Christoph Martin Wieland
Der goldne Spiegel
oder
Die Könige von Scheschian
Eine wahre Geschichte
aus dem Scheschianischen übersetzt

[Motto]

– – Inspicere tanquam
In speculum jubeo –

[7] Zueignungsschrift des sinesischen Übersetzers an den Kaiser Tai-Tsu
Glorwürdigster Sohn des Himmels!

Ihrer Majestät lebhaftestes Verlangen ist Ihre Völker glücklich zu sehen. Dies ist das einzige Ziel Ihrer unermüdeten Bemühungen; es ist der große Gegenstand Ihrer Beratschlagungen, der Inhalt Ihrer Gesetze und Befehle, die Seele aller löblichen Unternehmungen, die Sie anfangen und – ausführen, und das, was Sie von allem Bösen abhält, welches Sie nach dem Beispiel andrer Großen der Welt tun könnten, und – nicht tun.

Wie glücklich müßten Sie selbst sein, Bester der Könige, wenn es gleich leicht wäre, ein Volk glücklich zu wünschen, und es glücklich zumachen! wenn Sie, wie der König des Himmels, nur wollen dürften, um zu vollbringen, nur sprechen, um Ihre Gedanken in Werke verwandelt zu sehen!

Aber wie unglücklich würden Sie vielleicht auch sein, wenn Sie wissen sollten, in welcher Entfernung, bei allen Ihren Bemühungen, die Ausführung hinter Ihren Wünschen zurück bleibt! Die unzählige Menge der Gehilfen von so mancherlei Klassen, Ordnungen und Arten, unter welche Sie genötiget sind Ihre Macht zu verteilen, weil auch den unumschränktesten Monarchen die Menschheit Schranken setzt; die Notwendigkeit, sich beinahe in allem auf die Werkzeuge Ihrer wohltätigen Wirksamkeit verlassen zu müssen, macht Sie – erschrecken Sie nicht vor einer unangenehmen aber heilsamen Wahrheit! – macht Sie zum abhänglichsten aller Bewohner Ihres unermeßlichen Reiches. Nur zu oft steht es in der Gewalt eines Ehrgeizigen, eines Heuchlers, eines Rachgierigen, eines Unersättlichen, – doch, wozu häufe ich die Namen der Leidenschaften und Laster, da ich sie alle in Einem Worte zusammen fassen kann? eines Menschen – in Ihrem geheiligten Namen gerade das Gegenteil von Ihrem Willen zu tun! An jedem Tage, in jeder Stunde, beinahe dürft ich sagen in jedem Augenblick Ihrer Regierung, wird in dem weiten Umfang Ihrer zahlreichen Provinzen irgend eine Ungerechtigkeit ausgeübt, ein Gesetz verdreht, ein Befehl übertrieben oder ihm ausgewichen, ein Unschuldiger unterdrückt, ein Waise beraubt, ein [7] Verdienstloser befördert, ein Bösewicht geschützt, die Tugend abgeschreckt, das Laster aufgemuntert.

Was für ein Ausdruck von Entsetzen würde mir aus den Blicken Ihrer Höflinge entgegen starren, wenn sie mich so verwegen reden hörten! Wie sollt es möglich sein, daß unter einem so guten Fürsten das Laster sein Haupt so kühn empor heben, und ungestraft so viel Böses tun dürfte? Die bloße Voraussetzung einer solchen Möglichkeit scheint eine Beleidigung Ihres Ruhmes, eine Beschimpfung Ihrer glorreichen Regierung zu sein. – Vergeben Sie, Gnädigster Oberherr! Ungestraft, aber nicht öffentlich und triumphierend, hebt das Laster sein Haupt empor; denn das Angesicht, das es zeigt, ist nicht sein eigenes; es nimmt die Gestalt der Gerechtigkeit, der Gnade, des Eifers für Religion und Sitten, der Wohlmeinung mit dem Fürsten und dem Staate, kurz die Gestalt jeder Tugend an, von welcher es der ewige Feind und Zerstörer ist. Seine Geschicklichkeit in dieser Zauberkunst ist unerschöpflich, und kaum ist es möglich, daß die Weisheit des besten Fürsten sich gegen ihre Täuschungen hinlänglich verwahren könnte. Ihre Majestät glaubten vielleicht das Urteil eines Übeltäters zu unterschreiben, und unterschrieben den Sturz eines Tugendhaften, dessen Verdienste sein einziges Verbrechen waren. Sie glaubten einen ehrlichen Mann zu befördern, und beförderten einen schändlichen Gleisner. Doch, dies sind Wahrheiten, wovon Sie nur zu sehr überzeugt sind. Sie beklagen das unglückliche Los Ihres Standes. Wem soll man glauben? Tugend und Laster, Wahrheit und Betrug haben einerlei Gesicht, reden einerlei Sprache, tragen einerlei Farbe; ja, der feine Betrüger (das schädlichste unter allen schädlichen Geschöpfen) weiß das äußerliche Ansehen gesunder Grundsätze und untadeliger Sitten gemeiniglich besser zu behaupten als der redliche Mann. Jener ist es, der die Kunst ausgelernt hat, seine Leidenschaften in die innersten Höhlen seines schwarzen Herzens zu verschließen, der am besten schmeicheln, am behendesten sich jeder Vorteile bedienen kann, die ihm die schwache Seite seines Gegenstandes zeigt. Seine Gefälligkeit, seine Selbstverleugnung, seine Tugend, seine Religion kostet ihm nichts; denn sie ist nur auf seinen Lippen, und in den äußerlichen Bewegungen, die sein Inwendiges verbergen: er hält sich reichlich für seine Verstellung entschädiget, indem er unter dieser Maske jeder bösartigen Leidenschaft genug tun, jeden niederträchtigen Anschlag ausführen, und mit einer ehernen Stirne noch Belohnung für seine Übeltaten fodern kann. Ist es zu verwundern, o Sohn des Himmels, daß so viele sind, die alle andere Talente verabsäumen, alle rechtmäßige und edle[8] Wege zu Ansehen und Glück vorbei gehen, und mit aller ihrer Fähigkeit allein dahin sich bestreben, es in der Kunst zu betrügen zur Vollkommenheit zu bringen?

Aber wie? Sollte der Fürst, der die Wahrheit liebt, wiewohl auf allen Seiten mit Larven und Blendwerken umgeben, verzweifeln müssen, jemals ihr unverfälschtes Antlitz von dem geschminkten Betrug unterscheiden zu können? Das verhüte der Himmel! Wer die Wahrheit aufrichtig liebt (und was kann ohne sie liebenswürdig sein?), wer auch als dann sie liebt, wenn sie nicht schmeichelt, der hat nur geübte Augen vonnöten, um ihre feineren Züge zu unterscheiden, welche selten so gut nachgemacht werden können, daß die Kunst sich nicht verraten sollte. Und um diese geübten Augen zu bekommen – ohne welche das beste Herz uns nur desto gewisser und öfter der arglistigen Verführung in die Hände liefert –, ist kein bewährteres Mittel, als die Geschichte der Weisheit und der Torheit, der Meinungen und der Leidenschaften, der Wahrheit und des Betrugs, in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechts auszuforschen. In diesen getreuen Spiegeln erblicken wir Menschen, Sitten und Zeiten, entblößt von allem demjenigen, was unser Urteil zu verfälschen pflegt, wenn wir selbst in das verwickelte Gewebe des gegenwärtigen Schauspiels eingeflochten sind. Oder, wofern auch Einfalt oder List, Leidenschaften oder Vorurteile geschäftig gewesen sind uns zu hintergehen: so ist nichts leichter, als den falsch gefärbten Duft wegzuwischen, womit sie die wahre Farbe der Gegenstände überzogen haben.

Die echtesten Quellen der Geschichte der menschlichen Torheiten sind die Schriften derjenigen, welche die eifrigsten Beförderer dieser Torheiten waren. Der Mißbrauch, den sie von der Bedeutung der Wörter machen, betrügt unser Urteil nicht: sie mögen immer hin widersinnige Dinge mit der gelassensten Ernsthaftigkeit erzählen, selbst noch so stark davon überzeugt sein, oder überzeugt zu sein scheinen; dies hindert uns nicht, lächerlich zu finden was den allgemeinen Menschenverstand zum Toren machen will. Immerhin mag ein von sich selbst betrogener Schwärmer die Natur der sittlichen Dinge verkehren wollen, und lasterhafte, ungerechte, unmenschliche Handlungen löblich, heroisch, göttlich nennen, rechtmäßige und unschuldige hingegen mit den verhaßtesten Namen belegen: nach Verfluß einiger Jahrhunderte kostet es keine Mühe, durch den magischen Nebel, der den Schwärmer blendete, hindurch zu sehen. Kon-Fu-Tsee könnte ihm ein Betrüger, und Lao-Kiun ein weiser Mann heißen: sein Urteil würde die Natur der Sache, und die [9] Eindrücke, welche sie auf eine unbefangene Seele machen muß, nicht ändern; der Charakter und die Handlungen dieser Männer würden uns belehren, was wir von ihnen zu halten hätten.

Aus diesem Grund empfehlen uns die ehrwürdigen Lehrer unsrer Nation die Geschichte der ältern Zeiten als die beste Schule der Sittenlehre und der Staatsklugheit, als die lauterste Quelle dieser erhabenen Philosophie, welche ihre Schüler weise und unabhängig macht, und, indem sie das was die menschlichen Dinge scheinen von dem was sie sind, ihren eingebildeten Wert von dem wirklichen, ihr Verhältnis gegen das allgemeine Beste von ihrer Beziehung auf den besondern Eigennutz der Leidenschaften, unterscheiden lehrt, uns ein untrügliches Mittel wider Selbstbetrug und Ansteckung mit fremder Torheit darbietet; einer Philosophie, in welcher niemand ohne Nachteil ganz ein Fremdling sein kann, aber welche, in vorzüglichem Verstande, die Wissenschaft der Könige ist.

Überzeugt von dieser Wahrheit widmen Sie, Bester der Könige, einen Teil der Stunden, welche die unmittelbare Ausübung Ihres verehrungswürdigen Amtes Ihnen übrig läßt, der nützlichen und ergetzenden Beschäftigung, Sich mit den Merkwürdigkeiten der vergangenen Zeiten bekannt zu machen, die Veränderungen der Staaten in den Menschen, die Menschen in ihren Handlungen, die Handlungen in den Meinungen und Leidenschaften, und in dem Zusammenhang aller dieser Ursachen den Grund des Glückes und des Elendes der menschlichen Gattung zu erforschen.

Irre ich nicht, so ist die Geschichte der Könige von Scheschian, welche ich hier zu Ihrer Majestät Füßen lege, nicht ganz unwürdig, unter die ernsthaften Ergetzungen aufgenommen zu werden, bei welchen Ihr niemals untätiger Geist von der Ermüdung höherer Geschäfte auszuruhen pflegt. Große, dem ganzen Menschengeschlecht angelegene Wahrheiten, merkwürdige Zeitpunkte, lehrreiche Beispiele, und eine getreue Abschilderung der Irrungen und Ausschweifungen des menschlichen Verstandes und Herzens, scheinen mir diese Geschichte vor vielen andern ihrer Art auszuzeichnen, und ihr den Titel zu verdienen, womit das hohe Ober-Polizei-Gericht von Sina sie beehrt hat; eines Spiegels, worin sich die natürlichen Folgen der Weisheit und der Torheit in einem so starken Lichte, mit so deutlichen Zügen und mit so warmen Farben darstellen, daß derjenige in einem seltenen Grade weise und gut – oder töricht und verdorben sein müßte, der durch den Gebrauch desselben nicht weiser und besser sollte werden können.

Hingerissen von der Begierde, den Augenblick von Dasein, den [10] uns die Natur auf diesem Schauplatze bewilliget, wenigstens mit einem Merkmale meines guten Willens für meine Nebengeschöpfe zu bezeichnen, hab ich mich der Arbeit unterzogen, dieses merkwürdige Stück alter Geschichte aus der indischen Sprache in die unsrige überzutragen; und in dieses Bewußtsein einer redlichen Gesinnung eingehüllt, überlaß ich dieses Buch und mich selbst dem Schicksale, dessen Unvermeidlichkeit mehr Tröstendes als Schreckendes für den Weisen hat; ruhig unter dem Schutz eines Königs, der die Wahrheit liebt und die Tugend ehrt, glücklich durch die Freundschaft der Besten unter meinen Zeitgenossen, und so gleichgültig, als es ein Sterblicher sein kann, gegen – – –[11] [13]1

Einleitung

Alle Welt kennt den berühmten Sultan von Indien,Schach-Riar, der, aus einer wunderlichen Eifersucht über die Negern seines Hofes, alle Nächte eine Gemahlin nahm, und alle Morgen eine erdrosseln ließ; und der so gern Märchen erzählen hörte, daß ihm intausend und einer Nacht kein einziges Mal einfiel, die unerschöpfliche Scheherezade durch irgend eine Ausrufung, Frage oder Liebkosung zu unterbrechen, so viele Gelegenheit sie ihm auch dazu zu geben beflissen war.

Ein so unüberwindliches Phlegma war nicht die Tugend oder der Fehler seines Enkels Schach-Baham, der (wie jedermann weiß) durch die weisen und scharfsinnigen Anmerkungen, womit er die Erzählungen seiner Visire zu würzen pflegte, ungleich berühmter in der Geschichte geworden ist, als sein erlauchter Großvater durch sein Stillschweigen und seine Untätigkeit. Schach-Riar gab seinen Höflingen Ursache, eine große Meinung von demjenigen zu fassen, was er hätte sagen können, wenn er nicht geschwiegen hätte; aber sein Enkel hinterließ den Ruhm, daß es unmöglich sei, und ewig unmöglich bleiben werde, solche Anmerkungen oder Reflexionen (wie er sie zu nennen geruhte) zu machen wie Schach-Baham.

Wir haben uns alle Mühe gegeben die Ursache zu entdecken, warum die Schriftsteller, denen wir das Leben und die Taten dieser beiden Sultanen zu danken haben, von Schach-Riars Sohne, dem Vater Schach-Bahams, mit keinem Wort Erwähnung tun: aber wir sind nicht so glücklich gewesen einen andern Grund davon ausfündig zu machen, als – weil sich in der Tat nichts von ihm sagen ließ. Der einzige Chronikschreiber, der seiner gedenkt, läßt sich also vernehmen: »Sultan Lolo«, sagt er, »vegetierte einundsechzig Jahre. Er aß täglich viermal mit bewundernswürdigem Appetit, und außer diesem, und einer sehr zärtlichen Liebe zu seinen Katzen, hat man niemals einige besondere Neigung zu etwas an ihm wahrnehmen können. Die Derwischen und die Katzen sind die einzigen Geschöpfe in der Welt, welche Ursache haben, sein Andenken zu segnen. Denn er ließ, ohne jemals recht zu wissen warum, zwölfhundertundsechsunddreißig neue Derwischereien, jede zu sechzig Mann, in seinen Staaten erbauen; machte in allen größern Städten des indostanischen Reiches Stiftungen, worin eine gewisse Anzahl Katzen [13] verpflegt werden mußte; und sorgte für diese und jene so gut, daß man in ganz Asien keine fettern Derwischen und Katzen sieht, als die von seiner Stiftung. 2 Er zeugte übrigens zwischen Wachen und Schlaf einen Sohn, der ihm unter dem Namen Schach-Baham in der Regierung folgte, und starb an einer Unverdaulichkeit.« So weit dieser Chronikschreiber, der einzige, der von SultanLolo Meldung tut; und, in der Tat, wir besorgen, was er von ihm sagt, ist noch schlimmer als gar nichts.

Sein Sohn Schach-Baham hatte das Glück bis in sein vierzehntes Jahr von einer Amme erzogen zu werden, deren Mutter eben dieses ehrenvolle Amt bei der unnachahmlichen Scheherezade verwaltet hatte. Alle Umstände mußten sich vereinigen, diesen Prinzen zum unmäßigsten Liebhaber von Märchen, den man je gekannt hat, zu machen. Nicht genug, daß ihm der Geschmack daran mit der ersten Nahrung eingeflößt, und der Grund seiner Erziehung mit den weltberühmten Märchen seiner Großmutter gelegt wurde: das Schicksal sorgte auch dafür, ihm einen Hofmeister zu geben, der sich in den Kopf gesetzt hatte, daß die ganze Weisheit der Ägypter, Chaldäer und Griechen in Märchen eingewickelt liege.

Es herrschte damals die löbliche Gewohnheit in Indien, sich einzubilden, der Sohn eines Sultans, Rajas, Omras, oder irgend eines andern ehrlichen Mannes von Ansehen und Vermögen, könne von niemand als von einem Fakir erzogen werden. Wo man einen jungen Menschen von Geburt erblickte, durfte man sicher darauf rechnen, daß ihm ein Fakir an der Seite hing, der auf alle seine Schritte, Reden, Mienen und Gebärden Acht haben, und sorgfältig verhüten mußte, daß der junge Herr nicht – zu vernünftig werde. Denn es war eine durchgängig angenommene Meinung, daß einer starken [14] Leibesbeschaffenheit, einer guten Verdauung, und der Fähigkeit sein Glück zu machen, nichts so nachteilig sei, als viel denken und viel wissen; und man muß es den Derwischen, Fakirn, Santonen, Braminen, Bonzen und Talapoinen der damaligen Zeiten nachrühmen, daß sie kein Mittel unversucht ließen, die Völker um den Indus und Ganges vor einem so schädlichen Übermaße zu bewahren. Es war einer von ihren Grundsätzen, gegen die es gefährlich war Zweifel zu erregen: Niemand müsse klüger sein wollen als seine Großmutter.

Man wird nun begreifen, wie Schach-Baham bei solchen Umständen ungefähr der Mann werden mußte, der er war. Man hat bisher geglaubt, die einsichtsvollen Betrachtungen, die abgebrochenen und mit viel bedeutenden Mienen begleiteten – »das dacht ich gleich« – »ich sage nichts, aber ich weiß wohl was ich weiß« – oder, »doch was kümmert das mich?« und andre dergleichen weise Sprüche, an denen er einen eben so großen Überfluß hat als Sancho Pansa an Sprichwörtern –, nebst seinem Widerwillen gegen das, was er Moral, und Empfindung spinnen nennt, wären bloße Wirkungen seines Genies gewesen. Aber einem jeden das Seine! Man kann sicher glauben, daß der Fakir, sein Hofmeister, keinen geringen Anteil daran hatte.

Der Sohn und Erbe dieses würdigen Sultans,Schach-Dolka, glich seinem Vater an Fähigkeit und Neigungen beinahe in allen Stücken, ein einziges ausgenommen. Er war nämlich ein erklärter Feind von allem, was einem Märchen gleich sah, und setzte diesem Haß um so weniger Grenzen, da er bei Lebzeiten des Sultans seines Vaters genötiget gewesen war, ihn aufs sorgfältigste zu verbergen. Wir würden uns, nach dem Beispiele vieler berühmter Schriftsteller, über diese Ausartung gar sehr verwundern, wenn uns nicht deuchte, daß es ganz natürlich damit zugegangen sei. Sultan Dolka hatte in dem Zimmer der Sultanin seiner Mama (wo Schach-Baham die Abende mit Papierausschneiden, und Anhören lehrreicher Historien von beseelten Sofas, politischen Bals, und empfindsamen Gänschen in rosenfarbem Domino, zuzubringen pflegte) von seiner Kindheit an so viele Märchen zu sich nehmen müssen, daß er sich endlich einen Ekel daran gehört hatte. Dies war das ganze Geheimnis; und uns deucht, es ist nichts darin, worüber man sich so sehr zu verwundern Ursache hätte.

