten. Die Sache schien ihm von Wichtigkeit zu sein. Er stund vom Tisch auf, ging in den Garten, ließ sich den Baum zeigen, von welchem die Feigen gelesen worden waren, untersuchte den Baum von unten bis oben, ließ ihn bis an die Wurzeln aufgraben, erforschte die Erde, worin er stund, und (wie ich nicht zweifle) auch die Constellation, in der er gepflanzt worden war. Kurz, er zerbrach sich etliche Tage lang den Kopf darüber, wie und welchergestalt die Atomen sich mit einander vergleichen müßten, wenn eine Feige nach Honig schmecken sollte. Er ersann eine Hypothese, verwarf sie wieder; fand eine andre, dann die dritte und vierte; und verwarf alle wieder, weil [223] ihm keine scharfsinnig und gelehrt genug zu sein schien. Die Sache lag ihm so sehr am Herzen, daß er Schlaf und Essenslust darüber verlor. Endlich erbarmte sich seine Köchin über ihn. Herr, sagte die Köchin, wenn Sie nicht so gelehrt wären, so hätte Ihnen wohl längst einfallen müssen, warum die Feigen nach Honig schmeckten. – Und warum denn' fragte Demokritus. Ich legte sie, um sie frischer zu erhalten, in einen Topf, worin Honig gewesen war, sagte die Köchin; dies ist das ganze Geheimnis, und da ist weiter nichts zu untersuchen, dächt' ich – Du bist ein dummes Tier, rief der mondsüchtige Philosoph. Eine feine Erklärung, die du mir da gibst! Für Geschöpfe deines gleichen mag sie vielleicht gut genug sein; aber meinst du, daß wir andern uns mit so einfältigen Erklärungen befriedigen lassen, Gesetzt, die Sache verhielte sich wie du sagst; was geht das mich an? Dein Honigtopf soll mich wahrlich nicht abhalten, nachzuforschen, wie die nämliche Naturbegebenheit auch ohne Honigtopf hätte erfolgen können. Und so fuhr der weise Mann fort, der Vernunft und seiner Köchin zu Trotz, eine Ursache, die nicht tiefer als in einem Honigtopfe lag, in dem unergründlichen Brunnen zu suchen, worin (seinem Vorgehen nach) die Wahrheit verborgen liegt; bis eine andre Grille, die seiner Phantasie in den Wurf kam, ihn zu andern vielleicht noch ungereimteren Nachforschungen verleitete.

Doch, so lächerlich diese Anekdote ist, so ist sie doch nichts gegen die Probe von Klugheit, die er ablegte, als im abgewichenen Jahre die Oliven in Thracien und allen angrenzenden Gegenden mißgeraten waren. Demokritus hatte das Jahr zuvor (ich weiß nicht, ob durch Punctation oder andre magische Künste) herausgebracht: daß die Oliven, die damals sehr wohlfeil waren, im folgenden Jahre gänzlich fehlen würden. Ein solches Vor wissen würde hinlänglich sein, das Glück eines vernünftigen Mannes auf seine ganze Lebenszeit zu machen. Auch hatte es Anfangs das Ansehen, als ob Demokritus diese Gelegenheit nicht entwischen lassen wollte; denn er kaufte alles Öl im ganzen Lande zusammen. Ein Jahr darauf stieg der Preis des Öls, teils des Mißwachses wegen, teils weil aller Vorrat in Demokritus Händen war, viermal so hoch als es ihm gekostet hatte. Nun gehe ich allen Leuten, welche wissen, daß Viere viermal mehr als Eins [224] sind, zu erraten, was der Mann tat? – Können Sie sich vorstellen, daß er unsinnig genug war, seinen Verkäufern ihr Öl um den nämlichen Preis, wie er es von ihnen erhandelt hatte, zurückzugeben? 46 Wir wissen auch, wie weit die Großmut bei einem Menschen, der seiner Sinne mächtig ist, gehen kann. Aber diese Tat lag so weit außer den Grenzen der Glaubwürdigkeit, daß die Leute, die dabei gewannen, selbst die Köpfe schüttelten, und gegen den Verstand des Mannes, der einen Haufen Gold für einen Haufen Nußschalen ansah, Zweifel bekamen, die, zum Unglück für seine Erben, nur zu wohl gegründet waren.«

Fünftes Kapitel
Die Sache wird auf ein medicinisches
Gutachten ausgestellt
Der Senat läßt ein Schreiben
an den Hippokrates abgehen
Der Arzt kommt in Abdera an, erscheint vor Rat, wird vom Ratsherrn Thrasyllus zu einem Gastgebot gebeten, und hat – Langeweile
Ein Beispiel, daß ein Beutel voll Dariken nicht bei allen Leuten anschlägt

So weit geht das Fragment; und wenn man von einem so kleinen Teile auf das Ganze schließen könnte: so hätte der Sykophant allerdings mehr als einen Korb voll Feigen von dem Ratsherrn Thrasyllus verdient. Seine Schuld war es wenigstens nicht, wenn der hohe Senat von Abdera unsern Philosophen nicht zu einem dunkeln Kämmerchen verurteilte. Aber Thrasyllus hatte Mißgönner im Senate; und Meister Pfrieme, der inzwischen Zunftmeister worden war, behauptete mit großem Eifer: daß es wider [225] die Freiheit von Abdera laufen würde, einen Bürger für wahnwitzig zu erklären, eh' er von einem unparteiischen Arzte so befunden worden sei. »Wohl, rief Thrasyllus, meinetwegen kann man den Hippokrates selbst über die Sache sprechen lassen! Ich bins wohl zufrieden.«

Sagten wir nicht oben, daß die Dummheit des Ratsherrn Thrasyllus seiner Bosheit die Waage gehalten habe? – Es war ein dummer Streich von ihm, sich in einer so mißlichen Sache auf den Hippokrates zu berufen. Aber freilich fiel es ihm auch nicht ein, daß man ihn beim Worte nehmen würde.

Hippokrates, sagte der Archon, ist allerdings der Mann, der uns am besten aus diesem bedenklichen Handel ziehen könnte. Zu gutem Glück befindet er sich eben zu Thasos; vielleicht läßt er sich bewegen, zu uns herüber zu kommen, wenn wir ihn im Namen der Republik einladen lassen.

Thrasyllus entfärbte sich ein wenig, da er hörte, daß man Ernst aus der Sache machen wollte. Aber die Mehrheit der Stimmen fiel dem Archon bei. Man schickte unverzüglich einen Deputierten mit einem Einladungsschreiben 47 an den Arzt ab, und brachte den Rest der Session damit zu, sich über die Ehrenbezeugungen zu beratschlagen, womit man ihn empfangen wollte.

»Dies war doch so abderitisch nicht« – werden die Ärzte denken, die sich vielleicht unter unsern Lesern befinden. Aber wo sagten wir denn, daß die Abderiten gar nichts getan hätten, was auch einem vernünftigen Volke anständig sein würde? Indessen lag doch der wahre Grund, warum sie dem Hippokrates so viel Ehre erweisen wollten, keinesweges in der Hochachtung, die sie für ihn empfanden; sondern lediglich in der Eitelkeit, für Leute gehalten zu werden, die einen großen Mann zu schätzen wüßten. Und überdies, merkten wir nicht schon bei einer andern Gelegenheit an, daß sie von je her außerordentliche Liebhaber von Feierlichkeiten gewesen?

Die Abgeordneten hatten Befehl, dem Hippokrates nichts [226] weiter zu sagen, als daß der Senat von Abdera seiner Gegenwart und seines Ausspruchs in einer sehr wichtigen Angelegenheit vonnöten habe; und Hippokrates konnte sich, mit aller seiner Philosophie, nicht einbilden, was für eine wichtige Sache dies sein könnte. Denn wozu (dacht' er) haben sie nötig, ein Geheimnis daraus zu machen? Der Senat von Abdera kann doch schwerlich in Corpore mit einer Krankheit befallen sein, die man nicht gerne kund werden läßt?

Indessen entschloß er sich um so williger zu dieser Reise, weil er schon lange gewünscht hatte, unsern Philosophen persönlich kennen zu lernen. Aber wie groß war sein Erstaunen, da ihm nachdem er mit großem Gepränge eingeholt, und vor den versammelten Rat geführt worden war, – von dem regierenden Archon in einer wohlgesetzten Rede zu wissen gemacht wurde: »daß man ihn bloß darum nach Abdera berufen habe, um die Wahnsinnigkeit ihres Mitbürgers Demokritus zu untersuchen, und gutächtlich zu berichten, ob ihm noch geholfen werden könne, oder ob es nicht schon so weit mit ihm gekommen sei, daß man ihn ohne Bedenken für bürgerlich tot erklären könne?« –

Dies muß ein andrer Demokritus sein, dachte der Arzt Anfangs. Aber die Herren von Abdera ließen ihn nicht lange in Zweifel. Gut, gut, sprach er bei sich selbst: bin ich nicht in Abdera? Wie man auch so was vergessen kann!

Hippokrates ließ ihnen nichts von seinem Erstaunen merken. Er begnügte sich, den Senat und das Volk von Abdera zu loben, daß sie eine so große Empfindung von dem Wert eines Mitbürgers, wie Demokritus, hätten, um seine Gesundheit als eine Sache, woran dem gemeinen Wesen gelegen sei, anzusehen. »Wahnwitz (sagte er mit großer Ernsthaftigkeit) ist ein Punkt, worin die größten Geister und die größten Schöpse zuweilen zusammentreffen. Wir wollen sehen!«

Thrasyllus lud den Arzt zur Tafel ein, und hatte die Höflichkeit, ihm die feinsten Herren und die schönsten Frauen in der Stadt zur Gesellschaft zu gehen. Aber Hippokrates, der ein kurzes Gesicht und keine Lorgnette 48 hatte, wurde nicht gewahr, daß [227] die Damen schön waren; und so kam es denn (ohne Schuld der guten Geschöpfe, die sich, zum Überfluß, in die Wette herausgeputzt hatten), daß sie nicht völlig den Eindruck auf ihn machten, den sie sich sonst versprechen konnten. Es war wirklich Schade, daß er nicht besser sah. Für einen Mann von Verstande ist der Anblick einer schönen Frau allemal etwas sehr unterhaltendes. Und wofern die schöne Frau etwas dummes sagt, (welches den schönen Frauen zuweilen so gut begegnen soll als den häßlichen,) macht es einen merklichen Unterschied, ob man sie nur hört, oder ob man sie zugleich sieht. Denn im letzten Falle ist man immer geneigt, alles, was sie sagen kann, vernünftig, oder artig, oder wenigstens erträglich zu finden. Da die Abderitinnen diesen Vorteil bei dem kurzsichtigen Fremden verloren; da er genötiget war, von ihrer Schönheit durch den Eindruck, den sie auf seine Ohren machten, zu urteilen: so war freilich nichts natürlicher, als daß der Begriff, den er dadurch von ihnen bekam, demjenigen ziemlich ähnlich war, den sich ein Tauber mittelst eines Paars gesunder Augen von einem Concerte machen würde. –

»Wer ist die Dame, die itzt mit dem witzigen Herrn sprach?« fragte er den Thrasyllus leise. – Man nannte ihm die Gemahlin eines Matadors der Republik. – Er betrachtete sie nun mit neuer Aufmerksamkeit. Verzweifelt! (dacht er bei sich selbst,) daß ich mir die verwünschte Austerfrau nicht aus dem Kopfe bringen kann, die ich neulich vor meinem Hause zu Larissa mit einem molossischen Eseltreiber scherzen hörte.

Thrasyllus hatte geheime Absichten auf unsern Aeskulap. Seine Tafel war gut, sein Wein verführerisch, und zum Überfluß ließ er milesische Tänzerinnen kommen. Aber Hippokrates aß wenig, trank Wasser, und hatte in Aspasiens Hause zu Athen weit schönere Tänzerinnen gesehen. Es wollte alles nichts verfangen. Dem weisen Manne begegnete etwas, das ihm vielleicht in vielen Jahren nicht begegnet war: er hatte Langeweile, und es schien ihm nicht der Mühe wert, es den Abderiten zu verbergen.

Die Abderitinnen bemerkten also, ohne großen Aufwand von Beobachtungskraft, was er ihnen deutlich genug sehen ließ; und natürlicher Weise waren die Glossen, so sie darüber machten, nicht zu seinem Vorteil. Er soll sehr gelehrt sein, flisterten sie [228] einander zu. Schade, daß er nicht mehr Welt hat! – Was ich gewiß weiß, ist dies, daß mir der Einfall nie kommen wird, ihm zu Liebe krank zu werden, sagte die schöne Thryallis.

Thrasyllus machte inzwischen Betrachtungen von einer andern Art. So ein großer Mann dieser Hippokrates sein mag, dacht' er, so muß er doch seine schwache Seite haben. Aus den Ehrenbezeugungen, womit ihn der Senat überhäufte, schien er sich nicht viel zu machen. Das Vergnügen liebt er auch nicht. Aber ich wette, daß ihm ein Beutel voll neuer funkelnder Dariken diese sauertöpfische Miene vertreiben soll!

So bald die Tafel aufgehoben war, schritt Thrasyllus zum Werke. Er nahm den Arzt auf die Seite, und bemühte sich (unter Bezeugung des großen Anteils, den er an dem unglücklichen Zustande seines Verwandten nehme,) ihn zu überzeugen: daß die Zerrüttung seines Gehirns eine so kundbare und ausgemachte Sache sei, daß nichts, als die Pflicht, allen Formalitäten der Gesetze genug zu tun, den Senat bewogen habe, eine Tatsache, woran niemand zweifle, noch zum Überfluß durch den Ausspruch eines auswärtigen Arztes bestätigen zu lassen. »Da man Sie aber gleich wohl in die Mühe gesetzt hat, eine Reise zu uns zu tun, die Sie vermutlich ohne diese Veranlassung nicht unternommen haben würden: so ist nichts billiger, als daß derjenige, den die Sache am nächsten angeht, Sie wegen des Verlustes, den Sie durch Verabsäumung Ihrer Geschäfte dabei erleiden, in etwas schadlos halte. Nehmen Sie diese Kleinigkeit als ein Unterpfand einer Dankbarkeit an, von welcher ich Ihnen stärkere Beweise zu geben hoffe –«

Ein ziemlich runder Beutel, den Thrasyllus bei diesen Worten dem Arzt in die Hand drückte, brachte diesen aus der Zerstreuung zurück, womit er die Rede des Ratsherrn angehört hatte. »Was wollen Sie, daß ich mit diesem Beutel machen soll?« fragte Hippokrates mit einem Phlegma, welches den Abderiten völlig aus der Fassung setzte – »Sie wollten ihn vermutlich ihrem Haushofmeister geben. Sind Ihnen solche Zerstreuungen gewöhnlich, Wenn dies wäre, so wollt' ich Ihnen raten, Ihrem Arzte davon zu sagen – Aber Sie erinnerten mich vorhin an die Ursach, warum ich hier bin. Ich danke Ihnen dafür. Mein Aufenthalt kann nur sehr kurz sein; und ich darf den Besuch nicht länger[229] aufschieben, den ich, wie Sie wissen, dem Demokritus schuldig bin.« Mit diesen Worten machte der Aeskulap seine Verbeugung, und verschwand.

Der Ratmann hatte in seinem Leben nie so dumm ausgesehen als in diesem Augenblick. – Wie hätte sich aber auch ein abderitischer Ratsherr einfallen lassen sollen, daß ihm so etwas begegnen könnte? Dies sind doch keine Zufälle, auf die man sich gefaßt hält!

Sechstes Kapitel
Hippokrates legt einen Besuch beim Demokritus ab
Geheimnachrichten von dem uralten Orden der Kosmopoliten

Hippokrates traf, wie die Geschichte sagt, unsern Naturforscher bei der Zergliederung verschiedener Tiere an, deren innerlichen Bau und animalische Oekonomie er untersuchen wollte, um vielleicht auf die Ursachen gewisser Verschiedenheiten in ihren Eigenschaften und Neigungen zu kommen. Diese Beschäftigung bot ihnen reichen Stoff zu einer Unterredung an, welche den Demokritus nicht lang über die Person des Fremden ungewiß ließ. Ihr gegenseitiges Vergnügen über eine so unvermutete Zusammenkunft war der Größe ihres beiderseitigen Wertes gleich, aber auf Demokrits Seite um so viel lebhafter, je länger er in seiner Abgeschiedenheit von der Welt des Umgangs mit einem Wesen seiner Art hatte entbehren müssen.

Es gibt eine Art von Sterblichen, deren schon von den Alten hier und da unter dem Namen der Kosmopoliten Erwähnung getan wird, und die – ohne Verabredung, ohne Ordenszeichen, ohne Loge zu halten, und ohne durch Eidschwüre gefesselt zu sein – eine Art von Brüderschaft ausmachen, welche fester zusammenhängt als irgend ein anderer Orden in der Welt. Zween Kosmopoliten kommen, der eine von Osten, der andere von Westen, sehen einander zum erstenmale, und sind Freunde – nicht vermöge einer geheimen Sympathie, die vielleicht nur in Romanen zu finden ist; – nicht, weil beschworne Pflichten sie dazu verbinden – sondern, weil sie Kosmopoliten sind. In jedem andern Orden gibt es auch falsche oder wenigstens unwürdige Brüder; [230] in dem Orden der Kosmopoliten ist dies eine Unmöglichkeit, und dies ist, deucht uns, kein geringer Vorzug der Kosmopoliten vor allen andern Gesellschaften, Gemeinheiten, Innungen, Orden und Brüderschaften in der Welt. Denn wo ist eine von allen diesen, welche sich rühmen könnte, daß sich niemals kein Ehrsüchtiger, kein Neidischer, kein Geiziger, kein Wucherer, kein Verleumder, kein Prahler, kein Heuchler, kein Zweizüngiger, kein heimlicher Ankläger, kein Undankbarer, kein Kuppler, kein Schmeichler, kein Schmarotzer, kein Sklave, kein Mensch ohne Kopf oder ohne Herz, kein Pedant, kein Mückensäuger kein Verfolger, kein falscher Prophet, kein Heuchler, kein Gaukler, kein Plusmacher und kein Hofnarr in ihrem Mittel befunden habe? Die Kosmopoliten sind die einzigen, die sich dessen rühmen können. Ihre Gesellschaft hat nicht vonnöten, durch geheimnisvolle Ceremonien und abschreckende Gebräuche, wie ehmals die ägyptischen Priester, die Unreinen von sich auszuschließen. Diese schließen sich selbst aus; und man kann eben so wenig ein Kosmopolit scheinen, wenn man es nicht ist, als man sich ohne Talent für einen guten Sänger oder Geiger ausgeben kann. Der Betrug würde an den Tag kommen, so bald man sich hören lassen müßte. Die Art, wie die Kosmopoliten denken, ihre Grundsätze, ihre Gesinnungen, ihre Sprache, ihr Phlegma, ihre Wärme, sogar ihre Launen, Schwachheiten und Fehler, lassen sich unmöglich nachmachen, weil sie für alle, die nicht zu ihrem Orden gehören, ein wahres Geheimnis sind. Nicht ein Geheimnis, das von der Verschwiegenheit der Mitglieder, oder von ihrer Vorsichtigkeit, nicht behorcht zu werden, abhängt sondern ein Geheimnis, auf welches die Natur selbst ihren Schieier gedeckt hat. Denn die Kosmopoliten könnten es ohne Bedenken bei Trompetenschall durch die ganze Welt auskündigen lassen; sie dürften sicher darauf rechnen, daß außer ihnen selbst kein Mensch etwas davon begreifen würde. Bei dieser Bewandtnis der Sache ist nichts natürlicher, als das innige Einverständnis, und das gegenseitige Zutrauen, das sich unter zween Kosmopoliten sogleich in der ersten Stunde ihrer Bekanntschaft festsetzt. Pylades und Orestes waren, nach einer zwanzigjährigen Dauer ihrer durch alle Arten von Prüfungen und Opfern bewährten Freundschaft, nicht mehr Freunde, [231] als es jene von dem Augenblick an, da sie einander erkennen, sind. Ihre Freundschaft hat nicht vonnöten, durch die Zeit zur Reife gebracht zu werden; sie bedarf keiner Prüfungen; sie gründet sich auf das notwendigste aller Naturgesetze, auf die Notwendigkeit, uns selbst in demjenigen zu lieben, der uns am ähnlichsten ist.

Man würde etwas, wo nicht unmögliches, doch gewiß ungereimtes, von uns verlangen, wenn man erwartete, daß wir uns über das Geheimnis der Kosmopoliten deutlicher herauslassen sollten. Denn es gehört (wie wir deutlich genug zu vernehmen gegeben haben,) zur Natur der Sache, daß alles, was man davon sagen kann, ein Rätsel ist, wozu nur die Glieder dieses Ordens den Schlüssel haben. Das einzige, was wir noch hinzusetzen können, ist, daß ihre Anzahl zu allen Zeiten sehr klein gewesen, und daß sie, ungeachtet der Unsichtbarkeit ihrer Gesellschaft, einen Einfluß in die Dinge dieser Welt haben, dessen Wirkungen desto gewisser und dauerhafter sind, weil sie kein Geräusch machen, und meistens durch Mittel erzielt werden, deren scheinbare Direction die Augen der Menge irre macht. Wem dies ein neues Rätsel ist – den ersuchen wir lieber fortzulesen, als sich mit einer Sache, die ihn so wenig angeht, ohne Not den Kopf zu zerbrechen.

Demokritus und Hippokrates gehörten beide zu dieser wunderbaren und seltnen Art von Menschen. Sie waren also schon lange, wiewohl unbekannter Weise, die vertrautesten Freunde gewesen; und ihre Zusammenkunft glich viel mehr dem Wiedersehen nach einer langen Trennung, als einer neuangehenden Verbindung. Ihre Gespräche, nach welchen der Leser vielleicht begierig ist, waren vermutlich interessant genug, um der Mitteilung wert zu sein. Aber sie würden uns zu weit von den Abderiten entfernen, die der eigentliche Gegenstand dieser Geschichte sind. Alles, was wir davon zu sagen haben, ist: daß unsre Kosmopoliten den ganzen Abend und den größten Teil der Nacht in einer Unterredung zubrachten, wobei ihnen die Zeit sehr kurz wurde, und daß sie ihrer Gegenfüßler, der Abderiten, und ihres Senats, und der Ursache, warum sie den Hippokrates hatten kommen lassen, so gänzlich darüber vergaßen, als ob niemals so ein Ort und solche Leute in der Welt gewesen wären.

[232] Erst des folgenden Morgens, da sie, nach einem leichten Schlaf von wenigen Stunden, wieder zusammenkamen, um auf einer an die Gärten des Demokritus grenzenden Anhöhe der Morgenluft zu genießen, erinnerte der Anblick der unter ihnen im Sonnenglanz liegenden Stadt den Hippokrates, daß er in Abdera Geschäfte habe. »Kannst du wohl erraten, sagte er zu seinem Freunde, zu welchem Ende mich die Abderiten eingeladen haben?« –

Die Abderiten haben dich eingeladen, rief Demokritus. Ich hörte doch, diese Zeit her, von keiner Seuche, die unter ihnen wüte! Es ist zwar eine gewisse Erbkrankheit, mit der sie alle samt und sonders, bis auf sehr wenige, von alten Zeiten her behaftet sind; aber –

»Getroffen, getroffen, guter Demokritus! dies ist die Sache!« Du scherzest, erwiderte Demokritus; die Abderiten sollten zum Gefühl, wo es ihnen fehlte, gekommen sein? Ich kenne sie zu gut. Darin liegt eben ihre Krankheit, daß sie dies nicht fühlen.

»Indessen, sagte der Andre, ist nichts gewisser, als daß ich itzt nicht in Abdera wäre, wenn die Abderiten nicht von dem nämlichen Übel, wovon du sprichst, geplagt würden. Die armen Leute!«

Ach! nun versteh ich dich, versetzte der Philosoph – Deine Berufung konnte eine Wirkung ihrer Krankheit sein, ohne daß sie es wußten. Laß doch sehen! – Ha! da haben wirs. Ich wette alles in der Welt, sie haben dich kommen lassen, um dem ehrlichen Demokritus so viel Aderlässe und Niesewurz zu verordnen, als er vonnöten haben möchte, um ihres gleichen zu werden! Nicht wahr? –

»Du kennst deine Leute vortrefflich, wie ich sehe, Demokritus; und in der Tat, man muß so an ihre Narrheit gewöhnt sein wie du, um so kaltblütig davon zu sprechen.«

Als ob es nicht allenthalben Abderiten gäbe, sagte der Philosoph. –

»Aber Abderiten in diesem Grade! Vergib mir, wenn ich von deinem Vaterlande nicht mit so viel Nachsicht urteilen kann als du. Indessen versichre dich, sie sollen mich nicht umsonst zu sich berufen haben!«

[233]
Siebentes Kapitel
Hippokrates erteilt den Abderiten seinen gutächtlichen Rat
Große und gefährliche Bewegungen, die darüber im Senat entstehen, und wie, zum Glück für das abderitische Gemeinwesen, der Stundenweiser alles auf einmal wieder in Ordnung bringt

Die Zeit kam heran, wo der Aeskulap dem Senat von Abdera seinen Bericht erstatten sollte. Er kam, trat mitten unter die versammelten Väter, und sprach mit einer Wohlredenheit, die alle Anwesenden in Erstaunen setzte: »Friede sei mit Abdera! Edle, Veste, Fürsichtige und Weise, liebe Herren und Abderiten! Gestern lobte ich Sie wegen Ihrer Fürsorge für das Gehirn Ihres Mitbürgers Demokritus; und heute rate ich Ihnen wohlmeinend, diese Fürsorge auf Ihre ganze Stadt und Republik zu erstrecken. Gesund an Leib und Seele zu sein, ist das höchste Gut, das Sie sich selbst, Ihren Kindern und Ihren Bürgern verschaffen können; und dies wirklich zu tun, ist die erste Ihrer obrigkeitlichen Pflichten. So kurz mein Aufenthalt unter Ihnen ist, so ist er doch schon lang genug, um mich zu überzeugen, daß sich die Abderiten nicht so wohl befinden, als es zu wünschen wäre. Ich bin zwar zu Cos geboren, und wohne bald zu Athen, bald zu Larissa, bald anderswo; itzt zu Abdera, morgen vielleicht auf dem Wege nach Byzanz. Aber ich bin weder ein Coer noch ein Athenienser, weder ein Larisser noch Abderite; ich bin ein Arzt. So lange es Kranke auf dem Erdhoden gibt, ist meine Pflicht, so viel Gesunde zu machen als ich kann. Die gefährlichsten Kranken sind die, die nicht wissen, daß sie krank sind; und dies ist, wie ich finde, der Fall der Abderiten. Das Übel liegt für meine Kunst zu tief; aber was ich tun kann, um die Heilung vorzubereiten, ist dies! Senden Sie mit dem ersten guten Winde sechs große Schiffe nach Anticyra. Meinethalben können sie, mit welcherlei Waren es den Abderiten beliebt, dahin befrachtet werden; aber zu Anticyra lassen Sie alle sechs Schiffe so viel Niesewurz laden, als sie tragen können, ohne zu sinken. Man kann zwar auch Niesewurz aus Galatien haben, die etwas wohlfeiler ist; aber die von Anticyra ist die beste. Wenn die Schiffe angekommen sein werden: so lassen Sie das gesamte Volk auf Ihrem großen Markte versammeln; stellen Sie, mit ihrer ganzen Priesterschaft an der [234] Spitze, einen feierlichen Umgang zu allen Tempeln in Abdera an, und bitten Sie die Götter, daß sie dem Senat und dem Volke zu Abdera geben möchten, was dem Senat und dem Volke zu Abdera fehlt. Sodann kehren Sie auf den Markt zurück, und teilen den sämtlichen Vorrat von Niesewurz, auf gemeiner Stadt Unkosten, unter alle Bürger aus; auf jeden Kopf sieben Pfund; nicht zu vergessen, daß den Ratsherren, welche (außerdem was sie für sich selbst gebrauchen) noch für so viele andre Verstand haben müssen, eine doppelte Portion gereicht werde! Die Portionen sind stark, ich gesteh es; aber eingewurzelte Übel sind hartnäckig, und können nur durch anhaltenden Gebrauch der Armei geheilt werden. Wenn Sie nun dieses Vorbereitungsmittel, nach der Vorschrift, die ich Ihnen geben will, durch die erforderliche Zeit gebraucht haben werden: dann überlasse ich Sie einem andern Arzte. Denn, wie ich sagte, die Krankheit der Abderiten liegt zu tief für meine Kunst. Ich kenne funfzig Meilen rings um Abdera nur einen einzigen Mann, der Ihnen von Grund aus helfen könnte, wenn Sie sich geduldig und folgsam in seine Cur begeben wollten. Der Mann nennt sich Demokritus, des Damasippus Sohn. Stoßen Sie sich nicht an dem Umstande, daß er zu Abdera geboren ist; er ist darum kein Abderit, dies können Sie mir auf mein Wort glauben; oder wenn Sie mir nicht glauben wollen, so fragen Sie den Apollo zu Delphi. Es ist ein gutherziger Mann, der sich ein Vergnügen daraus machen wird, Ihnen seine Dienste zu leisten. Und hiermit, meine Herren und Bürger von Abdera, empfehle ich Sie und Ihre Stadt den Göttern. Verachten Sie meinen Rat nicht, weil ich ihn umsonst gebe; es ist der beste, den ich jemals einem Kranken, der sich für gesund hielt, gegeben habe!«

Als Hippokrates dies gesagt hatte, machte er dem Senat eine höfliche Verbeugung, und ging seines Weges.

Niemals – sagt der Geschichtschreiber Hekatäus, ein desto glaubwürdigerer Zeuge, weil er selbst ein Abderite war 49 – niemals hat man zweihundert Menschen, alle zugleich, in einer so sonderbaren Attitüde gesehen, als diejenige des Senats von Abdera [235] in diesem Augenblicke war; es müßten nur die zweihundert Phönicier sein, welche Perseus, durch den Anblick des Kopfs der Medusa, auf einmal in eben so viele Statuen verwandelte, als ihm ihr Anführer Phineus seine Geliebte und teuer erworbene Andromeda mit Gewalt wieder abjagen wollte 50. In der Tat hatten sie alle mögliche Ursachen von der Welt, auf etliche Minuten versteinert zu werden. Beschreiben zu wollen, was in ihren Seelen vorging, würde vergebliche Mühe sein. Nichts ging in ihnen vor; ihre Seelen waren so versteinert als ihre Leiber. Mit dummem sprachlosen Erstaunen sahen sie alle nach der Türe, durch welche der Aeskulap sich zurückgezogen hatte; und auf jedem Gesichte drückte sich zugleich die angestrengte Bemühung und das gänzliche Unvermögen aus, etwas von dieser Begebenheit zu begreifen. Endlich schienen sie nach und nach, einige früher, einige später, wieder zu sich selbst zu kommen. Sie sahen einander mit großen Augen an; funfzig Mäuler öffneten sich zugleich zu der nämlichen Frage, und fielen wieder zu, weil sie sich aufgetan hatten, eh sie wußten was sie fragen wollten. Zum Henker, meine Herren, rief endlich der Zunftmeister Pfrieme, ich glaube gar, der Quacksalber hat uns mit seiner doppelten Portion Niesewurz zum Narren! – Ich versah mir gleich vom Anfang nichts gutes zu ihm, sagte Thrasyllus. – Meiner Frau wollt' er gestern gar nicht einleuchten, sprach der Ratsherr Smilax. – Ich dachte gleich es würde übel ablaufen, wie er von den sechs Schiffen sprach, die wir nach Anticyra senden sollten, sagte ein Anderer. – Und die verdammte Ernsthaftigkeit, womit er uns alles das vordeclamierte, rief ein Dritter; ich gestehe, daß ich mir gar nicht einbilden konnte, wo es hinaus laufen würde. – Ha, ha, ha, ein lustiger Zufall, so wahr ich ehrlich bin, sagte der kleine dicke Ratsherr, indem er sich vor Lachen den Bauch hielt: gestehen wir, daß wir fein abgeführt sind! Ein verzweifelter Streich! Das hätt' uns nicht begegnen sollen! Ha, ha, ha! – Aber wer konnte sich auch zu einem solchen Manne so etwas versehen? rief der Nomophylax. – Ganz gewiß ist er auch einer von euern Philosophen, sagte Meister Pfrieme; der Priester Strobylus hat wahrlich so unrecht nicht; wenn es nicht wider unsre Freiheiten wäre, [236] so wollt' ich der erste sein, der darauf antrüge, daß man alle diese Spitzköpfe zum Lande hinaus jagte.

»Meine Herren, fing itzt der Archon an; die Ehre der Stadt Abdera ist angegriffen, und anstatt daß wir hier sitzen und uns verwundern, oder Glossen machen, sollten wir mit Ernst darauf denken, was uns in einer so kitzlichen Sache zu tun gezieme. Vor allen Dingen sehe man, wo Hippokrates hingekommen ist!«

Ein Ratsdiener, der zu diesem Ende abgeschickt wurde, kam nach einer ziemlichen Weile mit der Nachricht zurück, daß er nirgends mehr anzutreffen sei.

Ein verfluchter Streich, riefen die Ratsherren aus einem Munde; wenn er uns nun entwischt wäre! – Er wird doch kein Hexenmeister sein, sagte der Zunftmeister Pfrieme, indem er nach einem Amulet sah, das er gewöhnlich zu seiner Sicherheit gegen böse Geister und böse Augen bei sich zu tragen pflegte.

Bald darauf wurde berichtet, daß man den fremden Herrn auf seinem Maulesel ganz gelassen hinter dem Tempel der Dioskuren dem Landgute des Demokritus zu traben gesehen habe.

»Was ist nun zu tun, meine Herren?« sagte der Archon.

Ja – Allerdings! – was nun zu tun ist – was nun zu tun ist? – dies ist eben die Frage! riefen die Ratsherren indem sie einander ansahen. Nach einer langen Pause zeigte sich, daß die Herren nicht wußten, was nun zu tun war.

Der Mann steht in großem Ansehen beim Könige von Macedonien, fuhr der Archon fort; er wird im ganzen Griechenlande wie ein zweiter Aeskulap verehrt! Wir könnten uns leicht in böse Händel verwickeln, wenn wir einer, wiewohl gerechten, Empfindlichkeit Gehör geben wollten. Bei allem dem liegt mir die Ehre von Abdera-

Ohne Unterbrechung, Herr Archon! fiel ihm der Zunftmeister Pfrieme ein; die Ehre und Freiheit von Abdera kann niemanden näher am Herzen liegen als mir selbst. Aber, alles wohl überlegt, seh' ich wahrlich nicht, was die Ehre der Stadt mit dieser Begebenheit zu tun haben kann. Dieser Harpokratus oder Hypokritus, wie er sich nennt, ist ein Arzt; und ich habe mein Tage gehört, daß ein Arzt die ganze Welt für ein großes Siechhaus, und alle Menschen für seine Kranken ansieht. Ein jeder [237] spricht und handelt wie ers versteht; und was einer wünscht, das glaubt er gerne. Hypokritus möcht' es, denk' ich, wohl leiden, wenn wir alle krank wären, damit er desto mehr zu heilen hätte. Nun denkt er, wenn ich sie nur erst dahin bringen kann, daß sie meine Arzeneien einnehmen, dann sollen sie mir krank genug werden. Ich heiße nicht Meister Pfrieme, wenn dies nicht das ganze Geheimnis ist.

Mein Seele! getroffen, rief der kleine dicke Ratsherr; weder mehr noch weniger! Der Kerl ist so närrisch nicht! – Ich wette, wenn er kann, so hängt er uns alle mögliche Flüsse und Fieber an den Hals, bloß damit er den Spaß habe, uns für unser Geld wieder gesund zu machen! Ha, ha, ha!

»Aber vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Ratsherrn! rief einer von den Ältesten, dessen Gehirn, nach seiner Miene zu urteilen, schon völlig ausgetrocknet sein mochte. Bei allen Fröschen der Latona, dies ist zu arg! Man muß beinahe auf den Argwohn kommen, daß etwas mehr dahinter steckt!«

Vierzehn Pfund Niesewurz auf jeden Ratsherrn! wiederholte Meister Pfrieme, und lachte aus vollem Halse-

Und für jeden Zunftmeister, setzte Smilax mit einem bedeutenden Ton hinzu.

Das bitt ich mir aus, rief Meister Pfrieme; er sagte kein Wort von Zunftmeistern.

Aber das versteht sich doch wohl von selbst, versetzte jener; Ratsherren und Zunftmeister, Zunftmeister und Ratsherren; ich sehe nicht, warum die Herren Zunftmeister hierin was besonders haben sollten.

Wie, was? rief Meister Pfrieme mit großem Eifer; ihr seht nicht, was die Zunftmeister vor den Ratsherren besonders haben? – Meine Herren, Sie haben es gehört! – Herr Stadtschreiber, ich bitt' es zum Protocoll zu nehmen.

Die Zunftmeister stunden alle mit großem Gebrumme von ihren Sitzen auf.

»Sagt' ich nicht, rief der alte hypochondrische Ratsmeister, daß etwas mehr hinter der Sache stecke? Ein geheimer Anschlag gegen die Aristokratie – Aber die Herren haben sich ein wenig zu früh verraten.«

Gegen die Aristokratie? schrie Pfrieme mit verdoppelter [238] Stimme; gegen welche Aristokratie? Zum Henker, Herr Ratsmeister, seit wenn ist Abdera eine Aristokratie? Sind wir Zunftmeister etwan nur an die Wand hingemalt? Stellen wir nicht das Volk vor? Haben wir nicht seine Rechte und Freiheiten zu vertreten? Herr Stadtschreiber, zum Protocoll, daß ich gegen alles Widrige protestiere, und dem löblichen Zunftmeistertum sowohl als gemeiner Stadt Abdera-

Protestiert! protestiert! schrien die Zunftmeister alle zusammen.

Reprotestiert! reprotestiert! schrien die Ratsherren.

Der Lerm nahm überhand. »Meine Herren, rief der regierende Archon, so laut er konnte, was für ein Schwindel hat Sie überfallen? Ich bitte, bedenken Sie, wer Sie sind, und wo Sie sind! Was werden die Eierweiber und Obsthändlerinnen da unten von uns denken, wenn sie uns wie die Zahnbrecher schreien hören?«

Aber die Stimme der Weisheit verlor sich ungehört in dem betäubenden Getöse. Niemand hörte sein eigen Wort.

Zu gutem Glücke war es seit undenklichen Zeiten in Abdera gebräuchlich, auf den Punct zwölf Uhr durch die ganze Stadt zu, Mittag zu essen; und, vermöge der Ratsordnung mußte, so wie eine Stunde abgelaufen war, eine Art von Herold vor die Ratsstube treten, und die Stunde ausrufen.

Gnädige Herren, rief der Herold mit der Stimme des homerischen Stentors, die zwölfte Stunde ist vorbei!

»Stille; der Stundenrufer!« – Was rief er? – »Zwölfe, meine Herren, zwölfe vorbei!« – Schon zwölfe? – Schon vorbei? So ist es hohe Zeit!

Der größte Teil der gnädigen Herren war zu Gaste gebeten. Das glückliche Wort Zwölfe versetzte sie also auf einmal in eine Reihe angenehmer Vorstellungen, die mit dem Gegenstand ihres Zankes nicht in der mindesten Verbindung stunden. Schneller als die Figuren in einem Guckkasten sich verwandeln, stund eine große Tafel, mit einer Menge niedlicher Schüsseln bedeckt, vor ihrer Stirne, ihre Nasen weideten sich zum voraus an Düften von bester Vorbedeutung, ihre Ohren hörten das Geklapper der Teller, ihre Zunge kostete schon die leckerhaften Brühen, in deren Erfindung die abderitischen Köche mit einander wetteiferten: kurz, das unwesentliche Gastmahl beschäftigte alle Kräfte [239] ihrer Seelen; und auf einmal war die Ruhe des abderitischen Staats wieder hergestellt.

»Wo werden Sie heute speisen?« – Bei Polyphonten – »Dahin bin ich auch geladen.« – Ich erfreue mich über die Ehre Ihrer Gesellschaft – »Sehr viel Ehre für mich!« – Was werden wir diesen Abend für eine Komödie haben? – »Die Andromeda des Euripides.« – Also ein Trauerspiel! – »O! mein Lieblingsstück! – Und eine Musik! Unter uns, der Nomophylax hat etliche Chöre selbst gesetzt; Sie werden Wunder hören!«

Unter so sanften Gesprächen erhuben sich die Väter von Abdera, in eilfertigem, aber friedsamen Gewimmel, vom Rathause; zu großer Verwunderung der Eierweiber und Obsthändlerinnen, welche kurz zuvor die Wände der Ratsstube von echtem thracischem Geschrei widerhallen gehört hatten.

Alles dies hatte man dir zu danken, wohltätiger Stundenrufer! Ohne deine glückliche Dazwischenkunft würde wahrscheinlicher Weise der Zank der Ratsherren und Zunftmeister, gleich dem Zorn des Achilles (so lächerlich auch seine Veranlassung war), in ein Feuer ausgebrochen sein, welches die schrecklichste Zerrüttung, wo nicht gar den Umsturz der Republik Abdera hätte verursachen können. – Wenn jemals ein Abderit mit einer öffentlichen Ehrensäule belohnt zu werden verdient hatte, so war es gewiß dieser Stundenrufer! Zwar muß man gestehen, der große Dienst, den er in diesem Augenblicke seiner Vaterstadt leistete, verliert seine ganze Verdienstlichkeit durch den einzigen Umstand, daß er nur zufälliger Weise nützlich wurde. Denn der ehrliche Mann dachte, da er zur gesetzten Zeit maschinenmäßig Zwölfe rief, an nichts weniger als an die unabsehbaren Übel, die er dadurch von dem gemeinen Wesen abwendete. Aber dagegen muß man auch bedenken, daß seit undenklichen Zeiten kein Abderite sich auf andre Weise um sein Vaterland verdient gemacht hatte. Wenn es sich daher zutrug, daß sie etwas verrichteten, das durch irgend einen glücklichen Zufall der Stadt nützlich wurde, so dankten sie den Göttern dafür; denn sie fühlten wohl, daß sie als bloße Werkzeuge oder gelegentliche Ursachen mitgewirkt hatten. Indessen ließen sie sich doch das Verdienst des Zufalls so gut bezahlen, als ob es ihr eigenes gewesen wäre; oder richtiger zu reden: eben weil sie sich keines eignen [240] Verdiensts dabei bewußt waren, ließen sie sich das Gute, was der Zufall unter ihrem Namen tat, auf eben den Fuß bezahlen, wie ein Mauleseltreiber den täglichen Verdienst seines Esels einzieht.

Es versteht sich, daß die Rede hier bloß von Archonten, Ratsherren und Zunftmeistern ist. Denn der ehrliche Stundenrufer mochte sich Verdienste um die Republik machen so viel oder so wenig er wollte; er bekam seine sechs Pfennige des Tags in guter abderitischer Münze, und – Gott befohlen!

[241]
Drittes Buch
Erstes Kapitel
Die Abderiten machen sich fertig,
in die Komödie zu gehen

Es war bei den Ratsherren von Abdera eine alte hergebrachte Gewohnheit und Sitte, die bei dem Rat verhandelten Materien unmittelbar darauf bei Tische (es sei nun daß sie Gesellschaft hatten, oder mit ihrer Familie allein speiseten) zu recapitulieren und zu einer reichen Quelle entweder von witzigen Einfällen und spaßhaften Anmerkungen, oder von patriotischen Stoßseufzern, Klagen, Wünschen, Träumen, Aussichten u.d.gl. zu machen; zumal wenn etwa in dem abgefaßten Ratsschluß die Verschwiegenheit ausdrücklich empfohlen worden war. Aber diesesmal wiewohl das Abenteuer der Abderiten mit dem Fürsten der Ärzte sonderbar genug war, um einen Platz in den Jahrbüchern ihrer Republik zu verdienen – wurde an allen Tafeln, wo ein Ratsherr oder Zunftmeister obenan saß, des Hippokrates und Demokritus eben so wenig gedacht, als ob gar keine Männer dieses Namens in der Welt gewesen wären. In diesem Stücke hatten die Abderiten einen ganz besondern Public-Spirit, und ein feineres Gefühl, als man ihnen in Betracht ihres gewöhnlichen Eigendünkels hätte zutrauen sollen. In der Tat konnte ihre Geschichte mit dem Hippokrates, man hätte sie wenden und colorieren mögen wie man gewollt hätte, auf keine Art, die ihnen Ehre machte, erzählt werden. Das Sicherste war also, die Sache auf sich beruhen zu lassen, und zu schweigen.


Die heutige Komödie machte also diesmal, wie gewöhnlich, den Hauptgegenstand der Unterhaltung aus. Denn seitdem sich die Abderiten, nach dem Beispiel ihres großen Musters, der Athenienser, mit einem eignen Theater versehen hatten, wurde [242] in Gesellschaften, so bald die übrigen Gemeinplätze – Wetter, Putz, Stadtneuigkeiten und Scandala – erschöpft waren, unfehlbar entweder von der Komödie, die gestern gespielt worden, oder von der Komödie, die heute gespielt werden sollte, gesprochen – und die Herren von Abdera wußten sich, besonders gegen Fremde, nicht wenig damit, daß sie ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen eine so schöne Gelegenheit zu Verfeinerung ihres Witzes und Geschmacks, einen so unerschöpflichen Stoff zu unschuldigen Gesprächen in Gesellschaften, und besonders dem schönen Geschlecht ein so herrliches Mittel gegen die Leib und Seele verderbliche Langeweile verschafft hätten.

Wir sagen es nicht um zu tadeln, sondern zum verdienten Lob der Abderiten, daß sie ihr Komödienwesen für wichtig genug hielten, die Aufsicht darüber einem besondern Ratsausschuß zu übergeben, dessen Vorsitzer immer der zeitige Nomophylax, folglich einer der obersten Väter des Vaterlandes, war. Dies war unstreitig sehr löblich. Alles, was man mit Recht an dieser Einrichtung aussetzen konnte, war, daß es darum nicht um ein Haar besser mit ihrem Komödienwesen stund. Gleichwohl war dies nicht mehr, als wessen man sich zu Abdera versehen haben wird. Weil nun die Wahl der Stücke von dieser Ratsdeputation abhing, und die Erfindung der Komödienzettel unter die ansehnliche Menge von Erfindungen gehört, die den Vorzug der Neuern vor den Alten außer allen fernern Widerspruch setzen: so wußte das Publicum – ausgenommen wenn ein neues abderitisches Originalstück aufs Theater gebracht wurde – selten vorher, was gespielt werden würde. Denn wiewohl die Herren von der Deputation eben kein Geheimnis aus der Sache machten: so mußte sie doch, ehe sie publik wurde, durch so manchen schiefen Mund, und durch so viele dicke Ohren gehen, daß fast immer ein Quid pro quo herauskam, und die Zuhörer, wenn sie zum Exempel die Antigone des Sophokles erwarteten, die Erigone des Physignathus für lieb und gut nehmen mußten – woran sie es dann auch selten oder nie ermangeln ließen.

Was werden sie uns heute für ein Stück geben, war also itzt die allgemeine Frage in Abdera – eine Frage, die an sich selbst die unschuldigste Frage von der Welt war, aber durch einen einzigen kleinen Umstand erzabderitisch wurde; nämlich, daß die Antwort[243] schlechterdings von keinem praktischen Nutzen sein konnte. Denn die Leute gingen in die Komödie, es mochte ein altes oder neues, gutes oder schlechtes Stück gespielt werden.

Eigentlich zu reden gab es für die Abderiten gar keine schlechte Stücke; denn sie nahmen alles für gut; und eine natürliche Folge dieser unbegrenzten Gutmütigkeit war, daß es für sie auch keine gute Stücke gab. Schlecht oder gut, was sie amüsierte, war ihnen recht, und alles was wie ein Schauspiel aussah, amüsierte sie. Jedes Stück also, so elend es war, und so elend es gespielt worden sein mochte, endigte sich mit einem Geklatsch, das gar nicht aufhören wollte. Alsdann ertönte auf einmal durchs ganze Parterre ein allgemeines »Wie hat Ihnen das heutige Stück gefallen?« und wurde stracks durch ein eben so allgemeines »Sehr wohl« beantwortet.

So geneigt auch unsre werten Leser sein mögen, sich nicht leicht über etwas zu verwundern, was wir ihnen von den Idiotismen unsers thracischen Athens erzählen können: so ist doch dieser eben erwähnte Zug etwas so ganz besonderes, daß wir besorgen müssen, keinen Glauben zu finden, wofern wir ihnen nicht begreiflich machen, wie es zugegangen, daß die Abderiten mit einer so großen Neigung zu Schauspielen es gleichwohl zu einer so hohen unbeschränkten dramatischen Apathie oder vielmehr Hidypathie bringen konnten, daß ihnen ein elendes Stück nicht nur kein Leiden verursachte, sondern sogar eben – (oder doch beinahe eben) so wohl tat als ein gutes. Man wird uns, wenn wir das Rätsel auflösen sollen, eine kleine Ausschweifung über das ganze abderitische Theaterwesen erlauben müssen. Wir sehen uns aber genötiget, uns von dem günstigen und billig denkenden Leser vorher eine kleine Gnade auszubitten, an deren großmütiger Gewährung ihm selbst am Ende noch mehr gelegen ist als uns. Und dies ist, sich – aller widrigen Eingebungen seines Kakodämons ungeachtet – ja nicht einzubilden, als ob hier, unter verdeckten Namen, die Rede von den Theaterdichtern, den Schauspielern, und dem Parterre seiner lieben Vaterstadt die Rede sei. Wir leugnen zwar nicht, daß die ganze Abderitengeschichte in gewissen Betracht einen doppelten Sinn habe; aber ohne den Schlüssel zu Aufschließung des geheimen Sinnes, den unsere Leser von uns selbst erhalten sollen, würden sie Gefahr laufen, [244] alle Augenblicke falsche Deutungen zu machen. Bis dahin also ersuchen wir Sie


Per genium, dextramque, Deosque Penates,


sich aller unnachbarlichen und unfreundlichen Anwendungen zu enthalten, und alles was folgt, so wie dies ganze Buch, in keiner andern Gemütsverfassung zu lesen, als womit sie irgend eine andre alte oder neue unparteiische Geschichtserzählung lesen würden.

Zweites Kapitel
Nähere Nachrichten von dem
abderitischen Nationaltheater
Geschmack der Abderiten
Charakter des Nomophylax Gryllus

Als die Abderiten beschlossen hatten, ein stehendes Theater zu haben, wurde zugleich aus patriotischen Rücksichten festgesetzt, daß es ein Nationaltheater sein sollte. Da nun die Nation, wenigstens dem größten Teile nach, aus Abderiten bestund: so mußte ihr Theater notfolglich ein abderitisches werden. Dies war natürlicherweise die erste und unheilbare Quelle alles Übels.


Der Respect, den die Abderiten für die heilige Stadt der Minerva, als ihre vermeinte Mutter, trugen, brachte es zwar mit sich, daß die Schauspiele der sämtlichen atheniensischen Dichter, nicht weil sie gut waren, (denn das war eben nicht immer der Fall,) sondern weil sie von Athen kamen, in großem Ansehen bei ihnen stunden. Und Anfangs konnte auch, aus Mangel einer genugsamen Anzahl einheimischer Stücke, beinahe nichts anders gegeben werden. Allein eben deswegen hielt man, sowohl zur Ehre der Stadt und Republik Abdera, als mancherlei anderer Vorteile wegen für nötig, eine Komödien- und Tragödienfabrik in ihrem eigenen Mittel anzulegen, und diese neue poetische Manufactur – in welcher abderitischer Witz, abderitische Sentiments, abderitische Sitten und Torheiten als eben so viele rohe Nationalproducte zu eigenem Gebrauch dramatisch verarbeitet werden sollten – wie guten weisen Regenten und Patrioten zusteht, auf alle mögliche Art aufzumuntern. Dies auf Kosten [245] des gemeinen Seckels zu bewerkstelligen, ging aus zwo Ursachen nicht wohl an: erstens, weil nicht viel drin war; und zweitens, weil es damals noch nicht Mode war, die Zuschauer bezahlen zu lassen, sondern das Aerarium die Unkosten des Theaters tragen mußte, und also ohnedies bei diesem neuen Artikel schon genug auszugeben hatte. Denn an eine neue Auflage auf die Bürgerschaft war, vor der Hand, und bis man wußte wie viel Geschmack sie dieser neuen Lustbarkeit abgewinnen würde, nicht zu gedenken. Es blieb also kein ander Mittel, als die abderitischen Dichter auf Unkosten des Geschmacks gemeiner Stadt aufzumuntern; d.i. alle Waren, die sie gratis liefern würden, für gut zu nehmen – nach dem alten Sprüchwort: geschenktem Gaul sieh nicht ins Maul; oder, wie es die Abderiten gaben: wo man umsonst ißt, wird immer gut gekocht. Was Horaz von seiner Zeit in Rom sagt:


Scribimus indocti doctique poemata passim,


galt nun von Abdera im superlativsten Grade. Weil es einem zum Verdienst angerechnet wurde, wenn er ein Schauspiel schrieb, und weil schlechterdings nichts dabei zu wagen war, so machte Tragödien wer Atem genug hatte, ein paar Dutzend zusammengeraffte Gedanken in eben so viel von Bombast strotzende Perioden aufzublasen; und jeder platte Spaßmacher versuchte es, die Zwerchfelle der Abderiten, auf denen er sonst in Gesellschaften oder Weinhäusern getrommelt hatte, itzt auch einmal vom Theater herab zu bearbeiten.


Diese patriotische Nachsicht gegen die Nationalproducte hatte eine natürliche Folge, die das Übel zugleich vermehrte und fortdaurend machte. So ein gedankenleeres, windichtes, aufgeblasenes, ungezogenes, unwissendes, und aller Anstrengung unfähiges Völkchen es auch um die jungen Patricier und Damoiseaux von Abdera war, so ließ sich doch gar bald einer von ihnen, wir wissen nicht ob von seinem Mädchen, oder von seinen Schmarutzern, oder auch von seinem eignen angestammten Dünkel, weis machen, daß es nur an ihm liege, dramatische Epheukränze zu erwerben so gut als ein anderer. Dieser erste Versuch wurde mit einem so glänzenden Erfolg gekrönt, daß Blemmias (ein Neffe des Archon Onolaus), ein Knabe von 17 Jahren, [246] und (was in der Familie der Onolaus nichts ungewöhnliches war,) ein notorisches Ganshaupt, ein unwiderstehliches Jucken in seinen Fingern fühlte auch ein Bocksspiel zu machen, wie man damals das Ding hieß, daß wir itzt ein Trauerspiel zu schelten pflegen. Niemals seit dem Abdera auf thracischem Boden stund, hatte man ein dummeres Nationalproduct gesehen; aber der Verfasser war ein Neffe des Archon, und so konnt' es ihm nicht fehlen. Der Schauplatz war so voll, daß die jungen Herren den schönen Abderitinnen auf dem Schoße sitzen mußten; die gemeinen Leute standen einander auf den Schultern. Man hörte alle fünf Acte in unverwandter dummwartender Stille an; man gähnte, seufzte, wischte die Stirne, rieb die Augen, hatte Langeweile, und hörte zu; und wie nun endlich das langerseufzte Ende kam, wurde so abscheulich geklatscht, daß etliche zartnervichte Muttersöhnchen das Gehör darüber verloren.


Nun war's klar, daß es keine so große Kunst sein müsse, eine Tragödie zu machen, weil sogar der junge Blemmias eine gemacht hatte. Jedermann konnte sich ohne große Unbescheidenheit eben so viel zutrauen. Es wurde ein Familienehrenpunkt, daß jedes gute Haus wenigstens mit einem Sohn, Neffen, Schwager oder Vetter mußte prangen können, der die Nationalschaubühne mit einer Komödie, oder einem Bocksspiel, oder wenigstens mit einem Singspielchen beschenkt hatte. Wie groß dies Verdienst seinem innern Gehalt nach etwa sei, daran dachte niemand; gutes, mittelmäßiges und elendes lief in einer Herde untereinander her. Es bedurfte, um ein schlechtes Stück zu schützen, keiner Kabale. Eine Höflichkeit war der andern wert. Und weil die Herren allerseits Eselsöhrchen hatten: so konnte keinem einfallen, dem andern das Auriculas asini Mida rex habet zuzuflüstern.

Man kann sich leicht vorstellen, daß die Kunst bei dieser Toleranz nicht viel gewonnen haben werde. Aber was kümmerte die Abderiten das Interesse der Kunst? Genug, daß es für die Ruhe ihrer Stadt und das allerseitige Vergnügen der Interessenten zuträglicher war, dergleichen Dinge friedlich und schiedlich abzutun. »Da kann man sehen, pflegte der Archon Onolaus zu sagen, wie viel drauf ankommt, daß man ein Ding beim rechten Ende nimmt. Das Komödienwesen, das zu Athen alle Augenblicke die [247] garstigsten Händel anrichtet, ist zu Abdera ein Band des allgemeinen guten Vernehmens, und der unschuldigste Zeitvertreib von der Welt. Man geht in die Komödie, man amüsiert sich auf die eine oder andere Art, entweder mit Zuhören oder mit seiner Nachbarin, oder mit Träumen und Schlafen, wie es einem jeden beliebt; dann wird geklatscht, jedermann geht zufrieden nach Hause, und gute Nacht!«

Wir sagten vorhin, die Abderiten hätten sich mit ihrem Theater so viel zu tun gemacht, daß sie in Gesellschaften beinahe von nichts als von der Komödie gesprochen: und so verhielt sichs auch wirklich. Aber wenn sie von Theaterstücken und Vorstellung und Schauspielern sprachen, so geschah es nicht, um etwa zu untersuchen, was daran in der Tat beifallswürdig sein möchte oder nicht. Denn, ob sie sich ein Ding gefallen oder nicht gefallen lassen wollten, das hing, ihrer Meinung nach, lediglich von ihrem freien Willen ab; und, wie gesagt, sie hatten nun einmal eine Art von schweigender Abrede mit einander getroffen, ihre einheimische dramatische Manufacturen aufzumuntern. »Man sieht doch recht augenscheinlich (sagten sie), was es auf sich hat, wenn die Künste an einem Orte aufgemuntert werden. Noch vor zwanzig Jahren hatten wir kaum zween oder drei Poeten, von denen, außer etwa an Geburtstagen oder Hochzeiten, kein Mensch Notiz nahm: itzt, seit den zehn bis zwölf Jahren, daß wir ein eignes Theater haben, können wir schon über Stücke, groß und klein in einander gerechnet, aufweisen, die alle auf abderitischem Grund und Boden gewachsen sind.«

Wenn sie also von ihren Schauspielen schwatzten, so war es nur, um einander zu fragen, ob z.E. das gestrige Stück nicht schön gewesen sei' und einander zu antworten, ja es sei sehr schön gewesen – und was die Actrice, welche die Iphigenia oder Andromacha vorgestellt (denn zu Abdera wurden die weiblichen Rollen von wirklichen Frauenzimmern gemacht, und das war eben nicht so abderitisch), für ein schönes neues Kleid angehabt? Und das gab dann Gelegenheit zu tausend kleinen interessanten Anmerkungen, Reden und Gegenreden, über den Putz, die Stimme, den Anstand, den Gang, das Tragen des Kopfs und der Arme, und zwanzig andre Dinge dieser Art, an den Schauspielern und Schauspielerinnen. Mitunter sprach man auch wohl von dem [248] Stücke selbst, sowohl von der Musik als von den Worten (wie sie die Poesie davon nannten), d.i. ein jedes sagte, was ihm am besten oder wenigsten gefallen hätte; man hob die vorzüglich rührenden und erhabnen Stellen aus; tadelte auch wohl hier und da einen Ausdruck, ein allzuniedriges Wort, oder ein Sentiment, das man übertrieben oder anstößig fand. Aber immer endigte sich die Kritik mit dem ewigen abderitischen Refrein: es bleibt doch immer ein schönes Stück – und hat viel Moral in sich, schöne Moral! pflegte der kurze dicke Ratsherr hinzuzusetzen – und immer traf sichs zu, daß die Stücke, die er ihrer schönen Moral wegen selig pries, gerade die elendesten waren.

Man wird vielleicht denken: da die besondern Ursachen, die man zu Abdera gehabt, alle einheimische Stücke ohne Rücksicht auf Verdienst und Würdigkeit aufzumuntern, bei auswärtigen nicht statt gefunden, so hätte doch wenigstens die große Verschiedenheit der atheniensischen Schauspieldichter, und der Abstand eines Astydamas von einem Sophokles etwas dazu beitragen sollen, ihren Geschmack zu bilden, und ihnen den Unterschied zwischen gut und schlecht, vortrefflich und mittelmäßig, besonders den mächtigen Unterschied zwischen natürlichem Beruf und bloßer Prätension und Nachäfferei, zwischen dem muntern, gleichen, aushaltenden Gang des wahren Meisters, und dem Stelzenschritt oder dem Nachkeuchen, Nachhinken und Nachkriechen der Nachahmer – anschaulich zu machen. Aber, fürs erste, ist der Geschmack eine Sache, die sich ohne natürliche Anlage, ohne eine gewisse Feinheit des Seelenorgans, womit man schmecken soll, durch keine Kunst noch Bildung erlangen läßt; und wir haben gleich zu Anfang dieser Geschichte schon bemerkt, daß die Natur den Abderiten diese Anlage ganz versagt zu haben schien. Ihnen schmeckte Alles. Man fand auf ihren Tischen die Meisterstücke des Genies und Witzes mit den Producten der schalsten Köpfe, den Taglöhnerarbeiten der elendesten Pfuscher, unter einander liegen. Man konnte ihnen in solchen Dingen weis machen was man wollte; und es war nichts leichter, als einem Abderiten die erhabenste Ode von Pindar für den ersten Versuch eines Anfängers, und umgekehrt das sinnloseste Geschmier, wenn es nur den Zuschnitt eines Gesangs in Strophen und Antistrophen hatte, für ein Werk [249] von Pindar zu geben. Daher war bei einem jeden neuen Stücke, das ihnen zu Gesicht kam, immer ihre erste Frage: von wem, – und man hatte hundert Beispiele, daß sie gegen das vortrefflichste Werk gleichgültig geblieben waren, bis sie erfahren hatten, daß es einem berühmten Namen zugehöre.

Dazu kam noch der Umstand, daß der Nomophylax Gryllus, Cyniskus Sohn, der an der Errichtung des abderitischen Nationaltheaters den meisten Anteil gehabt hatte, und der Oberaufseher über ihr ganzes Schauspielwesen war, Anspruch machte, ein großer Musikverständiger und der erste Componist seiner Zeit zu sein – ein Anspruch, wogegen die gefälligen Abderiten um so weniger einzuwenden hatten, weil er ein sehr popularer Herr war, und weil seine ganze Compositionskunst in einer kleinen Anzahl melodischer Formen oder Leisten bestund, welche zu allen Arten von Texten passen mußten, und daher nichts leichter war, als seine Melodien zu singen und auswendig zu lernen.

Die Eigenschaft, auf die sich Herr Gryllus am meisten zu gut tat, war seine Behendigkeit im Componieren. »Nun wie gefällt Ihnen meine Iphigenia, Hekuba, Alcestis, oder was es sonsten war, he?« – O, ganz vortrefflich, Herr Nomophylax! – »Gelt! da ist doch ein reiner Satz! fließende Melodie! hä, hä, hä! Und wie lange denken Sie daß ich daran gemacht habe? – Zählen Sie nach! Heute haben wir den 13 ten – – Den vierten Morgens um 5 Uhr Sie wissen ich bin früh – setzt' ich mich an mein Pult und fing an – und gestern punct 10 Uhr Vormittags macht' ich den letzten Strich! – Nun zählen Sie nach, 4, 5, 6, 7, 8, 9, 10, 11, 12, – macht, wie Sie sehen, nicht volle 9 Tage, und darunter 2 Ratstage, und zwei oder drei wo ich zu Gaste gebeten war; andre Geschäfte nicht gerechnet – Hm! was sagen Sie? Heißt das nicht fix gearbeitet? Ich sag es eben nicht um mich zu rühmen; aber das getraue ich mir, wenns eine Wette gälte, daß mir kein Componist im ganzen europäischen und asiatischen Griechenland bälder mit einem Stücke fertig werden soll als ich! Es ist nichts! Aber es ist doch so eine eigne Gabe die ich habe, hä, hä, hä!« – Wir hoffen unsre Leser sehen den Mann nun vor sich, und wenn sie einige Anlage zur Musik haben, so muß ihnen sein, sie hätten ihm bereits seine ganze Iphigenia, Hekuba und Alcestis herunterorgeln gehört.

[250] Nun hatte dieser große Mann noch nebenher die kleine Schwachheit, daß er keine Musik gut finden konnte als – seine eigene. Keiner von den besten Componisten zu Athen, Theben, Korinth u.s.w. konnt' es ihm zu Dank machen. Den berühmten Damon selbst, dessen gefällige, geistreiche und immer zum Herzen sprechende Art zu componieren, außerhalb Abdera, alles, was eine Seele hatte, bezauberte, nannte er unter seinen Vertrauten nur den Bänkelsängercomponisten. Bei dieser Art zu denken, und vermöge der unendlichen Leichtigkeit, womit er seinen musikalischen Laich von sich gab, hatte er nun binnen wenig Jahren zu mehr als 60 Stücken von berühmten und unberühmten atheniensischen Schauspieldichtern die Musik gemacht – denn die abderitischen Nationalproducte überließ er meistens seinen Schülern und Nachahmern, und begnügte sich bloß mit der Revision ihrer Arbeit. Freilich fiel seine Wahl, wie man denken kann, nicht immer auf die besten Stücke; die Hälfte wenigstens waren bombastische Carricaturnachahmungen des Aeschylus, oder abgeschmackte Possenspiele, Jahrmarktstücke, die von ihren Verfassern selbst bloß für die Belustigung des untersten Pöbels bestimmt waren. Aber genug, der Nomophylax, ein Haupt der Stadt, hatte sie componiert; sie wurden also unendlich beklatscht und wenn sie denn auch bei der öftern Wiederholung mitunter gähnen und hojahnen machten, daß die Kinnladen hätten auseinander gehen mögen, so versicherte man einander doch beim Herausgehen sehr tröstlich: es sei gar ein schönes Stück und gar eine schöne Musik gewesen!

Und so vereinigte sich denn alles nicht nur gegen die Arten und Stufen des Schönen, sondern gegen den innern unterschied des Vortrefflichen und Schlechten selbst, bei diesen griechenzenden Thraciern, jene mechanische Kaltsinnigkeit hervorzubringen, wodurch sie sich als durch einen festen Nationalcharakterzug von allen übrigen policierten Völkern des Erdhodens auszeichneten; eine Kaltsinnigkeit, die dadurch desto sonderbarer wurde, weil sie ihnen demungeachtet die Fähigkeit ließ, zuweilen von dem wirklich Schönen auf eine gar seltsame Art afficiert zu werden – wie man in kurzem aus einem merkwürdigen Beispiel ersehen soll.

[251]
Drittes Kapitel
Beiträge zur abderitischen Litterargeschichte
Nachrichten von ihren ersten theatralischen Dichtern, Hyperbolus, Paraspasmus, Antiphilus und Thlaps

Bei aller dieser anscheinenden Gleichgültigkeit, Toleranz, Apathie, Hidypathie, oder wie man's nehmen will, müssen wir uns die Abderiten gleichwohl nicht als Leute ohne allen Geschmack einbilden. Denn ihre fünf Sinnen hatten sie richtig und vollgezählt; und wiewohl ihnen, unter den angegebnen Umständen, Alles gut genug schmeckte: so deuchte sie doch, dieses oder jenes schmecke ihnen besser als ein andres; und so hatten sie denn ihre Lieblingsstücke und Lieblingsdichter so gut als andre Leute.


Damals, als ihnen der kleine Verdruß mit dem Arzt Hippokrates zustieß, waren unter einer ziemlichen Anzahl von Theaterdichtern, welche Handwerk davon machten – die Freiwilligen nicht gerechnet – vornehmlich zween im Besitz der höchsten Gunst des abderitischen Publicums. Der eine machte Tragödien und eine Art Stücke, die man itzt komische Opern nennt; der andere, Namens Thlaps, eine Art von Mitteldingen, wobei einem weder wohl noch weh geschah, wovon er der erste Erfinder war, und die deswegen nach seinem Namen Thlapsödien genennet wurden.