Vermutlich ist aus dieser tödlichen Abneigung vor den Erzählungen des Visirs Moslem die außerordentliche Ungnade zu erklären, welche er auf die Philosophie, und überhaupt auf alle Bücher, sie mochten auf Pergament oder Palmblätter geschrieben sein, geworfen [15] hatte; eine Ungnade, die so weit ging, daß er nur mit der äußersten Schwierigkeit zurück gehalten werden konnte, nicht etwa bloß die Poeten (wie Plato), sondern alle Leute, welche lesen und schreiben konnten, aus seiner Republik zu verbannen; selbst die Mathematiker und Sterngucker nicht ausgenommen, welche ihm wegen der aerometrischen und astronomischen Erfindungen des Königs Strauß im Herzen zuwider waren. Man sagt von ihm, als der vorbelobte Visir die Geschichte des Krieges zwischen dem Genie Grüner als Gras und dem Könige der grünen Länder in seiner Gegenwart erzählt habe, hätte der junge Prinz, der damals kaum siebzehn Jahre alt war, bei der Stelle, wo der Perückenkopf einen der vollständigsten Siege über den König Strauß erhält, sich nicht enthalten können auszurufen: »Das soll mir niemand weismachen, daß jemals ein Perückenkopf den Verstand gehabt hätte, eine Armee zu kommandieren!« – Eine Anmerkung, welche (wie man denken kann) von allen Anwesenden begierig aufgefaßt wurde, und, als ein frühzeitiger Ausbruch eines seltnen Verstandes an einem noch so zarten Prinzen, mit schuldiger Bewunderung am ganzen Hofe widerschallte.

Schach-Dolka rechtfertigte die Hoffnung, welche man sich nach solchen Anzeigungen von seinen künftigen Eigenschaften machte, auf die außerordentlichste Weise. Der Neid selbst mußte gestehen, daß er seinen Voreltern Ehre machte. Er war der größte Mann seiner Zeit Distelfinken abzurichten; und in der Kunst Mäuse aus Äpfelkernen zu schneiden hat die Welt bis auf den heutigen Tag seinesgleichen nicht gesehen. Durch einen unermüdeten Fleiß 3 bracht er es in dieser schönen Kunst so hoch, daß er alle Arten von Mäusen, als Hausmäuse, Feldmäuse, Waldmäuse, Haselmäuse, Spitzmäuse, Wassermäuse und Fledermäuse, auch Ratten, Maulwürfe und Murmeltiere, mit ihren gehörigen Unterscheidungszeichen, in der äußersten Vollkommenheit verfertigte; ja, wenn man dem berühmten Schek Hamet Ben Feridun Abu Hassan glauben darf, so beobachtete er sogar die Proportionen [16] nach dem verjüngten Maßstabe mit aller der Genauigkeit, womit Herr Daubenton in seiner Beschreibung des königlichen Naturalienkabinetts zu Paris sie zu bestimmen sich die löbliche Mühe gegeben hat.

Außerdem wurde Schach-Dolka für einen der besten Kuchenbäcker seiner Zeit gehalten, wenn ihm anders seine Hofleute in diesem Stücke nicht geschmeichelt haben; und man rühmt als einen Beweis seiner ungemeinen Leutseligkeit, daß er sich ein unverbrüchliches Gesetz daraus gemacht habe, an allen hohen Festen seinen ganzen Hof mit kleinen Rahmpastetchen von seiner eigenen Erfindung und Arbeit zu bewirten. Niemals hat man einen Sultan mit Geschäften so überhäuft gesehen, als es der arme Dolka in dem ganzen Laufe seiner Regierung war. Denn da alle Könige und Fürsten gegen Morgen und Abend so glücklich sein wollten, einige Mäuse von seiner Arbeit in ihren Kunstkabinetten, oder einen Finken aus seiner Schule in ihrem Vorzimmer zu haben; und da Schach-Dolka teils aus Gefälligkeit, teils in Rücksicht auf das launische Ding, das man Ratio status nennt, niemand vor den Kopf stoßen wollte: so hatte er wirklich (die Stunden, die er im Divan verlieren mußte, mit eingezählt) vom Morgen bis in die Nacht so viel zu tun, daß er kaum zu Atem kommen konnte.

Der Himmel weiß, ob jemals ein anderes Volk das Glück hatte, mit vier Prinzen, wie Schach-Riar, Schach-Lolo, Schach-Baham und Schach-Dolka waren, in einer unmittelbaren Folge gesegnet zu werden. »O! O! die guten Herren! die goldnen Zeiten!« – riefen ihre Omras und Derwischen.

Allein diese wackern Leute können doch auch nicht verlangen, daß es immer nach ihrem Sinne gehen solle. Schach-Gebal, ein Bruderssohn Bahams desWeisen (wie ihn seine Lobredner nannten), welcher seinem Vetter in Ermanglung eines Leibeserben folgte – denn Dolka hatte vor lauter Arbeit keine Zeit gehabt an diese Sache zu denken –, dieser Schach-Gebal unterbrach eine so schöne Folge von gekrönten guten Männern, und regierte bald so gut, bald so schlecht, daß weder die Bösen noch die Guten mit ihm zufrieden waren.

Wir wissen nicht, ob ein Charakter wie der seinige unter regierenden Herren so selten ist, als die Feinde seines Ruhms behaupten. Aber so viel können wir mit gutem Grunde sagen: daß, wenn weder der Adel noch die Priester noch die Gelehrten noch das Volk mit seiner Regierung zufrieden waren, – Adel, Priester, Gelehrte und Volk nicht immer so ganz Unrecht hatten.

[17] Um eine Art von Gleichgewicht unter diesen Ständen zu erhalten, beleidigte er wechselsweise bald diesen bald jenen, und der weise Pilpai selbst hätte ihm nicht ausreden können, daß man Beleidigungen durch Wohltaten nicht wieder gut machen könne. In beiden pflegte er so wenig Maß zu halten, so wenig Rücksicht auf Umstände und Folgen zu nehmen, so wenig nach Grundsätzen und nach einem festen Plane zu verfahren, daß er meistens immer den Vorteil verlor, den er sich dabei vorsetzte. Man wußte so viele Beispiele anzuführen, wo er seine besten Freunde mißhandelt hatte, um die übelgesinntesten Leute mit Gnaden zu überhäufen, daß es endlich zu einer angenommenen Maxime wurde, es sei nützlicher sein Feind zu sein als sein Freund. Jene konnten ihn ungestraft beleidigen, weil er schwach genug war sie zu fürchten: diesen übersah er auch nicht den kleinsten Fehltritt. Jene konnten eine Reihe strafwürdiger Handlungen durch eine einzige Gefälligkeit gegen seine Leidenschaften oder Einfälle wieder gut machen: diesen half es nichts ihm zwanzig Jahre lang die stärksten Proben von Treue und Anhänglichkeit gegeben zu haben, wenn sie am ersten Tage des einundzwanzigsten das Unglück hatten, sich durch irgend ein nichtsbedeutendes Versehen seinen Unwillen zuzuziehen.

Den Priestern soll er überhaupt nicht sehr hold gewesen sein; wenigstens kann man nicht leugnen, daß die Derwischen, Fakirn und Kalender, welche er nur die Hummeln seines Staats zu nennen pflegte, der gewöhnlichste Gegenstand seiner bittersten Spöttereien waren. Er neckte und plagte sie bei jeder Gelegenheit; aber weil er sie für gefährliche Leute hielt, so fürchtete er sie, und weil er sie fürchtete, so fand er selten so viel Mut in sich, ihnen etwas abzuschlagen. Der ganze Vorteil, den er von diesem Betragen zog, war, daß sie sich ihm für seine Gefälligkeiten wenig verbunden achteten, weil sie gar zu wohl wußten, wie wenig sein guter Wille Anteil daran hatte. Sie rächten sich für die unschädliche Verachtung, die er ihnen zeigte, durch den Verdruß, den sie ihm bei hundert bedeutenden Gelegenheiten durch ihre geheimen Ränke und Aufstiftungen zu machen wußten. Sein Haß gegen sie wurde dadurch immer frisch erhalten; aber die Schlauköpfe hatten ausfündig gemacht, daß er sie fürchte; und diese Wahrnehmung wußten sie so wohl zu benutzen, daß ihnen seine wärmste Zuneigung, kaum einträglicher gewesen wäre. Sie hatten die Klugheit, wenig oder keine Empfindlichkeit über die kleinen Freiheiten zu zeigen, die man sich unter seiner Regierung mit ihnen heraus nehmen durfte. Man mag von uns sagen was man will, dachten sie, wenn wir nur tun dürfen was wir wollen.

[18] Schach-Gebal hatte weniger Leidenschaften als Aufwallungen. Er war ein Feind von allem, was anhaltende Aufmerksamkeit und Anstrengung des Geistes erfoderte. Wenn dasjenige, was seine Hofleute die Lebhaftigkeit seines Geistes nannten, nicht allezeit Witz war, so weiß man, daß es bei einem Sultan so genau nicht genommen wird: aber er wußte doch den Witz bei andern zu schätzen; und so tödlich er die langen Reden seines Kanzlers haßte, so hatte er doch Augenblicke, wo man ihm scherzend auch wenig schmeichelnde Wahrheiten sagen durfte. Er wollte immer von aufgeweckten Geistern umgeben sein. Ein schimmernder Einfall hieß ihm allezeit ein guter Einfall; allein dafür fand er auch den besten Gedanken platt, der sonst nichts als Verstand hatte. NachGrundsätzen zu denken, oder nach einem Plane zu handeln, war in seinen Augen Pedanterei und Mangel an Genie. Seine gewöhnliche Weise war, ein Geschäft anzufangen, und dann die Maßregeln von seiner Laune oder vom Zufall zu nehmen. So pflegten die witzigen Schriftsteller seiner Zeit ihre Bücher zu machen.

Er hatte ein paar vortreffliche Männer in seinem Divan. Er kannte und ehrte ihre Klugheit, ihre Einsichten, ihre Redlichkeit; aber zum Unglück konnte er ihre Miene nicht leiden. Sie besaßen eine gründliche Kenntnis der Regierungskunst und des Staats; aber sie hatten wenig Geschmack; sie konnten nicht scherzen; sie waren zu nichts als zu ernsthaften Geschäften zu gebrauchen, und Schach-Gebal liebte keine ernsthaften Geschäfte. Warum hatten die ehrlichen Männer die Gabe nicht, der Weisheit ein lachendes Ansehen zu geben? – Oder konnten sie sich nur nicht entschließen, ihr zuweilen die Schellenkappe aufzusetzen? Desto schlimmer für sie und den Staat! Schach-Gebal unternahm zwar selten etwas ohne ihren Rat; aber er folgte ihm während seiner ganzen Regierung nur zweimal, und beide Mal – da es zu spät war.

Es war eine seiner Lieblingsgrillen, daß er durch sich selbst regieren wollte. Die Könige, welche sich durch einen Minister, einen Verschnittenen, einen Derwischen, oder eine Mätresse regieren ließen, waren der tägliche Gegenstand seiner Spöttereien. Gleichwohl versichern uns die geheimen Nachrichten dieser Zeit, daß sein erster Iman, und eine gewisse schwarzaugige Tschirkassierin, die ihm unentbehrlich geworden war, alles was sie gewollt aus ihm gemacht hätten. Wir würden es für Verleumdungen halten, wenn wir seine Regierung nicht mit Handlungen bezeichnet sähen, wovon der Entwurf nur in der Zirbeldrüse eines Imans oder in der Phantasie einer schwarzaugigen Tschirkassierin entstehen konnte.

[19] Schach-Gebal war kein kriegerischer Fürst: aber er sah seine Leibwache gern schön geputzt, hörte seine Emirn gern von Feldzügen und Belagerungen reden, und las die Oden nicht ungern, worin ihn seine Poeten über die Cyrus und Alexander erhoben, wenn er bei Gelegenheit eine Festung ihrem Kommendanten abgekauft, oder seine Truppen einen zweideutigen Sieg über Feinde, die noch feiger, oder noch schlechter angeführt waren als sie selbst, erhalten hatten. Es war eine von seinen großen Maximen: ein guter Fürst müsse Frieden halten, solange die Ehre seiner Krone nicht schlechterdings erfodere, daß er die Waffen ergreife. Aber das half seinen Untertanen wenig: er hatte nichts desto weniger immer Krieg. Denn der Mann im Monde hätte mit dem Mann im Polarstern in einen Zwist geraten können; Schach-Gebal mit Hülfe seines Itimadulet 4 würde Mittel gefunden haben, die Ehre seiner Krone dabei betroffen zu glauben.

Niemals hat ein Fürst mehr weggeschenkt als Gebal. Aber da er sich die Mühe nicht nehmen wollte, zu untersuchen, oder nur eine Minute lang zu überlegen, wer an seine Wohltaten das meiste Recht haben möchte: so fielen sie immer auf diejenigen, die zunächst um ihn waren, und zum Unglück konnten sie gemeiniglich nicht schlechter fallen.

Überhaupt liebte er den Aufwand. Sein Hof war unstreitig der prächtigste in Asien. Er hatte die besten Tänzerinnen, die besten Gaukler, die besten Jagdpferde, die besten Köche, die witzigsten Hofnarren, die schönsten Pagen und Sklavinnen, die größten Trabanten und die kleinsten Zwerge, die jemals ein Sultan gehabt hat; und seine Akademie der Wissenschaften war unter allen diejenige, worin man die sinnreichsten Antrittsreden und die höflichsten Danksagungen hielt. Es gehörte ohne Zweifel zu seinen rühmlichen Eigenschaften, daß er alle schöne Künste liebte; aber es ist auch nicht zu leugnen, daß er dieser Neigung mehr nachhing als mit dem Besten seines Reiches bestehen konnte. Man will ausgerechnet haben, daß er eine seiner schönsten Provinzen zur Einöde gemacht, um eine gewisse Wildnis, welche allen Anstrengungen der Kunst Trotz zu bieten schien, in eine bezauberte Gegend zu verwandeln, und daß es ihm wenigstens hunderttausend Menschen gekostet habe, um seine Gärten mit Statuen zu bevölkern. Berge wurden versetzt, Flüsse abgeleitet, und unzählige Hände von nützlichern Arbeiten weggenommen, um einen Plan auszuführen, wobei die Natur nicht zu Rate [20] gezogen worden war. Die Fremden, welche dieses Wunder der Welt anzuschauen kamen, reiseten durch übel angebaute und entvölkerte Provinzen, durch Städte, deren Mauern einzufallen drohten, auf deren Gassen Gerippe von Pferden graseten, und worin die Wohnungen den Ruinen einer ehmaligen Stadt, und die Einwohner Gespenstern glichen, die in diesen verödeten Gemäuern spükten. Aber wie angenehm wurden diese Fremden auf einmal von dem Anblicke der künstlichen Schöpfungen überrascht, welche Schach-Gebal, seinem Stolz und den schönen Augen seiner Tschirkassierin zu Gefallen, wie aus nichts hatte hervor gehen heißen! Ganze Gegenden, durch welche sie gekommen waren, lagen verödet; aber hier glaubten sie, in einem entzückenden Traum, in die Zaubergärten derPeris versetzt zu sein. Man konnte nichts Schlechteres sehen als die Landstraßen, auf denen sie oft ihr Leben hatten wagen müssen; aber wie reichlich wurde ihnen dieses Ungemach ersetzt! Die Wege zu seinem Lustschlosse waren mit kleinen bunten Steinen eingelegt.

Bei allem diesem sprach Schach-Gebal gern vonÖkonomie; und die beste unter allen möglichen Einrichtungen des Finanzwesens war eine Sache, worüber er seine ganze Regierung durch raffinierte, und die ihm wirklich mehr kostete, als wenn er den Stein der Weisen gesucht hätte. Eine neue Spekulation war der kürzeste Weg sich bei ihm in Gnade zu setzen; auch bekam er deren binnen wenig Jahren so viele, daß sie schichtenweise in seinem Kabinett aufgetürmt lagen, wo er sich zuweilen die Zeit vertrieb, die Titel und die Vorberichte davon zu überlesen. Alle Jahre wurde ein neues System eingeführt, oder doch irgend eine nützliche Veränderung gemacht (das ist, eine Veränderung, die wenigstens einigen, welche die Hand dabei hatten, nützlich war), und die Früchte davon zeigten sich augenscheinlich. Kein Monarch in der Welt hatte mehr Einkünfte auf dem Papier und weniger Geld in der Kasse. Dies kann, unter gewissen Bedingungen, das Meisterstück einer weisen Administration sein: aber in Schach-Gebals seiner war es wohl ein Fehler; denn der größte Teil seiner Untertanen befand sich nicht desto besser dabei. Indessen war er nicht dazu aufgelegt, durch seine Fehler klüger zu werden; denn er betrog sich immer in den Ursachen. Der erste, der mit einem neuen Projekt aufzog, beredete ihn er wisse es besser als seine Vorgänger; und so nahm das Übel immer zu, ohne daß Gebal jemals dazu gelangen konnte die Quelle davon zu entdecken.

Wenn man diese Züge des Charakters und der Regierung des Sultans Gebal zusammen nimmt, so könnte man auf die Gedanken geraten, [21] das Glück seiner Untertanen müsse, im ganzen betrachtet, nur sehr mittelmäßig gewesen sein. In der Tat ist dies auch das gelindeste, was man davon sagen kann. Allein seine Untertanen wurden mehr als zu sehr dadurch gerochen, daß ihr Sultan bei aller seiner Herrlichkeit nicht glücklicher war als der unzufriedenste unter ihnen.

Diese Erfahrung war für ihn ein Problem, worüber er oft in tiefes Nachsinnen geriet, ohne jemals die Auflösung davon finden zu können. Auf dem Wege, wo er sie suchte, hätte er sie ewig vergebens suchen mögen. Denn der Einfall, sie in sich selbst zu suchen, war gerade der einzige, der ihm unter allen möglichen nie zu Sinne kam. Bald dacht er, die Schuld liege an seinen Omras, bald an seinem Mundkoche, bald an seiner Favoritin; er schaffte sich andere Omras, andere Köche und eine andere Favoritin an; aber das wollte alles nicht helfen. Es fiel ihm ein, daß er einmal dieses oder jenes habe tun wollen, welches bisher unterblieben war. Gut, dacht er, das muß es sein! Er unternahm es, amüsierte sich damit bis es fertig war, und – fand sich betrogen. Ursache genug für einen Sultan, verdrießlich zu werden! Aber er hatte deren noch andre, die einen weisern Mann als er war aus dem Gleichgewichte hätten setzen können. Die Händel, die ihm seine Priester machten, die Intrigen seines Serails, die Zwistigkeiten seiner Minister, die Eifersucht seiner Sultaninnen, das häufige Unglück seiner Waffen, der erschöpfte Zustand seiner Finanzen, und (was noch schlimmer als dies alles zu sein pflegt) das Mißvergnügen seines Volkes, welches zuweilen in gefährliche Unruhen auszubrechen drohte, – alles dies vereinigte sich, ihm ein Leben zu verbittern, welches denen, die es nur von ferne sahen, beneidenswürdig vorkam. Schach-Gebal hatte mehr schlaflose Nächte als alle Tagelöhner seines Reichs zusammen. Alle Zerstreuungen und Ergetzlichkeiten, womit man diesem Übel zu begegnen gesucht hatte, wollten nichts mehr verfangen. Seine schönsten Sklavinnen, seine besten Sänger, seine wundertätigsten Luftspringer, seine Witzlinge, und seine Affen selbst verloren ihre Mühe dabei.