Der erste war eben der Hyperbolus, dessen schon zu Anfang dieser eben so wahrhaften als wahrscheinlichen Geschichte als des berühmtesten unter den abderitischen Dichtern erwähnt worden ist. Er hatte sich zwar auch in den übrigen Gattungen hervorgetan; die außerordentliche Parteilichkeit seiner Landsleute für ihn hatte ihm in allen den Preis zuerkannt; und eben dieser Vorzug erwarb ihm den hochtrabenden Zunamen Hyperbolus: denn von Haus aus nannte er sich Hegesias. Der Grund, warum dieser Mensch ein so besonderes Glück bei den Abderiten machte, war der natürlichste von der Welt – nämlich eben der, weswegen er und seine Werke an jedem andern Orte der Welt als in Abdera ausgepfiffen worden wären. Er war unter allen ihren Dichtern derjenige, in welchem der eigentliche Geist von Abdera, mit allen seinen Idiotismen und Abweichungen von den [252] schönern Formen, Proportionen und Lineamenten der Menschheit, am leibhaftesten wohnte – derjenige, mit dem alle übrigen am meisten sympathisierten – der immer alles just so machte, wie sie es auch gemacht haben würden – ihnen immer das Wort aus dem Munde nahm – immer das eigentliche Pünktchen traf, wo sie gekützelt sein wollten – mit einem Wort, der Dichter nach ihrem Sinn und Herzen; und das nicht etwa in Kraft eines außerordentlichen Scharfsinns, oder als ob er sich ein besonderes Studium daraus gemacht hätte, sondern lediglich, weil er unter allen seinen Brüdern im Marsyas am meisten – Abderit war. Bei ihm durfte man sich darauf verlassen, daß der Gesichtspunkt, woraus er eine Sache ansah, immer der schiefste war, woraus sie angesehen werden konnte; daß er zwischen zwei Dingen allemal die Ähnlichkeit just fand, wo ihr wesentlichster Unterschied lag; daß er je und allezeit feierlich aussehen würde, wo ein vernünftiger Mensch lacht, und lachen würde, wo es nur einem Abderiten einfallen kann zu lachen, u.s.w. Ein Mann, der des abderitischen Genius so voll war, konnte natürlicher Weise in Abdera alles sein, was er wollte. Auch war er ihr Anakreon, ihr Alcäus, ihr Pindar, ihr Aeschylus, ihr Aristophanes, und seit kurzem arbeitete er an einem großen Nationalheldengedicht in acht und vierzig Gesängen, die Abderiade genannt – zu großer Freude des ganzen abderitischen Volks! »Denn, sagten sie, ein Homer ist das einzige, was uns noch abgeht: und wenn Hyperbolus mit seiner Abderiade fertig sein wird, so haben wir Ilias und Odyssee in einem Stücke beisammen; und dann laß die andern Griechen kommen, und uns noch über die Achseln ansehen, wenn sie das Herz haben! Sie sollen uns dann einen Mann stellen, dem wir nicht einen aus unserm Mittel gegenüber stellen wollen!« –

Indessen war doch die Tragödie das eigentliche Fach des Hyperbolus. Er hatte deren hundert und zwanzig (vermutlich auch groß und klein in einander gerechnet) verfertiget – ein Umstand, der ihm bei einem Volke, das in allen Dingen nur auf Anzahl und körperlichen Umfang sah, allein schon einen außerordentlichen Vorzug geben mußte. Denn von allen seinen Nebenbuhlern hatte es keiner auch nur auf das Drittel dieser Zahl bringen können. Ungeachtet ihn die Abderiten wegen des Bombasts seiner Schreibart ihren Aeschylus zu nennen pflegten, so [253] wußte er sich selbst doch nicht wenig mit seiner Originalität. Man weise mir, sprach er, einen Charakter, einen Gedanken, ein Sentiment, einen Ausdruck, in allen meinen Werken, den ich aus einem andern genommen hätte! – oder aus der Natur, setzte Demokritus hinzu – »O! (rief Hyperbolus) was das betrifft, das kann ich Ihnen zugeben, ohne daß ich viel dabei verliere. Natur! Natur! die Herren klappern immer mit ihrer Natur, und wissen am Ende nicht was sie wollen. Die gemeine Natur – und die meinen Sie doch – gehört in die Komödie, ins Possenspiel, in die Thlapsödie, wenn Sie wollen! Aber die Tragödie muß über die Natur gehen, oder ich gebe nicht eine hohle Nuß darum.« Von den seinigen galt dies im vollesten Maß. So wie seine Personen hatte nie kein Mensch ausgesehen, nie kein Mensch gefühlt, gedacht, gesprochen noch gehandelt. Aber das wollten die Abderiten eben – und daher kam es auch, daß sie unter allen auswärtigen Dichtern am wenigsten aus dem Sophokles machten. »Wenn ich aufrichtig sagen soll, wie ich denke«, sagte einst Hyperbolus in einer vornehmen Gesellschaft, wo über diese Materie auf gut Abderitisch raisonniert wurde – »ich habe nie begreifen können, was an dem Oedipus oder an der Elektra des Sophokles, insonderheit was an seinem Philoktet so außerordentliches sein soll: Für einen Nachfolger eines so erhabnen Dichters wie Aeschylus, fällt er wahrlich gewaltig ab! Nun ja, attische Urbanität, die streit' ich ihm nicht ab! Urbanität so viel Sie wollen! Aber der Feuerstrom, die wetterleuchtenden Gedanken, die Donnerschläge, der hinreißende Wirbelwind – kurz, die Riesenstärke, der Adlersflug, der Löwengrimm, der Sturm und Drang, der den wahren tragischen Dichter macht, wo ist der?« – Das nenn' ich wie ein Meister von der Sache sprechen, sagte einer von der Gesellschaft – O! über solche Dinge verlassen Sie sich auf das Urteil des Hyperbolus (rief ein andrer); wenn er das nicht verstehen sollte! – Er hat 120 Tragödien gemacht, flüsterte eine Abderitin einem Fremden ins Ohr; 's ist der erste Theaterdichter von Abdera!

Indessen hatte es doch unter allen seinen Nebenbuhlern, Schülern und Caudatarien ihrer zweenen geglückt, ihn auf dem tragischen Thron, auf den ihm der allgemeine Beifall hinauf geschwungen, wanken zu machen – Dem einen durch ein Stück, [254] worin der Held gleich in der ersten Scene des ersten Acts seinen Vater ermordet, im zweiten seine leibliche Schwester heiratet, im dritten entdeckt, daß er sie mit seiner Mutter gezeugt hatte, im vierten sich selber Ohren und Nase abschneidet, und im fünften, nachdem er die Mutter vergiftet und die Schwester erdrosselt, von den Furien unter Blitz und Donner in die Hölle geholt wird – Dem andern durch eine Niobe, worin außer einer Menge Ω! Ω! Αι, Αι! Φευ, Φευ, und Ελελελελευ, und einigen Blasphemien, wobei den Zuhörern die Haare zu Berge standen, das ganze Stück in lauter Action und Pantomime gesetzt war. Beide Stücke hatten den erstaunlichsten Effect gemacht. – Nie waren binnen drei Stunden so viele Schnupftücher voll geweint worden, seit ein Abdera in der Welt war. Nein, es ist nicht zum Aushalten, schluchzten die schönen Abderitinnen – Der arme Prinz! wie er heulte! wie er sich herumwälzte! Und die Rede, die er hielt, da er sich die Nase abgeschnitten hatte, rief eine andere und die Furien, die Furien, schrie eine dritte – ich konnte vier Wochen lang kein Auge vor ihnen zutun – Es war schrecklich, ich muß es gestehen, sagte die vierte; aber, o! die Niobe! wie sie mitten unter ihren übereinander hergewälzten Kindern dasteht, sich die Haare ausrauft, sie über die dampfenden Leichen hinstreut, dann sich selbst auf sie hinwirft, sie wieder beleben möchte, dann in Verzweiflung wieder auffährt, die Augen wie feurige Räder im Kopf herumrollt, dann mit ihren eigenen Nägeln sich die Brust aufreißt, und Hände voll Bluts unter entsetzlichen Verwünschungen Himmel wirft – Nein, so was rührendes muß nie gesehen worden sein! Was das für ein Mann sein muß, der Paraspasmus, der Stärke genug hatte, so eine Scene aufs Theater zu bringen! – Nun, was die Stärke anbetrifft, sagte die schöne Salabanda, darauf läßt sich eben nicht immer so sicher schließen. Ich zweifle, ob Paraspasmus alles halten würde, was er zu versprechen scheint; große Prahler, schlechte Fechter. – Man kannte die schöne Salabanda für eine Frau, die so was nicht ohne guten Grund sagte – Dieser einzige Umstand brachte so viel zuwege, daß die Niobe des Paraspasmus bei der zweiten Vorstellung [255] nicht mehr die Hälfte der vorigen Wirkung tat; und der Dichter selbst konnte sich in der Folge nicht wieder von dem Schlag erholen, den ihm Salabanda durch ein einziges Wort in der Einbildungskraft der Abderitinnen gegeben hatte.

Indessen blieb ihm und seinem Freunde Antiphilus doch immer die Ehre, der Tragödie zu Abdera einen neuen Schwung gegeben zu haben, und die Erfinder zwoer neuer Gattungen, der grißgrammischen, und der pantomimischen, zu sein, in welchen den abderitischen Dichtern eine Laufbahn eröffnet wurde, wo es um so viel sichrer war, Lorbeern einzuernten, da im Grunde nichts leichters ist als – Kinder zu erschrecken, und seine Helden vor lauter Affect – gar nichts sagen zu lassen.

Wie aber die menschliche Unbeständigkeit sich auch an dem, was in seiner Neuheit noch so angenehm ist, gar bald ersättiget, so fingen auch die Abderiten bereits an, es überdrüssig zu werden, immer und alle Tage gar schön zu finden, was ihnen in der Tat schon lange gar wenig Vergnügen machte: als ein junger Dichter, Namens Thlaps, auf den Einfall kam, Stücke aufs Theater zu bringen, die weder Komödie noch Tragödie noch Posse, sondern eine Art von lebendigen abderitischen Familiengemälden wären; wo weder Helden noch Narren, sondern gute ehrliche hausgebackne Abderiten auftreten, ihren täglichen Stadt-, Markt-, Haus- und Familiengeschäften nachgehen, und vor einem löblichen Spectatorium gerade so handeln und sprechen sollten, als ob sie auf der Bühne zu Hause wären, und es sonst keine Leute in der Welt gäbe als sie. Man sieht, daß dies ungefähr die nämliche Gattung war, wodurch sich Menander in der Folge so viel Ruhm erwarb. Der Unterschied bestand bloß darin: daß er Athenienser und jener Abderiten auf die Bühne brachte; und daß er Menander, und jener Thlaps war. Allein da dieser Unterschied den Abderiten nichts vorschlug, oder vielmehr gerade zu Thlapsens Vorteil gereichte: so wurde sein erstes Stück 52 in dieser Gattung mit einem Entzücken aufgenommen, wovon man noch kein Beispiel [256] gesehen hatte. Die ehrlichen Abderiten sahen sich selbst zum erstenmal auf der Schaubühne in puris Naturalibus, ohne Carricatur, ohne Stelzen, ohne Löwenhäute, Keulen, Scepter und Diademe, in ihren gewöhnlichen Hauskleidern, ihre gewöhnliche Sprache redend, nach ihrer angebornen eigentümlichen abderitischen Art und Weise leiben und leben, essen und trinken, freien und sich freien lassen, u.s.w. und das war eben was ihnen so viel Vergnügen machte. Es ging ihnen wie einem jungen Mädchen, das sich zum erstenmal in einem Spiegel sehen würde; sie konnten's gar nicht genug kriegen. Die vierfache Braut wurde vierzehnmal hinter einander gespielt, und eine lange Zeit wollten die Abderiten nichts als Thlapsödien sehen. Thlaps, dem es nicht so fix von der Faust ging als dem großen Hyperbolus und dem Nomophylax Gryllus, konnte deren nicht genug fertig kriegen. Aber da er seinen Mitbrüdern einmal den Ton angegeben hatte, so fehlte es ihm nicht an Nachahmern. Alles legte sich auf die neue Gattung; und in weniger als drei Jahren waren alle mögliche Süjets und Titel von Thlapsödien so erschöpft, daß es wirklich ein Jammer war, die Not der armen Dichter zu sehen, wie sie druckten und schwitzten, um aus dem Schwamme, den schon so viele vor ihnen ausgedruckt hatten, noch einen Tropfen trübes Wasser herauszupressen.

Die natürliche Folge davon war, daß unvermerkt alle Dinge wieder ins gehörige Gleichgewicht kamen. Die Abderiten, die, nach ziemlich allgemeiner menschlicher Weise, Anfangs für jede Gattung eine ausschließende Neigung faßten, fanden endlich, daß es nur desto besser sei, wenn sie dem Überdruß durch Abwechslung und Mannigfaltigkeit wehren konnten. Die Tragödien, gemeine, grißgrammische und pantomimische, die Komödien, Operetten und Possenspiele kamen wieder in Umlauf; der Nomophylax componierte die Tragödien des Euripides; und Hyperbolus (zumal da ihn das Project, abderitischer Homer zu werden, im Kopfe stak,) ließ sichs, weil's doch nicht zu ändern war, am Ende gerne gefallen, die höchste Gunst des abderitischen Parterre mit Thlapsen zu teilen; zumal, da dieser durch die Heirat mit der Nichte eines Oberzunftmeisters seit kurzem eine wichtige Person geworden war.

[257]
Viertes Kapitel
Merkwürdiges Beispiel von der guten Staatswirtschaft der Abderiten
Beschluß der Digression über ihr Theaterwesen

Ehe wir von dieser Abschweifung zum Verfolg unsrer Geschichte zurückkehren, möchte vonnöten sein, dem geneigten Leser einen kleinen Zweifel zu benehmen, der ihm während vorstehender kurzen Abschattung des abderitischen Schauspielwesens aufgestoßen sein möchte.


Es ist nicht wohl zu begreifen, wird man sagen, wie das Aerarium von Abdera, dessen Einkünfte eben nicht so gar beträchtlich sein konnten, eine so ansehnliche Nebenausgabe, wie ein tägliches Schauspiel mit allen seinen Artikeln ist, in die Länge habe bestreiten können; gesetzt auch, daß die Dichter ohne Sold noch Lohn, aus purem Patriotismus, oder um die bloße Ehre, gedient hätten. Wofern aber dies letztere war, wird man kaum glaublich finden, daß es so manchen Theaterdichter von Profession in Abdera gegeben, und daß der große Hyperbolus, mit allem seinem Patriotismus und Eigennutz, es bis auf dramatische Stücke sollte getrieben haben.


Um nun den günstigen Leser nicht ohne Not aufzuhalten, wollen wir ihm nur gleich unverhohlen gestehen – daß ihre Theaterdichter keineswegs umsonst arbeiteten (denn das große Gesetz: »dem Ochsen, der da drischt, sollst du nicht das Maul verbinden!« ist ein Naturgesetz, dessen allgemeine Verbindlichkeit auch sogar die Abderiten fühlten), und daß, vermöge einer besondern Finanzoperation, das Stadtärarium durch das Theater eigentlich keine neue Ausgabe zu bestreiten hatte, sondern dieser Aufwand größtenteils an andern nötigern und nützlichern Artikeln erspart wurde.

Die Sache verhielt sich so. So bald die Gönner des Theaters sahen, daß die Abderiten Feuer gefaßt, und Schauspiele zum Bedürfnis für sie geworden, ermangelten sie nicht, dem Volk durch die Zunftmeister vorstellen zu lassen: daß das Aerarium einem so großen Zuwachs von Ausgaben ohne neue Einnahmequellen oder Erziehung andrer Ausgaben nicht gewachsen sei. Dies veranlaßte denn, daß eine Commission niedergesetzt wurde, welche, nach mehr als sechzig zahlbaren Sessionen, endlich einen Entwurf [258] einer Einrichtung des gemeinen abderitischen Theaterwesens vor Rat legte, den man so gründlich und wohlausgesonnen befand, daß er stracks in einer allgemeinen Versammlung der Bürgerschaft zu einem Fundamentalgesetz der Stadt Abdera gestempelt wurde.

Wir würden uns ein Vergnügen daraus machen, dieses abderitische Meisterstück auch vor unsre Leser zu legen, wenn wir ihnen Geduld genug zutrauen dürften, es zu lesen. Sollte aber irgend ein gemeines Wesen in oder außer dem heil. röm. Reiche die Mitteilung desselben wünschen: so ist man erbötig, solche auf beschehene Requisition, gegen bloße Erstattung der Schreibauslagen unentgeltlich zu communicieren. Alles, was wir hier davon sagen können, ist: daß, vermöge dieser Einrichtung, sine aggravio Publici hinlängliche Fonds ausgemacht wurden, die Abderiten wöchentlich viermal mit Schauspielen zu tractieren; sowohl Dichter, Schauspieler und Orchester, als die Herren Deputierten und den Nomophylax condigne zu remunerieren; und überdies noch die beiden untersten Classen der Zuschauer bei jeder Vorstellung viritim mit einem Pfennigbrot und zwo trocknen Feigen zu gratificieren. Der einzige Fehler dieser schönen Einrichtung war, daß die Herren von der Commission sich in Berechnung der Einnahme und Ausgabe (wegen deren Richtigkeit man sich auf ihre bekannte Dexterität verließ) um 28000 Drachmen (ungefähr dritthalb tausend Taler unsers Geldes) verrechnet hatten, die das Aerarium mehr bezahlen mußte, als die angewiesenen Fonds betrugen. Das war nun freilich kein ganz gleichgültiger Rechnungsverstoß! Indessen waren die Herren von Abdera gewohnt, so glattweg und bona fide bei ihrem Aerario zu Werke zu gehen, daß etliche Jahre verstrichen, bis man gewahr wurde, woran es liege, daß alle Jahre 2500 Taler in ihrem Stadtseckel zu wenig waren. Wie man es endlich mit vieler Mühe heraus gebracht hatte, fanden die Häupter für nötig, die Sache vor das gesamte Volk zu bringen, und – pro forma auf Einziehung der Schaubühne anzutragen. Allein die Abderiten gebärdeten sich zu diesem Vorschlag, als ob man ihnen Wasser und Feuer nehmen wolle. Kurz, es wurde ein Plebiscitum errichtet, daß die jährlich abgängigen dritthalb Talente aus dem gemeinen Schatz, der im Tempel der Latona niedergelegt [259] war, genommen werden sollten; und derjenige, der sich künftig unterfangen würde, auf Abschaffung der Schaubühne anzutragen, sollte für einen Feind der Stadt Abdera angesehen werden.

Die Abderiten glaubten nun, ihre Sache recht klug gemacht zu haben, und pflegten gegen Fremde sich viel darauf zu gut zu tun, daß ihre Schaubühne jährlich 80 Talente (80,000 Taler) und gleichwohl der Bürgerschaft von Abdera keinen Heller koste. »Es kommt alles auf eine gute Einrichtung an, sagten sie. Aber dafür haben wir auch ein Nationaltheater, wie kein andres in der Welt sein muß!« – Das ist eine große Wahrheit, sagte Demokritus; solche Dichter, solche Schauspieler, solche Musik, und wöchentlich viermal, für 80 Talente! Ich wenigstens habe das an keinem andern Ort in der Welt angetroffen.

Was man ihnen lassen mußte, war, daß ihr Theater für eines der prächtigsten in Griechenland gelten konnte. Freilich hatten sie dem Könige von Macedonien ihr bestes Amt versetzt, um es bauen zu können. Aber da ihnen der König zugestanden, daß der Amtmann, der Amtsschreiber und der Rentmeister allezeit Abderiten bleiben sollten, so konnte ja niemand was dagegen einzuwenden haben.

Wir bittens den Lesern ab, wenn Sie mit dieser allgemeinen Nachricht von dem abderitischen Theaterwesen zu lange aufgehalten worden sind. Es hat nun 6 Uhr geschlagen, und wir versetzen uns also, ohne weiters, in das Amphitheater dieser preiswürdigen Republik, wo die geneigten Leser nach Gefallen, entweder bei dem kleinen dicken Ratsherrn, oder bei dem Priester Strobylus, oder bei dem Schwätzer Antistrepsiades, oder bei irgend einer von den schönen Abderitinnen, mit welchen wir sie in den vorigen Kapiteln bekannt gemacht haben, Platz zu nehmen belieben werden.

[260]
Fünftes Kapitel
Die Andromede des Euripides wird aufgeführt
Großer Succeß des Nomophylax, und was die Sängerin Eukolpis dazu beigetragen
Ein paar Anmerkungen über die übrigen Schauspieler, die Chöre und die Decoration

Das Stück, das diesen Abend gespielt wurde, war die Andromede des Euripides: eines von den 60 oder 70 Werken dieses Dichters, wovon nur wenige kleine Späne und Splitter der Vernichtung entronnen sind. Die Abderiten trugen, ohne eben sehr zu wissen warum, große Ehrerbietung für den Namen Euripides und alles was diesen Namen trug. Verschiedne seiner Tragödien, oder Singspiele (wie wir sie eigentlich nennen sollten), waren schon öfters aufgeführt, und allemal sehr schön gefunden worden. Die Andromede, eines der neuesten, wurde itzt zum erstenmal auf die abderitische Schaubühne gebracht. Der Nomophylax hatte die Musik dazu gemacht, und (wie er seinen Freunden ziemlich laut ins Ohr sagte) diesmal sich selbst übertroffen; das heißt, der Mann hatte sich vorgesetzt, alle sein Künste auf einmal zu zeigen, und darüber war ihm der gute Euripides unvermerkt ganz aus den Augen gekommen. Kurz, Herr Gryllus hatte sich selbst componiert; unbekümmert, ob seine Musik den Text, oder der Text seine Musik zu Unsinn mache – welches dann gerade der Punkt war, der auch die Abderiten am wenigsten kümmerte. Genug, sie machte großen Lerm, hatte (wie seine Brüder, Vettern, Schwäger, Clienten und Hausbedienten, als sämtliche Kenner, versicherten) sehr erhabne und rührende Stellen, und wurde mit dem lautsten entschiedensten Beifall aufgenommen. Nicht, als ob nicht sogar in Abdera noch hier und da Leute gesteckt hätten, die – weil sie vielleicht etwas dümmere Ohren auf die Welt gebracht als ihre Mitbürger, oder weil sie anderswo was Bessers gehört haben mochten – einander unter vier Augen gestunden: daß der Nomophylax, mit aller seiner Anmaßung ein Orpheus zu sein, nur ein Leiermann, und das beste seiner Werke eine Rhapsodie ohne Geschmack, und meistens auch ohne Sinn sei. Diese wenigen hatten sich ehmals sogar erkühnt, etwas von dieser ihrer Heterodoxie ins Publicum erschallen zu [261] lassen; aber sie waren jedesmal von den Verehrern der gryllischen Muse so übel empfangen worden, daß sie, um mit heiler Haut davon zu kommen, für gut befanden, sich in Zeiten den Majoribus zu submittieren; und nun waren diese Herren immer die, die bei den elendesten Stellen – am ersten und am lautsten klatschten.


Das Orchester tat diesmal sein Äußerstes, um sich seines Oberhauptes würdig zu zeigen. »Ich hab' ihnen aber auch alle Hände voll zu tun gegeben«, sagte Gryllus, und schien sich viel darauf zu gut zu tun, daß die armen Leute schon im zweiten Act keinen trocknen Faden mehr am Leibe hatten.


Im Vorbeigehen gesagt, das Orchester war eins von den Instituten, worin die Abderiten es mit allen Städten in der Welt aufnahmen. Das erste, was sie einem Fremden davon sagten, war: daß es hundert und zwanzig Köpfe stark sei. »Das Atheniensische, pflegten sie mit bedeutendem Accent hinzuzusetzen, soll nur 8o haben; aber freilich mit 120 Mann läßt sich auch was ausrichten!« – Wirklich fehlte es, unter so vielen, nicht an geschickten Leuten, wenigstens an solchen, aus denen ein Vorsteher wie – in Abdera keiner war noch sein konnte, etwas hätte machen können. Aber was half das ihrem Musikwesen, Es war nun einmal im Götterrate beschlossen, daß im thracischen Athen nichts an seinem Platz, nichts seinem Zweck entsprechend, nichts recht und nichts ganz sein sollte. Weil die Leute wenig für ihre Mühe hatten, so glaubte man auch nicht viel von ihnen fordern zu können; und weil man mit einem Jeden zufrieden war, der sein Bestes tat (wie sie's nannten), so tat niemand sein Bestes. Die geschickten wurden lässig, und wer noch auf halbem Wege war, verlor den Mut und zuletzt auch das Vermögen, weiter zu kommen. Wofür hätten sie sich am Ende auch Mühe um Vollkommenheit gehen sollen, da sie für abderitische Ohren arbeiteten? Freilich hatten die leidigen Fremden auch Ohren; aber sie hatten doch keine Stimme zu geben; fandens auch nicht einmal der Mühe wert, oder waren zu höflich, oder zu politisch, gegen [262] den Geschmack von Abdera Sturm laufen zu wollen. Der Nomophylax, so dumm er war, merkte zwar selbst so gut als ein Andrer, daß es nicht so recht ging wie es sollte. Aber außerdem, daß er keinen Geschmack hatte, oder (welches auf eins hinaus lief) daß ihm nichts schmeckte was er nicht selbst gekocht hatte, und er also immer die rechten Mittel, wodurch es besser werden konnte, verfehlte – war er auch zu träge und zu ungeschmeidig, sich mit andern auf die gehörige Art abzugeben. Vielleicht mocht' er's auch am Ende wohl leiden, daß er, wenn sein Leierwerk (wie wohl zuweilen geschah) sogar den Abderiten nicht recht zu Ohren gehen wollte, die Schuld aufs Orchester schieben, und die Herren und Damen, die ihm Ehren halben ihr Compliment deswegen machten, versichern konnte: daß nicht eine Note, so wie er sie gedacht und geschrieben habe, vorgetragen worden sei. Allein das war doch immer nur eine Feuertüre für den Notfall. Denn aus dem naserümpfenden Ton, worin er von allen andern Orchestern zu sprechen pflegte, und aus den Verdiensten, die er sich um das abderitische beilegte, mußte man schließen, daß er so gut damit zufrieden war, als es – einen patriotischen Nomophylax von Abdera ziemte.

Wie es aber auch mit der Musik dieser Andromeda und ihrer Ausführung beschaffen sein mochte: gewiß ist, daß in langer Zeit kein Stück so allgemein gefallen hatte. Dem Sänger, der den Perseus machte, wurde so gewaltig zugeklatscht, daß er mitten in der schönsten Scene aus dem Tone kam, und in eine Stelle aus dem Cyklops sich verirrete. Andromeda – in der Scene, wo sie, an den Felsen gefesselt, von allen ihren Freunden verlassen, und dem Zorn der Nereiden Preis gegeben, angstvoll das Auftauchen des Ungeheuers erwartet – mußte ihren Monolog dreimal wiederholen. Der Nomophylax konnte seine Freude über einen so glänzenden Succeß nicht bändigen. Er ging von Reihe zu Reihe herum, den Tribut von Lob einzusammeln, der ihm aus allen Lippen entgegenschallte; und mitten unter der Versichrung, daß ihm zu viel Ehre widerfahre, gestand er, daß er selbst mit keinem seiner Spielwerke (wie er seine Opern mit vieler Bescheidenheit zu nennen beliebte) so zufrieden sei, wie mit dieser Andromeda.

Indessen hätt' er doch, um sich selbst und den Abderiten Gerechtigkeit [263] zu erweisen, wenigstens die Hälfte des glücklichen Erfolgs auf Rechnung der Sängerin Eukolpis setzen müssen, die zwar ohnehin schon im Besitz zu gefallen war, aber in der Rolle der Andromeda Gelegenheit fand, sich in einem so vorteilhaften Lichte zu zeigen, daß die jungen und alten Herren von Abdera sich gar nicht satt an ihr – sehen konnten. Denn da war so viel zu sehen, daß an's Hören gar nicht zu denken war. Eukolpis war eine große wohlgedrehte Figur – zwar um ein Namhaftes materieller als man in Athen zu einer Schönheit erfoderte – aber in diesem Stücke waren die Abderiten, wie in vielen andern, ausgemachte Thracier; und ein Mädchen, aus welchem ein Bildhauer in Sicyon zwo gemacht hätte, war nach ihrem angenommenen Ebenmaß ein Wunder von einer Nymphenfigur. Da die Andromeda nur sehr dünne angezogen sein durfte, so hatte Eukolpis, die sich stark bewußt war, worin eigentlich die Kraft ihres Zaubers liege, eine Draperie von rosenfarbnem koischem Zeug erfunden, unter welcher, ohne daß der Wohlstand sich allzu sehr beleidigt finden konnte, von den schönen Formen, die man an ihr bewunderte, wenig oder nichts für die Zuschauer verloren ging. Nun hatte sie gut singen! Die Composition hätte, wo möglich, noch abgeschmackter, und ihr Vortrag noch zehnmal fehlerhafter sein können, immer würde sie ihren Monologen haben wiederholen müssen, weil das doch immer der ehrlichste Vorwand war, sie desto länger mit lüsternen Blicken – betasten zu können. Wahrlich, beim Jupiter, ein herrliches Stück, sagte einer zum andern mit halbgeschloßnen Augen; ein unvergleichliches Stück! Aber finden Sie nicht auch, daß Eukolpis heute wie eine Göttin Singt? – »O! über allen Ausdruck! Es ist, beim Anubis! nicht anders als ob Euripides das ganze Stück bloß um ihrentwillen gemacht hätte!« – Der junge Herr, der dies sagte, pflegte immer beim Anubis zu schwören, um zu zeigen, daß er in Aegypten gewesen sei.

Die Damen, wie leicht zu erachten, fanden die neue Andromeda nicht ganz so wundervoll als die Mannsleute. – »Nicht übel! Ganz artig! sagten sie; aber wie kömmts, daß die Rollen diesmal so unglücklich ausgeteilt wurden? Das Stück verlor dadurch. Man hätte die Rollen tauschen und die Mutter der dicken Eukolpis geben sollen! Zu einer Cassiopea hätte sie sich trefflich [264] geschickt.« – Gegen ihren Anzug, Kopfputz u.s.w. war auch viel zu erinnern – Sie war nicht zu ihrem Vorteil aufgesetzt – der Gürtel war zu hoch, und zu stark geschürzt – und besonders fand man die Ziererei ärgerlich, immer ihren Fuß zu zeigen, »auf dessen unproportionierte Kleinheit sie sich ein wenig zu viel einbilde« – sagten die Damen, die aus dem entgegengesetzten Grunde die ihrigen zu verbergen pflegten. Indessen kamen doch Frauen und Herren sämtlich darin überein, daß sie überaus schön singe, und daß nichts niedlichers sein könne, als die Arie, worin sie ihr Schicksal bejammerte. Eukolpis, wiewohl ihr Vortrag wenig taugte, hatte eine gute, klingende biegsame Stimme; aber was sie eigentlich zur Lieblingssängerin der Abderiten gemacht hatte, war die Mühe, die sie sich mit ziemlichem Erfolge gegeben, den Nachtigallen gewisse Läufer und Tonfälle abzulernen, in denen sie sich selbst und ihren Zuhörern so wohl gefiel, daß sie solche überall, zu rechter Zeit und zur Unzeit, einmischte, und immer damit willkommen war. Sie mochte zu tun haben was sie wollte, zu lachen oder zu weinen, zu klagen oder zu zürnen, zu hoffen oder zu fürchten: immer fand sie Gelegenheit, ihre Nachtigallen anzubringen, und war immer gewiß, beklatscht zu werden, wenn sie gleich die besten Stellen damit verdorben hätte.

Von den übrigen Personen, die den Perseus als den ersten Liebhaber, den Agenor, vormaligen Liebhaber der Andromeda, den Vater, die Mutter, und einen Priester des Neptuns vorstellten, finden wir nicht viel mehr zu sagen, als daß man im Einzelnen zwar viel an ihnen auszustellen hatte, im Ganzen aber sehr wohl mit ihnen zufrieden war. Perseus war ein schöngewachsner Mensch, und hatte ein großes Talent für einen – abderitischen Pickelhering. Der vorerwähnte Cyklops, im Satyrenspiele dieses Namens von Euripides, war seine Meisterrolle. Er spielt den Perseus gar schön, sagten die Abderitinnen; nur Schade daß ihm zuweilen unvermerkt der Cyklops dazwischen kommt. Cassiopea, ein kleines zieraffichtes Ding, voller angemaßter Grazien, hatte keinen einzigen natürlichen Ton; aber sie galt alles bei der Gemahlin des zweiten Archon, hatte eine gar drollichte Manier, kleine Liedchen zu singen, und – tat ihr Bestes. Der Priester des Neptuns brüllte einen ungeheuren Matrosenbaß; und Agenor – sang so elend, als einem zweiten Liebhaber[265] zusteht. Er sang zwar auch nicht besser, wenn er den ersten machte; aber weil er sehr gut tanzte, so hatte er eine Art von Privilegium erhalten, desto schlechter singen zu dürfen. Er tanzt sehr schön, war immer die Antwort der Abderiten, wenn jemand anmerkte, daß sein Krächzen unerträglich sei; indessen tanzte Agenor nur selten, und sang hingegen in allen Singspielen und Operetten.

Um die Schönheit dieser Andromeda ganz zu übersehen, muß man sich noch zwei Chöre, einen von Nereiden, und einen von den Gespielinnen der Andromeda, einbilden, beide aus verkleideten Schuljungen bestehend, die sich so ungebärdig dazu anschickten, daß die Abderiten (zu ihrem großen Troste) genug und satt zu lachen bekamen. Besonders tat der Chor der Nereiden, durch die Erfindungen, die der Nomophylax dabei angebracht hatte, die schnurrigste Wirkung von der Welt. Die Nereiden erschienen mit halbem Leib aus dem Wasser hervorragend, mit falschen gelben Haaren, und mit mächtigen falschen Brüsten, die von ferne recht natürlich wie – ausgestopfte Ballons und also sich selbst vollkommen gleich sahen. Die Symphonie, unter welcher diese Meerwunder herangeschwommen kamen, war eine Nachahmung des berühmten Wreckeckeck Koax Koax in den Fröschen des Aristophanes; und, um die Illusion vollkommner zu machen, hatte Herr Gryllus verschiedene Kühhörner angebracht, die von Zeit zu Zeit einfielen, um die auf ihren Schneckenmuscheln blasenden Tritonen nachzuahmen.

Von den Decorationen wollen wir, beliebter Kürze halben, weiter nichts sagen, als daß sie – von den Abderiten sehr schön befunden wurden. Insonderheit bewunderte man einen Sonnenuntergang, den sie vermittelst eines mit langen Schwefelhölzern besteckten Windmühlenrades zuwege brachten; welches einen guten Effect getan hätte, sagten sie, wenn es nur ein wenig schneller umgetrieben worden wäre. Bei der Art, wie Perseus mit seinen Mercurstiefeln aufs Theater angeflogen kam, hätten die Kenner wohl wünschen mögen, daß man die Stricke, in denen er hing, luftfarbig angestrichen hätte, damit sie nicht so gar deutlich in die Augen gefallen wären.

[266]
Sechstes Kapitel
Sonderbares Nachspiel, das die Abderiten mit einem unbekannten Fremden spielten, und dessen höchst unvermutete Entwicklung

Sobald das Stück geendigt war, und das betäubende Klatschen ein wenig nachließ, fragte man einander, wie gewöhnlich: Nun, wie hat Ihnen das Stück gefallen? und erhielt überall die gewöhnliche Antwort. Einer von den jungen Herren, der für einen vorzüglichen Kenner passierte, richtete die große Frage auch an einen etwas bejahrten Fremden, der in einer der mittlern Reihen saß, und dem Ansehen nach kein gemeiner Mann zu sein schien. Der Fremde, der sichs vielleicht schon gemerkt hatte, was man zu Abdera auf eine solche Frage antworten mußte, war so ziemlich bald mit seinem Sehr wohl heraus; aber weil seine Miene diesen Beifall etwas verdächtig machte, und sogar eine unfreiwillige, wie wohl ganz schwache Bewegung der Achseln, womit er ihn begleitete, für ein Achselzucken ausgedeutet werden konnte: so ließ ihn der junge abderitische Herr nicht so wohlfeil durch wischen. »Es scheint, sagte er, das Stück hat Ihnen nicht gefallen' Es passiert doch für eine der besten Piecen vom Euripides!«


Das Stück mag nicht übel sein, erwiderte der Fremde. –


»So haben Sie vielleicht an der Musik etwas auszusetzen?« –

An der Musik, – O! was die Musik betrifft, die ist eine Musik wie man sie nur zu Abdera hört. –

»Sie sind sehr höflich! In der Tat, unser Nomophylax ist ein großer Mann in seiner Art.« –

Ganz gewiß! –

»So sind Sie vermutlich mit den Schauspielern nicht zufrieden?« –

Ich bin mit der ganzen Welt zufrieden. –

»Ich dächte doch, die Andromeda hätte ihre Rolle scharmant gemacht?« –

O! sehr scharmant! –

»Sie tut einen großen Effect: nicht wahr?« –

Das werden Sie am besten wissen; ich bin dazu nicht mehr jung genug. –

[267] »Wenigstens werden Sie doch gestehen, daß Perseus ein großer Acteur ist?« –

In der Tat, ein hübscher wohlgewachsner Mensch! –

»Und die Chöre? das waren doch Chöre, die dem Meister Ehre machten? Finden Sie z.E. den Einfall, wie die Nereiden eingeführt worden, nicht ungemein glücklich?«

Der Fremde schien des Abderiten satt zu sein: Ich finde, versetzte er mit einiger Ungeduld, daß die Abderiten glücklich sind, an allen diesen Dingen so viel Freude zu haben.

»Mein Herr, sagte der junge Geelschnabel in einem spöttelnden Tone, gestehen Sie nur, daß das Stück die Ehre und das Glück nicht gehabt hat, Ihren Beifall zu erhalten.«

Was ist Ihnen an meinem Beifall gelegen? Die Majora entscheiden.

»Da haben Sie Recht. Aber ich möchte doch um Wunders willen hören, was Sie denn gegen unsre Musik oder gegen unsre Schauspieler einwenden könnten?«

Könnten? sagte der Fremde etwas schnell, hielt aber gleich wieder an sich – Verzeihen Sie mir, ich mag niemand sein Vergnügen abdisputieren. Das Stück, wie es da gespielt worden, hat zu Abdera allgemein gefallen; was wollen Sie mehr? –

»Nicht so allgemein, da es Ihnen nicht gefallen hat!«

Ich bin ein Fremder-

»Fremd oder nicht, Ihre Gründe möcht' ich hören! Hi, hi, hi! Ihre Gründe, mein Herr, Ihre Gründe! die werden doch wenigstens keine Fremde sein! Hi, hi, hi, hi!«

Dem Fremden fing die Geduld an auszugehen. Junger Herr, sagte er, ich habe für meine Komödie bezahlt; denn ich habe geklatscht wie ein andrer. Lassen Sie's damit gut sein! Ich bin im Begriff wieder abzureisen. Ich habe meine Geschäfte.

»Ei, ei, sagte ein andrer abderitischer junger Mensch, der dem Gespräch zugehört hatte, Sie werden uns ja nicht schon verlassen wollen? Sie scheinen ein großer Kenner zu sein; Sie haben unsre Neugier, unsre Lehrbegierde (er sagte dies mit einem dummnaseweisen Hohnlächeln) gereizt; wir lassen Sie wahrlich nicht gehen, bis Sie uns gesagt haben, was Sie an dem heutigen Singspiel zu tadeln finden. Ich will nichts von den Worten sagen; ich bin kein Kenner; aber die Musik, dächt ich, war doch unvergleichlich?«

[268] Das müßten am Ende doch wohl die Worte entscheiden, wie Sie's nennen, sagte der Fremde.

»Wie meinen Sie das? Ich denke Musik ist Musik, und man braucht nur Ohren zu haben, um zu hören, was schön ist.«

Ich gebe Ihnen zu, wenn Sie wollen, erwiderte jener, daß schöne Stellen in dieser Musik sind; es mag überhaupt eine gelehrte, nach allen Regeln der Kunst zugeschnittene, schulgerechte, artikelmäßige Musik sein: ich habe dagegen nichts; ich sage nur, daß es keine Musik zur Andromeda des Euripides ist!

»Sie meinen, daß die Worte besser ausgedrückt sein sollten?« O! die Worte sind zuweilen nur zu sehr ausgedrückt; aber im Ganzen, meine Herren, im Ganzen ist der Ton des Dichters verfehlt. Der Charakter der Personen, die Wahrheit der Affecten und Empfindungen, das eigene Schickliche der Situationen – das, was die Musik sein kann und sein muß, um Sprache der Natur, Sprache der Leidenschaft zu sein – was sie sein muß, damit der Dichter auf ihr wie in seinem Elemente schwimme, und emporgetragen, nicht ersäuft werde – das alles ist durchaus verfehlt kurz, das Ganze taugt nichts! da haben Sie meine Beichte in drei Worten!

»Das Ganze, schrien die beiden Abderiten, das Ganze taugt nichts? Nun, das ist viel gesagt! Wir möchten wohl hören, wie Sie das beweisen wollten?«

Die Lebhaftigkeit, womit unsre beiden Verfechter ihres vaterländischen Geschmacks dem graubärtigen Fremden zusetzten, hatte bereits verschiedne andre Abderiten herbeigezogen; jedermann wurde aufmerksam auf einen Streit, der die Ehre ihres Nationaltheaters zu betreffen schien. Alles drängte sich hinzu; und der Fremde, wiewohl er ein langer stattlicher Mann war, fand für nötig, sich an einen Pfeiler zurückzuziehen, um wenigstens den Rücken frei zu behalten.

Wie ich das beweisen Wollte? erwiderte er ganz gelassen: ich werde es nicht beweisen! Wem Sie das Stück gelesen, die Aufführung gesehen, die Musik gehört haben, und können noch verlangen, daß ich Ihnen mein Urteil davon beweisen soll: so würd' ich Zeit und Atem verlieren, wenn ich mich weiter mit Ihnen einließe.

»Der Herr ist, wie ich höre, ein wenig schwer zu befriedigen, [269] sagte ein Ratsherr, der sich ins Gespräch mischen wollte, und dem die beiden jungen Abderiten aus Respect Platz machten. Wir haben doch hier in Abdera auch Ohren! Man läßt zwar jedem seine Freiheit; aber gleichwohl –«

»Wie? was? was gibts da? schrie der kurze dicke Ratsherr, der auch herbei gewatschelt kam; hat der Herr da etwas wider das Stück einzuwenden? Das möcht' ich hören! ha, ha, ha! Eins der besten Stücke, mein Treu! die seit langem aufs Theater gekommen sind! Viel Action! Viel – ä – ä – was ich sage! Ein schön Stück! Und schöne Moral!«

Meine Herren, sagte der Fremde, ich habe Geschäfte. Ich kam hieher, um ein wenig auszurasten; ich habe geklatscht, wie's der Landesgebrauch mit sich bringt, und wäre still und friedlich wieder meines Weges gegangen, wenn mich diese jungen Herren hier nicht auf die zudringlichste Art genötigt hätten, ihnen meine Meinung zu sagen.

»Sie haben auch vollkommnes Recht dazu, erwiderte der andre Ratsherr, der im Grunde kein großer Verehrer des Nomophylax war, und aus politischen Ursachen seit einiger Zeit auf Gelegenheit laurte, ihm mit guter Art wehzutun. Sie sind ein Kenner der Musik, wie es scheint, und –«

Ich spreche nach meiner Überzeugung, sagte der Fremde.

Die Abderiten um ihn her wurden immer lauter.

Endlich kam Herr Gryllus, der von ferne gehört hatte, daß die Rede von seiner Musik war, in eigner Person dazu. Er hatte eine ganz eigne Art, die Augen zusammenzuziehen, die Nase zu rümpfen, die Achseln zu zucken, zu grinsen und zu meckern, wenn er jemand, mit dem er sich in einen Wortwechsel einließ, seine Verachtung zum Voraus zu empfinden gehen wollte. – »So? sagte er, hat meine Composition nicht das Glück, dem Herrn zu gefallen? Er ist also ein Kenner? Hä, hä, hä! – Versteht ohne Zweifel die Setzkunst, Ha?« –

»Es ist der Nomophylax«, sagte jemand dem Fremden ins Ohr um ihn durch die Entdeckung des hohen Rangs des Mannes, von dessen Werke er so ungünstig geurteilt hatte, auf einmal zu Boden zu schlagen.

Der Fremde machte dem Nomophylax sein Compliment, wie's in Abdera Sitte war, und schwieg.

[270] »Nun, ich möchte doch hören, was der Herr gegen die Composition vorzubringen hätte? Für die Fehler des Orchesters geb' ich kein gut Wort; aber hundert Drachmen für einen Fehler in der Composition! Hä, hä, hä! Nun! Laß hören!«

Ich weiß nicht, was Sie Fehler nennen, sagte der Fremde; meines Bedünkens hat die ganze Musik, wovon die Rede ist, nur einen Fehler.

»Und der ist?« grinste der Nomophylax naserümpfend –

Daß der Sinn und Geist des Dichters durchaus verfehlt ist, antwortete der Fremde.

»So? Nichts weiter? Hä, hä, hä, hä! Ich hätte also den Dichter nicht verstanden? Und das wissen Sie? Denken Sie, daß wir hier nicht auch Griechisch verstehen? Oder haben Sie dem Poeten etwa im Kopfe gesessen? hi, hi, hi!«

Ich weiß was ich sage, versetzte der Fremde; und wenn's denn sein muß, so erbiet ich mich, von Vers zu Vers, durchs ganze Stück, mein Urteil zu Olympia vor dem ganzen Griechenlande zu beweisen.

»Das möchte zu viel Umstände machen«, sagte der politische Ratsherr.

»Es braucht's auch nicht, rief der Nomophylax. Morgen geht ein Schiff nach Athen; ich schreibe an den Euripides, an den Dichter! schicke ihm die ganze Musik! Der Herr wird das Stück doch wohl nicht besser verstehen wollen als der Poet selbst; Sie alle hier unterschreiben sich als Zeugen. Euripides soll selbst den Ausspruch tun!«

Die Mühe können Sie sich ersparen, sagte der Fremde lächelnd; denn, um dem Handel mit einem Wort ein Ende zu machen, der Euripides, an den Sie appellieren – bin ich selbst.

Unter allen möglichen schlimmen Streichen, welche Euripides dem Nomophylax von Abdera hätte spielen können, war unstreitig der schlimmste, daß er – in dem Augenblicke, da man an ihn als an einen Abwesenden appellierte – in eigner Person da stand. Aber wer konnte sich auch eines solchen Streichs vermuten sein, Was zum – Anubis hatte er in Abdera zu tun, Und gerade in dem Augenblick, wo man lieber einen Wolf gesehen hätte, als ihn? Wär er, wie man doch natürlicher Weise glauben mußte, zu Athen gewesen, wo er hin gehörte – nun so wäre alles [271] seinen ordentlichen Weg gegangen. Der Nomophylax hätte seine Composition mit einem hübschen Briefe begleitet, und seinem Namen alle seine Titel und Würden beigefügt. Das hätte doch wirken müssen. Euripides hätte eine urbane attische Antwort gegeben; Gryllus hätte sie im ganzen Abdera lesen lassen: und wer hätte ihm dann den Sieg über den Fremden streitig machen wollen? – Aber daß der Fremde, der naseweise kritische Fremde, der ihm so frisch ins Gesicht gesagt hatte – was in Abdera niemand einem Nomophylax ins Gesicht sagen durfte Euripides selbst war: das war einer von den Zufällen, auf die ein Mann, wie er, sich nicht gefaßt gehalten hatte, und die vermögend wären, jeden andern als – einen Abderiten zu Schanden zu machen.

Der Nomophylax wußte sich zu helfen; indessen betäubte ihn doch der erste Schlag auf einen Augenblick. Euripides! rief er, und prallte drei Schritte zurück; und »Euripides!« riefen im nämlichen Augenblick der politische Ratsherr, der kurze dicke Ratsherr, die beiden jungen Herren, und alle Umstehenden, indem sie ganz erstaunt herum guckten, als ob sie sehen wollten, aus welcher Wolke Euripides so auf einmal mitten unter sie herabgefallen sei.

Der Mensch ist nie ungeneigter zu glauben, als wenn er von einer Begebenheit überrascht wird, an die er nur nicht als eine mögliche Sache gedacht hatte. – Wie? Das sollte Euripides sein? Der nämliche Euripides, von dem die Rede war? der die Andromeda gemacht? an den der Nomophylax zu schreiben drohte? Wie konnte das zugehen?

Der politische Ratsherr war der erste, der sich aus dem allgemeinen Erstaunen erholte. Ein glücklicher Zufall, wahrhaftig, rief er; beim Kastor! ein glücklicher Zufall, Herr Nomophylax! so brauchen sie ihre Musik nicht abschreiben zu lassen, und ersparen einen Brief.

Der Nomophylax fühlte die ganze entscheidende Wichtigkeit des Moments; und wenn der ein großer Mann ist, der in einem solchen entscheidenden Augenblick auf der Stelle die einzige Partei ergreift, die ihn aus der Schwierigkeit ziehen kann: so muß man gestehen, daß Gryllus eine starke Anlage hatte, ein großer Mann zu sein. »Euripides! rief er – Wie? Der Herr sollte so auf [272] einmal Euripides worden sein? Hä, hä, hä! Der Einfall ist gut! Aber wir lassen uns hier in Abdera nicht so leicht Schwarz für Weiß geben.« –

Das wäre lustig, sagte der Fremde, wenn ich mir in Abdera das Recht an meinen Namen streitig machen lassen müßte.

»Verzeihen Sie, mein Herr, fiel der Sykophant des Thrasyllus ein, nicht das Recht an ihren Namen, sondern das Recht, sich für den Euripides auszugeben, auf den der Nomophylax provocierte. Sie können Euripides heißen; ob Sie aber Euripides sind, das ist eine andere Frage.«

Meine Herren, sagte der Fremde, ich will alles sein, was Ihnen beliebt, wenn Sie mich nur gehen lassen wollen. Ich verspreche Ihnen, mit diesem Schritte gehe ich den geradesten Weg, den ich finden werde, zu ihrem Tore hinaus, und der Nomophylax soll mich – componieren, wenn ich in meinem Leben wieder komme!

»Nä, nä, nä, rief der Nomophylax, das geht so hurtig nicht; der Herr hat sich für den Euripides ausgegeben, und nun da er sieht, daß es Ernst gilt, tritt er auf die Hinterbeine – Nä! so haben wir nicht gewettet! Er soll nun beweisen, daß er Euripides ist, oder – so wahr ich Gryllus heiße –«

»Erhitzen Sie sich nicht, Herr College, sagte der politische Ratsherr. Ich bin zwar kein Physiognomiste: aber der Fremde sieht mir doch völlig darnach aus, daß er Euripides sein könnte; und ich wollte unmaßgeblich raten, piano zu gehen.«

»Mich wundert, fing einer von den Umstehenden an, daß man hier so viel Worte verlieren mag, da der ganze Handel in Ja und Nein entschieden sein könnte. Da, oben über dem Portal, steht ja die Büste des Euripides leibhaftig. Es braucht ja nichts weiter als zu sehen, ob der Fremde der Büste gleich sieht?«

»Bravo, bravo, schrie der kleine dicke Ratsherr; das ist doch ein Wort von einem gescheuten Manne! Ha, ha, ha! Die Büste! das ist gar keine Frage, die Büste muß den Ausspruch tun – wiewohl sie nicht reden kann, ha, ha, ha, ha, ha!«

Die umstehenden Abderiten lachten alle aus vollem Halse über den witzigen Einfall des kurzen runden Männchens, und nun lief alles, was Füße hatte, dem Portale zu. Der Fremde ergab sich mit guter Art in sein Schicksal, ließ sich von vorn und hinten betrachten, [273] und Stück vor Stück mit seiner Büste vergleichen, so lange sie wollten. Aber leider! die Vergleichung konnte unmöglich zu seinem Vorteil ausfallen; denn besagte Büste sah jedem andern Menschen oder Tiere ähnlicher als ihm.

»Nun, schrie der Nomophylax triumphierend – was kann der Herr nun zu seinem Vorstand sagen?«

»Ich kann etwas sagen (versetzte der Fremde, den die Komödie nachgerade zu belustigen anfing), woran von Ihnen allen keiner zu denken scheint: wiewohl es eben so wahr ist, als daß Sie Abderiten, und ich Euripides bin.«

»Sagen, sagen! grinste der Nomophylax; man kann freilich viel sagen, hä, hä, hä! Und was kann der Herr sagen?«

Ich sage, daß diese Büste dem Euripides ganz und gar nicht ähnlich sieht.

»Nein, mein Herr, rief der dicke Ratsherr, das müssen Sie nicht sagen! Die Büste ist eine schöne Büste; sie ist von weißem Marmor, wie Sie sehen, Marmor von Paros, straf mich Jupiter! und kostet uns hundert bare Dariken Species, das können Sie mir nachsagen. Es ist ein schönes Stück, von unserm Stadtbildhauer Ein geschickter berühmter Mann! – nennt sich Moschion – werden von ihm gehört haben, – ein berühmter Mann! Und, wie gesagt, alle Fremden, die noch zu uns gekommen sind, haben die Büste bewundert! Sie ist echt, das können Sie mir nachsagen! Sie sehen ja selbst, es steht mit großen goldnen Buchstaben drunter ΕΥΡΙΠΙΔΗΣ«

Meine Herren, sagte der Fremde, der alle seine angeborne Ernsthaftigkeit zusammennehmen mußte, um nicht auszubersten: darf ich nur eine einzige Frage tun?

»Von Herzen gern«, riefen die Abderiten.

Gesetzt, fuhr jener fort, es entstünde zwischen mir und meiner Büste ein Streit darüber, wer mir am ähnlichsten sehe – wem wollen Sie glauben, der Büste oder mir?

»Das ist eine curiöse Frage«, sagte der Abderiten einer, sich hinter den Ohren kratzend – »Eine captiose Frage, beim Jupiter! rief ein andrer; nehmen Sie sich in Acht, was Sie antworten, Hochgeachter Herr Ratsherr!«

[274] Ist der dicke Herr ein Ratsherr dieser berühmten Republik? – fragte der Fremde mit einer Verbeugung – so bitte ich sehr um Verzeihung; ich gestehe, die Büste ist ein schönes glattes Werk, von schönem parischen Marmor – und wenn sie mir nicht ähnlich sieht, so könnt es wohl bloß daher, weil Ihr berühmter Stadtbildhauer die Büste schöner gemacht hat, als die Natur mich. Es ist immer ein Beweis seines guten Willens, und der verdient alle meine Dankbarkeit.

Dieses Compliment tat einen großen Effect; denn die Abderiten hatten's gar zu gerne, wenn man fein höflich mit ihnen sprach. »Es muß doch wohl Euripides selber sein«, murmelte einer dem andern ins Ohr, und der dicke Ratsherr selbst bemerkte, bei nochmaliger Vergleichung der Büste mit dem Fremden, daß die Bärte einander vollkommen ähnlich sähen.

Zu gutem Glücke kam der Archon Onolaus und sein Neffe Onobulus dazu, der den Euripides zu Athen hundertmal gesehen, und öfters gesprochen hatte. Die Freude des jungen Onobulus über eine so unverhoffte Zusammenkunft, und seine positive Bejahung, daß der Fremde wirklich der berühmte Euripides sei, hieb den Knoten auf einmal durch; und die Abderiten versicherten nun einer den andern: sie hätten's ihm gleich beim ersten Blick angesehen.

Der Nomophylax, wie er sah, daß Euripides gegen seine Büste Recht behielt, machte sich seitwärts davon. – Ein verdammter Streich! brummelte er zwischen den Zähnen vor sich her: wozu brauchte er aber auch so hinterm Berge zu halten? Wenn er wußte, daß er Euripides war, warum ließ er sich mir nicht präsentieren? Da hätte alles einen ganz andern Schwung bekommen!

Der Archon Onolaus, der in solchen Fällen gemeiniglich die Honneurs der Stadt Abdera zu machen pflegte, lud den Dichter mit großer Höflichkeit ein, das Gastrecht bei ihm zu nehmen, und bat sich zugleich von dem politischen und dicken Ratsherrn die Ehre auf den Abend aus; welches beide mit vielem Vergnügen annahmen.

»Dacht ich's nicht gleich? (sagte der dicke Ratsherr zu einem der Umstehenden;) der leibhaftige Euripides! Bart, Nase, Stirn, Ohrenläppchen, Augenbraunen, alles auf ein Haar! Man kann nichts gleichers sehen! Wo doch wohl der Nomophylax seine [275] Sinne hatte? Aber, – ja – ja, er mochte wohl ein bißchen – Hm! Sie verstehen mich? – Cantores amant humores – Ha, ha, ha, ha! Basta! Desto besser, daß wir den Euripides bei uns haben! Was ich sage, ein feiner Mann, beim Jupiter! und der uns viel Spaß machen soll! Ha, ha, ha!«

Siebentes Kapitel
Wie Euripides nach Abdera gekommen, nebst einigen Geheimnachrichten von dem Hofe zu Pella

So möglich es an sich selbst war, daß sich Euripides zu Abdera befinden konnte, und eben so gut in dem Augenblick, wo der Nomophylax Gryllus auf ihn provocierte, als in jedem andern und so gewohnt man dergleichen unvermuteter Erscheinungen auf dem Theater ist: so begreifen wir doch wohl, daß es eine andre Bewandtnis hat, wenn sich eine solche Erscheinung im Parterre ereignet; und es ist solchenfalls der Majestät der Geschichte 55 gemäß, den Leser zu verständigen, wie es damit zugegangen. Wir wollen alles, was wir davon wissen, getreulich berichten; und sollte dem scharfsinnigen Leser dem ungeachtet noch einiger Zweifel übrig bleiben: so müßte es nur die allgemeine Frage betreffen, die sich bei jeder Begebenheit unter und über dem Monde aufwerfen läßt: nämlich, warum z.E. just von einer Mücke, und just von dieser individuellen Mücke, just in dieser Secunde – dieser zehnten Minute – dieser sechsten Nachmittagsstunde, dieses 10 ten Augusts – dieses 1778 Jahres gemeiner Zeitrechnung, just diese nämliche Frau oder Fräulein von *** nicht ins Gesicht, nicht in den Nacken, Ellnbogen, Busen, nicht auf die Hand, noch in die Ferse, u.s.w. sondern gerade vier Daumen hoch über der linken Kniescheibe gestochen worden u.s.w. – und da bekennen wir ohne Scheu, daß wir auf dieses Warum nichts zu antworten wissen. Fragt die Götter – [276] könnten wir allenfalls mit einem großen Manne sagen; aber weil dieses offenbar eine – heroische Antwort wäre, so halten wirs für anständiger, die Sache lediglich auf sich beruhen zu lassen.


Also – was wir wissen. Der König Archelaus in Macedonien, ein großer Liebhaber der schönen Künste und der – schönen Geister (wie man damals gewisse verzärtelte Kinder der Natur nicht nannte, und wie man heutigs Tages einen Jeden nennt, von dem man nicht sagen kann, was er ist) – dieser König Archelaus war auf den Einfall gekommen, ein eignes Hofschauspiel zu halben; und vermöge einer Zusammenkettung von Umständen, Ursachen, Mitteln und Zwecken, woran niemanden mehr viel gelegen sein kann, hatte er den Euripides unter sehr vorteilhaften Bedingungen vermocht, mit einer Truppe ausgesuchter Schauspieler, Virtuosen, Baumeister, Maler und Machinisten, kurz mit allem, was zu einem vollständigen Theaterwesen gehört, nach Pella an sein Hoflager zu kommen, und die Direction über die neue Hofschaubühne zu übernehmen. Auf dieser Reise war itzt Euripides mit seiner ganzen Gesellschaft begriffen; und wiewohl der Weg über Abdera weder der einzige noch der kürzeste war, so hatte er ihn doch genommem, weil er Lust hatte, eine wegen des Witzes ihrer Einwohner so berühmte Republik mit eignen Augen zu sehen. Wie es aber gekommen, daß er an dem nämlichen Tage eingetroffen, da der Nomophylax seine Andromeda zum erstenmale gab; davon können wir, wie gesagt, keine Rechenschaft geben. Dergleichen Apropo's tragen sich häufiger zu als man denkt; und es ist wenigstens kein größeres Mirakel, als daß z.E. der junge Herr von ** eben im Begriff war, seine Beinkleider hinaufzuziehen, als unvermutet seine Nähterin ins Zimmer trat, die seidnen Strümpfe, die er ihr zu stoppen geschickt hatte, zu überbringen – welches, wie Sie wissen, die Veranlassung zu einer zufälligen Begebenheit war, [277] die in seiner hohen Familie wenigstens eben so große Bewegungen verursachte, als die unvorbereitete Erscheinung des Euripides in dem abderitischen Parterre. Wer sich über so was wundern kann, muß sich nicht viel auf die ΔΑΙΜΟΝΙΑ verstehen, wie eben dieser Euripides sagt.


Übrigens, wenn wir sagten, daß der König Archelaus ein großer Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister gewesen sei, so muß das eben nicht so genau und im strengsten Sinn der Worte genommen werden; denn es ist eigentlich nur so eine Art zu reden, und dieser Herr war im Grunde nichts weniger als ein Liebhaber der schönen Künste und schönen Geister. Das Wahre davon war: daß besagter König Archelaus seit einiger Zeit öfters Langeweile hatte – weil ihn alle seine vormaligen Amüsemens, als da sind – F**, G**, H**, J**, K**, L**, M**, u.s.w. nicht länger amüsieren wollten. Überdem war er ein Herr von großer Ambition, der sich von seinem Oberkammerherrn hatte sagen lassen, daß es schlechterdings unter die Zuständigkeiten eines großen Fürsten gehöre, Künste und Wissenschaften in seinen Schutz zu nehmen. Denn, sagte der Oberkammerherr, Ew. Majestät werden bemerkt haben, daß man niemals eine Statue, oder ein Brustbild eines großen Herrn auf einer Medaille u.s.w. sieht, an dessen rechter Hand nicht eine Minerva stünde, neben einem Trophee von Panzern, Fahnen, Spießen und Morgensternen – zur Linken knien immer etliche geflügelte Jungen oder halbnackte Mädchen, mit Pinsel und Palet, Winkelmaß, Flöte, Leier und einer Rolle Papier in den Händen, die Künste vorstellend, die sich dem großen Herrn gleichsam zur Protection empfehlen; oben drüber aber schwebt eine Fama, mit der Trompete am Mund, anzudeuten, daß Könige und Fürsten sich durch den Schutz, den sie den Künsten angedeihen lassen, einen unsterblichen Ruhm erwerben u.s.w.

Der König Archelaus hatte also die Künste in seinen Schutz genommen; und dem zufolge wissen uns die Geschichtschreiber ein Langes und Breites davon zu erzählen, wie viel er gebaut habe, und wie viel er auf Malerei und Bildhauerei, auf schöne [278] Tapeten und andre schöne Meublen verwandt; und wie alles, bis auf die Commodidät, bei ihm habe hetrurisch sein müssen; und wie er berühmte Künstler, Virtuosen und schöne Geister an seinen Hof berufen habe, u.s.w. welches alles, sagen sie, er um so mehr tat, weil ihm daran gelegen war, das Andenken der Übeltaten auszulöschen, durch die er sich den Weg zum Throne, zu dem er nicht geboren war, gebahnt hatte – wie E.E. aus Ihrem Bayle mit mehrerm ersehen können.

Nach dieser kleinen Abschweifung kehren wir zu unserm attischen Dichter zurück, den wir unter einem schimmernden Zirkel von Abderiten und Abderitinnen vom ersten Range, unter einem grünen Pavillon im Garten des Archon Onolaus antreffen werden.

Achtes Kapitel
Wie sich Euripides mit den Abderiten benimmt
Sie machen einen Anschlag auf ihn, wobei sich ihre politische Betriebsamkeit in einem starken Lichte zeigt, und der ihnen um so gewisser gelingen muß, weil alle Schwierigkeiten, so sie dabei sehen, bloß eingebildet sind

Es ist oben schon bemerkt worden, daß Euripides schon lange, wiewohl unbekannter Weise, bei den Abderiten in großem Ansehen stund. Itzt, so bald es erschollen war, daß er in Person zugegen sei, war die ganze Stadt in Bewegung. Man sprach von nichts als vom Euripides. – »Haben Sie den Euripides schon gesehen? Wie sieht er aus? Hat er eine große Nase? Wie trägt er den Kopf? Was hat er für Augen? Er spricht wohl in lauter Versen? Ist er stolz?« – und hundert solche Fragen machte man einander schneller als es möglich war, auf eine zu antworten. Die Neugier, den Euripides zu sehen, zog noch außer denen, die der Archon hatte bitten lassen, verschiedene herbei, die nicht geladen waren. Alles drängte sich um den guten glatzköpfigen Dichter her, um zu beaugenscheinigen, ob er auch so aussehe, wie sie sich vorgestellt hatten, daß er aussehen müsse. Verschiedne, insonderheit unter den Damen, schienen sich zu verwundern, daß er am Ende doch just so aussah wie ein andrer Mensch. Andre bemerkten, daß er viel Feuer in den Augen habe; und die schöne Thryallis [279] raunte ihrer Nachbarin ins Ohr, man seh es ihm stark an, daß er ein ausgemachter Weiberfeind 58 sei. Sie machte diese Bemerkung mit einem Ausdruck von anticipiertem Vergnügen über den Triumph, den sie sich davon versprach, wenn ein so erklärter Feind ihres Geschlechts die Macht ihrer Reizungen würde bekennen müssen.


Die Dummheit hat ihr Sublimes so gut als der Verstand, und wer darin bis zum Absurden gehen kann, hat das Erhabne in dieser Art erreicht, welches für gescheute Leute immer eine Quelle von Vergnügen ist. Die Abderiten hatten das Glück, im Besitz dieser Vollkommenheit zu sein. Ihre Ungereimtheit machte einen Fremden Anfangs wohl zuweilen ungeduldig; aber so bald man sah, daß sie so ganz aus einem Stücke war, und (eben darum) so viele Zuversicht und Gutmütigkeit in sich hatte: so versöhnte man sich gleich wieder mit ihnen, und belustigte sich oft besser an ihrer Albernheit, als an andrer Leute Witz.


Euripides war in seinem Leben nie bei so guter Laune gewesen als bei diesem Abderitenschmause. Er antwortete mit der größten Gefälligkeit auf alle ihre Fragen, lachte über alle ihre platten Einfälle, ließ jeden so hoch gelten als er sich selbst würdigte, und erklärte sich sogar über ihr Theater und Musikwesen so billig, daß jedermann vollkommen mit ihm zufrieden war. – »Ein feiner Gast! raunte der politische Ratsherr der Dame Salabanda, die über ihm saß, ins Ohr; der tritt leise auf!« – »Und so höflich, so bescheiden, als ob er kein großer Kopf wäre«, erwiderte Salabanda. – »Der drolligste Mann von der Welt, beim Jupiter! sagte der kurze dicke Ratsherr, beim Aufstehen von Tische; ein recht kurzweiliger Mann! Hätt's ihm nicht zugetraut, mein Seel!« – Die Damen, die er schön gefunden hatte, waren dafür so höflich, und taten, als ob sie ihn um zwanzig Jahre junger fänden als er war; kurz, man war ganz von ihm bezaubert, und bedauerte nur, daß man die Ehre und das Vergnügen, ihn in Abdera zu sehen, nicht länger haben sollte. Denn Euripides blieb dabei, daß er sich nicht aufhalten könne.

Endlich nahm Frau Salabanda den politischen Ratsherrn und [280] den jungen Onobulus auf die Seite. »Was meinen Sie, sagte sie, wenn wir ihn dahin bringen könnten, daß er uns seine Andromeda gäbe, Er hat seine eigne Truppe bei sich. Es sollen ganz außerordentliche Virtuosen sein.« – Onobulus fand den Einfall göttlich – »Ich hatte ihn eben selbst gehabt, sagte der politische Ratsherr, und war im Begriff es Ihnen vorzutragen. Aber es wird Schwierigkeiten absetzen. Der Nomophylax.« – »O, dafür lassen Sie mich sorgen, fiel Salabanda ein; ich will ihm schon warm machen!«

»Für meinen Oheim steh ich, sagte Onobulus; und noch in dieser Nacht will ich unter unsern jungen Leuten eine Partei zusammentrommeln, die Lerms genug in der Stadt machen soll.«

»Nur nicht zu hitzig, munkelte der politische Ratsherr mit dem Kopf wackelnd; wir wollen uns nichts merken lassen! Erst das Terrain sondiert, und fein leise aufgetreten! das ist was ich immer sage.«

»Aber, wir haben keine Zeit zu verlieren, Herr Froschpfleger 59, Euripides geht fort –«

»Wir wollen ihn schon aufhalten, sagte Salabanda; er soll morgen bei mir sein – eine Gartenpartie, und alle unsre hübschen Leute dazu eingeladen – Lassen Sie nur mich machen; es soll gewiß gehen.«

Frau Salabanda passierte in Abdera für eine gar weise Frau. Sie war stark in Politicis und hatte großen Einfluß auf den Archon Onolaus. Der Oberpriester war ihr Oheim, und fünf oder sechs Ratsherren, die sie in ihrer Freundschaft zählte, gaben selten eine andre Meinung im Rat von sich, als die sie ihnen des Abends zuvor eingetrichtert hatte. Überdies stunden ihr die Liebhaber der schönen Thryallis, mit der sie in engstem Vertrauen lebte, gänzlich zu Gebot; nichts von ihren eignen zu sagen, deren sie immer einige hatte, die auf Hoffnung dienten, und also so geschmeidig [281] waren wie Handschuhe. Ihr Haus, das unter die besten in der Stadt gehörte, war der Ort, wo alle Geschäfte vorbereitet, alle Händel geschlichtet, und alle Wahlen ins Reine gebracht wurden; mit einem Wort, Frau Salabanda machte in Abdera was sie wollte.

Euripides, ohne die mindeste Absicht Gebrauch von der Wichtigkeit dieser Frau zu machen, hatte sich diesen Abend so gut bei ihr insinuiert, als ob er zum wenigsten eine Froschpflegerstelle auf dem Korn gehabt hätte. Brachte sie ein politisches Weidsprüchlein als einen Gedanken vor, so fand er, daß es eine sehr scharfsinnige Bemerkung sei; citierte sie den Simonides oder Homer, so bewunderte er ihr Talent, Verse zu declamieren. Sie hatte ihn mit einigen Stellen seiner Werke aufgezogen, die ihn zu Athen in den bösen Ruf eines Weiberfeindes gesetzt, und er hatte, indem er sich gegen sie und die schöne Thryallis verbeugte, versichert, daß es sein Unglück sei, nicht eher nach Abdera gekommen zu sein. Kurz, er hatte sich so aufgeführt, daß Frau Salabanda bereit war, einen Aufstand zu erregen, falls ihr mit dem politischen Ratsherrn eingefädeltes Project durch kein gelinderes Mittel hätte durchgesetzt werden können.

Man säumte sich nicht, sich vor allen Dingen des Archons zu versichern, der gewöhnlich bald gewonnen war, wenn man ihm sagte, daß eine Sache der Republik Abdera zu großem Ruhm gereichen, und dem Volk sehr angenehm sein werde. Aber, weil er ein Herr war, der seine Ruhe liebte, so erklärte er sich: er überlasse es ihnen, alles in die gehörige Wege einzuleiten; er seines Orts möchte sich mit niemand deswegen abwerfen, am wenigsten mit dem Nomophylax, der ein Grobian sei, und unter dem Volk einen starken Anhang habe. – »Wegen des Volkes machen sich Ew. Herrlichkeit keine Sorge, flüsterte ihm der Ratsherr zu; das will ich durch die dritte Hand schon stimmen lassen, wie wirs nur wünschen können.« – »Und ich, sagte Salabanda, nehme die Ratsherren auf mich.« – Wir wollen sehen, sprach der Archon, indem er zur Gesellschaft zurückkehrte.

»Sein Sie ruhig, sprach die Dame zum politischen Ratsherrn, [282] indem sie ihn auf die Seite nahm: ich kenne den Archon. Wenn man ihn haben will, so muß man ihm nur des Abends von einer Sache sprechen, und wenn er Nein gesagt hat, des Morgens wiederkommen, und, ohne den Mund zu verkrümmen, so reden, als ob er Ja gesagt habe, und ihm dabei zeigen, daß man des Erfolgs gewiß ist: so kann man sich auf ihm verlassen wie auf Gold. Es ist nicht das erstemal, daß ich ihn auf diese Art drangekriegt habe.«

»Sie sind eine schlaue Frau, versetzte der Herr Froschpfleger, indem er sie sachte auf den runden Arm klopfte – Was Sie leise auftreten! – Aber man wird merken, daß wir etwas vorhaben und das könnte nachteilig sein – Wir müssen piano gehn!«

In diesem Augenblick trippelten ein paar Abderitinnen herbei, denen bald alle übrigen von der Gesellschaft folgten, um zu hören, wovon die Rede sei. Der politische Ratsherr schlich sich weg.