Endlich brachte eine Dame des Serails, eine erklärte Verehrerin der großen Scheherezade, die Märchen der Tausend und Einen Nacht in Vorschlag. Aber Schach-Gebal hatte die Gabe nicht (denn wirklich ist sie ein Geschenk der Natur und keines ihrer schlechtesten), der wunderbaren Lampe des Schneiders Aladdin Geschmack abzugewinnen, oder die weißen, blauen, gelben und roten Fische amüsant zu finden, welche sich, ohne ein Wort zu sagen, in der Pfanne braten lassen, bis sie auf einer Seite gar sind, [22] aber, sobald man sie umkehrt, und eine wunderschöne Dame, in beblümten Atlas von ägyptischer Fabrik gekleidet, mit großen diamantnen Ohrengehängen, mit einem Halsbande von großen Perlen und mit rubinenreichen goldnen Armbändern geschmückt, aus der Mauer hervor springt, die Fische mit einer Myrtenrute berührt, und die Frage an sie tut: Fische, Fische, tut ihr eure Schuldigkeit? alle zugleich die Köpfe aus der Pfanne heben, das einfältigste Zeug von der Welt antworten, und dann plötzlich zu Kohlen werden. Schach-Gebal, anstatt dergleichen Historien, wie sein glorwürdiger Ältervater, mit glaubigem Erstaunen und innigstem Vergnügen anzuhören, wurde so ungehalten darüber, daß man mitten in der Erzählung aufhören mußte. Man versuchte es also mit den Märchen des Visirs Moslem, in welchen unstreitig ein großes Teil mehr Witz, und unendliche Mal mehr Verstand und Weisheit, unter dem Schein der äußersten Frivolität, verborgen ist. Aber Schach-Gebal haßte diedunkeln Stellen darin, nicht weil sie dunkel, sondern weil sie nicht noch dunkler waren; denn er hatte wirklich zu viel gesunden Geschmack, um an Unrat, so fein er auch zubereitet war, Gefallen zu finden; und überhaupt deuchte ihm die mehr wollüstige als zärtliche Fee Alles oder Nichts mit ihrer Prüderie und mit ihren Experimenten, der Pedant Tacitürne mit seiner Geometrie, der König Strauß mit seiner albernen Politik und mit seiner Barbierschüssel, und das ungeheure Mittelding von Galanterie und Ziererei, die Königin der kristallnen Inseln, mit allem was sie sagte, tat und nicht tat, ganz unerträgliche Geschöpfe. Er erklärte sich, daß er keine Erzählungen wolle, wofern sie nicht, ohne darum weniger unterhaltend zu sein,sittlich und anständig wären: auch verlangte er, daß sie wahr und aus beglaubten Urkunden gezogen sein, und (was er für eine wesentliche Eigenschaft der Glaubwürdigkeit hielt) daß sie nichts Wunderbares enthalten sollten; denn davon war er jederzeit ein erklärter Feind gewesen. Dieses brachte die beiden Omras, deren wir vorhin als wohl denkender Männer Erwähnung getan haben, auf den Einfall, aus den merkwürdigsten Begebenheiten eines ehmaligen benachbarten Reichs eine Art von Geschichtbuch verfertigen zu lassen, woraus man ihm, wenn er zu Bette gegangen wäre, vorlesen sollte, bis er einschliefe oder nichts mehr hören wollte. Der Einfall schien um so viel glücklicher zu sein, als er Gelegenheiten herbeiführte, dem Sultan mit guter Art Wahrheiten beizubringen, die man, auch ohne Sultan zu sein, sich nicht gern geradezu sagen läßt.

Man dachte also unverzüglich an die Ausführung: und da man den [23] besten Kopf von ganz Indostan (welches freilich in Vergleichung mit europäischen Köpfen nicht viel sagt) dazu gebrauchte; so kam in kurzer Zeit dieses gegenwärtige Werk zu Stande, welchesHiang-Fu-Tsee, ein wenig bekannter Schriftsteller, in den letzten Jahren des Kaisers Tai-Tsu, unter dem Namen des goldnen Spiegels ins Sinesische, – der ehrwürdige Vater J.G.A.D.G.J. aus dem Sinesischen in sehr mittelmäßiges Latein, und der gegenwärtige Herausgeber aus einer Kopie der lateinischen Handschrift, in so gutes Deutsch, als man im Jahre 1772 zu schreiben pflegte, überzutragen würdig gefunden hat.

Aus dem Vorberichte des sinesischen Übersetzers läßt sich schließen, daß sein Buch eigentlich nur eine Art von Auszug aus der Chronik der Könige von Scheschian ist, welche zur Ergetzung und Einschläferung des Sultans Gebal verfertiget worden war. Er verbirgt nicht, daß seine vornehmste Absicht gewesen, den Prinzen aus dem Hause des Kaisers Tai-Tsu damit zu dienen, denen es (wie er meint), unter dem Schein eines Zeitvertreibs, Begriffe und Maximen einflößen könnte, von deren Gebrauch oder Nichtgebrauch das Glück der sinesischen Provinzen größten Teils abhangen dürfte. So alt diese Wahrheiten sind, sagt er, so scheint es doch, daß man sie nicht oft genug wiederholen könne. Sie gleichen einer herrlichen Arznei, welche aber so beschaffen ist, daß sie nur durch häufigen Gebrauch wirken kann. Alles kommt darauf an, daß man immer ein anderes Vehikel zu ersinnen wisse, damit sowohl Kranke als Gesunde (denn sie kann diesen als Präservativ, wie jenen als Arznei dienen) sie mit Vergnügen hinab schlingen mögen.

Was die hier und da der Erzählung eingemischten Unterbrechungen und Episoden, besonders die Anmerkungen des Sultans Gebal betrifft, so versichert zwar Hiang-Fu-Tsee, er hätte sie von guter Hand, und wäre völlig überzeugt, daß die letztern wirklich von besagtem Sultan herrührten: allein dies hindert nicht, daß der geneigte Leser nicht davon sollte glauben dürfen was ihm beliebt. Wenigstens scheinen sie dem Charakter Schach-Gebals ziemlich gemäß; und eben daher würde es unbillig sein, zu verlangen, daß sie so sinnreich und unterhaltend sein sollten, als die Reflexionen Schach-Bahams, des Weisen.

[24]
1
Erster Teil
1.

»Von Scheschian?« rief Schach-Gebal: »mir deucht, ich kenne diesen Namen. Ist es nicht das Scheschian, wo der Hiof-Teles-Tanzai König war, dessen verwünschten Schaumlöffel ihr Ihr neulich zu verschlingen geben wolltet, wenn ich mich nicht eben so stark dagegen gesträubt hätte, als der Großpriester Sogrenuzio

»Vermutlich, Sire«, sagte die schwarzaugige Tschirkassierin, welche schon vor einiger Zeit aufgehört hatte jung zu sein, aber aus dem Verfall ihrer Reizungen unter andern eine sehr angenehme Stimme davon gebracht hatte, und sich eine Angelegenheit daraus machte, den Sultan noch immer so gut zu amüsieren, als es die Umstände auf beiden Seiten zulassen wollten. »Ohne Zweifel, Sire«, sagte sie, »ist es eben dieses Scheschian; denn es nötigt uns nichts, deren zwei anzunehmen, da wir uns mit dem Einen ganz wohl behelfen können; welches, nach dem Berichte gewisser alter Erdbeschreiber, in den Zeiten seines höchsten Wohlstandes beinahe so groß gewesen sein muß als das Reich Ihrer Majestät, 5 und ostwärts« –

»Die Geographie tut nichts zur Sache«, fiel Schach-Gebal ein, »in so fern du mir nur dafür gut sein willst, Nurmahal, daß da, wo deine Geschichte anfängt, die Zeit vorbei ist, da die Welt von Feen beherrscht wurde. Denn ich erkläre mich ein für allemal, daß ich nichts von verunglückten Hochzeitnächten, von alten Konkombern, von Maulwürfen, die in der geziertesten Sprache von der Welt – nichts sagen, und kurz, nichts von Liebeshändeln hören will, wie der witzigen Mustasche und ihres faden Kormorans, der so [25] schöne Epigrammen macht und so schöne Räder schlägt. Mit Einem Worte, Nurmahal, und es ist mein völliger Ernst, keine Neadarnen und keinen Schaumlöffel

»Ihre Majestät können Sich darauf verlassen«, versetzte Nurmahal, »daß die Feen nichts in dieser Geschichte zu tun haben sollen; und was die Genien betrifft, so wissen Ihre Majestät, daß man gewöhnlich sechs bis sieben Könige hinter einander zählen kann, bis man auf einen stößt, der Anspruch an diesen Namen zu machen hat.«

»Auch keine Satiren, Madam, wenn ich bitten darf! Fangen Sie Ihre Historie ohne Umschweife an; und ihr« (sagte er zu einem jungen Mirza, der am Fuße seines Bettes zu sitzen die Ehre hatte) »gebt Acht wie oft ich gähne; sobald ich dreimal gegähnt habe, so macht das Buch zu, und gute Nacht.«


»Bei irgend einem Volke« (so fing die schöne Nurmahal zu lesen an) »die Geschichte seines ältesten Zustandes suchen, hieße von jemand verlangen, daß er sich dessen erinnere, was ihm im Mutterleibe oder im ersten Jahre seiner Kindheit begegnet ist.

Die Einwohner von Scheschian machen keine Ausnahme von dieser Regel. Sie füllen, wie alle andre Völker in der Welt, den Abgrund, der zwischen ihrem Ursprung und der Epoche ihrer Geschichtskunde liegt, mit Fabeln aus; und diese Fabeln sehen einander bei allen Völkern so ähnlich, als man es von Geschöpfen vermuten kann, die sich auf der ersten Staffel der Menschheit befinden. Derjenige unter ihnen, der zuerst die Entdeckung machte, daß eine Ananas besser schmecke als eine Gurke, war ein Gott in den Augen seiner Nachkommen.

Die alten Scheschianer glaubten, daß ein großer Affe sich die Mühe genommen habe, ihren Voreltern die ersten Kenntnisse von Bequemlichkeit, Künsten und geselliger Lebensart beizubringen.«

»Ein Affe?« rief der Sultan: »eure Scheschianer sind sehr demütig, den Affen diesen Vorzug über sich einzuräumen.«

»Diejenigen, bei denen dieser Glaube aufkam, dachten vermutlich nicht so weit«, erwiderte die schöne Nurmahal.

»Ohne Zweifel«, sagte der Sultan: »aber was ich wissen möchte, ist gerade, was für Leute das waren, bei denen ein solcher Glaube aufkommen konnte.«

»Sire, davon sagt die Chronik nichts. Aber wenn es einer Person meines Geschlechts erlaubt sein könnte, über einen so gelehrten Gegenstand eine Vermutung zu wagen, so würde ich sagen, daß mir [26] nichts begreiflicher vorkommt. Kein Glaube ist jemals so ungereimt gewesen, zu welchem nicht etwas Wahres den Grund gelegt haben sollte. Konnte nicht ein Affe die ältesten Scheschianer etwas gelehrt haben, wenn es auch nur die Kunst auf einen Baum zu klettern und Nüsse aufzuknacken gewesen wäre? Denn so leicht uns diese Künste jetzt scheinen, so ist doch viel eher zu vermuten, daß die Menschen sie den Affen, als daß die Affen sie den Menschen abgelernt haben.«

»Die schöne Sultanin philosophiert sehr richtig«, sagte Doktor Danischmend, derjenige von den Philosophen des Hofes, den der Sultan am liebsten um sich leiden mochte, weil er in der Tat eine der gutherzigsten Seelen in der Welt war, und der daher die Gnade genoß, nebst dem vorerwähnten Mirza diesen Vorlesungen beizuwohnen. »Es ist nicht zu vermuten«, setzte er hinzu, »daß die ersten Menschen in Scheschian scharfsinniger gewesen sein sollten als Isanagi No Mikotto, einer von den japanischen Götterkönigen, von welchem ihre Geschichte versichert, daß er die Kunst, mit seiner Gemahlin Ysanami nach der Weise der Sterblichen zu verfahren, von dem VogelIsiatadakki abgesehen habe.« 6

Schach-Gebal schüttelte, man weiß nicht warum, den Kopf bei dieser Anmerkung; und Nurmahal, ohne den Einfall des Philosophen Danischmend eines Errötens zu würdigen, fuhr also fort.

»In dem ersten Zeitpunkte, wo die Geschichte von Scheschian zuverlässig zu werden anfängt, fand sich die Nation in eine Menge kleiner Staaten zerstückelt, die von eben so vielen kleinen Fürsten regiert wurden, so gut es gehen wollte. Alle Augenblicke fiel es zweien oder dreien von diesen Potentaten ein, den vierten mit einander auszurauben; wenn sie mit ihm fertig waren, zerfielen sie über der Teilung unter sich selbst; und dann pflegte der fünfte zu kommen, und sie auf einmal zu vergleichen, indem er bis zu Austrag der Sache den Gegenstand des Streits in Verwahrung nahm.

Diese Befehdungen dauerten, zu großem Nachteile der armen Scheschianer, so lange, bis etliche von den schwächsten den Vorschlag taten: daß sich die sämtlichen Rajas, um der allgemeinen Sicherheit willen, einem gemeinschaftlichen Oberhaupte unterwerfen sollten. Die mächtigsten ließen sich diesen Vorschlag belieben, weil jeder Hoffnung hatte, daß die Wahl auf ihn selbst fallen würde. Aber kaum war diese entschieden: so fand sich, daß man nicht das beste Mittel die Ruhe herzustellen gewählt hatte.

[27] Der neue König war des Vorzugs würdig, den ihm die Nation beigelegt hatte. Die Achtung für seine persönlichen Verdienste unterstützte eine Zeit lang seine Bemühungen, und Scheschian genoß einen Augenblick von Glückseligkeit, den er dazu anwandte, Gesetze zu entwerfen, welche der große Kon-Fu-Tsee nicht besser hätte machen können; Gesetze, denen, um vollkommen zu sein, nichts abging, als daß sie nicht (wie man von den Bildsäulen eines gewissen alten Künstlers sagt) von selbst gingen, das ist, daß es von der Willkür der Untertanen abhing, sie zu halten oder nicht zu halten. Freilich waren auf die Übertretung derjenigen, von deren Beobachtung die Ruhe und der Wohlstand des Staats schlechterdings abhing, schwere Strafen gesetzt: aber der König hatte keine Gewalt sie zu vollziehen. Wenn einer von seinenRajas zum Gehorsam gebracht werden sollte, so mußte er einem andern auftragen, den Raja dazu zu nötigen; und auf diese Weise blieben immer die gerechtesten Urteile unvollzogen. Denn keine Krähe hackt der andern die Augen aus, sagt der König Dagobert 7

»Wer war dieser König Dagobert?« fragte der Sultan den Philosophen Danischmend.

Danischmend hatte bei allen seinen vermeintlichen oder wirklichen Vorzügen einen Fehler, der, so wenig er an sich selbst zu bedeuten hat, in gewissen Umständen genug ist, den besten Kopf zu Schanden zu machen. Niemals konnte er eine Antwort auf eine Frage finden, auf die er sich nicht versehen hatte. Dieser Fehler hätte ihm vielleicht noch übersehen werden können; aber er vergrößerte ihn insgemein durch einen andern, der in der Tat einem Manne von seinem Geiste nicht zu verzeihen war. Fragte ihn, zum Exempel, der Sultan etwas, das ihm unbekannt war; so stutzte er, entfärbte sich, öffnete den Mund und staunte, als ob er sich darauf besänne: man hoffte von Augenblick zu Augenblick, daß er losdrücken würde; und man konnt es ihm daher um so viel weniger vergeben, wenn er endlich die Erwartung, worin man so lange geschwebt hatte, mit einem armseligen das weiß ich nicht betrog; weil er, wie man dachte, dies eben sowohl im ersten Augenblicke hätte sagen können. [28] Dies war nun gerade der Fall, worin er sich itzt befand: kein Mensch in der Welt war ihm unbekannter als der König Dagobert.

»Ich hatte Unrecht, eine solche Frage an einen Philosophen zu tun«, sagte der Sultan etwas mißvergnügt: »laßt meinen Kanzler kommen.«

Der Kanzler war ein großer dicker Mann, welcher unter andern rühmlichen Eigenschaften gerade so viel Witz hatte, als er brauchte, um auf jede Frage eine Antwort bereit zu halten.

»Herr Kanzler, wer war der König Dagobert?« fragte der Sultan. »Sire«, antwortete der Kanzler ganz ernsthaft, indem er mit der rechten Hand seinen Wanst, und mit der linken seinen Knebelbart strich, »es war ein König, der vor Zeiten in einem gewissen Lande regierte, das man auf keiner indostanischen Landkarte findet; vermutlich weil es so klein war, daß man nicht sagen konnte, welches die Nord- und welches die Süd-Seite davon sei.«

»Sehr wohl, Herr Kanzler! Und was sagte der König Dagobert?« »Meistens nichts«, versetzte der Kanzler, »wenn es nicht im Schlafe geschah, welches ihm zuweilen in seinem Divan begegnete. Sein Kanzler, der, wegen seines kurzen Gesichts, nicht immer gewahr wurde, ob der König wachte oder schlummerte, nahm etlichemal das, was er im Schlafe gesagt hatte, für Befehle auf, und fertigte sie auf der Stelle aus; und, was das Sonderbarste ist, die Geschichtschreiber versichern, daß diese nämlichen Verordnungen unter allen, welche während seiner Regierung heraus gekommen, die klügsten gewesen seien.«

»Gute Nacht, Herr Kanzler«, sagte Schach-Gebal.

»Man muß gestehen«, dachte der Kanzler im Weggehen, »daß die Sultanen zuweilen wunderliche Fragen an die Leute tun.«

»Es ist eine schöne Sache um einen sinnreichen Kanzler«, fuhr der Sultan fort, nachdem sich der seinige zurückgezogen hatte. »Ich weiß wohl, Nurmahal, Ihr seid ihm nie gewogen gewesen; und wenn ich günstiger für ihn denke, so geschieht es gewiß nicht weil ich ihn nicht kenne. Ich weiß, daß er, mit aller abgezirkelten Formalität seiner ganzen Person, welche ein lebendiger Inbegriff aller Gesetze, Ordonnanzen, alten Gewohnheiten und neuen Mißbräuche meines Reichs ist, im Grunde doch nur ein Intrigenmacher, ein falscher, unruhiger, unersättlicher, rachgieriger Bube, und ein heimlicher Feind aller Leute ist, von denen ihm sein Instinkt sagt, daß sie mehr wert sind als er. Überdies weiß ich, daß er sich von einem schelmischen kleinen Fakir regieren läßt, der ihm weisgemacht hat, er besitze ein Geheimnis, ihn sicher über die Brücke, die nicht breiter ist als die [29] Schärfe eines Schermessers, hinüber zu bringen. Aber wenn er noch zehnmal schlimmer wäre als er ist, so müßt ich ihm um der Gabe willen hold sein, die er hat, auf jede Frage, so unerwartet und unbequem sie ihm sein mag, eine Antwort aus dem Ärmel zu schütteln, die er euch mit einer so unverschämten Ernsthaftigkeit für gut gibt, daß man, gern oder nicht, damit zufrieden sein muß. – Aber wir vergessen, dem König Dagobert und meinem Kanzler zu Gefallen, den armen König von Scheschian, und das ist nicht billig. Der gute Mann dauert mich; wiewohl es in der Tat seine eigene Schuld ist, wenn ihm seine Leute wie die Frösche dem König Klotz mitspielen. Wie konnt es ihm einfallen, auf solche Bedingungen König zu sein?«

»Ihre Hoheit«, sagte Nurmahal, »werden ihm diesen Einfall vielleicht zugute halten, wenn Sie bedenken, daß die Nation einen König haben wollte, und daß es, alles überlegt, doch immer besser ist, dieser König selbst zu sein, als es einem andern zu überlassen. Er konnte doch immer mit einiger Wahrscheinlichkeit hoffen, daß es ihm an Gelegenheit nicht fehlen würde, sein Ansehen, so eingeschränkt es anfangs war, zu befestigen und zu erweitern. Zudem war er ein Mann von mehr als gemeiner Fähigkeit, sein eigenes Fürstentum war eines der beträchtlichsten, und an der Spitze der Partei, die ihn auf den Thron erhob, konnt er sich schmeicheln alles zu vermögen.«

»Und dennoch schmeichelte er sich zu viel?«

»Wie hätt es anders gehen können?« versetzte die Sultanin. »Seine Anhänger erwarteten mehr Belohnungen als er geben konnte. Ihre Foderungen hatten keine Grenzen. Er hielt sich für berechtigt, Dienste und Unterwürfigkeit von denjenigen zu erwarten, die ihn zum Könige gemacht hatten; und eben darum,weil sie ihn zum Könige gemacht hatten, glaubten siedaß er ihnen alles schuldig sei. Eine solche Verschiedenheit der Meinungen mußte Folgen haben, die den König und das Volk gleich unglücklich machten. Da er die einmal übernommene Rolle gut spielen wollte, so mußt er notwendig mit seinen Rajas zerfallen, die ihn lieber eine jede andre spielen gesehen hätten als die Rolle eines Königs. Seine ganze Regierung war unruhig, schwankend und voller Verwirrung. Aber unter seinen Nachfolgern ging es noch schlimmer. Jeder neue Vorteil, den die Rajas über ihre Könige erhielten, erhöhete ihren Übermut, und vermehrte ihre Forderungen. Unter dem Vorwand, ihre Freiheit (ein Ding, wovon sie niemals einen bestimmten Begriff gehabt zu haben scheinen) und die Rechte der Nation (welche niemals ins Klare gesetzt worden waren) gegen willkürliche Anmaßungen sicher zu stellen, wurde das königliche Ansehen nach und nach so eingeschränkt, [30] daß es, wie die Fabel von einer gewissen Nymphe sagt, allgemach zu einem bloßen Schatten abzehrte« –

– Hier gähnte der Sultan zum ersten Male –

– »bis endlich selbst von diesem Schatten nichts als eine leere Stimme übrig blieb, welche gerade noch so viel Kraft hatte, nachzuhallen was ihr zugerufen wurde.

Scheschian befand sich, solange diese Periode dauerte, in einem höchst elenden Zustande. Von mehr als dreihundert kleinern und größern Bezirken, deren jeder seinen eigenen Herrn hatte, sah der größte Teil einem Lande gleich, das kürzlich von Hunger, Krieg, Pest und Wassersnot verwüstet worden war. Die Natur hatte da nichts von der lachenden Gestalt, nichts von der reizenden Mannigfaltigkeit und dem einladenden Ansehen von Überfluß und Glückseligkeit, womit sie die Sinnen und das Herz in jedem Land einnimmt, welches von einem weisen Fürsten väterlich regiert wird.«

Hier klärte sich die Miene des Sultans einmal wieder auf. Er dachte an seine Lustschlösser, an seine Zaubergärten, an die schönen Gegenden, die er darin auf allen Seiten vor sich liegen hatte, an die mosaisch eingelegten, und mit doppelten Reihen von Zitronenbäumen besetzten Wege, die ihn dahin führten, und genoß etliche Augenblicke lang die Wollust der vollkommensten Zufriedenheit mit sich selbst.

Das war es nicht, was die beiden Omras wollten, daß er dabei denken sollte! – »Weiter, Nurmahal«, sprach der vergnügte Sultan.

»Allenthalben wurden die Augen eines Reisenden, der nicht ohne alles Gefühl für den Zustand seiner Nebengeschöpfe war, durch traurige Bilder des Mangels und der unbarmherzigsten Unterdrückung beleidigt.

Die kleinen Tyrannen, denen der König von Scheschian neunzehn von zwanzig Teilen seiner Untertanen Preis zu geben genötigt war, hatten in Absicht der Verwaltung ihrer Ländereien eine Denkungsart, die derjenigen von gewissen Wilden glich, von denen man sagt, daß sie, um der Frucht eines Baumes habhaft zu werden, kein bequemeres Mittel kennen, alsden Baum umzufällen. Ihr erster Grundsatz schien zu sein, den gegenwärtigen Augenblick zum Vorteil ihrer ausschweifenden Lüste auszunützen, ohne sich darum zu bekümmern, was die natürlichen Folgen davon sein möchten. Diese Herren fanden nicht das geringste weder in ihrem Kopfe noch in ihrem Herzen, das der armen Menschheit bei ihnen das Wort geredet hätte. In ihren Augen hatte das Volk keine Rechte, und der Fürst keine Pflichten. Sie behandelten es als einen Haufen [31] belebter Maschinen, welche, so wie die übrigen Tiere, von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten, und die keinen Anspruch an Ruhe, Gemächlichkeit, und Vergnügen zu machen hätten. So schwer es ist, sich die Möglichkeit einer so unnatürlichen Denkungsart vorzustellen, so ist doch nichts gewisser, als daß sie es dahin gebracht hatten, sich selbst als eine Klasse von höhern Wesen anzusehen, die, gleich den Göttern Epikurs, kein Blut sondern nur gleichsam ein Blut in den Adern rinnen hätten; denen die Natur zu willkürlichem Gebote stehe; denen alles erlaubt sei, und an welche niemand etwas zu fodern habe. Die Knechtschaft der Unglücklichen, die unter ihrem Joche schmachteten, ging so weit, daß sie jeden Fall, wo man ihnen durch eine besondere Ausnahme die allgemeinsten Rechte der Menschheit angedeihen ließ, als eine unverdiente Gnade ansehen mußten. Die Folgen einer so widersinnigen Verfassung stellen sich von selbst dar. Eine allgemeine Mutlosigkeit machte nach und nach alle Triebräder der Vervollkommnung stille stehen; der Genie wurde ihm Keim erstickt, der Fleiß abgeschreckt, und die Stelle der Leidenschaften, durch deren beseelenden Hauch die Natur den Menschen entwickelt, und zum Werkzeug ihrer großen Absichten macht, nahm fressender Gram und betäubende Verzweiflung ein. 8 Sklaven, welche keine Hoffnung haben, anders als durch irgend einen seltnen Zufall, der unter zehentausend kaum Einen trifft, sich aus ihrem Elend empor zu winden, arbeiten nur in so fern sie gezwungen werden, und können nicht gezwungen werden irgend [32] etwas gut zu machen. Sie verlieren alles Gefühl der Würdigkeit ihrer Natur, alles Gefühl des Edeln und Schönen, alles Bewußtsein ihrer angebornen Rechte« –

– der Sultan gähnte hier zum zweiten Male –

– »und sinken in ihren Empfindungen und Sitten zu dem Vieh herab, mit welchem sie genötiget sind den nämlichen Stall einzunehmen; ja, bei der Unmöglichkeit eines bessern Zustandes, verlieren sie endlich selbst den Begriff eines solchen Zustandes, und halten die Glückseligkeit für ein geheimnisvolles Vorrecht der Götter und ihrer Herren, an welches den mindesten Anspruch zu machen Gottlosigkeit und Hochverrat wäre.

Dies war die tiefe Stufe von Abwürdigung und Elend, auf welche die armen Bewohner von Scheschian herab gedrückt wurden. Eine allgemeine Verwilderung würde sie in kurzem wieder in den nämlichen Stand versetzt haben, aus welchem der große Affe, ihrem angeerbten Wahn zu Folge, ihre Stammeltern gezogen hatte: in einen Stand, worin sie sich wenigstens mit der Unmöglichkeit noch tiefer zu sinken hätten trösten können; wenn nicht eine unvermutete Staatsveränderung« –

hier machte der Mirza die schöne Nurmahal bemerken, daß der Sultan unter den letzten Perioden dieser Vorlesung eingeschlafen war.

2
2.

Der Sultan hatte in vielen Wochen nicht so gut geschlafen als auf die erste Vorlesung, womit er von der Sultanin Nurmahal in der letzten Nacht unterhalten worden war: und hätte der Page, der ihn zum Morgengebet zu wecken pflegte, seine Zeit nicht so übel genommen, ihn mitten in einem Traume von dem König Dagobert, dessen Ausgang zu sehen er begierig war, zu unterbrechen, so würde Se. Hoheit den ganzen Tag über bei der besten Laune von der Welt gewesen sein.

Die schöne Nurmahal ermangelte also nicht, sich in der folgenden Nacht zur gewöhnlichen Zeit wieder einzufinden, um die zweite Probe mit ihrem Opiat zu machen, welches zum ersten Male so wohl angeschlagen, und dabei den Vorzug hatte, das unschädlichste unter allen zu sein, die man hätte gebrauchen können.

Wir merken hier ein für allemal an, daß diese Dame, welche vermutlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem eigenen Kabinette gelesen hatte, und, wie man uns versichert, eine Frau von Geist, Belesenheit und Einsicht war, sich im Lesen nicht so genau [33] an den Text gebunden hielt, um nicht zuweilen die Erzählung abzukürzen, oder mit ihren eigenen Reflexionen zu bereichern, oder sonst irgend eine Veränderung im Schwung oder Ton derselben vorzunehmen, je nachdem ihr die gegenwärtige Verfassung und Laune des Sultans den Wink dazu gab. Man erwarte also, daß sie bald in ihrer eigenen Person sprechen, bald ihren Autor reden lassen wird, ohne daß wir nötig finden, jedesmal besondere Anzeige zu tun, wer die redende Person sei; ein Umstand, woran dem Leser wenig gelegen ist, und den wir seiner eigenen Scharfsinnigkeit ruhig überlassen können.

»Ihre Hoheit«, fing sie an, »erinnern Sich des Zustandes, worin wir die Scheschianer gestern verlassen haben. Er war so verzweifelt, daß sie nur von einer Staatsveränderung einige Erleichterung ihres Elendes erwarten konnten. Die Gelegenheit dazu konnte nicht lange ausbleiben. Ogul, der Kan einer benachbarten tatarischen Völkerschaft, ersah sich des Augenblicks, da einige Fürsten aus wenig erheblichen Ursachen den damaligen König vom Throne gestoßen hatten, und über die Erwählung eines neuen sich unter sich selbst und mit den übrigen so wenig vergleichen konnten, daß endlich beinahe so viel Könige, als Scheschian Provinzen hatte, aufgeworfen wurden. Da keiner von diesen Nebenbuhlern den andern neben sich dulden wollte, so erfuhr dieses unglückliche Reich alle Drangsale und Greuel der Anarchie und Tyrannie zu gleicher Zeit: die eine Hälfte der Nation wurde aufgerieben, und die andere dahin gebracht, einen jeden, der sie, auf welche Art es auch sein möchte, von ihren Unterdrückern befreien wollte, für ihren Schutzgott anzusehen. Viele, welche alles hoffen konnten weil sie nichts mehr zu verlieren hatten, schlugen sich auf die Seite des Eroberers; die minder mächtigen Rajas und Großen des Reichs folgten ihrem Beispiel; und die übrigen wurden um so leichter überwältiget, da ihre Uneinigkeit sie verhinderte, mit Nachdruck gegen den gemeinschaftlichen Feind zu arbeiten. Ogul-Kan wurde also in kurzer Zeit ruhiger Besitzer des scheschianischen Reiches. Das Volk, welches in mehr als Einer Betrachtung bei dieser Staatsveränderung gewann, dachte nicht daran, und konnte nicht daran denken, seinem Befreier Bedingungen vorzuschreiben. Die ehmaligen Großen, welche daran dachten, waren nicht mehr die Leute, die sich eine solche Freiheit mit ihrem Überwinder hätten heraus nehmen dürfen, und mußten sich gefallen lassen, selbst das wenige, was ihnen von ihrer verlornen Größe gelassen wurde, als eine Gnade aus seinen Händen zu empfangen. Die Verfassung des neuen Reichs von Scheschian war also [34] diejenige einer unumschränkten Monarchie; das ist, das Reich hatte gar keine Verfassung, sondern alles hing von der Willkür des Eroberers ab, oder von dem Grade von Weisheit oder Torheit, Güte oder Verkehrtheit, Billigkeit oder Unbilligkeit, wozu ihn Temperament, Umstände, Laune und Zufall von Tag zu Tage bestimmen mochten.

Zum Glücke für die Überwundnen war der KönigOgul, wie die meisten tatarischen Eroberer, eine ganz gute Art von Fürsten« –

»Wenn es geschehen könnte ohne Sie zu unterbrechen, Madam«, sagte Schach-Gebal, »so möchte ich wohl wissen, was Sie mit Ihrer ganz guten Art von Fürsten sagen wollen?«

»Sire«, erwiderte die schöne Nurmahal, »ich gestehe, daß nichts Unbestimmteres ist als dieser Ausdruck. Das was man gewöhnlich eine ganz gute Art von Fürsten zu nennen pflegt, dürfte wohl öfters eine sehr schlimme Art von Fürsten sein; aber so war es nicht in gegenwärtigem Falle. Ogul-Kan hatte zwar einige beträchtliche Untugenden. Er war so eifersüchtig auf seine willkürliche Gewalt, daß man gar leicht das Unglück haben konnte ihn zu beleidigen; beleidigt war er rachgierig, und in seiner Rache grausam. Außerdem hatte er die schlimme Gewohnheit, alle schöne Frauen als sein Eigentum anzusehen; und, wenn er den Wein weniger geliebt hätte, würde ihm sogar der berühmte Sultan Salomon in diesem Stücke habe weichen müssen. Aber diese Fehler« –

»Es sind sehr wesentliche Fehler«, sagte Schach-Gebal –

»Ohne Zweifel, Sire«, versetzte Nurmahal: »aber wenige Völker und Zeiten sind so glücklich, mit einem Fürsten beseligt zu werden, an welchem selbst seine Fehler liebenswürdig sind; wenn man anders Fehler nennen kann, was allein in dem Übermaß gewisser Vollkommenheiten seine Quelle hat« –

»Kleine Schmeichlerin!« sagte Schach-Gebal, indem er sie sanft auf einen ihrer Arme klopfte, dessen schöne Form ihre weiten zurück geschlagenen Ärmel sehen ließen; ein kleiner Umstand, der die beste Vorlesung am Bette Seiner Hoheit hätte unnütz machen können, wenn Zeit und Gewohnheit unsern Sultan nicht zu einem der vollkommensten Stoiker über diesen Punkt gemacht hätten.

»Diese Fehler also« (fuhr Nurmahal fort) »wurden durch einige sehr wichtige Tugenden vergütet. Ogul-Kan ließ sich die Geschäfte der Regierung sehr angelegen sein; er brachte den Ackerbau in Aufnahme, stellte die zerstörten Städte wieder her, legte neue an, lockte aus benachbarten Staaten die Künste in die seinigen, suchte Talente und Verdienste auf, um sie zu belohnen und Gebrauch von ihnen [35] zu machen, ehrte die Tugend, und konnte es zu gewissen Zeiten wohl leiden, wenn man ihm die Wahrheit sagte.«

»Diese letzte Eigenschaft versöhnt mich wieder mit euerm Ogul«, sagte der Sultan lächelnd. »Wenn er den Wein weniger geliebt hätte, so möchte er einen Platz unter den großen Männern seiner Zeit verdient haben.« 9

»Ogul-Kan besaß bei allen diesen guten Eigenschaften noch eine, die unter den gehörigen Einschränkungen einem Fürsten viel Ehre macht, wofern er unglücklich genug ist, ihrer vonnöten zu haben. Es begegnete ihm in den Aufwallungen seiner Leidenschaften ziemlich oft, ungerecht und grausam zu sein: aber sobald das Übel geschehen war, kam er wieder zu sich selbst, und dann pflegte er sein Haupt nicht eher sanft zu legen, bis er demjenigen, der dadurch gelitten, alle nur mögliche Erstattung getan hatte.«

»Zum Exempel, wie pflegten es wohl Seine Majestät Ogul-Kan zu halten, wenn Sie einem etwa ohne Ursache den Kopf hatten abschlagen lassen?« – fragte Danischmend. »Besaßen Sie vielleicht das Geheimnis der magischen Mundkügelchen, womit der PrinzThelamir seinem Bruder und der schönen Dely ihre Köpfe wieder aufsetzte, als er sie ihnen aus einem Irrtum der Eifersucht abgeschlagen hatte?«

»Wie begierig der Doktor nach diesem Anlaß schnappt, seine Belesenheit in den Geistermärchen zu zeigen!« flüsterte der junge Mirza dem Sultan zu.