»Nun, wie gefällt euch Euripides? sagte Frau Salabanda; nicht wahr, das ist ein Mann?«

O! ein scharmanter Mann, riefen die Abderitinnen.

Nur Schade, daß er so kahl ist – setzte eine hinzu; und daß ihm ein paar Zähne fehlen, sagte die andre.

Närrchen, destoweniger kann er dich beißen, sagte die dritte; und weil dies ein witziger Einfall war, so lachten sie alle herzlich darüber.

Ist er schon verheuratet, fragte ein junges Ding, das so aussah, als ob es wie ein Pilz in einer einzigen Nacht aus dem Boden aufgeschossen wäre.

Möchtest Du ihn etwa haben? antwortete ein andres Fräulein spöttisch; ich denke, er hat schon Urenkel zu verheuraten.

O! die will ich Dir überlassen, sagte jene schnippisch; und der Stich war desto wespenartiger, weil das besagte Fräulein, wiewohl sie so jung tat als ein Mädchen von achtzehn, wenigstens ihre volle fünf und dreißig auf dem Nacken trug.

»Kinder, unterbrach sie Frau Salabanda, von dem allen ist itzt die Rede nicht. Es ist was ganz anders auf dem Tapet. Wie gefiel' es euch, wenn ich den fremden Herrn beredete, etliche Tage hier zu bleiben, und uns mit der Truppe, die er bei sich hat, eine seiner Komödien zu geben?«

[283] O das ist herrlich, riefen die Abderitinnen alle vor Freuden aufhüpfend; o ja, wenn Sie das machen könnten!

»Das will ich schon machen können, versetzte Salabanda, aber ihr müßt alle dazu helfen!«

O ja, o ja, schnatterten die Abderitinnen; und nun liefen sie in hellen Haufen auf den Euripides zu, und schrien alle auf einmal: O ja, Herr Euripides, Sie müssen uns eine Komödie spielen! Wir lassen Sie nicht gehen, bis Sie uns eine Komödie gespielt haben. Nicht wahr, Sie versprechens uns?

Der arme Mann, dem diese Zumutung auf den Hals kam wie ein Kübel Wassers übern Kopf, trat ein paar Schritte zurück, und versicherte sie, es sei ihm nie in den Sinn gekommen, in Abdera Komödie zu spielen; er müsse seine Reise beschleunigen u.s.w. Aber das half alles nichts – O Sie müssen, schrien die Abderitinnen; wir lassen Ihnen keine Ruhe; Sie sind viel zu artig, als daß Sie uns was abschlagen sollten. Wir wollen Sie so schön bitten –

»Im Ernst, sagte Frau Salabanda, wir haben einen Anschlag auf Sie gemacht –« und der nicht zu Wasser werden soll, fiel Onobulus ein, oder ich will nicht Onobulus heißen.

Was gibts? Was gibts? fragte der politische Ratsherr, der den Unwissenden machte, indem er langsam und mit unstetem Blick hinzuschlich; was haben Sie mit dem Herrn vor? – Der kurze dicke Ratsherr kann auch herbeigewatschelt. »Ich glaube gar, straf mich! sie wollen alle auf einmal sein Herz mit Arrest beschlagen, ha, ha, ha!« – schrie er und lachte, daß er sich die Seiten halten mußte. Man verständigte ihn, wovon die Rede sei. – »Ha, ha, ha, ha! Ein schöner Gedanke! straf mich Jupiter! da komm ich gewiß auch, das versprech ich Ihnen! Der Meister selbst! das muß der Mühe wert sein! Wird recht viel Ehre für Abdera sein, Herr Euripides, große Ehre! Haben uns glücklich zu schätzen, daß unsre Leute von so einem geschickten Manne profitieren sollen!« – Noch ein paar Herren von Bedeutung machten ihm ungefähr das nämliche Compliment.

Euripides, wiewohl er den Einfall nicht so übel fand, sich diese Lust mit den Abderiten zu machen, spielte noch immer den Erstaunten, und entschuldigte sich damit, daß er dem König Archelaus versprochen habe, seine Reise zu beschleunigen.

[284] »Ei, was, sagte Onobulus, Sie sind ein Republikaner, und eine Republik hat ein näheres Recht an Sie.«

»Sagen Sie dem Könige nur, schnarrte die schöne Myris, daß wir Sie so gar schön gebeten haben. Er soll ein galanter Herr sein. Er wird Ihnen nicht übel nehmen, daß Sie sechs Frauenzimmern auf einmal nichts abschlagen konnten.«

O du, Tyrann der Götter und der Menschen, Amor! rief Euripides im Ton der Tragödie, indem er zugleich die schöne Thryallis ansah.

»Wenn das Ihr Ernst ist, sagte Thryallis, mit der Miene einer Person, die nicht gewohnt ist, weder abzuweisen, noch abgewiesen zu werden; wenn das Ihr Ernst ist, so beweisen Sie es dadurch, daß Sie sich von mir erbitten lassen.«

Dies von mir verdroß die andern Abderitinnen. Wir wollen nicht unbescheiden sein, sagte eine, indem sie die Lippen einzog, und auf die Seite sah – Man muß dem Herrn nichts zumuten, was ihm unmöglich ist, sagte eine Andre.

Um Ihnen Vergnügen zu machen, meine schönen Damen, sprach der Dichter, könnte mir das Unmögliche möglich werden.

Weil dies Nonsens war, so gefiel es allgemein. Onobulus war hurtig mit seiner Schreibtafel heraus, um sich den Gedanken aufzunotieren. Die Weiber und Mädchen warfen einen Blick auf Thryallis, als ob sie sagen wollten: Ätsch! er hat uns auch schön geheißen! Madam braucht sich eben nicht so viel auf ihre Atalantenfigur einzubilden; er bleibt so gut um unsertwillen hier als um ihrentwillen.

Salabanda machte endlich dem Handel ein Ende, indem sie sich bloß die Gefälligkeit ausbat, daß er ihr und ihren Freunden, die alle seine großen Verehrer seien, nur noch den morgenden Tag schenken möchte. Weil Euripides im Grunde nichts zu eilen hatte, und sich in Abdera sehr gut amüsierte, so ließ er sich nicht lange bitten, eine Einladung anzunehmen, die ihm hübsche Beiträge zu – Possenspielen für den Hof zu Pella versprach. Und so ging dann die Gesellschaft, auf die Ehre, sich morgen bei Frau Salabanda wiederzusehen, gegen Mitternacht in allerseitigem Vergnügen auseinander.

[285]
Neuntes Kapitel
Euripides besieht die Stadt, wird mit dem Priester Strobylus bekannt, und vernimmt von ihm die Geschichte der Latonenfrösche
Merkwürdiges Gespräch, welches bei dieser Gelegenheit zwischen Demokritus, dem Priester und dem Dichter vorfällt

Inzwischen führte Onobulus, in Begleitung etlicher junger Herren seines Schlages, seinen Gast in der Stadt herum, um ihm alles, was darin sehenswürdig wäre, zu zeigen. Unterwegens begegnete ihnen Demokritus, mit welchem Euripides schon von langem her bekannt war. Sie gingen also mit einander; und da die Stadt Abdera ziemlich weitläufig war, so hatten die beiden Alten Gelegenheit genug, von den jungen Herren zu profitieren, die immer den Mund offen hatten, über alles entschieden, alles wußten, und sich gar nicht zu Sinne kommen ließen, daß es ihres gleichen in Gegenwart von Männern anständiger sei, zu hören als sich hören zu lassen.


Euripides hatte also diesen Morgen genug zu hören und zu sehen. Die jungen Abderiten, die nie weiter als bis an die äußersten Schlagbäume ihrer Vaterstadt ge kommen waren, sprachen von allem, was sie ihm zeigten, als von Wundern, die gar nicht ihres gleichen in der Welt hätten. Onobulus hingegen, der die große Reise gemacht hatte, verglich alles mit dem, was er in eben dieser Art zu Athen, Korinth und Syrakus gesehen, und brachte, in einem albernen Ton von Entschuldigung, eine Menge lächerlicher Ursachen hervor, warum diese Dinge in Athen, Korinth und Syrakus schöner und prächtiger wären als in Abdera.


Junger Herr, sagte Demokritus, es ist hübsch, daß Sie Ihre Vater- und Mutterstadt in Ehren haben; aber wenn Sie uns einen Beweis davon geben wollen, so lassen Sie Athen, Korinth und Syrakus aus dem Spiele. Nehmen wir jedes Ding wie es ist, und so keine Vergleichung, so brauchts auch keine Entschuldigung!

Euripides fand alles, was man ihm zeigte, sehr merkwürdig; und das war es auch! Denn man zeigte ihm eine Bibliothek, worin viel unnütze und ungelesene Bücher, ein Münzcabinet, worinnen viel abgegriffene Münzen, ein reiches Spital, worin viel übelverpflegte Arme, ein Arsenal, worin wenig Waffen, und einen Brunnen, worin noch weniger Wasser war. Man zeigte [286] ihm auch das Rathaus, wo die gute Stadt Abdera so wohl beraten wurde, den Tempel des Jasons, und ein vergoldetes Widderfell, welches sie, wiewohl wenig Gold mehr daran zu sehen war, für das berühmte goldne Vließ ausgaben. Sie nahmen auch den alten rauchigten Tempel der Latona in Augenschein, und das Grabmal des Abderus, der die Stadt zuerst erbaut haben sollte, und die Gallerie, wo alle Archonten von Abdera in Lebensgröße gemalt stunden, und einander alle so ähnlich sahen, als ob der folgende immer die Copie von dem vorhergehenden gewesen wäre. Endlich, da sie alles gesehen hatten, führte man sie auch an den geheiligten Teich, worin auf Unkosten gemeiner Stadt die größten und fettesten Frösche gefüttert wurden, die man je gesehen hat; und die, wie der Priester Strobylus sehr ernsthaft versicherte, in gerader Linie von den lycischen Bauren abstammten, die der umherirrenden nirgends Ruhe findenden, und vor Durst verschmachtenden Latona nicht gestatten wollten, aus einem Teiche, der ihnen zugehörte, zu trinken, und dafür vom Jupiter zur Strafe in Frösche verwandelt wurden.

O Herr Oberpriester, sagte Demokritus, erzählen Sie doch dem fremden Herrn die Geschichte dieser Frösche, und wie es zugegangen, daß der geheiligte Teich aus Lycien über das ionische Meer herüber bis nach Abdera versetzt worden; welches, wie Sie wissen, eine ziemliche Strecke Wegs über Länder und Meere ausmacht, und, wenn man so sagen darf, beinahe ein noch größeres Wunder ist, als die Froschwerdung der lycischen Bauern selbst.

Strobylus sah dem Demokritus und dem Fremden mit einem bedenklichen Blick unter die Augen. Weil er aber nichts darin sehen konnte, das ihn berechtigt hätte, sie für Spötter zu erklären, welche nicht verdienten, zu so ehrwürdigen Mysterien zugelassen zu werden: so bat er sie, sich unter einen großen wilden Feigenbaum zu setzen, der eine Seite des kleinen Latonentempels beschattete, und erzählte ihnen hierauf, mit eben der Treuherzigkeit, womit man die alltäglichste Begebenheit erzählen kann, alles, was er von der Sache zu wissen glaubte.

»Die Geschichte des Latonendiensts in Abdera, sagte er, verliert sich im Nebel des grauesten Altertums. Unsre Vorfahren, die Tejer, die sich vor ungefähr 140 Jahren von Abdera Meister [287] machten, fanden ihn bereits seit unendlicher Zeiten eingeführt; und dieser Tempel hier ist vielleicht einer der ältesten in der Welt, wie Sie schon aus seiner Bauart und andern Zeichen eines hohen Altertums schließen können. Es ist, wie Sie wissen, nicht erlaubt, mit strafbarem Vorwitz den heiligen Schleier aufzuheben, den die Zeit um den Ursprung der Götter und ihres Dienstes geworfen hat. Alles verliert sich in Zeiten, wo die Kunst zu schreiben noch nicht erfunden war. Allein die mündliche Überlieferung, die von Vater zu Sohn durch so viele Jahrhunderte fortgepflanzt wurde, er setzt den Abgang schriftlicher Urkunden mehr als hinlänglich, und macht, so zu sagen, eine lebendige Urkunde aus, die dem toten Buchstaben billig noch vorzuziehen ist. Diese Tradition sagt: als die vorerwähnte Verwandlung der lycischen Bauren vorgegangen, hätten die benachbarten Einwohner und einige von den besagten Bauren selbst, welche an dem Frevel der übrigen keinen Teil genommen, als Zeugen des vorgegangenen Wunders, die Latona mit ihren noch an der Brust liegenden Zwillingen, Apollo und Diana, für Gottheiten erkannt, an dem Teiche, wo die Verwandlung geschehen, einen Altar errichtet, auch die Gegend und das Gebüsche, das den Teich umgab, zu einem Hain geheiligt. Das Land hieß damals noch Milia, und die in Frösche verwandelten Bauren waren also eigentlich zu reden Milier; als aber lange Zeit hernach Lycus, Pandions des zweiten Sohn, sich mit einer attischen Colonie des Landes bemächtigte, bekam es von ihm den Namen Lycia, und der ältere Name verlor sich gänzlich. Bei dieser Gelegenheit verließen die Einwohner der Gegend, wo der Altar und Hain der Latona stund, weil sie sich der Herrschaft des besagten Lycus nicht unterwerfen wollten, ihr Vaterland, setzten sich zu Schiffe, irrten eine Zeitlang auf dem ägeischen Meere herum, und ließen sich endlich zu Abdera nieder, welches kurz zuvor durch die Pest beinahe gänzlich entvölkert worden war. Bei ihrem Abzuge schmerzte sie, wie die Tradition sagt, nichts so sehr, als daß sie den geheiligten Hain und Teich der Latona zurücklassen mußten. Sie sannen hin und her, und fanden endlich, das Beste wäre, einige junge Bäume aus dem besagten Hain mit Wurzel und Erde, und eine Anzahl von Fröschen aus dem besagten Teich in einer Tonne voll geheiligten Wassers mitzunehmen. Sobald sie [288] zu Abdera anlangten, war ihre erste Sorge, einen neuen Teich zu graben, welches eben dieser ist, den Sie hier vor sich sehen.

Sie leiteten einen Arm des Flusses Nestus in denselben, und besetzten ihn mit den Abkömmlingen der in Frösche verwandelten Lycier oder Milier, die sie in dem geweihten Wasser mit sich gebracht. Um den neuen Teich her, dem sie sorgfältig die völlige Gestalt und Größe des alten gaben, pflanzten sie die mitgebrachten heiligen Bäume, weiheten sie aufs neue der Latona zum Hain, bauten ihr diesen Tempel, und verordneten einen Priester, der den Dienst desselben versehen, und des Hains und Teiches warten sollte, welche sich auf diese Weise, ohne ein so großes Wunder, als Herr Demokritus für nötig hielt, aus Lycien nach Abdera versetzt befanden. Dieser Tempel, Hain und Teich erhielt sich, vermöge der Ehrfurcht, welche sogar die benachbarten wilden Thracier für denselben hegten, durch alle Veränderungen und Unfälle, denen Abdera in der Folge unterworfen war, bis die Stadt endlich von den Tejern, unsern Vorfahren, zu den Zeiten des großen Cyrus wiederhergestellt, und, wie man ohne Ruhmredigkeit sagen kann, zu einem Glanz erhoben wurde, daß sie keine Ursache hat, irgend eine andre in der Welt zu beneiden.«

Sie reden wie ein wahrer Patriot, Herr Oberpriester, sagte Euripides. Aber wenn es erlaubt wäre, eine bescheidene Frage zu tun –

»Fragen Sie – was Sie wollen, fiel ihm Strobylus ein; ich werde Gott Lob! nie verlegen sein, Antwort zu geben.«

Mit Ew. Ehrwürden Erlaubnis also! – fuhr Euripides fort Die ganze Welt kennt die edle Denkart und die Liebe zur Pracht und zu den schönen Künsten, die den tejischen Abderiten eigen ist, und wovon ihre Stadt überall die merkwürdigsten Beweise darstellt. Wie kömmt es also, da zumal die Tejer schon von alten Zeiten her im Ruf einer besondern Ehrfurcht für die Latona stehen, daß die Abderiten nicht auf den Gedanken gekommen sind, ihr einen ansehnlichern Tempel aufzubauen?

»Ich vermutete mir diesen Einwurf«, sagte Strobylus, mit einem Lächeln, wobei er die Augenbraunen in die Höhe zog, und mächtig weise aussehen wollte –

Es soll kein Einwurf sein, versetzte Euripides, sondern bloß eine bescheidene Frage.

»Ich will sie Ihnen beantworten, sagte der Priester. Ohne Zweifel [289] wäre es der Republik leicht gewesen, der Latona als einer Göttin vom ersten Rang einen so prächtigen Tempel aufzubauen, wie sie dem Jason, der doch nur ein Heros war, gebaut hat. Aber sie hat mit Recht geglaubt, daß es der Ehrfurcht, die wir der Mutter des Apollo und der Diana schuldig sind, gemäßer sei, ihren uralten Tempel zu lassen, wie sie ihn gefunden; und er ist und bleibt demungeachtet der oberste und heiligste Tempel von Abdera, was auch immer der Priester des Jasons dagegen einwenden mag.«

Strobylus sagte dieses letzte mit einem Eifer und einem Crescendo il Forte, daß Demokritus für nötig fand, ihn zu versichern, daß dies wenigstens bei allen Gesunddenkenden eine ausgemachte Sache sei.

»Indessen, fuhr der Oberpriester fort, hat die Republik gleichwohl solche Beweise ihrer besondern Devotion für den Tempel der Latona und dessen Zubehörden abgelegt, daß gegen die Lauterkeit ihrer Absichten nicht der geringste Zweifel übrig sein kann. Sie hat zu Versehung des Dienstes nicht nur ein Collegium von sechs Priestern, deren Vorsteher zu sein ich unwürdiger Weise die Ehre habe, sondern auch aus dem Mittel des Senats drei Pfleger des geheiligten Teichs angeordnet, von welchen der erste allezeit eines von den Häuptern der Stadt ist. Ja sie hat, aus Beweggründen, deren Richtigkeit streitig zu machen, nicht länger erlaubt ist, die Unverletzlichkeit der Frösche des Latonenteichs auf alle Tiere dieser Gattung in ihrem ganzen Gebiet ausgedehnt; und zu diesem Ende das ganze Geschlecht der Störche, Kraniche und aller andern Froschfeinde aus ihren Grenzen verbannt.«

Wenn die Versicherung, daß es nicht länger erlaubt ist, an der Richtigkeit dieses Verfahrens zu zweifeln, mir nicht die Zunge bände, sagte Demokritus, so würde ich mir die Freiheit nehmen zu erinnern, daß selbiges mehr in einer, zwar an sich selbst löblichen, aber doch aufs äußerste getriebnen Deisidämonie 62, als in [290] der Natur der Sache oder der Ehrfurcht, die wir der Latona schuldig sind, gegründet zu sein scheint. Denn in der Tat ist nichts gewisser, als daß die Frösche zu Abdera und in der Gegend umher, die den Einwohnern bereits sehr beschwerlich sind, mit der Zeit sich unter einer solchen Protection so überschwenglich vermehren werden, daß ich nicht begreife, wie unsre Nachkommen sich mit ihnen werden vergleichen können. Ich rede hier bloß menschlicher Weise, und unterwerfe meine Meinung dem Urteil der Obern, wie einem rechtgesinnten Abderiten zukommt.

»Daran tun Sie wohl, sagte Strobylus, es mag nun Ihr Ernst sein oder nicht; und Sie würden, nehmen Sie mirs nicht übel, noch besser tun, wenn Sie dergleichen Meinungen gar nicht laut werden ließen. Übrigens kann nichts lächerlichers sein, als sich vor Fröschen zu fürchten; und unter dem Schutze der Latona können wir, denke ich, gefährlichere Feinde verachten, als diese guten unschuldigen Tierchen jemals sein könnten, wenn sie auch unsre Feinde würden.«

Das sollt ich auch denken, sagte Euripides. Mich wundert, wie einem so großen Naturforscher, als Demokritus, unbekannt sein kann, daß die Frösche, die sich von Insecten und kleinen Schnecken nähren, dem Menschen vielmehr nützlich als schädlich sind.

Der Priester Strobylus nahm diese Anmerkung so wohl auf, daß er von diesem Augenblick an ein hoher Gönner und Beförderer unsers Dichters wurde. Die Herren hatten sich kaum von ihm beurlaubt, so ging er in einige der besten Häuser, und versicherte, Euripides sei ein Mann von großen Verdiensten. »Ich habe sehr wohl bemerkt, sagte er, daß er mit dem Demokritus nicht zum Besten steht; er gab ihm ein- oder zweimal tüchtig auf den Kolben. Er ist wirklich ein hübscher verständiger Mann – für einen Poeten.«

[291]
Zehntes Kapitel
Der Senat zu Abdera gibt dem Euripides, ohne daß er darum angesucht hätte Erlaubnis, eines seiner Stücke auf dem abderitischen Theater aufzuführen Kunstgriff; wodurch sich die abderitische Kanzlei in solchen Fällen zu helfen pflegte
Schlaues Betragen des Nomophylax
Merkwürdige Art der Abderiten, einem, der ihnen im Wege stund, allen Vorschub zu tun

Nachdem Euripides die Wahrzeichen von Abdera sämtlich in Augenschein genommen, führte man ihn nach dem Garten der Salabanda, wo er den Ratsherrn ihren Gemahl, (einen Mann, der bloß durch seine Gemahlin merkwürdig wurde,) und eine große Gesellschaft von abderitischem Beau-Monde fand, alle sehr begierig zu sehen, wie man es machte, um Euripides zu sein.


Euripides sah nur Ein Mittel, sich mit Ehren aus der Sache zu ziehen; und das war – in so guter abderitischer Gesellschaft nicht Euripides – sondern so sehr Abderit zu sein, als ihm nur immer möglich war. Die guten Leute wunderten sich, ihn so gleichartig mit ihnen selbst zu finden. Es ist ein scharmanter Mann, sagten sie; man dächte, er wäre sein Leben lang in Abdera gewesen.


Die Cabale der Dame Salabanda ging inzwischen tapfer ihren Gang, und des folgenden Morgens war schon die ganze Stadt des Gerüchtes voll, der fremde Dichter würde mit seinen Leuten eine Komödie aufführen, wie man in Abdera noch keine gesehen habe.

Es war ein Ratstag. Die Herren versammelten sich, und einer fragte den andern, wenn Euripides sein Stück geben würde? Keiner wollte was davon wissen, wiewohl jeder positiv versicherte, daß bereits die Zurüstungen dazu gemacht würden.

Als der Archon die Sache in Vortrag brachte, formalisierten sich die Freunde des Nomophylax nicht wenig darüber. »Wozu, sagten sie, braucht's uns noch zu fragen, ob wir erlauben wollen, was schon beschlossen ist, und wovon jedermann als von einer ausgemachten Sache spricht?«

Einer der hitzigsten behauptete, daß der Senat eben deswegen Nein dazu sagen, und dadurch zeigen sollte, daß Er Meister sei.

»Das wäre mir ein sauberes Participium, rief der Zunftmeister Pfrieme; weil die ganze Stadt für die Sache bordiert ist, und die [292] fremden Komödianten zu hören wünscht, so soll der Senat Nein dazu sagen? Ich behaupte just das Gegenteil. Eben weil das Volk sie zu hören wünscht, so sollen sie aufspielen! Fox pobulus, Fox Deus! Das ist immer mein Simplum gewesen, und soll es bleiben, so lange ich Zunftmeister Pfrieme heißen werde!«

Die Meisten traten auf des Zunftmeisters Seite. Der politische Ratsherr zuckte die Achseln, sprach Pro und Contra, und beschloß endlich: wenn der Nomophylax nichts dabei zu erinnern hätte, so glaubte er, man könnte für diesmal connivendo geschehen lassen, daß die Fremden auf dem Stadttheater spielten.

Der Nomophylax hatte bisher bloß die Nase gerümpft, gegrinst, seinen Knebelbart gestrichen, und einige abgebrochne Worte mit untermischtem Hä, hä, hä, gemeckert. Er hätte nicht gerne dafür angesehen werden mögen, als ob ihm daran gelegen sei, die Sache zu hintertreiben. Allein je mehr er's verbergen wollte, desto stärker fiel's in die Augen. Er schwoll zusehends auf, wie ein Truthahn, dem man ein rotes Tuch vorhält, und endlich, da er entweder bersten oder reden mußte, sagte er: »Die Herren mögen nun glauben was sie wollen – aber ich bin wirklich der erste, der das neue Stück zu hören wünscht. Ohne Zweifel hat der Poet den Text und die Musik selbst gemacht, und da muß es ja wohl ein ganzes Wunderding sein. Indessen, weil er sich nicht aufhalten kann, wie man sagt, so seh ich nicht, wie man mit den Decorationen wird fertig werden können. Und wenn wir zu den Chören unsre Leute hergeben sollen, wie zu vermuten ist: so bedaur ich, daß ich sagen muß, vor vierzehn Tagen wird nicht daran zu denken sein.«

Dafür lassen wir den Euripides sorgen, sagte einer von den Vätern, aus deren Sprachröhren die Stimme der Dame Salabanda sprach; man wird ihm ohnehin Ehren halben die ganze Direction seines Schauspiels überlassen müssen – Den Rechten eines zeitigen Nomophylax und der Theatercommission unpräjudicierlich, setzte der Archon hinzu.

»Ich bin alles zufrieden, sagte Gryllus; die Herren wollen was Neues – Gut! Wünsche, daß es wohl bekomme! Bin selbst begierig, das Ding zu hören, wie gesagt. Es kommt freilich alles [293] bloß darauf an, ob man Glauben an die Leute hat – Verstehen Sie mich? – Indessen wird Recht Recht, und Musik Musik bleiben; und ich wette was die Herren wollen, die Terzen und Quinten und Octaven der Herren Athenienser werden just so klingen wie die unsrigen, hä, hä, hä, hä!«

Es ging also mit einem großen Mehr durch, »daß den fremden Komödianten, semel pro semper und citra consequentiam, erlaubt sein sollte, eine Tragödie auf der Nationalschaubühne aufzuführen, und daß ihnen hiezu von Seiten der Theaterdeputation aller Vorschub getan und die Kosten von der Cassa bestritten werden sollten.« Allein, weil der Ausdruck erlaubt sein sollte dem Euripides, der nichts verlangt hatte, sondern sich bloß erbitten lassen, hätte anstößig sein können: so veranstaltete Frau Salabanda, daß der Ratsschreiber, der ihr besonderer Freund und Diener war, im Bescheid die Worte erlaubt sein sollte in ersucht werden sollte, und die fremden Komödianten in den berühmten Euripides verwandelte – Alles übrigens dem Ratschluß und der Kanzlei ohnpräjudicierlich und citra consequentiam!

So wie der Senat auseinander ging, begab sich der Nomophylax zum Euripides, überschüttete ihn mit Complimenten, bot ihm seine Dienste an, und versicherte ihn, daß ihm aller möglicher Vorschub getan werden sollte, um sein neues Stück recht bald aufführen zu können. Der Effect dieser Versicherung war, daß ihm, ohne daß jemand Schuld daran haben wollte, alle mögliche Hindernisse in den Weg gelegt wurden, und daß es immer an allem fehlte, was er nötig hatte. Beschwerte er sich, so wies ihn immer einer an den andern – und jeder beteuerte seine Unschuld und seinen guten Willen, indem er ganz deutlich zu verstehen gab, daß der Fehler bloß an diesem oder jenem liege, der eine Viertelstunde zuvor seinen guten Willen eben so stark beteuert hatte.

Euripides fand die abderitische Art, allen möglichen Vorschub zu tun, so beschwerlich, daß er sich nicht entbrechen konnte, der Dame Salabanda am Morgen des dritten Tages zu erklären: seine Meinung sei, sich mit dem ersten Winde, woher er auch blasen möchte, wieder einzuschiffen, wofern sie nicht einen Ratschluß auswirkte, der den Herren von der Commission anbeföhle, ihm keinen Vorschub zu tun. Da der Archon, wie wohl [294] eigentlich alle executive Gewalt von ihm abhing, kein Mann von Execution war, so war das einzige Mittel in dieser Not, den Zunftmeister Pfrieme und den Priester Strobylus, welche alles beim Volke vermochten, in Bewegung zu setzen. Salabanda übernahm beides mit so guter Wirkung, daß binnen Tag und Nacht alles, was von Seiten der Theatercommission besorgt werden mußte, fertig und bereit war; welches um so leichter geschehen konnte, da Euripides seine eignen Decorationen bei sich hatte, und also beinahe nichts weiter zu tun war, als sie dem abderitischen Theater anzupassen.

Eilftes Kapitel
Die Andromeda des Euripides wird endlich, trotz aller Hindernisse, von seiner
eignen Truppe aufgeführt
Außerordentliche Empfindsamkeit der Abderiten, mit einer Digression, welche unter die lehrreichsten in diesem ganzen Werke gehört, und daher auch von gar keinem Nutzen sein wird

Die Abderiten hatten ein neues Stück erwartet, und waren daher übel zufrieden, da sie hörten, da es eben die Andromeda war, die sie vor wenig Tagen schon gesehen zu haben glaubten. Noch weniger wollten ihnen Anfangs die fremden Schauspieler einleuchten, deren Ton und Action so natürlich war, daß die guten Leute gewohnt ihre Helden und Heldinnen wie Besessene herumfahren zu sehen, und schreien zu hören wie der verwundete Mars in der Iliade – gar nicht wußten, was sie daraus machen sollten. Das ist eine wunderliche Art zu agieren, flüsterten sie einander zu; man merkt gar nicht, daß man in der Komödie ist; es klingt ja ordentlich, als ob die Leute ihre eigne Rollen spielten. Indessen bezeugten sie doch ihr Erstaunen über die Decorationen, die zu Athen von einem berühmten Meister in der Theaterperspectiv gemalt waren; und da die Meisten in ihrem Leben nichts Gutes in dieser Art gesehen hatten, so glaubten sie bezaubert zu sein, wie sie das Ufer des Meers, den Felsen, wo Andromeda angefesselt war, und den Hain der Nereiden an einer kleinen Bucht auf der einen Seite, und den Palast des Königs Cepheus in der Ferne auf der andern, so natürlich vor sich sahen, daß sie geschworen [295] hätten, es sei alles wirklich und wahrhaftig so, wie es sich darstellte. Da nun überdies die Musik vollkommen nach dem Sinn des Dichters, und also das alles war, was die Musik des Nomophylax Gryllus – nicht war; da sie immer gerad aufs Herz wirkte, und ungeachtet der größten Einfalt und Singbarkeit doch immer neu und überraschend war: so brachte alles dies, mit der Lebhaftigkeit und Wahrheit der Declamation und Pantomime, und mit der Schönheit der Stimmen und des Vortrags, einen Grad von Täuschung bei den guten Abderiten hervor, wie sie noch in keinem Schauspiel erfahren hatten. Sie vergaßen gänzlich, daß sie in ihrem Nationaltheater saßen; glaubten unvermerkt mitten in der wirklichen Scene der Handlung zu sein, nahmen Anteil an dem Glück und Unglück der handelnden Personen, als ob es ihre nächsten Blutsfreunde gewesen wären, betrübten und ängstigten sich, hofften und fürchteten, liebten und haßten, weinten und lachten, wie es dem Zauberer, unter dessen Gewalt sie waren, gefiel, – kurz, die Andromeda wirkte so außerordentlich auf sie, daß Euripides selbst gestand, noch niemals des Schauspiels einer so vollkommnen Empfindsamkeit genossen zu haben.


Wir bitten – in Parenthesi – die empfindsamen Frauenzimmerchen und Jüngelchen unsrer von lauter Empfindsamkeit höchst unempfindsamen Zeit sehr um Verzeihung! – aber es war in der Tat unsre Meinung nicht, durch diesen Zug der außerordentlichen Empfindsamkeit der Abderiten Ihnen einen Stich zu geben – und gleichsam dadurch einigen Zweifel gegen ihren guten Verstand bei Ihnen selbst oder bei andern Leuten zu erwecken. – In ganzem Ernst, wir erzählen die Sache bloß wie sie sich zutrug; und wem eine so große Empfindsamkeit an Abderiten befremdlich vorkommt, den ersuchen wir höflichst – zu bedenken, daß sie, bei aller ihrer Abderitheit, am Ende doch Menschen waren wie andre; ja, in gewissem Sinn, nur desto mehr Menschen – je mehr Abderiten sie waren. Denn gerade ihre Abderitheit machte, daß es eben so leicht war, sie zu betrügen, als die Vögel, die in die gemalten Trauben des Zeuxis hineinpickten; indem sie sich jedem Eindruck, besonders den Illusionen der Kunst, viel ungewahrsamer und treuherziger überließen, als feinere und kältere, folglich auch gescheutere[296] Leute zu tun pflegen, als welche man so leicht nicht verhindern kann, durch jeden Zauberdunst, den man um sie her macht, durchzusehen.


Übrigens macht der Verfasser dieser Geschichte hier die Anmerkung: Die große Disposition der Abderiten, sich von den Künsten der Einbildungskraft und der Nachahmung täuschen zu lassen, sei eben nicht das, was er am wenigsten an ihnen liebe. Er mag aber wohl dazu seine besondern Ursachen gehabt haben.

In der Tat haben Dichter, Tonkünstler, Maler, einem aufgeklärten und verfeinerten Publico gegenüber schlimmes Spiel; und just die eingebildeten Kenner, die unter einem solchen Publico immer den größten Haufen ausmachen, sind am schwersten zu befriedigen. Anstatt der Einwirkung still zu halten, tut man alles, was man kann, um sie zu verhindern. Anstatt zu genießen, was da ist, raisonniert man darüber, was da sein könnte. Anstatt sich zur Illusion zu bequemen 63, wo die Vernichtung des Zaubers zu nichts dienen kann, als uns eines Vergnügens zu berauben: setzt man ich weiß nicht welche kindische Ehre darin, den Philosophen zur Unzeit zu machen, zwingt sich zu lachen, wo Leute, die sich ihrem natürlichen Gefühl überlassen, Tränen im Auge haben, und, wo diese lachen, die Nase aufzurümpfen, um sich das Ansehen zu geben, als ob man zu stark oder zu fein oder zu gelehrt sei, um sich von so was aus seinem Gleichgewicht setzen zu lassen. –

Aber auch die wirklichen Kenner verkümmern sich selbst den Genuß, den sie von tausend Dingen, die in ihrer Art gut sind, haben könnten, durch Vergleichungen derselben mit Dingen anderer Art; Vergleichungen, die meistens ungerecht und immer wider unsern eignen Vorteil sind. Denn das, was unsre Eitelkeit dabei gewinnt, ein Vergnügen zu verachten, ist doch immer nur ein Schatten, nach welchem wir schnappen, indem uns das Wirkliche entgeht.

Wir finden daher, daß es allezeit unter noch rohen Menschen [297] war, wo die Söhne des Musengottes jene großen Wunder taten, wovon man noch immer spricht, ohne recht zu wissen was man sagt. Die Wälder in Thracien tanzten zur Leier des Orpheus, und die wilden Tiere schmiegten sich zu seinen Füßen, nicht weil er – ein Halbgott war, sondern weil die Thracier – Bären waren; nicht, weil er übermenschlich sang, sondern weil seine Zuhörer wie bloße Naturmenschen hörten; kurz, aus eben dem Grunde, warum (nach Forsters Bericht) eine schottische Sackpfeife die guten Seelen von Tahiti in Entzücken setzte.

Die Anwendung dieser nicht sehr neuen, aber sehr praktischen Bemerkung, die man so oft gehört hat, und doch fast immer aus der Acht läßt, wird der geneigte Leser selbst machen, wenn's ihm beliebt. Unser eigen Gewissen mag uns sagen, ob und in wie fern wir in andern Dingen, mehr oder weniger, Thracier und Abderiten sind; aber wenn wir's in diesem einzigen Puncte wären, so möcht' es nur desto besser für uns – und freilich auch für den größten Teil unsrer poetischen Sackpfeifer, sein.

Zwölftes Kapitel
Wie ganz Abdera vor Bewunderung und Entzücken über die Andromeda des Euripides zu Narren wurde
Philosophischkritischer Versuch über diese seltsame Art von Phrenesie, welche bei den Alten insgemein die abderische Krankheit genannt wird – den Geschichtschreibern ergebenst zugeeignet

Als der Vorhang gefallen war, sahen die Abderiten noch immer mit offnem Aug und Munde nach dem Schauplatz hin; und so groß war ihre Verzückung, daß sie nicht nur ihrer gewöhnlichen Frage, wie hat Ihnen das Stück gefallen? vergaßen, sondern sogar des Klatschens vergessen haben würden, wenn Salabanda und Onolaus (die bei der allgemeinen Stille am ersten wieder zu sich selbst kamen) nicht eilends diesem Mangel abgeholfen, und dadurch ihren Mitbürgern die Beschämung erspart hätten, gerade zum erstenmale, wo sie wirklich Ursache dazu hatten, nicht geklatscht zu haben. Aber dafür brachten sie auch das Versäumte mit Wucher ein. Denn sobald der Anfang gemacht war, wurde so laut und so lange geklatscht, bis kein Mensch mehr seine Hände fühlte. Diejenigen, die nicht mehr konnten, pausierten [298] einen Augenblick, und fingen dann wieder desto stärker an, bis sie von andern, die inzwischen ausgeruht, wieder abgelöst wurden. Es blieb nicht bei diesem lärmenden Ausbruch ihres Beifalls. Die guten Abderiten waren so voll von dem, was sie gehört und gesehen hatten, daß sie sich genötiget fanden, ihrer Repletion noch auf andere Weise Luft zu machen. Verschiedene blieben im Nachhausegehen auf öffentlicher Straße stehen, und declamierten überlaut die Stellen des Stücks, wovon sie am stärksten gerührt worden waren. Andre, bei denen die Leidenschaft so hoch gestiegen war, daß sie singen mußten, fingen zu singen an, und wiederholten, wohl oder übel, was sie von den schönsten Arien im Gedächtnis behalten hatten. Unvermerkt wurde, wie es bei solchen Gelegenheiten zu gehen pflegt, der Paroxysmus allgemein; eine Fee schien ihren Stab über Abdera ausgereckt, und alle seine Einwohner in Komödianten und Sänger verwandelt zu haben. Alles was Odem hatte sprach, sang, trallerte, leierte und pfiff, wachend und schlafend, viele Tage lang nichts als Stellen aus der Andromeda des Euripides. Wo man hin kam, hörte man die große Arie – O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor u.s.w. und sie wurde so lange gesungen, bis von der ursprünglichen Melodie gar nichts mehr übrig war, und die Handwerksbursche, zu denen sie endlich herabsank, sie bei Nacht auf der Straße nach eigner Melodie brüllten.


Wenn der Rat nicht (wie so viele andre, die uns von Weisen gegeben werden) den einzigen Fehler hätte – daß er nicht praktikabel ist, so würden wir eilen was wir könnten, allen Menschen den Rat zu geben, niemals von irgend einer Begebenheit, die ihnen erzählt wird, ein Wort zu glauben. Denn unzählige Erfahrungen, die wir hierüber seit mehr als dreißig Jahren gemacht, haben uns überzeugt, daß an allen solchen Erzählungen ordentlicher Weise kein Wort wahr ist; und wir wissen uns in ganzem Ernst nicht eines einzigen Falles zu besinnen, wo eine Sache, wiewohl sie sich erst vor wenigen Stunden zugetragen, nicht von jedem, der sie erzählte, anders, und also (weil doch ein Ding nur auf eine Art wahr ist) von jedem falsch erzählt worden wäre.


Da es diese Bewandtnis mit Dingen hat, die zu unsrer Zeit, an [299] dem Ort unsers Aufenthalts, und beinahe vor unsern sichtlichen Augen geschehen: so kann man leicht ermessen, wie es um die historische Treue und Zuverlässigkeit solcher Begebenheiten stehen müsse, die sich vor langer Zeit zugetragen, und für die wir keine andre Gewähr haben, als was uns davon in geschriebenen oder gedruckten Büchern weisgemacht wird. Weiß der liebe Gott, wie sie da der armen ehrlichen Wahrheit mitspielen, und was von ihr übrig bleiben kann, wenn sie ein paar tausend Jahre lang durch alle die verfälschenden Mediums von Traditionen, Chroniken, Jahrbüchern, pragmatischen Geschichten, kurzen begriffen, historischen Wörterbüchern, Anekdotensammlungen u.s.w., und durch so manche gewaschne oder ungewaschne Hände von Schreibern und Abschreibern, Setzern und Übersetzern, Censoren und Correctoren etc. durchgebeutelt, geseigt und gepreßt worden ist! Ich meines Orts bin durch die genauere Betrachtung dieser Umstände schon lange bewogen worden, ein Gelübde zu tun, keine andre Geschichte zu schreiben, als von Personen, an deren Existenz – und von Begebenheiten, an deren Zuverlässigkeit – keinem Menschen in der Welt etwas gelegen sein kann.

Was mich zu dieser kleinen Expectoration veranlaßt, ist gerade die Begebenheit, die wir vor uns haben, und die von den verschiedenen Schriftstellern, welche ihrer Erwähnung tun, so seltsam behandelt und mißhandelt worden ist, als ein gutherziger nichts Arges wähnender Leser sich kaum vorstellen kann.

Da ist nun, zum Exempel, dieser Yorik, dieser Erfinder, Vater, Protoplastus und Prototypus aller empfindsamen Reisen und empfindelnden Wandersleute, die ohne Beutel und Tasche, ja ohne nur ein paar Schuhsohlen darüber abgenutzt zu haben, empfindsame Reisen, wer weiß wohin, bloß in der Absicht getan haben, mit deren Beschreibung ihre Bier- und Tabaksrechnung zu saldieren – ich sage, da ist nun dieser Yorik, der, um ein hübsches Kapitelchen in sein berühmtes Sentimental Journey daraus zu machen, diese nämliche Begebenheit so accommodiert hat, daß sie zwar so wunderbar und abenteuerlich als ein Feenmärchen worden ist, aber auch darüber alle ihre individuelle Wahrheit, und sogar alle abderitische Familienähnlichkeit verloren hat.

[300] Man höre nur an! – »Die Stadt Abdera (sagt er) war die schändlichste und gottloseste Stadt in ganz Thracien – wimmelte und brudelte von Giftmischerei, Verschwörungen, Meuchelmord, Schmähschriften, Pasquillen und Tumult. Bei hellem Tage war man seines Lebens nicht sicher; bei Nacht wars noch ärger. Nun begab sichs (fährt er fort), als der Greuel aufs höchste gestiegen war, daß man zu Abdera die Andromeda des Euripides vorstellte. Sie gefiel allen Zuschauern; aber von allen Stellen, die dem Volke gefielen, wirkten keine stärker auf seine Imagination als die zärtlichen Naturzüge, die der Dichter in die rührende Rede des Perseus verweht hatte –


O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!


Alle Welt sprach den folgenden Tag in Jamben, und von nichts als der rührenden Anrede des Perseus: O Amor, du der Götter und der Menschen Herrscher! 64 – In jeder Gasse von Abdera, in jedem Hause: ›O Amor, O Amor‹! – In jedem Munde u.s.w. nichts als: O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor! Das Feuer griff um sich, und die ganze Stadt, gleich dem Herzen eines einzigen Mannes, öffnete sich der Liebe. Kein Drogist konnte einen Scrupel Niesewurz los werden – kein Waffenschmied hatte das Herz, ein einziges Werkzeug des Todes zu schmieden Freundschaft und Tugend begegneten sich auf den Gassen – das goldne Alter kehrte zurück, und schwebte über der Stadt Abdera. Jeder Abderit nahm sein Haberrohr, und jede Abderitin verließ ihr Purpurgewebe, und setzte sich keusch und horchte auf den Gesang.«


In der Tat ein sehr schönes Kapitelchen! Alle jungen Knaben und Mädel fanden es deliciös – »O Amor, Amor! der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!« – Und daß ein einziger Vers [301] aus dem Euripides – ein Vers, wie wahrlich – bei beiden Ohren des Königs Midas! – der geringste unter euern Haberrohrsängern sich alle Augenblicke zwanzig auf einem Beine stehend zu machen getrauen kann – ein Wunder gewirkt haben soll, das alle Priester, Propheten und Weisen der ganzen Welt mit gesamter Hand nicht im Stande gewesen sind, nur ein einzigesmal zu bewirken – das Wunder, eine so schändliche, heillose und gottesvergessene Stadt und Republik, wie Abdera gewesen sein soll, auf einmal in ein unschuldiges, liebevolles Arkadien zu verwandeln – das gefällt freilich den gauchhaarigten, empfindsamen, geelschnäblichten Turteltäubchen und Turteltaubern! Nur Schade, wie gesagt, daß am ganzen Histörchen, so wie es Bruder Yorik erzählt, kein wahres Wort ist.


Das ganze Geheimnis ist: der wunderliche Mensch war verliebt, als er sich das alles einbildete; und so schrieb er (wie es jedem ehrlichen Amoroso und Virtuoso, Steckenpferdler und Mondritter zu gehen pflegt) alles, was er sich einbildete, für Wahrheit hin. Nur ists nicht hübsch an ihm, daß er – um seinem Leibgötzen und Fetisch, Amor, ein desto größeres Compliment zu machenden armen Abderiten das Ärgste nachsagt, was sich von Menschen denken und sagen läßt. Aber das ganze griechische und römische Altertum soll auftreten und zeugen, ob jemals so etwas auf die guten Leute gebracht worden sei! Sie hatten freilich, wie man weiß, ihre Launen und Mucken, und was man im eigentlichen Verstande Klugheit und Weisheit nennt, war nie ihre Sache gewesen; aber ihre Stadt deswegen zu einer Mördergrube zu machen, das geht ein wenig über die Grenzen der berüchtigten Dichterfreiheit, die (so einen großen Tummelplatz man ihr auch immer zugestehen will) doch am Ende, wie alle andere Dinge in der Welt, ihre Grenzen haben muß.

Lucian von Samosata, im Eingang seines berühmten Büchleins, wie man die Geschichte schreiben müßte – wenn man könnte, erzählt die Sache ganz anders, wiewohl, mit seiner Erlaubnis, nicht viel richtiger als Yorik. Er muß, wie es scheint, etwas vom König Archelaus und von der Andromeda des Euripides und von der seltsamen Schwärmerei, die sich der Abderiten bemächtigte, gehört haben; und daß man zuletzt genötiget war, den Hippokrates zu Hülfe zu rufen, damit [302] er alles zu Abdera wieder ins alte Gleis setzen möchte – Und nun sehe man einmal, wie der Mann das alles durch einander wirft! – »Der Komödiant Archelaus (der damals so viel war, als wenn man bei uns Brokmann, oder Schröter, oder, ne vous déplaise, der deutsche Garrik sagt) – dieser Archelaus kam in den Tagen des Königs Lysimachus nach Abdera, und gab die Andromeda des Euripides. Es war just ein außerordentlich heißer Sommertag. Die Sonne brannte den Abderiten auf ihre Köpfe, die wahrlich ohnehin schon warm genug waren. Die ganze Stadt brachte ein starkes Fieber aus der Komödie nach Hause. Am siebenten Tage brach sich bei den Meisten die Krankheit entweder durch heftiges Nasenbluten oder einen starken Schweiß; hingegen blieb ihnen eine seltsame Art von Zufall davon zurück. Denn wie das Fieber vorbei war, überfiel sie allesamt ein unwiderstehlicher Drang, tragische Verse zu declamieren. Sie sprachen in lauter Jamben, schrien, wo sie stunden und gingen, aus vollem Halse ganze Tiraden aus der Andromeda daher, sangen den Monologen des Perseus« u.s.w.

Lucian, nach seiner spöttischen Art, macht sich sehr lustig mit der Vorstellung, wie närrisch es ausgesehen haben müsse, alle Straßen in Abdera von bleichen, entbauchten, und vom siebentägigen Fieber ausgemergelten Tragikern wimmeln zu sehn, die aus allen ihren Leibeskräften, »Du aber, der Götter und der Menschen Herrscher Amor,« u.s.w. gesungen; und er versichert, diese Epidemie habe so lange gedauert, bis der Winter und eine eingefallne große Kälte dem Unwesen endlich ein Ende gemacht.

Man muß gestehen, Lucians Art, den Hergang zu erzählen, hat vor der yorikischen vieles voraus. Denn so seltsam dieses abderitische Fieber scheinen mag, so werden doch alle Ärzte gestehen, daß es wenigstens möglich, und alle Dichter, daß es charaktermäßig ist. Es gilt also davon, was die Italiäner zu sagen pflegen: se non è vero, è ben trovato. Aber wahr ists freilich nicht; wie schon aus dem einzigen Umstand erhellt, daß um die Zeit, da sich diese Begebenheit in Abdera zugetragen haben soll, eigentlich kein Abdera mehr war, weil die Abderiten schon einige Jahre zuvor ausgezogen waren, und ihre Stadt den Fröschen und Ratten überlassen hatten.

Kurz, die Sache begab sich – wie wir sie erzählt haben; und [303] wem man den Paroxysmus, der die Abderiten nach der Andromeda des Euripides überfiel, ein Fieber nennen will: so war es wenigstens von keiner andern Art als das Schauspielfieber, womit wir bis auf diesen Tag manche Städte unsers werten deutschen Vaterlandes behaftet sehen. Das Übel lag nicht sowohl im Blute, als in der Abderitheit der guten Leute überhaupt.

Indessen ist nicht zu leugnen, daß es bei einigen, bei denen es mehr Zunder und Nahrung als bei andern finden mochte, ernsthaft genug wurde, um des Arztes zu bedürfen – woraus denn vermutlich in der Folge der Irrtum Lucians entstanden sein mag, die ganze Sache für eine Art von hitzigem Fieber zu halten. Zum Glücke befand sich Hippokrates noch in der Nähe; und da er die Natur der Abderiten schon ziemlich kennen gelernt hatte: so setzten etliche Pfund Niesewurz alles in kurzem wieder in den alten Stand – d.i. die Abderiten hörten auf: »O du, der Götter und der Menschen Herrscher, Amor!« zu singen, und waren nun samt und sonders wieder – so weise als zuvor.

[304][307]

Zweiter Teil

Viertes Buch
Erstes Kapitel
Veranlassung des Processes, und Facti Species

Der Periodus fatalis der Stadt Abdera schien endlich gekommen zu sein. Kaum hatten sie sich von dem wunderbaren Theaterfieber, womit sie des ehrlichen, arglosen Euripides Götter- und Menschenherrscher Amor heimgesucht hatte, wieder ein wenig erholt; kaum sprachen die Bürger wieder in Prosa mit einander auf den Straßen; kaum verkauften die Drogisten wieder ihre Niesewurz, schmiedeten die Waffenschmiede wieder ihre Rappiere und Transchiermesser, machten sich die Abderitinnen wieder keusch und emsig an ihr Purpurgewebe, und warfen die Abderiten ihr leidiges Haberrohr weg, um ihren verschiednen Berufsarbeiten wieder mit ihrem gewöhnlichen guten Verstande obzuliegen: als die Schicksalsgöttinnen, ganz ingeheim, aus dem schalsten, dünnsten, unhaltbarsten Stoff, der jemals von Göttern oder Menschen versponnen worden ist, ein so verworrenes Gespinnste von Abenteuern, Händeln, Verbitterungen, Verhetzungen, Kabalen, Parteien, und anderm Unrat herauszogen, daß endlich ganz Abdera davon umwickelt und umsponnen wurde, und, da das heillose Zeug durch die unbesonnene Hitze der Helfer und Helfershelfer in Flammen geriet, diese berühmte Stadt darüber beinahe, und vielleicht gänzlich, zu Grunde gegangen wäre, wofern sie, nach des Schicksals Schluß, durch eine geringere Ursache als – Frösche und Ratten hätte vertilgt werden können.

Die Sache fing sich (wie alle große Weltbegebenheiten) mit einer sehr geringfügigen Veranlassung an. Ein gewisser Zahnarzt, Namens Struthion, von Geburt und Vorältern aus Megara [307] gebürtig, hatte sich schon seit vielen Jahren in Abdera häuslich niedergelassen; und weil er vielleicht im ganzen Lande der einzige von seiner Profession war, so erstreckte sich seine Kundschaft über einen ansehnlichen Teil des mittäglichen Thracien. Seine gewöhnliche Weise, denselben in Contribution zu setzen, war, daß er die Jahrmärkte aller kleinen Städte und Flecken auf mehr als dreißig Meilen in der Runde bereisete, wo er, neben seinen Zahnpulver und seinen Zahntincturen, gelegenheitlich auch verschiedene Arcana wider Milz-und Mutterbeschwerungen, Engbrüstigkeit, böse Flüsse u.s.w. mit ziemlichem Vorteil absetzte. Er hatte zu diesem Ende eine eigene Eselin im Stalle, welche bei solchen Gelegenheiten zugleich mit seiner eignen kurzdicken Person, und mit einem großen Quersack voll Arzneien und Victualien beladen wurde. Nun begab sichs einsmals, da er den Jahrmarkt zu Gerania besuchen sollte, daß seine Eselin Abends zuvor ein Füllen geworfen hatte, folglich nicht im Stande war, die Reise mitzumachen. Struthion mietete sich also einen andern Esel, bis zum Ort, wo er sein erstes Nachtlager nehmen wollte; und der Eigentümer begleitete ihn zu Fuß, um das lastbare Tier zu besorgen und wieder nach Hause zu reiten. Der Weg ging über eine große Heide. Es war mitten im Sommer, und die Hitze diesen Tag sehr groß. Der Zahnarzt, dem sie unerträglich zu werden anfing, sah sich lechzend nach einem Schattenplatz um, wo er einen Augenblick absteigen, und etwas frische Luft schöpfen könnte. Aber da war weit und breit weder Baum noch Staude, noch irgend ein andrer schattengebender Gegenstand zu sehen. Endlich, als er seinem Leibe keinen Rat wußte, machte er Halt, stieg ab, und setzte sich in den Schatten des Esels.

Nu, Herr, was macht Ihr da, sagte der Eseltreiber, was soll das? –

Ich setze mich ein wenig in den Schatten, versetzte Struthion, denn die Sonne gibt mir ganz unleidlich auf den Schädel.

Nä, mein guter Herr, erwiderte der andre, so haben wir nicht gehandelt! Ich vermietete euch den Esel, aber des Schattens wurde mit keinem Wort dabei gedacht.

I, sagte der Zahnarzt lachend, der Schatten geht mit dem Esel, das versteht sich.

Ei, beim Jason! das versteht sich nicht, rief der Eselmann ganz [308] trotzig; ein anders ist der Esel, ein anders ist des Esels Schatten. Ihr habt mir den Esel um so und so viel abgemietet. Hättet Ihr den Schatten auch dazu mieten wollen, so hättet Ihrs sagen müssen. Mit einem Wort, Herr, steht auf, und setzt Eure Reise fort, oder bezahlt mir für des Esels Schatten was billig ist.

Was, schrie der Zahnarzt, ich habe für den Esel bezahlt, und soll itzt auch noch für seinen Schatten bezahlen? Nennt mich selbst einen dreidoppelten Esel, wenn ich das tue. Der Esel ist einmal für diesen ganzen Tag mein, und ich will mich in seinen Schatten setzen, so oft mirs beliebt, und darin sitzen bleiben, so lange mirs beliebt, darauf könnt Ihr Euch verlassen!

Ist das im Ernst Eure Meinung? fragte der andre mit der ganzen Kaltblütigkeit eines thracischen Eseltreibers.

In ganzem Ernste, versetzte Struthion.

So komm der Herr nur gleich stehenden Fußes wieder zurück nach Abdera vor die Obrigkeit, sagte jener, da wollen wir sehen, wer von uns beiden Recht behalten wird. So wahr Priapus mir und meinem Esel gnädig sei, ich will sehen, wer mir den Schatten meines Esels wider meinen Willen abtrotzen soll!

Der Zahnarzt hatte große Lust, den Eseltreiber durch die Stärke seines Arms zur Gebühr zu weisen. Schon ballte er seine Faust zusammen, schon hob sich sein kurzer Arm; aber als er seinen Mann genauer betrachtete, fand er für besser, ihn – allmählig wieder sinken zu lassen, und es noch einmal mit gelindern Vorstellungen zu versuchen. Aber er verlor seinen Atem dabei. Der ungeschlachte Mensch bestand darauf, daß er für den Schatten seines Esels bezahlt sein wollte; und da Struthion eben so hartnäckig dabei blieb, nicht bezahlen zu wollen: so war zuletzt kein andrer Weg übrig, als nach Abdera zurückzukehren, und die Sache bei dem Stadtrichter anhängig zu machen.

Zweites Kapitel
Verhandlung vor dem Stadtrichter Philippides

Der Stadtrichter Philippides, vor den alle Händel dieser Art in erster Instanz gebracht werden mußten, war ein Mann von vielen guten Eigenschaften; ein ehrbarer, nüchterner, seinem Amte [309] fleißig vorstehender Mann, der jedermann mit großer Geduld anhörte, den Leuten freundlichen Bescheid gab, und im allgemeinen Ruf stund, daß er unbestechlich sei. Überdies war er ein guter Musikus, sammelte Naturalien, hatte einige Schauspiele gemacht, die, nach Gewohnheit der Stadt, sehr wohl gefallen hatten, und war beinahe gewiß, beim ersten Erledigungsfalle Nomophylax zu werden.

Zu allen diesen Verdiensten hatte der gute Philippides nur einen einzigen kleinen Fehler, und das war: daß, so oft zwo Parteien vor ihn kamen, ihm allemal derjenige Recht zu haben schien, der zuletzt gesprochen hatte. Die Abderiten waren so dumm nicht, daß sie das nicht gemerkt hätten; aber sie glaubten, daß man einem Manne, der so viele gute Eigenschaften besitze, einen einzigen Fehler leicht zu gut halten könne. Ja, sagten sie, wenn Philippides diesen Fehler nicht hätte, er wäre der beste Stadtrichter, den Abdera jemals gesehen hat. – Indessen hatte doch der Umstand, daß dem ehrlichen Manne immer beide Parteien Recht zu haben schienen, natürlicher Weise die gute Folge, daß er nichts angelegners hatte, als die Händel, die vor ihn gebracht wurden, in Güte auszumachen; und so würde die Blödigkeit des guten Philippides ein wahrer Segen für Abdera gewesen sein, wenn die Wachsamkeit der Sykophanten, denen mit seiner Friedfertigkeit übel gedient war, nicht Mittel gefunden hätte, ihre Wirkung fast in allen Fällen zu vereiteln.

Der Zahnarzt Struthion und der Eseltreiber Anthrax kamen also brennend vor diesen würdigen Stadtrichter gelaufen, und brachten beide zugleich mit großem Geschrei ihre Klage vor. Er hörte sie mit seiner gewöhnlichen Langmut an; und, da sie endlich fertig oder des Schreiens müde waren, zuckte er die Achseln, und der Handel deuchte ihm einer der verworrensten, die ihm jemals vorgekommen. Und wer von euch beiden ist denn eigentlich der Kläger, fragte er?

Ich klage gegen den Eselmann, antwortete Struthion, daß er unsern Contract gebrochen hat.

Und ich, sagte dieser, klage gegen den Zahnarzt, daß er sich ohnentgeltlich einer Sache angemaßt hat, die ich ihm nicht vermietet hatte.

Da haben wir zween Kläger, sagte der Stadtrichter, und wo ist [310] der Beklagte? Ein wunderlicher Handel! Erzählt mir die Sache noch einmal mit allen Umständen – aber einer nach dem andern denn es ist unmöglich, klug daraus zu werden, wenn beide zugleich schreien.

Hochgeachter Herr Stadtrichter, sagte der Zahnarzt, ich habe ihm den Gebrauch des Esels auf einen Tag abgemietet. Es ist wahr, des Esels Schatten wurde dabei nicht erwähnt. Aber wer hat auch jemals erhört, daß bei einer solchen Miete eine Clausel wegen des Schattens wäre eingeschaltet worden? Es ist ja, beim Herkules, nicht der erste Esel, der zu Abdera vermietet wird.

Da hat der Herr Recht, sagte der Richter.

Der Esel und sein Schatten gehen mit einander (fuhr Struthion fort); und warum sollte der, der den Esel selbst gemietet hat, nicht auch den Nießbrauch seines Schattens haben?

Der Schatten ist ein Accessorium, das ist klar, versetzte der Stadtrichter.

Gestrenger Herr, schrie der Eseltreiber, ich bin nur ein gemeiner Mann, und verstehe nichts von euren Arien und Orien. Aber das geben mir meine vier Sinne, daß ich nicht schuldig bin, meinen Esel umsonst in der Sonne stehen zu lassen, damit sich ein andrer in seinen Schatten setze. Ich habe dem Herrn den Esel vermietet, und er hat mir die Hälfte voraus bezahlt; das gesteh ich. Aber ein anders ist der Esel, ein anders ist sein Schatten.

Auch wahr, murmelte der Stadtrichter.

Will er diesen haben, so mag er halb so viel dafür bezahlen als für den Esel selbst; denn ich verlange nichts als was billig ist, und ich bitte mir zu meinem Rechte zu verhelfen.

Das Beste, was ihr hierbei tun könnt, sagte Philippides, ist, euch in Güte von einander abzufinden. Ihr, ehrlicher Mann, laßt immerhin des Esels Schatten, weils doch nur ein Schatten ist, mit in die Miete gehen; und Ihr, Herr Struthion, gebt ihm eine halbe Drachme dafür: so können beide Teile zufrieden sein.

Ich gebe nicht den vierten Teil von einem Blaffert, schrie der Zahnarzt, ich verlange mein Recht!

Und ich, schrie sein Gegenpart, besteh auf dem meinigen. Wenn der Esel mein ist, so ist der Schatten auch mein, und ich kann damit als mit meinem Eigentum schalten und walten; und [311] weil der Mann da nichts von Recht und Billigkeit hören will: so verlang ich itzt das Doppelte, und will sehen, ob noch Justiz in Abdera ist!

Der Richter war in großer Verlegenheit. Wo ist denn der Esel, fragte er endlich, da ihm in der Angst nichts anders einfallen wollte, um etwas Zeit zu gewinnen.

Der steht unten auf der Gasse vor der Türe.

Führt ihn in den Hof herein, sagte Philippides.

Der Eigentümer des Esels gehorchte mit Freuden; denn er hielt es für ein gutes Zeichen, daß der Richter die Hauptperson im Spiele sehen wollte. Der Esel wurde herbei geführt. Schade, daß er seine Meinung nicht auch zu der Sache sagen konnte! Aber er stund ganz gelassen da, schaute mit gereckten Ohren erst den beiden Herren, dann seinem Meister ins Gesicht, verzog das Maul, ließ die Ohren wieder sinken, und – sagte kein Wort.

Da seht nun selbst, gnädiger Herr Stadtrichter, rief Anthrax, ob der Schatten eines so schönen, stattlichen Esels nicht seine zwo Drachmen unter Brüdern wert ist, zumal an einem so heißen Tage wie der heutige?

Der Stadtrichter versuchte die Güte noch einmal, und die Parteien fingen schon an, es allmählig näher zu geben: als, unglücklicher Weise, Physignathus und Polyphonus, zween von den namhaftesten Sykophanten in Abdera, dazu kamen, und, nachdem sie gehört, wovon die Rede war, der Sache auf einmal eine andere Wendung gaben. Herr Struthion hat das Recht völlig auf seiner Seite, sagte Physignathus, der den Zahnarzt für einen wohlhabenden und dabei sehr hitzigen und eigensinnigen Mann kannte. Der andre Sykophant, wiewohl ein wenig verdrießlich, daß ihm sein Handwerksgenosse so eilfertig zuvorgekommen war, warf einen Seitenblick auf den Esel, der ihm ein hübsches wohlgenährtes Tier zu sein schien, und erklärte sich sogleich mit dem größten Nachdruck für den Eseltreiber. Beide Parteien wollten nun kein Wort mehr vom Vergleichen hören, und der ehrliche Philippides sah sich genötigt, einen Rechtstag anzusetzen. Sie begaben sich nun jeder mit seinem Sykophanten nach Hause; der Esel aber, mit seinem Schatten als dem Object des Rechtshandels, wurde bis zu Austrag der Sache in den Marstall gemeiner Stadt Abdera abgeführt.

[312]
Drittes Kapitel
Wie die Parteien sich höhern Orts
um Unterstützung bewerben

Nach dem Stadtrecht der Abderiten wurden alle über Mein und Dein unter den gemeinen Bürgern entstandne Händel vor einem Gerichte von zwanzig Ehrenmännern abgetan, welche sich wöchentlich dreimal in der Vorhalle des Tempels der Nemesis versammelten. Alles wurde, aus billiger Rücksicht auf die Nahrung der Sykophanten, schriftlich vor diesem Gerichte verhandelt; und weil der Gang der abderitischen Justiz eine Art von Schneckenlinie beschrieb, und sich auch mit der Geschwindigkeit der Schnecke fortbewegte; zumal die Sykophanten nicht eher zum Beschließen verbunden waren, bis sie nichts mehr zu sagen hatten: so währte das Libellieren gemeiniglich so lange, als es die Mittel der Parteien wahrscheinlicher Weise aushalten konnten. Allein diesesmal kamen so viele besondere Ursachen zusammen, der Sache einen schnellern Schwung zu geben, daß man sich nicht darüber zu verwundern hat, wenn der Proceß über des Esels Schatten binnen weniger als vier Monaten schon so weit gediehen war, daß nun am nächsten Gerichtstage das Endurteil erfolgen sollte.

Ein Rechtshandel über eines Esels Schatten würde sonder Zweifel in jeder Stadt der Welt Aufsehen machen. Man denke also, was er in Abdera tun mußte? Kaum war das Gerüchte davon erschollen, als von Stund an alle andre Gegenstände der gesellschaftlichen Unterhaltung fielen, und jedermann mit eben so viel Teilnehmung von diesem Handel sprach, als ob er ein Großes dabei zu gewinnen oder zu verlieren hätte. Die einen erklärten sich für den Zahnarzt, die andern für den Eseltreiber. Ja, sogar der Esel selbst hatte seine Freunde, welche dafür hielten, daß derselbe ganz wohl berechtigt wäre, interveniendo einzukommen, da er durch die Zumutung, den Zahnarzt in seinem Schatten sitzen zu lassen, und unterdessen in der brennenden Sonnenhitze zu stehen, offenbar am meisten prägraviert worden sei. Mit einem Worte, der besagte Esel hatte seinen Schatten auf ganz Abdera geworfen, und die Sache wurde mit einer Lebhaftigkeit, einem Eifer, einem Interesse getrieben, die kaum[313] größer hätten sein können, wenn das Heil gemeiner Stadt und Republik auf dem Spiele gestanden hätte.

Wiewohl nun diese Verfahrungsweise überhaupt niemanden, der die Abderiten aus der vorgehenden wahrhaften Geschichtsklitterung kennen gelernt hat, befremden wird: so glauben wir doch denen Lesern, welche eine Geschichte nur alsdenn recht zu wissen glauben, wenn ihnen das Spiel der Räder und Triebfedern mit dem ganzen Zusammenhang der Ursachen und Folgen einer Begebenheit aufgeschlossen wird – keinen unangenehmen Dienst zu erweisen, wenn wir ihnen etwas umständlicher erzählen, wie es zugegangen, daß dieser Handel – der in seinem Ursprung nur zwischen Leuten von geringer Erheblichkeit, und über einen äußerst unerheblichen Gegenstand vorwaltete – wichtig genug werden konnte, um zuletzt die ganze Republik in seinen Strudel hineinzuziehen.

Die sämtliche Bürgerschaft in Abdera war (wie von jeher die meisten Städte in der Welt) in Zünfte abgeteilt, und vermöge einer alten Observanz gehörte der Zahnarzt Struthion in die Schusterzunft. Der Grund davon war, wie Gründe der Abderiten immer zu sein pflegten, mächtig spitzfindig. In den ersten Zeiten der Republik hatte nämlich diese Zunft bloß die Schuster und Schuhflicker in sich begriffen. Nachmals wurden alle Arten von Flickern mit dazu genommen; und so kam es, daß in der Folge die Wundärzte, als Menschenflicker, und somit (ob paritatem rationis) alle Arten von Ärzten zu dieser Zunft geschlagen wurden. Struthion hatte demnach (bloß die Ärzte ausgenommen, mit denen er immer stark über'n Fuß gespannt war) die ganze löbliche Schusterzunft, und besonders alle Schuhflicker, auf seiner Seite, die (wie man sich noch erinnern wird) einen sehr ansehnlichen Teil der Bürgerschaft von Abdera ausmachten Natürlicherweise wandte sich also der Zahnarzt vor allen andern sogleich an seinen Vorgesetzten, den Zunftmeister Pfrieme; und dieser Mann, dessen patriotischer Eifer für die Constitution der Republik niemanden unbekannt ist, erklärte sich sogleich mit seiner gewöhnlichen Hitze: daß er sich eher mit seinem eigenen Schusterahl erstechen, als geschehen lassen wollte, daß die Rechte und Freiheiten von Abdera in der Person eines seiner Zunftverwandten so gröblich verletzt würden.

[314] »Billigkeit, sagte er, ist das höchste Recht. Was kann aber billiger sein, als daß derjenige, der einen Baum gepflanzet hat, wiewohl es dabei eigentlich auf die Früchte angesehen war, nebenher auch den Schatten des Baums genieße? Und warum soll das, was von einem Baume gilt, nicht eben so wohl von einem Esel gelten? Wo, zum Henker, soll es mit unsrer Freiheit hinkommen, wenn einem zünftigen Bürger von Abdera nicht einmal frei stehen soll, sich in den Schatten eines Esels zu setzen? Gleich als ob ein Eselsschatten vornehmer wäre, als der Schatten des Rathauses oder des Jasontempels, in den sich stellen, setzen und legen mag wer da will. Schatten ist Schatten, er komme von einem Baum oder von einer Ehrensäule, von einem Esel oder von Sr. Gnaden dem Archon selbst! Kurz und gut, setzte Meister Pfrieme hinzu, verlaßt euch auf mich, Herr Struthion; der Grobian soll euch nicht nur den Schatten, sondern zu eurer gebührenden Saxfazion den Esel noch obendrein lassen, oder es müßte weder Freiheit noch Eigentum mehr in Abdera sein; und dahin solls, beim Element! nicht kommen, so lang ich der Zunftmeister Pfrieme heiße!«

Während daß der Zahnarzt sich der Gunst eines so wichtigen Mannes versichert hatte, ließ es der Eseltreiber Anthrax seines Orts auch nicht fehlen, sich um einen Beschützer zu bewerben, der jenem wenigstens das Gleichgewicht halten könnte. Anthrax war eigentlich kein Bürger von Abdera, sondern nur ein Freigelassener, der sich in dem Bezirk des Jasontempels aufhielt; und er stand als ein Schutzverwandter desselben unter der unmittelbaren Gerichtsbarkeit des Erzpriesters dieses Heroen, der bekanntermaßen zu Abdera göttlich verehrt wurde. Natürlicherweise war also sein erster Gedanke, wie er dazu gelangen könnte, daß der Erzpriester Agathyrsus sich seiner mit Nachdruck annehmen möchte. Allein der Erzpriester Jasons war zu Abdera eine sehr große Person, und ein Eseltreiber konnte schwerlich hoffen, ohne einen besondern Canal den Zutritt zu einem Herrn von diesem Range zu erhalten.

Nach vielen Beratschlagungen mit seinen vertrautesten Freunden wurde endlich folgender Weg beliebt. Seine Frau, Krobyle, war mit einer Putzmacherin bekannt, deren Bruder der begünstigte Liebhaber des Aufwartmädchens einer gewissen milesischen [315] Tänzerin war, welche, wie die Rede ging, bei dem Erzpriester in großen Gnaden stund. Nicht als ob er etwan – wie es zu gehen pflegt – – sonderlich weil die Priester des Jasons unverheiratet sein mußten – kurz, wie die Welt argwöhnisch ist, man sprach freilich allerlei – Aber das Wahre von der Sache ist: der Erzpriester Agathyrsus war ein großer Liebhaber von pantomimischen Solotänzen; und weil er die Tänzerin, um kein Ärgernis zu geben, nicht bei Tage zu sich kommen lassen wollte: so blieb ihm nichts anders übrig, als sie, mit der erforderlichen Vorsicht, bei Nacht durch eine kleine Gartentür in sein Cabinet führen zu lassen. Da nun einst gewisse Leute eine dichtverschleierte Person in der Morgendämmerung wieder herausgehen gesehen hatten: so war das Gemurmel entstanden, als ob es die Tänzerin gewesen sei, und als ob der Erzpriester eine besondere Freundschaft auf diese junge Person geworfen habe; welche in der Tat fähig gewesen wäre, in jedem andern als einem Erzpriester noch etwas mehr zu erregen. – Wie nun dem auch sein mochte, genug, der Eseltreiber sprach mit seiner Frau, Frau Krobyle mit der Putzmacherin, die Putzmacherin mit ihrem Bruder, der Bruder mit dem Aufwartmädchen, und, weil das Aufwartmädchen alles über die Tänzerin vermochte, von welcher vorausgesetzt wurde, daß sie alles über den Erzpriester vermöge, der alles über die Magnaten von Abdera und – ihre Weiber vermochte: so zweifelte Anthrax keinen Augenblick, seine Sache in die besten Hände von der Welt gelegt zu haben.

Aber unglücklicher Weise zeigte sichs, daß die Favoritin der Tänzerin ein Gelübde getan hatte, ihre Allvermögenheit eben so wenig unentgeltlich auszuleihen, als Anthrax den Schatten seines Esels. Sie hatte eine Art von Taxordnung, vermöge deren der geringste Dienst, den man von ihr verlangte, wenigstens eine Erkenntlichkeit von vier Drachmen voraussetzte; und in gegenwärtigem Falle war ihr um so weniger zuzumuten, auch nur eine halbe Drachme nachzulassen, da sie ihrer Schamhaftigkeit eine so große Gewalt antun sollte, eine Sache zu empfehlen, worin ein Esel die Hauptfigur war. Kurz, die Iris bestand auf vier Drachmen, welches just doppelt so viel war, als der arme Teufel, im glücklichsten Falle, mit seinem Proceß zu gewinnen hatte. Er sah [316] sich also wieder in der vorigen Verlegenheit. Denn wie konnte ein schlechter Eseltreiber hoffen, ohne eine haltbarere Stütze als die Gerechtigkeit seiner Sache, gegen einen Gegner zu bestehen, der von einer ganzen Zunft unterstützt wurde, und sich überall rühmte, daß er den Sieg bereits in Händen habe?

Endlich besann sich der ehrliche Anthrax eines Mittels, wie er vielleicht den Erzpriester ohne Dazwischenkunft der Tänzerin und ihres Aufwartmädchens auf seine Seite bringen könnte. Das Beste davon deuchte ihm, daß er es nicht weit zu suchen brauchte. Ohne Umschweife – er hatte eine Tochter, Gorgo genannt, die, in Hoffnung auf eine oder andre Weise beim Theater unterzukommen, ganz leidlich Singen und Zitherspielen gelernt hatte. Das Mädchen war eben keine von den schönsten. Aber eine schlanke Figur, ein paar große schwarze Augen, und die frische Blume der Jugend ersetzten, seinen Gedanken nach, reichlich, was ihrem Gesichte abging; und wirklich, wenn sie sich tüchtig gewaschen hatte, sah sie in ihrem Festtagsstaat, mit ihren langen pechschwarzen Haarzöpfen, und mit einem Blumenstrauß vor dem Busen so ziemlich dem wilden thracischen Mädchen Anakreons ähnlich. Da sich nun bei näherer Erkundigung fand, daß der Erzpriester Agathyrsus auch ein Liebhaber vom Zitherspielen und von kleinen Liedern war, deren die junge Gorgo eine große Menge nicht übel zu singen wußte: so machten sich Anthrax und Krobyle große Hoffnung, durch das Talent und die Figur ihrer Tochter am kürzesten zu ihrem Zweck zu kommen.

Anthrax wandte sich also an den Kammerdiener des Erzpriesters, und Krobyle unterrichtete inzwischen das Mädchen, wie sie sich zu betragen hätte, um, wo möglich, die Tänzerin auszustechen, und von der kleinen Gartentür ausschließlich Meister zu bleiben. Die Sache ging nach Wunsch. Der Kammerdiener, der durch die Neigung seines Herrn zum Neuen und Manchfaltigen nicht selten ins Gedränge kam, ergriff diese gute Gelegenheit mit beiden Händen; und die junge Gorgo spielte ihre Rolle für eine Anfängerin meisterlich. Agathyrsus fand eine gewisse Mischung von Naivheit und Mutwillen, und eine Art wilder Grazie bei ihr, die ihn reizte, weil sie ihm neu war – Kurz, sie hatte kaum zwei- oder dreimal in seinem Cabinette gesungen, so [317] erfuhr Anthrax schon von sichrer Hand, daß Agathyrsus seine gerechte Sache verschiedenen Richtern empfohlen, und sich mit einigem Nachdruck habe verlauten lassen: wie er nicht gesonnen sei, auch den allergeringsten Schutzverwandten des Jasontempels ein Schlachtopfer der Schikanen des Sykophanten Physignathus und der Parteilichkeit des Zunftmeisters Pfrieme werden zu lassen.

Viertes Kapitel
Gerichtliche Verhandlung
Relation des Assessor Miltias
Urtel, und was daraus erfolgt

Inzwischen war nun der Gerichtstag herbeigekommen, da dieser seltsame Handel durch Urtel und Recht entschieden werden sollte. Die Sykophanten hatten in Sachen beschlossen, und die Acten waren einem Referenten, Namens Miltias, übergeben worden, gegen dessen Unparteilichkeit die Mißgönner des Zahnarztes verschiedenes einzuwenden hatten. Denn es war nicht zu leugnen, daß er mit dem Sykophanten Physignatus sehr vertraut umging; und überdies wurde ganz laut davon gesprochen, daß die Dame Struthion 65 (die für eine von den hübschen Weibern in ihrer Classe passierte) ihm die gerechte Sache ihres Mannes zu verschiedenenmalen in eigner Person empfohlen habe. Allein da diese Einwendungen auf keinem rechtsbeständigen Grunde beruhten, und der Turnus nun einmal an diesem Miltias war, so blieb es bei der Ordnung.

Miltias trug die Geschichte des Streits so unbefangen, und beides, sowohl Zweifels- als Entscheidungsgründe, so ausführlich vor, daß die Zuhörer lange nicht merkten, wo er eigentlich hinaus wolle. Er leugnete nicht, daß beide Parteien vieles für und wider sich hätten. Auf der einen Seite scheine nichts klärer, sagte [318] er, als daß derjenige, der den Esel, als das Principale, gemietet, auch das Accessorium, des Esels Schatten, stillschweigend mit einbedungen habe; oder (falls man auch keinen solchen stillschweigenden Vertrag zugeben wollte) daß der Schatten seinem Körper von selbst folge, und also demjenigen, der die Nutznießung des Esels an sich gebracht, auch der beliebige Gebrauch seines Schattens ohne weitere Beschwerde zustehe; um so mehr, als dem Esel selbst dadurch an seinem Sein und Wesen nicht das Mindeste benommen werde. Hingegen scheine auf der andern Seite nicht weniger einleuchtend: daß, wiewohl der Schatten weder als ein wesentlicher noch außerwesentlicher Teil des Esels anzusehen sei, folglich von dem Abmieter des letztern keinesweges vermutet werden könne, daß er jenen zugleich mit diesem stillschweigend habe mieten wollen, gleichwohlen, da besagter Schatten schlechterdings nicht für sich selbst, oder ohne besagten Esel, bestehen könne, und ein Eselsschatten im Grunde nichts anders als ein Schattenesel sei, der Eigentümer des leibhaften Esels mit gutem Fug auch als Eigentümer des von jenem ausgehenden Schattenesels betrachtet, folglich keineswegs angehalten werden könne, letztern ohnentgeltlich an den Abmieter des erstern zu überlassen. Überdies, und wenn man auch zugeben wollte, daß der Schatten ein Accessorium des mehr eröfterten Esels sei, so könne doch dem Abmieter dadurch noch kein Recht an denselben zuwachsen: indem er durch den Mietcontract nicht jeden Gebrauch desselben, sondern nur denjenigen, ohne welchen die Absicht des Contracts, nämlich seine vorhabende Reise, ohnmöglich erzielt werden könne, an sich gebracht habe. Allein da sich unter den Gesetzen der Stadt Abdera keines finde, worin der vorliegende Fall klar und deutlich enthalten sei, und das Urteil also lediglich aus der Natur der Sache gezogen werden müsse: so komme es hauptsächlich auf einen Punct an, der von den beiderseitigen Sykophanten aus der Acht gelassen, oder wenigstens nur obenhin berührt worden, nämlich auf die Frage: ob dasjenige, was man Schatten nenne, unter die gemeinen Dinge, an welche jedermann gleiches Recht hat, oder unter die eigentümlichen, zu welchen einzelne Personen ein ausschließendes Recht haben, oder erwerben können, zu zählen sei? Da nun, in Ermangelung [319] eines positiven Gesetzes, die Übereinstimmung und allgemeine Gewohnheit des menschlichen Geschlechts, als ein wahres Orakel der Natur selbst, billig die Kraft eines positiven Gesetzes habe; vermöge dieser allgemeinen Gewohnheit aber die Schatten der Dinge (auch dererjenigen, die nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinheiten, ja den unsterblichen Göttern selbst eigentümlich zugehören) bisher aller Orten einem jeden, wer er auch sei, frei, ungehindert und ohnentgeltlich zur Benutzung überlassen worden: so erhelle daraus, daß, ex Consensu et Consuetudine Generis Humani, besagte Schatten, eben so wie freie Luft, Wind und Wetter, fließendes Wasser, Tag und Nacht, Mondschein, Dämmerung, und dergleichen mehr, unter die gemeinen Dinge zu rechnen seien, deren Genuß jedem offen stehe, und auf welche – in so fern etwa besagter Genuß, unter gewissen Umständen, etwas Ausschließendes bei sich führe – der erste, der sich ihrer bemächtige, ein momentanes Besitzrecht erhalten habe. – Diesen Satz (zu dessen Bestätigung der scharfsinnige Miltias eine Menge Inductionen vorbrachte, die wir unsern Lesern erlassen wollen) – diesen Satz zum Grunde gelegt, könne er also nicht anders, als dahin stimmen: daß der Schatten aller Esel in Thracien, folglich auch derjenige, der zu vorliegendem Rechtshandel unmittelbaren Anlaß gegeben, eben so wenig einen Teil des Eigentums einer einzelnen Person ausmachen könne, als der Schatten des Berges Athos oder des Stadtturms von Abdera; folglich mehrbesagter Schatten weder geerbt, noch gekauft, noch inter vivos oder mortis causa geschenkt, noch vermietet, noch auf irgend eine andre Art zum Gegenstand eines bürgerlichen Contracts ge macht werden könne; und daß also aus diesen und andern angeführten Gründen, in Sachen des Eseltreibers Anthrax, Klägers, an einem, entgegen und wider den Zahnarzt Struthion, Beklagten, am andern Teil, pcto. des von Beklagten zu Klägers angeblicher Gefährde und Schaden angemaßten Eselsschatten (salvis tamen melioribus) zu Recht zu erkennen sei: daß Beklagter sich des besagten Schattens zu seinem Gebrauch und Nutzen zu bedienen, wohl befugt gewesen; Kläger aber, Einwendens ungeachtet, nicht nur mit seiner unbefugten Foderung abzuweisen, sondern auch in alle Kosten, wie nicht weniger zum Ersatz alles dem Beklagten verursachten [320] Verlusts und Schadens, nach vorgängiger gerichtlicher Ermäßigung, zu verurteilen sei. V.R.W.

Wir überlassen es dem geneigten und rechtserfahrnen Leser, über dieses, zwar nur auszugsweise, mitgeteilte Gutachten des weisen Miltias, nach Belieben, seine Betrachtung anzustellen. Und da wir in dieser ganzen Sache uns keines Urteils anzumaßen, sondern bloß die Stelle eines unparteiischen Geschichtschreibers zu vertreten, entschlossen sind: so begnügen wir uns, zu berichten, daß es seit undenklichen Zeiten eine Observanz bei dem Stadtgerichte zu Abdera war, das gutächtliche Urteil des Referenten jedesmal entweder einhellig, oder doch mit einer großen Mehrheit der Stimmen zu bestätigen. Wenigstens hatte man seit mehr als hundert Jahren kein Beispiel vom Gegenteil gesehen. Es konnte auch, nach Gestalt der Sachen, nicht wohl anders sein. Denn während der Relation, welche gemeiniglich sehr lange dauerte, pflegten die Herren Beisitzer eher alles andre zu tun, als auf die Rationes dubitandi et decidendi des Referenten Acht zu geben. Die meisten stunden auf, guckten zum Fenster hinaus, oder gingen weg, um in einem Nebenzimmer Kuchen oder kleine Bratwürste zu frühstücken, oder machten einen fliegenden Besuch bei einer guten Freundin; und die wenigen, welche sitzen blieben, und einigen Teil an der Sache zu nehmen schienen, hatten alle Augenblicke etwas mit ihren Nachbar zu flüstern, oder schliefen wohl gar überm Zuhören ein. Kurz, es waltete eine Art von stillschweigendem Compromiß auf den Referenten vor, und es geschah bloß um der Form willen, daß einige Minuten, eh er zur wirklichen Conclusion kam, sich jedermann wieder auf seinem Platz einfand, um mit gehöriger Feierlichkeit das abgefaßte Urtel zu bekräftigen. So war es bisher immer, auch bei ziemlich wichtigen Händeln, gehalten worden. Allein dem Proceß über des Esels Schatten widerfuhr die unerhörte Ehre, daß das ganze Gericht beisammen blieb, und (drei bis vier Beisitzer ausgenommen, welche dem Zahnarzt ihre Stimme schon versprochen hatten, und ihr Recht, in der Session zu schlafen, nicht vergeben wollten) jedermann mit aller Aufmerksamkeit zuhörte, die eines so wundervollen Processes würdig war; und als die Stimmen gesammelt wurden, fand sich, daß das Urtel nur mit einem Mehr von 12 gegen 8 bekräftiget wurde.

[321] Sogleich nach geschehener Publication ermangelte Polyphonus, der klägerische Sykophant, nicht, seine Stimme zu erheben, und gegen das Urtel, als ungerecht, parteiisch und mit unheilbaren Nullitäten behaftet, an den großen Rat von Abdera zu appellieren. Da der Proceß über eine Sache geführt wurde, die der beschwert zu sein vermeinte Teil selbst nicht höher als zwo Drachmen geschätzt hatte, und dieses, auch selbst mit Einschluß aller billig mäßigen Kosten und Schaden, noch lange nicht Summa appellabilis war: so erhub sich hierüber ein großer Lerm im Gerichte. Die Minorität erklärte sich, daß es hier gar nicht auf die Summe, sondern auf eine allgemeine Rechtsfrage ankomme, die das Eigentum betreffe, und noch durch kein Gesetz in Abdera bestimmt sei, folglich, vermöge der Natur der Sache, vor den Gesetzgeber selbst gebracht werden müsse; als welchem allein es zukomme, in zweifelhaften Fällen dieser Art den Ausspruch zu tun.

Wie es zugegangen, daß der Referent, bei aller seiner Affection zur Sache des Beklagten, nicht daran gedacht, daß die Gönner des Gegenteils sich dieses Vorwandes bedienen würden, die Sache vor den großen Rat zu spielen – davon wissen wir keinen andern Grund anzugeben, als daß er ein Abderit war, und, nach der allgemeinen althergebrachten Gewohnheit seiner Landesleute, jedes Ding nur von einer Seite, und auch da nur ziemlich obenhin, anzusehen pflegte. Doch kann vielleicht noch zu seiner Entschuldigung dienen, daß er einen Teil der letzten Nacht bei einem großen Gastmahl zugebracht, und, als er nach Hause gekommen, der Dame Struthion noch eine ziemlich lange Audienz hatte geben müssen, und also vermutlich – nicht ausgeschlafen hatte. Genug, nach langem Streiten und Lärmen erklärte sich endlich der Stadtrichter Philippides: daß er, bewandten Umständen nach, nicht umhin könne, die Frage, ob die von Klägern eingewandte Appellation statt finde, vor den Senat zu bringen. Hiermit stund er auf; das Gericht ging ziemlich tumultuarisch auseinander; und beide Parteien eilten, sich mit ihren Freunden, Gönnern und Sykophanten zu beraten, was nun weiter in der Sache anzufangen sei.

[322]
Fünftes Kapitel
Gesinnungen des Senats
Tugend der schönen Gorgo, und ihre Wirkungen
Der Priester Strobylus tritt auf, und
die Sache wird ernsthafter

Der Proceß über des Esels Schatten, der Anfangs die Abderiten bloß durch seine Ungereimtheit belustigt hatte, fing nun an, eine Sache zu werden, in welche die Gerechtsamen, das Point d'honneur, und allerlei Leidenschaften und Interessen verschiedner zum Teil ansehnlicher Glieder der Republik verwickelt wurden.

Der Zunftmeister Pfrieme hatte seinen Kopf darauf gesetzt, daß sein Zunftangehöriger gewinnen müßte; und da er sich meistens alle Abende in den Versammlungsorten der gemeinen Bürger einfand, hatte er schon beinahe die Hälfte des Volks auf seine Seite gebracht, und sein Anhang nahm täglich zu.

Der Erzpriester hingegen hatte den Handel bisher nicht für wichtig genug gehalten, sein ganzes Ansehn zu Gunsten seines Beschützten anzuwenden. Allein da die Sachen zwischen ihm und der schönen Gorgo ernsthafter zu werden anfingen, indem sie, anstatt einer gewissen Gelehrigkeit, die er bei ihr zu finden gehofft hatte, einen Widerstand tat, dessen man sich zu ihrer Herkunft und Erziehung nicht hätte vermuten sollen, ja sich sogar vernehmen ließ: »Wie sie Bedenken trage, ihre Tugend noch einmal den Gefahren eines Besuchs durch die kleine Gartentüre auszusetzen« – so war es ganz natürlich, daß er nun nicht länger säumte, durch den Eifer, womit er die Sache des Vaters zu unterstützen anfing, sich ein näheres Recht an die Dankbarkeit der Tochter zu erwerben.

Der neue Lärm, den der Eselsproceß durch die Provocation an den großen Rat in der Stadt machte, gab ihm Gelegenheit, mit einigen von den vornehmsten Ratsherren aus der Sache zu sprechen. »So lächerlich dieser Handel an sich selbst sei, sagte er, so könne doch nicht zugegeben werden, daß ein armer Mann, der unter dem Schutze Jasons stehe, durch eine offenbare Kabale unterdrückt werde. Es komme nicht auf die Veranlassung an, die oft zu den wichtigsten Begebenheiten sehr gering sei; sondern auf den Geist, womit man die Sache treibe, und auf die Absichten, die man im Schilde, oder wenigstens in Petto führe. Die [323] Insolenz des Sykophanten Physignathus, der eigentlich an diesem ganzen Skandal Schuld habe, müsse gezüchtigt, und dem herrschsüchtigen, unverständigen Demagogen (dem Zunftmeister Pfrieme) noch in Zeiten ein Zügel angeworfen werden, eh es ihm gelinge, die Aristokratie gänzlich über den Haufen zu werfen, u.s.w.«

Wir müssen es zur Steuer der Wahrheit sagen, Anfangs gab es verschiedene Herren des Rats, welche die Sache ungefähr so ansahen, wie sie anzusehen war, und es dem Stadtrichter Philippides sehr verdachten, daß er nicht Sinn genug gehabt, einen so ungereimten Zwist gleich in der Geburt zu ersticken. Allein unvermerkt änderten sich die Gesinnungen; und der Schwindelgeist, der bereits einen Teil der Bürgerschaft auf die Köpfe gestellt hatte, ergriff endlich auch den größern Teil der Ratsherren. Einige fingen an die Sache für wichtiger anzusehen, weil ein Mann wie der Erzpriester Agathyrsus sich derselben so ernstlich anzunehmen schien. Andre setzte die Gefahr, die der Aristokratie aus den Unternehmungen des Zunftmeisters Pfrieme erwachsen könnte, in Unruhe. Verschiedene ergriffen die Partei des Eseltreibers bloß aus Widersprechungsgeist; andre aus einem wirklichen Gefühl, daß ihm Unrecht geschehe; und noch andre erklärten sich für den Zahnarzt, weil gewisse Personen, mit denen sie nie einer Meinung sein wollten, sich für seinen Gegner erklärt hatten.

Mit allem dem würde dennoch dieser geringfügige Handel, so sehr die Abderiten auch – Abderiten waren, niemals eine so heftige Gärung in ihrem gemeinen Wesen verursacht haben, wenn der böse Dämon dieser Republik nicht auch den Priester Strobylus angeschürt hätte, sich, ohne einigen nähern Beruf, als seinen unruhigen Geist und seinen Haß gegen den Erzpriester Agathyrsus, mit ins Spiel zu mischen.

Um dies dem geneigten Leser verständlicher zu machen, werden wir die Sache, wie jener alte Dichter seine Ilias, ab ovo anfangen müssen; um so mehr, als auch gewisse Stellen in unsrer Erzählung des Abenteuers mit dem Euripides, und gewisse Ausdrücke, die dem Priester Strobylus gegen den Demokrit entfielen, ihr gehöriges Licht dadurch erhalten werden.

[324]
Sechstes Kapitel
Verhältnis des Latonentempels
zum Tempel des Jasons
Contrast in den Charakteren des Oberpriesters Strobylus und des Erzpriesters Agathyrsus
Strobylus erklärt sich für die Gegenpartei des letztern, und wird von Salabanda unterstützt, welche eine wichtige Rolle in der Sache zu spielen anfängt

Der Dienst der Latona war (wie Strobylus den Euripides versichert hatte) so alt zu Abdera, als die Verpflanzung der lycischen Colonie; und die äußerste Einfalt der Bauart ihres kleinen Tempels konnte als eine hinlängliche Bekräftigung dieser Tradition angesehen werden. So unscheinbar dieser Latonentempel war, so gering waren auch die gestifteten Einkünfte ihrer Priesterschaft. Wie aber die Not erfindsam ist, so hatten die Herren schon von langem her Mittel gefunden, zu einiger Entschädigung für die Kargheit ihres ordentlichen Einkommens, den Aberglauben der Abderiten in Contribution zu setzen; und da auch dieses nicht zureichen wollte, hatten sie es dahin gebracht, daß der Senat (weil er doch von keiner Besoldungszulage hören wollte) zu Unterhaltung des geheiligten Froschgrabens gewisse Einkünfte aussetzte, deren größten Teil die billigdenkenden Frösche ihren Versorgern überließen.

Eine ganz andre Beschaffenheit hatte es mit dem Tempel des Jason, dieses berühmten Anführers der Argonauten, welchem in Abdera die Ehre der Erhebung in den Götterstand und eines öffentlichen Dienstes widerfahren war; ohne daß wir hievon einen andern Grund anzugeben wissen, als daß verschiedne der ältesten und reichsten Familien in Abdera ihr Geschlechtsregister von diesem Heros ableiteten. Einer von dessen Enkeln hatte sich, wie die Tradition sagte, in dieser Stadt niedergelassen, und war der gemeinsame Stammvater verschiedener Geschlechter geworden, von welchen einige noch in den Tagen unserer gegenwärtigen Geschichte in voller Blüte stunden. Dem Andenken des Helden, von dem sie abstammten, zu Ehren hatten sie Anfangs, nach uraltem Gebrauch, nur eine kleine Hauskapelle gestiftet. Mit der Länge der Zeit war eine Art von öffentlichem Tempel daraus geworden, den die Frömmigkeit der Abkömmlinge Jasons nach und nach mit vielen Gütern und Einkünften [325] versehen hatte. Endlich, als Abdera durch Handelschaft und glückliche Zufälle eine der reichsten Städte in Thracien geworden war, entschlossen sich die Jasoniden, ihrem vergötterten Ahnherrn einen Tempel zu erbauen, dessen Schönheit der Republik und ihnen selbst bei der Nachwelt Ehre machen könnte Der neue Jasonstempel wurde ein herrliches Werk, und machte mit den dazu gehörigen Gebäuden, Gärten, Wohnungen der Priester, Beamten, Schutzverwandten u.s.w. ein ganzes Quartier der Stadt aus. Der Erzpriester desselben mußte allezeit von der ältesten Linie der Jasoniden sein; und da er, bei sehr beträchtlichen Einkünften auch die Gerichtsbarkeit über die zu dem Tempel gehörigen Personen und Güter ausübte: so ist leicht zu erachten, daß die Oberpriester der Latona alle diese Vorzüge nicht mit gleichgültigen Augen ansehen konnten, und daß zwischen diesen beiden Prälaten eine Eifersucht obwalten mußte, die auf die Nachfolger forterbte, und bei jeder Gelegenheit in ihrem Betragen sichtbar wurde.

Der Oberpriester der Latona wurde zwar als das Haupt der ganzen abderitischen Priesterschaft angesehen; allein der Erzpriester Jasons stand nicht unter ihm, sondern machte mit seinen Untergebenen ein besonderes Collegium aus, welches, außer der Schutzherrlichkeit der Stadt Abdera, von aller andern Abhänglichkeit frei war. Die Feste des Latonentempels waren die eigentlichen großen Festtage der Republik; allein da die Mäßigkeit seiner Einkünfte keinen sonderlichen Aufwand zuließ, so war das Fest des Jason, welches mit ungemeiner Pracht und großen Feierlichkeiten begangen wurde, in den Augen des Volks, wo nicht das vornehmste, wenigstens das, worauf es sich am meisten freute; und alle die Ehrerbietung, die man für das Altertum des Latonendienstes hegte, und der große Glaube des Pöbels an den Priester desselben und seine heiligen Frösche, konnte doch nicht verhindern, daß die größre Figur, die der Erzpriester machte, ihm nicht auch einen höhern Grad von Ansehen gegeben haben sollte. Und wiewohl das gemeine Volk überhaupt mehr Zuneigung zu dem Latonenpriester trug, so wurde doch dieser Vorzug dadurch wieder überwogen, daß der Jasonpriester mit den aristokratischen Häusern in einer Verbindung stund, die ihm so viel Einfluß gab, daß es einem ehrgeizigen [326] Manne an diesem Platz ein Leichtes gewesen wäre, einen kleinen Tyrannen von Abdera vorzustellen.

Zu so vielen Ursachen der althergebrachten Eifersucht und Abneigung zwischen den beiden Fürsten der abderitischen Klerisei, kam bei Strobylus und Agathyrsus noch ein persönlicher Widerwille, der eine natürliche Frucht des Contrasts ihrer Sinnesarten war.

Agathyrsus, mehr Weltmann als Priester, hatte in der Tat vom letztern wenig mehr als die Kleidung. Die Liebe zum Vergnügen war seine herrschende Leidenschaft. Denn, wiewohl es ihm nicht an Stolz fehlte, so kann man doch von niemand sagen, daß er ehrgeizig sei, so lange sein Ehrgeiz eine andre Leidenschaft neben sich herrschen läßt. Er liebte die Künste und den vertraulichen Umgang mit Virtuosen aller Arten, und stund in dem Ruf einer von den Priestern zu sein, die wenig Glauben an ihre eignen Götter haben. Wenigstens ist nicht zu leugnen, daß er öfters ziemlich frei über die Frösche der Latona scherzte; und es war jemand, der es beschwören wollte, aus seinem eignen Munde gehört zu haben: »die Frösche dieser Göttin wären schon längst alle in elende Poeten und abderitische Sänger verwandelt worden.« – Daß er mit dem Demokritus in ziemlich gutem Vernehmen lebte, war auch nicht sehr geschickt, seine Orthodoxie zu bestätigen. Kurz, Agathyrsus war ein Mann von gutem Temperament, munterm Kopf und ziemlich freiem Leben; beliebt bei dem abderitischen Adel, noch beliebter bei dem schönen Geschlecht, und – wegen seiner Freigebigkeit und jasonmäßigen Figur – beliebt sogar bei den untersten Classen des Volks.

Nun hätte die Natur, in ihrer launigsten Minute, keinen völligern Antipoden von allem, was Agathyrsus war, machen können, als den Priester Strobylus. Dieser Mann hatte, wie viele seines gleichen, ausfindig gemacht, daß eine in Falten gelegte Miene und ein steifes Wesen unfehlbare Mittel sind, bei dem großen Haufen für einen weisen und unsträflichen Mann zu gelten. Da er nun von Natur ziemlich sauertöpfisch aussah, so hatte es ihm wenig Mühe gekostet, sich diese Gravität anzugewöhnen, die bei den Meisten weiter nichts beweist, als die Schwere ihres Witzes und die Ungeschliffenheit ihrer Sitten. Ohne Sinn für das Große und Schöne, war er ein geborner Verächter[327] aller Talente und Künste, die diesen Sinn voraussetzen; und sein Haß gegen die Philosophie war bloß eine Maske für den natürlichen Groll eines Dummkopfes gegen alle, die mehr Verstand und Wissenschaft haben als er. In seinen Urteilen war er schief und einseitig, in seinen Meinungen eigensinnig, im Widerspruch hitzig und grob, und wo er entweder in seiner eignen Person oder in den Fröschen der Latona beleidigt zu sein glaubte, äußerst rachgierig; aber nichts destoweniger bis zur Niederträchtigkeit geschmeidig, sobald er eine Sache, an der ihm gelegen war, nicht ohne Hülfe einer Person, die er haßte, durchsetzen konnte. Überdies stand er mit einigem Grund in dem Ruf, daß er mit einer gehörigen Dose von Dariken und Philippen zu allem in der Welt zu bringen sei, was mit dem Äußerlichen seines Charakters nicht ganz unverträglich war.

Aus so entgegengesetzten Gemütsarten, und so vielen Veranlassungen zu Neid und Eifersucht auf Seiten des Priesters Strobylus, entsprang notwendig bei beiden ein wechselseitiger Haß, der den Zwang, den ihnen ihr Stand und Platz auferlegte, mit Mühe ertrug, und nur darin verschieden war, daß Agathyrsus den Oberpriester zu sehr verachtete, um ihn sehr zu hassen, und dieser jenen zu sehr beneidete, um ihn so herzlich verachten zu können, als er wohl gewünscht hätte.

Zu diesem allem kam noch, daß Agathyrsus, kraft seiner Geburt und ganzen Lage, für die Aristokratie; Strobylus hingegen, ohngeachtet seiner Verhältnisse zu einigen Ratsherren, ein erklärter Freund der Demokratie, und nächst dem Zunftmeister Pfrieme derjenige war, der durch seinen persönlichen Charakter, seine Würde, seine schwärmerische Hitze, und eine gewisse populäre Art von Beredsamkeit den meisten Einfluß auf den Pöbel hatte.

Man sieht nun leicht voraus, daß die Sache mit dem Eselsschatten oder Schattenesel notwendig ernsthafter werden mußte, sobald ein paar Männer wie die beiden Oberpriester von Abdera darein verwickelt wurden.

Strobylus hatte, so lange der Proceß vor den Stadtrichtern geführt wurde, nicht anders Teil daran genommen, als daß er sich gelegenheitlich erklärte: er würde an des Zahnarztes Platz eben so gehandelt haben. Aber kaum erfuhr er durch die Dame Salabanda, [328] seine Nichte, daß Agathyrsus die Sache seines in der ersten Instanz verurteilten Schutzverwandten zu seiner eignen mache: so fühlte er sich auf einmal berufen, sich mit an die Spitze der Partei des Beklagten zu stellen, und die Kabale des Zunftmeisters mit allem Ansehen, das er bei den Ratsherren sowohl als bei dem Volk hatte, zu unterstützen.

Salabanda war zu sehr gewohnt, ihre Hand in allen abderitischen Händeln zu haben, als daß sie unter den letzten gewesen sein sollte, die in dem gegenwärtigen Partei nahmen. Außer ihrem Verhältnis mit dem Priester Strobylus hatte sie noch eine besondere Ursache, es mit ihm zu halten; eine Ursache, die darum nicht weniger wog, weil sie solche in Petto behielt. Wir haben bei einer andern Gelegenheit erwähnt, daß diese Dame, es sei nun aus bloß politischen Absichten, oder daß sich vielleicht auch ein wenig Coquetterie – und wer weiß, ob nicht auch zuweilen das, was man in der neuern französischen Feinenweltsprache das Herz einer Dame nennt, mit einmischen mochte: genug, ausgemacht war es, daß sie immer eine Anzahl demütiger Sclaven an der Hand hatte, unter denen (wie man glaubte) doch immer wenigstens der eine oder andre wissen müsse, wofür er diene. Die geheime Chronik von Abdera sagte, daß der Erzpriester Agathyrsus eine geraume Zeit die Ehre gehabt, einer von den letztern zu sein; und in der Tat kamen eine Menge Umstände zusammen, warum man dieses Gerüchte für etwas mehr als eine bloße Vermutung halten konnte. Kurz, die vertrauteste Freundschaft hatte seit geraumer Zeit unter ihnen obgewaltet, als die Tänzerin nach Abdera kam, und dem flatterhaften Jasoniden in kurzem so merkwürdig wurde, daß Salabanda endlich nicht länger umhin konnte, sich selbst für aufgeopfert zu halten.

Agathyrsus besuchte zwar ihr Haus noch immer auf den Fuß eines alten Bekannten, und die Dame war zu politisch, um in ihrem äußern Betragen gegen ihn die geringste Veränderung durchscheinen zu lassen. Aber ihr Herz kochte Rache. Sie vergaß nichts, was den Erzpriester immer tiefer in die Sache verwickeln, und immer in Feuer setzen konnte; heimlich aber beleuchtete sie alle seine Schritte und Tritte, und alle großen und kleinen, Vorder- und Hintertüren, die zu seinem Kabinet [329] führen konnten, so genau, daß sie seine Intrigue mit der jungen Gorgo gar bald entdeckte, und den Priester Strobylus in den Stand setzen konnte, den Eifer des Erzpriesters für die Sache des Eseltreibers in ein eben so verhaßtes Licht zu stellen, als sie selbst unter der Hand bemüht war, ihm einen lächerlichen Anstrich zu geben.

Agathyrsus, so wenig es ihm kostete, politische und ehrgeizige Vorteile dem Interesse seiner Vergnügungen aufzuopfern, hatte doch Augenblicke, wo der kleinste Widerstand in einer Sache, an der ihm im Grunde gar nichts gelegen war, seinen ganzen Stolz aufrührisch machte; und so oft dies geschah, pflegte ihn seine Lebhaftigkeit gemeiniglich unendlich weiter zu führen, als er gegangen wäre, wenn er die Sache einiger kühlen Überlegung gewürdiget hätte. Die Ursache, warum er sich Anfangs mit diesem abgeschmackten Handel bemengt hatte, fand itzt zwar nicht länger statt. Denn die schöne Gorgo hatte, ungeachtet des Unterrichts ihrer Mutter Krobyle, entweder nicht Geschicklichkeit oder nicht innern Halt genug gehabt, den anfänglich entworfnen Verteidigungsplan gegen einen so gefährlichen und erfahrnen Belagerer gehörig zu befolgen. Allein er war nun einmal in die Sache verwickelt; seine Ehre war dabei betroffen; er erhielt täglich und stündlich Nachrichten, wie unziemlich der Zunftmeister und der Priester Strobylus mit ihrem Anhang wider ihn loszögen, wie sie drohten, wie übermütig sie die Sache durchzusetzen hofften, und dergleichen – und dies war mehr, als es brauchte, um ihn dahin zu bringen, daß er seine ganze Macht anzuwenden beschloß, um Gegner, die er so sehr verachtete, zu Boden zu werfen, und für die Verwegenheit, sich gegen ihn aufgelehnt zu haben, zu züchtigen. Der Kabalen der Dame Salabanda ungeachtet, die nicht fein genug gesponnen waren, um ihm lange verborgen zu bleiben, war der größte Teil des Senats auf seiner Seite; und wiewohl seine Gegner nichts unterließen, was das Volk gegen ihn erbittern konnte: so hatte er doch, zumal unter den Zünften der Gerber, Fleischer und Bäcker, einen Anhang von derben stämmigten Gesellen, die eben so hitzig vor der Stirne als nervicht von Armen, und auf jeden Wink bereit waren, für ihn und seine Partei, je nachdem es nötig wäre, zu schreien, oder zuzuschlagen.

[330]
Siebentes Kapitel
Das ganze Abdera teilt sich in zwo Parteien
Die Sache kommt vor Rat

In dieser Gärung befanden sich die Sachen, als auf einmal die Namen Schatten und Esel in Abdera gehört, und in kurzem durchgängig dazu gebraucht wurden, die beiden Parteien zu bezeichnen. Man hat über den wahren Ursprung dieser Übernamen ganz zuverlässige Nachricht. Vermutlich, weil doch Parteien nicht lange ohne Namen bestehen können, hatten die Anhänger des Zahnarztes Struthion unter dem Pöbel den Anfang gemacht, sich selbst, weil sie für sein Recht an des Esels Schatten stritten, die Schatten, und ihre Gegner, weil sie den Schatten gleichsam zum Esel selbst machen wollten, aus Spott und Verachtung, die Esel zu nennen. Da nun die Anhänger des Erzpriesters diese Benennung nicht verhindern konnten, so hatten sie, wie es zu gehen pflegt, sich unvermerkt daran gewöhnt, sie, wiewohl bloß anfänglich zum Scherz, zu gebrauchen; nur mit dem Unterschiede, daß sie den Spieß umdrehten, und das Verächtliche mit dem Schatten, und das Ehrenvolle mit dem Esel verknüpften. Wenn es ja eins von beiden sein soll, sagten sie, so wird jeder braver Kerl doch immer lieber ein wirklicher leibhafter Esel mit all seinem Zubehör, als der bloße Schatten von einem Esel sein wollen.

Wie es auch damit zugegangen sein mag, genug, in wenig Tagen war ganz Abdera in diese zwo Parteien geteilt; und so wie sie nun einen Namen hatten, nahm auch der Eifer auf beiden Seiten so schnell und heftig zu, daß es gar nicht mehr erlaubt war, neutral zu bleiben. Bist du ein Schatten oder ein Esel, war immer die erste Frage, die die gemeinen Bürger an einander taten, wenn sie sich auf der Straße oder in der Schenke antrafen; und wenn ein Schatten just das Unglück hatte, an einem solchen Ort der einzige seines gleichen unter einer Anzahl Eseln zu sein, so blieb ihm, wofern er sich nicht gleich mit der Flucht rettete, nichts übrig, als entweder auf der Stelle zu apostasieren, oder sich mit tüchtigen Stößen zur Türe hinaus werfen zu lassen.

Die Unordnungen, die hieraus entstehen mußten, kann man sich ohne unser Zutun vorstellen. Die Verbitterung ging in kurzem [331] so weit, daß ein Schatten sich lieber vor Hunger zum wirklichen stygischen Schatten abgezehrt, als einem Bäcker von der Gegenpartei für einen Dreier Brot abgekauft hätte.

Auch die Weiber nahmen, wie leicht zu erachten, Partei, und gewiß nicht mit der wenigsten Hitze. Denn das erste Blut, das aus Gelegenheit dieses seltsamen Bürgerkriegs vergossen wurde, kam von den Nägeln zwoer Hökerweiber her, die einander auf öffentlichem Markte in die Physionomie geraten waren. Man bemerkte indessen, daß bei weitem der größte Teil der Abderitinnen sich für den Erzpriester erklärte; und wo in einem Hause der Mann ein Schatten war, da konnte man sich darauf verlassen, die Frau war eine Eselin, und gemeiniglich eine so hitzige und unbändige Eselin, als man sich eine denken kann. Unter einer Menge teils heilloser teils lächerlicher Folgen dieses Parteigeists, der in die Abderitinnen fuhr, war keine der geringsten, daß mancher Liebeshandel dadurch auf einmal abgebrochen wurde, weil der eigensinnige Seladon lieber seine Ansprüche als seine Partei aufgeben wollte; so wie hingegen auch mancher, der sich schon Jahre lang vergebens um die Gunst einer Schönen beworben, und ihre Antipathie gegen ihn durch nichts, was jemals von einem unglücklichen Liebhaber versucht worden, hatte überwinden können, itzt auf einmal keines andern Titels bedurfte, um glücklich zu werden, als seine Dame zu überzeugen, daß er – ein Esel sei.

Inzwischen wurde die Präjudicialfrage, ob die von Klägern eingewandte Abberufung an den großen Rat statt finde oder nicht, vor den Senat gebracht. Wiewohl dies das erstemal war, daß es über die Eselssache bei diesem ehrwürdigen Collegio zur Sprache kam: so zeigte sich doch bald, daß jedermann schon seine Partei genommen hatte. Der Archon Onolaus war der einzige, der in Verlegenheit zu sein schien, wie er der Sache einen leidlichen Anstrich geben könnte. Denn man bemerkte, daß er viel leiser als gewöhnlich sprach, und am Schluß seines Vortrags in die merkwürdigen und ominosen Worte ausbrach: er besorge sehr, der Eselsschatten, über welchen itzt mit so vieler Hitze gestritten werde, möchte den Ruhm der Republik auf viele Jahrhunderte verfinstern. Seine Meinung war, man würde am besten tun, die eingelegte Appellation als unstatthaft abzuweisen, [332] den Spruch des Stadtgerichts (bis auf den Punkt der Kosten, die gegen einander aufgehoben werden könnten) zu bestätigen, und beiden Parteien ein ewiges Stillschweigen aufzulegen. Indessen setzte er doch hinzu: wofern die Majora davor hielten, daß die Gesetze von Abdera nicht zureichend wären, einen so geringfügigen Handel auszumachen, so müsse er sich gefallen lassen, daß der große Rat den Ausspruch darüber tue; jedoch wollte er darauf angetragen haben, vorher im Archiv nachsuchen zu lassen, ob sich nicht etwa schon in ältern Zeiten dergleichen ungewöhnliche Fälle ereignet, und wie man sich dabei benommen habe.

Diese Mäßigung des Archon – die ihm von der unparteiischrichtenden Nachwelt einstimmig als ein Beweis von wahrer Regentenweisheit zum Verdienst angerechnet werden wird wurde damals, da der Parteigeist alle Augen verblendet hatte, als Schwachheit und phlegmatische Gleichgültigkeit ausgelegt. Verschiedene Senatoren von der Partei des Erzpriesters ließen sich weitläuftig und mit großem Eifer vernehmen: Man könne nichts geringfügig nennen, was die Rechte und Freiheiten der Abderiten betreffe; wo kein Gesetz sei, finde auch kein gerichtliches Verfahren statt; und das erste Beispiel, wo den Richtern gestattet würde, einen Handel nach einer willkürlichen Billigkeit zu entscheiden, würde das Ende der Freiheit von Abdera sein. Wenn der Streit auch noch was geringeres beträfe, so komme es nicht auf die Frage an, wie viel oder wenig er wert sei, sondern welche von den Parteien Recht habe; und da kein Gesetz vorhanden sei, welches in vorliegendem Fall entscheide, ob des Esels Schatten stillschweigend in der Miete begriffen sei oder nicht: so könne sich weder das Untergericht noch der Senat selbst ohne die offenbarste Tyrannie anmaßen, dem Abmieter etwas zuzusprechen, woran der Vermieter wenigstens eben so viel Recht habe, oder vielmehr ein ungleich besseres, da aus der Natur ihres Contracts keineswegs notwendig folge, daß die Meinung des letztern gewesen, jenem auch den Schatten seines Esels zu vermieten u.s.w. Einer von diesen Herren ging so weit, daß er in der Hitze heraus fuhr: er sei jederzeit ein eifriger Patriot gewesen; und eh er zugeben würde, daß einer seiner Mitbürger sich anmaßen sollte, nur den Schatten einer tauben Nuß [333] dem andern willkürlich abzusprechen, eh wollt' er ganz Abdera in Feuer und Flammen sehen.

Itzt verlor der Zunftmeister Pfrieme alle Geduld. Das Feuer, sagte er, womit man die ganze Stadt mit solcher Verwegenheit bedrohe, sollte mit demjenigen angezündet werden, der sich zu reden unterstehe. »Ich bin kein studierter Mann, fuhr er fort; aber, bei allen Göttern, ich lasse mir Mäusedreck nicht für Pfeffer verkaufen! Man muß den Verstand verloren haben, um einem gesunden Menschen weis machen zu wollen, daß es ein eignes Gesetz brauche, wenn die Frage ist, ob sich einer auf eines Esels Schatten setzen dürfe, wenn er mit barem Geld das Recht erkauft hat, auf dem Esel selbst zu sitzen. Überhaupt ist es Schande und Spott, daß so viel ernsthafte gescheute Männer sich den Kopf über einen Handel zerbrechen, den jedes Kind auf der Stelle entschieden haben würde. Wenn ist denn jemals in der Welt erhört worden, daß Schatten unter die Dinge gehören, die man einander vermietet?«

Herr Zunftmeister, fiel der Ratsherr Buphranor ein, Ihr schlagt Euch selbst auf den Mund, wenn Ihr das behauptet. Denn wenn des Esels Schatten nicht vermietet werden konnte, so ist klar, daß er nicht vermietet worden ist; denn a non posse ad non esse valet consequentia. Der Zahnarzt kann also, nach Eurem eignen Grundsatz, kein Recht an den Schatten haben, und das Urtel ist an sich null und nichtig.

Der Zunftmeister stutzte; und weil ihm nicht gleich einfiel, was sich auf dieses feine Argument antworten ließe, so fing er desto lauter an zu schreien, und rief Himmel und Erde zu Zeugen an, daß er eher seinen grauen Bart Haar vor Haar ausraufen, als sich noch in seinen alten Tagen zum Esel machen lassen wollte. Die Herren von seiner Partei unterstützten ihn aus allen Kräften: allein sie wurden überstimmt; und alles, was sie endlich mit Beihülfe des Archon und des Ratsherrn, der immer leise auftrat, erhalten konnten, war: daß die Sache einsweilen in statu quo bleiben sollte, bis man im Archiv nachgesehen hätte, ob sich kein Präjudicium fände, wodurch dieser Handel ohne größre Weitläuftigkeiten entschieden werden könnte.

[334]
Achtes Kapitel
Gute Ordnung in der Kanzlei von Abdera
Präjudicialfälle, die nichts ausmachen
Das Volk will das Rathaus stürmen, und wird von Agathyrsus besänftigt
Der Senat beschließt, die Sache
dem großen Rat zu überlassen

Die Kanzlei der Stadt Abdera – weil es doch die Gelegenheit mit sich bringt, ihrer hier mit zwei Worten zu erwähnen – war überhaupt so gut eingerichtet und bedient, als man es von einer so weisen Republik erwarten wird. Indessen hatte sie doch mit vielen andern Kanzleien zween Fehler gemein, über welche zu Abdera, schon seit Jahrhunderten, fast täglich Klage geführt wurde, ohne daß darum jemand auf den Einfall gekommen wäre: ob es nicht etwa möglich sein könnte, dem Übel auf eine oder andre Weise abzuhelfen?

Das eine dieser Gebrechen war: daß die Urkunden und Acten in einigen sehr dumpfen und feuchten Gewölben verwahrt lagen, wo sie aus Mangel der Luft verschimmelten, vermoderten, von Motten gefressen, und nach und nach ganz unbrauchbar wurden; das andre: daß man, alles Suchens ungeachtet, nichts darin finden konnte. So oft dies begegnete, pflegte irgend ein patriotischer Ratsherr, meistens mit Beistimmung des ganzen Senats, die Anmerkung zu machen: »es komme bloß daher, weil keine Ordnung in der Kanzlei gehalten werde.« In der Tat ließ sich schwerlich eine Hypothese erdenken, vermittelst welcher diese Erscheinung auf eine leichtere und begreiflichere Weise zu erklären gewesen wäre. Daher kam es nun, daß fast allemal, wenn bei Rat beschlossen wurde, daß in der Kanzlei nachgesehen werden sollte, jedermann schon voraus wußte, und meistens sicher darauf rechnete, daß sich nichts finden würde. Und eben daher kam es auch, daß die gewöhnliche Erklärung, die bei der nächsten Ratssitzung erfolgte: »es habe sich, alles Suchens ungeachtet, nichts in der Kanzlei gefunden«, mit der kaltsinnigsten Gelassenheit, als eine Sache, die man erwartet hatte, und die sich von selbst verstund, aufgenommen wurde.

Dies war nun auch dermalen der Fall gewesen, da die Kanzlei den Auftrag erhalten hatte, in den ältern Acten nachzusehen, ob sich nicht vielleicht ein Präjudicium finde, das der Weisheit des [335] Senats bei Entscheidung des höchstbeschwerlichen Handels über den Eselsschatten zur Fackel dienen könnte. Es hatte sich nichts gefunden, ungeachtet verschiedene Herren in der letzten Session ganz positiv versicherten: es müßten unzählige ähnliche Fälle vorhanden sein.

Indessen hatte gleichwohl der Eifer eines Ratsherrn von der Partei der Esel die Acten von zween alten Rechtshändeln aufgetrieben, die einst vielen Lärm in Abdera gemacht, und mit dem gegenwärtigen eine Ähnlichkeit zu haben schienen.

Der eine betraf einen Streit zwischen den Besitzern zweier Grundstücke in der Stadtflur, über das Eigentumsrecht an einen zwischen beiden gelegnen kleinen Hügel, der ungefähr fünf oder sechs Schritte im Umfang betrug, und mit Verlauf der Zeit aus etlichen zusammengeflossenen Maulwurfshaufen entstanden sein mochte. Tausend kleine Nebenumstände hatten nach und nach eine so heftige Verbitterung zwischen den beiden im Streite befangnen Familien angestiftet, daß jeder Teil entschlossen war, lieber Haus und Hof als sein vermeintes Recht an diesen Maulwurfshügel zu verlieren. Die abderitische Justiz wurde dadurch in eine desto größere Verlegenheit gesetzt, da Beweis und Gegenbeweis von einer so ungeheuern Combination unendlich kleiner, zweifelhafter und unaufklärbarer Umstände abhing, daß nach einem Proceß von fünf und zwanzig Jahren die Sache nicht nur der Entscheidung nicht um einen Schritt näher gekommen, sondern im Gegenteil gerade fünf und zwanzigmal verworrener geworden war als Anfangs. Wahrscheinlicherweise würde sie auch nie zu Ende gebracht worden sein, wenn sich nicht beide Parteien endlich gezwungen gesehen hätten, die Grundstücke, zwischen welchen der strittige Maulwurfshügel lag, ihren Sykophanten für Proceßkosten und Advocatengebühren cum omni causa et actione abzutreten. Da nun hierunter auch das vermeintliche Recht an den besagten kleinen Hügel begriffen war, so hatten die Sykophanten sich noch selbigen Tages in Güte dahin verglichen, dieses Hügelchen der großen Themis zu heiligen, einen Feigenbaum darauf zu pflanzen, und unter denselben auf gemeinschaftliche Kosten die Bildsäule besagter Göttin aus gutem Föhrenholz, mit Steinfarbe angestrichen, setzen zu lassen. [336] Auch wurde, unter Garantie des abderitischen Senats, festgesetzt, daß die Besitzer beider Grundstücke zu ewigen Zeiten schuldig sein sollten, besagte Bildsäule nebst dem Feigenbaum gemeinschaftlich zu unterhalten. Gestalten dann auch beide, und zwar der Feigenbaum in sehr ansehnlichen, die Bildsäule aber in sehr verfallnen und wurmstichigen Umständen, zum ewigen Gedächtnis dieses merkwürdigen Handels, noch zur Zeit des gegenwärtigen zu sehen waren.

Der andre Proceß schien mit dem vorliegenden noch eine nähere Verwandtschaft zu haben. Ein Abderit, Namens Pamphus, besaß ein Landgut, dessen vornehmste Annehmlichkeit darin bestund, daß es auf der südwestlichen Seite eine ganz herrliche Aussicht über ein schönes Tal hatte, welches zwischen zween waldigten Bergen hinlief, in der Ferne immer schmäler wurde, und sich endlich in das ägeische Meer verlor. Pamphus pflegte oft zu sagen: daß ihm diese Aussicht nicht um hundert attische Talente feil wäre; und er hatte um so mehr Ursache, sie so hoch zu taxieren, da das Gut an sich selbst so unerheblich war, daß ihm niemand, der bloß auf den Nutzen sah, fünf Talente darum gegeben haben würde. Unglücklicherweise fand ein ziemlich begüterter abderitischer Bauer, der auf eben dieser südwestlichen Seite sein Nachbar war, sich veranlaßt, eine Scheune bauen zu lassen, die dem guten Pamphus einen so großen Teil seiner Aussicht entzog, daß sein Landgütchen, seiner Rechnung nach, wenigstens um 80 Talente dadurch schlechter wurde. Pamphus wandte alles Mögliche an, den Nachbar in Güte und Ernst von einem so fatalen Bau abzuhalten. Allein der Bauer bestand auf seinem Rechte, seinen erbeigentümlichen Grund und Boden zu überbauen, wo und wie es ihm beliebte. Es kam also zum Proceß. Pamphus konnte zwar nicht erweisen, daß die strittige Aussicht ein notwendiges und wesentliches Pertinenzstück seines Gutes sei; oder, daß ihm Luft und Licht dadurch entzogen werde; oder, daß sein Großvater, der es käuflich an seine Familie gebracht, um besagter Aussicht willen nur eine Drachme mehr bezahlt habe, als das Gut nach damaligem Preise an sich selbst wert war; noch, daß ihm sein Nachbar, der Bauer, mit einiger Servitut verhaftet sei, Kraft deren er ein Recht hätte, ihm den Bau [337] niederzulegen. Allein sein Sykophant behauptete, daß die Entscheidungsgründe dieser Sache viel tiefer lägen, und aus der ersten ursprünglichen Quelle alles Eigentumsrechts unmittelbar geschöpft werden müßten. Wäre die Luft nicht ein durchsichtiges Wesen, sagte der Sykophant: so möchte Elysium und der Olympus selbst dem Landgute meines Principals gegenüber liegen, er würde so wenig jemals davon zu sehen bekommen haben, als ob unmittelbar vor seinen Fenstern eine Mauer stünde, die bis an den Himmel reichte. Die durchsichtige Natur und Eigenschaft der Luft ist also die erste und wahre Grundursache der schönen Aussicht, die das Gut meines Principals beseligt. Nun ist aber die freie durchsichtige Luft, wie jedermann weiß, eines von den gemeinen Dingen, an welche ursprünglich alle ein gleiches Recht haben; und eben darum ist jede noch von niemand occupierte Portion derselben als eine Res Nullius, als eine Sache, die noch niemanden eigentümlich angehört, anzusehen, und wird folglich ein Eigentum des ersten, der sie occupiert. Seit unfürdenklichen Zeiten haben die Vorfahren meines Principals an diesem Gute die dermalen im Streit verfangne Aussicht inne gehabt, besessen und genossen, von männiglichen ungehindert und unangefochten. Sie haben also die dazu erforderliche Portion der Luft wirklich mit ihren Augen occupiert, und sie ist durch diese Occupation so wohl, als durch einen Besitz seit unfürdenklicher Zeit, ein eigentümlicher Teil des mehrbesagten Gutes geworden, wovon solchem nicht das Geringste entzogen werden kann, ohne die Grundgesetze aller bürgerlichen Ordnung und Sicherheit umzustoßen. – Der Senat von Abdera fand diese Gründe ganz bedenklich; es wurde lange für und wider mit großer Subtilität gestritten; und da Pamphus einige Zeit darauf in den Rat gewählt worden war, schien die Sache um so viel verwickelter, und seine Gründe von Zeit zu Zeit immer bedenklicher zu werden. Der Bauer starb endlich, ohne den Ausgang des Handels zu erleben; und seine Erben, welche zuletzt merkten, daß arme Bauersleute wie sie, gegen einen so großen Herrn als ein Ratsherr von Abdera war, nichts gewinnen könnten, ließen sich endlich von ihrem Sykophanten zu einem Vergleich bereden: vermöge dessen sie die Proceßkosten bezahlten, und von dem Bau der strittigen Scheune um so mehr abstanden, da sie – kein Geld [338] mehr dazu hatten, und der Proceß von ihrem Erbgut so viel weggefressen hatte, daß sie keiner neuen Scheune mehr bedurften, um die wenigen Früchte, die ihnen noch zu bauen übrig blieben, aufzubehalten.

Nun war es zwar ziemlich klar, daß diese beiden Rechtshändel zu Entscheidung des vorliegenden sehr wenig Licht geben konnten; zumal da in keinem von beiden definitive war gesprochen worden, sondern beide durch gütlichen Vergleich ihre Endschaft erreicht hatten: allein der Ratsherr, der sie producierte, schien auch keinen andern Gebrauch davon machen zu wollen, als dem Senat zu zeigen: daß diese beiden Händel, die sowohl in Rücksicht auf die Wichtigkeit des Gegenstandes als die Subtilität der Rechtsgründe sehr viele Ähnlichkeit mit dem Eselsproceß zu haben schienen, so viele Jahre lang vor dem abderitischen kleinen Rat geführt und verhandelt worden, ohne daß sich jemand habe beigehen lassen, an den großen Rat zu provocieren, oder nur zu zweifeln, ob der kleine auch wohl Fug und Macht habe, in Sachen dieser Art zu erkennen.

Die sämtlichen Esel unterstützten diese Meinung ihres Parteiverwandten mit desto größerm Eifer, da sie die Majora in Händen hatten, wofern die Sache vor Rat abgetan worden wäre; allein eben darum beharrten die Schatten desto hartnäckiger bei ihrem Widerspruch.

Der ganze Morgen wurde mit Streiten und Schreien zugebracht; und die Herren würden endlich (wie ihnen öfters zu begegnen pflegte) um Mittagsessenszeit unverrichteter Dinge auseinander gegangen sein, wenn eine große Anzahl gemeiner Bürger von der Schattenpartei, die sich auf Veranstaltung des Zunftmeisters Pfrieme vor dem Rathause versammelt hatte, und durch eine Menge herbeigelaufnen Pöbels von der niedrigsten Gattung verstärkt worden war, der Sache nicht endlich den Ausschlag gegeben hätte. Die Partei des Erzpriesters legte in der Folge dem Zunftmeister zur Last, daß er geflissentlich ans Fenster getreten sei, und das Volk durch gegebne Zeichen zum Aufruhr angereizet habe. Allein die Gegenpartei leugnete diese Beschuldigung schlechterdings, und behauptete: das unziemliche Geschrei, das einige Esel auf einmal erhoben hätten, habe die unten versammelten Bürger auf die Gedanken gebracht, als ob den [339] Herren von ihrem Anhang Gewalt geschehe, und dieser Irrtum habe den ganzen Lärm veranlaßt.

Wie dem auch sein mochte, auf einmal schallte ein brüllendes Geschrei zu den Fenstern des Rathauses hinauf: Freiheit, Freiheit! Es lebe der Zunftmeister Pfrieme! Weg mit den Eseln! Weg mit den Jasoniden! u.s.w.

Der Archon kam ans Fenster, und gebot den Aufrührern Ruhe. Aber ihr Geschrei nahm überhand; und einige der Frechsten drohten, das Rathaus auf der Stelle anzuzünden, wenn die Herren nicht unverzüglich aus einander gehen, und die Sache dem großen Rat und dem Volk anheimstellen würden. Etliche lose Buben und Heringsweiber drangen wirklich mit Gewalt in die benachbarten Häuser, rissen Brände von den Feuerherden, und kamen damit zurück, um den gnädigen Herren zu zeigen, daß es mit ihrer Drohung im Ernste gemeinet sei.

Indessen hatte der Auflauf, der hierdurch verursacht wurde, eine Anzahl von Eseln herbei gerufen, die den Herren von ihrer Partei mit Knitteln, Feuerzangen, Fleischmessern, Mistgabeln, und dem ersten dem Besten, was ihnen in die Hände gefallen war, zu Hülfe kommen wollten; und wiewohl sie von den Schatten bei weitem übermehrt waren: so trieb sie doch ihre Herzhaftigkeit und die Verachtung, womit sie die ganze Partei der Schatten ansahen, die wörtlichen Beleidigungen mit so nachdrücklichen Hieben und Stößen zu erwidern, daß es blutige Köpfe absetzte, und das Handgemeng in wenig Augenblicken allgemein wurde.

Bei so gestalten Sachen war nun freilich in der Ratsstube nichts anders zu tun, als einhellig zu beschließen: daß man, lediglich aus Liebe zum Frieden und um des gemeinen Bestens willen, für diesesmal und citra praeiudicium sich gleichwohl gefallen lassen wolle, daß der Handel wegen des Eselsschattens vor den großen Rat gebracht, und der Entscheidung desselben überlassen werden könnte.

Inzwischen war den guten Ratsherren so enge in ihrer Haut, daß sie, so bald man sich (wiewohl auf eine sehr tumultuarische Weise) dieses Schlusses vereiniget hatte, den Zunftmeister Pfrieme mit aufgehabnen Händen baten, sich herunter zu begeben, und das aufgebrachte Volk zu beruhigen. Der Zunftmeister,[340] dem es mächtig wohl tat, die stolzen Patricier so tief unter die Gewalt des Knieriemens gedemütigt zu sehen, zögerte zwar nicht, ihnen die Probe seines guten Willens und seines Ansehens bei dem Volke zu geben; aber der Tumult war schon so groß, daß seine Stimme, wiewohl eine der besten Bierstimmen von ganz Abdera, eben so wenig gehört wurde, als das Geschrei eines Schiffjungens im Mastkorbe unter dem donnernden Geheul des Sturms und dem Brausen der zusammenprallenden Wellen. Er würde sogar in der ersten Wut, in welche der Pöbel (der ihn nicht sogleich erkannte) bei seinem Anblick aufbrannte, seines eignen Lebens nicht sicher gewesen sein, wenn nicht glücklicher Weise der Erzpriester Agathyrsus der diesen zufälligen Tumult für den geschicktesten Augenblick hielt, der Gegenpartei in die Flanke zu fallen – mit seinem vergoldeten Hammelsfell an einer Stange vor sich her, und mit seiner ganzen Priesterschaft hinterdrein, in eben diesem Momente herbeigekommen wäre, dem Aufruhr Einhalt zu tun; indem er dem Pöbel die Versicherung gab, daß ihnen genug getan werden sollte, und daß er selbst der erste sei, der darauf antrage, daß die Sache vor dem großen Rat abgetan werden müsse.

Diese öffentliche Versicherung des Erzpriesters, und seine Herablassung und Leutseligkeit, zugleich mit der Ehrfurcht, die das abderitische Volk für das vergoldete Hammelsfell zu tragen gewohnt war, tat eine so gute Wirkung, daß in wenig Augenblicken alles wieder ruhig war, und der ganze Markt von einem lauten: Lebe der Erzpriester Agathyrsus! erschallte. Die Verwundeten schlichen sich ganz geruhig nach Hause, um sich ihre Köpfe verbinden zu lassen. Der übrige Troß strömte hinter dem zurückkehrenden Erzpriester her. Der Zunftmeister aber hatte den Verdruß zu sehen, daß ein großer Teil seiner sonst so treuergebenen Schatten, von der Ansteckung des übrigen Haufens hingerissen, den Triumph seines Gegners vergrößern half, und in diesem Augenblick des Taumels leicht dahin hätte gebracht werden können, allen den wilden Mutwillen, den sie kurz zuvor an ihren vermeintlichen Feinden, den Eseln, auszuüben bereit waren, nun an ihren eignen Freunden, den Schatten, auszulassen.

[341]
Neuntes Kapitel
Politik beider Parteien
Der Erzpriester verfolgt seinen erhaltenen Vorteil
Die Schatten ziehen sich zurück
Der entscheidende Tag wird fest gesetzt

Dieser unvermutete Vorteil, den der Erzpriester über die Schatten gewann, kränkte diese um so viel empfindlicher, da er ihnen nicht nur die Freude und Ehre des Sieges, den sie im Senat erhalten hatten, verkümmerte, sondern ihre Partei selbst merklich schwächte und ihnen überhaupt zu erkennen gab, wie wenig sie sich auf die Unterstützung eines leichtsinnigen Pöbels verlassen dürften, der von jedem Wind auf eine andere Seite geworfen wird, und selten recht weiß was er selbst will, geschweige was diejenigen mit ihm machen wollen, von denen er sich treiben läßt.

Agathyrsus, der nun das erklärte Haupt der Esel war, hatte durch seine Emissarien erfahren, daß die Gegenpartei durch nichts mehr bei der gemeinen Bürgerschaft gewonnen habe, als durch den Widerstand, den die Beschützer des Eseltreibers anfänglich taten, da die Sache vor den großen Rat gespielt werden, sollte.

Da dieser Rat aus vierhundert Männern bestund, welche als die Repräsentanten der gesamten Bürgerschaft von Abdera angesehen wurden, und wovon beinahe die Hälfte wirklich bloße Krämer und Handwerksleute waren: so glaubte sich jeder gemeine Mann durch die vermeinte Absicht, die Vorrechte desselben einschränken zu wollen, persönlich beleidigt; und die Vorspieglung des Zunftmeisters Pfrieme, daß es auf einen gänzlichen Umsturz ihrer demokratischen Verfassung abgezielt sei, fand desto leichter Eingang.

In der Tat war es auch um das, was in der abderitischen Staatseinrichtung demokratisch schien, bloßes Schattenwerk und politisches Gaukelspiel. Denn der kleine Rat, dessen zwei Drittel aus alten Geschlechtern bestunden, machte im Grunde alles was er wollte; und die Fälle, wo die Vierhundert zusammenberufen werden mußten, waren in dem abderitischen Grundgesetz auf solche Schrauben gesetzt, daß es beinahe gänzlich von dem Urteil [342] des kleinen Rates abhing, wenn und wie oft sie die Vierhundertmänner zusammenberufen wollten, um zu dem, was jener schon beschlossen hatte, ihre Beistimmung zu geben. Aber eben darum, weil dieses Vorrecht der abderitischen Gemeinen nicht sehr viel zu bedeuten hatte, waren sie desto eifersüchtiger darauf; und um so nötiger war es, dem Volk das Gängelband zu verbergen, an welchem man es führte, indem es allein zu gehen glaubte.

Es war also ein wahrer Meisterstreich von dem Erzpriester, daß er sich nun auf einmal und in einem Augenblick, wo die Wirkung davon plötzlich und entscheidend sein mußte, dem Volk in einer Sache zu Willen erklärte, auf die es einen so hohen Wert legte. Und da er, anstatt etwas dabei zu wagen, vielmehr dadurch einen starken Riß in den Plan der Gegenpartei machte: so hatte diese letztere alle Ursache, nun auf neue Mittel und Wege zu denken, wie sie den Erzpriester und seinen Anhang wieder aus dem Vorteil heben, und den günstigen Eindruck auslöschen möchte, den er auf das gemeine Volk gemacht hatte.

Die Häupter der Schatten kamen noch an selbigem Abend in dem Hause der Dame Salabanda zusammen, und beschlossen: daß man, anstatt die Ernennung eines nahen Tages zur Zusammenberufung der Vierhundert bei dem Archon zu betreiben, sich vielmehr (falls es nötig sein sollte) verwenden wolle, solche zu verzögern, um dem Volke Zeit zu geben, sich wieder abzukühlen. Inzwischen wollte man die Bürgerschaft unter der Hand und mit aller Gelassenheit zu überzeugen suchen: wie töricht sie wären, sich von dem Erzpriester und seinen Miteseln als etwas Verdienstliches anrechnen zu lassen, was doch nichts weniger als guter Wille, sondern bloße gezwungne Folge ihrer Schwäche sei. Wenn die Esel es in ihrer Gewalt gehabt hätten, die Sache dem großen Rat aus den Händen zu reißen, so würden sie es getan, und sich wenig darum bekümmert haben, ob es dem Volke lieb oder leid sei. Dieser plötzliche Absprung von ihrem vorigen stadtkundigen Betragen sei ein allzu grober Kunstgriff, die Volkspartei zu trennen, als daß man sich dadurch betrügen lassen könne. Vielmehr habe man um desto mehr Ursache, auf seiner Hut zu sein, da es augenscheinlich darauf angesehen sei, das Volk durch süße Worte einzuschläfern und unvermerkt dahin zu [343] bringen, daß es unwissenderweise ein Werkzeug seiner eignen Unterdrückung werde.