»Danischmend«, sagte der Sultan, »hat den kleinen Fehler, die Freiheit unverschämt zu sein, die ihm als einem Philosophen zusteht, zuweilen zu mißbrauchen. Man muß es mit diesen Herren so genau nicht nehmen. Aber meinen Freund Ogul soll er ungehudelt lassen, wenn anders ein Philosoph eines guten Rates fähig ist.«

»Mit einem Worte«, fuhr Nurmahal fort, »Ogul war bei allen seinen Fehlern ein so ruhmwürdiger Fürst, daß selbst die damaligen Bonzen in Scheschian in die Wette eiferten, Gutes von ihm zu sagen. [36] ›Nichts mangelte ihm, um der beste unter den Königen zu sein‹, sagten sie, ›als daß er, aller Hoffnung ungeachtet, die wir uns von ihm zu machen Ursache hatten, aus der Welt gegangen ist, ohne jemals dem großen Affen ein Opfer gebracht zu haben.‹«

»Wissen Sie auch, meine schön Sultanin«, sagte Schach-Gebal, »daß es nicht mehr bedarf, als was Sie uns eben zu melden beliebten, um Ihren Ogul auf die unwiderbringlichste Weise mit mir zu veruneinigen? Beim Barte des Propheten! der König, von welchem seine Bonzen in die Wette Gutes reden, muß – ich mag nicht sagen was er sein muß. Gehen Sie, gehen Sie, Nurmahal, nichts mehr von Ihrem Ogul! Er muß eine schwache, einfältige, leichtgläubige, hasenherzige Seele gewesen sein; das ist so klar wie der Tag. Seine Bonzen haben ihn gelobt! Welche Demonstration im Euklides beweist schärfer?«

»Wenn es der Philosophie jemals erlaubt sein könnte«, sagte Danischmend mit affektiertem Stottern, »dem König der Könige, meinem Herrn« –

»Nun, Doktor«, unterbrach ihn der Sultan, »laß hören, was du uns im Namen deiner gebietenden Dame zu sagen hast. Ich bin auf eine Impertinenz gefaßt. Nur heraus, aber nicht gestottert, Herr Danischmend, oder ich klingle« –

Der beste Sultan bleibt doch immer Sultan, wie man sieht. Diese Drohung, mit einer gewissen Miene begleitet, welche wenigstens besorgen ließ, daß er fähig sein könnte Ernst daraus zu machen, war nicht sehr geschickt, dem armen Danischmend Mut zu geben. Allein zu seinem Glücke kannte er den Sultan, seinen Herrn. Ohne sich also schrecken zu lassen, sagte er: »Die Philosophie, Sire, ist eine Unverschämte, wie Ihre Hoheit zu sagen geruhet haben; denn sie bedenkt sich keinen Augenblick, den Königen selbst unrecht zu geben, wenn die Könige unrecht haben. Aber in gegenwärtigem Fall ist meine demütige Meinung, Ihre Hoheit und die Philosophie könnten wohl beide recht haben. Das Lob der Bonzen, welches in Ihren Augen der größte Tadel ist den sich Ogul zuziehen konnte, war es unstreitig, wenn es von Herzen ging. 10 Aber dies ist gerade die Frage; oder vielmehr, [37] es ist keine Frage: denn wie konnte es von Herzen gehen, da sie alles Gute, was sie von ihm sagten, mit einem einzigen Aber wieder zurück nahmen? Was halfen dem guten König Ogul alle seine Tugenden? Ging er nicht aus der Welt, ohne dem großen Affen geopfert zu haben? Ihre Hoheit kennen diese Herren zu gut, um den ganzen Nachdruck eines solchen Vorwurfs nicht zu übersehen.«

»Du gestehst also doch ein«, erwiderte der Sultan, »daß sie ihn bis zum Himmel erhoben haben würden, wenn er sich hätte entschließen können, dem großen Affen zu opfern?«

»Mit Ihrer Hoheit Erlaubnis«, sagte Danischmend, »das gesteh ich nicht ein. In diesem Falle würden sie leicht einen andern Vorwand gefunden haben, ihr heuchlerisches Lob zu entkräften. Ihre Hoheit wissen, daß es nur ein einziges Mittel gibt, den aufrichtigen Beifall der Bonzen zu erlangen, und Ogul (mit aller Ehrerbietung, die ich ihm schuldig bin, sei es gesagt) scheint mir derjenige nicht zu sein, den jemals der Ehrgeiz geplagt hätte, eine so teure Ware zu kaufen

»Wie, wenn ich meinen Iman kommen ließe, die Frage zu entscheiden?« sagte der Sultan.

»Sein Ausspruch läßt sich erraten, ohne daß man darum mehr von der Kabbala zu verstehen nötig hat als andre«, versetzte Danischmend. »Er würde wider die Bonzen sprechen. Wie sollten Bonzen bei einemIman recht haben können?«

»Ich denke, Danischmend hat sich ganz erträglich aus der Sache gezogen«, sagte Schach-Gebal.

»Ihre Hoheit beweisen durch Ihre Abneigung vor den Bonzen, [38] daß Sie ein guter Musulmann sind«, sprach die schöne Nurmahal. »Aber der Geschichte getreu zu bleiben, muß ich sagen, daß die Bonzen, wenn sie Gutes von Ogul-Kan sprachen, hinlängliche Ursache dazu hatten. Es ist wahr, dieser Prinz betrog eine vielleicht ausschweifende Hoffnung, die sie auf etwas gegründet hatten, was vernünftiger Weise keine Grundlage zu einer solchen Hoffnung sein konnte, ›weil es bloß die Frucht weiser Grundsätze der Regierung war‹. Aber die Achtung, die er, diesen Grundsätzen zu Folge, ihrem Orden bewies; der Schutz, den sie von ihm genossen; und die behutsame Art, womit er in allen Sachen zu verfahren pflegte, die den unvernünftigen, aber nun einmal eingeführten Dienst des großen Affen betrafen; – berechtigten ihn allerdings, wo nicht zur Erkenntlichkeit, doch wenigstens zu einigem Grade von Billigkeit auf Seite der Bonzen. Und gesetzt auch, man wollte ihnen diese Tugend nicht gern ohne Beweis zugestehen; so ist doch zu vermuten, daß sie Klugheit genug hatten, aus Furcht zu tun, was gewöhnliche Menschen aus einem edlern Beweggrunde getan hätten.«

Unter dieser Rede der schönen Nurmahal entfuhr dem Sultan ein Ton, der ein Mittelding zwischen Seufzen und Gähnen war. Der Mirza gab der Dame das abgeredete Zeichen, und sie war im Begriff abzubrechen, als Schach-Gebal, der gerade bei guter Laune war, durch einen Wink zu erkennen gab, daß er ihrer Erzählung noch nicht überdrüssig sei.

»Ogul-Kan«, fuhr sie fort, »hatte etliche Nachfolger, welche über die Schaubühne gingen und wieder verschwanden, ohne irgend etwas so Gutes oder so Böses getan zu haben, daß es der Aufmerksamkeit der Nachwelt zu verdienen schien. Man nannte sie deswegen in den Jahrbüchern von Scheschian die namenlosen Könige; denn die Nation bekam so wenig Gelegenheit ihre Namen zu hören, daß die wenigsten sagen konnten, wie der regierende Sultan heiße. Wenn dieser Umstand der Nachwelt einen nur sehr mittelmäßigen Begriff von den Verdiensten dieser Prinzen gibt: so muß man doch gestehen, daß ihre Zeitgenossen sich vielleicht nicht desto schlimmer dabei befanden. Das Stillschweigen der Geschichte scheint wenigstens so viel zu beweisen, daß Scheschian unter ihrer unberühmten Regierung nicht unglücklich war; und nicht unglücklich sein, ist wenigstens ein sehr leidlicher Zustand« –

»Nur kann er nicht lange dauern«, sagte Danischmend: »denn dieser leidliche Zustand scheint mir bei einem ganzen Volke eben das zu sein, was bei einem einzelnen Menschen der Mittelstand zwischen Krankheit und Gesundheit ist; eines von beiden muß [39] darauf erfolgen; entweder man wird wieder gesund, oder man schmachtet sich zu Tode.«

»Vielleicht würde dies der Fall der Scheschianer gewesen sein«, fuhr Nurmahal fort, »wenn der letzte von diesen namenlosen Königen nicht das Glück gehabt hätte, eine Geliebte zu besitzen, durch welche seine Regierung eine der merkwürdigsten und glänzendsten in der Geschichte dieses Reiches geworden ist.«

»Vortrefflich!« rief Schach-Gebal mit einer Grimasse: »ich liebe die Könige, welche die Erwähnung, so die Geschichte von ihnen tut, ihren Mätressen zu danken haben!«

»Ich muß nicht vergessen, Sire«, sagte die schöne Nurmahal, »daß die Scheschianer in diesem Stück eine Gewohnheit haben, worin sie, so viel ich weiß, von allen übrigen Völkern des Erdbodens abgehen; eine Gewohnheit, welche die Zahl der namenlosen Könige bei allen Nationen beträchtlich vermehren würde, wenn sie allenthalben eingeführt wäre. Nichts, was unter der Regierung eines Königes geschah, wurde dem Könige zugeschrieben, wofern er es nicht selbst getan hatte. Vortreffliche Gesetze und Anstalten konnten gemacht, Schlachten gewonnen, Provinzen erobert, oder (was wenigstens eben so gut ist) erhalten und verbessert werden, ohne daß der Ruhm des Königes den kleinsten Zuwachs dadurch erhielt. Alles was geschah, Gutes oder Böses, wurde demjenigen zugeschrieben der es getan hatte; und der König, der nichts getan hatte, war und blieb ein namenloser König, gesetzt auch, daß zu seiner Zeit die größten Dinge in seinem Reiche geschehen wären.«

»Nichts kann billiger sein«, sagte der Sultan. »Jedem das Seine! Einem Fürsten das Gute zuschreiben, das seine Minister tun (ich nehme den Fall aus, wo sie bloß die Werkzeuge, oder so zu sagen die Gliedmaßen sind, durch welche er, als die Seele des ganzen Staatskörpers, wirket) wäre eben so viel, als ihm ein Verdienst aus der Fruchtbarkeit seiner Länder zu machen, weil er die Sonne scheinen und Regen fallen läßt.«

Nurmahal, Danischmend und der junge Mirza erteilten dieser Anmerkung ihren Beifall in vollem Maße, und mit aller der Bewunderung, welche sie um so mehr verdiente, da sie wirklich uneigennütziger war, als Schach-Gebal selbst sich vielleicht schmeicheln mochte.

»Der gute König von Scheschian«, fuhr Nurmahal in ihrer Erzählung fort, »der zu dieser in dem Munde eines großen Monarchen so preiswürdigen Anmerkung Gelegenheit gegeben hat, was auch sein Name gewesen sein mag, verdient wenigstens das Lob eines guten [40] Geschmacks in der Wahl seiner Günstlinge; denn die schöne Lili, seine Favoritin, war aus allem, was eine Person unsers Geschlechtes liebenswürdig machen kann, zusammen gesetzt. Und sollten ihr auch die Dichter, Maler, Bildhauer und Schaumünzenmacher ihrer Zeit geschmeichelt haben, so ist doch nicht zu leugnen, daß die Nation Ursache hatte, ihr Andenken zu segnen. Niemals ist eine größere Gönnerin der Künste gewesen, als die schöne Lili. Sie führte den Seidenbau in Scheschian ein, und zog eine Menge persischer, sinesischer und indischer Künstler herbei, welche durch ihren Vorschub alle Arten von Manufakturen zu Stande brachten. Die Scheschianer lernten unter ihrer Regierung – dies ist der eigene Ausdruck der Geschichtschreiber – Bequemlichkeiten und Wollüste kennen, von welchen die meisten noch keinen Begriff gehabt hatten. Man glaubte ihr den Genuß eines neuen und unendliche Mal angenehmern Daseins zu danken zu haben. Sie brachte die Schätze in einen belebenden Umlauf, die in den Schatzkammern der vorigen Könige, wie die Leichen der Pharaonen in ihren Pyramiden, auf eine unnützlich prahlerhafte Weise begraben lagen. Ihr Beispiel reizte die Großen und Begüterten zur Nachahmung. Die Hauptstadt bildete sich nach dem Hofe, und die Städte der Provinzen nach der Hauptstadt. Erfindsamkeit und Fleiß bestrebten sich in die Wette, den ganzen Staat in eine so lebhafte als heilsame Tätigkeit zu setzen; denn Erfindsamkeit und Fleiß war der gerade Weg zu Überfluß und Gemächlichkeit, und wer wünscht nicht so angenehm zu leben als möglich? Die wohltätige Lili machte die Einwohner von Scheschian auch mit den Reizungen der Musik und der Schauspiele bekannt; und so nachteilig in der Folge alle diese Geschenke ihrem Wohlstande wurden, so unleugbar ist es, daß sie anfangs eine sehr gute Wirkung taten. So wie sich das Gefühl der Scheschianer verfeinerte, so verschönerten sich auch zusehens ihre Sitten. Man wurde geselliger, sanfter, geschmeidiger, man vertrug sich besser, man lernte sich mit einander freuen, und fühlte sich selbst desto glücklicher, je größer die Menge der Glücklichen war, die man um sich sah, und so weiter; – denn es würde sehr unnötig sein, Ihrer Hoheit alle die guten Wirkungen des Geschmacks und der Künste vorzuzählen, von welchen Sie Selbst ein so großer Kenner und Beförderer sind. Freilich gab es hier und da milzsüchtige, zur Freude untüchtig gewordene Leute, die ein klägliches Geschrei über diese Neuerungen erhoben. ›Welche Greuel!‹ riefen sie, indem sie ihre übel gekämmten Köpfe mit Unglück-weissagender Miene schüttelten. ›Was werden die Früchte davon sein? Diese Liebe zu Gemächlichkeiten [41] und Ergetzungen, dieser verfeinerte Geschmack, dieser herrschende Hang zur Sinnlichkeit, wird die Nation zu Grunde richten. Üppige Feiertage werden den Gewinn der arbeitsamen Tage, üppiger Aufwand den Überfluß der sparsamen Mäßigkeit verzehren; die Wollust wird den Müßiggang, der Müßiggang die ganze verderbliche Brut der Laster herbei ziehen. DieReichen werden unersättlich werden, und bei aller Verfeinerung ihrer Empfindungen sich kein Bedenken machen, von dem Eigentume der Armen, so viel sie nur können, in ihren Strudel hinein zu ziehen. DieArmen werden eben so wenig gewissenhaft sein,alles, wie ungerecht und schändlich es immer sein mag, zu tun und zu leiden, wenn es nur ein Mittel abgeben kann, sich in den beneideten Zustand der Reichen zu schwingen. Ungeheuer von Lastern, unnatürliche Ausschweifungen, Verräterei, Giftmischerei und Vatermord werden durch ihre Gewöhnlichkeit endlich das Abscheuliche verlieren, das sie für die unverdorbene Menschheit haben; und nicht eher, als bis die Nation unwiederbringlich verloren ist, wird man gewahr werden, daß die schöne Lili die zauberische und geliebte Urheberin unsers Verderbens war.‹

Einige alte Leute, die im Laufe von sechzig oder siebzig Jahren weislich genug gelebt hatten, um im Alter noch nicht allem Anteil an den Freuden des Lebens entsagen zu müssen, sahen die Sache aus einem andern Gesichtspunkt an. – ›Unsere milzsüchtigen und nervenlosen Brüder haben nicht ganz unrecht‹, sagten sie:›Ergetzungen und Wollüste können, als die Würze des Lebens, durch übermäßigen Gebrauch nicht anders als schädlich sein. Die Natur hat sie zurBelohnung der Arbeit, nicht zur Beschäftigung des Müßiggangs bestimmt. Gleichwohl ist unleugbar, daß nicht die schöne Lili, sondern die Natur selbst, dieZaubrerin ist, die uns diesen göttlichen Nektar darreicht, den sie mit eigenen Händen für uns zubereitet hat, und wovon etliche Tropfen genug sind, uns aller Mühseligkeiten des Lebens vergessen zu machen. Oder ist es nicht die Natur, die den Menschen von einem Grade der Entwicklung zum andern fortführt, und, indem sie durch die Bedürfnisse seine Einbildungskraft und durch die Einbildungskraft seine Leidenschaften spielen macht, diese vermehrte Geselligkeit, dieses verfeinerte Gefühl, diese Erhöhung seiner empfindenden und tätigen Kräfte hervorbringt, wodurch der Kreis seiner Vergnügungen erweitert, und seine Fähigkeit, des Daseins froh zu werden, mit seinen Begierden zugleich vermehrt wird? Laßt uns also der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich irre führen kann!

[42] Nicht sie, – unsre Ungeduld, unsre Gierigkeit im Genießen, unsre Unachtsamkeit auf ihre Warnungen, ist es, was uns auf Abwege verleitet. Jede höhere Stufe, welche der Mensch betritt, erfodert eine andere Lebensordnung; und eben darum, weil der große Haufe der Sterblichen als unmündig anzusehen ist, und sich nicht selbst zu regieren weiß, muß er dieses Amt einer gesetzgebenden Macht überlassen, welche immer das Ganze übersehen, und ihren Untergebenen, mit jeder merklichen Veränderung ihrer Umstände, auch die darnach abgemessenen Verhaltungsregeln vorschreiben soll. Es lebe die schöne Lili! Sie hat sich ein Recht an unsre Dankbarkeit erworben, denn sie hat uns Gutes getan. Aber wenn sie sich nun auch gefallen lassen wollte, uns eine so vollkommene Polizei zu geben, als wir bedürfen, wenn uns ihre Geschenke nicht verderblich werden sollen: dann verdiente sie, wenigstens so gut als der große Affe, daß wir ihr Pagoden erbaueten!‹

Die schöne Lili hüpfte auf dem blumichten Wege fort, auf den eine wollüstige Einbildungskraft sie geleitet hatte, ohne sich um die Drohungen der einen, noch um die Warnungen der andern zu bekümmern. Sie genoß des Vergnügens, der Gegenstand der Liebe und Anbetung einer ganzen Nation zu sein. Umflattert von Freuden und Liebesgöttern, goß sie überall, so weit ihre Blicke reichten, süßes Vergessen aller Sorgen, Entzücken und Wonne aus. Hierin schien sie ihre eigene vollkommenste Befriedigung zu finden. Aber ihre Wohltätigkeit erstreckte sich nur auf den gegenwärtigen Augenblick. Ihre Sinnesart teilte sich unvermerkt der ganzen Nation mit, welches um so leichter geschehen mußte, da keine andre dem Menschen natürlicher ist. Man genoß des Lebens, und niemand dachte an die Zukunft

»Ich liebe diese Lili«, rief der Sultan in einem Anstoß von Lebhaftigkeit, den man seit langer Zeit nicht an ihm bemerkt hatte. »Ich muß bekannter mit ihr werden. Gute Nacht, Mirza und Danischmend! Nurmahal soll da bleiben, und mir das Bildnis der schönen Lili machen.«

3
3.

»Unstreitig war Vernunft in der Schutzrede, welche die alten Knaben dem Vergnügen und der schönen Lili hielten«, – sagte der Sultan, als sich seine gewöhnliche Gesellschaft des folgenden Abends in seinem Schlafzimmer versammelt hatte. »Aber ich gestehe, daß ich nicht recht begreife, was sie mit ihrer Lebensordnung sagen wollen, oder was für eine Polizei das sein soll, wodurch [43] allen den Übeln vorgebeuget werden könnte, womit uns die schwarzgelben Sittenlehrer so fürchterlich bedräut haben. Die Sache liegt mir am Herzen. Ich denke, ich habe alles mögliche getan, um meine Völker glücklich zu machen; aber es sollte mir leid tun, wenn ich ihnen, wider meine gute Absicht, ein gefährliches Geschenk gemacht hätte.«

(»Diesen Kummer könnten Sich Ihre Majestät ersparen«, dachte Danischmend – so leise als möglich.)

»Herr Danischmend« – fuhr Schach-Gebal fort – »man ist kein Philosoph um nichts! Wie wär es, wenn deine Weisheit uns diese Sache ins Klare zu setzen belieben wollte?«

»Sire«, antwortete Danischmend, »meine Weisheit ist zu Ihrer Majestät Befehlen. Aber zuvörderst bitte ich demütig um Erlaubnis, eine kleine Geschichte erzählen zu dürfen.«

Schach-Gebal nickte ein sultanisches Ja, und der Philosoph fing also an.

»Zu den Zeiten des Kalifen Harun Al Raschid« – –

»Fi, Herr Doktor«, unterbrach ihn der Sultan, »das fängt verdächtig an! Sobald man diesen Kalifen nennen hört, kann man sich nur gleich auf Genien und Verwandlungen gefaßt halten, oder auf platte Historien von kleinen Buckligen, schwatzhaften Barbierern, und liederlichen Königssöhnchen, welche, um eine lange Reihe begangener Torheiten mit einem würdigen Ende zu krönen, sich die Augenbraunen abscheren und Kalender werden

»Ich stehe Ihrer Hoheit mit meinen Augenbraunen dafür«, sagte Danischmend, »daß weder Bucklige noch Kalender in meiner Erzählung vorkommen, und daß alles so natürlich darin zugehen soll, als man es nur wünschen kann.