Der Oberpriester Strobylus, der bei dieser Beratschlagung zugegen war, billigte zwar alles, was man tun könnte, um das Ansehen seines Nebenbuhlers bei der Bürgerschaft zu vermindern und seine Absichten verdächtig zu machen: »Allein ich zweifle sehr, setzte er hinzu, daß wir die gehofften Früchte davon erleben werden. Ich bereite ihm aber eine andere und schärfere Lauge zu, die desto besser wirken wird, wenn sie ihm ganz unversehens über den Kopf kommt. Es ist noch nicht Zeit, mich deutlicher zu erklären. Laßt mich nur machen! Mag er sich doch eine Weile mit der Hoffnung schmeicheln, den Priester Strobylus im Triumph hinter sich herzuschleppen! Die Freude soll ihm übel versalzen werden, darauf verlaßt euch! Inzwischen wenn wir, wie ich hoffe, ehrlich an einander sind, und wenn es uns Ernst ist, den Sieg über unsre Feinde zu erhalten, so müssen wir reinen Mund über das halten, was ich euch von meinem geheimen Anschlag habe merken lassen, und seiner Zeit davon entdecken werde. Agathyrsus muß sicher gemacht werden. Er muß glauben, daß wir nur noch mit einem Flügel schlagen, und daß alle unsre Hoffnung auf unserm Vertrauen, das Übergewicht im großen Rate zu machen, beruht.« – Jedermann fand, daß der Oberpriester die Sache sehr richtig gefaßt habe, und die Gesellschaft trennte sich, sehr neugierig, was das wohl für ein Anschlag sein könne, den er gegen den Erzpriester in Petto behalte, aber auch sehr überzeugt, daß, wenn es auf den Sturz des letztern angesehen sei, die Sache in keine bessere als in des Priesters Strobylus Hände gestellt werden könne.

Agathyrsus ermangelte inzwischen nicht, aus dem kleinen Siege, den er durch eine ihm eigene Gegenwart des Geistes zu so gelegener Zeit über seine Gegner erhalten hatte, allen möglichen Vorteil zu ziehen. Er hatte unter den Haufen gemeinen Volks, der ihn bis in den Vorhof des erzpriesterlichen Palasts begleitete, Brot und Wein austeilen lassen, bevor er sie mit einer ernstlichen Vermahnung, ruhig zu sein, wieder nach Hause gehen ließ; wo sie nun vom Lobe seiner Person, seiner Leutseligkeit und Freigebigkeit gegen ihre Nachbarn und Bekannten überflossen. Aber, wiewohl er den Geist der Republiken zu gut kannte, um[344] die Gunst des Pöbels für nichts zu achten, so wußte er doch wohl, daß er damit noch nicht viel gewonnen hatte. Das Notwendigste war, sich der Zuneigung des größten Teils der Vierhundert gänzlich zu versichern; teils weil itzt auf diese alles ankam, teils weil man, wenn sie einmal gewonnen waren, mehr Staat auf sie machen konnte, als auf das übrige Volk. Er hatte zwar bereits einen ansehnlichen Anhang unter ihnen; aber außer einer Anzahl erklärter und eifriger Schatten, mit denen er sich nicht einlassen mochte, befanden sich noch sehr viele – und sie bestanden meistens aus den Vermöglichsten und Angesehensten von der Bürgerschaft – die sich entweder noch gar nicht erklärt hatten, oder nur darum gegen die Partei der Schatten hinneigten, weil ihnen die Häupter der Gegenpartei als herrschsüchtige, gewalttätige Leute beschrieben worden waren, die diese ganze lächerliche Onoskiamachie bloß darum angezettelt hätten, um die Stadt in Verwirrung zu setzen, und die Unruhen, wovon sie selbst die Urheber wären, zum Vorwand und zu Werkzeugen ihrer ehrgeizigen Absichten zu gebrauchen.

Diese Leute auf seine Seite zu bringen, schien ihm nun eben so leicht, als es für den Triumph seiner Partei entscheidend war. Er ließ sie alle noch an selbigem Abend zu Gaste bitten. Die meisten erschienen; und der Erzpriester, der eine besondere Gabe hatte, seiner Politik einen Firniß von Offenheit und aufrichtigem Wesen anzustreichen, machte ihnen kein Geheimnis daraus, daß er sie zu sich gebeten habe, um mit Hülfe so braver und verständiger Männer die Vorurteile zu zerstreuen, die, wie er hörte, der Bürgerschaft wider ihn beigebracht worden. »Daß man, sagte er, in dem Handel zwischen einem Eseltreiber und einem Zahnarzt, und in einem Handel, wo es bloß um den Schatten eines Esels zu tun sei, einen Mann seines Standes zum Haupt einer Partei machen wolle, komme ihm allzu lächerlich vor, als daß er sich jemals einfallen lassen werde, eine so alberne Beschuldigung von sich abzulehnen. Indessen sei der arme Anthrax ein Schutzverwandter des Jasontempels, und er habe ihm also nicht versagen können, sich seiner, so weit als es die Gerechtigkeit erfodre, anzunehmen. Ohne die bekannte auffahrende Hitze des Zunftmeisters Pfrieme, der sich etwas unzeitig zum Sachwalter des Zahnarztes aufgeworfen – nicht weil dieser Recht habe, [345] sondern bloß weil er bei den Schustern zünftig sei – würde eine so unbedeutende Sache ohnmöglich zu solcher Weitläuftigkeit gekommen sein. Sei aber einmal ein Feuer angezündet, so fänden sich immer Leute, denen damit gedient sei, es anzublasen und zu nähren. Er seines Orts habe sich immer zum Gesetz gemacht, sich in nichts zu mischen, das ihn nichts angehe. Daß er sich aber dazu verwendet habe, den gefährlichen Tumult, der diesen Morgen von den Anhängern des Zunftmeisters vor dem Rathause erregt worden, durch seine Dazwischenkunft und gütliche Zureden zu stillen, werde ihm hoffentlich von keinem Billigdenkenden als eine ungeziemende Anmaßung, sondern vielmehr als die Tat eines guten Bürgers und Patrioten ausgelegt werden; zumal, da es dem Charakter eines Priesters immer anständiger sei, Friede zu machen und Unordnungen zu verhüten, als Öl ins Feuer zu gießen, wie von manchen bekannt sei, die er nicht zu nennen nötig habe. Im übrigen leugne er nicht, daß er – da die Sache mit dem Eselsschatten nun einmal in erster Instanz verdorben worden, und zu einem Handel erwachsen sei, an welchem ganz Abdera Anteil zu nehmen sich gleichsam genötigt sehe – immer gewünscht habe, daß die Sache je bälder je lieber vor den großen Rat gebracht würde; nicht sowohl, damit der arme Anthrax die gebührende Genugtuung erhalte (wiewohl nicht zu zweifeln sei, daß ihm solche bei dieser hohen Gerichtsstelle keineswegs werde versagt werden), als damit der zügellose Mutwille der Sykophanten endlich einmal durch irgend ein angemeßnes Gesetz eingeschränkt, und dergleichen Händeln, die der Stadt Abdera zu schlechter Ehre gereichten, fürs künftige nach Möglichkeit vorgebaut werden möchte.«

Agathyrsus brachte alles dies mit so vieler Gelassenheit und Mäßigung vor, daß seine Gäste sich nicht genug über die Ungerechtigkeit derjenigen verwundern konnten, welche einen so gut denkenden Herrn zum vornehmsten Anstifter dieser Unruhen hätten machen wollen. Sie hielten sich nun alle von dem Gegenteil vollkommen überzeugt; und es gelang ihm in wenigen Stunden, diese wackern Leute, ohne daß es sie selbst merkten, und indem sie noch immer ganz unparteiisch zu sein glaubten, zu so guten Eseln zu machen, als es vielleicht in Abdera gab; zumal nachdem die vortrefflichen Weine womit er sie bei [346] der Abendmahlzeit beträufte, jeden Schatten des Mißtrauens vollends ausgelöscht, und jede Seele zur Empfänglichkeit aller Eindrücke, die er ihnen geben wollte, geöffnet hatten.

Man kann sich leicht vorstellen, daß dieser Schritt des Agathyrsus die Gegenpartei nicht wenig beunruhigen mußte. Da die Revolution, welche unter demjenigen Teil der Bürgerschaft, der bisher gleichgültig geblieben war, dadurch bewirkt worden, bald darauf sehr merklich zu werden anfing, und alle Batterien, die man mit verdoppeltem Eifer dagegen spielen ließ, nicht nur ohne Wirkung blieben, sondern gerade die gegenteilige Wirkung taten, und die Übelgesinntheit der Schatten durch die Vergleichung mit der Mäßigung und den patriotischen Gesinnungen des Prälaten nur desto auffallender machten: so würden die besagten Schatten äußerst verlegen gewesen sein, was sie anfangen wollten, um ihrer beinahe ganz gesunknen Partei wieder einen Schwung zu geben, wenn der Priester Strobylus sie nicht bei Mut erhalten, und versichert hätte, daß er, sobald der Gerichtstag festgesetzt sein würde, dem kleinen Jason (wie er ihn zu nennen pflegte) ein Gewitter über den Hals schicken wolle, dessen er sich mit aller seiner Schlauheit gewiß nicht versehn, und wodurch die Sache sogleich ein ganz ander Aussehen gewinnen werde.

Die Schatten schienen sich nun so ruhig zu halten, daß Agathyrsus und sein Anhang diese anscheinende Niedergeschlagenheit ihrer Geister sehr wahrscheinlich der wenigen Hoffnung zuschreiben konnten, welche ihnen nach dem über sie erhaltnen zwiefachen Vorteil übrig blieb. Sie verdoppelten daher ihre Bemühungen bei dem Archon Onolaus (dessen Sohn ein vertrauter Freund des Erzpriesters und einer der hitzigsten Esel war), einen nahen Tag zur Versammlung des großen Rats anzuberaumen; und sie erhielten endlich durch ihr ungestümes Anhalten, daß diese Feierlichkeit auf den sechsten Tag nach der letzten Ratssitzung festgestellt wurde.

Diejenigen, welche die Weisheit eines Plans oder einer genommenen Maßregel nach dem Erfolg zu beurteilen pflegen, werden vielleicht die Sicherheit des Erzpriesters bei der plötzlichen Untätigkeit seiner Gegenpartei eines Mangels an Klugheit und Vorsicht beschuldigen, von welchem wir ihn allerdings [347] nicht gänzlich freisprechen können. Wir leugnen es nicht, es würde behutsamer von ihm gewesen sein, diese Untätigkeit vielmehr irgend einem wichtigen Streich, über welchem sie in der Stille brüteten, als einem zu Boden gesunknen Mute zuzuschreiben. Allein es war einer von den Fehlern dieses Jasoniden, daß er aus allzulebhaftem Gefühl seiner eignen Stärke seine Gegner immer mehr verachtete, als die Klugheit erlaubte. Er handelte fast immer wie einer, der es nicht der Mühe wert hält zu berechnen, was ihm seine Feinde schaden können, weil er sich überhaupt bewußt ist, daß es ihm nie an Mitteln fehlen werde, das Ärgste, was sie ihm tun können, von sich abzutreiben. Indessen ist doch in gegenwärtigem Falle zu vermuten, daß tausend andre an seinem Platz, und bei so günstigen Anscheinungen, eben so gedacht, und, wie er, geglaubt hätten, sehr wohl daran zu tun, wenn sie sich den guten Willen ihrer neuen Freunde zu Nutze machten, bevor er wieder erkaltete, und ihren Feinden keine Zeit ließen, wieder zu sich selbst zu kommen.

Daß der Erfolg seiner Erwartung nicht gemäß war, kam von einem Streich des Priesters Strobylus her, den er mit aller seiner Klugheit nicht voraus sehen konnte; und der, so sehr er auch in dem Charakter dieses Mannes gegründet sein mochte, doch so beschaffen war, daß man nur durch die unmittelbare Erfahrung dahin gebracht werden konnte, ihn dessen für fähig zu halten.

Zehntes Kapitel
Was für eine Mine der Priester Strobylus gegen einen Collegen springen läßt
Zusammenberufung der Zehnmänner
Der Erzpriester wird vorgeladen findet aber Mittel sich sehr zu seinem Vorteil aus der Sache zu ziehen

Tages vorher, eh der Proceß über den Eselsschatten, der seit einigen Wochen die unglückliche Stadt Abdera in so weit aussehende Unruhen gestürzt hatte, vor dem großen Rat entschieden werden sollte, kam der Oberpriester Strobylus, mit zween andern Priestern der Latona und verschiedenen Personen aus dem Volke, in großer Gemütsbewegung und Eilfertigkeit frühmorgens zu dem Archon Onolaus, um Seiner Gnaden ein Wunderzeichen [348] zu berichten, welches (wie man die höchste Ursache habe zu fürchten) die Republik mit irgend einem großen Unglück bedrohe.

Es hätten nämlich schon in der ersten und zweiten Nacht vor dieser letztern einige zum Latonentempel gehörige Personen zu hören geglaubt, daß die Frösche des geheiligten Teiches, anstatt des gewöhnlichen Wreckeckek Koax Koax, welches sie sonst mit allen andern natürlichen Fröschen, und selbst mit denen in den stygischen Sümpfen (wie aus dem Aristophanes zu ersehen) gemein hätten, ganz ungewöhnliche und klägliche Töne von sich gegeben; wiewohl besagte Leute sich nicht getraut, so nahe hinzuzugehen, um solche genau unterscheiden zu können. Auf die Anzeige, die ihm, dem Oberpriester, gestern Abends hievon gemacht worden, habe er die Sache wichtig genug gefunden, um mit seiner untergebnen Priesterschaft die ganze Nacht bei dem geheiligten Teiche zuzubringen. Bis gegen Mitternacht habe die tiefste Stille auf demselben geruht: allein um besagte Zeit habe sich plötzlich ein dumpfes, unglückweissagendes Getön aus dem Teich erhoben; und da sie näher hinzugetreten, hätten sie insgesamt die Töne: Weh! Weh! Pheu! Eleleleleleu! ganz deutlich unterscheiden können. Dieses Wehklagen habe eine ganze Stunde lang gedauert, und sei, außer den Priestern, noch von allen denen gehört worden, die er als Zeugen eines so unerhörten und höchst bedenklichen Wunders mit sich gebracht habe. Da nun gar nicht zu bezweifeln sei, daß die Göttin ihr bisher geliebtes Abdera durch dieses drohende und wundervolle Anzeichen vor irgend einem bevorstehenden großen Unglück habe warnen, oder vielleicht zur Untersuchung und Bestrafung irgend eines noch unentdeckten Frevels auffordern wollen, der den Zorn der Götter auf die ganze Stadt ziehen könnte: so wolle er, kraft seines Amtes und im Namen der Latona, Seine Gnaden hiemit ersucht haben, das Collegium der Zehnmänner unverzüglich zusammen berufen zu lassen, damit die Sache ihrer Wichtigkeit gemäß erwogen, und die weitern Vorkehrungen, die ein solcher Vorfall erfodere, getroffen werden könnten.

Der Archon, der in dem Ruf war, sich in Absicht der geheiligten Frösche ziemlich stark auf die freien Meinungen des Demokritus zu neigen, schüttelte bei diesem Vortrag den Kopf, und [349] stund eine Weile, ohne den Priestern eine Antwort zu geben. Allein der Ernst, womit diese Herren die Sache vorbrachten, und der seltsame Eindruck, den solche bereits auf die gegenwärtigen Personen aus dem Volke gemacht zu haben schien, ließen ihn leicht voraussehen, daß in wenig Stunden die ganze Stadt von diesem vorgeblichen Wunder voll sein, und in schreckenvolle Ahndungen gesetzt werden würde, bei welchen ihm nicht erlaubt sein würde, gleichgültig zu bleiben. Es war ihm also nichts übrig, als sogleich in Gegenwart der Priester den Befehl zu geben, daß die Zehnmänner sich wegen eines außerordentlichen Vorfalls binnen einer Stunde in dem Tempel der Latona versammeln sollten.

Inzwischen hatte, durch Veranstaltung des Oberpriesters, das Gerücht von einem furchtbaren Wunderzeichen, welches seit drei Nächten in dem Haine der Latona gehört werde, sich bereits durch ganz Abdera verbreitet. Die Freunde des Erzpriesters Agathyrsus, die nicht so einfältig waren, sich durch solches Gaukelwerk täuschen zu lassen, wurden dadurch erbittert, weil sie nicht zweifelten, daß irgend ein böser Anschlag gegen ihre Partei darunter verborgen liege. Verschiedene junge Herren und Damen von der ersten Classe affectierten über das vorgegebene Wunder zu spotten, und machten Partien, in der nächsten Nacht der neumodischen Trauermusik im Froschteich der Latona beizuwohnen. Aber auf das gemeine Volk und auf einen großen Teil der Vornehmern, die in Sachen dieser Art allenthalben gemeines Volk zu sein pflegen, machte die Erfindung des Oberpriesters ihre vollständige Wirkung. Das Pheu Pheu, Eleleleleleu der Latonenfrösche unterbrach auf einmal alle bürgerliche und häusliche Beschäftigungen. Alte und Junge, Weiber und Kinder liefen auf den Gassen zusammen, und forschten mit erschrocknen Gesichtern nach den Umständen des Wunders. Und da beinahe ein jedes die Sache aus dem eignen Munde der ersten Zeugen gehört haben wollte, und der Eindruck, den man dergleichen Erzählungen auf die Zuhörer machen sieht, eine natürliche Anreizung für den Erzähler zu sein pflegt, immer etwas, das die Sache interessanter macht, hinzuzutun: so wurde das Wunder in weniger als einer Stunde in den verschiedenen Gegenden der Stadt mit so furchtbaren Umständen gefüttert, daß den Leuten beim [350] bloßen Hören die Haare zu Berge standen. Einige versicherten, die Frösche, als sie den fatalen Gesang angestimmt, hätten Menschenköpfe aus dem Teich emporgereckt; andere, daß sie ganz feurige Augen von der Größe einer Walnuß gehabt hätten; noch andere, daß man zu eben der Zeit allerlei fürchterliche Gespenster, ungeheure heulende Töne von sich gebend, im Hain umherfahren gesehen; wieder andere, daß es bei hellem Himmel ganz erschrecklich über dem Teich geblitzt und gedonnert habe; und endlich beteuerten einige Ohrenzeugen, daß sie ganz deutlich die Worte: Weh dir Abdera! zu wiederholtenmalen, hätten unterscheiden können. Kurz das Wunder wurde, wie gewöhnlich, immer größer, je weiter es sich fortwälzte, und fand desto mehr Glauben, je ungereimter, widersprechender und unglaublicher die Berichte waren, die davon gegeben wurden. Und da man bald die Zehnmänner zu einer ungewöhnlichen Zeit in großer Hast und mit bedeutungsvollen Gesichtern dem Tempel der Latona zueilen sah: so zweifelte nun niemand mehr, daß Begebenheiten von der größten Wichtigkeit in dem Becher des abderitischen Schicksals gemischt würden, und die ganze Stadt schwebte in zitternder Erwartung der Dinge, die da kommen sollten.

Das Collegium der Zehnmänner war aus dem Archon, den vier ältesten Ratsherren, den zween ältesten Zunftmeistern, dem Oberpriester der Latona, und zween Vorstehern des geheiligten Teiches zusammengesetzt, und stellte das ehrwürdigste unter allen abderitischen Tribunalien vor. Alle Sachen, bei denen die Religion von Abdera unmittelbar betroffen war, standen unter seiner Gerichtsbarkeit, und sein Ansehen war beinahe unumschränkt.

Es ist eine alte Bemerkung, daß verständige Leute durchs Alter gewöhnlich weiser, und Narren mit den Jahren immer alberner werden. Ein abderitischer Nestor hatte daher selten viel dadurch gewonnen, daß er zwo oder drei neue Generationen gesehen hatte; und so konnte man ohne Gefahr voraussetzen, daß die Zehnmänner von Abdera, im Durchschnitt genommen, den Ausschuß der blödesten Köpfe in der ganzen Republik ausmachten. Die guten Leute waren so bereitwillig, die Erzählung des Oberpriesters für eine Tatsache, die gar keinem Einwurf ausgesetzt [351] sein könne, anzunehmen, daß sie die Abhörung der Zeugen für eine bloße Formalität anzusehen schienen, womit man so schnell als möglich fertig zu werden suchen müsse. Da nun Strobylus die Herren von der Richtigkeit des Wunders schon zum voraus so wohl überzeugt fand: so glaubte er um so weniger zu wagen, wenn er ohne Zeitverlust zu demjenigen fortschritte, weswegen er sich die Mühe genommen, die ganze Fabel zu erfinden.

»Von dem ersten Augenblick an, sagte er, da meine eignen Ohren Zeugen dieses Wunderzeichens gewesen sind, welches, wie ich wohl sagen kann, in den Jahrbüchern von Abdera niemals seines gleichen gehabt hat, stieg der Gedanke in mir auf: daß es eine Warnung der Göttin sein könnte vor den Folgen ihrer Rache, die, wegen irgend eines geheimen unbestraften Verbrechens, über unsern Häuptern schweben möchte; und dies setzte mich in die Notwendigkeit, des Archons Gnaden zu gegenwärtiger Versammlung des sehr ehrwürdigen Zehnmännergerichts zu veranlassen. Was damals bloß Vermutung war, hat sich seit einer einzigen Stunde zur Gewißheit aufgeklärt. Der Frevler ist bereits entdeckt, und das Verbrechen durch Augenzeugen erweislich, gegen deren Wahrhaftigkeit um so weniger einiger Zweifel vorwaltet, da der Täter ein Mann von zu großem Ansehen ist, als daß etwas geringeres als die Furcht der Götter Leute von gemeinem Stande dahin bringen könnte, als Zeugen wider ihn aufzutreten. Sollten Sie es jemals für möglich gehalten haben, Hochgeachte Herren, daß jemand mitten unter uns verwegen genug sein könne, unsern uralten, von den ersten Stiftern unsrer Stadt auf uns angeerbten, und durch so viele Jahrhunderte unbefleckt erhaltenen Gottesdienst und dessen Gebräuche und heilige Dinge zu verachten, und, ohne Ehrerbietung weder für die Gesetze noch den gemeinen Glauben und die Sitten unsrer Stadt, mutwilligerweise zu mißhandeln, was uns allen heilig und ehrwürdig ist? Mit einem Wort, können Sie glauben, daß ein Mann mitten in Abdera lebt, der, dem Buchstaben des Gesetzes zu Trotz, Störche in seinem Garten unterhält, die sich täglich mit Fröschen aus dem Teich der Latona und andern geheiligten Teichen füttern?«

Erstaunen und Entsetzen drückte sich bei diesen Worten auf [352] jedem Gesicht aus. Wenigstens mußte der Archon, um nicht der einzige zu sein, der die Ausnahme machte, sich eben so bestürzt anstellen, als es seine übrigen Collegen wirklich waren. Ists möglich? schrieen drei oder vier von den Ältesten zugleich; und wer kann der Bösewicht sein, der sich eines solchen Verbrechens schuldig gemacht hat?

»Verzeihen Sie mir, erwiderte Strobylus, wenn ich Sie bitte, diesen harten Ausdruck zu mildern. Ich meines Orts will lieber glauben, daß nicht Gottlosigkeit, sondern bloßer Leichtsinn, und was man heut zu Tage, zumal seit Demokritus sein Unkraut unter uns ausgestreut hat, Philosophie zu nennen pflegt, die Quelle dieser anscheinenden Verachtung unsrer heiligen Gebräuche und Ordnungen sei. Ich will und muß dies um so mehr glauben, da der Mann, der des besagten Frevels durch das einhellige Zeugnis von mehr als sieben glaubwürdigen Personen überwiesen werden kann, selbst ein Mann von geheiligtem Stande, selbst ein Priester, mit einem Wort, da es der Jasonide Agathyrsus ist.«

Agathyrsus? riefen die erstaunten Zehnmänner aus einem Munde. Drei oder vier von ihnen erblaßten, und schienen verlegen zu sein, einen Mann von solcher Bedeutung, und mit dessen Hause sie immer in gutem Vernehmen gestanden, in einen so schlimmen Handel verwickelt zu sehen.

Strobylus ließ ihnen keine Zeit sich zu erholen. Er befahl, die Zeugen hereinzurufen. Sie wurden einer nach dem andern abgehört; und es ergab sich: daß Agathyrsus allerdings seit einiger Zeit zween Störche in seinen Gärten unterhielt; daß man sie öfters über dem geheiligten Teiche schweben, und wirklich einen seiner quakenden Bewohner, der sich eben am Ufer sonnen wollte, die Beute derselben werden gesehen habe.

Wiewohl nun hierdurch die Wahrheit der Beschuldigung außer allen Zweifel gesetzt schien: so glaubte der Archon Onolaus dennoch, daß es der Klugheit gemäß sein würde, zu Verhütung unangenehmer Folgen, mit einem Manne wie der Erzpriester Jasons säuberlich zu verfahren. Er trug also darauf an, daß man sich begnügen sollte, ihm von Seiten der Zehnmänner freundlich bedeuten zu lassen: »Man sei geneigt für diesmal zu glauben, daß die Sache, worüber man sich zu beklagen habe, [353] ohne sein Vorwissen geschehen sei; man verspreche sich aber von seiner bekannten billigen Denkart, daß er keinen Augenblick Anstand nehmen werde, die verbrecherischen Störche an die Vorsteher des heiligen Teiches auszuliefern, und den Zehnmännern sowohl als der ganzen Stadt hiedurch eine gefällige Probe seiner Achtung gegen die Gesetze und religiösen Gebräuche seiner Vaterstadt zu geben.«

Drei Stimmen von neunen bekräftigten den Antrag des Archon; aber Strobylus und die übrigen setzten sich mit großem Eifer dagegen. Sie behaupteten: außerdem, daß es auf keine Weise zu billigen sei, eine so übermäßige Gelindigkeit gegen einen Bürger von Abdera zu gebrauchen, der eines Verbrechens von solcher Schwere überwiesen sei, so erfodere auch die Gerichtsordnung, daß man ihn nicht eher verurteile, eh er gehört und zur Verantwortung gelassen worden. Strobylus trug also darauf an: daß der Erzpriester vorgeladen werden sollte, unverzüglich vor den Zehnmännern zu erscheinen, und sich auf die wider ihn angebrachte Klage zu verantworten; und dieser Antrag ging, Einwendens ungeachtet, mit sechs Stimmen gegen viere durch. Der Erzpriester wurde also mit allen in solchen Fällen üblichen Förmlichkeiten vorgeladen.

Agathyrsus war nicht unvorbereitet, als die Abgeordneten der Zehnmänner in seinem Haus erschienen. Nachdem er sie über eine Stunde hatte warten lassen, wurden sie endlich in einen Saal geführt, wo der Erzpriester, in seinem ganzen Ornat, auf einem erhöhten elfenbeinernen Lehnstuhl sitzend, das stotternde Anbringen ihres Worthalters mit großer Gelassenheit anhörte. Als sie damit fertig waren, winkte er mit der Hand einem Bedienten, der seitwärts hinter seinem Stuhle stand. Führe die Herren, sagte er zu ihm, in die Gärten, und zeige ihnen die Störche, von denen die Rede ist, damit sie ihren Principalen sagen können, daß sie solche mit eignen Augen gesehen haben; hernach bringe sie wieder hieher. Die Abgeordneten machten große Augen; aber die Ehrfurcht vor dem Erzpriester band ihre Zungen, und sie folgten dem Diener stillschweigend und als Leute, denen nicht ganz wohl bei der Sache war. Als sie wieder zurückgekommen, fragte sie Agathyrsus: ob sie die Störche gesehen hätten? und da sie insgesamt mit Ja geantwortet hatten, fuhr er fort: Nun so geht, [354] macht dem sehr ehrwürdigen Gericht der Zehnmänner mein Compliment, und sagt denen, die euch geschickt haben: ich lasse ihnen wissen, daß diese Störche, wie alles übrige, was in dem Umfang des Jasontempels lebt, unter Jasons Schutze stehen; und daß ich die Anmaßung, einen Erzpriester dieses Tempels vorzuladen, und nach den abderitischen Gesetzen richten zu wollen, sehr lächerlich finde. Und damit winkte er ihnen, sich wegzubegeben.

Diese Antwort – deren sich die Zehnmänner um so mehr hätten versehen sollen, da ihnen nicht unbekannt sein konnte, daß der Jasontempel mit seiner Priesterschaft von der Gerichtsbarkeit der Stadt Abdera gänzlich befreit war – setzte sie in eine unbeschreibliche Verlegenheit; und der Oberpriester Strobylus geriet darüber in einen so heftigen Zorn, daß er vor Wut gar nicht mehr wußte, was er sagte, und endlich damit endigte, der ganzen Republik den Untergang zu drohen, wofern dieser unleidliche Stolz eines kleinen aufgeblasenen Pfaffen, der (wie er sagte) nicht einmal als ein öffentlicher Priester anzusehen sei, nicht gedemütigt, und der beleidigten Latona die vollständigste Genugtuung gegeben werde.

Allein der Archon und seine drei Ratsherren erklärten sich: daß Latona (für deren Frösche sie übrigens alle schuldige Ehrerbietung hegten) nichts damit zu tun habe, wenn die Zehnmänner die Grenzen ihrer Gerichtsbarkeit überschritten. Ich hab' euchs vorhergesagt, sprach der Archon; aber ihr wolltet nicht hören. Würde mein Vorschlag angenommen worden sein, so bin ich gewiß, der Erzpriester hätte uns eine höfliche und gefällige Antwort gegeben, denn ein gut Wort findet eine gute Statt. Aber der ehrwürdige Oberpriester glaubte eine Gelegenheit gefunden zu haben, seinen alten Groll an dem Erzpriester auszulassen; und nun zeigt es sich, daß er und diejenigen, die sich von seinem unzeitigen Eifer hinreißen ließen, dem Gericht der Zehnmänner einen Schandfleck zugezogen haben, den alles Wasser des Hebrus und Nestus in hundert Jahren nicht wieder abwaschen wird. Ich gestehe es, (setzte er mit einer Hitze hinzu, die man in vielen Jahren nicht an ihm wahrgenommen hatte,) ich bin es müde, der Vorsteher einer Republik zu sein, die sich von Eselsschatten und Fröschen zu Grunde richten läßt, und ich bin [355] sehr gesonnen, mein Amt, eh es Morgen wird, niederzulegen; aber so lang' ich es noch trage, Herr Oberpriester, sollt ihr mir für jede Unordnung haften, die von diesem Augenblick an auf den Straßen von Abdera entstehen wird. Und mit diesen Worten, die mit einem sehr ernstlichen Blick auf den betroffnen Strobylus begleitet waren, begab sich der Archon mit seinen drei Anhängern hinweg, und ließ die übrigen in sprachloser Bestürzung zurücke.

Was ist nun anzufangen, sagte endlich der Oberpriester, den die Wendung, die das Werk seiner Erfindung wider alles Vermuten genommen hatte, nicht wenig zu beunruhigen anfing; was ist nun zu tun, meine Herren?

Das wissen wir nicht, sagten die beiden Zunftmeister und der vierte Ratsherr, und gingen ebenfalls davon; so daß Strobylus mit den zween Vorstehern des geheiligten Teichs allein blieben, und nachdem sie eine Zeit lang alle drei zugleich gesprochen hatten, ohne selbst recht zu wissen, was sie sagten, endlich des Schlusses eins wurden: fördersamst bei dem einen der Vorsteher die Mittagsmahlzeit einzunehmen, und sodann mit ihren Freunden und Anhängern zu Rate zu gehen, wie sie es nun anzufangen hätten, um die Bewegung, worein das Volk diesen Morgen gesetzt worden war, auf einen Zweck zu lenken, der den Sieg ihrer Partei entscheiden könnte.

Eilftes Kapitel
Agathyrsus beruft seine Anhänger zusammen
Substanz seiner Rede an sie
Er ladet sie zu einem großen Opferfeste ein
Der Archon Onolaus will sein Amt niederlegen
Unruhe der Partei des Erzpriesters
über dieses Vorhaben
Durch was für eine List sie solches vereiteln

Inzwischen ließ Agathyrsus, so bald die Abgeordneten der Zehnmänner sich wieder wegbegeben, unverzüglich die Vornehmsten von seinem Anhang im Rat und unter der Bürgerschaft, nebst allen Jasoniden, zu sich berufen. Er erzählte ihnen, was ihm so eben auf Anstiften des Priesters Strobylus mit den Zehnmännern begegnet war, und stellte ihnen vor, wie notwendig [356] es nun für das Ansehen ihrer Partei so wohl als für die Ehre und selbst für die Erhaltung der Stadt Abdera sei, die Anschläge dieses ränkevollen Mannes zu vereiteln, und dem Volke, welches er durch die lächerliche Fabel von der Wehklage der Latonenfrösche in Unruhe gesetzt, wieder einen entgegengesetzten Stoß zu geben. Es falle einem jeden von selbst in die Augen, daß Strobylus dieses armselige Märchen nur deswegen ersonnen habe, um die eben so ungereimte, aber wegen der abergläubischen Vorurteile des Volkes desto gefährlichere Anklage, die er gegen ihn, den Erzpriester, bei den Zehnmännern angebracht, vorzubereiten, und eine wichtige, die Wohlfahrt der ganzen Republik betreffende Sache daraus zu machen. Aber auch dies sei ihn Grunde doch nur ein Mittel, wozu er in der Verzweiflung gegriffen habe, um seiner darnieder gesunken Partei wieder auf die Füße zu helfen, und von den Bewegungen, welche in der Stadt dadurch erregt worden, bei der bevorstehenden Entscheidung des Eselsschattenhandels Vorteil zu ziehen. Weil nun aus eben diesem Grunde leicht vorauszusehen sei, daß der unruhige Priester aus dem, was diesen Morgen mit den Zehnmännern vorgegangen, neuen Stoff hernehmen werde, ihn, den Erzpriester, bei dem Volke verhaßt zu machen, und im Notfall wohl gar einen abermaligen noch gefährlichern Aufstand zu erregen: so habe er für nötig gehalten, seine und des gemeinen Wesens zuverlässigste Freunde in den Stand zu setzen, dem Volke und allen, die dessen bedürften, richtigere Begriffe von dem heutigen Vorgang und dessen allenfallsigen Folgen geben zu können. Was also die Störche anbelange, so wären solche ohne sein Zutun von selbst gekommen, und hätten sich auf einen Baum seines Gartens ein Nest gebaut. Er habe sich nicht für berechtigt gehalten, sie darin zu stören; teils weil die Störche seit undenklichen Zeiten bei allen gesitteten Völkern im Besitz einer Art von geheiligtem Gastrechte stünden; teils weil die Freiheit des Jasontempels und der Schutz dieses Gottes alle lebende und leblose Dinge angehe, die sich in dem Umfang seiner Mauern befänden. Das Gesetz, wodurch die Zehnmänner vor einigen Jahren die Störche aus dem Gebiet von Abdera verwiesen hätten, gehe ihn nichts an; indem die Gerichtsbarkeit dieses Tribunals sich nur über dasjenige erstrecke, was auf [357] den Dienst der Latona und die Gebräuche desselben Bezug habe. Und überhaupt sei bekannt, daß der Jasontempel nur in so ferne mit der Republik in Verbindung stehe, als sich diese bei dessen Stiftung öffentlich verbindlich gemacht, ihn gegen alle gewaltsame Unternehmungen einheimischer oder auswärtiger Feinde zu beschützen, übrigens aber von allem Gerichtszwange der abderitischen Tribunalien, und von aller Oberherrlichkeit der Republik selbst, vollkommen und auf ewig befreit sei. Er habe also, indem er die unbefugte Vorladung von sich abgewiesen, nichts getan, als was seine Würde von ihm erfordert; die Zehnmänner hingegen hätten durch diesen unbesonnenen Schritt, wozu die Mehrheit derselben von dem Priester Strobylus verleitet worden, ihn in den Fall gesetzt, von der Republik wegen einer so groben Verletzung seiner erzpriesterlichen Vorrechte, im Namen Jasons und aller Jasoniden die strengste und vollständigste Genugtuung zu fordern. Die Sache wäre von wichtigern Folgen, als die Anhänger des Zunftmeister Pfrieme und Strobylus mit seinen Froschpflegern sich vielleicht vorstellten. Das goldne Vließ, welches die Jasoniden als ihr wichtigstes Erbgut in diesem Tempel aufbewahrten, wäre seit Jahrhunderten als das Palladium von Abdera betrachtet und verehrt worden. Die Abderiten hätten sich also wohl vorzusehen, keine Schritte zu tun noch zuzulassen, wodurch sie vielleicht durch eigne Schuld desjenigen beraubt werden könnten, an welches nach einem uralten und zur Religion gewordnen Glauben das Schicksal und die Erhaltung ihrer Republik gebunden sei.

Der Erzpriester empfing auf diesen Vortrag von allen Anwesenden die stärksten Versicherungen ihres Eifers sowohl für die gemeine Sache, als für die Rechte und Freiheiten des Jasontempels. Man besprach sich über die verschiednen Maßregeln die man nehmen wollte, um die Bürgerschaft in ihren guten Gesinnungen zu befestigen, und diejenigen wieder zu gewinnen, die entweder das vorgegebne Wunderzeichen mit den Fröschen der Latona irre gemacht, oder Strobylus gegen die Störche des Erzpriesters aufgewiegelt haben würde. Die Versammlung trennte sich hierauf, und jeder begab sich an seinen Posten, nachdem Agathyrsus sie alle zu einem feierlichen Opfer eingeladen[358] hatte, welches er diesen Abend dem Jason in seinem Tempel bringen wollte.

Während daß dies im Palast des Erzpriesters vorging, war der Archon, äußerst mißvergnügt über die nicht allzuehrenfeste Rolle, die er wider Willen hatte spielen müssen, nach Hause gekommen, und hatte alle seine Verwandte, Brüder, Schwäger, Söhne, Tochtermänner, Neffen und Vettern, zu sich berufen lassen, um ihnen anzukündigen: was gestalten er fest entschlossen sei, morgenden Tages vor dem großen Rat seine Würde niederzulegen, und sich auf ein Landgut, das er vor einigen Jahren auf der Insel Thasos gekauft hatte, zurückzuziehen. Sein ältester Sohn und noch etliche von der Familie waren bei diesem Familienconvent nicht zugegen, weil sie eine halbe Stunde zuvor zu dem Erzpriester waren gebeten worden. Da nun die übrigen sahen, daß Onolaus, aller ihrer Bitten und Vorstellungen ungeachtet, unbeweglich auf seinem Vorsatz beharrte: so schlich sich einer von ihnen weg, um der Versammlung im Jasonstempel Nachricht davon zu geben, und sie um ihren Beistand gegen einen so unverhofften widrigen Zufall zu ersuchen.

Er langte eben an, da die Versammlung im Begriff war, auseinander zu gehen. Diejenigen, denen die Gemütsart des Archon von langem her bekannt war, fanden die Sache bedenklicher, als sie beim ersten Anblick den Meisten vorkam. Seit zehn Jahren, sagten sie, ist dies vielleicht das erstemal, daß der Archon eine Entschließung aus sich selbst genommen hat. Gewiß ist sie ihm nicht plötzlich gekommen! Er brütet schon eine geraume Zeit darüber, und der heutige Vorgang hat nur die Schale gesprengt, die über kurz oder lang doch hätte brechen müssen. Kurz, diese Entschließung ist sein eigen Werk; man kann also sicher darauf rechnen, daß es nicht so leicht sein wird, ihn davon zurückzubringen.

Die ganze Versammlung geriet darüber in Unruhe. Man fand, daß dieser Streich in einem so schwankenden Zeitpunkt, wie der gegenwärtige, der ganzen Partei und der Republik selbst sehr nachteilig werden könnte. Es wurde also einhellig beschlossen; daß man zwar so viel von diesem Vorhaben des Archons unter das Volk kommen lassen müßte, als vonnöten sei, solches in Furcht und Ungewißheit zu setzen; zugleich aber wollte man [359] auch veranstalten, daß noch vor dem Opfer im Jasonstempel die Angesehensten von den Räten und Bürgern beider Parteien sich zu dem Archon begeben, und ihn im Namen des ganzen Abdera beschwören sollten, das Ruder der Republik nicht mitten in einem Sturm zu verlassen, wo sie eines so weisen Piloten am meisten vonnöten hätten.

Der Gedanke, die Vornehmsten von beiden Parteien hierin zu vereinigen, wurde dadurch notwendig, weil man voraus sah, daß ohne dieses alle ihre Arbeit an dem Archon fruchtlos sein würde. Denn wiewohl er von Jugend an der Aristokratie eifrig ergeben war: so hatte er sich doch zu einem Grundsatz gemacht, nicht dafür angesehen sein zu wollen; und die Popularität, die er zu diesem Ende schon so lange affectierte, daß sie ihm endlich ganz natürlich ließ, war es eben, was ihn beim Volke so beliebt gemacht hatte, als noch wenige von seinen Vorfahren gewesen waren. Besonders aber hatte er, seitdem sich die Stadt in die zwo Parteien der Esel und der Schatten geteilt befand, einen ordentlichen Ehrenpunct darin gesetzt, sich so zu betragen, daß er keiner von beiden Parteien Ursach gäbe, ihn zu der ihrigen zu zählen; und wiewohl beinahe alle seine Freunde und Anverwandte erklärte Esel waren, so blieben die Schatten doch überzeugt, daß sie nichts dadurch verlören, und die Esel nichts dabei gewönnen, indem diese letztere genötigt waren, alle ihre Schritte vor ihm zu verbergen, und bei jedem Vorteil, den sie über die Schatten erhielten, sich darauf verlassen konnten, daß er, um die Sachen wieder ins Gleichgewicht zu bringen, sich auf die Seite ihrer Gegner neigen würde, wiewohl er keinen einzigen von ihnen persönlich liebte.

Die Bekanntmachung der Entschließung des Archons hatte alle die Wirkung, die man sich davon versprochen hatte. Das Volk geriet darüber in neue Bestürzung; die Meisten sagten, man brauche nun weiter nicht nachzuforschen, was die Wehklage der geheiligten Frösche vorbedeute. Wenn der Archon die Republik in dem betrübten Zustande, worin sie sich befinde, verlasse, so sei alles verloren.

Der Priester Strobylus und der Zunftmeister Pfrieme erhielten die Nachricht von dem großen Opfer, das der Erzpriester veranstalte, und das Gerüchte von dem Entschluß des Archon, seine [360] Stelle niederzulegen, zu gleicher Zeit. Sie übersahen beim ersten Blick die Folgen dieses gedoppelten Streichs, und eilten den einen zu erwidern und dem andern zuvorzukommen. Strobylus ließ das Volk zu einer Expiation einladen, welche auf den Abend in dem Tempel der Latona mit großen Feierlichkeiten angestellt werden sollte, um die Stadt von geheimen Verbrechen zu reinigen, und die schlimme Vorbedeutung des Eleleleleleu der geheiligten Frösche abzuwenden. Der Zunftmeister hingegen ging, die Räte, Zunftmeister und angesehensten Bürger von seiner Partei aufzusuchen, und sich mit ihnen zu beraten, wie der Archon auf andere Gedanken zu bringen sein möchte. Die Meisten waren schon durch die geheimen Werkzeuge der Gegenpartei vorbereitet, welche als ein großes Geheimnis herumgeflüstert hatten: man wüßte ganz gewiß, daß die Esel sich alle mögliche Mühe gäben, den Archon unter der Hand in seinem Entschluß zu bestärken. Die Schatten hielten sich dadurch überzeugt, daß ihre Gegner einen aus ihrem Mittel zu der höchsten Würde in der Republik zu erheben gedächten, und also der Mehrheit im großen Rat, bei welchem die Wahl stund, schon ganz gewiß sein müßten. Diese Betrachtung setzte sie in so großen Allarm, daß sie mit einer Menge Volks hinter ihnen her zur Wohnung des Onolaus eilten, und während der Pöbel ein Vivat nach dem andern erschallen ließ, hinaufgingen, um Seine Gnaden im Namen der ganzen Bürgerschaft flehentlich zu bitten, den unglücklichen Gedanken an Resignation aufzugeben, und sie niemals, am wenigsten zu einer Zeit zu verlassen, wo seine Weisheit zu Beruhigung der Stadt unentbehrlich sei.

Der Archon zeigte sich über diesen öffentlichen Beweis der Liebe und des Vertrauens seiner werten Mitbürger sehr vergnügt. Er verhielt ihnen nicht, daß kaum vor einer Viertelstunde der größte Teil der Ratsherren, der Jasoniden, und aller übrigen alten Geschlechter von Abdera, bei ihm gewesen, und eben diese Bitte in eben so geneigten und dringenden Ausdrücken an ihn getan hätten. So große Ursache er auch habe, der beschwerlichen Regierungslast müde zu sein, und zu wünschen, daß sie auf stärkere Schultern als die seinigen gelegt werden möchte: so habe er doch kein Herz, das diesem so lebhaft ausgedrückten Zutrauen beider Parteien widerstehen könne. Er sehe diese ihre Einmütigkeit [361] in Absicht auf seine Person und Würde als eine gute Vorbedeutung für die baldige Wiederherstellung der gemeinen Ruhe an, und werde seines Orts alles Mögliche mit Vergnügen dazu beitragen.

Als der Archon diese schöne Rede geendigt hatte, sahen die Schatten einander aus großen Augen an, und fanden sich, zu ihrem empfindlichsten Mißvergnügen, auf einmal um die Hälfte klüger als zuvor. Denn sie merkten nun, daß sie von den Eseln betrogen, und zu einem falschen Schritt verleitet worden waren. Sie hatten, in der Meinung, daß sie diesen Schritt allein täten, den Archon ganz dadurch auf ihre Seite zu ziehen gehofft; und nun befand sichs, daß er ihren Gegnern eben so viel Verbindlichkeit hatte als ihnen; welches just so viel war, als ob er ihnen gar keine hätte. Aber das war noch nicht das Ärgste. Das hinterlistige Betragen der Esel war ein offenbarer Beweis, wie viel ihnen daran gelegen sei, daß die Stelle des Archons nicht ledig würde. Nun konnte ihnen aber an der Person des Onolaus selbst nicht viel gelegen sein; denn er hatte nie das Geringste für ihre Partei getan. Wenn sie also so eifrig wünschten, daß er seinen Platz behalten möchte: so konnt' es aus keiner andern Ursache geschehen, als weil sie sich versichert hielten, daß die Schatten Meister von der Wahl des neuen Archons bleiben würden. Diese Betrachtungen, die sich ihnen itzt in einem Blick darstellten, waren von einer so verdrießlichen Art, daß die armen Schatten alle Mühe von der Welt hatten, ihren Unmut zu verbergen, und sich, zu großem Vergnügen des Archons, ziemlich eilfertig wegbegaben, ohne daß es diesem eingefallen wäre, sich darüber zu verwundern, oder die Veränderung in ihren Gesichtern wahrzunehmen.

Der heutige Tag war ein großer Tag für den weisen und ziemlich schwerbeleibten Onolaus gewesen, und er war nun vollkommen wieder mit Abdera zufrieden. Er befahl also, daß seine Türe geschlossen werden sollte, zog sich in sein Gynäceum zurück, warf sich in seinen Lehnstuhl, schwatzte mit seiner Frau und seinen Töchtern, aß zu Nacht, ging zeitig zu Bette, und schlief, wohlgetröstet, und unbesorgt um das Schicksal von Abdera, bis an den hellen Morgen.

[362]
Zwölftes Kapitel
Der Entscheidungstag
Maßregeln beider Parteien
Die Vierhundert versammeln sich, und das Gericht nimmt seinen Anfang
Philanthropischpatriotische Träume des Herausgebers dieser merkwürdigen Geschichte

Die verschiedenen Maschinen, welche man diesen Tag über auf beiden Seiten hatte spielen lassen, brachten den abderitischen Staatskörper, bei dem Anschein der größten innerlichen Bewegung, durch die Stöße, die er nach entgegengesetzter Richtung erhielt, in eine Art von waagerechtes Schwanken, vermöge dessen um die Zeit, da die Vierhundert zu Entscheidung des Eselsschattenhandels zusammenkamen, sich alles ungefähr in eben dem Stande befand, worin es einige Tage zuvor gewesen war, d.i. daß die Esel den größten Teil des Rats, die Patricier und die Ansehnlichsten und Vermöglichsten von der Bürgerschaft auf ihrer Seite hatten, die Schatten hingegen ihre meiste Stärke von der größern Anzahl zogen. Denn, seit dem großen feierlichen Umgang um den Froschteich der Latona, welchen Strobylus den Abend zuvor veranstaltet, und dem die sämtlichen Schatten, mit dem Nomophylax Gryllus und dem Zunftmeister Pfrieme an ihrer Spitze, sehr andächtig beigewohnt hatten, war der Pöbel wieder gänzlich für die letztere Partei erklärt.

Es würde bei Gelegenheit dieses Umgangs dem Priester Strobylus und den übrigen Häuptern derselben ein Leichtes gewesen sein, mittelst ihres Ansehens über einen fanatischen Haufen Volkes, welcher größtenteils bei gänzlicher Zerrüttung der Republik mehr zu gewinnen als zu verlieren hatte, noch an selbigem Abend viel Unheil in Abdera anzurichten. Allein außerdem, daß der Oberpriester im Namen des Archons noch einmal nachdrücklichst angewiesen worden war, den Pöbel in gehöriger Ordnung zu erhalten, und dafür zu sorgen, daß der Tempel und alle Zugänge zu dem geheiligten Teiche noch vor Sonnenuntergang geschlossen wären – so waren sie auch selbst weit entfernt, die Sache, ohne höchste Not, aufs äußerste treiben, oder die ganze Stadt in Blut und Flammen setzen zu wollen; und so klug waren sie doch, Trotz ihrer übrigen Abderitheit, [363] um einzusehen, daß, wenn ihnen der Pöbel einmal die Zügel aus den Händen gerissen hätte, es nicht mehr in ihrer Gewalt sein würde, der ungestümen Wut eines so blinden reißenden Tiers wieder Einhalt zu tun. Der Zunftmeister begnügte sich also da der Umgang vorbei war, und die Türen des Tempels geschlossen wurden, dem auseinandergehenden Volke zu sagen: er hoffe, daß sich alle redliche Abderiten morgen um neun Uhr auf dem Markte bei dem Urteil über den Handel ihres Mitbürgers Struthion einfinden, und, so viel an ihnen wäre, dazu verhelfen würden, daß seine gerechte Sache den Sieg davon trage.

Die Einladung war zwar, ungeachtet der glimpflichen, und, seiner Meinung nach, sehr behutsamen Ausdrücke, worin er sie vorbrachte, nicht viel besser, als ein höchst illegales Verfahren eines aufrührischen Zunftmeisters, der im Notfall die Richter durch die unmittelbare Gefahr eines Tumults nötigen wollte, das Urteil nach seinem Sinn abzufassen. Allein dies war es auch, worauf es ankommen zu lassen die Schatten fest entschlossen waren; und da die andere Partei hievon völlig überzeugt war, so hatten sie ihrerseits alle mögliche Maßregeln genommen, sich auf das Äußerste, was begegnen könnte, gefaßt zu machen.

Der Erzpriester ließ, sobald das Gericht den Anfang nahm, alle Zugänge zum Jasontempel von einer Schar handfester Gerber und Fleischer, die mit tüchtigen Knitteln und Messern versehen waren, besetzen; und in den Häusern der vornehmsten Esel hatte man sich in eine Verfassung gesetzt, als ob man eine Belagerung auszuhalten gedenke. Die Esel selbst erschienen mit Dolchen unter ihren langen Kleidern auf dem Gerichtsplatz: und einige von denen, die am lautesten sprachen, hatten die Vorsicht gebraucht, sogar einen Panzer unter ihrem Brustlatz zu tragen, um ihren patriotischen Busen mit desto größerer Sicherheit den Stößen der Feinde der guten Sache entgegensetzen zu können.

Die neunte Stunde kam nun heran. Ganz Abdera stund in zitternder Bewegung, erwartungsvoll des Ausgangs, den ein so unerhörter Handel nehmen würde; und niemand hatte sein Frühstück ordentlich zu sich genommen, wiewohl alles schon mit Tagesanbruch auf den Füßen war. Die Vierhundert versammelten sich auf der Terrasse der Tempel des Apollo und der [364] Diana (dem gewöhnlichen Platz, wo der große Rat unter freiem Himmel gehalten wurde), dem großen Marktplatz gegenüber, von welchem man auf einer breiten Treppe von vierzehn Stufen zur Terrasse hinauf stieg. Auch die Parteien mit ihren nächsten Anverwandten und mit ihren beiden Sykophanten hatten sich bereits eingefunden, und ihren gehörigen Platz eingenommen; indessen sich der ganze Markt mit einer Menge Volks anfüllte, dessen Gesinnungen durch ein lärmendes Vivat, so oft ein Ratsherr oder Zunftmeister von der Schattenpartei einhergestiegen kam, sich deutlich genug verrieten.

Alles wartete nun auf den Nomophylax, der, nach den Gewohnheiten der Stadt Abdera, in allen Fällen, wo die Versammlung des großen Rates nicht unmittelbare Angelegenheiten des gemeinen Wesens betraf, das Präsidium bei demselben führte. Die Esel hatten zwar alles angewandt, den Archon Onolaus dahin zu bringen, daß er, weil es doch um ein neues Gesetz zu tun wäre, den elfenbeinernen Lehnstuhl (der, um drei Stufen über die Bänke der Räte erhöht, für den Präsidenten gesetzt war) mit seiner eignen ehrwürdigen Person ausfüllen möchte. Aber er erklärte sich: daß er lieber das Leben lassen, als sich dazu verstehen wolle, über ein Eselsschattengericht zu präsidieren. Man hatte sich also gezwungen gesehen, seiner Delicatesse nachzugeben.

Der Nomophylax – als ein großer Anhänger der Etikette, gewohnt, bei dergleichen Gelegenheiten auf sich warten zu lassen hatte dafür gesorgt, daß die Versammlung indessen mit einer Musik von seiner Composition unterhalten, und (wie er sagte) zu einer so feierlichen Handlung vorbereitet würde. Dieser Einfall, wiewohl er eine Neuerung war, wurde dennoch sehr wohl aufgenommen, und tat, (gegen die Absicht des Nomophylax, der seine Partei dadurch in verstärkte Bewegungen von Mut und Eifer hatte setzen wollen) eine sehr gute Wirkung. Denn die Musik gab denen von der Partei des Erzpriesters zu einer Menge späßiger Einfälle Anlaß, über welche sich von Zeit zu Zeit ein großes Gelächter erhob. Einer sagte: Dieses Allegro klingt ja wie ein Schlachtgesang – zu einem Wachtelkampfe, fiel ein anderer ein. Dafür tönt aber auch, sagte ein dritter, das Adagio, als ob es dem Zahnbrecher Struthion und Meister Knieriemen, seinem [365] Schutzpatron, zu Grabe singen sollte. Die ganze Musik, meinte ein vierter, verdiene von Schatten gemacht, und von Eseln gehört zu werden, u.s.w. Wie frostig nun auch diese Scherze waren, so brauchte es doch bei einem so jovialischen und so leicht anzusteckenden Völkchen nichts mehr, um die ganze Versammlung unvermerkt in ihre natürliche komische Laune umzustimmen; eine Laune, die der Parteiwut, wovon sie noch besessen waren, unvermerkt ihren Gift benahm, und vielleicht mehr als irgend etwas anders zur Erhaltung der Stadt in diesem kritischen Augenblicke beitrug.

Endlich erschien der Nomophylax mit seiner Leibwache von armen alten Invalidenhandwerkern, welche, mit stumpfen Hellebarten und mit einer friedsamen Art von eingerosteten Degen bewaffnet, mehr das Ansehen von den lächerlichen Figuren hatten, womit man in Gärten die Vögel schreckt, als von Kriegsmännern, die dem Gericht beim Pöbel Würde und Furchtbarkeit verschaffen sollten. Wohl indessen der Republik, die zu Beschirmung ihrer Tore und innerlichen Sicherheit keiner andern Helden nötig hat als solcher!

Der Anblick dieser grotesken Milizer, und die ungeschickte possierliche Art, wie sie sich in dem kriegerischen Aufzuge, worein man sie nicht ohne Mühe verkleidet hatte, gebärdeten, erweckte bei dem zuschauenden Volke einen neuen Anstoß von Lustigkeit; so daß der Herold viele Mühe hatte, die Leute endlich zu einer leidlichen Stille, und zu dem Respect, den sie dem höchsten Gerichte schuldig waren, zu bringen.

Der Präsident eröffnete nunmehr die Session mit einer kurzen Rede; der Herold gebot ein abermaliges Stillschweigen, und die Sykophanten beider Teile wurden namentlich aufgefodert, sich mit ihrer Klage und Verantwortung mündlich vernehmen zu lassen.

Den Sykophanten, welche für große Meister in ihrer Art passierten, mußte die Gelegenheit, ihre Kunst an einem Eselsschatten sehen zu lassen, an sich allein schon eine große Aufmunterung sein. Man kann also leicht denken, wie sie sich nun vollends zusammengenommen haben werden, da dieser Eselsschatten ein Gegenstand geworden war, an dem die ganze Republik Anteil nahm, und um dessen willen sie sich in zwo [366] Parteien getrennt hatte, deren jede die Sache ihres Clienten zu ihrer eignen machte. Seit ein Abdera in der Welt war, hatte man noch keinen Rechtshandel gesehen, der so lächerlich an sich selbst, und so ernsthaft durch die Art, wie er behandelt wurde, gewesen wäre. Ein Sykophant müßte nur ganz und gar kein Genie und keinen Sykophantensinn gehabt haben, der bei einer solchen Gelegenheit nicht sich selbst übertroffen hätte.

Um so mehr ist es zu beklagen, daß der übelberüchtigte Zahn der Zeit, dem so viele andere große Werke des Genies und Witzes nicht entgehen konnten, noch künftig entgehen werden, leider! auch der Originale dieser beiden berühmten Reden nicht verschont hat! wenigstens so viel uns bekannt ist. Denn wer weiß, ob es nicht vielleicht einem künftigen Fourmont oder Sevin, der auf Entdeckung alter Handschriften ausgeht, dereinst gelingen mag, eine Abschrift derselben in irgendeinem bestaubten Winkel einer alten griechischen Klosterbibliothek aufzuspüren, Oder, wenn dies nicht zu hoffen stünde, wer kann sagen, ob nicht in der Folge der Zeiten Thracien selbst wieder in die Hände christlicher Fürsten fallen wird, die sich (nach dem Beispiel einiger großen Könige unsers philosophischheroischen Alters) eine Ehre daraus machen werden, mächtige Beförderer der Wissenschaften zu sein, Akademien zu stiften, versunkne Städte ausgraben zu lassen, u.s.w. Wer weiß, ob nicht alsdann diese gegenwärtige Abderitengeschichte selbst (so unvollkommen sie ist), in die Sprache dieses künftig bessern Thraciens übersetzt, die Ehre haben wird, Gelegenheit zu geben, daß ein solcher neuthracischer Musagete auf den Einfall kommt, die Stadt Abdera aus ihrem Schutte hervorgraben zu lassen? Da dann ohne Zweifel auch die Kanzlei und das Archiv dieser berühmten Republik, und in demselben die sämtlichen Originalacten des Processes um des Esels Schatten, nebst den beiden Reden, deren Verlust wir beklagen, sich wieder finden werden, – Es ist wenigstens angenehm, sich solchergestalt auf den Flügeln patriotischmenschenfreundlicher Träume in die Zunkunft zu schwingen, und sich an den Glückseligkeiten zu laben, die unsern Nachkommen noch bevorstehen; Glückseligkeiten, für welche die (bekanntermaßen) immer steigende Vervollkommnung der Wissenschaften und Künste, und der von ihnen sich über alles Fleisch ergießenden [367] Erleuchtung, Verschönerung und Sublimierung der Denkart, des Geschmacks und der Sitten uns sichre Bürgschaft leistet!

Inzwischen gereicht es uns doch zu einigem Troste, daß wir uns im Stande sehen, aus den Papieren, aus welchen gegenwärtige Fragmente der Abderitengeschichte genommen sind, wenigstens einen Auszug dieser Reden zu liefern, dessen Echtheit um so weniger verdächtig ist, da kein Leser, der eine Nase hat, den Duft der Abderitheit verkennen wird, der daraus emporsteigt – ein innerliches Argument, das am Ende doch immer das beste zu sein scheint, das für das Werk irgend eines Sterblichen, er sei nun ein Ossian, oder ein abderitischer Feigenredner, sich geben läßt.

Dreizehntes Kapitel
Rede des Sykophanten Physignathus

Der Sykophant Physignathus, der als Sachwalter des Zahnarztes Struthion zuerst redete, war ein Mann von Mittelgröße, starken Muskeln und breiten Lungenflügeln. Er wußte sich viel damit, daß er ein Schüler des berühmten Gorgias gewesen war, und machte Ansprüche, einer der größten Redner seiner Zeit zu sein. Aber darin war er, wie in vielen andern Stücken, ein offenbarer Abderit. Seine größte Kunst bestund darin, daß er, um seinem wortreichen Vortrag durch die manchfaltige Modulation seiner Stimme mehr Lebhaftigkeit und Ausdruck zu geben, in dem Umfang von anderthalb Octaven von einem Intervall zum andern wie ein Eichhorn herumsprang, und so viel Grimassen und Gesticulationen dazu machte, als ob er seinen Zuhörern nur durch Gebärden verständlich werden könnte.

Indessen wollen wir ihm doch hiemit das Verdienst nicht ableugnen, daß er mit allen den Handgriffen, womit man die Richter zu seinem Vorteil einnehmen, ihren Verstand verwirren, seinen Gegenteil verhaßt, und überhaupt eine Sache besser als sie ist, scheinen machen kann, ziemlich fertig umzuspringen, – [368] auch, bei Gelegenheit, keine unfeine Gemälde zu machen wußte wie der scharfsinnige Leser aus seiner Rede selbst, ohne unser Erinnern, am besten abnehmen wird.

Physignathus trat mit der ganzen Unverschämtheit eines Sykophanten auf, der sich darauf verläßt, daß er Abderiten zu Zuhörern hat, und fing also an:

»Edle, Ehrenfeste und Weise, Großmögende Vierhundertmänner!

Wenn jemals ein Tag war, an welchem sich die Vortrefflichkeit der Verfassung unsrer Republik in ihrem größten Glanz enthüllt hat, und wenn jemals ich mit dem Gefühl, was es ist ein Bürger von Abdera zu sein, unter euch aufgetreten bin: so ist es an diesem großen festlichen Tage; da vor diesem ehrwürdigen höchsten Gerichte, vor dieser erwartungsvollen und teilnehmenden Menge des Volks, vor diesem ansehnlichen Zusammenfluß von Fremden, die der Ruf eines so außerordentlichen Schauspiels scharenweise herbeigezogen hat, ein Rechtshandel zur Entscheidung gebracht werden soll, der in einem minder freien, minder wohleingerichteten Staat, der selbst in einem Theben, Athen oder Sparta, nicht für wichtig genug gehalten worden wäre, die stolzen Verwalter des gemeinen Wesens nur einen Augenblick zu beschäftigen. Edles, preiswürdiges, dreimal glückliches Abdera! Du allein genießest unter dem Schutz einer Gesetzgebung, der auch die geringsten, auch die zweifelhaftesten und spitzfündigsten Rechte und Ansprüche der Bürger heilig sind, du allein genießest das Wesen einer Sicherheit und Freiheit von denen andere Republiken (was auch sonst die Vorzüge sein mögen, womit sich ihre patriotische Eitelkeit brüstet) nur den Schatten zum Anteil haben.

Oder, saget mir, in welcher andern Republik würde ein Rechtshandel zwischen einem gemeinen Bürger und einem der Geringsten aus dem Volke, ein Handel, der dem ersten Anblick nach kaum zwo oder drei Drachmen beträgt, ein Handel über einen Gegenstand, der so unbedeutend scheint, daß die Gesetze ihn bei Benennung der Dinge, welche ins Eigentum kommen können, gänzlich vergessen zu haben scheinen, ein Handel über etwas, dem ein subtiler Dialektiker sogar den Namen eines Dinges streitig machen könnte, mit einem Wort, ein Streit über den [369] Schatten eines Esels – zum Gegenstand der allgemeinen Teilnehmung, zur Sache eines jeden, und also, wenn ich so sagen darf, gleichsam zur Sache des ganzen Staats geworden sein? In welcher andern Republik sind die Gesetze des Eigentums so bestimmt die gegenseitigen Jura vel quasi der Bürger vor aller Willkür der obrigkeitlichen Personen so sicher gestellt, die geringfügigsten Ansprüche oder Forderungen selbst des Ärmsten in den Augen der Obrigkeit so wichtig und hoch angesehen, daß das höchste Gericht der Republik selbst es nicht unter seiner Würde hält, sich feierlich zu versammeln, um über das zweifelhaft scheinende Recht an einen Eselsschatten zu erkennen? Wehe dem Mann der bei diesem Worte die Nase rümpfen, und aus albernen kindischen Begriffen von dem, was groß oder klein ist, mit unverständigem Hohnlächeln ansehen kann, was die höchste Ehre unsrer Justizverfassung, der Ruhm unsrer Obrigkeit, der Triumph des ganzen abderitischen Wesens und eines jeden guten Bürgers ist! Wehe dem Mann, ich wiederhol' es zum zweiten-und drittenmal, der keinen Sinn hat, dies zu fühlen! Und Heil der Republik, in welcher – sobald es auf die Gerechtsame der Bürger, auf einen Zweifel über Mein und Dein, die Grundfeste aller bürgerlichen Sicherheit, ankömmt – auch ein Eselsschatten keine Kleinigkeit ist!

Aber, indem ich solchergestalt auf der einen Seite mit aller Wärme eines Patrioten, allem gerechten Stolz eines echten Abderiten, fühle und erkenne, welch ein glorreiches Zeugnis von der vortrefflichen Verfassung unsrer Republik sowohl, als von der unparteiischen Festigkeit und nichts übersehenden Sorgfalt, womit unsre ruhmwürdigst regierende Obrigkeit die Waage der Gerechtigkeit handhabet, dieser vorliegende Handel bei der spätesten Nachkommenschaft ablegen wird: wie sehr muß ich auf der andern Seite die Abnahme jener treuherzigen Einfalt unsrer Vorältern, das Verschwinden jener mitbürgerlichen und freundnachbarlichen Sinnesart, jener gegenseitigen Dienstgeflissenheit, jener freiwilligen Geneigtheit, aus Liebe und Freundschaft, aus gutem Herzen, oder wenigstens um des Friedens willen, etwas von unserm vermeinten strengen Recht fahrenzulassen – wie sehr, mit einem Wort, muß ich den Verfall der guten alten abderitischen Sitten beklagen, der die wahre und einzige [370] Quelle des unwürdigen, des schamvollen Rechtshandels ist, in welchem wir heute befangen sind! – Wie? werd ichs ohne glühende Schamröte heraus sagen können? – O du einst so berühmte Biederherzigkeit unsrer guten Alten, ist es dahin mit dir gekommen, daß abderitische Bürger – sie, die bei jeder Gelegenheit, aus vaterländischer Treue und nachbarlicher Freundschaft, bereit sein sollten, das Herz im Leibe mit einander zu teilen – so eigennützig, so karg, so unfreundlich, was sag' ich, so unmenschlich sind, einander sogar den Schatten eines Esels zu versagen?

Doch – verzeiht mir, werte Mitbürger – ich irrte mich in dem Worte – verzeiht mir eine unvorsetzliche Beleidigung. Derjenige, der einer so niedrigen, so rohen und barbarischen Denkart fähig war, ist keiner unsrer Mitbürger! Es ist ein bloßer geduldeter Einwohner unsrer Stadt, ein bloßer Schutzverwandter des Jasontempels, ein Mensch aus den dicksten Hefen des Pöbels, ein Mensch, von dessen Geburt, Erziehung und Lebensart nichts bessers zu erwarten war, mit einem Wort, ein Eseltreiber – der, außer dem gleichen Boden und der gemeinsamen Luft, die er atmet, nichts mit uns gemein hat, als was uns auch mit den wildesten Völkern der hyperboreischen Wüsten gemein ist. Seine Schande klebt an ihm allein; uns kann sie nicht besudeln. Ein abderitischer Bürger, ich unterstehe michs zu sagen, hätte sich keiner solchen Untat schuldig machen können.

Aber – nenn ich sie vielleicht mit einem zu strengen Namen, diese Tat? – Stellet euch, ich bitte, an den Platz eures guten Mitbürgers Struthion, und – fühlet!

Er reiset in seinen Geschäften, in Geschäften seiner edeln Kunst, die es bloß mit Vermindrung der Leiden seiner Nebenmenschen zu tun hat, von Abdera nach Gerania. Der Tag ist einer der schwülsten Sommertage. Die strengste Sonnenhitze scheint den ganzen Horizont in den hohlen Bauch eines glühenden Backofens verwandelt zu haben. Kein Wölkchen, das ihre sengende Strahlen dämpfe! Kein wehendes Lüftchen, den verlechzten Wandrer anzufrischen. Die Sonne flammt über seinem Scheitel, saugt das Blut aus seinen Adern, das Mark aus seinen Knochen. Lechzend, die dürre Zung' am Gaumen, mit trüben, von Hitze und Glanz erblindenden Augen, sieht er sich nach einem Schattenplatz, nach irgend einem einzelnen mitleidigen Baum [371] um unter dessen Schirm er sich erholen, er einen Mund voll frischerer Luft einatmen, einen Augenblick vor den glühenden Pfeilen des unerbittlichen Apollo sicher sein könnte.

Umsonst! Ihr kennet alle die Gegend von Abdera nach Gerania. Zwei Stunden lang, zur Schande des ganzen Thraciens sei es gesagt! kein Baum, keine Staude, die das Auge des Wandrers in dieser abscheulichen Fläche von magern Brach und Kornfeldern erfrischen, oder ihm gegen die mittägliche Sonne Zuflucht geben könnte!

Der arme Struthion sank endlich von seinem Tier herab. Die Natur vermocht' es nicht länger auszudauern. Er ließ den Esel halten, und setzte sich in seinen Schatten. – Schwaches, armseliges Erholungsmittel! Aber so wenig es war, war es doch etwas!

Und welch ein Ungeheuer mußte der Gefühllose, der Felsenherzige sein, der seinem leidenden Nebenmenschen, in solchen Umständen, den Schatten eines Esels versagen konnte? Wär' es glaublich, daß es einen solchen Menschen gebe, wenn wir ihn nicht mit eignen Augen vor uns sähen, Aber hier steht er, und, was beinahe noch ärger, noch unglaublicher als die Tat selbst ist – er bekennt sich von freien Stücken dazu; scheint sich seiner Schande noch zu rühmen; und, damit er keinem seines gleichen der künftig geboren werden mag, eine Möglichkeit, ihm an schamloser Frechheit gleich zu kommen, übrig lasse, treibt er sie so weit, nachdem er schon von dem ehrwürdigen Stadtgericht in erster Instanz verurteilet worden, sogar vor der Majestät dieses höchsten Gerichtshofes der Vierhundertmänner zu behaupten, daß er Recht daran getan habe. ›Ich versagte ihm den Eselsschatten nicht, spricht er, wiewohl ich nach dem strengen Recht nicht schuldig war, ihn darin sitzen zu lassen; ich verlangte nur eine billige Erkenntlichkeit dafür, daß ich ihm, zu dem Esel, den ich ihm vermietet hatte, nun auch den Schatten des Esels überlassen sollte, den ich nicht vermietet hatte.‹ Elende, schändliche Ausflucht! Was würden wir von dem Manne denken, der einem halbverschmachtenden Wandrer verwehren wollte, sich ohnentgeltlich in den Schatten seines Baumes zu setzen, Oder wie würden wir denjenigen nennen, der einem vor Durst sterbenden Fremdling nicht gestatten wollte, sich aus dem Wasser zu laben, das auf seinem Grund und Boden flösse?

[372] Erinnert euch, o ihr Männer von Abdera, daß dies allein, und kein andres, das Verbrechen jener lycischen Bauren war, die der Vater der Götter und der Menschen zur Rache wegen einer gleichartigen Unmenschlichkeit, die diese Elenden an seiner geliebten Latona und ihren Kindern ausübten – zum schrecklichen Beispiel aller Folgezeiten, in Frösche verwandelte. Ein furchtbares Wunder, dessen Wahrheit und Andenken mitten unter uns in dem heiligen Hain und Teich der Latona, der ehrwürdigen Schutzgöttin unsrer Stadt, lebendig erhalten, verewigt, und gleichsam täglich erneuert wird! Und du, Anthrax, du ein Einwohner der Stadt, in welcher dieses furchtbare Denkmal des Zorns der Götter über verweigerte Menschlichkeit ein Gegenstand des öffentlichen Glaubens und Gottesdienstes ist, du scheutest dich nicht, ihre Rache durch ein ähnliches Verbrechen auf dich zu ziehen?

Aber, du trotzest auf dein Eigentumsrecht – ›Wer sich seines Rechts bedient, sprichst du, der tut niemand Unrecht. Ich bin einem andern nicht mehr schuldig, als er um mich verdient. Wenn der Esel mein Eigentum ist, so ist es auch sein Schatten.‹

Sagst du das? Und glaubst du, oder glaubt der scharfsinnige und beredte Sachwalter, in dessen Hände du die schlimmste Sache, die jemals vor ein Götter- oder Menschengericht gekommen, gestellt hast, glaubt er, mit aller Zauberei seiner Beredsamkeit, oder mit allem Spinngewebe sophistischer Trugschlüsse unsern Verstand dergestalt zu überwältigen und zu umspinnen, daß wir uns überreden lassen sollten, einen Schatten für etwas Wirkliches, geschweige für etwas, an welches jemand ein directes und ausschließendes Recht haben könne, zu halten?

Ich würde, großmögende Herren, eure Geduld mißbrauchen, und eure Weisheit beleidigen, wenn ich alle Gründe hier wiederholen wollte, womit ich bereits in der ersten Instanz, actenkundigermaßen, die Nichtigkeit der gegnerischen Scheingründe dargetan habe. Ich begnüge mich, für itzt, nach Erfordernis der Notdurft, nur dies Wenige davon zu sagen. Ein Schatten kann, genau zu reden, nicht unter die wirklichen Dinge gerechnet werden. Denn das, was ihn zum Schatten macht, ist nichts Wirkliches und Positives, sondern gerade das Gegenteil; [373] nämlich, die Entziehung desjenigen Lichtes, welches auf den übrigen, den Schatten umgebenden Dingen liegt. In vorliegendem Fall ist die schiefe Stellung der Sonne und die Undurchsichtigkeit des Esels (eine Eigenschaft, die ihm nicht, in so fern er ein Esel, sondern in so fern er ein opaker Körper ist, anklebt) die einzige wahre Ursache des Schattens, den der Esel zu werfen scheint, und den jeder andre Körper an seinem Platze werfen würde; denn die Figur des Schattens tut hier nichts zur Sache. Mein Client hat sich also, genau zu reden, nicht in den Schatten eines Esels, sondern in den Schatten eines Körpers gesetzt; und der Umstand, daß dieser Körper ein Esel, und der Esel ein Hausgenosse eines gewissen Anthrax aus dem Jasontempel zu Abdera war, ging ihn eben so wenig an, als er zur Sache gehörte. Denn, wie gesagt, nicht die Asinität oder Eselheit (wenn ich so sagen darf), sondern die Körperlichkeit und Undurchsichtigkeit des mehrbesagten Esels ist der Grund des Schattens, den er zu werfen scheint.

Allein, wenn wir auch zum Überfluß zugeben, daß der Schatten unter die Dinge gehöre: so ist aus unzähligen Beispielen klar und weltbekannt, daß er zu den gemeinen Dingen zu rechnen ist, an welche ein jeder so viel Recht hat, als der andre, und an die sich derjenige das nächste Recht erwirbt, der sie zuerst in Besitz nimmt.

Doch, ich will noch mehr tun; ich will sogar zugeben, daß des Esels Schatten ein Zubehör des Esels sei, so gut als es seine Ohren sind: was gewinnt der Gegenteil dadurch? Struthion hatte den Esel gemietet, folglich auch seinen Schatten. Denn es versteht sich bei jedem Mietcontract, daß der Vermieter dem Abmieter die Sache, wovon die Rede ist, mit allem ihrem Zubehör und mit allen ihren Nießbarkeiten zum Gebrauch überläßt. Mit welchem Schatten eines Rechts konnte Anthrax also begehren, daß ihm Struthion für den Schatten des Esels noch besonders bezahle? Das Dilemma ist außer aller Widerrede: Entweder ist der Schatten des Esels ein Teil und Zubehör des Esels, oder nicht. Ist er es nicht: so hat Struthion und jeder andre eben so viel Recht daran als Anthrax. Ist er's aber: so hatte Anthrax, indem er den Esel vermietete, auch den Schatten vermietet; und seine Forderung ist eben so ungereimt, als wenn mir einer seine Leier verkauft [374] hätte, und verlangte dann, wenn ich darauf spielen wollte, daß ich ihm auch noch für ihren Klang bezahlen müßte.

Doch wozu so viele Gründe in einer Sache, die dem allgemeinen Menschensinn so klar ist, daß man sie nur zu hören braucht, um zu sehen, auf welcher Seite das Recht ist? Was ist ein Eselsschatten? Welche Unverschämtheit von diesem Anthrax, wofern er kein Recht an ihn hat, sich dessen anzumaßen, um Wucher damit zu treiben? Und wofern der Schatten wirklich sein war: welche Niederträchtigkeit, ein so weniges, das Wenigste was sich nennen oder denken läßt, etwas in tausend andern Fällen gänzlich Unbrauchbares, einem Menschen, einem Nachbar und Freunde, in dem einzigen Falle zu versagen, wo es ihm unentbehrlich ist?

Lasset, Edle und Großmögende Vierhundertmänner, lasset nicht von Abdera gesagt werden, daß ein solcher Mutwille, ein solcher Frevel, vor einem Gericht, vor welchem (wie vor jenem berühmten zu Athen) Götter selbst nicht erröten würden, ihre Streitigkeiten entscheiden zu lassen, Schutz gefunden habe! Die Abweisung des Klägers mit seiner unstatthaften, ungerechten und lächerlichen Klage und Appellation, die Verurteilung desselben in alle Kosten und Schäden, die er dem unschuldigen Beklagten durch sein unbefugtes Betragen in dieser Sache verursacht hat, ist itzt das Wenigste, was ich im Namen meines Clienten fodern kann. Auch Genugtuung, und wahrlich eine ungeheure Genugtuung, wenn sie mit der Größe seines Frevels in Ebenmaße stehen soll, ist der unbefugte Kläger schuldig! Genugtuung dem Beklagten, dessen häusliche Ruhe, Geschäfte, Ehre und Leumund von ihm und seinen Beschützern während dem Lauf dieses Handels auf unzählige Art gestört und angegriffen worden! Genugtuung dem ehrwürdigen Stadtgerichte, von dessen gerechtem Spruch er, ohne Grund, an dieses hohe Tribunal appelliert hat! Genugtuung diesem höchsten Gerichte selbst, welches er mit einem so nichtswürdigen Handel mutwilligerweise zu behelligen sich unterstanden! Genugtuung endlich der ganzen Stadt und Republik Abdera, die er bei dieser Gelegenheit in Unruhe, Zwiespalt und Gefahr gesetzt hat!

Fodre ich zu viel, Großmögende Herren! fodre ich etwas [375] Unbilliges? Sehet hier das ganze Abdera, das sich unzählbar an die Stufen dieser hohen Gerichtsstätte drängt, und im Namen eines verdienstvollen schwergekränkten Mitbürgers, ja im Namen der Republik selbst, Genugtuung erwartet, Genugtuung fordert. Bindet die Ehrfurcht ihre Zungen: so funkelt sie doch aus jedem Auge, diese gerechte, diese nicht zu verweigernde Forderung! Das Vertrauen der Bürger, die Sicherheit ihrer Gerechtsame, die Wiederherstellung unsrer innerlichen und öffentlichen Ruhe, die Begründung derselben auf die Zukunft, mit einem Worte, die Wohlfahrt unsers ganzen Staats, hängt von dem Ausspruch ab, den ihr tun werdet, hängt von Erfüllung einer gerechten und allgemeinen Erwartung ab. Und wenn in den ersten Zeiten der Welt ein Esel das Verdienst hatte, die schlummernden Götter bei dem nächtlichen Überfall der Titanen mit seinem Geschrei zu wecken, und dadurch den Olympus selbst vor Verwüstung und Untergang zu retten: so möge itzt der Schatten eines Esels die Gelegenheit, und der heutige Tag die glückliche Epoke sein, in welcher diese uralte Stadt und Republik nach so vielen und gefahrvollen Erschütterungen wieder beruhiget, das Band zwischen Obrigkeit und Bürgern wieder fest zusammengezogen, alle vergangne Mißhelligkeiten in den Abgrund der Vergessenheit versenkt, durch gerechte Verurteilung eines einzigen frevelhaften Eseltreibers der ganze Staat gerettet, und dessen blühender Wohlstand auf ewige Zeiten sicher gestellt werde!«

Vierzehntes Kapitel
Antwort des Sykophanten Polyphonus

Sobald Physignathus zu reden aufgehört hatte, gab das Volk, oder vielmehr der Pöbel, der den Markt erfüllte, seine Beistimmung mit einem lauten Geschrei, welches so heftig und anhaltend war, daß die Richter endlich zu besorgen anfingen, die ganze Handlung möchte dadurch unterbrochen werden. Die Partei des Erzpriesters geriet in Verlegenheit. Die Schatten hingegen, wiewohl sie im großen Rat die kleinere Zahl ausmachten, [376] faßten neuen Mut, und versprachen sich von dem Eindruck, den dieses Vorspiel auf die Esel machen müßte, einen günstigen Erfolg. Indessen ermangelten die Zunftmeister nicht, das Volk durch Zeichen zur Ruhe zu vermahnen; und nachdem der Herold endlich durch einen dreimaligen Ruf die allgemeine Stille wieder hergestellt hatte, trat Polyphonus, der Sykophant des Eseltreibers, ein untersetzter stämmichter Mann, mit kurzem krausem Haar und dicken pechschwarzen Augenbraunen, auf, erhob eine Baßstimme, die auf dem ganzen Markt widerhallte, und ließ sich folgendermaßen vernehmen:


»Großmögende Vierhundertmänner!


Wahrheit und Licht haben das vor allen andern Dingen in der Welt voraus, daß sie keiner fremden Hülfe bedürfen, um gesehen zu werden. Ich überlasse meinem Gegenpart willig alle Vorteile, die er von seinen Rednerkünsten zu ziehen vermeint hat. Dem, der Unrecht hat, kommt es zu, durch Figuren und Wendungen, und Fechterstreiche, und das ganze Gaukelspiel der Schulrhetorik Kindern und Narren einen Dunst vor die Augen zu machen. Gescheute Leute lassen sich nicht dadurch blenden. Ich will nicht untersuchen, wie viel Ehre und Nachruhm die Republik Abdera bei diesem Handel über einen Eselsschatten gewinnen wird. Ich will die Richter weder durch grobe Schmeicheleien zu bestechen, noch durch versteckte Drohungen zu schrecken suchen. Noch viel weniger will ich dem Volk durch aufwiegelnde Reden das Signal zu Lärmen und Aufruhr geben. Ich weiß, warum ich da bin, und zu wem ich rede. Kurz, ich werde mich begnügen zu beweisen, daß der Eseltreiber Anthrax Recht hat. Der Richter wird alsdann schon wissen, was seines Amtes ist, ohne daß ich ihn daran zu erinnern brauche.«

Hier fingen einige wenige vom Pöbel, die zunächst an den Stufen der Terrasse standen, an, den Redner mit Geschrei, Schimpfreden und Drohungen zu unterbrechen. Da aber der Nomophylax von seinem elfenbeinernen Thron aufstund, der Herold abermals Stille gebot, und die Bürgerwache, die an den Stufen stund, ihre langen Spieße lupfte: so ward plötzlich alles wieder stille, und der Redner, der sich nicht so leicht aus der Fassung bringen ließ, fuhr also fort:

»Großmögende Herren, ich stehe hier nicht als Sachwalter des [377] Eseltreibers Anthrax, sondern als Bevollmächtigter des Jasontempels, und von wegen des Erlauchten und sehr Ehrwürdigen Agathyrsus, zeitigen Erzpriesters und Obervorstehers desselben, Hüters des wahren goldnen Vließes, obersten Gerichtsherrn über alle dessen Stiftungen, Güter, Gerichte und Gebiete, Oberhaupts des hochedeln Geschlechts der Jasoniden etc. um im Namen Jasons und seines Tempels von euch zu begehren, daß dem Eseltreiber Anthrax Genugtuung geschehe, weil er im Grunde doch am meisten Recht hat; und daß ers habe, hoffe ich, trotz allen den Kniffen, die mein Gegner von seinem Meister Gorgias gelernt zu haben rühmt, so klar und laut zu beweisen, daß es die Blinden sehen, und die Tauben hören sollen. Also, ohne weitere Vorrede, zur Sache!

Anthrax vermietete dem Zahnarzt Struthion seinen Esel auf einen Tag; nicht zu selbst beliebigem Gebrauch, sondern um ihn, den Zahnarzt, mit seinem Mantelsack, halbenweges nach Gerania zu tragen, welches, wie jedermann weiß, acht starke Meilen von hier entfernt liegt.

Bei der Vermietung des Esels dachte natürlicherweise keiner von beiden an seinen Schatten. Aber als der Zahnarzt mitten auf dem Felde abstieg, den Esel, der wahrlich von der Hitze noch mehr gelitten hatte als er, in der Sonne halten ließ, und sich in dessen Schatten setzte, war es ganz natürlich, daß der Herr und Eigentümer des Esels dabei nicht gleichgültig blieb.

Ich begehre nicht zu leugnen, daß Anthrax eine alberne und eselhafte Wendung nahm, da er von dem Zahnbrecher verlangte, daß er ihm für des Esels Schatten deswegen bezahlen sollte, weil er ihm den Schatten nicht mit vermietet habe. Aber dafür ist er auch nur ein Eseltreiber von Vorältern her, d.i. ein Mann, der eben darum, weil er unter lauter Eseln aufgekommen ist, und mehr mit Eseln als ehrlichen Leuten lebt, eine Art von Recht hergebracht und erworben hat, selbst nicht viel besser als ein Esel zu sein. Im Grunde war's also bloß – der Spaß eines Eseltreibers.

Aber in welche Classe von Tieren sollen wir den setzen, der aus einem solchen Spaß Ernst machte? Hätte der Herr Struthion wie ein verständiger Mann gehandelt, so brauchte er dem Grobian nur zu sagen: ›Guter Freund, wir wollen uns nicht um eines [378] Eselsschattens willen entzweien. Weil ich dir den Esel nicht abgemietet habe, um mich in seinen Schatten zu setzen, sondern um darauf nach Gerania zu reiten: so ist es billig, daß ich dir die etlichen Minuten Zeitverlust vergüte, die dir mein Absteigen verursacht; zumal da der Esel um so viel länger in der Hitze stehen muß, und dadurch nicht besser wird. Da, Bruder, hast du eine halbe Drachme; laß mich einen Augenblick hier verschnaufen, und dann wollen wir uns, in aller Frösche Namen, wieder auf den Weg machen.‹

Hätte der Zahnarzt aus diesem Tone gesprochen, so hätt' er gesprochen wie ein ehrliebender und billiger Mann. Der Eseltreiber hätte ihm für die halbe Drachme noch Vergelts Gott! gesagt; und die Stadt Abdera wäre des ungewissen Nachruhms, den ihr mein Gegenteil von diesem Eselsproceß verspricht – und aller der Unruhen, die daraus entstehen mußten, sobald sich so viele große und angesehene Herren und Damen in die Sache mischten – überhoben gewesen. Statt dessen setzt sich der Mann auf seinen eignen Esel, besteht auf seinem bodenlosen Recht, sich vermöge seines Mietcontracts in des Esels Schatten zu setzen, so oft und so lange er wolle, und bringt dadurch den Eseltreiber in die Hitze, daß er vor den Stadtrichter läuft, und eine Klage anbringt, die eben so abgeschmackt und unsinnig ist, als die Verantwortung des Beklagten.

Ob es nun nicht, zu Statuierung eines lehrreichen Beispiels, wohl getan wäre, wenn dem Sykophanten Physignathus, meinem wertesten Collegen – als dessen Aufhetzung es ganz allein zuzuschreiben ist, daß der Zahnbrecher den von dem ehrwürdigen Stadtrichter Philippides vorgeschlagnen billigen Vergleich nicht eingegangen – für den Dienst, den er dem abderitischen gemeinen Wesen dadurch geleistet, die Ohren gestutzt, und allenfalls, zum ewigen Andenken, ein paar Eselsohren dafür angesetzt würden; imgleichen, was für einen öffentlichen Dank der ehrwürdige Zunftmeister Pfriem, und die übrigen Herren, die durch ihren patriotischen Eifer Öl ins Feuer gegossen, für ihre Mühe verdient haben möchten: überläßt der erlauchte Erzpriester, mein Principal, dem eignen einsichtsvollen Ermessen des höchsten Gerichts der Vierhundert. Er, seines Ortes, wird, als angeborner Oberherr und Richter des Eseltreibers Anthrax, [379] nicht ermangeln, ihm, zu wohlverdienter Belohnung seines in diesem Handel bewiesenen Unverstands, unmittelbar nach geendigtem Proceß, fünf und zwanzig Prügel geben zu lassen. Da aber darum das Recht des mehrbesagten Eseltreibers, wegen der von dem Zahnarzt Struthion erlittnen Ungebühr, wegen des Mißbrauchs, den dieser von seinem Esel gemacht, und wegen der Weigerung einer billigen Vergütung des dadurch verursachten Zeitverlusts und Deterioration seines lastbaren Tieres, Genugtuung zu fordern, nichts destoweniger in seiner ganzen Kraft besteht: so begehret und erwartet der erlauchte Erzpriester von der Gerechtigkeit dieses hohen Gerichts, daß seinem Untertanen, ohne längern Aufschub, die gebührende vollständigste Entschädigung und Genugtuung verschafft werde.

Euch aber (setzte er hinzu, indem er sich umdrehte und gegen das Volk kehrte) soll ich im Namen Jasons ankündigen, daß alle diejenigen, die auf eine ungebührliche und aufrührische Art an der bösen Sache des Zahnbrechers Anteil genommen, so lange, bis sie dafür gebührenden Abtrag getan haben werden, von den Wohltaten, die der Tempel Jasons alle Monate den armen Bürgern zufließen läßt, ausgeschlossen sein und bleiben sollen. Dixi.«

Funfzehntes Kapitel
Bewegungen, welche die Rede des Polyphonus verursachte
Nachtrag des Sykophanten Physignathus
Verlegenheit der Richter

Diese kurze und unerwartete Rede brachte auf einige Augenblicke ein tiefes Stillschweigen hervor. Der Sykophant Physignathus schien zwar große Lust zu haben, sich über die Stelle, die ihn persönlich betroffen hatte, mit Hitze vernehmen zu lassen. Allein, da er die Niedergeschlagenheit bemerkte, die der Inhalt der letzten Periode seines Gegners unter dem gemeinen Volke hervorgebracht zu haben schien: so begnügte er sich, gegen die ehrenrührige Stelle vom Ohrenabschneiden und andre Anzüglichkeiten sich quaevis competentia vorzubehalten, zuckte die Achseln, und schwieg.

Das Licht, in welches der Sykophant Polyphonus den wahren [380] Statum controversiae gestellt hatte, tat einen so guten Effect, daß unter den sämtlichen Vierhundertmännern kaum ihrer zwanzig überblieben, die, nach abderitischer Gewohnheit, nicht versicherten, daß sie die Sache gleich vom Anfang an eben so angesehen; und es wurde in ziemlich lebhaften Ausdrücken gegen diejenigen gesprochen, welche Schuld daran hätten, daß eine so simple Sache zu solchen Weitläuftigkeiten getrieben worden sei. Die Meisten schienen darauf anzutragen: daß dem Erzpriester nicht nur die für seinen Angehörigen verlangte Entschädigung und Genugtuung zugesprochen, sondern auch eine Commission aus dem großen Rat niedergesetzt werden sollte, um nach der Schärfe zu untersuchen: wer die ersten Anstifter und Verhetzer dieses Handels eigentlich gewesen seien.

Dieser Antrag brachte den Zunftmeister und diejenigen, die ihre Partei mit ihm gegen allen Erfolg zum voraus genommen hatten, auf einmal wieder in Harnisch. Der Sykophant Physignathus, der dadurch wieder Mut bekam, verlangte von dem Nomophylax noch einmal zum Gehör gelassen zu werden, weil er auf die Rede seines Gegenteils etwas neues vorzubringen habe; und da ihm dieses, den Rechten nach, nicht versagt werden konnte, so ließ er sich folgendermaßen vernehmen:

»Wenn das gerechte Vertrauen zu einem so ehrwürdigen Gericht, wie das gegenwärtige, den verhaßten Namen einer bestechenden Schmeichelei, womit mein Gegenteil solches zu belegen sich nicht gescheut hat, verdient – so muß ich mich darein ergeben, einen Vorwurf auf mir sitzen zu lassen, den ich nicht vermeiden kann; und ich glaube allenfalls durch eine allzuhohe Meinung von Euch, Großmögende Herren, weniger zu sündigen, als mein Gegner durch die Einbildung, Eure Gerechtigkeit und Einsicht in einer so groben Schlinge zu fangen, als diejenige ist, die er Euch gelegt hat. Der Schein von gesunder Vernunft womit er seine plumpe Vorstellungsart der Sache überstrichen und ein Ton, den er seinem Clienten abgeborgt zu haben scheint, können höchstens eine augenblickliche Überraschung wirken; aber daß sie die Weisheit des obersten Rats von Abdera ganz umzuwerfen vermögend wären, wäre an mir Lästerung zu fürchten, und war Unsinn an ihm, zu hoffen. [381] Wie? Polyphonus, anstatt die gerechte Sache seines Clienten zu behaupten, wie er vor dem ehrwürdigen Stadtgerichte und bisher immer hartnäckig getan hat, gesteht nun auf einmal selbst ein, daß der Eseltreiber unrecht und unsinnig daran getan habe, seine gegen den Zahnarzt Struthion erhobne Klage auf sein vermeintes Eigentumsrecht an den Eselsschatten zu gründen er bekennt öffentlich, daß der Kläger eine unbefugte, ungegründete, frivole Klage erhoben habe: und er untersteht sich von Recht an Schadloshaltung zu schwatzen, und in dem trotzigen Tone eines Eseltreibers Genugtuung zu fordern? Was für eine neue unerhörte Art von Rechtsgelehrsamkeit, wenn der unrechthabende Teil damit durchkäme, daß er am Ende, wenn er sich nicht mehr anders zu helfen wüßte, selbst gestünde, er habe Unrecht, und mit fünfundzwanzig Prügel, die er sich dafür geben ließe (und die ein Kerl, wie Anthrax, schon auf seinen Buckel nehmen kann), sich noch ein Recht an Entschädigung und Satisfaction erwerben könnte? Gesetzt auch, des Eseltreibers Fehler bestünde bloß darin, daß er nicht die rechte Action instituiert: was geht das den unschuldigen Gegenteil oder den Richter an? Jener muß sich mit seiner Verantwortung nach der Klage richten; und dieser urteilt über die Sache, nicht wie sie vielleicht in einem andern Licht und unter einem andern Gesichtspunct erscheinen könnte, sondern wie sie ihm vorgetragen worden. Ich verspreche mir also im Namen meines Clienten, daß, der gegenteilischen Luftstreiche ungeachtet, die vorliegende Sache nicht nach dem neuen und allen bisherigen Verhandlungen zuwiderlaufenden Schwunge, den ihr Polyphonus zu geben gesucht, sondern nach Beschaffenheit der Klage und des Beweises abgeurteilt werde. Die Rede ist in gegenwärtigem Rechtsstreit nicht von Zeitverlust und Deterioration des Esels, sondern von des Esels Schatten. Kläger behauptete, daß sein Eigentumsrecht an den Esel sich auch auf dessen Schatten erstrecke, und hat es nicht bewiesen. Beklagter behauptete, daß er so viel Recht an des Esels Schatten habe, als der Eigentümer, oder was allenfalls daran abgehen könnte, hab' er durch den Mietcontract erworben; und was er behauptete, hat er bewiesen.

Ich stehe also hier, Großmögende Herren, und verlange einen richterlichen Spruch über das, was bisher den Gegenstand des [382] Streits ausgemacht hat. Um dessentwillen allein ist gegenwärtiges höchstes Gericht niedergesetzt worden! Dies allein macht itzt die Sache aus, worüber es zu erkennen hat! Und ich unterstehe michs, vor diesem ganzen mich hörenden Volke zu sagen: entweder ist kein Recht in Abdera mehr, oder meine Forderung ist gesetzmäßig, und die Rechte eines jeden Bürgers sind darunter befangen, daß meinem Clienten das seinige zugesprochen werde!«

Der Sykophant schwieg, die Richter stutzten, das Volk fing von neuem an zu murmeln und unruhig zu werden, und die Schatten reckten ihre Köpfe wieder empor.

Nun, sagte der Nomophylax, indem er sich an Polyphonus wandte, was hat der klägerische Anwalt hierauf beizubringen?

»Hochgeachter Herr Oberrichter, erwiderte Polyphonus, Nichts – als Alles von Wort zu Wort, was ich schon gesagt habe. Der Proceß über des Esels Schatten ist ein so böser Handel, daß er nicht bald genug ausgemacht werden kann. Der Kläger hat dabei gefehlt, der Beklagte hat gefehlt, die Anwälte haben gefehlt, der Richter der ersten Instanz hat gefehlt, ganz Abdera hat gefehlt! Man sollte denken, ein böser Wind habe uns alle angeblasen, und es sei nicht so ganz richtig mit uns gewesen, als wohl zu wünschen wäre. Käm' es schlechterdings darauf an, uns noch länger zu prostituieren: so sollte mirs wohl auch nicht an Atem fehlen, für das Recht meines Clienten an seines Esels Schatten eine Rede zu halten, die von Sonnenaufgang bis zu Sonnenuntergang dauren sollte. Aber, wie gesagt, wenn die Komödie, die wir gespielt haben, so lange sie bloß Komödie blieb, noch zu entschuldigen ist: so wär' es doch, dünkt mich, auf keine Weise recht, sie vor einem so ehrwürdigen Gerichte, wie der hohe Rat von Abdera, länger fortzuspielen. Wenigstens habe ich keine Instruction dazu, und überlasse Euch also, Großmögende Herren, unter nochmaliger Wiederholung alles dessen, was ich im Namen des erlauchten und sehr ehrwürdigen Erzpriesters zu Recht gefordert habe, den Handel nun abzuurteln und auszumachen wie es Euch die Götter eingeben werden.«

Die Richter befanden sich in großer Verlegenheit; und es ist schwer zu sagen, was für ein Mittel sie endlich ergriffen haben würden, um mit Ehren aus der Sache zu kommen, wenn der Zufall, [383] der zu allen Zeiten der große Schutzgott aller Abderiten gewesen ist, sich ihrer nicht angenommen, und diesem feinen bürgerlichen Drama eine Entwicklung gegeben hätte, deren sich einen Augenblick vorher kein Mensch versah, noch versehen konnte.

Sechzehntes Kapitel
Unvermutete Entwicklung der ganzen Komödie und Wiederherstellung der Ruhe in Abdera

Der Esel, dessen Schatten zeither (nach dem Ausdruck des Archon Onolaus) eine so seltsame Verfinsterung in den Hirnschädeln der Abderiten angerichtet hatte, war bis zu Austrag der Sache in den öffentlichen Stall der Republik abgeführt, und bisher daselbst notdürftig verpflegt worden.

Das Beste, was man davon sagen kann, ist, daß er nicht fetter davon geworden war.

Diesen Morgen nun war es den Stallbedienten der Republik, welche wußten, daß der Handel zu Ende gehen sollte, auf einmal eingefallen: der Esel, der gleichwohl eine Hauptperson bei der Sache vorstellte, sollte doch billig auch von der Partie sein. Sie hatten ihn also gestriegelt, mit Blumenkränzen und Bändern herausgeputzt, und brachten ihn nun, unter der Begleitung und dem Nachjauchzen unzähliger Gassenjungen, in großem Pomp herbei.

Der Zufall wollte, daß sie in der nächsten Gasse, die zum Markt führte, anlangten, als Polyphonus eben seinen Nachtrag geendigt hatte, und die armen Richter sich gar nicht mehr zu helfen wußten, das Volk hingegen zwischen der Furcht vor dem Erzpriester und dem neuen Stoß, den ihm die zwote Rede des Sykophanten Physignathus gegeben, in einer ungewissen und unmutigen Art von Bewegung schwankte.

Der Lerm, den die besagten Gassenjungen um den Esel her machten, drehte jedermanns Augen nach der Seite, woher er kam. Man stutzte und drängte sich hinzu.

Ha! rief endlich einer aus dem Volke, da kommt der Esel selbst! – Er wird den Richtern wohl zu einem Ausspruch helfen wollen, sagte ein andrer. – Der verdammte Esel, rief ein dritter, [384] er hat uns alle zu Grunde gerichtet! Ich wollte, daß ihn die Wölfe gefressen hätten, eh er uns diesen gottlosen Handel auf den Hals zog! – Heida! schrie ein Kesselflicker, der immer einer der eifrigsten Schatten gewesen war; was ein braver Abderit ist, über den Esel her! Er soll uns die Zeche bezahlen! Laßt nicht ein Haar aus seinem schäbigten Schwanz von ihm übrig bleiben!

In einem Augenblick stürzte sich die ganze Menge auf das Tier, und, ehe man eine Hand umkehren konnte, war es in tausend Stücke zerrissen. Jedermann wollte auch einen Bissen davon haben. Man riß, schlug, zerrte, kratzte, balgte und raufte sich darum mit einer Hitze, die gar nicht ihres gleichen hatte. Bei einigen ging die Wut so weit, daß sie ihren Anteil auf der Stelle roh und blutig auffraßen; die meisten aber liefen mit dem, was sie davon gebracht, nach Hause; und da ein jeder eine Menge hinter sich her hatte, die ihm seinen Raub mit großem Geschrei abzujagen suchten: so wurde der ganze Markt in wenig Minuten so leer als um Mitternacht.

Die Vierhundertmänner waren im ersten Augenblick dieses Aufruhrs, wovon sie die Ursache nicht sogleich sehen konnten, in so große Bestürzung geraten, daß sie alle, ohne selbst zu wissen, was sie taten, die Dolche hervorzogen, die sie heimlich unter ihren Mänteln bei sich führten; und die Herren sahen einander mit keinem kleinen Erstaunen an, da auf einmal, vom Nomophylax bis zum untersten Beisitzer, in jeder Hand ein bloßer Dolch funkelte. Als sie aber endlich sahen und hörten was es war, steckten sie geschwinde ihre Messer wieder in den Busen, und brachen allesamt, gleich den Göttern im ersten Buch der Ilias, in ein unauslöschliches Gelächter aus.

Dank sei dem Himmel, rief endlich, nachdem die sehr ehrwürdigen Herren wieder zu sich selbst gekommen waren, der Nomophylax lachend aus: mit aller unsrer Weisheit hätten wir der Sache keinen schicklichern Ausgang geben können. Wozu wollten wir uns nun noch länger die Köpfe zerbrechen? Der Esel, der unschuldige Anlaß dieses leidigen Handels, ist (wie es zu gehen pflegt) das Opfer davon geworden; das Volk hat sein Mütchen an ihm abgekühlt; und es kommt itzt nur noch auf eine gute Entschließung von unsrer Seite an: so kann dieser Tag, der noch kaum so aussah, als ob er ein trübes Ende nehmen [385] würde, ein Tag der Freude und der Wiederherstellung der allgemeinen Ruhe werden. Da der Esel selbst nicht mehr ist, was hülf' es, noch lange über seinen Schatten zu rechten? Ich trage also darauf an: daß diese ganze Eselssache hiemit öffentlich für geendigt und abgetan genommen, beiden Teilen, unter Vergütung aller ihrer Kosten und Schäden aus dem Stadtärario, ein ewiges Stillschweigen auferlegt, dem armen Esel aber auf gemeiner Stadt Kosten ein Denkmal aufgerichtet werde, das zugleich uns und unsern Nachkommen zur ewigen Erinnerung diene, wie leicht eine große und blühende Republik sogar um eines Esels Schatten willen hätte zu Grunde gehen können.

Jedermann klatschte dem Antrag des Nomophylax seinen Beifall zu, als dem klügsten und billigsten Auswege, den man, nach Gestalt der Sachen, treffen könne. Beide Parteien konnten damit zufrieden sein, und die Republik erkaufte ihre Beruhigung und Verhütung größeren Schimpfs und Unheils noch immer wohlfeil genug. Der Schluß wurde also von den Vierhundertmännern einhellig diesem Vortrag gemäß abgefaßt, wiewohl es einige Mühe kostete, den Zunftmeister Pfrieme dahin zu bringen, daß er nicht den Ungeraden machte; und der große Rat, mit seiner martialischen Bürgerwache im Vor- und Hintertreffen, begleitete den Nomophylax bis vor seine Wohnung zurück, wo er die Herren Collegen samt und sonders auf den Abend zu einem großen Concert einlud, welches er ihnen, zu Befestigung der wiederhergestellten Eintracht zum Besten geben wollte.

Der Erzpriester Agathyrsus erließ dem Eseltreiber nicht nur die versprochnen fünf und zwanzig Prügel, sondern schenkte ihm noch obendrein drei schöne Maulesel aus seinem eignen Stalle, mit dem ausdrücklichen Verbot, keine Schadloshaltung aus dem abderitischen Aerario anzunehmen. Des folgenden Tages gab er den sämtlichen Schatten aus dem kleinen und großen Rat ein prächtiges Gastmahl; und am Abend ließ er unter die gemeinen Bürger von allen Zünften eine halbe Drachme auf den Mann austeilen, um dafür auf seine und aller guten Abderiten Gesundheit zu trinken. Diese Freigebigkeit gewann ihm auf einmal wieder aller Herzen; und da die Abderiten ohnehin (wie wir wissen) Leute waren, denen es nichts kostete, von einer Extremität zur andern überzugehen: so ist sich, bei einem so edeln Betragen [386] des bisherigen Oberhaupts der stärkern Partei, nicht zu verwundern, daß die Namen von Eseln und Schatten in kurzem gar nicht mehr gehört wurden. Die Abderiten lachten itzt selbst über ihre Torheit als einen Anstoß von fiebrischer Raserei, der nun, Gottlob! vorüber sei. Einer ihrer Balladenmänner (deren sie sehr viele und sehr schlechte hatten) eilte was er konnte, die ganze Geschichte in ein Gassenlied zu bringen, das sogleich auf allen Straßen gesungen wurde; und der Dramenmacher Thlaps ermangelte nicht, binnen wenigen Wochen sogar eine Komödie daraus zu verfertigen, wozu der Nomophylax eigenhändig die Musik componierte.

Dieses schöne Stück wurde öffentlich mit großem Beifall aufgeführt, und beide ehmalige Parteien lachten so herzlich darin, als ob die Sache sie gar nichts anginge.

Demokritus, der sich von dem Erzpriester hatte bereden lassen, mit in dies Schauspiel zu gehen, sagte beim Herausgehen: Diese Ähnlichkeit mit den Atheniensern muß man den Abderiten wenigstens eingestehen, daß sie recht treuherzig über ihre eigne Narrenstreiche lachen können. Sie werden zwar nicht weiser darum; aber es ist immer schon viel gewonnen, wenn ein Volk leiden kann, daß ehrliche Leute sich über seine Torheiten lustig machen, und mitlacht, anstatt, wie die Affen, tückisch darüber zu werden.

Es war die letzte abderitische Komödie, in welche Demokritus in seinem Leben ging: denn bald darauf zog er mit Sack und Pack aus der Gegend von Abdera weg, ohne einem Menschen zu sagen, wo er hinginge; und von dieser Zeit an hat man keine weitere Nachrichten von ihm.

[387]
Fünftes Buch
Erstes Kapitel
Erste Quelle des Übels, welches endlich den Untergang der abderitischen Republik nach sich zog
Politik des Erzpriesters Agathyrsus
Er läßt einen eignen öffentlichen
Froschgraben anlegen
Nähere und entferntere Folgen dieses
neuen Instituts

Die Republik Abdera genoß einige Jahre auf die eben so gefährlichen als – Dank ihrem gutlaunigen Genius! – so glücklich abgelaufnen Bewegungen wegen des Eselsschatten der vollkommensten Ruhe von innen und außen; und wenn es natürlicherweise möglich wäre, daß Abderiten sich lange wohl befinden könnten: so hätte man, dem Anschein nach, ihrem Wohlstande die längste Dauer versprechen sollen. Aber, zu ihrem Unglück, arbeitete eine ihnen allen verborgene Ursache – ein geheimer Feind, der desto gefährlicher war, weil sie ihn in ihrem eignen Busen herumtrugen – unvermerkt an ihrem Untergang.

Die Abderiten verehrten (wie wir wissen) seit undenklichen Zeiten die Latona als ihre Schutzgöttin.

So viel sich auch immer mit gutem Fug gegen den Latonendienst einwenden läßt: so war es nun einmal ihre von Vorältern auf sie geerbte Volks- und Staatsreligion; und sie waren in diesem Stücke nicht schlimmer dran, als alle übrigen griechischen Völkerschaften. Ob sie, wie die Athenienser, Minerven, oder Juno, wie die von Samos, oder Dianen, wie die Ephesier, oder die Grazien, wie die Orchomenier, oder ob sie Latonen verehrten, darauf kam's nicht an: eine Religion mußten sie haben, und in Ermangelung einer bessern war eine jede besser als gar keine.

Aber der Latonendienst hätte auch ohne den geheiligten [388] Froschgraben bestehen können. Wozu hatten sie nötig, den einfältigen Glauben der alten Tejer, ihrer Vorältern, durch einen so gefährlichen Zusatz aufzustutzen? Wozu die Frösche der Latona, da sie die Latona selbst hatten? – Oder, wenn sie ja ein sichtbares Denkmal jener wundervollen Verwandlung der lycischen Bauern zur Nahrung ihres abderitischen Glaubens bedurften: hätten ein Halbdutzend ausgestopfte Froschhäute, mit einer schönen goldnen Inschrift, in einer Kapelle des Latonentempels aufgestellt, mit einem brokatnen Tuch umschleiert, und alle Jahr mit gehörigen Feierlichkeiten dem Volke vorgezeigt, ihrer Einbildungskraft nicht die nämlichen Dienste getan?

Demokritus, ihr guter Mitbürger, aber zum Unglück ein Mann, dem man nichts glauben konnte, weil er in dem bösen Rufe stand, daß er selbst nichts glaube, hatte, während er sich unter ihnen aufhielt, bei Gelegenheit zuweilen ein Wort davon fallen lassen: daß man des Guten, zumal wo Frösche mit im Spiele wären, leicht zu viel tun könne; und da seine Ohren, nach einer zwanzigjährigen Abwesenheit, an das liebliche Brekekekek Koax Koax, das ihm zu Abdera bei Nacht und Tag um die Ohren schnarrte, nicht so gewöhnt waren, als die etwas dicken Ohren seiner Landesleute: so hatte er ihnen einigemal nachdrückliche Vorstellungen gegen ihre Deisibatrachie (wie ers nannte) getan, und ihnen öfters bald im Scherz, bald im Ernst vorhergesagt, daß, wenn sie nicht in Zeiten Vorkehrung täten, ihre quakenden Mitbürger sie endlich aus Abdera hinausquaken würden. Die Vornehmern konnten über diesen Punct sehr gut Scherz vertragen; denn sie wollten wenigstens nicht dafür angesehen sein, als ob sie mehr von den Fröschen der Latona glaubten, als Demokritus selbst. Aber das Übel war, daß er sie weder durch Schimpf noch Ernst dahin bringen konnte, die Sache aus einem vernünftigen Gesichtspuncte zu beherzigen. Scherzte er darüber, so scherzten sie mit; sprach er ernsthaft, so lachten sie über ihn, daß er über so was ernsthaft sein könne. Und so blieb es denn, Einwendens ungeachtet, wie in allen Dingen, so auch hierinnen zu Abdera immer – beim alten Brauch.

Indessen wollte man doch zu Demokritus Zeiten eine gewisse Lauigkeit in Absicht auf die Frösche unter der edeln abderitischen Jugend wahrgenommen haben. Gewiß ist, daß der Priester Strobylus [389] öfters große Klaglieder darüber anstimmte, daß die meisten guten Häuser die Froschgräben, die sie von Alters her in ihren Gärten unterhalten hätten, unvermerkt eingehen ließen; und daß der gemeine Mann beinahe der einzige sei, der in diesem Stücke noch fest an dem löblichen alten Brauch hange, und seine Ehrfurcht für den geheiligten Teich auch durch freiwillige Gaben zu Tage lege.

Wer sollte nun bei so bewandten Sachen vermutet haben, daß gerade unter allen Abderiten derjenige, auf den am wenigsten ein Verdacht, daß er an der Deisibatrachie krank sei, fallen könnte – kurz, daß der Erzpriester Agathyrsus der Mann war, der, bald nach Endigung der Fehde zwischen den Eseln und Schatten, dem erkalteten Eifer der Abderiten für die Frösche wieder ein neues Leben gab?

Gleichwohl ist es unmöglich, ihn von diesem seltsamen Widerspruch zwischen seiner innern Überzeugung und seinem äußerlichen Betragen freizusprechen; und wenn wir nicht bereits von seiner Art zu denken unterrichtet wären, würde das Letztere kaum zu erklären sein. Aber wir kennen diesen Priester als einen ehrgeizigen Mann. Er hatte sich während der letzten Unruhen an der Spitze einer mächtigen Partie gesehen, und hatte keine Lust, dieses Vergnügen gegen ein geringeres Aequivalent zu vertauschen, als einen fortdaurenden Einfluß auf die ganze nun wieder beruhigte Republik – eine Sache, die er nunmehr durch kein gewissers Mittel erhalten konnte, als durch eine große Popularität, und durch eine Gefälligkeit gegen die Vorurteile des Volks, die ihn um so weniger kostete, da er (wie so viele seines gleichen) die Religion bloß als eine politische Maschine ansah, und im Grunde äußerst gleichgültig darüber war, ob es Frösche oder Eulen oder Hammelsfelle seien, was ihm die freieste und sicherste Befriedigung seiner Lieblingsleidenschaften gewährte.

Diesemnach also, und um sich auf die wohlfeilste Art bei dem Volke im Ansehen und Einfluß zu erhalten, verbannte er bald nach Endigung des Schattenkriegs nicht nur die Störche, über welche die Froschpfleger Klage geführt hatten, aus allen Gerichten und Gebieten des Jasontempels; sondern trieb die Gefälligkeit gegen seine neuen Freunde so weit, daß er mitten auf einer Esplanade (die einer seiner Vorfahren zu einem öffentlichen [390] Spazierplatz gewidmet hatte) einen Canal graben ließ, und sich zu Besetzung desselben auf eine sehr verbindliche Art einige Fässer mit Froschlaich aus dem geheiligten Teiche von dem Oberpriester Strobylus ausbat; welche ihm denn auch, nach einem der Latona gebrachten feierlichen Opfer in Begleitung des ganzen abderitischen Pöbels mit großer Feierlichkeit zugeführet wurden.

Von diesem Tage an war Agathyrsus der Abgott des Volks, und ein Froschgraben, zu rechter Zeit angelegt, verschaffte ihm, was er sonst mit aller Politik, Wohlredenheit und Freigebigkeit nie erlangt haben würde. Er herrschte, ohne die Ratsstube jemals zu betreten, so unumschränkt in Abdera als ein König; und weil er den Ratsherren und Zunftmeistern alle Wochen zwei- oder dreimal zu essen gab, und ihnen seine Befehle nie anders als in vollen Bechern von Chierwein insinuierte: so hatte niemand etwas gegen einen so liebenswürdigen Tyrannen einzuwenden. Die Herren glaubten nichts destoweniger auf dem Rathause ihre eigne Meinung zu sagen, wenn ihre Vota gleich nur der Widerhall der Schlüsse waren, welche Tages zuvor im Speisesaal des Erzpriesters abgefaßt wurden.

Agathyrsus war der erste, der sich, unter guten Freunden, über seinen neuen Froschgraben lustig machte. Aber das Volk hörte nichts davon. Und da sein Beispiel auf die Edeln von Abdera mehr wirkte, als seine Scherze: so hätte man den Wetteifer sehen sollen, womit sie, um ebenfalls Proben von ihrer Popularität abzulegen, entweder die vertrockneten Froschgräben in ihren Gärten wieder herstellten, oder neue anlegten, wo noch keine gewesen waren. Wie in Abdera alle Torheiten ansteckend waren, so blieb auch von dieser niemand frei. Anfangs war es nur Mode, eine Sache die zum guten Ton gehörte. Ein Bürger von einigem Vermögen würde sichs zur Schande gerechnet haben, hierin hinter seinem vornehmern Nachbar zurückzubleiben. Aber unvermerkt wurde es ein unvermeidliches Requisitum eines guten Bürgers; und wer nicht wenigstens eine kleine Froschgrube innerhalb seiner vier Pfähle aufweisen konnte, würde für einen Feind Latonens und für einen Verräter am Vaterlande ausgeschrien worden sein.

Bei einem so warmen Eifer der Privatpersonen ist leicht zu [391] erachten, daß der Senat, die Zünfte und übrigen Collegien nicht die letzten waren, der Latona gleichmäßige Beweise ihrer Devotion zu geben. Jede Zunft ließ sich ihren eignen Froschzwinger graben. Auf jedem öffentlichen Platz der Stadt, ja gar vor dem Rathause selbst (wo die Kräuter- und Eierweiber ohnehin Lerms genug machten), wurden große mit Schilf und Rasen eingefaßte Bassins zu diesem Ende angelegt; und das Policeicollegium, dem hauptsächlich die Verschönerung der Stadt in seine Pflichten gegeben war, kam endlich gar auf den Einfall, durch die Alleen, womit Abdera ringsumgeben war, zu beiden Seiten schmale Canäle ziehen, und mit Fröschen besetzen zu lassen. Das Project wurde vor Rat gebracht, und passierte ohne Widerspruch; wiewohl man sich genötigt sah, um diese Canäle und die übrigen öffentlichen Froschteiche mit dem benötigten Wasser zu versehen, den Fluß Nestus beinahe gänzlich abgraben zu lassen. Weder die Kosten, die durch alle diese Operationen dem Aerario aufgeladen wurden, noch der vielfältige Nachteil, der aus dem Abgraben des Flusses entstund, wurden in die mindeste Betrachtung gezogen; und als ein junger Ratsherr nur im Vorbeigehn erwähnte, daß der Nestus nahe am Eintrocknen wäre – desto besser, rief einer von den Froschpflegern; so haben wir einen großen Froschgraben mehr, ohne daß es der Republik einen Heller kostet.

Wer sich bei diesem – freilich nur in Abdera möglichen Enthusiasmus für die Verschönerung der Stadt durch Froschgräben am besten befand, waren die Priester des Latonentempels. Denn, ungeachtet sie den Laich aus dem heiligen Teiche sehr wohlfeil, nämlich den abderitischen Cyathus (der ungefähr ein Nößel unsers Maßes betragen mochte) nur für zwo Drachmen verkauften: so wollte doch jemand berechnet haben, daß sie in den ersten zwei bis drei Jahren, da die Schwärmerei am wirksamsten war, über fünf tausend Dariken damit gewonnen hätten. Die Summe scheint uns bei allem dem zu hoch angesetzt; wiewohl nicht zu leugnen ist, daß sie sich für den Laich, den sie der Republik ablieferten, das Duplum aus der Baucasse bezahlen ließen.

Übrigens dachte in ganz Abdera niemand an die Folgen dieser schönen Anstalten. Die Folgen kamen, wie gewöhnlich, von [392] sich selbst. Aber weil sie nicht auf einmal da stunden, so währte es nicht nur eine geraume Zeit, bis man sie bemerkte; sondern, da sie endlich auffallend genug wurden, um nicht länger, sogar von Abderiten, übersehen zu werden: so konnten diese doch, trotz ihrem bekannten Scharfsinn, die Quelle derselben nicht ausfindig machen. Die abderitischen Ärzte zerbrachen sich die Köpfe, um zu erraten, woher es käme, daß Schnuppen, Flüsse und Hautkrankheiten aller Arten von Jahr zu Jahr so mächtig überhand nahmen, und so hartnäckig wurden, daß sie aller ihrer Kunst und aller Niesewurz von Anticyra Trotz boten. Kurz, Abdera mit der ganzen Gegend umher war beinahe in einen allgemeinen unabsehbaren Froschteich verwandelt, eh es einem ihrer Philosophen einfiel, die Frage aufzuwerfen: ob eine grenzenlose Vermehrung der Froschmenge einem Staat nicht vielleicht mehr Schaden tun könnte, als die Vorteile, die man sich davon verspreche, jemals wieder gut zu machen vermöchten?

Zweites Kapitel
Charakter des Philosophen Korax
Nachrichten von der Akademie der Wissenschaften zu Abdera
Korax wirft in derselben eine verfängliche Frage, in Betreff der Latonenfrösche, und sich selbst zum Haupt der Gegenfröschler auf
Betragen der Latonenpriester gegen diese Secte, und wie sie bewogen wurden, selbige für unschädlich anzusehen

Der merkwürdige Kopf, der zuerst die Wahrnehmung machte, daß die Menge der Frösche in Abdera in der Tat übermäßig sei, und mit der Anzahl und dem Bedürfnis der zweibeinigten unbefiederten Einwohner ganz und gar in keinem Verhältnis stehe, nannte sich Korax. Es war ein junger Mann von gutem Hause, der sich etliche Jahre zu Athen aufgehalten, und in der Akademie (wie die von Plato gestiftete Philosophenschule bekanntermaßen genennt wurde) gewisse Grundsätze eingesogen hatte, die den Fröschen der Latona nicht allzugünstig waren. Die Wahrheit zu sagen, Latona selbst hatte durch seinen Aufenthalt zu Athen so viel bei ihm verloren, daß es kein Wunder war, wenn er ihre Frösche nicht mit aller der Ehrfurcht ansehen konnte, die von einem rechtdenkenden Abderiten gefodert wurde. »Eine [393] jede schöne Frau ist eine Göttin, pflegte er zu sagen: wenigstens eine Göttin der Herzen; und Latona war unstreitig eine sehr schöne Frau; aber was geht das die Frösche, und – die Sache bloß menschlich und im Lichte der Vernunft betrachtet – was gehen am Ende die Frösche Latonen an? Und gesetzt auch, die Göttin für die ich übrigens so viel Ehrfurcht hege, als einer schönen Frau und einer Göttin gebührt – gesetzt, sie habe die Frösche vor allem andern Geziefer und Ungeziefer der Welt in ihren besondern Schutz genommen: folgt denn daraus, daß man der Frösche nie zuviel haben könne?«

Korax war, als er so zu raisonnieren anfing, ein Mitglied der Akademie, welche in Abdera zur Nachahmung der atheniensischen gestiftet worden war. Denn die Abderiten waren, wie wir wissen, schon von langem her darauf gestellt, alles wie die Athenienser haben zu wollen. Diese Akademie war ein kleiner in Spaziergänge ausgehauener Wald, ganz nahe bei der Stadt; und da sie unter dem Schutz des Senats stund, und auf Kosten des Aerariums angelegt worden war: so hatten die Herren von der Polizeicommission nicht ermangelt, sie reichlich mit Froschgräben zu versehen. Die Glieder der Akademie fanden sich zwar nicht selten durch den eintönigen Chorgesang dieser quakenden Philomelen in ihren tiefsinnigen Betrachtungen gestört. Allein, da dies an jedem andern Orte in und um die Stadt Abdera eben so wohl der Fall gewesen wäre: so hatten sie sich immer in Geduld darein ergeben; oder, richtiger zu reden, man war des Froschgesangs in Abdera so gewohnt, daß man nicht mehr davon hörte, als die Einwohner von Katadupa von dem großen Nilfall, in dessen Nachbarschaft sie leben, oder als die Anwohner irgend eines andern Wasserfalls in der Welt.

Allein mit Korax, dessen Ohren durch seinen Aufenthalt zu Athen die Empfindlichkeit, die allen gesunden menschlichen Ohren natürlich ist, wieder erlangt hatten, war es eine andre Sache. Man wird es also nicht befremdlich finden, daß er gleich bei der ersten Sitzung, der er beiwohnte, die spitzige Anmerkung machte: er glaube, das Käuzlein der Minerva qualificiere sich ungleich besser zu einem außerordentlichen Mitgliede der Akademie, als die Frösche der Latona. – »Ich weiß nicht, meine Herren, wie Sie die Sache ansehen, setzte er hinzu: [394] aber, mich deucht, die Frösche haben seit einigen Jahren auf eine ganz unbegreifliche Art in Abdera zugenommen.«

Die Abderiten waren ein dumpfes Völklein, wie wir alle wissen; und es gab vielleicht (eine einzige berühmte Nation allenfalls ausgenommen) kein anderes in der Welt, das in der sonderbaren Eigenschaft, »den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen zu können«, ihnen den Vorzug streitig machen konnte. Aber dies mußte man ihnen lassen, sobald es nur einem unter ihnen einfiel, eine Bemerkung zu machen, die jedermann eben so gut hätte machen können als er, wiewohl sie niemand vor ihm gemacht hatte: so schienen sie allesamt plötzlich aus einem langen Schlaf zu erwachen, sahen nun auf einmal – was ihnen vor der Nase lag, verwunderten sich der gemachten Entdeckung, und glaubten demjenigen sehr verbunden zu sein, der ihnen dazu verholfen hatte. In der Tat, antworteten die Herren von der Akademie, die Frösche haben seit einiger Zeit auf eine ganz unbegreifliche Art zugenommen.

»Wenn ich sagte, auf eine ganz unbegreifliche Art, (versetzte Korax,) so will ich damit keineswegs gesagt haben, daß etwas übernatürliches in der Sache sei. Im Grunde ist nichts begreiflicher, als daß die Frösche sich auf eine ganz ungeheure Art an einem Orte vermehren müssen, wo man solche Anstalten zu ihrer Unterhaltung vorkehrt, wie zu Abdera: das Unbegreifliche liegt, meiner geringen Meinung nach, bloß darin, wie die Abderiten einfältig genug sein können, diese Anstalten vorzukehren?«

Die sämtlichen Mitglieder der Akademie stutzten über die Freiheit dieser Rede, sahen einander an, und schienen verlegen zu sein, was sie von der Sache denken sollten.

»Ich rede bloß menschlicher Weise«, sagte Korax.

Wir zweifeln nicht daran, versetzte der Präsident der Akademie, der ein Ratsherr und einer von den Zehnmännern war; allein die Akademie hat sichs bisher zum Gesetz gemacht, dergleichen schlüpfrige Materien, auf welchen die Vernunft so leicht ausglitschen kann, lieber gar nicht zu berühren.

»Die Akademie zu Athen hat sich kein solches Gesetz gemacht, fiel ihm Korax ein; wenn man nicht über alles philosophieren darf, so wär's eben so gut, man philosophierte über – gar nichts.«

[395] Über alles, sagte der Präsident Zehnmann mit einer bedenklichen Miene, nur nicht über Latonen, und –

Ihre Frösche? – setzte Korax lächelnd hinzu. Dies war's auch wirklich, was der Präsident hatte sagen wollen; aber bei dem Wörtchen und überfiel ihn eine Art von Beklemmung, als ob er wider Willen fühlte, daß er im Begriff sei, eine Sottise zu sagen; und so hielt er plötzlich mit offnem Munde still, und überließ es dem Korax, die Periode zu vollenden.

»Ein jedes Ding kann von sehr vielerlei Seiten, und in mancherlei Lichte betrachtet werden, fuhr Korax fort; und dies zu tun, ist, deucht mich, just, was dem Philosophen zukömmt, und was ihn von dem dummen undenkenden Haufen unterscheidet. Unsere Frösche, zum Exempel, können als Frösche schlechtweg, und als Frösche der Latona betrachtet werden. Denn in so fern sie Frösche schlechtweg sind, sind sie weder mehr noch weniger Frösche als andre. Ihr Verhältnis gegen die Abderiten ist in so fern ungefähr das nämliche, wie das Verhältnis aller übrigen Frösche zu allen übrigen Menschen; und in so fern kann nichts unschuldigers sein, als zu untersuchen, ob z.E. die Froschmenge in einem Staat mit der Volksmenge in gehörigem Verhältnis stehe oder nicht? und – wofern sich fände, daß der Staat einen großen Teil mehr Frösche ernähren müßte, als er nötig hätte die diensamsten Mittel vorzuschlagen, wodurch ihre übermäßige Menge vermindert werden könnte.«

Korax spricht verständig, sagten etliche junge Akademisten.

»Ich rede bloß menschlicherweise von der Sache«, sagte Korax.

Ich wollte lieber, daß wir gar nicht davon angefangen hätten, sagte der Präsident.

Dies war der erste Funke, den Korax in die schwindlichten Köpfe einiger speculativen jungen Abderiten warf. Unvermerkt wurde er zum Haupt und Worthalter einer philosophischen Secte, von deren Grundsätzen und Meinungen in Abdera nicht allzuvorteilhaft gesprochen wurde. Sie wurden, nicht ohne Grund, beschuldiget, daß sie nicht nur unter sich, sondern sogar in großen Gesellschaften und auf den öffentlichen Spazierplätzen behaupteten: »es lasse sich mit keinem einzigen triftigen Grunde beweisen, daß die Frösche der Latona etwas bessers als gemeine Frösche wären; die Sage, daß sie von den milischen Froschbauern, [396] oder Bauerfröschen abstammten, wäre ein albernes Volksmärchen; und selbst die alte Tradition, daß Jupiter die milischen Bauern, weil sie Latonen mit ihren Zwillingen nicht aus ihrem Teiche hätten trinken lassen wollen, in Frösche verwandelt habe, sei etwas, woran man allenfalls zweifeln könnte, ohne sich eben darum an Jupitern oder Latonen zu versündigen. Es möchte aber auch damit sein wie es wollte, so sei es doch ungereimt, aus Devotion gegen die schöne Latona, die ganze Stadt und Republik Abdera zu einer Froschpfütze zu machen« – und was dergleichen Behauptungen mehr waren, die, so simpel und vernunftmäßig sie uns heutiges Tages vorkommen, zu Abdera gleichwohl, zumal in den Ohren der Latonenpriester, sehr übelklingend gefunden wurden, und dem Philosophen Korax und seinen Anhängern den verhaßten Namen Batrachomachen oder Gegenfröschler zuzogen; ein Titel, dessen sie sich jedoch um so weniger schämten, weil es ihnen gelungen war, beinahe die ganze junge und schöne Welt mit ihren freien Meinungen anzustecken.

Die Priester des Latonentempels und das Collegium der Froschpfleger ermangelten nicht, bei jeder Gelegenheit ihr Mißfallen an dem mutwilligen Witze der Gegenfröschler zu zeigen; und der Oberpriester Stilbon vermehrte, aus dieser Veranlassung, sein Buch von den Altertümern des Latonentempels mit einem großen Kapitel über die Natur der Latonenfrösche. Indessen hatten sie einen sehr wesentlichen Beweggrund, es dabei bewenden zu lassen; und dieser war: daß, ungeachtet der freigeisterischen Denkart über die Frösche, welche Korax in Abdera zur Mode gemacht hatte, nicht ein einziger Froschgraben in und um die Stadt weniger zu sehen war als zuvor. Der Philosoph Korax und seine Anhänger waren schlau genug gewesen, zu merken, daß sie sich die Freiheit, »von den Fröschen überlaut zu denken, was sie wollten«, nicht wohlfeiler erkaufen könnten, als wenn sie es, was die Ausübung betraf, gerade eben so machten, wie alle andre Leute. Ja, der weise Korax, als derjenige, auf den man am meisten Acht gab, hatte für schicklich angesehen, lieber zu viel als zu wenig zu tun; und also, gleich nach seiner Aufnahme in die Akademie, auf seinem angeerbten Grund und Boden einen der schönsten Froschgräben in ganz Abdera angelegt, und mit einer [397] beträchtlichen Menge schöner wohlbeleibter Frösche aus dem geheiligten Teich besetzt, wovon er den Priestern jedes Stück mit vier Drachmen bezahlte. Dies war eine Höflichkeit, für welche diese Herren, so wenig sie sich ihm auch sonst dafür verbunden halten mochten, doch, um des guten Beispiels willen, nicht umhin konnten, dankbar zu scheinen; zumal da diese nämliche Handlung des sogenannten Philosophen hinlänglichen Vorwand gab, diejenigen, die sich an seinen freien Meinungen und witzigen Einfällen hätten ärgern mögen, zu überzeugen, daß es ihm nicht Ernst damit sei. Seine Zunge ist schlimmer als sein Gemüt pflegten sie zu sagen; er will dafür angesehen sein, als ob er zu viel Witz hätte, um zu denken wie andre Leute; aber im Grunde ists bloße Ziererei. Wenn er nicht im Herzen eines Bessern überzeugt wäre, würde er wohl seine freigeisterischen Meinungen durch seine Handlungen widerlegen? Man muß solche Leute nicht nach dem, was sie sprechen, beurteilen, sondern nach dem, was sie tun.

Bei allem dem ist nicht zu leugnen, daß Korax unter der Hand mit keinem geringern Anschlag umging, als, gleich einem neuen Herkules, Theseus oder Harmodius, sein Vaterland von den – Fröschen zu befreien, von welchen es, wie er zu sagen pflegte, mit größerm Unheil bedroht würde, als alle die Ungeheuer, Räuber und Tyrannen, von denen jene Heroen das ihrige befreiten, jemals im ganzen Griechenlande angerichtet hätten.

Drittes Kapitel
Ein unglücklicher Zufall nötigt den Senat, von der unmäßigen Froschmenge
in Abdera Notiz zu nehmen
Unvorsichtigkeit des Ratsherrn Meidias
Die Majora beschließen, ein Gutachten der Akademie einzuholen
Der Nomophylax Hypsiboas protestiert gegen, diesen Schluß, und eilt, den Oberpriester Stilbon dagegen in Bewegung zu setzen

Das Ungemach, das die Abderiten von der ungeheuren Vermehrung ihrer heiligen Frösche erduldeten, wurde inzwischen von Tag zu Tag drückender, ohne daß der damalige Archon Onokradias (ein Schwestersohn des berühmten Onolaus, und, [398] die Wahrheit zu sagen, der lockerste Kopf, der jemals am Ruder von Abdera gewackelt hatte) vermocht werden konnte, die Sache vor den Senat zu bringen – bis bei einer großen Feierlichkeit, wo der Rat und die ganze Bürgerschaft in Procession durch die Hauptstraßen ziehen mußte, das Unglück begegnete, »daß ein paar Dutzend Frösche, die sich zu weit aus ihren Gräben herausgewagt hatten, im Gedränge des Volks zertreten wurden, und, aller schleunig vorgekehrten Hülfe ungeachtet, jämmerlich ums Leben kamen.«

Dieser Vorfall schien so bedenklich, daß sich der Archon genötiget fand, eine außerordentliche Ratsversammlung ansagen zu lassen, um sich zu beraten, was für eine Genugtuung die Stadt für dieses zwar unvorsetzliche, aber nichts desto weniger höchst unglückliche Sacrilegium der Latona zu leisten hätte, und durch was für Vorkehrungen einem ähnlichen Unglücke fürs künftige vorgebaut werden könnte?

Nachdem eine gute Weile viel abderitische Plattheiten über die Sache vorgetragen worden waren, platzte endlich der Ratsherr Meidias, ein Verwandter und Anhänger des Philosophen Korax, heraus: »Ich begreife nicht, warum die Herren um ein halb Schock Frösche mehr oder weniger ein solches Aufheben machen mögen. Jedermann ist überzeugt, daß die Sache ein bloßer Zufall war, den uns Latona unmöglich übel nehmen kann; und weil das Schicksal, das über Götter, Menschen und Frösche zu befehlen hat, doch nun einmal den Untergang einiger quakenden Geschöpfe bei dieser Gelegenheit verhängen wollte: möchten's doch anstatt vier und zwanzig eben so viele Myriaden gewesen sein!«

Es waren im ganzen Senat vielleicht nicht fünfe, die in ihrem Hause, oder in Privatgesellschaften, (wenigstens seit Korax die erste Entdeckung gemacht,) nicht tausendmal über die allzugroße Vermehrung der Frösche geklagt hätten. Gleichwohl da es in vollem Senat noch nie darüber zur Sprache gekommen war, stutzte jedermann über die Kühnheit des Ratsherrn Meidias, nicht anders, als ob er der Latona selbst an die Kehle gegriffen hätte. Einige alte Herren sahen so erschrocken aus, als ob sie erwarteten, daß ihr Herr College für diese verwegene Rede auf der Stelle zum Frosch werden würde.

[399] »Ich hege alle gebührende Achtung für den geheiligten Teich« (fuhr Meidias, der alles wohl bemerkte, ganz gelassen fort); »aber ich berufe mich auf die innere Überzeugung aller Menschen, deren Mutterwitz noch nicht ganz eingetrocknet ist, ob jemand unter uns ohne Unverschämtheit leugnen könne, daß die Menge der Frösche in Abdera ungeheuer ist?«

Die Ratsherren hatten sich indessen von ihrem ersten Schrecken wieder erholt; und wie sie sahen, daß Meidias noch immer in seiner eignen Gestalt da saß, und ungestraft hatte sagen dürfen, was sie im Grunde allesamt als Wahrheit fühlten: so fing einer nach dem andern an zu bekennen; und nach einer kleinen Weile zeigte sichs, daß der ganze Senat einhellig der Meinung war: es wäre zu wünschen, daß der Frösche in Abdera weniger sein möchten.

Man ist in seinem eignen Hause nicht mehr vor ihnen sicher, sagte einer. – Man kann nicht über die Straße gehen, ohne Gefahr zu laufen, einen oder ein paar zugleich mit jedem Tritte zu zerquetschen, sagte ein andrer. – Man hätte der Freiheit, Frosch gräben anzulegen, gleich Anfangs Schranken setzen sollen, sagte ein dritter. – Wär ich damals im Senat gewesen, da die Stiftung der öffentlichen Froschteiche beschlossen wurde, ich würde meine Stimme nimmermehr dazu gegeben haben, sagte ein vierter. – Wer hätte aber auch gedacht, daß sich die Frösche in wenig Jahren so unmenschlich vermehren würden? sagte ein fünfter. – Ich sah es wohl vorher, sagte der Präsident der Akademie; aber ich habe mir zum Gesetze gemacht, mit den Priestern der Latona in Frieden zu leben.

Ich auch, sagte Meidias; aber unsre Umstände werden dadurch nichts gebessert.

Was ist also bei so gestalten Sachen anzufangen, meine Herren? frug endlich in seinem gewöhnlichen nieselnden Tone der Archon Onokradias.

Da sitzt eben der Knoten, antworteten die Ratsherren aus einem Munde! Wenn uns nur jemand sagen wollte, was anzufangen ist?

Was anzufangen ist? rief Meidias hastig, und hielt plötzlich wieder inne.

Es erfolgte eine allgemeine Stille in der Ratsstube. Die weisen [400] Männer ließen ihre Häupter auf die Brust fallen, und schienen, mit Anstrengung aller ihrer Gesichtsmuskeln nachzusinnen, was anzufangen sei.

Aber wofür haben wir denn eine Akademie der Wissenschaften in Abdera? rief nach einer Weile der Archon zu allgemeiner Verwunderung aller Anwesenden. Denn man hatte ihn seit seiner Erwählung zum Archontat noch nie seine Meinung in einer rhetorischen Figur vorbringen hören.

Der Gedanke Seiner Hochweisheit ist unverbesserlich, versetzte der Ratsherr Meidias; man trage der Akademie auf, ihr Gutachten zu geben, durch was für Mittel –

Das ists eben, was ich meine, unterbrach ihn der Archon; wofür haben wir eine Akademie, wenn wir uns mit dergleichen subtilen Fragen die Köpfe zerbrechen sollen?

Vortrefflich! riefen eine Menge dicker Ratsherren, indem sie sich alle zugleich mit der flachen Hand über ihre platten Stirnen fuhren – die Akademie! die Akademie soll ein Gutachten stellen!

Ich bitte Sie, meine Herren, rief Hypsiboas, einer der Häupter der Republik; denn er war zur Zeit Nomophylax, erster Froschpfleger, und Mitglied des ehrwürdigen Collegiums der Zehnmänner. Aller dieser Würden ungeachtet lebte schwerlich im ganzen Abdera ein Mann, der an Latonen und ihren Fröschen im Herzen weniger Anteil nahm als er. Aber weil ihm der Jasonide Onokradias bei der letzten Archonswahl vorgezogen worden war, so hatte er sichs zum Grundsatz gemacht, dem neuen Archon immer und in allem zuwider zu sein. Er wurde daher von den Jasoniden und ihren Freunden nicht unbillig beschuldiget: daß er ein unruhiger Kopf sei, und mit nichts geringerm umgehe, als eine Partei im Rate zu formieren, welche sich allen Absichten und Schlüssen der Jasoniden (die freilich seit langer Zeit den Meister in der Stadt gespielt hatten) entgegen setzen sollte. – »Ich bitte Sie, meine Herren, übereilen Sie sich nicht«, rief Hypsiboas; »die Sache gehört nicht vor die Akademie, sie gehört vor das Collegium der Batrachotrophen. Es wäre wider alle gute Ordnung, und würde von den Priestern der Latona als die gröbste Beleidigung aufgenommen werden müssen, wenn man eine Frage von dieser Natur und Wichtigkeit der Akademie auftragen wollte!«

[401] Es betrifft aber keine bloße Froschsache, Hochgeachteter Herr Nomophylax, sagte Meidias mit seiner gewöhnlichen spöttelnden Gelassenheit; leider! ists, Dank sei es den schönen Anstalten, die man seit einigen Jahren getroffen hat, eine Staatssache –

Und vielleicht die wichtigste, die jemals ein allgemeines Zusammentreten aller vaterländischgesinnten Gemüter notwendig gemacht hat, fiel ihm Stentor ins Wort; Stentor, einer der heißesten Köpfe in der Stadt, und der seiner polternden Stimme wegen viel im Senat vermochte. Die Jasoniden hatten ihn, wiewohl er nur ein Plebejer war, durch die Vermählung mit einer natürlichen Tochter des verstorbenen Erzpriesters Agathyrsus, auf ihre Seite gebracht, und pflegten sich gewöhnlich seiner guten Stimme zu bedienen, wenn etwas gegen den Nomophylax Hypsiboas durchzusetzen war, der eine eben so starke, wiewohl nicht völlig so polternde Stimme hatte als Stentor.