Zu den Zeiten des besagten Kalifen also begab sich, daß ein reicher Emir aus Yemen auf seiner Rückreise von Damask das Unglück hatte, in den Gebirgen des felsigen Arabiens von Räubern überfallen zu werden, welche so unhöflich waren, sein Gefolge niederzusäbeln, und nachdem sie die schönen Frauen, die er zum Staate mit sich führte, nebst allen Kostbarkeiten, die er bei sich hatte, zu Handen genommen, sich so schnell, als sie gekommen waren, wieder ins Gebirge zurück zogen. Glücklicher Weise für den Emir war er gleich zu Anfang des Gefechtes in Ohnmacht gefallen; ein Umstand, der so viel wirkte, daß die Räuber sich begnügten, ihm seine schönen Kleider auszuziehen, und ihn, ohne sich zu bekümmern ob er wirklich tot sei, unter den Erschlagenen liegen zu lassen.«

»Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »nicht so umständlich!

[44] Zur Sache, wenn ich bitten darf. Der Ton, worin du angefangen hast, ist vollkommen der Ton meiner lieben Ältermutter, welche bekannter Maßen ihre eigenen Ursachen hatte, warum sie ihre Märchen in eine so unbarmherzige Länge zog.«

»Um also Ihre Majestät nicht mit Nebenumständen aufzuhalten«, fuhr Danischmend fort, »so kam der gute Emir wieder zu sich selbst, und stellte sehr unangenehme Betrachtungen an, da er sich in einem wilden unbekannten Gebirge auf einmal ohne Zelten, ohne Geräte, ohne seine Weiber und Verschnittenen, ohne Küche, und sogar ohne Kleider befand; er, der von dem ersten Augenblicke seines Lebens, dessen er sich erinnern konnte, an allen ersinnlichen Gemächlichkeiten niemals einigen Mangel gelitten hatte. Da es zu besserer Verständnis dieser Geschichte wesentlich ist, daß Ihre Majestät Sich eine lebhafte Vorstellung von diesem Zustande des Emirs machen, so muß ich mir die Freiheit nehmen, Sie zu bitten, Sich an seinen Platz zu setzen, und zu denken, wie Ihnen in einer so verzweifelten Lage zu Mute wäre.«

»Herr Danischmend«, sagte der Sultan ganz trocken, »ich habe gute Lust, mir diese Mühe zu ersparen, und mir dafür von dir erzählen zu lassen, wie einem Erzähler zu Mute sei, dem ich für die Bemühung, mich gähnen zu machen, dreihundert Prügel auf die Fußsohlen geben lasse.«

Dieser Anstoß von sultanischer Laune deuchte der schönen Nurmahal so unbillig, daß sie den Sultan bat, den armen Doktor nicht durch Drohungen zu schrecken, welche fähig wären, den besten Erzähler in der Welt aus der Fassung zu bringen. Aber Danischmend kannte die Weise seines Herren. »Alles, warum ich Ihre Majestät bitte«, sagte er, »ist, die Gnade zu haben, und mir die versprochenen dreihundert Prügel nicht eher geben zu lassen, bis ich mit meiner Geschichte fertig sein werde; denn, in der Tat, sie ist nicht so übel als man sich nach ihrem Anfange vorstellen sollte.«

»Gut«, sagte der Sultan lachend, »so erzähle denn nach deiner eigenen Weise: ich verspreche dir, daß ich dich nicht wieder unterbrechen will.«

Danischmend stand auf, warf sich vor dem Sultan zur Erde, küßte den Saum seiner Bettdecke, um seine Dankbarkeit für dieses gnädige Versprechen zu bezeigen, und fuhr hierauf in seiner Erzählung also fort.

»Von allen diesen Betrachtungen des Emirs (welche zu verworren und unangenehm waren, als daß es ratsam sein könnte, sie Ihrer Majestät vorzulegen) war das Ende, daß er sich entschließen mußte, [45] eine Sache zu tun, die ihn aus Mangel der Gewohnheit sehr hart ankam, nämlich seine Beine in Bewegung zu setzen, und zu versuchen, ob er irgend einen Weg aus dieser Wildnis finden möchte. Die Sonne neigte sich schon stark, als er endlich mit unbeschreiblicher Mühe einen Ort erreichte, wo das Gebirge sich öffnete, und ihm die Aussicht in ein Tal zu genießen gab, welches seine Einbildung selbst sich nicht reizender hätte schaffen können. Der Anblick einiger wohl gebauten Wohnungen, die zwischen den Bäumen aus dem schönsten Grün hervorstachen, ermunterte ihn seine letzten Kräfte zusammen zu raffen, um diese Wohnungen wo möglich noch vor Untergang der Sonne zu erreichen. In der Tat war der ganze Weg, den er schon zurückgelegt und den er noch vor sich hatte, nicht um zehen Schritte mehr, als was ein junger Landmann alle Tage morgens und abends ohne Murren unternimmt, um seinem Mädchen einen Kuß zu geben; aber für die schlaffen Sehnen und marklosen Knochen des Emirs war dies eine ungeheure Arbeit. Er mußte sich so oft niedersetzen, um wieder zu Atem zu kommen, daß es finstre Nacht wurde, eh er die Pforte der nächsten Wohnung erreichte, die einer Art von ländlichem Palast ähnlich sah, aber nur von Holze gebaut war. Ein angenehmes Getöse, aus Gesang, Saitenspiel und andern Zeichen der Fröhlichkeit vermischt, welches ihm schon von fern aus diesen Wohnungen entgegen kam, vermehrte seine Verwundrung, alles dies mitten in dem ödesten Gebirge zu finden. Da er keine andre Belesenheit als in Geistermärchen hatte, so war sein erster Gedanke, ob nicht alles, was er sah und hörte, ein Werk der Zauberei sei. So furchtsam ihn dieser Gedanke machte, so überwog doch endlich das Gefühl seiner Not. Er klopfte an, und bat einen Hausgenossen, welcher heraus kam um zu sehen was es gäbe, mit einer so wunderlichen Mischung von Stolz und Demut um die Nachtherberge, daß man ihn vermutlich abgewiesen hätte, wenn die Gastfreiheit ein weniger heiliges Gesetz bei den Bewohnern dieser Gegend gewesen wäre. Der Emir wurde mit freundlicher Miene in einen kleinen Saal geführt, wo man ihn ersuchte, sich auf einen unscheinbaren aber sehr weich gepolsterten Sofa niederzulassen. In wenigen Augenblicken erschienen zwei schöne Jünglinge, um ihn in ein Bad zu führen, wo er mit ihrer Beihülfe gewaschen, beräuchert, und mit einem netten Anzuge von dem feinsten baumwollenen Zeuge bekleidet wurde. Damit ihm die Weile nicht zu lang würde, trat ein niedliches Mädchen, so schön als er jemals eines in seinem Harem gehabt hatte, mit einer Theorbe in der Hand herein, setzte sich ihm gegenüber, und sang ein Lied, aus dessen Inhalt er so viel abnehmen konnte, daß man [46] über die Ankunft eines so angenehmen Gastes sehr erfreut sei. Er wußte immer weniger, was er von der Sache denken sollte; aber die Gestalt und die Stimme der jungen Dirne, die er eher für eine Perise, oder gar für eine von denHuris des Paradieses zu halten versucht war, ließen ihm keine Zeit zu sich selbst zu kommen. Beides, nebst der freundlichen Aufnahme, die ihm widerfuhr, wirkte so stark auf seine Sinne, daß er unvermerkt aller Ursachen zur Traurigkeit und alles erlittenen Ungemachs vergaß, und, durch eine sanfte Gewalt fortgezogen, sich den Eindrücken überließ, die man auf ihn machen wollte.

Wenn dies die weiseste Entschließung war, die er in seinen Umständen nehmen konnte, so muß man auch gestehen, daß er sich sehr wohl dabei befand. Kaum war er angekleidet, so erschien derjenige wieder, der ihn zuerst aufgenommen hatte, und winkte ihm, ohne ein Wort zu sprechen, ihm zu folgen. DerEmir kam in einen großen mit Wachslichtern stark erleuchteten Saal, aus welchem ihm, so wie die Tür sich auftat, der angenehmste Wohlgeruch von frischen Nelken und Pomeranzenblüten entgegen wehte. Viele niedrige Tafeln, um welche rings herum ein wohl gepolsterter Sofa sich zog, standen mit feinem schneeweißen Leinen gedeckt, welches mit einem breiten Saume von zierlichem Stickwerk eingefaßt war. Die Mitte des Saals wimmelte von jüngern und ältern Personen beiderlei Geschlechts, die ihn mit einem offnen gutherzigen Gesicht empfingen, und ihn insgesamt durch die edle Schönheit ihrer Gestalt und Bildung, und durch einen über ihr ganzes Wesen ausgegossenen Ausdruck von Güte und Fröhlichkeit in die angenehmste Überraschung setzten. In einer Ecke stand ein schöner Brunnen, wo eine Nymphe, an einem mit Schasmin bewachsenen Felsenstücke auf Moos liegend, aus ihrer Urne kristallhelles Wasser in ein Becken von schwarzem Marmor goß. Der ganze Saal war mit großen Blumenkränzen behangen, die von etlichen jungen Mädchen von Zeit zu Zeit mit frischem Wasser angespritzt wurden. Alles dies zusammen genommen machte einen sehr angenehmen Anblick; aber es war nicht das Schönste, was sich seinen Augen in diesem bezauberten Orte darstellte. Ein ehrwürdiger Greis, mit silberweißen Haaren, lag, in der Stellung einer gesunden und vergnüglichen Ruhe nach der Arbeit, auf dem obersten Platze des Sofas; ein Greis, wie der gute Emir weder jemals einen gesehen, noch für möglich gehalten hatte daß es einen solchen geben könnte. Munterkeit des Geistes glänzte aus seinen noch lebhaften Augen; achtzig Jahre eines glücklichen Lebens hatten nur schwache Furchen auf seiner heiter ausgebreiteten Stirne gezogen, [47] und die Farbe der Gesundheit blühte gleich einer späten herbstlichen Rose noch auf seinen freundlichen Wangen. ›Dies ist unser Vater‹, sagten einige junge Personen, die denEmir umgaben, indem sie ihn an der Hand zum Sitze des Alten hinführten.

Der Alte stand nicht auf, machte auch keine Bewegung als ob er aufstehen wollte; aber er reichte ihm die Hand, drückte des Emirs seine mit einer Kraft, welche diesen in Erstaunen setzte, und hieß ihn sehr leutselig in seinem Hause willkommen sein. Aber gleichwohl (sagt mein Autor) sei in dem ersten Blicke, den der Greis auf den Emir geworfen habe, unter den leutseligen Ausdruck der gastfreien Menschenfreundlichkeit etwas gemischt gewesen, welches den Fremden betroffen gemacht habe, ohne daß er sich selbst habe erklären können wie ihm sei. Der Alte hieß ihn Platz an seiner Seite nehmen« –

»Ich habe versprochen, dich nicht zu unterbrechen, Doktor«, sagte der Sultan: »aber ich möchte doch wissen, was in den Blick des Alten gemischt sein konnte, daß es eine solche Wirkung auf den Emir machte?«

»Gnädigster Herr«, versetzte Danischmend, »ich muß Ihrer Majestät bekennen, daß ich diese Geschichte aus einem neuern griechischen Dichter genommen habe, der vermutlich, nach der Weise seiner Zunftgenossen, etwas von dem Seinigen zur Wahrheit hinzu tut, um seine Gemälde interessanter zu machen. ›Es war ein freundlicher Blick‹, sagt er, ›aber mit einem kleinen Zusatze von etwas, das weder Verachtung noch Mitleiden, sondern eine sanfte Mischung von beiden war. Es war‹, fährt er fort, ›der Blick, mit welchem ein Freund der Kunst die gestümmelte Bildsäule eines Praxiteles ansieht, mit etwas von demzürnenden Verdruß untermischt, womit dieser Liebhaber den Goten ansehen würde, der sie gestümmelt hätte.‹«

»Das Bild ist fein, und gibt viel zu denken«, sagte Nurmahal. »Weiter, Danischmend«, sagte der Sultan.

»Inzwischen wurde das Abendessen aufgetragen, wobei der Emir eine neue Erfahrung machte, die ihm, der so wenig gewohnt war über irgend etwas zu denken, die unbegreiflichste Sache von der Welt zu sein deuchte. Allein, eh ich mich hierüber erklären kann, seh ich mich genötigt, eine kleine Abschweifung über den Charakter dieses Emirs zu machen, der eine Hauptfigur in meiner Erzählung vorstellt, wiewohl es in der Tat nur die Rolle eines Zuschauers ist. Er war von seiner Jugend an dasjenige gewesen, was maneinen ausgemachten Wollüstling nennt; ein Mensch, der keinen andern [48] Zweck seines Daseins kannte, als zu essen, zu trinken, sich mit seinen Weibern zu ergetzen, und von so mühsamen Arbeiten sich durch eine Ruhe, welche ungefähr die Hälfte von Tag und Nacht wegnahm, zu erholen, um zu der nämlichen Beschäftigung wieder aufzuwachen. Mit dieser groben Sinnlichkeit verband er einen gewissen Stolz, der sehr geschickt war, die nachteiligen Wirkungen derselben zu beschleunigen. Er setzte ihn darein, die schönsten Frauen, die besten Weine, und die gelehrtesten Köche von ganz Asien zu besitzen: aber auch daran genügte ihm noch nicht; er beeiferte sich auch, der größte Esser, der größte Trinker, und der größte Held in einer andern Art von Leibesübung zu sein, worin er mit Verdruß den Sperling und den Maulwurf für seine Meister erkennen mußte. Wenn ein Mann das Unglück hat, bei dieser verkehrten Art von Ehrgeiz alle Mittel zu Befriedigung desselben zu besitzen, so wird man ihn bald genug dahin gebracht sehen, zu Kanthariden und Betel und andern solchen Zwangsmitteln seine Zuflucht zu nehmen. Aber die Natur ermangelt nie, sich für die Beleidigungen, die man ihr zufügt, zu rächen, und pflegt desto grausamer in ihrer Rache zu sein, je weniger Vorwand ihre Wohltätigkeit uns zu Rechtfertigung unsrer Ausschweifungen gelassen hat. Der Emir befand sich also, mit dem reinsten arabischen Blute und der stärksten Leibesbeschaffenheit, in seinem dreißigsten Jahre zu dem elenden Zustande herunter gebracht, der ein Mittelstand zwischen Leben und Sterben ist; gepeinigt durch Erinnerungen, welche sein Vergnügen hätten erhöhen sollen, und verdammt zu ohnmächtigen Versuchen, den Zorn der Natur durch die Geheimnisse der Kunst zu versöhnen, denen er die Verlängerung seines Daseins zu danken hatte. Diese gelehrten Köche, auf die er so stolz war, hatten das Ihrige getreulich beigetragen, zu gleicher Zeit seine Gesundheit zu zerstören, und die Werkzeuge seiner Empfindung abzunützen. So wie die Schwierigkeit seinen stumpfen Geschmack zu reizen zunahm, hatte sich ihr verderblicher Eifer verdoppelt, sie durch die Macht ihrer Kunst zu besiegen. Aber ihre Erfindungen hatten selten einen bessern Erfolg, als ihn den erkünstelten Kitzel etlicher Augenblicke mit langen Schmerzen bezahlen zu lassen.

Unser Emir erstaunte, an der Tafel seines betagten Wirtes die Eßlust wieder zu finden, die er Jahre lang vergebens gesucht hatte. Zwei gleich ungewohnte Dinge, eine Nüchternheit von vierundzwanzig Stunden, und die starke Bewegung, die er sich hatte geben müssen, trugen ohne Zweifel das meiste dazu bei, daß er an der Tafel der Günstlinge des Propheten im Paradiese zu sitzen glaubte. Nicht als [49] hätte die Menge und Kostbarkeit der Speisen, oder eine sehr künstliche Zubereitung das geringste dazu beigetragen; denn es war kein größerer Überfluß da, als die Befriedigung des Bedürfnisses, und die Sorge, dem Geschmack einige Wahl zu lassen, erfoderte; und an der Zubereitung hatte die Kunst nicht mehr Anteil, als sie haben muß, um einen unverdorbenen Geschmack ohne Nachteil der Gesundheit zu vergnügen. Es ist wahr, gewissefeine Kunstgriffe waren dabei beobachtet, die entweder ihrer Einfalt wegen den gelehrten Köchen des Emirs unbekannt geblieben waren, oder vielleicht eine Aufmerksamkeit erfoderten, wozu sich diese wichtigen Leute die Mühe nicht nehmen mochten; indessen war es doch hauptsächlich bloß die natürliche Güte der Speisen, und eine Zurichtung, an welcher Avicenna selbst nichts auszusetzen gefunden hätte, was diese Mahlzeit von den prächtigen und teuern Giftmischereien fürstlicher Tafeln unterschied. Hingegen mußte sich der Emir gestehen, daß der Wein, der vielleicht so alt war als der Wirt, und die Früchte, womit die Mahlzeit beschlossen wurde, so vortrefflich waren, als die Natur beides nur unter dem glücklichsten Himmelsstriche hervorzubringen vermag.

›Ist alles dies Zauberei?‹ fragte sich der Emir alle Augenblicke; ›und was für ein alter Mann ist dies, der bei seinem schneeweißen Bart eine so frische Farbe hat, und dem Essen und Trinken so wohl schmeckt, als ob er erst itzt zu leben anfange?‹ – Er hatte alle Mühe von der Welt seine Verwunderung zurückzuhalten; aber die angenehmen Gespräche, wozu außer ihm selbst alle das Ihrige beitrugen, nebst der ungezwungenen und einnehmenden Art, womit man ihm begegnete, machten es unmöglich, die Gedanken, die in seinem Gehirne herum trieben, in einige Ordnung zu bringen.

›Koste diese Ananas‹, sagte der Alte zu ihm, indem er ihm die vollkommenste Frucht dieser Art anbot, die er jemals gesehen hatte. Der Emir kostete sie, und fand nicht Worte genug, ihren feinen Geschmack und Wohlgeruch zu erheben. ›Ich habe sie selbst mit eigener Hand gezogen‹, sagte der Alte. ›Seitdem ich zu alt bin, meine Söhne und Enkel zu den Feldarbeiten zu begleiten, beschäftige ich mich mit der Gärtnerei. Sie verschafft mir den Grad von Bewegung und Arbeit, den ich nötig habe, um so gesund zu bleiben als du mich siehest; und die frische Luft, mit den reinsten Düften der Blumen und Blüten bebalsamt, trägt vermutlich auch das Ihrige dazu bei.‹ Der Emir hatte nichts hierauf zu antworten: aber das Paar große Augen, die er an seinen Wirt machte, hätt ich sehen mögen! Der Alte pflegte gewöhnlich frisches Wasser, und nach der Mahlzeit drei [50] kleine Gläser Wein zu trinken: ›Das erste‹, sagte er lächelnd, ›hilft meinem alten Magen verdauen, das andere ermuntert meine Lebensgeister, und das dritte schläfert sie wieder ein.‹ Der Emir (welcher kein Wasser trinken konnte, und wenn es aus der Quelle der Jugend gewesen wäre) machte dem Weine seines Wirtes Ehre. Er ließ sich so oft von einem Glase zum andern verleiten, bis er das Vermögen verlor, zu unterscheiden ob er fühle oder sich nur einbilde, daß er so munter sei als der Alte selbst.