Wohl bekam es diesmals den Ohren der abderitischen Ratsherren, daß sie durch das ewige Koax Koax ihrer Frösche ein wenig dickhäutig geworden waren; sie würden sonst in Gefahr gewesen sein, bei dieser Gelegenheit völlig taub zu werden. Aber man war solcher Artigkeiten auf dem Rathause zu Abdera schon gewohnt, und ließ also die beiden mächtigen Schreier, gleich zween eifersüchtigen Bullen, einander so lange anbrüllen, bis sie – vor Heiserkeit nicht mehr schreien konnten.

Da es von diesem Augenblick an nicht mehr der Mühe wert war, ihnen zuzuhören, so fragte der Archon den Stadtschreiber: wieviel die Uhr sei? – und auf die Versicherung, daß die Mittagsessenszeit herannahe, wurde unverzüglich zur Umfrage geschritten.

Hier beliebe man sich zu erinnern, daß es auf dem Rathause zu Abdera bei Abfassung eines Schlusses niemals darum zu tun war, die Gründe, welche für oder wider eine Meinung vorgetragen worden waren, kaltblütig gegen einander abzuwägen, und sich auf die Seite desjenigen zu neigen, der die besten gegeben hatte: sondern man schlug sich entweder zu dem, der am längsten und lautsten geschrien hatte, oder zu dem, dessen Partei man hielt. Nun pflegte zwar die Partei des Archon in currenten Sachen fast immer die stärkere zu sein; aber diesesmal, da es (mit dem Präsidenten der Akademie [402] zu reden) eine so schlüpfrige Sache betraf, würde Onokradias schwerlich die Oberhand erhalten haben, wenn Stentor seine Lungenflügel nicht so außerordentlich angegriffen hätte. Es wurde also mit 28 Stimmen gegen 22 beschlossen: daß der Akademie ein Gutachten abgefodert werden sollte, durch was für Mittel und Wege der übermäßigen Vermehrung der Frösche in und um Abdera (jedoch der schuldigen Ehrfurcht für Latonen und den Rechten ihres Tempels in alle Wege unbeschadet) Einhalt getan werden könnte?

Die Clausel hatte der Ratsherr Meidias ausdrücklich einrücken lassen, um die Partei des Nomophylax entweder zu gewinnen oder ihr wenigstens keinen Vorwand zu lassen, dessen sie sich bedienen könnte, das Volk gegen die Majorität aufzuwiegeln. Aber der Nomophylax und sein Anhang versicherten, daß sie nicht so einfältig wären, sich durch Clauseln eine Nase drehen zu lassen. Sie protestierten gegen den Schluß ad Protocollum, ließen sich davon Extractum in forma probante erteilen, und begaben sich unverzüglich in Procession zu dem Oberpriester Stilbon, um ihn von diesem unerhörten Eingriffe in die Rechte der Batrachotrophen und des Latonentempels Nachricht zu geben, und die Maßnehmungen abzureden, welche zu Aufrechthaltung ihres Ansehens schleunigst ergriffen werden müßten.

Viertes Kapitel
Charakter und Lebensart des Oberpriesters Stilbon
Verhandlung zwischen den Latonenpriestern und den Ratsherren von der Minorität
Stilbon sieht die Sache aus einem eignen Gesichtspunct an, und geht, dem Archon selbst Vorstellungen zu machen
Merkwürdige Unterredung zwischen den Zurückgebliebnen

Der Oberpriester Stilbon war bereits der dritte, der dem ehrwürdigen Strobylus (dessen Asche im Frieden ruhe!) in dieser Würde gefolgt war. In den Charakteren dieser beiden Männer war, den Eifer für die Sache ihres Ordens ausgenommen, sonst wenig ähnliches. Stilbon hatte von Jugend an die Einsamkeit geliebt, und sich in den unzugangbarsten Gegenden des Latonenhains, [403] oder in den abgelegensten Winkeln ihres Tempels mit Speculationen beschäftigt, die desto mehr Reiz für seinen Geist hatten, je weiter sie sich über die Grenzen der menschlichen Erkenntnis zu erheben schienen; oder, richtiger zu reden, je weniger sich der mindeste praktische Gebrauch zum Vorteil des menschlichen Lebens davon machen ließ. Gleich einer unermüdeten Spinne saß er im Mittelpunct seiner Gedanken- und Wortgewebe; ewig beschäftigt, den kleinen Vorrat von Ideen, den er in dem engen Bezirke des Latonentempels und bei einer so abgeschiedenen Lebensart hatte erwerben können, in so klare und dünne Fäden auszuspinnen, daß er alle die unzählbaren leeren Zellen seines Gehirns über und über damit austapezieren konnte.

Außer diesen metaphysischen Speculationen hatte er sich am meisten mit den Altertümern von Abdera, Thracien und Griechenland, und besonders mit der Geschichte aller festen Länder, Inseln und Halbinseln, die (nach uralten Traditionen) einst da gewesen, aber seit undenklichen Zeiten nicht mehr da waren, zu tun gemacht. Der ehrliche Mann wußte kein Wort davon, was zu seiner eignen Zeit in der Welt vorging, und noch weniger, was 50 Jahre vor seiner Zeit darin vorgegangen; sogar die Stadt Abdera, an deren einem Ende er lebte, war ihm wenig bekannter als Memphis oder Persepolis. Dafür aber war er desto einheimischer in dem alten Pelasgerlande, wußte genau, wie jedes Volk, jede Stadt und jeder kleine Flecken geheißen, ehe sie ihren gegenwärtigen Namen führten; wußte, wer jeden in Ruinen liegenden Tempel gebauet hatte, und zählte die Successionen aller der Könige an den Fingern her, die vor der Überschwemmung Deukalions unter den Toren ihrer kleinen Städte saßen, und jedem Recht sprachen, der – sichs nicht selbst zu verschaffen im Stande war. Die berühmte Insel Atlantis war ihm so bekannt, als ob er alle ihre herrlichen Paläste, Tempel, Marktplätze, Gymnasien, Amphitheater u.s.w. mit eignen Augen gesehen hätte; und er würde untröstbar gewesen sein, wenn ihm jemand in seinem dicken Buche von den Wanderungen der Insel Delos, oder in irgend einem andern von den dicken Büchern, die er über eben so interessante Materien hatte ausgehen lassen, die kleinste Unrichtigkeit hätte zeigen können.

[404] Mit allen diesen Kenntnissen war Stilbon freilich ein sehr gelehrter, aber auch, ungeachtet derselben, ein sehr beschränkter, und in allen Sachen, die das praktische Leben betrafen, höchsteinfältiger Mann. Seine Begriffe von den menschlichen Dingen waren fast alle unbrauchbar, weil sie selten oder nie auf die Fälle paßten, wo er sie anwandte. Er urteilte immer schief von dem, was gerade vor ihm stund, schloß immer richtig aus falschen Vordersätzen, wunderte sich immer über die natürlichsten Ereignisse, und erwartete immer einen glücklichen Erfolg von Mitteln, die seine Absichten notwendig vereiteln mußten. Sein Kopf war und blieb, so lang er lebte, ein Sammelplatz aller populären Vorurteile. Das blödeste alte Mütterchen in Abdera war nicht leichtgläubiger als er; und, so ungereimt es vielen unsrer Leser scheinen wird, so gewiß ist es, daß er vielleicht der einzige Mann in Abdera war, der in vollem Ernst an die Frösche der Latona glaubte.

Bei allem dem wurde der Oberpriester Stilbon durchgehends für einen wohlgesinnten und friedliebenden Mann gehalten – und in so ferne man ihm die negativen Tugenden, die eine notwendige Folge seiner Lebensart, seines Standes und seiner Neigung zum speculativen Leben waren, für voll anrechnete: so konnte er allerdings für weiser und besser gelten, als irgend einer seiner Mitabderiten. Diese letztern hielten ihn für einen Mann ohne Leidenschaften, weil sie sahen, daß nichts von allem, was die Begierden andrer Leute zu reizen pflegt, Gewalt über ihn hatte. Aber sie dachten nicht daran, daß er auf alle diese Dinge keinen Wert legte: entweder, weil er sie nicht kannte; oder, weil er durch eine lange Gewohnheit, bloß in Speculationen zu leben, sich Untüchtigkeit und Abneigung zu allem, was andre Gewohnheiten voraussetzt, zugezogen hatte.

Indessen hatte der gute Stilbon, wiewohl ohne es selbst zu wissen, eine Leidenschaft, welche ganz allein hinreichend war, soviel Unheil in Abdera anzustiften, als alle übrigen, die er nicht hatte und das war die Leidenschaft für seine Meinungen. Selbst aufs vollkommenste von ihrer Wahrheit überzeugt, konnte er nicht begreifen, wie ein Mensch, wenn er auch nichts als seine bloßen fünf Sinne und den allgemeinsten Menschenverstand hätte, über irgend etwas eine andre Vorstellungsart haben könne, als er. [405] Wenn sich also dieser Fall zutrug, so wußte er sich die Möglichkeit desselben nicht anders zu erklären, als durch die Alternative: daß ein solcher Mensch entweder nicht bei Sinnen – oder daß er ein boshafter, vorsetzlicher und verstockter Feind der Wahrheit, und also ein ganz verabscheuenswürdiger Mensch sein müsse. Durch diese Denkart war der Oberpriester Stilbon, mit aller seiner Gelehrsamkeit und mit allen seinen negativen Tugenden, ein gefährlicher Mann in Abdera; und würde es noch ungleich mehr gewesen sein, wenn seine Indolenz und sein entschiedener Hang zur Einsamkeit nicht alles, was um ihn her geschah, so weit von ihm entfernt hätte, daß es ihm selten bedeutend genug vorkam, um die mindeste Kenntnis davon zu nehmen.

Ich habe nie gehört, daß man Ursache haben könnte, sich über eine allzugroße Menge der Frösche zu beklagen, sagte Stilbon ganz gelassen, als der Nomophylax mit seinem Vortrag zu Ende war.

Davon soll itzt die Rede nicht sein, Herr Oberpriester, versetzte jener. Der Senat ist über diesen Punct so ziemlich einer Meinung, und, ich denke, die ganze Stadt dazu. Aber daß der Akademie aufgetragen worden, die Mittel und Wege, wodurch der übermäßigen Froschmenge am füglichsten abgeholfen werden könne, vorzuschlagen: das ists, was wir niemals zugeben können.

Hat der Senat der Akademie einen solchen Auftrag getan? fragte Stilbon.

»Sie hören ja, rief Hypsiboas etwas ungeduldig; das ists ja eben, was ich Ihnen sagte, und warum wir da sind.«

So hat der Senat einen Schritt getan, wobei ihn seine gewöhnliche Weisheit gänzlich verlassen hat, erwiderte der Priester eben so kaltblütig wie zuvor. Haben Sie den Ratschluß bei sich?

»Hier ist eine Abschrift davon!«

Hm, hm, sagte Stilbon und schüttelte den Kopf, nachdem er ihn sehr bedächtlich ein- oder zweimal überlesen hatte; hier sind ja beinahe so viel Absurditäten als Worte! Primo: muß erst erwiesen werden, daß zu viel Frösche in Abdera sind; oder vielmehr, dies kann in Ewigkeit nicht erwiesen werden. Denn, um bestimmen zu können, was zu viel ist, muß man erst wissen, was genug ist; und dies ist gerade, was wir unmöglich wissen können, [406] es wäre denn, daß der delphische Apollo, oder seine Mutter Latona selbst, uns durch ein Orakel darüber verständigen wollte. Die Sache ist sonnenklar. Denn da die Frösche unmittelbar unter dem Schutz und Einfluß der Göttin stehen: so ist es ungereimt zu sagen, daß ihrer jemals mehr seien, als der Göttin beliebt; und also braucht die Sache nicht nur gar keiner Untersuchung, sondern sie läßt auch keine Untersuchung zu. Secundo: gesetzt, daß der Frösche wirklich zu viel wären, so ist es doch ungereimt, von Mitteln und Wegen zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden könnte. Denn es gibt keine solche Mittel und Wege, wenigstens keine, die in unsrer Willkür stehen, welches eben so viel ist, als ob es gar keine gebe. Tertio: ist es ungereimt, der Akademie einen solchen Auftrag zu machen. Denn die Akademie hat nicht nur kein Recht, über Gegenstände von dieser Wichtigkeit zu erkennen, sondern sie besteht auch, wie ich höre, größtenteils aus Witzlingen und seichten Köpfen, die von solchen Dingen gar nichts verstehen; und zum klaren Beweis, daß sie nichts davon verstehen, sollen sie, wie ich höre, sogar albern genug sein, darüber zu scherzen und zu spotten. Ich traue diesen armen Leuten zu, daß es aus Unverstand geschieht. Denn, hätten sie mein Buch von den Altertümern des Latonentempels mit Bedacht gelesen: so müßten sie entweder aller Sinne beraubt, oder offenbare Bösewichter sein, wenn sie der Wahrheit, die ich darin sonnenklar dargelegt habe, widerstehen könnten. Das Senatusconsultum ist also, wie gesagt, durchaus ungereimt, und kann folglich von keinem Effect sein, indem ein absurder Satz eben so viel ist, als gar kein Satz. Sagen Sie dies unsern gnädigen Herren in der nächsten Session, hochgeachteter Herr Nomophylax! Δευτεραι φροντιδες σοφοτεραι. Unsre gnädigen Herren werden sich unfehlbar eines Bessern besinnen; und solchenfalls werden wir am besten tun, die Sache auf sich beruhen zu lassen.

»Herr Oberpriester«, antwortete ihm Hypsiboas, »Sie sind ein grundgelehrter Mann, das wissen wir alle. Aber, nehmen Sie mir nicht übel, auf Welthändel und Staatssachen verstehen Sich Ew. Ehrwürden nicht. Die Majora im Senat haben einen Schluß gefaßt, der den Gerechtsamen der Batrachotrophen präjudicierlich ist. Indessen nach der Regel »Majora concludunt« bleibts bei diesem Ratsschlusse, und der Archon wird ihn zur Execution gebracht [407] haben, eh ich in der nächsten Session Ihre logikalischen Einwendungen vortragen könnte, wenn ich mich auch damit beladen wollte.«

Es kommt aber ja in solchen speculativen Dingen nicht auf die Majora, sondern auf die Saniora an, sagte Stilbon.

»Vortrefflich, Herr Oberpriester«, versetzte der Nomophylax. »Das ist ein Wort! Die Saniora! die Saniora haben ohnstreitig Recht. Die Frage ist also itzt nur, wie wir es anzugreifen haben, daß sie auch Recht behalten. Wir müssen auf ein schleuniges Mittel denken, die Vollstreckung des Ratsschlusses zu suspendieren.

Ich will Sr. Gnaden, dem Archon, augenblicklich mein Buch von den Altertümern des Latonentempels schicken. Er muß es noch nicht gelesen haben. Denn in dem Kapitel von den Fröschen ist alles, was über diesen Gegenstand zu sagen ist, ins Klare gesetzt.«

Der Archon hat in seinem Leben kein Buch gelesen, Herr Oberpriester, (sagte einer von den Ratsherren lachend,) als das abderitische Intelligenzblatt; dies Mittel wird nicht anschlagen, dafür bin ich Ihnen gut!

Desto schlimmer, erwiderte Stilbon. In was für Zeiten leben wir, wenn das wahr ist? Wenn das Oberhaupt des Staats ein solches Beispiel gibt – Doch, ich kann unmöglich glauben, daß es schon so weit mit Abdera gekommen sei.

»Sie sind auch gar zu unschuldig, Herr Oberpriester, sagte der Nomophylax. Aber lassen wir das auf sich beruhen! Es stünde noch gut genug, wenn das der größte Fehler des Archons wäre.«

»Ich sehe nur ein Mittel in der Sache, sprach itzt einer von den Priestern, Namens Pamphagus; das hochpreisliche Collegium der Zehnmänner ist über den Senat – folglich –«

Um Vergebung, fiel ihm ein Ratsherr ins Wort, nicht über den Senat, sondern nur –

»Sie haben mich nicht ausreden lassen, sagte der Priester etwas hitzig. Die Zehnmänner sind nicht über den Senat, in Justiz- Staats- und Policeisachen. Aber da alle Sachen, wobei der Latonentempel betroffen ist, vor die Zehnmänner gehören, und von ihrer Entscheidung nicht weiter appelliert werden kann: so ist klar, daß –«

Die Zehnmänner nicht über den Senat sind; fiel jener ein; [408] denn der Senat behängt sich mit Latonensachen gar nicht, und kann also nie mit den Zehnmännern in Collision kommen.

»Desto besser für den Senat, sagte der Priester. Aber, wenn sich denn ja einmal der Senat beigehen ließe, über einen Gegenstand, der dem Dienst der Latona wenigstens sehr nahe verwandt ist, erkennen zu wollen, wie dermalen wirklich der Fall ist: so sehe ich kein ander Mittel, als die Zehnmänner zusammenberufen zu lassen.«

Das kann nur der Archon, wandte Hypsiboas ein, und natürlicherweise wird er sich dessen weigern.

»Er kann sich nicht weigern, wenn er von dem Collegio der Priester darum angegangen wird«, sagte Pamphagus.

Herr College, ich bin nicht Ihrer Meinung, fiel der Oberpriester ein. Es wäre wider die Würde der Zehnmänner, und sogar wider die Ordnung, wenn wir in vorliegendem Falle auf ihre Zusammenberufung dringen wollten. Die Zehnmänner können und müssen sich versammeln, wenn die Religion wirklich verletzt worden ist. Wo ist aber hier die Verletzung? Der Senat hat einen absurden Schluß gefaßt, das ist alles. Es ist schlimm, aber nicht schlimm genug; Sie müßten denn erweisen können, daß die Zehnmänner darum da seien, den Senat zu syndicieren, wenn er ungereimte Schlüsse macht.

Der Priester Pamphagus biß die Lippen zusammen, drehte sich nach dem Sitze des Nomophylax, und murmelte ihm etwas ins linke Ohr.

Stilbon, ohne darauf Acht zu geben, fuhr fort: ich will stehenden Fußes selbst zum Archon gehen. Ich will ihm mein Buch von den Altertümern des Latonentempels bringen. Er soll das Kapitel von den Fröschen lesen! Es ist unmöglich, daß er nicht sogleich von der Ungereimtheit des Ratsschlusses überzeugt werde.

»So gehen Sie dann und versuchen Sie Ihr Heil«, sagte der Nomophylax. Der Oberpriester ging unverzüglich.

Was das für ein Kopf ist! sagte der Priester Pamphagus, wie er weggegangen war.

Er ist ein sehr gelehrter Mann, versetzte der Ratsherr Bucephalus; aber –

Ein gelehrter Mann? (sagte jener.) Was nennen Sie gelehrt? Gelehrt in lauter Dingen, die kein Mensch zu wissen verlangt – –

[409] Davon können Ew. Ehrwürden besser urteilen als unser einer, erwiderte der Ratsherr; ich verstehe nichts davon; aber es ist mir doch immer unbegreiflich vor gekommen, daß ein so gelehrter Mann in Geschäftssachen so einfältig sein kann wie ein kleines Kind.

Es ist unglücklich für den Latonentempel, sagte ein andrer Priester –

Und für den ganzen Staat, setzte ein dritter hinzu.

Das weiß ich eben nicht, sprach der Nomophylax mit einem spitzfündigen Naserümpfen; wir wollen aber bei der Sache bleiben. Die Herren scheinen mir sämtlich der Meinung zu sein, daß die Zehnmänner zusammenberufen werden müßten – –

Um so mehr, sagte einer der Ratsherren – weil wir gewiß sind, die Majora gegen den Archon zu machen.

Wenn wir uns nicht besser helfen können, fuhr der Nomophylax fort, so bin ichs zufrieden. Aber sollten wir in einer Sache, wobei Latona und ihre Priesterschaft auf unsrer Seite sind, uns nicht noch besser helfen können? Machen wir nicht beinahe die Hälfte des Rats aus? Wir sind bloß mit sechs Stimmen majorisiert worden; und wenn wir fest zusammenhalten – –

Das wollen wir, schrien die Ratsherren aus voller Kehle.

»Ich habe einen Gedanken, meine Herren; aber ich muß ihn reifer werden lassen. Erkiesen Sie zwei oder drei aus Ihrem Mittel, mit denen ich mich diesen Abend auf meinem Gartenhause näher von der Sache besprechen könne. Es wird sich inzwischen zeigen, wie weit es der Oberpriester mit dem Archon Onokradias gebracht haben wird.«

Ich wette meinen Kopf gegen eine Melone, sagte der Priester Charox, er wird aus arg ärger machen.

Desto besser, sagte der Nomophylax.

Fünftes Kapitel
Was zwischen dem Oberpriester und dem Archon vorgefallen – eines der lehrreichsten Kapitel in dieser ganzen Geschichte

Während daß dies in dem Vorsaal des Oberpriesters verhandelt wurde, hatte sich dieser in eigner Person zum Archon erhoben, [410] und über eine Sache, woran dem Archon viel gelegen sei, Audienz verlangt.

O, das wird ganz gewiß die Frösche betreffen, sagte der Ratsherr Meidias, der eben allein bei dem Archon war, und ihm berichtet hatte, daß man den Nomophylax mit seinem ganzen Anhang nach dem Latonentempel gehen gesehen habe.

Daß doch der Henker – verzeih mirs Latona! alle Frösche hätte, rief Onokradias ungeduldig; da wird mir der sauertöpfische Pfaffe die Ohren so voll Warums und Darums schwatzen, daß ich am Ende nicht wissen werde, wo mir der Kopfsteht! Helfen Sie mir, ich bitte Sie, von dem gespenstmäßigen alten Kerl!

Meidias lachte über die Verlogenheit des Archons. Hören Sie ihm immer an, sagte er; aber halten Sie fest über Ihrem Ansehen, und an dem Grundsatze, daß Not kein Gesetz hat. Wir können uns doch wahrlich nicht von Fröschen auffressen lassen; und wenn's so fortgehen sollte wie bisher, so möchte uns Latona eben sowohl allzumal in Frösche verwandeln. Es wäre immer noch das Glücklichste, was uns widerfahren könnte, wenn uns nicht bald auf andre Weise geholfen wird. Allenfalls kann's auch nicht schaden, wenn Ew. Gnaden dem Priester zu verstehen geben, daß Jason auch einen Tempel zu Abdera hat, und daß Götter nur in so fern Götter sind als sie Gutes tun.

Schön, schön, sagte der Archon. Wenn ich nur alles so behalten könnte, wie Sie mir's da gesagt haben! Aber ich will mich schon zusammennehmen. Laßt den Priester nur anrücken! Gehn Sie indessen in mein Cabinet, Meidias. Sie werden eine feine Anzahl kleiner Stücke vom Parrhasius darin finden, die man nicht überall sieht – Aber sagen Sie meiner Frau nichts davon! Sie verstehen mich doch?

Meidias schlich sich in das Cabinet; der Archon stellte sich in Positur, und Stilbon wurde vorgelassen.

»Gnädiger Herr Archon, sagte er, ich komme Ew. Gnaden einen guten Rat zu geben, weil ich eine große Meinung von Dero Weisheit hege, und gerne Unheil verhüten möchte.«

Ich danke Ihnen für beides, Herr Oberpriester! Ein guter Rat findet, wie Sie wissen, eine gute Statt. Was haben Sie anzubringen?

»Der Senat, fuhr Stilbon fort, hat sich, wie ich höre, in Sachen, [411] die Frösche der Latona betreffend, eines übereilten Schlusses schuldig gemacht«

Herr Oberpriester! – –

»Ich sage nicht, daß sie es aus bösem Willen getan. Die Menschen sündigen bloß, weil sie unwissend sind. Hier bringe ich Ew. Gnaden ein Buch, woraus Sie sich belehren können, was es mit unsern Fröschen für eine Bewandtnis hat. Es hat mir viele Mühe und Nachtwachen gekostet. Sie können daraus lernen, daß die Akademie, die von gestern her ist, kein Recht haben kann über Frösche zu erkennen, die so alt sind, als die Gottheit der Latona. Die Frösche zu Abdera sind, wie wir alle wissen sollten, ganz ein ander Ding als die Frösche anderer Orte in der Welt. Sie gehören der Latona an. Sie sind niemals aussterbende Zeugen und lebendige Documente ihrer Gottheit. Es ist Unsinn, zu sagen, daß ihrer zu viel sein könnten, und ein Sacrilegium, von Mitteln zu reden, wodurch ihre Anzahl vermindert werden soll.«

Ein Sacrilegium, Herr Oberpriester?

»Ich verdiente nicht Oberpriester zu sein, wenn ich zu solchen Dingen schweigen wollte. Denn wenn wir einmal zugelassen hätten, daß die Anzahl der Latonenfrösche vermindert werden dürfe: so möchten unsre noch schlimmern Nachkommen wohl gar so weit verfallen, sie gänzlich ausrotten zu wollen. Wie gesagt, in diesem Buche werden Ew. Gnaden alles finden, was von der Sache zu glauben ist. Sorgen Sie dafür, daß Abschriften davon gemacht, und jedes Haus mit einem Exemplar versehen werde. Ist dies geschehen, dann wird das Sicherste sein, gar nicht mehr über die Sache zu raisonnieren. Die Akademie mag sonst Gutachten stellen worüber sie immer will. Die ganze Natur liegt vor ihr offen. Sie kann reden vom Elephanten bis zur Blattlaus, vom Adler bis zur Wassermotte, vom Walfisch bis zur Schmerle, und von der Zeder bis zum Lykopodion; aber von den Fröschen soll sie schweigen!«

Herr Oberpriester, sagte der Archon, die Götter sollen mich bewahren, daß ich mir jemals einfallen lasse zu untersuchen, was es mit ihren Fröschen für eine Bewandtnis hat. Ich bin Archon, um alles in Abdera zu lassen wie ich es gefunden habe. Indessen liegt am Tage, daß wir uns vor lauter Fröschen nicht mehr rühren können; und diesem Unwesen muß gesteuert werden. Denn [412] schlimmer darfs nicht mit uns werden, das sehen Sie selbst. Unsre Vorältern begnügten sich, den geheiligten Teich zu unterhalten, und wer seinen eignen Froschgraben haben wollte, dem stund's frei. Dabei hätte man's lassen sollen. Da es aber nun einmal so weit mit uns gekommen ist, daß wir nächstens in Gefahr sind, lebendig oder tot von Fröschen gegessen zu werden: so werden uns Ew. Ehrwürden doch wohl nicht zumuten wollen, daß wirs darauf ankommen lassen sollen? Denn wenn einer von Fröschen gegessen würde, so möcht's ihm wohl ein schlechter Trost sein, zu denken, daß es keine gemeine Frösche seien. Kurz und gut, Herr Oberpriester! die Akademie soll ihr Gutachten stellen, weil ihr's vom Senat aufgetragen worden ist, und – mit aller Achtung, die ich Ew. Ehrwürden schuldig bin, ich werde Ihr Buch nicht lesen; und es soll mir ein für allemal ausgemacht werden, ob die Frösche um der Abderiten willen, oder die Abderiten um der Frösche willen da sind. Denn sobald die Republik durch die Frösche in Gefahr gesetzt wird, sehen Sie, so wird eine Staatssache daraus, und da haben die Priester der Latona nichts drein zu reden, wie Sie wissen. Denn Not hat kein Gesetz, und – mit einem Wort Herr Oberpriester, wir wollen uns nicht von Ihren Fröschen essen lassen. Sollten Sie aber wider Verhoffen darauf bestehen: so täte mirs leid, wenn ich Ihnen sagen müßte, daß der Latonentempel nicht der einzige in Abdera ist, und das goldne Vließ, dessen Verwahrung die Götter meiner Familie anvertraut haben, könnte vielleicht eine bisher noch unerkannte Tugend äußern, und Abdera auf einmal von – aller Not befreien. Mehr will ich nicht sagen. Aber merken Sie sich das, Herr Oberpriester! Der Krug geht so lange zum Wasser, bis er bricht.

Der gute Oberpriester wußte nicht, ob er wache oder träume, da er den Archon, den er immer für einen wohldenkenden und exemplarischen Regenten gehalten hatte, eine solche Sprache führen hörte. Er stund eine Weile da, ohne ein Wort hervorbringen zu können; nicht weil er nichts zu sagen wußte, sondern weil er soviel zu sagen hatte, daß er nicht wußte, wo er anfangen sollte. Das hätte ich nimmermehr für möglich gehalten, fing er endlich an, daß ich die Zeit erleben sollte, wo der Oberpriester der Latona aus dem Munde eines Archons hören müßte, was ich gehört habe!

[413] Dem Archon fing bei diesen Worten an unheimlich zu werden. Denn, weil er selbst nicht mehr so eigentlich wußte, was er dem Oberpriester gesagt hatte, so wurde ihm bange, daß er mehr gesagt haben möchte, als sich geziemte. Er sah mit einiger Verlegenheit nach der Kabinettüre, als ob er seinen geheimen Rat Meidias gerne zu Hülfe gerufen hätte. Da er sich aber diesmal allein helfen mußte, so zupfte er sich wechselsweise bald an der Nase, bald am Bart, hustete, räusperte sich, und erwiderte endlich dem Oberpriester mit aller Würde, die er sich in der Eile geben konnte: Ich weiß nicht wie ich das nehmen soll, was Sie mir da sagten. Aber das weiß ich, wenn Sie was gehört zu haben glauben, das Sie nicht hätten hören sollen, so müssen Sie mich ganz unrecht verstanden haben. Sie sind ein sehr gelehrter Mann, und ich trage alle mögliche Achtung für Ihre Person und Ihr Amt –

Sie wollen also mein Buch lesen? fragte Stilbon.

»Das eben nicht – aber – wenn Sie darauf bestehen – wenn Sie glauben, daß es schlechterdings –«

Man soll das Gute niemand aufdringen, sagte der Priester mit einer Empfindlichkeit, über die er nicht Meister war. Ich will es Ihnen da lassen. Lesen Sie es oder nicht! Desto schlimmer für Sie, wenn Ihnen gleichgültig ist, ob Sie richtig oder unrichtig denken –

Herr Oberpriester, fiel ihm der Archon, der endlich auch warm zu werden anfing, ins Wort, Sie sind ein empfindlicher Mann, wie ich sehe. Ich verdenk' es Ihnen zwar nicht, daß Ihnen die Frösche am Herzen liegen, denn dafür sind Sie Oberpriester. Sie sollten aber auch bedenken, daß ich Archon über Abdera und nicht über einen Froschteich bin. Bleiben Sie in Ihrem Tempel, und regieren Sie dort wie Sie wollen und können; auf dem Rathause lassen Sie uns regieren. Die Akademie soll ihr Gutachten über die Frösche stellen, dafür geb' ich Ihnen mein Wort- und es soll Ihnen communiciert werden, eh der Senat einen Schluß darüber faßt, darauf können Sie sich auch verlassen!

Der Oberpriester verschlang seinen Unwillen über den ganz unerwarteten schlechten Erfolg seines Besuchs so gut er konnte, machte seinen Bückling, und zog sich zurück, mit der Versicherung, daß er vollkommen überzeugt sei, daß der Senat [414] nichts in Sachen weiter verfügen werde, ohne mit den Priestern des Latonentempels vorher einverstanden zu sein. Der Archon versicherte ihm dagegen zurück, daß ihm die Rechte des Latonentempels so heilig seien, als die Rechte des Senats und das Beste der Stadt Abdera; und somit schieden sie, nach Gestalt der Sachen, noch ziemlich höflich von einander.

Der – hat mir warm gemacht, sagte der Archon zum Ratsherrn Meidias, indem er sich mit seinem Schnupftuch die Stirne wischte.

Sie haben sich aber auch tapfer gehalten, versetzte der Ratsherr. Das Pfäffchen wird Gift und Galle kochen; aber seine Blitze sind nur von Bärenlappen. Man braucht nur sich auf seine Distinctionen und Syllogismen nicht einzulassen, so ist er geschlagen, und weiß weder wo aus noch wo ein.

Ja, wenn der Nomophylax nicht hinter ihm stäke, erwiderte der Archon. Ich wollte, daß ich mich nicht so weit herausgelassen hätte. Aber was das auch für eine Zumutung ist, das dicke Buch zu lesen, woran sich der hohläugige alte Kerl blind geschrieben hat! Wer hätte nicht ungeduldig werden sollen?

Sorgen Sie für nichts, Herr Archon! Wir haben die Akademie für uns, und in wenig Tagen sollen auch die Lacher in ganz Abdera auf unsrer Seite sein. Ich will Liedchen und Gassenhauer unter das Volk streuen. Der Balladenmacher Lelex soll mir die Geschichte der lycischen Froschbauern in eine Ballade bringen, über die sich die Leute krank lachen sollen. Man muß die Herren mit ihren Fröschen lächerlich machen. Auf eine feine Art, versteht sich; aber Schlag auf Schlag, Gassenhauer auf Gassenhauer! Sie sollen sehen, wie das Mittel anschlagen wird.

Ich will es herzlich wünschen, sagte der Archon; denn Sie können sich kaum vorstellen, wie mir die verwetterten Frösche diesen Sommer über meinen Garten zugerichtet haben! Ich kann den Jammer gar nicht mehr ansehen – Es fehlt uns nichts, als daß nächstens ein trocknes Jahr käme, und uns noch eine Armee von Feldmäusen und Maulwürfen über den Hals schickte!

Fürs erste wollen wir uns die Frösche vom Leibe schaffen, versetzte Meidias: für die Mäuse, die noch kommen sollen, wirds dann auch Mittel geben!

[415] Aber was, zum Henker, soll ich mit dem dicken Buche machen, das mir der Oberpriester zurückgelassen hat? sagte der Archon – Sie werden mir doch nicht zumuten wollen, daß ichs lesen soll?

Da sei Jason und Medea für, Herr Archon, versetzte Meidias. Geben Sie mir's. Ich will's meinem Vetter Korax bringen, dem ohne Zweifel die Ausfertigung des Gutachtens von der Akademie aufgetragen werden wird. Er wird guten Gebrauch davon machen, dafür bin ich Ihnen Bürge.

Es mag schönes Zeug drin stehen – sagte der Archon.

Wenn's sonst zu nichts zu gebrauchen ist, erwiderte der Ratsherr, so machen wir's zu Pulver, und geben's den Ratten ein, die, nach Ew. Gnaden Weissagung, noch kommen sollen. Es muß ein herrliches Rattenpulver geben!

[416]
Sechstes Kapitel
Was der Oberpriester Stilbon tat, als er wieder nach Hause gekommen war

Das erste was der Oberpriester Stilbon tat, als er wieder in seiner Zelle angelangt war, war, daß er sich hinsetzte, und sein Werk von den Altertümern des Latonentempels vor die Hand nahm, in der Absicht, das Kapitel von den Fröschen, welches das größte Kapitel in dem ganzen Buche war, wieder zu durchlesen; und zwar (wie er sich wenigstens schmeichelte) mit aller Unparteilichkeit eines Richters, der kein ander Interesse bei der Sache hat, als die Entdeckung der Wahrheit. Denn so überzeugt er auch von den Resultaten seiner Untersuchungen war, so hielt er doch für billig und nötig, eh er sich weiter einließe, sein ganzes System und die Beweise desselben noch einmal Punct vor Punct zu prüfen; um es, wenn er's auch bei dieser neuen und scharfen Untersuchung wahr befände, desto zuversichtlicher gegen alle Anfechtungen des Witzes und der Modephilosophie seiner Zeit behaupten zu können.

Armer Stilbon! wenn du (wie ich lieber glauben als nicht glauben will) aufrichtig warst, was für ein betrügliches Ding ist es um eines Menschen Vernunft! und was für eine glatte verführerische Schlange ist die große Erzzauberin Eigenliebe!


Stilbon durchlas sein Kapitel von den Fröschen mit aller Unparteilichkeit, deren er fähig war; prüfte jeden Satz, jeden Beweis, jeden Syllogismus mit der Kaltblütigkeit eines Arcesilas, und – fand: »daß man entweder dem allgemeinen Menschensinn entsagen, oder von seinem System überzeugt werden müsse.«

Das kann nicht möglich sein, sagt ihr? – Um Verzeihung, das kann sehr möglich sein; denn es ist geschehen, und geschieht noch immer alle Tage. Nichts ist natürlicher. Der gute Mann liebte sein System wie sein eigen Fleisch und Blut. Er hatte es aus sich selbst gezeugt. Es war ihm statt Weib und Kind, statt aller Güter, Ehren und Freuden der Welt, auf die er bei seinem Eintritt in den Latonentempel Verzicht getan hatte; es war ihm über Alles. Als er sich hinsetzte, es von neuem zu prüfen, war er bereits so vollkommen von der Wahrheit und Schönheit desselben überzeugt, als von seinem eignen Dasein. Es erging ihm also natürlicherweise eben so, als wenn er sich hingesetzt hätte, um mit aller Kaltblütigkeit von der Welt zu untersuchen, ob der Schnee auf dem Gipfel des Hämus weiß oder schwarz sei?

[417] »Daß die milischen Bauren, die der durstenden Latona aus ihrem Teiche zu trinken verwehrten, in Frösche verwandelt worden«, (sagte Stilbon in seinem Buche,) »das ist Tatsache -

Daß eine Anzahl dieser Frösche, auf die Art und Weise, wie die Tradition berichtet, nach Abdera in den Teich des Latonenhains versetzt worden, ist Tatsache.

Beide Facta gründen sich auf das, worauf sich alle historische Wahrheit gründet, auf menschlichen Glauben an menschliches Zeugnis; und so lange Abdera steht, hat sich kein vernünftiger Mensch einfallen lassen, dem allgemeinen Glauben der Abderiten an diese Facta zu widersprechen. Denn wer sie leugnen wollte, müßte ihre Unmöglichkeit beweisen können; und wo ist der Mensch auf Erden, der dies könnte?

Aber, ob die Frösche, die sich zu unsern heutigen Zeiten in dem geheiligten Teiche befinden, eben diejenigen seien, die von Latonen, oder (was auf Eines hinausläuft) von Jupitern auf Latonens Bitte, in Frösche verwandelt worden: darüber sind bisher verschiedene Meinungen gewesen.

Unsre Gelehrten haben größtenteils davor gehalten, daß die Unterhaltung des geheiligten Teichs als bloßes Institut unsrer Vorältern, und die darin aufbewahrten Frösche, als bloße Erinnerungszeichen der Macht unsrer Schutzgöttin, mit gebührender Ehre anzusehen seien.

Das gemeine Volk hingegen hat von diesen Fröschen immer eben so gesprochen und geglaubt, als ob sie die nämlichen wären, an denen das bekannte Wunder geschehen sei.

Und Ich – Stilbon, von Jupiters und Latonens Gnaden, zur Zeit Oberpriester von Abdera, habe nach reiflicher Erwägung der Sache befunden, daß dieser Glaube des Volks sich auf unumstößliche Gründe stützt; und hier ist mein Beweis! –« Der geneigte Leser würde sich wahrscheinlicherweise schlecht erbaut finden, wenn wir ihm diesen Beweis, so weitläuftig als er in besagtem Buch des Oberpriesters Stilbon vorgetragen ist, zu lesen geben wollten; zumal da wir alle von dem Ungrund desselben zum voraus wenigstens eben so vollkommen überzeugt sind, als es der gute Stilbon von dessen Gründlichkeit war. Wir begnügen uns also nur mit zwei Worten zu sagen: daß sich sein ganzes System über die mehrbesagten Frösche um eine heutigs [418] Tages sehr gemeine, damals aber (in Abdera wenigstens) ganz neue, und (nach Stilbons ausdrücklicher Versicherung) von ihm selbst erfundene Hypothese drehte; nämlich um die Lehre: »daß alle Zeugung nichts anders als Entwicklung ursprünglicher Keime sei. –« Stilbon fand diese Entdeckung, als er sie zuerst machte, so schön, und wußte sie mit so vielen dialektischen und moralischen Gründen (denn die Physik war seine Sache nicht) zu unterstützen, daß sie ihm mit jedem Tage wahrscheinlicher vorkam.

Endlich glaubte er sie auf den höchsten Grad der Wahrscheinlichkeit gebracht zu haben. Da nun von dieser zur Gewißheit nur noch ein leichter Sprung zu tun ist: was Wunder, daß ihm eine so sinnreiche, so subtile, so wahrscheinliche Hypothese – eine Hypothese, die er selbst erfunden, mit so vieler Mühe ausgearbeitet, mit allen seinen übrigen Ideen in Verbindung gesetzt, und zur Grundlage eines neuen durchaus raisonnierten Systems über die Latonenfrösche gemacht hatte, – zuletzt eben so gewiß, anschaulich und unzweifelhaft vorkam, als irgend ein Lehrsatz im Euklides?

»Als die milischen Bauren verwandelt wurden, (sagte Stilbon,) führten sie die Keime aller Bauren und Nichtbauren, die von damals an bis auf diesen Tag, und von diesem Tage bis ans Ende der Tage nach dem ordentlichen Lauf der Natur von ihnen entspringen konnten und sollten, in eben soviel ineinandergeschobenen Keimen bei sich; und in dem Augenblick, da besagte milische Bauren zu Fröschen wurden, wurden auch die sämtlichen Menschenkeime, die jeder bei sich führte, in Froschkeime verwandelt. Denn (sagt er) entweder wurden diese Keime vernichtet, oder sie wurden ranificiert, oder sie wurden gelassen wie sie waren. Das erste ist unmöglich, weil aus Etwas eben so wenig Nichts, als aus Nichts Etwas werden kann. Das dritte läßt sich auch nicht denken; denn wären die besagten Keime Menschenkeime geblieben, so müßten die milischen Ανϑρωποβατραχοι oder Menschenfrösche wirkliche Menschen gezeugt haben, welches wider die historische Wahrheit, und an sich selbst in alle Wege ungereimt ist. Es bleibt also nur das zweite übrig, nämlich: sie sind ranificiert, d.i. in Froschkeime verwandelt worden; und man kann also mit vollkommner Richtigkeit [419] sagen: daß die Frösche, die sich auf diesen Tag in dem geheiligten Teiche befinden, und alle übrigen, deren Abstammung von denselben erweislich ist, folglich die sämtlichen Frösche in Abdera, eben diejenigen sind, welche von Latonen in Frösche verwandelt worden; nämlich in so fern sie damals in den froschwerdenden Bauern im Keim vorhanden waren, und zugleich uno eodemque actu mit ihnen verwandelt wurden.«

Dies nun ein für allemal als erwiesene Wahrheit angenommen, schien dem ehrlichen Stilbon nichts sonnenklarer (wie er zu sagen pflegte) als die Folgerungen, die gleichsam von selbst daraus abflossen. »So wie, zum Beispiel, eine vom Strahl getroffne Eiche, als eine Res sacra, als dem Donnerer Zeus angehörig und geheiligt, mit schaudernder Ehrfurcht angesehen wird: eben so müssen, sagte er, die von Latonen oder Jupitern verwandelten Menschenfrösche, nebst allen ihren im Keim mitverwandelten Abkömmlingen bis ins tausendste und zehntausendste Glied, als eine Art wundervoller der Latona angehöriger Mittelwesen angesehen, und also auch als solche behandelt und geehret werden. Sie sind zwar, dem Äußerlichen nach, Frösche wie andre; aber sie sind gleichwohl auch keine Frösche wie andre. Denn, da sie von Geburt und Natur Menschen gewesen waren, und alles was wir von Natur und Geburt sind uns einen unauslöschlichen Charakter gibt: so sind sie nicht sowohl Frösche als Froschmenschen, und also in gewissem Sinne noch immer unsers Geschlechts, unsre Brüder, unsre verunglückten Brüder, zu unsrer Warnung mit dem furchtbaren Stempel der Rache der Götter bezeichnet, aber eben darum unsers zärtlichsten Mitleidens würdig. – Doch nicht nur unsers Mitleidens (setzte Stilbon hinzu), sondern auch unsrer Ehrerbietung; da sie fortdaurende unverletzliche Denkmäler der Macht unsrer Göttin sind, an denen man sich nicht vergreifen kann, ohne sich an ihr selbst zu vergreifen; indem ihre Erhaltung durch so viele Jahrhunderte der redendste Beweis ist, daß sie solche erhalten wissen wolle.«

Der gute Oberpriester – ein Mann, der unsern Lesern so gar verächtlich, wie er ihnen vermutlich ist, nicht vorkommen würde, wenn sie sich recht an seinen Platz zu stellen wüßten hatte den ganzen Abend mit Durchlesung und Überdenkung [420] seines Kapitels über die Frösche zugebracht, und sich in die Bestrebung, sein System mit neuen Gründen zu befestigen, so vertieft, daß ihm gänzlich aus dem Sinne gekommen war, wie er dem Nomophylax versprochen habe, ihm von dem Erfolg seines Besuchs bei dem Archon Nachricht zu geben. Er erinnerte sich dessen nicht eher, als da er um die Dämmerungszeit die Türe seiner Zelle aufgehen hörte, und den Nomophylax in eigner Person vor sich stehen sah.

»Ich habe Ihnen nicht viel tröstliches zu berichten, rief er ihm entgegen; wir sind in schlechtern Händen als ich mir jemals vorgestellt hätte. Der Archon weigerte sich, mein Buch zu lesen, vielleicht weil er überall gar nicht lesen kann.«

Dafür wollt' ich nicht Bürge sein, sagte Hypsiboas.

»Und er sprach in einem Tone, dessen ich mich zu einem Oberhaupte der Republik nimmermehr versehen hätte.«

Was sagte er denn?

»Ich danke dem Himmel, daß ich das Meiste wieder vergessen habe, was er sagte. Genug, er bestand darauf, daß die Akademie ihr Gutachten geben müßte –«

Das soll sie wohl bleiben lassen müssen, fiel der Nomophylax ein; die Gegenfröschler sollen mehr Widerstand finden, als sie sich vermuten waren. Aber, damit man uns nicht beschuldigen könne, daß wir gewalttätig zu Werke gehen, eh wir die gelindern Mittel versucht haben, ist die sämtliche Minorität entschlossen, dem Senat ungesäumt eine schriftliche Vorstellung zu tun, wofern die Latonenpriesterschaft geneigt ist, gemeine Sache mit uns zu machen.

»Von Herzen gerne, sagte Stilbon – ich will die Vorstellung selbst aufsetzen; ich will ihnen dartun«

Vor der Hand, unterbrach ihn der Nomophylax, kann es an einem kurzen Promemoria, welches ich bereits, sub spe rati et grati, aufgesetzt habe, genug sein. Wir müssen eine so gelehrte Feder wie die Ihrige auf den letzten Notfall aufsparen.

Der Oberpriester ließ sich zwar berichten; setzte sich aber vor, noch in dieser Nacht an einem kleinen Tractätchen zu arbeiten, worin er sein System über die Latonenfrösche in ein neues Licht setzen, und auf eine noch feinere Art, als es in seinem Werke von den Altertümern des Latonentempels geschehen war, allen Einwendungen [421] zuvorkommen wollte, welche der Philosoph Korax dagegen machen könnte. Vorgesehene Pfeile schaden desto weniger, sagte er zu sich selbst. Ich will die Sache so klar und deutlich hinlegen, daß auch die Einfältigsten überzeugt werden sollen. Es müßte doch wahrlich nicht mit rechten Dingen zugehen, wenn die Wahrheit ihre natürliche Macht über den Verstand der Menschen nur gerade in diesem Falle verloren haben sollte!

Siebentes Kapitel
Auszüge aus dem Gutachten der Akademie
Ein Wort über die Absichten, welche Korax dabei gehabt, mit einer Apologie, woran Stilbon und Korax gleichviel Anteil nehmen können

Inzwischen hatte, während aller dieser Bewegungen unter der Minorität des Senats und unter den Latonenpriestern, die Akademie eine Weisung bekommen, ihr Gutachten, »durch was für diensame Mittel der übermäßigen Froschmenge (den Gerechtsamen der Latona unbeschadet) aufs schleunigste gesteuert werden könnte«, binnen sieben Tagen an den Senat abzugeben.

Die Akademie ermangelte nicht, sich den nächstfolgenden Morgen zu versammeln. Da die Gegenfröschler zur Zeit den größten Teil derselben ausmachten: so wurde die Ausfertigung des Gutachtens dem Philosophen Korax aufgetragen; jedoch von Seiten des Präsidenten mit der ausdrücklichen Erinnerung: daß er sich aufs sorgfältigste hüten möchte, die Akademie in keine böse Händel mit der Latonenpriesterschaft zu verwickeln.

Korax versprach, daß er alle seine Weisheit aufbieten wolle, die Wahrheit, wo möglich, auf eine unanstößige Art zu sagen. Denn zum Unmöglichen, setzte er hinzu, ist, wie meine Hochgeehrten Herren wissen, niemand in keinem Falle verbunden.

Darin haben Sie recht, versetzte der Präsident: meine Meinung ging auch bloß dahin, daß Sie sich möglichst in Acht nehmen sollten. Denn der Wahrheit darf die Akademie freilich – so viel möglich – nichts vergeben.

Das ists was ich immer sage, erwiderte Korax.

»In was für eine seltsame Lage doch ein ehrlicher Mann kommen [422] kann, sobald er das Unglück hat, ein Abderit zu sein!« sagte Korax zu sich selbst, da er sich anschickte, das Gutachten der Akademie über die Froschsache zu Papier zu bringen. »In welcher andern Stadt auf dem Erdboden würde man sichs einfallen lassen, einer Akademie der Wissenschaften eine solche Frage Vorzulegen? – Und gleichwohl ists dem Senat noch zum Verdienste anzurechnen, daß er noch so viel Verstand und Mut gehabt hat, die Akademie zu fragen. Es gibt Städte in der Welt, wo man so was nicht auf die Akademie ankommen läßt. Man muß gestehen, daß die Abderiten zuweilen vor lauter Narrheit auf einen guten Einfall stoßen!«

Korax setzte sich also an seinen Schreibtisch, und arbeitete mit so viel Lust und Liebe zum Ding, daß er noch vor Sonnenuntergang mit seinem Gutachten fertig war.

Da wir dem geneigten Leser eine, wo nicht ausführliche, doch hinlängliche Nachricht von dem System des Oberpriesters Stilbon gegeben haben: so erfodert die Unparteilichkeit, welche die erste Pflicht eines Geschichtschreibers ist, daß wir ihnen auch von dem Inhalt dieses akademischen Gutachtens wenigstens so viel mitteilen, als zum Verständnis dieser merkwürdigen Geschichte vonnöten zu sein scheint.

»Der hohe Senat, sagte Korax im Eingang seiner Schrift, setzt in dem der Akademie zugefertigten verehrlichen Ratsschlusse voraus, daß die Froschmenge in Abdera die Volksmenge dermalen in einem unmäßigen und enormen Grade übersteige; und überhebt dadurch die Akademie der unangenehmen Arbeit, erst beweisen zu müssen, was als eine stadt- und weltkundige Tatsache vor jedermanns Augen liegt.

Es gewinnt demnach das Ansehen, als ob die Akademie, bei so bewandter Sache, sich bloß über die Mittel zu erklären hätte, wodurch diesem Unwesen am schleunigsten abgeholfen werden kann.

Allein, da die Frösche in Abdera, vermöge eines uralten und ehrwürdig gewordnen Instituts und Glaubens unsrer Vorältern, Vorrechte erlangt haben, in deren Besitze sie zu stören vielen bedenklich, und manchen wohl gar unerlaubt scheinen mag; und da es, vermöge der Natur der Sache, leicht geschehen könnte, daß die einzigen diensamen Mittel, welche die Akademie in [423] dem gegenwärtigen äußersten Notstande des gemeinen Wesens vorzuschlagen haben möchte, jenen wirklichen oder vermeinten Gerechtsamen der abderitischen Frösche Abbruch zu tun scheinen könnten: so wird es eben so zweckmäßig als unumgänglich sein, eine historisch-pragmatische Beleuchtung der Frage: ›was es mit unsern besagten Fröschen für eine besondere Bewandtnis habe‹, vorauszuschicken.

Die Akademie bittet sich also bei diesem theoretischen Teile ihres untertänigsten und unmaßgeblichen Gutachtens von allen hoch- und wohlansehnlichen Mitgliedern des hohen Senats um so mehr geneigte Aufmerksamkeit aus, als der glückliche Erfolg dieser ganzen der Republik so hoch angelegnen Sache lediglich von Berichtigung der Präliminarfrage abhängt: ob und in wiefern die Frösche zu Abdera als wirkliche Frösche anzusehen seien oder nicht?«

Diese Berichtigung nimmt in dem Gutachten selbst mehr als zwei Drittel des Ganzen ein. Der schlaue Philosoph, wohl eingedenk dessen, was er dem vorsichtigen Präsidenten versprochen, erwähnt der Verwandlung der milischen Bauern nur im Vorbeigehen, und mit aller Ehrerbietung, die man einer alten Volkssage schuldig ist. Er setzt sie, mit Beziehung auf das Buch des Oberpriesters Stilbon von den Altertümern des Latonentempels, als eine Sache voraus, die keinem mehrern Zweifel ausgesetzt ist, als die Verwandlung des Narcissus in eine Blume, des Cyknus in einen Schwan, der Daphne in einen Lorbeerbaum, oder irgend eine andre Verwandlung, die auf einem eben so festen Grunde beruhet. Wenn es auch nicht unzulässig und unanständig wäre, dergleichen uralte Sagen leugnen zu wollen: so wäre es, meint er, unverständig. Denn da es auf der einen Seite unmöglich sei, ihre Glaubwürdigkeit durch historische Zeugnisse umzustoßen, und auf der andern kein Naturforscher in der Welt im Stande sei, ihre absolute Unmöglichkeit zu erweisen: so werde jeder Verständige sich um so lieber enthalten sie zu bezweifeln, als er doch weiter nichts dagegen sagen könnte, als die gemeinen Plattheiten, »es ist unglaublich, es ist wider den Lauf der Natur« und dergleichen Formeln, die auch dem schalsten Kopfe beim ersten Anblick eben so gut einfallen mußten. Er betrachte also die Umgestaltung der milischen Bauern in [424] Frösche als eine auf sich beruhende Sache; behaupte aber, daß ihre Wahrheit bei der vorliegenden Frage vollkommen gleichgültig sei. Denn es werde doch wohl niemand leugnen wollen, daß diese milischen Menschfrösche schon ein paar tausend Jahre wenigstens tot und abgetan seien – und gesetzt auch, daß die abderitischen Frösche ihre Abstammung von denselben genüglich erweisen könnten; so würden sie damit doch weiter nichts erwiesen haben, als daß sie seit undenklichen Zeiten von Vater zu Sohn wahre echtgebrochne Frösche seien. Denn so wie die mehrbesagten milischen Bauern durch ihre Verwandlung, und von dem Augenblick ihrer Einfroschung an, aufgehört hätten, Menschen zu sein, so hätten sie auch, von solchem Augenblick an, nichts anders als ihres gleichen, nämlich leibhafte natürliche Frösche zeugen können. Mit einem Wort, Frösche seien Frösche, und der Umstand, daß ihre ersten Stammväter vor ihrer Verwandlung milische Bauern gewesen, verändre eben so wenig an ihrer gegenwärtigen Froschnatur, als wenig ein von zwei und dreißig Ahnen her geborner Bettler für einen Prinzen angesehen werde, wenn gleich erweislich wäre, daß der erste Bettler seines Stammbaums in gerader Linie von Ninus und Semiramis entsprossen sei. Die Anhänger der entgegenstehenden Meinung schienen dieses auch selbst so gut einzusehen, daß sie, um die vorgebliche höhere Natur der abderitischen Frösche zu begründen, ihre Zuflucht zu einer Hypothese nehmen müßten, deren bloße Darstellung alle Widerlegung überflüssig mache.

Der scharfsinnige Leser (und es versteht sich von selbst, daß ein Werk wie dies keine andre Leser haben kann) wird sogleich ohne unser Erinnern bemerkt haben, daß Korax durch diese Einlenkung auf des Oberpriesters Stilbon System von den Keimen kommen wollte, welches er – ehe er es wagen durfte, mit seinem Vorschlag wegen Verminderung der Frösche hervorzurücken – entweder widerlegen oder lächerlich machen mußte.

Da von diesen zween Wegen der letzte zugleich der bequemste und der Fähigkeit der Hoch- und Wohlweisheiten, mit denen er's zu tun hatte, der angemessenste war: so begnügte sich Korax, das Unbegreifliche dieser Hypothese durch eine komische Berechnung der unendlichen Kleinheit der angeblichen Keime zum Ungereimten zu treiben.

[425] »Wir wollen, sagte er, um die Aufmerksamkeit des hohen Senats nicht ohne Not mit arithmetischen Subtilitäten zu ermüden, annehmen, der Sohn des größten und dicksten von den froschgewordnen Miliern habe sich in seinem Keimstande zu seinem Vater verhalten wie 1 zu 10,000000. Wir wollen es, bloß um der runden Zahl willen, so annehmen; wiewohl ohne große Mühe zu erweisen wäre, daß der größte unter allen Homunculis, als ein Keim, wenigstens noch zehnmal kleiner ist, als ich angegeben habe. Nun steckt, nach des Priester Stilbons Meinung, in diesem Keim, nach gleicher Proportion verkleinert, der Keim des Enkels, im Keim des Enkels der Keim des Urenkels, und so in jedem folgenden Abkömmling bis ins tausendste Glied, immer mit jedem Grad 10 millionenmal kleiner, der Keim des nächstfolgenden; so daß der Keim eines itzt lebenden abderitischen Frosches, gesetzt daß er auch nur im dreißigsten Grade von seinem Stammvater dem milischen Froschmenschen entfernt wäre, damals da er sich als Keim in seinem besagten Stammvater befand, um so viele Millionen, Billionen, Trillionen u.s.w. kleiner als eine Käsemilbe hätte gewesen sein müssen, daß der geschwindeste Schreiber, den der hohe Senat von Abdera in seiner Kanzlei hat, in zweihundert Jahren mit allen den Nullen, die er, um diese Zahl zu bezeichnen, schreiben müßte, kaum fertig werden könnte; und das ganze Gebiet der preiswürdigen Republik (so viel nämlich davon noch nicht in Froschgräben verwandelt ist) schwerlich Raum genug für das Papier oder Pergament hätte, welches diese ungeheure Zahl zu fassen groß genug wäre. Die Akademie überläßt es dem Ermessen des Senats, ob das allerwinzigste aller kleinen Tierchen in der Welt winzig genug sei, sich von einer solchen unaussprechlich winzigen Kleinheit einen Begriff zu machen? und ob man also anders glauben könne, als daß dem ehrwürdigen Oberpriester etwas Menschliches begegnet sein müsse, da er die Hypothese von den Keimen erfunden, um der vorgeblichen Heiligkeit der abderitischen Frösche eine zwar nicht sehr scheinbare, aber wenigstens doch sehr dunkle und unbegreifliche Unterlage zu geben?

Die Akademie hat mit allem Fleiß die Einbildungskraft der erlauchten Väter des Vaterlandes nicht über die Gebühr anstrengen [426] wollen. Wenn man aber bedenkt, wie kurz das natürliche Leben eines Frosches ist, und daß unsre dermaligen Frösche, nach der Voraussetzung, wenigstens im fünfhundertsten Grade von den milischen Bauern abstammen: so verliert sich die Hypothese des sehr ehrwürdigen Oberpriesters in einem solchen Abgrund von Kleinheit, daß es ungereimt, und, die Wahrheit zu sagen, grausam wäre, nur ein Wort weiter davon zu sagen.

Die Natur ist (wie die berühmte Aufschrift zu Sais sagt) alles was ist, was war und was sein wird, und ihren Schleier hat noch kein Sterblicher aufgedeckt. Die Akademie, von dieser großen Wahrheit tiefer als sonst irgend jemand durchdrungen, ist weit entfernt, sich einiger besondern und genauern Einsicht in Geheimnisse, welche unergründlich bleiben sollen, anzumaßen. Sie glaubt, daß es vergebens sei, von der Entstehungsart der organisierten Wesen mehr wissen zu wollen, als was die Sinnen bei einer anhaltenden Aufmerksamkeit davon entdecken. Und wenn sie es ja für erlaubt hält, dem angebornen Triebe des menschlichen Geistes – sich alles begreiflich machen zu wollen – durch Hypothesen nachzuhängen: so findet sie diejenige noch immer die natürlichste, vermöge deren die Keime der organischen Körper durch die geheimen Kräfte der Natur erst alsdann gebildet werden, wenn sie ihrer wirklich vonnöten hat. Dieser Erklärungsart zufolge, ist der Keim eines jeden itztlebenden quakenden Geschöpfes in allen Sümpfen und Froschgräben von Abdera nicht älter als der Moment seiner Zeugung, und hat mit dem individuellen Frosche, der zur Zeit des trojanischen Krieges quakte, und von welchem der itztlebende in gerader Linie abstammt, weiter nichts gemein, als daß die Natur beide nach einem gleichförmigen Modell, durch gleichförmige Werkzeuge, und zu gleichförmigen Absichten gebildet hat.«

Der Philosoph Korax, nachdem er ein langes und breites zu Befestigung dieser Meinung vorgebracht, zieht endlich die Folgerung daraus: daß die abderitischen Frösche eben so natürliche, gemeine und alltägliche Frösche seien als alle übrige Frösche in der Welt; und daß also die sonderbaren Vorrechte, deren sie sich in Abdera zu erfreuen hätten, sich nicht auf irgend eine Vorzüglichkeit ihrer Natur und vorgebliche Verwandtschaft mit der [427] menschlichen, sondern bloß auf einen populären Glauben gründeten, welchen man, zu größtem Nachteil des gemeinen Wesens, allzulange unbestimmt und in einem Dunkel gelassen habe, unter dessen Begünstigung die Einbildungskraft der einen und der Eigennutz der andern freien Spielraum gehabt habe, mit diesen Fröschen eine Art von Unfug zu treiben, wovon man außerhalb Aegypten schwerlich ein ähnliches Beispiel in der Welt finden werde.

»Die Altertümer von Abdera (fährt er fort) liegen, ungeachtet alles Lichtes, welches der ehrwürdige und gelehrte Stilbon so reichlich über sie ausgegossen, noch immer – wie die Altertümer aller andern Städte in der Welt – in einem Nebel, dessen Undurchdringlichkeit dem wahrheitsbegierigen Forscher wenig Hoffnung läßt, seine Begierde jemals befriediget zu sehen. Aber, wozu hätten wir denn auch vonnöten, mehr davon zu wissen als wir wirklich wissen? Was es auch mit dem Ursprung des Latonentempels und seines geheiligten Froschgrabens für eine Bewandtnis haben mag, würde etwa, wenn wir diese Bewandtnis wüßten, Latona mehr oder weniger Göttin, ihr Tempel mehr oder weniger Tempel, und ihr Froschgraben mehr oder weniger Froschgraben sein? – Latona soll und muß in ihrem uralten Tempel verehrt, und ihr uralter Froschgraben soll und muß in gebührenden Ehren gehalten werden. Beides ist Institut unsrer ältesten Vorfahren, ehrwürdig durch das graueste Altertum, befestigt durch die Gewohnheit so vieler Jahrhunderte, unterhalten durch den ununterbrochnen fortgepflanzten allgemeinen Glauben unsers Volkes, geheiligt und unverletzlich gemacht durch die Gesetze unsrer Republik, welche die Bewachung und Beschützung desselben dem ansehnlichsten Collegio des Staats anvertraut haben. Aber, wenn Latona, oder Jupiter um Latonens willen, die milischen Bauren in Frösche verwandelt hat: folgt denn daraus, daß alle Frösche der Latona heilig sind, und sich des priesterlichen Vorrechts der persönlichen Unverletzlichkeit anzumaßen haben? Und, wenn unsre wackern Vorfahren für gut befunden haben, zum ewigen Gedächtnis jenes Wunders, im Bezirk des Latonentempels einen kleinen Froschgraben zu unterhalten: folgt denn daraus, daß ganz Abdera in eine Froschlache verwandelt werden muß?

[428] Die Akademie kennt sehr wohl die Achtung, die man gewissen Meinungen und Gefühlen des Volks schuldig ist. Aber dem Aberglauben, in welchen sie immer auszuarten bereit sind, kann doch nur so lange nachgesehen werden, als er die Grenzen der Unschädlichkeit nicht gar zu weit überschreitet. Frösche können in Ehren gehalten werden; aber die Menschen den Fröschen auf zuopfern ist unbillig. Der Zweck, um dessentwillen die Abderiten, unsre Vorfahren, den geheiligten Froschteich einsetzten, hätte freilich auch durch einen einzigen Frosch erreicht werden können. Doch, laß es sein, daß ein ganzer Teich voll gehalten wurde; wenn es nur bei diesem einzigen geblieben wäre! Abdera würde darum nicht weniger blühend, mächtig und glücklich gewesen sein. Bloß der seltsame Wahn, daß man der Frösche und Froschteiche nicht zuviel haben könne, hat uns dahin gebracht, daß uns nun wirklich keine andre Wahl übrig bleibt als, uns entweder dieser überlästigen und allzufruchtbaren Mitbürger ungesäumt zu entladen, oder alle insgesamt mit bloßen Häuptern und Füßen nach dem Latonentempel zu wallen, und mit fußfälligem Bitten so lange bei der Göttin anzuhalten, bis sie das alte Wunder an uns erneuert, und auch uns, so viel unsrer sind, in Frösche verwandelt haben wird.

Die Akademie müßte sich sehr gröblich an der Weisheit der Häupter und Väter des Vaterlandes versündigen, wenn sie nur einen Augenblick zweifeln wollte, daß das Mittel, welches sie in einer so verzweifelten Lage vorzuschlagen aufgefodert worden, und das einzige, welches sie vorzuschlagen im Stande ist, nicht mit beiden Händen ergriffen werden sollte. Dieses Mittel hat alle von dem hohen Senat erforderten Eigenschaften; es ist in unsrer Gewalt, es ist zweckmäßig und von unmittelbarer Wirkung; es ist nicht nur mit keinem Aufwand, sondern sogar mit einer namhaften Ersparnis verbunden; und weder Latona noch ihre Priester können, unter den gehörigen Einschränkungen, etwas dagegen einzuwenden haben.«

Und nun rate der geneigte Leser, was für ein Mittel das wohl sein konnte? – Es ist, um ihn nicht lange aufzuhalten, das simpelste Mittel von der Welt. Es ist etwas in Europa von langen Zeiten her bis auf diesen Tag sehr gewöhnliches; eine Sache, worüber in der ganzen Christenheit [429] sich niemand das mindeste Bedenken macht – und wovor gleichwohl, wie diese Stelle des Gutachtens im Senat zu Abdera abgelesen wurde, der Hälfte der Ratsherren die Haare zu Berge stunden. Mit einem Worte, das Mittel, das die Akademie von Abdera vorschlug, um der überzähligen Frösche mit guter Art los zu werden, war – sie zu essen.

Der Verfasser des Gutachtens beteuerte, daß er auf seinen Reisen zu Athen und Megara, zu Korinth, in Arkadien und an hundert andern Orten Froschkeulen essen gesehen und selbst gegessen habe. Er versicherte, daß es eine sehr gesunde nahrhafte und wohlschmeckende Speise sei, man möchte sie nun gebacken oder mariniert, frikassiert oder in kleinen Pastetchen auf die Tafel bringen. Er berechnete, daß auf diese Weise die übermäßige Froschmenge in kurzer Zeit auf eine sehr gemäßigte Zahl gebracht, und dem gemeinen und Mittelmann, bei dermaligen klemmen Zeiten, keine geringe Erleichterung durch diese neue Eßware verschafft werden würde. Und wiewohl der daher entstehende Vorteil sich vermöge der Natur der Sache von Tag zu Tage vermindern müßte: so würde hingegen der Abgang um so reichlicher ersetzt werden, indem man nach und nach einige tausend Froschteiche und Gräben austrocknen und wieder urbar machen könnte; ein Umstand, wodurch wenigstens der vierte Teil des zu Abdera gehörigen Grund und Bodens wieder gewonnen werden und den Einwohnern zu Nutzen gehen würde. Die Akademie (setzt er hinzu) habe die Sache aus allen möglichen Gesichtspuncten betrachtet, und könne nicht absehen, wie von Seiten der Latona oder ihrer Priester die mindeste Einwendung dagegen sollte gemacht werden können. Denn was die Göttin selbst betreffe, so würde sie sich ohne Zweifel durch den bloßen Argwohn, als ob ihr an den Fröschen mehr als an den Abderiten gelegen sei, sehr beleidiget finden. Von den Priestern aber sei zu erwarten, daß sie viel zu gute Bürger und Patrioten seien, um sich einem Vorschlag zu widersetzen, durch welchen dasjenige, was bisher das größte Übel und Drangsal des abderitischen gemeinen Wesens gewesen, bloß durch eine geschickte Wendung in den größten Nutzen desselben verwandelt würde. Da es aber nicht mehr als billig sei, sie, die Priester, um des gemeinen Bestens willen nicht zu beschädigen: so hielte die Akademie [430] ohnmaßgeblich davor, daß ihnen nicht nur die Unverletzlichkeit des uralten Froschgrabens am Latonentempel von neuem zu garantieren, sondern auch die Verordnung zu machen wäre: daß von dem Augenblick an, da die abderitischen Froschkeulen für eine erlaubte Eßware erklärt sein würden, von jedem Schock derselben eine Abgabe von 2 oder 3 Obolen an den Latonentempel bezahlt werden müßte. Eine Abgabe, die, nach einem sehr mäßigen Überschlag, in kurzer Zeit eine Summe von dreißig bis vierzig tausend Drachmen abwerfen, und also den Latonentempel wegen aller andern kleinen Vorteile die durch die neue Einrichtung aufhörten, reichlich schadlos halten würde.