Nach der Tafel schlich sich der Mann mit den silbernen Locken unbemerkt hinweg, und eine Weile darauf sagte einer von seinen Söhnen: ›Es ist eine Gewohnheit in unserm Hause, alle Abende vor Schlafengehen eine halbe Stunde in dem Schlafzimmer unsers Vaters zuzubringen. Ein Gast wird bei uns nie als ein Fremder gehalten; willst du uns begleiten?‹ – Der Emir ließ es sich gefallen, und, um artig zu sein, bat er sich die Ehre aus, der ältesten unter den Frauen des Hauses seinen schwachen Arm zu leihen.

Ein Zimmer öffnete sich, welches dem Tempel des wollüstigen Schlafs ähnlich sah. Verschiedene Blumentöpfe von zierlichen Formen düfteten die lieblichsten Gerüche aus, und einige Wachslichter, von grünen und rosenfarben Schirmen verborgen, machten eine Art von Dämmerung, welche die Augen zum sanften Entschlummern einlud. Gemalte Tapeten, von der Hand eines Meisters, stellten griechische Bilder des Schlafes vor: hier den schönen Endymion, vom Silberglanz der zärtlich auf ihn herab schauendenLuna beleuchtet; dort, von einem einsamen Rosengebüsche verborgen, die Göttin der Liebe, um deren sanft glühende Wangen und Lippen ein entzückender Traum zu schweben schien; oder Amorn auf dem Schoß einer Grazie schlummernd. Der Alte lag bereits auf seinem Ruhebette, und drei angenehme Frauenzimmer schienen beschäftigt, seinen Schlummer zu befördern. Eine, welche dem schönsten Herbsttage glich, den man sehen kann, saß zu seinen Häupten, und fächelte ihm mit einem Strauß von Rosen und Myrten Kühlung zu; die andern beiden saßen weiter unten zu beiden Seiten des Ruhebettes, diese mit einer Laute, jene mit einem andern Instrumente, welches bloß die Singstimme zu begleiten diente. Beide spielten und sangen, mit sanft gedämpftem Tone, bald wechselsweise, bald zusammen, Lieder, aus denen Zufriedenheit und ruhiges Vergnügen atmete; und die Lippen und Stimmen der Sängerinnen waren solcher Lieder würdig. Das Erstaunen des Emirs stieg auf den höchsten Grad. Unvermerkt entschlummerte der glückliche Alte am Busen der herbstlichen Schönen, und die übrige Gesellschaft, nachdem sie eine von [51] seinen sanft herab gesenkten Händen geküßt hatte, schlich sich in ehrerbietiger Stille davon.

›Was für Leute das sind‹, hörte der Emir nicht auf zu sich selbst zu sagen.

Beim Eintritt in das Schlafzimmer, welches ihm selbst angewiesen wurde, fand er die beiden Knaben wieder, die ihn im Bade bedient hatten. Ihr Anblick erinnerte ihn an die schöne Dirne, die ihn auf eine so reizende Art willkommen gesungen hatte, und er konnte nicht mit sich selbst einig werden, ob er sich über ihre Abwesenheit betrüben oder erfreuen sollte. Er wurde ausgekleidet, und auf eine so weiche, so elastische, so wollüstige Ottomanne gebracht, als jemals von einem Emir gedrückt worden sein mag. Aber kaum hatten sich die Knaben weggeschlichen, so trat die schöne Sängerin mit ihrer Theorbe im Arm herein, einen Kranz von Rosenzweigen um ihre los gebundenen Haare, die bis zur Erde herab flossen, und einen Strauß von Rosen vor einem Busen, dessen Weiße die Augen des Emirs blendete. Mit stillschweigendem Lächeln neigte sie sich tief vor ihm, nahm von einem Armsessel neben seinem Ruhebette Besitz, stimmte ihre Theorbe, und sang ihm mit der angenehmsten Stimme von der Welt so zauberische Lieder vor, daß der gute Emir, von ihrer Gestalt, von ihrer Stimme und von dem achtzigjährigen Wein seines Alten berauscht, alles vergaß, was ihn billig hätte erinnern sollen weise zu sein. Die schöne Sängerin hatte vermutlich keinen Auftrag, in einem Hause, worin alles glücklich war, einen Unglücklichen zu machen. Aber ach!« –

Ein Blick des Sultans, der vielleicht eine ganz andere Bedeutung hatte als Danischmend sich einbildete, machte ihn stutzen. »Sire«, fuhr er nach einer kleinen Pause fort, »um nicht in den Fehler des Vesirs Moslem zu fallen, begnüge ich mich zu sagen, daß der Emir Ursache fand, sich von allen Zauberern und Feen der Welt verfolgt zu glauben. ›Beruhige dich‹, sagte die schöne Sklavin mit einem Lächeln, in welches mehr Mitleiden als Verachtung oder Unwillen gemischt war, ›ich will dir ein Adagio vorspielen, auf welches du so gut schlafen sollst, als der glücklichste aller Schäfer.‹ Aber ihr Adagio tat das versprochene Wunder nicht. Der Emir konnte nicht aufhören sich selbst zu betrügen, bis endlich die Sklavin, welche seinen Eigensinn wirklich unbillig fand, für besser hielt sich zurück zu ziehen, indem sie ihm so wohl zu schlafen wünschte als er könnte.«

»Danischmend, ich bin mit deiner Erzählung zufrieden«, sagte der Sultan: »morgen wollen wir die Fortsetzung davon hören, und [52] mein Schatzmeister soll Befehl erhalten, dir dreihundert Bahamd'or auszuzahlen.« Der Philosoph und der junge Mirza zogen sich hierauf zurück, und die Pforte des geheiligten Schlafgemachs wurde hinter ihnen zugeschlossen.

4
4.

Den folgenden Abend setzte Danischmend auf Befehl des Sultans seine Erzählung also fort.

»Die Geschichte des Emirs und der schönen Sklavin blieb nicht lange geheim, und dieser Prinz hatte die Ehre, der erste Mann von seiner Art zu sein, den man jemals in diesen Gegenden gesehen hatte. Die Einwohner des Hauses, männliche und weibliche, konnten gar nicht von ihrem Erstaunen über ihn zurück kommen. Sie hatten gar keinen Begriff davon, wie man das sein könne was er war. ›Das arme Geschöpf!‹ riefen sie alle mit einem Ton des Mitleidens, welcher nicht sehr geschickt gewesen wäre sein Leid zu ergetzen. Wirklich war der unglückliche Mann in seinem ganzen Leben nie so übel mit sich selbst zufrieden gewesen als in dieser nämlichen Nacht. Die Vergleichung, die er zwischen sich selbst, einem Greise von zweiunddreißig, und diesem silberlockigen Jüngling von achtzig anstellte, – begleitet von den Vorstellungen, welche ihm die schöne Sklavin zurück gelassen hatte, war mehr als genugsam ihn zur Verzweiflung zu bringen. Er biß die Lippen zusammen, schlug sich vor den Kopf, und verfluchte in der Bitterkeit seines Herzens seinen Harem, seinen Leibarzt, seine Köche, und die jungen Toren, die ihn durch Beispiel und Grundsätze aufgemuntert hatten, sein Leben so eilfertig zu verschwenden. Erschöpft von ohnmächtiger Wut, und betäubt von einem Schwall quälender Gedanken, die ihm das Gefühl seines Daseins zur Marter machten, schlummert‹ er endlich ein; und da er nach einigen Stunden wieder erwachte, fehlte wenig, daß er nicht alles, was ihm seit seinem letzten Schlafe begegnet war, für einen bloßen Traum gehalten hätte. Wenigstens wandte er alle seine Kräfte an, die Erinnerung an den unangenehmsten Teil seiner Begegnisse zu unterdrücken; und in der Hoffnung, daß neue Eindrücke ihm dazu am beförderlichsten sein würden, öffnete er ein Fenster, aus welchem er die Gärten vor sich liegen sah, die sich von der Morgenseite um das Haus herum zogen. Eine reine, mit tausend erquickenden Düften erfrischte Luft zerstreute die düstern Wolken, die noch um sein Gehirn hingen; er fühlte sich gestärkt; dieses Gefühl fachte wieder einen Funken von Hoffnung in seinem Busen an, [53] und mit der Hoffnung kehrt die Liebe zum Leben zurück. Indem er diese Gärten betrachtete, und, seinem verwöhnten Geschmack am Prächtigen und Erkünstelten zu Trotz, sich nicht erwehren konnte, sie bei aller ihrer nützlichen Einfalt und anscheinenden Wildheit schön zu finden, ward er den Alten gewahr, der, halb von Gesträuchen bedeckt, sich mit kleinen Gärtnerarbeiten beschäftigte, welche der Emir nie gewürdiget hatte, sich einen Begriff davon zu erwerben. Die Begierde, alles Befremdende und Wunderbare, das er in diesem Hause gesehen, sich erklären zu lassen, bewog ihn, in die Gärten hinab zu steigen, um sich mit dem Alten in ein Gespräch einzulassen. Nachdem er ihm für seine leutselige Aufnahme gedankt hatte, fing er an, ihm seine Verwunderung darüber zu bezeigen, daß ein Greis von seinen Jahren noch so gerade, so geschäftig, so lebhaft und so fähig sein könne, an den Vergnügungen des Lebens Anteil zu nehmen. ›Wenn deine silbernen Haare und dein eisgrauer Bart nicht von einem hohen Alter zeugten‹, setzte er hinzu, ›so müßte man dich für einen Mann von vierzig halten. Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹

›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling,wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. Aber um durch die Natur glücklich zu sein, muß man die größte ihrer Wohltaten, die das Werkzeug aller übrigen ist, die Empfindung, [54] unverdorben erhalten haben; und zum richtigen Empfinden ist richtig Denken eine unentbehrliche Bedingnis.‹

Der Alte sahe seinem Gast an der Miene an, daß er ihn nur mittelmäßig verstand. ›Ich werde dir vielleicht verständlicher sein‹, fuhr er fort, ›wenn ich dir die Geschichte unsrer kleinen Kolonie erzähle; denn in jeder andern Wohnung, wohin der Zufall dich in diesen Tälern hätte führen können, würdest du alles ungefähr eben so gefunden haben wie bei mir.‹ Der Emir bezeigte daß er ihm sehr gern zuhören wollte. Er hatte ein so ermüdetes Ansehen, daß ihm der mitleidige Alte den Vorschlag tat, sich auf einen Sofa in einem mit Zitronenbäumen umpflanzten Gartensaale niederzulassen; wiewohl ihm selbst ein Spaziergang unter den Bäumen angenehmer gewesen wäre.

Der Emir nahm dies Anerbieten willig an, und während eine schöne junge Sklavin sie mit dem besten Kaffe von Moka bediente, fing der muntre Greis seine Erzählung also an.

›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihresUrsprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zurMusik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. Begierig, die Schönheit der Formen unter sich zu verewigen, machten sie sich zu einem Gesetze, nur die schönsten unter den Töchtern des benachbarten Yemen unter sich aufzunehmen; und dieser Gewohnheit (welche unser Gesetzgeber würdig gefunden hat, ihr die Heiligkeit einer unverletzlichen Pflicht zu geben) ist es ohne Zweifel [55] beizumessen, daß du in allen unsern Tälern keine Person weder von unserm noch vom andern Geschlechte finden wirst, welche nicht jenseits der Gebirge für eine seltene Schönheit gelten sollte.

Zu den Zeiten meines Großvaters kam der vortreffliche Mann, dem wir unsre dermalige Verfassung zu danken haben, der zweite und eigentliche Stifter unsrer Nation, durch eine Kette von Zufällen in diese Gegend. Wir wissen nichts, weder von seiner Abkunft, noch von den Begebenheiten seines Lebens vor dem Zeitpunkte da er zu uns kam. Er schien damals ein Mann von funfzig Jahren zu sein; er war lang, von majestätischer Gestalt, und von so einnehmendem Bezeigen, daß er in kurzer Zeit alle Herzen gewann. Er hatte so viel Gold mit sich gebracht, daß es einem jeden in die Augen fallen mußte, er habe keine andre Ursache unter uns zu leben, als weil es ihm bei uns gefiel. Das Sanfte und Gefällige seiner Sitten, die ungekünstelte Weisheit seiner Gespräche, die Kenntnisse, die er von tausend nützlichen und angenehmen Dingen hatte, verbunden mit einer Beredsamkeit, die auf eine unwiderstehliche Art sich in die Seelen einstahl, gaben ihm nach und nach ein unbegrenzteres Ansehen unter uns, als ein Monarch über seine angebornen Untertanen zu haben pflegt. Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein;›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. Mitten auf einer kleinen Anhöhe, die das schönste unsrer Täler beherrscht, stieg ein runder auf allen Seiten offner Tempel empor, in dessen Mitte nichts als eine Estrade, um drei Stufen höher als der Fußboden, und auf diesen drei [56] Bildervon weißem Marmor zu sehen waren; Bilder, die man ohne Liebe und sanftes Entzücken nicht ansehen konnte. Ein Hain von Myrten zog sich in einiger Entfernung um den kleinen Tempel, und bedeckte die ganze Anhöhe. Dieses letzte Werk war allen unsern Leuten ein Rätsel, und Psammis (so nannte sich der wunderbare Fremdling) verzog so lange, ihnen die Auflösung davon zu geben, bis er merkte, daß alle die zärtliche Ehrerbietung, die sie für ihn empfanden, nicht länger vermögend war, ihre Ungeduld zurück zu halten.

Endlich führte er am Morgen eines schönen Tages, welcher seitdem der heiligste unsrer festlichen Tage ist, eine Anzahl der Unsrigen, die er als die geschicktesten zu seinem Vorhaben ausgewählt hatte, auf die Anhöhe, setzte sich mit ihnen unter die Myrten, und gab ihnen zu erkennen: Daß er in keiner andern Absicht zu ihnen gekommen sei, als sie und ihre Nachkommen glücklich zu machen; daß er keine andre Belohnung dafür erwarte, als das Vergnügen, seine Absicht erreicht zu haben; und daß er keine andre Bedingung von ihnen fordere, als ein feierliches Gelübde, die Gesetze unverbrüchlich zu halten, die er ihnen geben würde. ›Es würde zu weitläuftig sein‹, fuhr der Alte fort, ›dir zu erzählen, was er sagte um seine Zuhörer zu überzeugen, und was er tat um sein angefangenes Werk auszuführen, und ihm alle die Festigkeit zu geben, welche ein auf die Natur gegründeter Entwurf durch weise Vorsicht erhalten kann. Eine Probe seiner Sittenlehre, die den ersten Teil seiner Gesetzgebung ausmacht, wird hinlänglich sein, dir davon einigen Begriff zu geben.

Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist. Wir tragen sie immer bei uns, und sehen sie als ein Heiligtum und gleichsam als den Talisman an, an welchen unsre Glückseligkeit gebunden ist. Wer sich unterfinge andre Grundsätze einführen zu wollen, würde als ein Vergifter unsrer Sitten und als ein Zerstörer unsers Wohlstandes auf ewig aus unsern Grenzen verbannt werden. Höre, wenn es dir gefällt, was ich dir davon vorlesen will.


Das Wesen der Wesen‹, so spricht Psammis im Eingange seiner Gesetze, ›welches, unsichtbar unsern Augen und unbegreiflich unserm Verstande, uns sein Dasein nur durch Wohltaten zu empfinden [57] gibt, bedarf unser nicht, und fodert keine andre Erkenntlichkeit von uns, als daß wir uns glücklich machen lassen.

Die Natur, die zu unsrer allgemeinen Mutter undPflegerin von Ihm bestellt ist, flößet uns mit den ersten Empfindungen auch die Triebe ein, von deren Mäßigung und Übereinstimmung unsre Glückseligkeit abhängt. Ihre Stimme ist es, die durch den Mund ihres Psammis mit euch redet; seine Gesetze sind keine andern als die ihrigen.

Sie will, daß ihr eures Daseins froh werdet. Freude ist der letzte Wunsch aller empfindenden Wesen: sie ist dem Menschen, was Luft und Sonnenschein den Pflanzen ist. Durch süßes Lächeln kündigt sie die erste Entwicklung der Menschheit im Säugling an, und ihr Abschied ist der Vorbote der Auflösung unsers Wesens. Liebe und gegenseitiges Wohlwollen sind ihre reichsten und lautersten Quellen: Unschuld des Herzens und der Sitten das sanfte Ufer, in welchem sie dahin fließen.

Diese wohltätigen Ausflüsse der Gottheit sind es, was ihr unter den Bildern vorgestellt sehet, denen euer gemeinschaftlicher Tempel heilig ist. Betrachtet sie als Sinnbilder der Liebe, der Unschuld und der Freude. So oft der Frühling wieder kommt, so oft Ernte und Herbst angehen und geendigt sind, und an jedem andern festlichen Tage versammelt euch in dem Myrtenhaine; bestreuet den Tempel mit Rosen, und kränzet diese holden Bilder mit frischen Blumen; erneuert vor ihnen das unverletzliche Gelübde, der Natur getreu zu bleiben; umarmet einander unter diesen Gelübden, und die Jugend beschließe das Fest, unter den frohen Augen der Alten, mit Tänzen und Gesang. Die junge Schäferin, wenn ihr Herz aus dem langen Traume der Kindheit zu erwachen beginnt, schleiche sich einsam in den Myrtenhain, und opfre der Liebe die ersten Seufzer, die ihren sanften Busen heben; die junge Mutter mit dem lächelnden Säugling im Arme wandle oft hierher, ihn zu den Füßen der holden Göttinnen in süßen Schlummer zu singen.

Höret mich, ihr Kinder der Natur! – denn diesen und keinen andern Namen soll euer Volk künftig führen.

Die Natur hat alle eure Sinne, hat jedes Fäserchen des wundervollen Gewebes eures Wesens, hat euer Gehirn und euer Herz zu Werkzeugen des Vergnügens gemacht. Konnte sie euch vernehmlicher sagen, wozu sie euch geschaffen hat?

Wär es möglich gewesen, euch des Vergnügens fähig zu machen, ohne daß ihr auch des Schmerzes fähig sein mußtet, so – würde es geschehen sein. Aber so viel möglich war hat sie dem Schmerz [58] den Zugang zu euch verschlossen. Solang ihr ihren Gesetzen folget, wird er eure Wonne selten unterbrechen; noch mehr, er wird euer Gefühl für jedes Vergnügen schärfen, und dadurch zu einer Wohltat werden; er wird in euerm Leben sein was der Schatten in einer schönen sonnigen Landschaft, was die Dissonanz in einer Symphonie, was das Salz an euern Speisen.

Alles Gute löset sich in Vergnügen auf, alles Böse in Schmerz. Aber der höchste Schmerz ist das Gefühl sich selbst unglücklich gemacht zu haben‹, – (hier holte der Emir einen tiefen Seufzer) – ›und die höchste Lust das heitre Zurücksehen in ein wohl gebrauchtes, von keiner Reu beflecktes Leben.