Endlich beschloß der Philosoph Korax sein Gutachten mit diesen merkwürdigen Worten: »Die Akademie glaube durch diesen eben so notgedrungnen als gemeinnützigen Vorschlag ihrer Schuldigkeit genug getan zu haben. Sie sei nun wegen des Erfolgs ganz ruhig, indem sie dabei nicht mehr betroffen sei, als alle übrigen Bürger von Abdera. Aber da sie überzeugt sei, daß nur ganz erklärte Batrachosebisten fähig sein könnten, sich einer so unumgänglichen Reformation entgegen zu setzen: so hoffte sie, die preiswürdigen Väter des Vaterlandes würden nicht zugeben, daß eine so lächerliche Secte die Oberhand gewinnen, und vor den Augen aller Griechen und Barbaren den abderitischen Namen mit einem Schandflecken beschmitzen sollte, den keine Zeit wieder ausbeizen würde.«

Es ist schwer, von den Absichten eines Menschen aus seinen Handlungen zu urteilen, und hart, schlimme Absichten zu argwohnen, bloß weil eine Handlung eben so leicht aus einem bösen als guten Beweggrunde hergeflossen sein konnte; aber einen jeden, dessen Vorstellungsart nicht die unsrige ist, bloß darum für einen schlimmen Mann zu halten, ist dumm. Wiewohl wir also nicht mit Gewißheit sagen können, wie rein die Absichten des Philosophen Korax bei Abfassung dieses Gutachtens gewesen sein mochten: so können wir doch nicht umhin zu glauben, daß der Priester Stilbon in seiner Leidenschaft zu weit gegangen, da er besagten Korax dieses Gutachtens wegen für einen offenbaren Feind der Götter und der Menschen erklärte, und ihn einer augenscheinlichen Absicht alle Religion über den Haufen zu werfen beschuldigte. So überzeugt auch immer der Hohepriester [431] Stilbon von seinem System war: so ist doch, bei der großen und unwillkürlichen Verschiedenheit der Vorstellungsarten unter den armen Sterblichen, nicht unmöglich, daß Korax von der Wahrheit seiner Meinungen eben so aufrichtig überzeugt war; daß er die abderitischen Frösche im Innersten seines Herzens für nichts mehr als bloße natürliche Frösche hielt, und durch seinen Vorschlag seinem Vaterlande wirklich einen wichtigen Dienst zu leisten glaubte. Indessen bescheidet sich Schreiber dieses ganz gerne, daß es für uns Itztlebende, und in Betrachtung, daß die allgemein in Europa angenommenen Grundsätze den Fröschen wenig günstig sind, eine äußerst delicate Sache ist, über diesen Punkt ein vollkommen unparteiisches Urteil zu fällen.

Wie es also auch um die Moralität der Absichten des Philosophen Korax stehen mochte, so viel ist wenigstens gewiß, daß er so wenig ohne Leidenschaften war als der Oberpriester, und daß er sich die Vermehrung seiner Anhänger viel zu eifrig angelegen sein ließ, um nicht den Verdacht zu erwecken, daß die Eitelkeit das Haupt einer Partei zu sein, die Begierde über Stilbon den Sieg davon zu tragen, und der stolze Gedanke in den Annalen von Abdera dereinst Figur zu machen, wenigstens eben so viel zu seiner großen Tätigkeit in dieser Froschsache beigetragen, als seine Tugend. Aber daß er alles, was er getan, aus bloßer Näscherei getan habe, halten wir für eine Verleumdung schwachköpfiger und passionierter Leute, woran es bekanntermaßen bei solchen Gelegenheiten (zumal in kleinen Republiken) nie zu fehlen pflegt.

Korax hatte solche Maßregeln genommen, daß sein Gutachten bei der zweiten Zusammenkunft der Akademie einhellig genehmigt wurde. Denn der Präsident, und drei oder vier Ehrenmitglieder, die sich nicht bloß geben wollten, hatten Tags zuvor eine Reise aufs Land getan.

[432]
Achtes Kapitel
Das Gutachten wird bei Rat verlesen, und nach verschiednen heftigen Debatten, einhellig beschlossen, daß es den Latonenpriestern communiciert werden sollte

Das Gutachten wurde in der vorgeschriebenen Zeit dem Archon eingehändigt, und bei der nächsten Sitzung des Senats von dem Stadtschreiber Pyrops, einem erklärten Gegenfröschler, aus voller Kehle, und mit ungewöhnlich scharfer Beobachtung aller Komma's und übrigen Unterscheidungszeichen, abgelesen.

Die Minorität hatte zwar indessen bei dem Archon große Bewegungen gemacht, um ihn dahin zu bringen, die Execution des Ratsschlusses aufzuschieben, und es in einer außerordentlichen Ratsversammlung noch einmal auf die Mehrheit ankommen zu lassen, ob die Sache nicht, mit Vorbeigehung der Akademie, dem Collegio der Zehnmänner übergeben werden sollte. Onokradias hatte auch diesen Antrag auf Bedenkzeit angenommen, aber ungeachtet des täglichen Anhaltens der Gegenpartei seine Antwort um so mehr aufgeschoben, da er versichert worden war, daß das Gutachten bis zum nächsten gewöhnlichen Ratstage fertig sein sollte.

Der Nomophylax Hypsiboas und seine Anhänger fanden sich also nicht wenig beleidigt, da, nachdem die gewöhnlichen Geschäfte abgetan waren, der Archon ein großes Heft unter seinem Mantel hervorzog, und dem Senat berichtete, daß es das Gutachten sei, welches, vermöge des letzten Ratsschlusses, der Akademie in der bekannten leidigen Froschsache aufgetragen worden. Sie stunden alle auf einmal mit Ungestüm auf, beschuldigten den Archon, daß er hinterlistig zu Werke gegangen, und erklärten sich, daß sie die Verlesung des Gutachtens nimmermehr zugeben würden.

Onokradias, der unter andern kleinen Naturfehlern auch diesen hatte, immer hitzig zu sein wo er kalt, und kalt wo er hitzig sein sollte, war im Begriff, eine sehr hitzige Antwort zu geben, wenn ihn der Ratsherr Meidias nicht gebeten hätte, ruhig zu sein, und die Herren schreien zu lassen. Wenn sie alles gesagt haben werden, flüsterte er ihm zu, so werden sie nichts mehr zu sagen haben, und dann müssen sie wohl von selbst aufhören.

[433] Dies war auch was geschah. Die Herren lärmten, krähten und fochten mit den Händen, bis sie es müde waren; und da sie endlich merkten, daß ihnen niemand zuhörte, setzten sie sich brummend wieder hin, wischten den Schweiß von der Stirne und das Gutachten wurde verlesen.

Wir kennen die Art der Abderiten, so schnell wie man die Hand umdreht vom Tragischen zum Komischen überzugehen, und über der kleinsten Gelegenheit zum Lachen die ernsthafte Seite eines Dinges gänzlich aus den Augen zu verlieren. Kaum war der dritte Teil des Gutachtens gelesen, so zeigte sich schon die Wirkung dieser jovialischen Laune sogar bei denjenigen, die kurz zuvor so laut dagegen geschrieen hatten. Das nenn ich doch beweisen, sagte einer der Ratsherren zu seinem Nachbar, während daß Pyrops innhielt, um nach damaliger Gewohnheit eine Prise Nieswurz zu nehmen. Man muß gestehen, sagte ein andrer, das Ding ist meisterhaft geschrieben. Ich will gerne sehen, sagte ein dritter, was man gegen den Beweis, daß Frösche am Ende doch nur Frösche sind, wird einwenden können. Ich habe schon lange so was gemerkt, sagte ein vierter mit einer schlauen Miene, aber es ist doch angenehm, wenn man sieht, daß gelehrte Leute mit uns einer Meinung sind.

Nur weiter, Herr Stadtschreiber, sagte Meidias, denn das Beste muß noch erst kommen.

Pyrops las fort. Die Ratsherren lachten daß sie die Bäuche halten mußten über die Berechnung der Kleinheit der Keime des Priesters Stilbon; wurden aber auf einmal wieder ernsthaft, da die traurige Alternative vorkam, und sie sich vorstellten, was für ein Jammer das wäre, wenn sie in Corpore, den regierenden Archon an der Spitze, nach dem Latonentempel ziehen und sichs noch zur besondern Gnade anrechnen lassen müßten, in Frösche verwandelt zu werden. Sie reckten die dicken Hälse und schnappten nach Odem, bei dem bloßen Gedanken, wie ihnen bei einer solchen Katastrophe zu Mute sein würde, und waren von Herzen geneigt, jedes Mittel gut zu heißen, wodurch ein solches Unglück verhütet werden könnte.

Aber wie das Geheimnis nun heraus war; wie sie hörten, daß die Akademie kein ander Mittel vorzuschlagen hätte, als die Frösche, deren sie einen Augenblick zuvor um jeden Preis los zu [434] werden gewünscht hatten, zu essen – – welche Zunge vermöchte das Gemisch von Erstaunen, Entsetzen, und Verdruß über fehlgeschlagene Erwartung zu beschreiben, das sich auf einmal in den verzerrten Gesichtern der alten Ratsherren malte, welche beinahe die Hälfte des Senats ausmachten? Die Leute sahen nicht anders aus, als ob man ihnen zugemutet hätte, ihre eignen leiblichen Kinder in kleine Pastetchen hacken zu lassen. Auf einmal von der unbegreiflichen Macht des Vorurteils überwältigt, fuhren sie alle mit Entsetzen auf und erklärten: daß sie nichts weiter hören wollten, und daß sie sich einer solchen Gottlosigkeit zu der Akademie nimmermehr versehen hätten.

Sie hören aber ja, daß es nur gemeine natürliche Frösche sind die wir essen sollen, rief der Ratsherr Meidias. Essen wir doch Pfauen und Tauben und Gänse, ungeachtet jene der Juno und Venus, und diese dem Priapus selbst heilig sind. Bekömmt uns denn etwa das Rindfleisch schlechter, weil die Prinzessin Io in eine Kuh verwandelt worden? Oder machen wir uns das mindeste Bedenken, alle Arten von Fischen zu essen, ungeachtet sie unter dem Schutze aller Wassergötter stehen?

Aber die Rede ist weder von Gänsen noch Fischen, sondern von Fröschen, schrieen die alten Ratsherren und Zunftmeister; das ist ganz was anders. Gerechte Götter! die Frösche der Latona zu essen! Wie kann ein Mensch von gesundem Kopfe sich so etwas nur zu Sinne kommen lassen?

So fassen Sie sich doch, meine Herren, schrie ihnen der Ratsherr Stentor entgegen; Sie werden doch nicht solche Batrachosebisten sein wollen.

Lieber Batrachosebisten als Batrachophagen, rief der Nomophylax, der diesen glücklichen Augenblick nicht entwischen lassen wollte, sich zum Haupt einer Partei aufzuwerfen, auf deren Schultern er sich in kurzem zum Archontat erhoben zu sehen hoffte.

Lieber alles in der Welt als Batrachophagen, schrieen die Ratsherren von der Minorität, und ein Paar graubärtige Zunftmeister, die sich zu ihnen schlugen.

»Meine Herren, sagte der Archon Onokradias, indem er mit einiger Hitze von seinem elfenbeinernen Stuhl auffuhr, da die Batrachosebisten so laut zu schreien anfingen, daß ihm um sein [435] Gehör bange wurde; ein Vorschlag der Akademie ist noch kein Ratsschluß. Setzen Sie sich und hören Sie Vernunft an, wenn Sie können! Ich will nicht hoffen, daß hier jemand ist, der sich einbildet, daß mir so viel daran gelegen sei, Frösche zu essen. Auch werd' ich noch wohl Rat zu schaffen wissen, daß sie mich nicht fressen sollen. Aber die Akademie, die aus den gelehrtesten Leuten in Abdera besteht, muß doch wohl wissen was sie sagt –

(Nicht immer, murmelte Meidias zwischen den Zähnen.)

Und da das gemeine Beste allem vorgeht, und nicht billig ist, daß die Frösche den Menschen – daß die Menschen, sage ich, den Fröschen aufgeopfert werden, wie die Akademie sehr wohl erwiesen hat: so ist meine Meinung – daß das Gutachten ohne weiters der ehrwürdigen Latonenpriesterschaft communiciert werde. Können Sie einen bessern Vorschlag tun, so will ich der erste sein, der ihn unterstützen hilft. Denn ich habe für meine Person nichts gegen die Frösche, in so fern sie keinen Schaden tun.«

Da der Antrag des Archons nichts anders war, als worauf beide Parteien ohnehin hatten antragen müssen, so wurde die Communication des Gutachtens zwar einhellig beliebt; aber die Ruhe im Senat wurde dadurch nicht hergestellt; und von dieser Stunde an fand sich die arme Stadt Abdera wieder, unter andern Namen, in Esel und Schatten geteilt.

Neuntes Kapitel
Der Oberpriester Stilbon schreibt ein sehr dickes Buch gegen die Akademie
Es wird von Niemand gelesen; im übrigen aber bleibt vor der Hand alles beim Alten

Jedermann bildete sich ein, daß der Oberpriester über das Gutachten der Akademie Feuer und Flammen sprühen werde, und man war nicht wenig verwundert, da er, dem Anschein nach, so gelassen dabei blieb, als ob ihn die Sache gar nichts anginge.

Was für armselige Köpfe! sagte er den seinigen schüttelnd, indem er das Gutachten mit flüchtigem Blicke überlief; und gleichwohl sollte man denken, sie müßten mein Buch von den Altertümern gelesen haben, worin alles so augenscheinlich dargelegt ist. Es ist unbegreiflich, wie man mit fünf gesunden Sinnen so [436] dumm sein kann. Aber ich will ihnen noch wohl das Verständnis öffnen. Ich will ein Buch schreiben – ein Buch, das mir alle Akademien der Welt widerlegen sollen wenn sie können.

Und Stilbon, der Oberpriester, setzte sich hin und schrieb ein Buch, dreimal so dick als das erste, das der Archon Onokradias nicht lesen wollte; und er bewies darin: daß der Verfasser des Gutachtens keinen Menschenverstand habe; daß er ein Unwissender sei, der nicht einmal gelernt habe, wie nichts groß und nichts klein in der Natur sei; nicht wisse, daß die Materie ins Unendliche geteilt werden könne, und daß die unendliche Kleinheit der Keime (wenn man sie auch noch unendlich kleiner annehme als Korax in seiner ganz lächerlich übertriebnen Berechnung getan habe,) gegen ihre Möglichkeit nicht ein Minimum beweise. Er unterstützte die Gründe seines Systems von den abderitischen Fröschen mit neuen Gründen, und beantwortete mit großer Genauigkeit und Weitläuftigkeit alle mögliche Einwürfe die er sich selbst dagegen machte. Seine Einbildung und seine Galle erhitzte sich unterm Schreiben unvermerkt so sehr, daß er in sehr bittere Sarkasmen gegen seine Gegner ausbrach, sie eines vorsetzlichen und verstockten Hasses gegen die Wahrheit anklagte, und ziemlich deutlich zu verstehen gab, daß solche Menschen in einem wohlpolizierten Staat gar nicht geduldet werden sollten.

Der Senat von Abdera erschrak, da der Archon nach etlichen Monaten (denn eher hatte Stilbon, wiewohl er Tag und Nacht schrieb, nicht mit seinem Buche fertig werden können,) die Gegenschrift des Oberpriesters vor Rat brachte, die so voluminos war, daß er sie, um die Sache kurzweiliger zu machen, durch zween von den breitschultrigsten Sackträgern von Abdera auf einer Trage herein schleppen und auf den großen Ratstisch legen ließ. Die Herren fanden, daß es keine Möglichkeit sei eine so weitläuftige Deduction verlesen zu lassen. Es wurde also durch die Mehrheit der Stimmen beschlossen, das Werk geradenwegs dem Philosophen Korax zuzuschicken, mit dem Auftrag, dasjenige was er etwa dagegen zu erinnern hätte schriftlich und sobald als möglich an den regierenden Archon gelangen zu lassen.

Korax stund eben mitten unter einem Haufen nasenweiser abderitischer Jünglinge in der Vorhalle seines Hauses, als die [437] Sackträger mit ihrer gelehrten Ladung bei ihm anlangten. Als er nun von dem mitkommenden Ratsboten vernommen hatte, warum es zu tun sei, entstund ein so unmäßiges Gelächter unter der gegenwärtigen Versammlung, daß man es über drei oder vier Gassen bis in der Ratsstube hören konnte. Der Priester Stilbon hat einen schlauen Genius, sagte Korax; er hat gerade das unfehlbarste Mittel ergriffen, um nicht widerlegt zu werden. Aber er soll sich doch betrogen finden! Wir wollen ihm zeigen, daß man ein Buch widerlegen kann, ohne es gelesen zu haben.

Wo sollen wir denn abladen, fragten die Sackträger, die schon eine gute Weile mit ihrer Trage dagestanden waren, und von allen den scherzhaften Einfällen der gelehrten Herren nichts verstanden.

In meinem Häuschen ist kein Platz für ein so großes Buch, sagte Korax.

Wissen Sie was, fiel einer von den jungen Philosophen ein: weil das Buch doch geschrieben ist um nicht gelesen zu werden, so stiften Sie es auf die Ratsbibliothek. Dort liegt es sicher, und wird unter dem Schutz einer Kruste von fingerdickem Staub ungelesen und wohlbehalten auf die späte Nachwelt kommen.

Der Einfall ist trefflich, sagte Korax. Gute Freunde, fuhr er fort, sich an die Sackträger wendend, hier sind zwo Drachmen für eure Mühe; tragt eure Ladung auf die Ratsbibliothek, und bekümmert euch weiter um nichts; ich nehme die ganze Sache auf meine Verantwortung.

Stilbon, dem das Schicksal eines Buches, das ihm so viele Zeit und Mühe gekostet hatte, nicht lange verborgen bleiben konnte, wußte vor Erstaunen und Ingrimm weder was er denken noch tun sollte. Große Latona, rief er einmal übers andre aus, in was für Zeiten leben wir! Was ist mit Leuten anzufangen, die nicht hören wollen? – Aber sei es darum! Ich habe das Meinige getan. Wollen sie nicht hören, so mögen sie's bleiben lassen! Ich setze keine Feder mehr an, rühre keinen Finger mehr für ein so undankbares, ungeschliffnes und unverständiges Volk.

[438] So dachte er im ersten Unmut; aber der gute Priester betrog sich selbst durch diese anscheinende Gelassenheit. Seine Eigenliebe war zu sehr beleidigt, um so ruhig zu bleiben. Je mehr er der Sache nachdachte, (und er konnte die ganze Nacht an nichts anders denken,) je stärker fühlte er sich überzeugt, daß ihm nicht erlaubt sei bei einer so lauten Aufforderung für die gute Sache stille zu sitzen.

Der Nomophylax und die übrigen Feinde des Archons Onokradias ermangelten nicht, seinen Eifer durch ihre Aufstiftungen vollends zu entflammen. Man hielt fast täglich Zusammenkünfte, um sich über die Maßregeln zu beratschlagen, welche man zu nehmen hätte, dem einreißenden Strom der Unordnung und Ruchlosigkeit (wie es Stilbon nannte) Einhalt zu tun.

Aber die Zeiten hatten sich wirklich sehr geändert. Stilbon war kein Strobylus. Das Volk kannte ihn wenig, und er hatte keine von den Gaben, wodurch sich sein besagter Vorgänger mit unendlichmal weniger Gelehrsamkeit so wichtig in Abdera gemacht hatte. Beinahe alle junge Leute beiderlei Geschlechts waren von den Grundsätzen des Philosophen Korax angesteckt. Der größere Teil der Ratsherren und angesehenen Bürger neigte sich ohne Grundsätze auf die Seite wo es am meisten zu lachen gab. Und sogar unter dem gemeinen Volke hatten die Gassenlieder, womit einige Versifexe von Koraxens Anhang die Stadt angefüllt hatten, so gute Wirkung getan, daß man sich vor der Hand wenig Hoffnung machen konnte, den Pöbel so leicht als ehmals in Aufruhr zu setzen. Aber was noch das allerschlimmste war, man hatte Ursache zu glauben, daß es unter den Priestern selbst einen und den andern gebe, der ingeheim mit den Gegenfröschlern in Verbindung stehe. Es war in der Tat mehr als bloßer Argwohn, daß der Priester Pamphagus mit einem Anschlag schwanger gehe, sich die gegenwärtigen Umstände zu Nutze zu machen, und den ehrlichen Stilbon von einer Stelle zu verdrängen, welcher er (wie Pamphagus unter der Hand zu verstehen gab) wegen seiner gänzlichen Unerfahrenheit in Geschäften in einer so bedenklichen Krisis auf keine Weise gewachsen sei.

Bei allem dem machten gleichwohl die Batrachosebisten eine [439] ansehnliche Partei aus, und Hypsiboas hatte Geschicklichkeit genug, sie immer in einer Bewegung zu erhalten, welche mehr als einmal gefährliche Ausbrüche hätte nehmen können, wenn die Gegenpartei zufrieden mit ihren erhaltenen Siegen und ungeneigt das Übergewicht in dessen Besitz sie war in Gefahr zu setzen – nicht so untätig geblieben, und alles was zu ungewöhnlichen Bewegungen hätte Anlaß geben können, sorgfältig vermieden hätte. Denn, wiewohl sie sich des Namens der Batrachophagen eben nicht zu weigern schienen, und die Frösche der Latona den gewöhnlichsten Stoff zu lustigen Einfällen in ihren Gesellschaften hergaben: so ließen sie es doch, nach echter abderitischer Weise, dabei bewenden, und die Frösche blieben trotz dem Gutachten der Akademie und den Scherzen des Philosophen Korax noch immer ungestört und ungegessen im Besitz der Stadt und Landschaft von Abdera.

Zehntes Kapitel
Seltsame Entwicklung des ganzen abderitischen tragikomischen Possenspiels

Aller Wahrscheinlichkeit nach würden die Frösche der Latona dieser Sicherheit noch lange genossen haben, wenn nicht unglücklicherweise im nächsten Sommer eine unendliche Menge Mäuse und Ratten von allen Farben auf einmal die Felder der unglücklichen Republik überschwemmt, und dadurch die ganze unschuldige und ungefähre Weissagung des Archons Onokradias auf eine unvermutete Art in Erfüllung gebracht hätten.

Von Fröschen und Mäusen zugleich aufgegessen zu werden, war für die armen Abderiten zuviel auf einmal. Die Sache wurde ernsthaft.

Die Gegenfröschler drangen nun ohne weiters auf die Notwendigkeit, den Vorschlag der Akademie unverzüglich ins Werk zu setzen.

Die Batrachosebisten schrieen: die gelben, grünen, blauen, blutroten, und flohfarben Mäuse, die in wenig Tagen die greulichste [440] Verwüstung auf den abderitischen Feldern angerichtet hatten, seien eine sichtliche Strafe der Gottlosigkeit der Batrachophagen, und augenscheinlich von Latonen unmittelbar abgeschickt, die Stadt, die sich des Schutzes der Göttin unwürdig gemacht, gänzlich zu verderben.

Vergebens bewies die Akademie, daß gelbe, grüne und flohfarbe Mäuse darum nicht mehr Mäuse seien als andre; daß es mit diesen Mäusen und Ratten ganz natürlich zugehe; daß man in den Jahrbüchern aller Völker ähnliche Beispiele finde; und daß es nunmehr, da besagte Mäuse entschlossen schienen, den Abderiten ohnehin nichts anders zu essen übrig zu lassen, um so nötiger sei, sich des Schadens, den beiderlei gemeine Feinde der Republik verursachten, wenigstens an der eßbaren Hälfte derselben, nämlich an den Fröschen, zu erholen.

Vergebens schlug sich der Priester Pamphagus ins Mittel, indem er den Vorschlag tat, die Frösche künftig zu ordentlichen Opfertieren zu machen, und, nachdem der Kopf und die Eingeweide der Göttin geopfert worden, die Keulen als Opferfleisch zu ihren Ehren zu verzehren.

Das Volk, bestürzt über eine Landplage, die es sich nicht anders als unter dem Bilde eines Strafgerichts der erzürnten Götter denken konnte, und von den Häuptern der Froschpartei empört, lief in Rotten vor das Rathaus, und drohte, kein Gebein von den Herren übrig zu lassen, wenn sie nicht auf der Stelle ein Mittel fänden die Stadt vom Verderben zu erretten.

Guter Rat war noch nie so teuer auf dem Ratshause zu Abdera gewesen als jetzt. Die Ratsherren schwitzten Angstschweiß. Sie schlugen vor ihre Stirne; aber es hallte hohl zurück. Je mehr sie sich besannen, je weniger konnten sie finden was zu tun wäre.

Das Volk wollte sich nicht abweisen lassen, und schwur, Fröschlern und Gegenfröschlern die Hälse zu brechen, wenn sie nicht Rat schafften.

Endlich fuhr der Archon Onokradias auf einmal wie begeistert von seinem Stuhl auf. – Folgen Sie mir, sagte er zu den Ratsherren, und ging mit großen Schritten auf die marmorne Tribüne hinaus, die zu öffentlichen Anreden an das Volk bestimmt war. Seine Augen funkelten von einem ungewöhnlichen Glanz; er schien eines Haupts länger als sonst, und seine ganze Gestalt [441] hatte etwas Majestätischers als man jemals an einem Abderiten gesehen hatte. Die Ratsherren folgten ihm stillschweigend und erwartungsvoll.

»Höret mich, ihr Männer von Abdera, sagte Onokradias mit einer Stimme die nicht die seinige war; Jason, mein großer Stammvater, ist vom Sitz der Götter herabgestiegen, und gibt mir in diesem Augenblick das Mittel ein, wodurch wir uns alle retten können. Gehet, jeder nach seinem Hause, packet alle eure Gerätschaften und Habseligkeiten zusammen, und morgen bei Sonnenaufgang stellet euch mit Weibern und Kindern, Pferden und Eseln, Rindern und Schafen, kurz mit Sack und Pack, vor dem Jasonstempel ein. Von da wollen wir mit dem goldnen Vließe, dem heiligen Palladium der Abderiten an unsrer Spitze, ausziehen, diesen von den Göttern verachteten Mauren den Rücken wenden, und in den weiten Ebnen des fruchtbaren Macedoniens einen andern Wohnort suchen, bis der Zorn der Götter sich gelegt haben, und uns oder unsern Kindern wieder vergönnt sein wird, unter glücklichen Vorbedeutungen in die schöne Abdera zurückzukehren. Die verderblichen Mäuse, wenn sie nichts mehr zu zehren finden, werden sich unter einander selbst auffressen, und was die Frösche betrifft – denen mag Latona gnädig sein! – Geht, meine Kinder, und macht euch fertig. Morgen, mit Aufgang der Sonne, werden alle unsre Drangsale ein Ende haben.«

Das ganze Volk jauchzte dem begeisterten Archon Beifall zu, und in einem Augenblick atmete wieder nur Eine Seele in allen Abderiten. Ihre leichtbewegliche Einbildungskraft stund auf einmal in voller Flamme. Neue Aussichten, neue Scenen von Glück und Freuden tanzten vor ihrer Stirne. Die weiten Ebnen des glücklichen Macedoniens lagen wie fruchtbare Paradiese vor ihren Augen ausgebreitet. Sie atmeten schon die mildern Lüfte, und sehnten sich mit unbeschreiblicher Ungeduld aus dem dicken froschsumpfichten Dunstkreise ihrer ekelhaften Vaterstadt heraus. Alles eilte, sich zu einem Auszug zu rüsten, von welchem wenige Augenblicke zuvor kein Mensch sich hatte träumen lassen.

Am folgenden Morgen war das ganze Volk von Abdera reisefertig. Alles was sie von ihren Habseligkeiten nicht mitnehmen [442] konnten, ließen sie ohne Bedauren in ihren Häusern, so ungeduldig waren sie an einen Ort zu ziehen, wo sie weder von Fröschen noch Mäusen mehr geplagt werden würden.

Am vierten Morgen ihrer Auswanderung begegnete ihnen der König Kassander. Man hörte das Getöse ihres Zugs von weitem, und der Staub, den sie erregten, verfinsterte das Tageslicht. Kassander befahl den Seinigen Halt zu machen, und schickte jemand aus sich zu erkundigen was es wäre.

Sire, sagte der zurückkommende Abgeschickte, es sind die Abderiten, die vor Fröschen und Mäusen nicht mehr in Abdera zu bleiben wußten, und einen andern Wohnplatz suchen.

Wenn's dies ist, so sind's gewiß die Abderiten, sagte Kassander.

Indem erschien Onokradias an der Spitze einer Deputation von Ratsmännern und Bürgern, dem König ihr Anliegen vorzutragen.

Die Sache kam Kassandern und seinen Höflingen so lustig vor, daß sie sich, mit aller ihrer Höflichkeit, nicht enthalten konnten, den Abderiten überlaut ins Gesicht zu lachen; und die Abderiten, wie sie den ganzen Hof lachen sahen, hielten es für ihre Schuldigkeit mitzulachen.

Kassander versprach ihnen seinen Schutz, und wies ihnen einen Ort an den Grenzen von Macedonien an, wo sie sich so lange aufhalten könnten, bis sie Mittel gefunden haben würden, mit den Fröschen und Ratten ihres Vaterlandes einen billigen Vergleich zu treffen.

Von dieser Zeit an weiß man wenig mehr als nichts von den Abderiten und ihren Begebenheiten. Doch ist so viel gewiß, daß sie einige Jahre nach dieser seltsamen Auswanderung (deren historische Gewißheit durch das Zeugnis des vom Justinus in einen Auszug gebrachten Geschichtschreibers Trogus Pompejus L. XV, C. 2. außer allen Zweifel gesetzt wird) wieder nach Abdera zurück gezogen. Allem Vermuten nach müssen sie die Ratten in ihren Köpfen, die sonst immer mehr Spuk darin gemacht als alle Ratten und Frösche in ihrer Stadt und Landschaft, in Macedonien zurückgelassen haben. Denn von dieser Epoche an sagt die Geschichte weiter nichts von ihnen, als daß sie, unter dem Schutze der macedonischen Könige und der Römer, verschiedene Jahrhunderte durch ein stilles und geruhiges Leben geführt; [443] und, da sie weder witziger noch dummer gewesen als andre Municipalen ihres Gleichens, den Geschichtschreibern keine Gelegenheit gegeben weder Böses noch Gutes von ihnen zu sagen.

Um übrigens unsern geneigten Lesern eine vollkommne Probe unsrer Aufrichtigkeit zu geben, wollen wir ihnen unverhalten lassen, daß – wofern der ältere Plinius und sein aufgestellter Gewährsmann Varro hierin Glauben verdienten, Abdera nicht die einzige Stadt in der Welt gewesen wäre, die von so unansehnlichen Feinden, als Frösche und Mäuse sind, ihren natürlichen Einwohnern abgejagt worden. Denn Varro soll nicht nur einer Stadt in Spanien erwähnen, die von Kaninchen, und einer andern, die von Maulwürfen zerstört worden, sondern auch einer Stadt in Gallien, deren Einwohner, wie die Abderiten, den Fröschen hätten Platz machen müssen. Allein, da Plinius weder die Stadt, welcher dies Unglück begegnet sein soll, mit Namen nennt, noch ausdrücklich sagt, aus welchem von den unzähligen Werken des gelehrten Varro er diese Anekdote genommen habe: so glauben wir der Ehrerbietung, die man diesem großen Manne schuldig ist, nicht zu nahe zu treten, wenn wir vermuten, daß sein Gedächtnis (auf dessen Treue er sich nicht selten zu viel verließ) ihm für Thracien Gallien untergeschoben habe; und daß die Stadt, von welcher beim Varro die Rede war, keine andre gewesen, als unser Abdera selbst.

Und hiemit sei dann der Gipfel auf das Denkmal gesetzt, welches wir dieser einst so berühmten und nun schon so viele Jahrhunderte lang wieder vergeßnen Republik zu errichten ohne Zweifel von einem für ihren Ruhm sorgenden Dämon angetrieben worden: nicht ohne Hoffnung, daß es, ungeachtet es aus so leichten Materialien als die seltsamen Launen und jovialischen Narrheiten der Abderiten sind, zusammengesetzt ist, so lange dauren werde, bis unsre Nation den glücklichen Zeitpunkt erreicht haben wird, wo diese Geschichte niemand mehr angehen, niemand mehr unterhalten, niemand mehr verdrießlich und niemand mehr aufgeräumt machen wird; mit einem Wort, wo die Abderiten niemand mehr ähnlich sehen, und also ihre Begebenheiten eben so unverständlich sein werden, als uns Geschichten aus einem andern Planeten sein würden: ein Zeitpunct, der nicht mehr weit entfernt sein kann, wenn die Knaben in der ersten [444] Generation des neunzehnten Jahrhunderts nur um eben so viel weiser sein werden, als die Knaben im letzten Viertel des achtzehnten sich weiser als die Männer des vorgehenden dünken oder wenn alle die Erziehungsbücher, womit wir seit zehn Jahren so reichlich beschenkt worden sind und täglich noch beschenkt werden, nur den zehnten Teil der herrlichen Wirkungen tun, die uns die wohlmeinenden Verfasser hoffen lassen.

[445][447]
Der Schlüssel zur Abderitengeschichte

Als Homers Gedichte unter den Griechen bekannt worden waren, hatte das Volk, das in vielen Dingen mit seinem schlichten Menschenverstand richtiger zu sehen pflegt als die Herren mit bewaffneten Augen, gerade Verstand genug, um zu sehen, daß in diesen großen heroischen Fabeln, ungeachtet des Wunderbaren, Abenteuerlichen und Unglaublichen, womit sie so reichlich durchwebt sind, daß eine Amme Märchen genug um ihr Kind in Schlaf zu singen daraus machen konnte, mehr Weisheit und Unterricht fürs praktische Leben liege, als in einem milesischen Ammenmärchen; und wir sehen aus Horazens Brief an Lollius, und aus dem Gebrauch, welchen Plutarch von Homers Gedichten macht und zu machen lehrt, daß noch viele Jahrhunderte nach Homer die verständigsten Weltleute unter Griechen und Römern der Meinung waren, daß man was recht und nützlich, was unrecht und schädlich sei, und wie viel ein Mann durch Tugend und Weisheit vermöge, so gut und noch besser aus Homers Fabeln lernen könne, als aus den subtilsten oder beredtesten stoischen Sittenlehrern. Man überließ es alten Kindsköpfen (denn die Jungen belehrte man eines Bessern,) an dem bloßen materiellen Teil der Dichtung kleben zu bleiben; verständige Leute fühlten und erkannten den Geist, der in diesem Leibe atmete, und ließen sichs nicht einfallen, scheiden zu wollen, was die Muse untrennbar zusammengefügt hatte, das Wahre unter der Hülle des Wunderbaren, und das Nützliche durch eine Mischungskunst, die nicht allen geoffenbart ist, vereinbart mit dem Schönen und Angenehmen.

Wie es bei allen menschlichen Dingen geht, so ging es auch hier. Nicht zufrieden, in Homers Gedichten warnende oder aufmunternde Beispiele, einen lehrreichen Spiegel des menschlichen Lebens in seinen mancherlei Ständen, Verhältnissen und Scenen zu finden, wollten die Gelehrten späterer Zeiten noch tiefer eindringen, [447] noch mehr sehen, als ihre Vorfahren; und so entdeckte man (denn was entdeckt man nicht, wenn man sichs einmal in den Kopf gesetzt hat, etwas zu entdecken) in dem was nur Beispiel war, Allegorie, in allem, sogar in den bloßen Maschinen und Decorationen des poetischen Schauplatzes, einen mystischen Sinn, und zuletzt in jeder Person, jeder Begebenheit, jedem Gemälde, jeder kleinen Fabel, Gott weiß was für Geheimnisse von hermetischer, orphischer und magischer Philosophie, an die der gute Dichter in der Unschuld seines Herzens gewiß so wenig gedacht hatte, als Virgil, daß man zwölf hundert Jahre nach seinem Tode mit seinen Versen die bösen Geister beschwören würde.

Immittelst wurde es unvermerkt zu einem wesentlichen Requisit eines epischen Gedichts (wie man die größern und heroischen poetischen Fabeln zu nennen pflegte,) daß es außer der natürlichen Sinn und der Moral, die es beim ersten Anblick darbot, noch einen andern geheimen und allegorischen haben müsse – wenigstens gewann diese Grille bei den Italiänern und Spaniern die Oberhand; und es ist mehr als lächerlich, zu sehen, was für eine undankbare Mühe sich die Ausleger oder auch wohl die Dichter selbst geben, um aus einem Amadis und Orlando, aus Trissins befreitem Italien oder Camoens Lusiade, ja sogar aus dem Adone des Marino, alle Arten von metaphysischer, politischer, moralischer, physikalischer und theologischer Allegorien herauszuspinnen. Da es nun nicht die Sache der Leser war, in diese Geheimnisse aus eigner Kraft einzudringen: so mußte man ihnen, wenn sie so herrlicher Schätze nicht verlustigt werden sollten, notwendig einen Schlüssel dazu geben; und dieser Schlüssel war eben die Exposition des allegorischen oder mystischen Sinnes; wiewohl der Dichter, gewöhnlicherweise, erst wen er mit dem ganzen Werk fertig war, daran dachte, was vor versteckte Ähnlichkeiten und Beziehungen sich etwa aus seinen Dichtungen herausholen lassen könnten.

Was bei vielen Dichtern bloße Gefälligkeit gegen eine herrschende Mode war, über welche sie sich nicht hinwegzusetzen wagten, wurde für andre wirklicher Zweck und Hauptwerk. Der berühmte Zodiacus vitae des sogenannten Palingenius, die Argenis des Barcley, die Feenkönigin des Spencer, die neue Atlantis der Dame Manley, die malabarischen Prinzessinnen, das [448] Märchen von der Tonne, die Geschichte von Johann Bull und eine Menge andrer Werke dieser Art, woran besonders das sechzehnte und siebenzehnte Jahrhundert fruchtbar gewesen ist, waren ihrer Natur und Absicht nach allegorisch, und konnten also ohne Schlüssel nicht verstanden werden, wiewohl einige derselben, z.B. Spencers Feenkönigin, und die allegorischen Satyren des D. Swift, so beschaffen sind, daß eine jede verständige und der Sachen kundige Person den Schlüssel dazu ohne fremde Beihülfe in ihrem eignen Kopfe finden kann.

Diese kurze Deduction wird mehr als hinlänglich sein, um denen, die noch nie daran gedacht haben, begreiflich zu machen, wie es zugegangen sei, daß sich unvermerkt eine Art von gemeinem Vorurteil und wahrscheinlicher Meinung in den meisten Köpfen festgesetzt hat, als ob ein jedes Buch, das einem satyrischen Roman ähnlich sieht, mit einem versteckten Sinn begabt sei, und also einen Schlüssel nötig habe. Daher hat auch der Herausgeber der gegenwärtigen Geschichte, wie er gewahr wurde, daß die meisten unter der großen Menge von Lesern, welche sein Werk zu finden die Ehre gehabt hat, sich fest überzeugt hielten, daß noch etwas mehr dahinter stecken müsse, als was die Worte beim ersten Anblick zu besagen scheinen, und also einen Schlüssel zu der Abderitengeschichte, als ein unentbehrliches Bedürfnis zu vollkommner Verständnis eines so interessanten Buches zu erhalten wünschten, sich dieses ihm häufig zu Ohren kommende Verlangen seiner werten Leser keineswegs befremden lassen; sondern er hat es im Gegenteil für eine Aufmerksamkeit die er ihnen schuldig ist gehalten, bei gegenwärtiger neuer und vollständiger Originalausgabe, demselben, so viel an ihm ist, ein Genüge zu tun, und ihnen, als einen Schlüssel oder statt des verlangten Schlüssels (welches im Grunde auf eins hinausläuft) alles mitzuteilen, was zu gründlicher Verständnis und nützlichem Gebrauch dieses zum Vergnügen aller Klugen, und zur Lehre und Züchtigung aller N**n geschriebenen Werkes, dienlich sein kann.

Zu diesem Ende findet er nötig, ihnen vor allen Dingen die Geschichte der Entstehung desselben, unverfälscht und mit den eigen Worten des Verfassers, eines zwar wenig bekannten, aber seit dem Jahr 1753 sehr stark gelesenen Schriftstellers, mitzuteilen.

[449] »Es war (so lautet sein Bericht) – es war ein schöner Herbstabend im Jahr 177*; ich befand mich allein in dem obern Stockwerk meiner Wohnung und sah – denn ich schäme mich nicht zu bekennen, wenn mir etwas menschliches begegnet – vor langer Weile zum Fenster hinaus; denn schon seit vielen Wochen hatte mich mein Genius gänzlich verlassen. Ich konnte weder denken noch lesen. Alles Feuer meines Geistes schien erloschen, alle meine Laune, gleich einem flüchtigen Salze, verduftet. Ich war dumm, aber ach! ohne an den Seligkeiten der Dummheit Teil zu haben, ohne einen einzigen Gran von dieser stolzen Zufriedenheit mit sich selbst, dieser unerschütterlichen Überzeugung, welche gewisse Leute versichert, daß alles, was sie denken, sagen, träumen und im Schlaf reden, wahr, witzig, weise, und in Marmor gegraben zu werden würdig sei – einer Überzeugung, die den echten Sohn der großen Göttin, wie ein Muttermal, kennbar und zum glücklichsten aller Menschen macht. Kurz, ich fühlte meinen Zustand, und er lag schwer auf mir; ich schüttelte mich vergebens; und es war, wie gesagt, so weit mit mir gekommen, daß ich durch ein ziemlich unbequemes kleines Fenster in die Welt hinaus guckte, ohne zu wissen was ich sah, oder etwas zu sehen, das des Wissens wert gewesen wäre. Auf einmal war mir, als höre ich eine Stimme – ob es Wahrheit oder Täuschung war, will ich nicht entscheiden – die mir zurief: setze dich und schreibe die Geschichte der Abderiten! Und plötzlich ward es Licht in meinem Kopfe. Ja, ja, dacht ich, die Abderiten! Was kann natürlicher Sein? Die Geschichte der Abderiten will ich schreiben! Wie war es doch möglich, daß mir ein so natürlicher Einfall nicht schon längst gekommen ist? Und also setzt ich mich und schrieb, und schlug nach, und compilierte, und ordnete zusammen, und schrieb wieder, und es war eine Lust zu sehen, wie mir das Werk von den Händen ging.

Indem ich nun so im besten Schreiben war, (fährt unser Verfasser in seiner treuherzigen Beichte fort,) kam mir in einem Anstoß von Capriccio, oder Laune, oder wie man's sonst nennen will, der Einfall, meiner Phantasie den Zügel schießen zu lassen, und die Sachen so weit zu treiben, als sie gehen könnten. Es betrifft ja nur die Abderiten, dacht ich, und an den Abderiten kann man sich nicht versündigen: sie sind ja doch am Ende weiter [450] nichts als ein Pack Narren; die Albernheiten, die ihnen die Geschichte zur Last legt, sind groß genug, um das Ungereimteste, was du ihnen andichten kannst, zu rechtfertigen. Ich gesteh es also unverhohlen – und wenn's unrecht war, so verzeihe mirs der Himmel! – ich strengte alle Stränge meiner Erfindungskraft bis zum Reißen an, um die Abderiten so närrisch denken, reden und sich betragen zu lassen, als es nur möglich wäre. Es ist ja schon über zweitausend Jahre, daß sie allesamt tot und begraben sind, sagte ich zu mir selbst; es kann weder ihnen noch ihrer Nachkommenschaft schaden; denn auch von die ser ist schon lange kein Gebein mehr übrig. Zu diesem allem kam noch eine andre Vorstellung, die mich durch einen gewissen Schein von Gutherzigkeit einnahm. Je närrischer ich sie mache, dachte ich, je weniger habe ich zu besorgen, daß man die Abderiten für eine Satyre halten, und Anwendungen davon auf Leute machen wird, die ich doch wohl nicht gemeint haben kann, da mir ihr Dasein nicht einmal bekannt ist. Aber ich irrte mich sehr, indem ich so schloß. Der Erfolg bewies, daß ich unschuldigerweise Abbildungen gemacht hatte, da ich nur Phantasie zu malen glaubte.«

Man muß gestehen, dies war einer der schlimmsten Streiche, die einem Autor begegnen können, der keine List in seinem Herzen hat, und, ohne irgend eine Seele ärgern oder betrüben zu wollen, bloß sich selbst und seinem Nebenmenschen die Langeweile zu vertreiben sucht. Gleichwohl war dies was dem Verfasser der Abderiten schon mit den ersten Kapiteln seines Werkleins begegnete. Es ist vielleicht keine Stadt in Deutschland, und so weit die natürlichen Grenzen der deutschen Sprachen gehen (welches, im Vorbeigehen gesagt, eine größere Strecke Landes ist, als irgend eine andre europäische Sprache inne zu haben sich rühmen kann), wo die Abderiten nicht Leser gefunden haben sollten; und wo man sie las, da wollte man die Originale zu den darin vorkommenden Bildern gesehen haben. »In tausend Orten (sagt der Verfasser) wo ich weder selbst jemals gewesen bin, noch die mindeste Bekanntschaft habe, wunderte man sich, woher ich die Abderiten, Abderitinnen und Abderitismen dieser Orte und Enden so genau kenne; und man glaubte, ich müßte schlechterdings einen geheimen Briefwechsel oder einen kleinen Cabinetsteufel haben, der mir Anekdoten zutrüge, [451] die ich mit rechten Dingen nicht hätte erfahren können. Nun wußte ich (fuhr er fort) nichts gewisser, als daß ich weder diesen noch jenen hatte: folglich war klar wie Taglicht, daß das alte Völklein der Abderiten nicht so ausgestorben war, als ich mir eingebildet hatte.«

Diese Entdeckung veranlaßte den Autor, Nachforschungen anzustellen, die er für unnötig gehalten hatte, so lange er bei Verfassung seines Werkes mehr seine eigne Phantasie und Laune als Geschichte und Urkunden zu Rate gezogen hatte. Er durchstöberte manche große und kleine Bücher ohne sonderlichen Erfolg, bis er endlich in der sechsten Dekade des berühmten Hafen Slawkenbergius p. m. 864. folgende Stelle fand, die ihm einigen Aufschluß über diese unerwartete Ereignisse zu geben schien.

»Die gute Stadt Abdera in Thracien (sagt Slawkenbergius am angeführten Orte), ehmals eine große, volkreiche, blühende Handelsstadt, das thracische Athen, die Vaterstadt eines Protagoras und Demokritus, das Paradies der Narren und der Frösche diese gute schöne Stadt Abdera – ist nicht mehr. Vergebens suchen wir sie in den Landcharten und Beschreibungen des heutigen Thraciens; sogar der Ort, wo sie ehmals gestanden, ist unbekannt, oder kann wenigstens nur durch Mutmaßungen angegeben werden. Aber nicht so die Abderiten! diese leben und weben noch immer fort, wiewohl ihr ursprünglicher Wohnsitz längst von der Erde verschwunden ist. Sie sind ein unzerstörbares, unsterbliches Völkchen; ohne irgendwo einen festen Sitz zu haben, findet man sie allenthalben; und wiewohl sie unter allen andern Völkern zerstreut leben, haben sie sich doch bis auf diesen Tag rein und unvermischt erhalten, und bleiben ihrer alten abderitischen Art und Weise so getreu, daß man einen Abderiten, wo man ihn auch antrifft, nur einen Augenblick zu sehen braucht, um eben so gewiß zu sehen und zu hören, daß er ein Abderit ist, als man es zu Frankfurt und Leipzig, Constantinopel und Aleppo einem Juden anmerkt, daß er ein Jude ist. Das Sonderbarste aber, und ein Umstand, worin sie sich von den Israeliten, Beduinen, Armeniern und allen andern unvermischten Völkern wesentlich unterscheiden, ist dieses: daß sie sich ohne mindeste Gefahr ihrer Abderitheit mit allen übrigen Erdbewohnern vermischen, und – ungeachtet sie allenthalben die Sprache des Landes, wo sie wohnen, [452] reden, Staatsverfassung, Religion und Gebräuche mit den Nichtabderiten gemein haben, auch essen und trinken, handeln und wandeln, sich kleiden und putzen, sich frisieren und parfümieren, purgieren und klysterisieren lassen, kurz, alles was zur Notdurft des menschlichen Lebens gehört ungefähr eben so machen wie andre Leute – daß sie, sage ich, nichts destoweniger in allem was sie zu Abderiten macht sich selbst so unveränderlich gleich bleiben, als ob sie von jeher durch eine diamantne Mauer, dreimal so hoch und dick als die Mauern des alten Babylons, von den vernünftigen Geschöpfen auf unserm Planeten abgesondert gewesen wären, alle andre Menschenarten verändern sich durch Verpflanzung, und zwo verschiedne Arten bringen durch Vermischung eine dritte hervor. Aber an den Abderiten, wohin sie auch verpflanzt wurden und soviel sie sich auch mit andern Völkern vermischt haben, hat man nie die geringste wesentliche Veränderung wahrnehmen können. Sie sind immer noch die nämlichen Narren die sie vor zweitausend Jahren zu Abdera waren; und wiewohl man schon längst nicht mehr sagen kann: siehe hie ist Abdera oder da ist Abdera: so ist doch in Europa, Asia, Africa und America, soweit diese große Erdviertel policiert sind, keine Stadt, kein Marktflecken, Dorf noch Dörfchen, wo nicht einige Glieder dieser unsichtbaren Genossenschaft anzutreffen sein sollten.« – So weit besagter Hafen Slawkenbergius.

»Nachdem ich diese Stelle gelesen hatte, fährt unser Verfasser fort, so hatte ich nun auf einmal den Schlüssel zu den vorbesagten Erfahrungen, die mir ersten Anblicks so unerklärbar vorgekommen waren; und so wie der Slawkenbergische Bericht das was mir mit den Abderiten begegnet war, begreiflich machte, so bestätigte dieses hinwieder die Glaubwürdigkeit von jenem. Die Abderiten hatten also einen Samen hinterlassen, der in allen Landen aufgegangen war und sich in eine sehr zahlreiche Nachkommenschaft ausgebreitet hatte; und da man beinahe allenthalben die Charaktere und Begebenheiten der alten Abderiten für Abbildungen und Anekdoten der neuen ansah: so erwies sich dadurch auch die seltsame Eigenschaft der Einförmigkeit und Unveränderlichkeit, welche dieses Volk, nach dem angeführten Zeugnis, von andern Völkern des festen Landes und der Inseln des Meeres unterscheidet. Die Nachrichten, die mir hierüber von allen [453] Orten zukamen, gereichten mir aus einem doppelten Grunde zu großem Troste: erstens, weil ich mich nun auf einmal von allem innerlichen Vorwurf den Abderiten vielleicht zuviel getan zu haben erleichtert fand; und zweitens, weil ich vernahm, daß mein Werk überall, auch von den Abderiten selbst, mit Vergnügen gelesen, und besonders die treffende Ähnlichkeit zwischen den alten und neuen bewundert werde, welche den letztern, als ein augenscheinlicher Beweis der Echtheit ihrer Abstammung, allerdings sehr schmeichelhaft sein mußte. Die Wenigen, welche sich beschwert haben sollen, daß man sie zu ähnlich geschildert habe, kommen in der Tat gegen die Menge derer die zufrieden sind in keine Betrachtung; und auch diese Wenigen täten vielleicht besser, wenn sie die Sache anders nähmen. Denn da sie, wie es scheint, nicht gerne für das angesehen sein wollen was sie sind, und sich deswegen in die Haut irgend eines edlern Tieres gesteckt haben: so erfodert die Klugheit, daß sie ihre Ohren nicht selbst hervorstrecken, um eine Aufmerksamkeit auf sich zu erregen, die nicht zu ihrem Vorteil ausfallen kann.

Auf der andern Seite aber ließ ich mir auch den Umstand, daß ich die Geschichte der alten Abderiten gleichsam unter den Augen der neuern schrieb, zu einem Beweggrund dienen, meine Einbildungskraft, die ich anfangs bloß ihrer Willkür überlassen hatte, kürzer im Zügel zu halten, mich vor allen Karikaturen sorgfältig zu hüten, und den Abderiten in allem was ich von ihnen erzählte, die strengste Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Denn ich sah mich nun als den Geschichtschreiber der Altertümer einer noch fortblühenden Familie an, welche berechtigt wäre, es übel zu vermerken, wenn man ihren Vorfahren irgend etwas ohne Grund und gegen die Wahrheit aufbürdete.«

Die Geschichte der Abderiten kann also mit gutem Grunde als eine der wahresten und zuverlässigsten, und eben darum als ein getreuer Spiegel betrachtet werden, worin die Neuern ihr Antlitz beschauen, und, wenn sie nur ehrlich gegen sich selber sein wollen, genau entdecken können, in wiefern sie ihren Vorfahren ähnlich sind. Es wäre sehr überflüssig, von dem Nutzen, den das Werk in dieser Rücksicht so lange als es noch Abderiten geben wird – und dies wird vermutlich sehr lange sein – stiften kann und muß, viele Worte zu machen. Wir bemerken also nur, daß es [454] beiläufig auch noch den Nutzen haben könnte, die Nachkömmlinge der alten Teutschen unter uns behutsamer zu machen, sich vor allem zu hüten was den Verdacht erwecken könnte, als ob sie entweder aus abderitischen Blute stammten, oder aus übertriebner Bewundrung der abderitischen Art und Kunst und daher entspringender Nachahmungssucht, sich selbst Ähnlichkeiten mit diesem Volke geben wollten, wobei sie aus vielerlei Ursachen wenig zu gewinnen hätten.

Und dies, werte Leser, wäre also der versprochne Schlüssel zu diesem merkwürdigen Originalwerke, mit beigefügter Versicherung, daß nicht das kleinste geheime Schubfach darin ist, welches Sie sich mit diesem Schlüssel nicht sollten aufschließen können; und wofern Ihnen jemand ins Ohr raunen wollte, als ob noch mehr darin verborgen sei, so können Sie sicherlich glauben, daß er entweder nicht weiß was er sagt, oder nichts Gutes im Schilde führt.


– – SAPIENTIA PRIMA EST STULTITIA CARUISSE –

Fußnoten

1 Solin. Polyhist. c. X.

2 Paläphatus in seinem Buche von Unglaublichen Dingen erklärt auf diese Weise die Fabel, daß dieser Fürst seine Pferde mit Menschenfleisch gefüttert habe, und ihnen endlich selbst vom Herkules zur Speise vorgeworfen worden sei.

3 Herodot. I. 43.

6 Juvenal. Satyr. X. v. 50.

8 Ein berühmter Sophiste von Abdera (etwas älter als Demokritus), welchen Cicero dem Hippias, Prodikus, Gorgias, und also den größten Männern seiner Profession an die Seite setzt.

9 Was hier von den Abderiten gesagt wird, erzählen andere alte Schriftsteller von der Stadt Alabandus. S. Coel. Rhodog. Lect. Ant. L. XXVI. Cap. 25.

10 Plato de Republ. L. III. Tom. opp. II. p. 398.

11 Plin. Naturgesch. B. IV.

12 Solin. C. XXX. auch Plinius, Mela, und andere Alte und Neuere, welche uns alle die Wundermenschen, von denen hier die Rede ist, für wirkliche Geschöpfe Gottes zu gehen kein Bedenken tragen.

13 Solinus aus dem Ktesias.

14 Ebenderselbe.

16 Parmenides von Elea wird für den Erfinder der Lehre von den Ideen oder wesentlichen Urbildern gehalten, welche Plato in sein System aufgenommen, und sich so eigen gemacht hat, daß man sie gewöhnlich nach seinem Namen zu nennen pflegt.

17 Ein sehr gewöhnlicher Griff der abderitischen Gelehrten und Kunstrichter.

18 Griechische Possenspiele, die mit der Opera buffa der Welschen einige Ähnlichkeit hatten, und wovon uns der Cyklops des Euripides, das einzige übrig gebliebene Stück dieser Art, einen Begriff gibt.

19 Aelian. Var. Hist. III. 36.

20 Die Athenienser hatten zu ihrem Kriege mit Megara keinen bessern Grund (wenn man dem Aristophanes glauben dürfte,) als daß etliche junge Herren von Megara, um die Entführung einer megarischen Courtisane zu rächen, ein paar junge Dirnen von der nämlichen Profession aus Aspasiens Pflanzschule entführt hatten. Aspasia vermochte alles über den Perikles, Perikles alles in Athen, und so wurde den Megarern der Krieg angekündigt. Plutarch im Leben des Perikles.

21 Ob diese Stelle, der Gasthöfe wegen, für unecht und eingeschoben zu halten sei, überläßt man dem Urteile derjenigen, welche die Rem cauponariam Veterum gründlich untersucht haben.

22 Ein fremdes Wort! Ich bitte es den Puristen ab. Aber weder Lage, noch Stellung, noch Gebärde drückt das aus was Attitüde; und so oft es uns an unentbehrlichen einheimischen Worten gebricht, werden wir wohl genötiget bleiben, fremde zu borgen. Und von wem können wir solchenfalls schicklicher borgen als von derjenigen lebenden Sprache, welche die polierteste und allgemeinste ist? So machten es die alten Römer mit der griechischen; und warum sollten deutsche Schriftsteller, mit gleicher Bescheidenheit, nicht tun dürfen, was sogar Cicero, dem seine Muttersprache so viel zu danken hatte, für erlaubt hielt?

23 Die öffentliche Ehrbarkeit diente ihnen statt eines Schleiers, sagt, ich weiß nicht welcher Alter, von den spartanischen Töchtern.

24 Frau Salabanda hat Recht. Lange vor dem Hammel der Madame Dannoy machte Lucian in seiner wahren Geschichte, und lange vor Lucian machten die griechischen Komödiendichter, Metagenes, Pherckrates, Teleklides, Krates und Kratinus, Beschreibungen vom Schlaraffenlande und vom Schlaraffenleben, worin sie sich in die Wette beeiferten, der ausschweifendsten Einbildungskraft eines neuern Märchenmachers nichts übrig zu lassen. Die kühnsten Züge im Gemälde, welches Demokritus davon macht, sind aus den Fragmenten genommen, die uns Athenäus im sechsten Buche seines Gastmahls der Sophisten davon aufbehalten hat.

25 Um denjenigen Lesern, welche weder den Diogenes Laertius, noch des Deslandes, oder Bruckers kritische Geschichte der Philosophie, noch die Compendien des Herrn Formey oder D. Büschings, gelesen haben, irrige Vermutungen zu ersparen, erinnert der Verfasser, daß alle hier vorkommende Hypothesen sich eines sehr ehrwürdigen Altertums, und zum Teil einer Menge Verfechter und Anhänger rühmen können. Die Meinung unsers Demokritus ist die einzige, welche, vermutlich bloß weil sie die vernünftigste ist, keine Secte gemacht hat.

26 Dieser Philosoph war also ein Cartesianer vor dem Cartesius.

27 Xerxes, der bei seinem Kriegszuge gegen die Griechen einige Tage zu Abdera bei dem Vater des Demokritus sein Hauptquartier gehabt, hatte den damals noch sehr jungen Demokritus lieb gewonnen, und zu dessen besserer Erziehung ein paar von den Magis, die er bei sich hatte, zurückgelassen. Diogen. Laert

28 S. Lucian im Philopseudes.

29 Epopten hießen diejenigen, welche nach ausgestandner Prüfung zum Anschauen der großen Mysterien zu Eleusis zugelassen wurden. S. Warburtont's Divine Legation Vol. I. p. 155 der 4ten Ausgabe.

30 Ein Mann, von dessen wunderbarer Leibesstärke und Gefräßigkeit die fabelhaften Graeculi erstaunliche Dinge zu erzählen wissen; z.E. daß er einen wohlgemästeten Ochsen dreihundert Schritte weit auf den Schultern getragen, und, nachdem er ihn mit einem einzigen Faustschlag tot gemacht, in einem Tage aufgegessen habe.

31 Eine der Hälfte des menschlichen Geschlechts verhaßte Sagacität – nennt dies Joh. Chrysostomus Magnenus, in seinem Leben des Demokritus.

32 Plinius, der in seiner Natur- und Kunstgeschichte Wahres und Falsches ohn Unterschied zusammengetragen hat, erzählt, im Capit. 49 seines zehnten Buchs, in ganzem Ernst: Demokritus habe in einer seiner Schriften gewisse Vögel benennet, aus deren vermischtem Blut eine Schlange entstehe, welche die Eigenschaft habe, daß derjenige, der sie esse, (ob mit Essig und Öl? sagt er nicht) von Stund an alles verstehe, was die Vögel miteinander reden. Wegen dieser und anderer ähnlicher Albernheiten, wovon (wie er sagt) die Schriften des Demokritus wimmeln, liest er ihm an einem andern Orte seines Werkes den Text sehr schulmeisterhaft. Aber Gellius (Noct. Atticar. L. X. Cap. 12.) verteidigt unsern Philosophen mit besserm Grund, als Plinius ihn verurteilt. Was konnte Demokritus dafür, daß die Abderiten dumm genug waren, alles, was er im Ernste sagte, für Ironie, und alles, was er scherzweise sagte, für Ernst zu nehmen? Oder wie konnt' er verhindern, daß nicht lange nach seinem Tode abderitische Köpfe tausend Albernheiten, an die er nie gedacht hatte, unter seinem Namen und Ansehen an andre Abderiten verkauften? Was für klägliches Zeug ließ ihn nicht erst im Jahr 1646 Magnenus in seinem Democritus redivivus sagen? Und was müssen nicht die Leute in der andern Welt von sich sagen lassen?

33 Dies ist wohl ein Irrtum des Übersetzers. Denn wer weiß nicht, daß die Truthühner dem Aristoteles selbst unbekannt waren, und unbekannt sein mußten, weil sie erst aus Westindien zu uns und in die übrigen Teile unsrer Halbkugel gekommen sind? S. Buffon Histoire naturelle des Oiseaux, T. 3. p. 187 u. f.

34 Nichts ist möglicher, als daß Sokrates wirklich einmal etwas gesagt haben konnte, das zu dieser Türlipinade Anlaß gegeben. Er durfte nur in einer Gesellschaft, wo die Rede von Größe und Kleinheit war, den Irrtum angemerkt haben, den man gewöhnlich begeht, da man von Groß und Klein als von wesentlichen Eigenschaften spricht, und nicht bedenkt, daß es bloß auf den Maßstab ankommt, ob etwas groß oder klein sein soll. Er konnte nach seiner scherzhaften Art gesagt haben: man habe Unrecht, den Sprung eines Flohs nach der attischen Elle zu messen; man müsse, um die Schnellkraft des Flohs mit derjenigen eines Luftspringers zu vergleichen, nicht den menschlichen Fuß, sondern den Flohfuß zum Maß nehmen, wenn man anders den Flöhen Gerechtigkeit widerfahren lassen wolle – und dergleichen. Nun brauchte nur ein Abderite in der Gesellschaft zu sein, so können wir sicher darauf rechnen, daß er es als eine große Ungereimtheit, die dem Philosophen entfahren sei, nach seiner eignen Art wieder erzählt haben werde; und wenn gleich Aristophanes klug genug war, zu begreifen, daß Sokrates etwas kluges gesagt hatte, so war es doch für einen Mann von seiner Profession und zu seiner Absicht, den Philosophen lächerlich zu machen, schon genug, daß man diesem Einfall eine Wendung geben konnte, wodurch er geschickt wurde, die Zwerchfelle der Athenienser, welche (den Geschmack und den Witz abgerechnet) ziemlich Abderiten waren, einen Augenblick zu erschüttern.

35 Perpetuo risu pulmonem agitare solebat Democritus. – Juvenal. Sat. X. 33.

36 De Tranquill. animi c. 15.

37 Bei allem dem erklärt sich doch Seneca bald darauf, daß es noch besser und einem weisen Manne anständiger sei, die herrschenden Sitten und Fehler der Menschen sanft und gleichmütig zu ertragen, als darüber zu lachen oder zu weinen. Mich dünkt, er hätte mit wenig Mühe finden können, daß es – noch was bessers gibt als dies Bessere. Warum immer lachen, immer weinen, immer zürnen, oder immer gleichgültig sein? Es gibt Torheiten, welche belachenswert sind; es gibt andere, die ernsthaft genug sind, um dem Menschenfreund Seufzer auszupressen; andre, die einen Heiligen zum Unwillen reizen könnten; endlich noch andre, die man der menschlichen Schwachheit zu gut halten soll. Ein weiser und guter Mann (nisi pituita molesta est, wie Horaz weislich ausbedingt,) lacht oder lächelt, bedaurt oder beweint, entschuldigt oder verzeiht, je nach dem es Personen und Sachen, Ort und Zeit mit sich bringen. Denn lachen und weinen, lieben und hassen, züchtigen und loslassen, hat seine Zeit, sagt Salomo, welcher älter, klüger und besser war als Seneca mit allen seinen Antithesen.

40 Apolog. C. 46.

41 Memorab. Socrat. Lib. 1. Cap. 3. Num. 14.

42 Brucker; vom Magnenus, der den Demokritus nach seiner eignen Phantasie raisonnieren und deraisonnieren läßt, nichts zu sagen!

43 Bruck. Histor. Crit. Philos. T. 1. p. 1190.

44 Hier scheint sich eine Unrichtigkeit in den Text eingeschlichen zu haben. Der Pfau war vor Alexanders Eroberung des persischen Reiches ein unbekannter Vogel in Griechenland. Und da er nachmals aus Asien nach Europa überging, war er anfangs so selten, daß man ihn zu Athen um Geld sehen ließ. Jedoch wurde er in kurzer Zeit (nach dem Ausdruck des Komödienschreibers Antiphanes) so gemein als die Wachteln. In der üppigen Epoche von Rom wurde deren eine unendliche Menge daselbst erzogen, und der Pfau machte ein vorzügliches Gerichte auf den römischen Tafeln aus. Woher der Herr von Büffon genommen hat, daß die Griechen keine Pfauen gegessen, weiß ich nicht; das Gegenteil hätte ihm eine Stelle aus dem Poeten Alexis beim Athenäus beweisen können. Indessen wäre doch, wenn es vor Alexandern keine Pfauen in Europa gegeben hätte, gewiß, daß Demokritus dem Priester Strobylus keinen gebratnen Pfauen hätte schicken können; man müßte denn voraussetzen, daß dieser Naturforscher unter andern Seltenheiten auch Pfauen aus Indien mitgebracht hätte. Und warum sollte man dies nicht voraussetzen können? Im Notfall könnten uns auch die alten samischen Münzen, auf denen man neben der Juno einen Pfau abgebildet sieht, aus der Schwierigkeit helfen – wenn es der Mühe wert wäre.

45 Eine persische Goldmünze, die von Cyaxares 11, oder Darius aus Medien, nach der Eroberung Babylons zuerst soll geschlagen worden sein.

46 Wie ungleich sich doch das nämliche Factum erzählen läßt. Von eben dieser Tat, die unser Sykophant für den vollständigsten Beweis eines verrückten Gehirnes hält, spricht Plinius als von einer höchst edeln und der Philosophie Ehre machenden Handlung. Demokritus war viel zu gutherzig, um sich auf Unkosten andrer, die nicht so viel entbehren konnten wie er, bereichern zu wollen. Ihre ängstliche Unruhe und Verzweiflung, einen so großen Gewinnst verfehlt zu haben, rührte ihn; er gab ihnen ihr Öl, oder das daraus gelöste Geld zurück, und begnügte sich, den Abderiten gezeigt zu haben, daß es nur von ihm abhange, Reichtümer zu erwerben, wenn er es für der Mühe wert hielte. In diesem Lichte sieht Plinius die Sache an; und in der Tat muß man ein Abderite, ein Sykophant, und ein Schurke zugleich sein, um so wie unser Sykophant davon zu sprechen.

47 Es befindet sich noch etwas unter dieser Rubrik in den Ausgaben der Werke des Hippokrates. Es ist aber ohne allen Zweifel untergeschoben, und die Arbeit irgend eines schalen Gräculus späterer Zeiten; so wie die ganze Erzählung von der Zusammenkunft dieses Arztes mit dem Demokritus in einem der unechten Briefe, die den Namen des erstern führen.

48 Denen, welche sich etwan hierüber verwundern möchten, dienet zur Nachricht, daß die Lorgnetten damals noch nicht erfunden waren.

49 Zum Unglück sind alle seine Werke verloren gegangen. V. Recherches sur Hecatée de Milet, Tom. IX. des Mém. de Litterat.

50 Ovid. Metamorph. L. V, v. 218.

52 Es nannte sich Eugamia, oder die vierfache Braut. Eugamia war von ihrem Vater an einen, von der Mutter an den andern, und von einer Tante, an deren Erbschaft ihr gelegen war, an den dritten Mann versprochen worden. Am Ende kam heraus, daß das voreilige Mädchen sich selbst in aller Stille bereits an einen vierten verschenkt hatte.

55 Ein Ausdruck, der vor kurzem von einem französischen Schriftsteller bei einer solchen Gelegenheit gebraucht worden ist, daß er nun für unwiederbringlich ruiniert angesehen werden kann, und allein noch in einem Possenspiel auszustehen ist.

58 Es ist bekannt, daß dieses häßliche Laster dem Euripides, wiewohl unverdienter Weise, Schuld gegeben wurde.

59 Der Ratsherr war einer von den Fürsorgern des geheiligten Froschgrabens, welches in Abdera eine sehr ansehnliche Stelle war. Man nannte sie die Batrachotrophen, welches zu deutsch sehr füglich durch Froschpfleger gegeben werden kann.

62 Der Apostel Paul bedient sich des von diesem Worte abgeleiteten Beiworts, da er die Athenienser, ironischer oder wenigstens zweideutiger Weise, wegen ihrer unbegrenzten Religiosität zu loben scheint. Apost. Gesch. XVII. 22. Man könnte es Götterfurcht oder Dämonenfurcht übersetzen.

63 Es versteht sich von selbst, daß der Dichter das Seinige getan haben muß, um die Illusion zu bewirken und zu unterhalten; denn sonst hat er freilich kein Recht, von uns zu verlangen, daß wir, ihm zu gefallen, tun sollen, als ob wir sähen, was er uns nicht zeigt, fühlten, was er uns nicht fühlen macht, u.s.w.

64 Aufrichtig zu reden, dieser Vers ist der einzige rührende in dem ganzen Fragment der Rede des Perseus, das zufälliger Weise noch vorhanden ist, wie unsre des Griechischen kundige Leser selbst urteilen mögen – denn so lauten die Worte:

Αλλ' ω τυραννε Θεων τε κανϑρωπων, Ερως,

Η μη διδασκε τα κακα φαινεϑαι καλα,

Η τοι ερωσιν, ών συ δημιουργος ει,

Μοχϑουσι μαχϑους ευτυχως συνεκπονει, κ. τ. λ.

65 Wir wissen wohl daß dies nicht à la grecque gesprochen ist; aber die Dame Struthion ist wie Frau Damon in unsern Komödien: und was liegt dem Leser daran, wie die Zahnärztin mit ihrem eigenen Namen geheißen haben mag


Notes
Erstdruck in: Teutscher Merkur (Weimar), H. 1–3, 1774. Hier in der Fassung von 1781.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Geschichte der Abderiten. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A6B9-8