Niemals möge unter euch, ihr Kinder der Natur,das Ungeheuer geboren werden, das eine Freude darin findet, andre leiden zu sehen, oder unfähig ist sich ihrer Freude zu erfreuen! Nein, ein so unnatürliches Mißgeschöpf kann nicht zum Vorschein kommen, wo Unschuld und Liebe sich vereinigen, den Geist der Wonne über alles was atmet auszugießen. Freuet euch, meine Kinder, eures Daseins, eurer Menschheit; genießet, so viel möglich, jeden Augenblick eures Lebens: aber vergesset nie, daß ohne Mäßigung auch die natürlichsten Begierden zu Quellen des Schmerzes, durch Übermaß die reineste Wollust zu einem Gifte wird, das den Keim eures künftigen Vergnügens zernaget. Mäßigung und freiwillige Enthaltung ist das sicherste Verwahrungsmittel gegenÜberdruß und Erschlaffung. Mäßigung ist Weisheit, und nur dem Weisen ist es gegönnt, den Becher der reinen Wollust, den die Natur jedem Sterblichen voll einschenkt, bis auf den letzten Tropfen auszuschlürfen. Der Weise versagt sich zuweilen ein gegenwärtiges Vergnügen, nicht weil er ein Feind der Freude ist, oder aus alberner Furcht vor irgend einem gehässigenDämon, der darüber zürnte wenn sich die Menschen freuen; sondern, um durch seine Enthaltung sich auf die Zukunft zu einem desto vollkommnern Genusse des Vergnügens aufzusparen. 11

Höret mich, ihr Kinder der Natur! Höret ihr unveränderliches Gesetz! Ohne Arbeit ist keine Gesundheit der Seele noch des Leibes, ohne diese keine Glückseligkeit möglich. Die Natur will, daß ihr die Mittel zur Erhaltung und Versüßung eures [59] Daseins als Früchte einer mäßigen Arbeit aus ihrem Schoße ziehen sollet. Nichts als eine nach dem Grade eurer Kräfte abgemessene Arbeit wird euch die notwendige Bedingung alles Vergnügens, die Gesundheit, erhalten.

Ein kranker oder kränkelnder Mensch ist in jeder Betrachtung ein unglückliches Geschöpf. Alle Kräfte seines Wesens leiden dadurch; ihr natürliches Verhältnis und Gleichgewicht wird gestört, ihre Lebhaftigkeit geschwächt, ihre Richtung verändert. Seine Sinne stellen ihm verfälschte Abdrücke der Gegenstände dar; das Licht seines Geistes wird trübe; und sein Urteil von dem Werte der Dinge verhält sich zum Urteil eines Gesunden, wie Sonnenschein zum düstern Schein der sterbenden Lampe in einer Totengruft.

Von dem Augenblick an, – und o! möchte dann, wann er kommt, die Sonne auf ewig für euch verlöschen! – von dem Augenblick an, da Unmäßigkeit oder erkünstelte Wollüste die Samen schleichender und schmerzvoller Krankheiten in euern Adern verbreitet haben werden, verlieren die Gesetze des Psammis ihre Kraft euch glücklich zu machen. Dann werfet sie in die Flammen, ihr Unglückseligen! denn die Göttinnen der Freude werden sich in Furien für euch verwandeln. Dann kehret eilends in eine Welt zurück, wo ihr ungestraft euer Dasein verwünschen könnet, und wenigstens den armseligen Trost genießet, überall Mitgenossen euers Elends zu sehen.

Suchet niemals, meine Kinder, einen höhern Grad von Kenntnis als ich euch mitgeteilt habe. Ihr wißt genug, wenn ihr gelernt habt, glücklich zu sein.

Gewöhnet euer Auge an die Schönheit der Natur; und aus ihren mannigfaltig schönen Formen, ihren reichen Zusammensetzungen, ihrer reizenden Farbengebung füllet eure Phantasie mit Ideen des Schönen an. Bemühet euch, allen Werken eurer Hände und eures Geistes den Stempel der Natur, Einfalt und ungezwungene Zierlichkeit, einzudrücken. Alles was euch in euern Wohnungen umgibt, stelle euch ihre Schönheiten vor, und erinnere euch daß ihr ihre Kinder seid!

Alle andere Werke der Natur scheinen nur spielende Versuche und Vorübungen, wodurch sie sich zur Bildung ihres Meisterstücks, des Menschen, vorbereitet. In ihm allein scheint sie alles, was sie diesseits des Himmels vermag, vereiniget, an ihm allein mit Wärme und verliebt in ihr eigenes Werk gearbeitet zu haben. Aber sie hat es in unserer Gewalt gelassen, es zu vollenden, oder zu verderben. Warum tat sie das? Ich weiß nichts davon; aber nach dem was Sie [60] getan hat, müssen wir das bestimmen, was Wir zu tun haben. Jede harmonische Bewegung unsers Körpers, jede sanfte Empfindung der Freude, der Liebe, der zärtlichen Sympathie verschönert uns; jede allzu heftige oder unordentliche Bewegung, jede ungestüme Leidenschaft, jede neidische und übeltätige Gesinnung verzerrt unsre Gesichtszüge, vergiftet unsern Blick, würdiget die schöne menschliche Gestalt zur sichtbaren Ähnlichkeit mit irgend einer Art von Vieh herab. So lange Güte des Herzens und Fröhlichkeit die Seele eurer Bewegungen bleiben, werdet ihr die schönsten unter den Menschenkindern sein.

Das Ohr ist, nach dem Auge, der vollkommenste unsrer Sinne. Gewöhnet es an kunstlose, aber seelenvolle Melodien, aus welchen schöne Gefühle atmen, die das Herz in sanfte Bebungen setzen, oder die einschlummernde Seele in süße Träume wiegen. Freude, Liebe, und Unschuld stimmen den Menschen in Harmonie mit sich selbst, mit allen guten Menschen, mit der ganzen Natur. So lang euch diese beseelen, wird jede eurer Bewegungen, der gewöhnliche Ton eurer Stimme, eure Sprache selbst wird Musik sein.

Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche denMenschen zerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. Ich habe den betrüglichen Unterschied zwischen nützlich und angenehm aufgehoben: ihr wisset, daß nichts den Namen eines Vergnügens verdient, was mit dem Schmerz eines [61] andern, oder mit später Reue bezahlt wird; und daß das Nützliche nur nützlich ist, weil es uns vor Unlust bewahrt, oder eine Quelle von Vergnügen ist. Ich habe den törichten Gegensatz der verschiedenen Arten der Lust vernichtet, und eine ewige Eintracht zwischen ihnen hergestellt, indem ich euch den natürlichen Anteil gelehrt habe, den das Herz an jeder sinnlichen Lust, und die Sinne an jedem Vergnügen des Herzens nehmen. Ich habe eure Freuden vermehrt, verfeinert, veredelt – Was kann ich noch mehr tun?

Noch eines, und das wichtigste von allem. Lernet, meine Kinder, die leichte Kunst, eure Glückseligkeitins Unendliche zu vermehren; das einzige Geheimnis, sie so nah als möglich der Wonne der Götter, und, wenn es erlaubt wäre so kühn zu denken, der Wonne des Urhebers der Natur selbst zu nähern! –

Erstrecket euer Wohlwollen auf die ganze Natur; liebet alles, was ihr allgemeinstes Geschenk, das Dasein, mit euch teilet!

Liebet einen jeden, in welchem ihr die ehrwürdigen Kennzeichen der Menschheit erblicket, sollten es auch nur ihre Ruinen sein.

Freuet euch mit jedem der sich freuet; wischet die Tränen der Reue von den Wangen der bestraften Torheit, und küsset aus den Augen der Unschuld die Tränen des Mitleidens mit sich selbst.

Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.

Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«

Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisenPsammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.

5
5.

»Die Sittenlehre deines – wie heißt er? ist eine vortreffliche Sittenlehre«, sagte der Sultan zu Danischmenden: »ich habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil ich noch keine Lust zu [62] schlafen habe, einen Gefallen tun, wenn du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen wolltest.«

Danischmend antwortete wie es einem demütigen Sklaven zusteht, und setzte seine Erzählung also fort.

»›Dieses‹, sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder zusammen legte, ›sind die Grundsätze, nach welchen wir leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer Mütter ein, und durch Beispiel und Gewohnheit müßten sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären als sie es sind. Kannst du dich nun noch länger wundern, daß ich in einem Alter von achtzig Jahren fähig bin meinen Anteil an den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? daß mein Herz und meine Sinne noch jedem sanften Gefühl offen stehen, meine Augen noch immer gern auf schönen Formen verweilen; und daß, wenn auch die Natur meinem Alter Freuden versagt, die ich weder verachte noch vermisse, ich zufrieden bin diejenigen zu genießen, welche sie mir gelassen hat; kurz, daß der letzte Teil meines Lebens dem Abend einer schönen Nacht ähnlich ist, und ich wenigstens in diesem Stücke dem Weisen gleiche, der (um den Ausdruck unsers Gesetzgebers zu wiederholen) den Becher der reinen Wollust bis auf den letzten Tropfen ausschlürft: und, ich schwöre bei diesem alles beleuchtenden Auge der Natur, unsrer allgemeinen Mutter, daß ich mit dem letzten Atemzuge, wenn ich anders noch die Kraft dazu habe, den letzten Tropfen davon auf meinen Nagel sammeln und hinunter schlürfen will!‹

Der alte Mann sagte dies mit einem so angenehm auflodernden Feuer, daß der Emir darüber lächeln mußte; aber es war zu viel Neid und Unmut unter dieses Lächeln gemischt, als daß sein Gesicht in den Augen einer Tochter der Natur viel dabei gewonnen hätte.

›Den übrigen Teil unsrer Gesetzgebung‹, fuhr der Alte fort, ›welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus fünfhundert Stammfamilien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit; indem wir keines andern Unterschiedes bedürfen, als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht. Die Liebe zu unsrer Verfassung, und die Ehrerbietung gegen die Alten, welche wir als die Bewahrer derselben ansehen, ist hinlänglich, Ordnung und Ruhe, die Früchte übereinstimmender Grundsätze und Neigungen, unter uns zu erhalten. Wir betrachten uns alle als eine einzige Familie, und die kleinen Mißhelligkeiten, die unter uns entstehen[63] können, sind den Zänkereien der Verliebten oder einem vorüber gehenden Zwiste zärtlicher Geschwister ähnlich. Unsre Festtage sind die einzigen Gerichtstage, die wir kennen; unser ganzes Volk versammelt sich dann vor dem Tempel der Huldgöttinnen, und unter ihren Augen werden von unsern Ältesten alle Händel beigelegt, und alle gemeinschaftliche Abredungen genommen.

Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Produkten, und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von den benachbarten Beduinen gegen unsern Überfluß ein. Unsrer Jugend überlassen wir die Sorge für die Herden. Vom zwölften bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten, alle unsre Mädchen Schäferinnen, denn der weise Psammis urteilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sei. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen, welche darin von den Jünglingen der mühsamsten Arbeiten überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge Kolonie errichtet, die sich in einem benachbarten Tale anpflanzt. Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden. Unser Gesetzgeber urteilte mit gutem Grunde, daß es zu Erhaltung unsrer Verfassung nötig sei,immer ein kleines Volk zu bleiben. Er verordnete deswegen, von Zeit zu Zeit eine Prüfung mit unsern Jünglingen vorzunehmen, und diejenigen, an denen sich ungewöhnliche Fähigkeiten, ein unruhiger Geist, eine Anlage zu Ruhmbegierde, oder auch nur ein bloßes Verlangen die Welt zu sehen, äußern würde, von uns zu tun, und jenseits der Gebirge in irgend eine Hauptstadt von Ägypten, Syrien, Yemen oder Persien zu schicken, wo sie leicht Gelegenheit finden würden, ihre Talente zu entwickeln und ihr Glück zu machen, wie man bei diesen Völkern zu reden pflegt. Wir verlieren auf diese Weise alle zehen Jahre eine beträchtliche Anzahl von jungen Leuten; aber oft begegnet es auch, daß sie, wenigstens im Alter, wieder kommen, um das Ende ihres Lebens in der einzigen Freistätte, welche die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden [64] hat, zu beschließen; und wenn sie eine sehr scharfe Art von Quarantäne ausgehalten haben, und wir versichert sind, daß die Gesundheit unsrer Seelen und Leiber nichts von ihnen zu besorgen hat, werden sie mit Vergnügen aufgenommen. Verschiedene von ihnen haben beträchtliche Reichtümer mit sich gebracht, welche an einem unserm ganzen Volke bekannten und offen stehenden Orte zu gemeinen Bedürfnissen auf künftige Fälle aufbehalten werden, ohne daß jemand daran denken sollte, sich etwas von demjenigen zueignen zu wollen, was allen angehört. Unsre Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahre größten Teils sich selbst, das ist, der Erziehung der Natur überlassen. Vom achten bis zum zwölften empfangen sie so viel Unterricht, als sie vonnöten haben, um als Mitglieder unsrer Gesellschaft glücklich zu sein. Wenn sie richtig genug empfinden und denken, um unsre Verfassung für die beste aller möglichen zu halten, so sind sie gelehrt genug. Jeder höhere Grad von Verfeinerung würde ihnen unnütze sein. Mit Antritt des vierzehnten Jahres empfängt jeder angehende Jüngling die Gesetze des weisen Psammis; er gelobet vor den Bildern der Huldgöttinnen, ihnen getreu zu sein; und dieses Gelübde wiederholt er im zwanzigsten, da er mit dem Mädchen, welches er in seinem Hirtenstande geliebt hat, vermählt wird. Denn die Liebe allein stiftet unsre Heiraten. Im dreißigsten Jahr ist ein jeder verbunden, zu seiner ersten Frau die zweite, und im vierzigsten die dritte zu nehmen, wofern er nicht hinlängliche Ursachen dagegen anführen kann, wovon wir kein Beispiel haben. Diese Vorsicht war vonnöten, weil die natürliche Proportion in der Anzahl der Jünglinge und Mädchen durch Verschickung eines Teils der ersten beträchtlich vermindert wird. Wir haben Sklaven und Sklavinnen; aber mehr zum Vergnügen, als um einen andern Nutzen von ihnen zu ziehen. Wir erkaufen sie in ihrer ersten Jugend von den Beduinen; eine untadelige Schönheit ist alles worauf wir dabei sehen. Wir erziehen sie wie unsre eigenen Kinder; sie genießen des Lebens so gut als wir selbst; ihre Kinder sind frei, und sie selbst sind es von dem Augenblick an, da sie uns verlassen wollen. Sie sind in nichts als in ihrer Kleidung von uns unterschieden, welche zierlicher ist als die unsrige; und das einzige Vorrecht, welches wir uns über sie heraus nehmen, ist, daß sie uns bedienen wenn wir ruhen, und daß ihre vornehmste Beschäftigung ist uns Vergnügen zu machen.

Alle unsre Vergnügungen sind natürlich und ungekünstelt, und alle unsre Gemächlichkeiten tragen das Kennzeichen der Einfalt und Mäßigung. Wir genießen die Seligkeit eines ewigen Friedens, und [65] einer Freiheit, die vielleicht für uns allein ein Gut ist, weil wir ihren Mißbrauch nicht kennen. Wir genießen die Wollust, welche die Natur mit der Befriedigung der Bedürfnisse des Lebens, mit der Liebe, der Ruhe nach der Arbeit, und mit allen geselligen Trieben verbunden hat, vermutlich in einem höhern Grade als die übrigen Sterblichen; wir werden unsers Daseins vollkommner und länger froh; wir kennen die wenigsten von der unendlichen Menge ihrer Plagen, und auch diese kaum dem Namen nach. Dafür lassen wir ihnen gern ihre wirklichen oder eingebildeten Vorzüge, ihre Pracht, ihre Schwelgerei, ihre langweiligen Zeitvertreibe, ihre Geschäftigkeit einander beschwerlich zu sein, ihre Unzufriedenheit, ihre Laster und ihre Krankheiten. Sollten wir sie um Künste beneiden, durch deren grenzenlose Verfeinerung sie ihr Gefühl so lange verzärteln, bis sie nichts mehr fühlen? oder um Wissenschaften, ohne welche wir uns wohl genug befinden, um den heimlichen Neid des Gelehrtesten unter ihnen zu erregen, wenn er uns kennen sollte? Wir sind so weit entfernt von einem solchen Neide, daß jeder Versuch, den einer von uns machen wollte, etwas an unsrer Verfassung zu bessern, oder uns mit neuen Künsten und Bedürfnissen zu bereichern, mit einer ewigen Verbannung bestrafet würde. Ich selbst‹, setzte der Alte hinzu, ›habe einige Jahre meines Lebens zugebracht, einen großen Teil des Erdbodens zu durchwandern. Ich habe gesehen, beobachtet, verglichen. Als ich dessen müde war, mit welchem Entzücken dankte ich dem Himmel, daß ich einen kleinen Winkel wußte, wo es möglich war, ungeplagt glücklich zu sein! Mit welcher Sehnsucht flog ich zu den Wohnungen des Friedens und der Unschuld zurück! – Es ist wahr, unser Volk ist, in Vergleichung aller andern, ein Völkchen von ausgemachten Wollüstigen; aber desto besser für uns! Sind wir zu tadeln, daß wir uns nicht aus allen Kräften der Natur entgegen setzen, die uns glücklich machen will?‹

Hier endigte der Alte seine Rede. Weil die Sonne schon hoch gestiegen war, führte er seinen Gast in eine bedeckte Halle, welcher hohe dicht in einander verflochtene Kastanienbäume Schatten gaben. Kaum hatten sie hier auf einem Sofa, der rings herum lief, Platz genommen, so sah sich der Alte von einer Menge schöner Enkel umgeben, die, wie schwärmende Bienen, um ihn her wimmelten, ihn zu grüßen und an seinen Liebkosungen Anteil zu haben. Die kleinsten wurden von liebenswürdigen Müttern herbei getragen, unter denen keine war, die in ihrem einfachen und reizend nachlässigen Putze, die weiten Ärmel von ihren schneeweißen Armen zurück geschlagen, und ihren holdseligen Knaben an den leicht bedeckten Busen [66] gelehnt, nicht das schönste Bild einer Liebesgöttin dargestellt hätte. Der Emir vergaß über diesem rührenden Anblick eine Menge Fragen, die ihm unter der Erzählung seines Wirtes aufgestoßen waren; und dieser überließ sich gänzlich dem Vergnügen, sich an den Kindern seiner Kinder zu ergetzen. Der Kontrast des hohen Alters mit der Kindheit, durch die sichtbare Verjüngerung des einen und die liebkosende Zärtlichkeit der andern, und durch eine Menge kleiner Schattierungen, die sich besser empfinden als beschreiben lassen, gemildert; das gesunde und fröhliche Aussehen dieses Greises; die Aufheiterung seiner ehrwürdigen Stirne; das stille Entzücken, das sich beim Anblick so vieler glücklichen Geschöpfe, in denen er sich selbst vervielfacht sah, über alle seine Züge ausgoß; die liebreiche Gefälligkeit, mit welcher er ihre beunruhigende Lebhaftigkeit ertrug, oder womit er die kleinsten auf den Armen der schönen Mütter mit seinen weißen Haaren spielen ließ; – alles zusammen machte ein lebendiges Gemälde, dessen Anblick die Güte der Moral des weisen Psammis besser bewies als die scharfsinnigsten Vernunftsgründe hätten tun können. Der Emir selbst, so sehr die ungestüme Herrschaft einer groben Sinnlichkeit die sanftern und edlern Gefühle der Natur in ihm erdrückt hatte, fühlte bei diesem Anblick sein verhärtetes Herz weicher werden, und ein flüchtiger Schimmer von Vergnügen fuhr über sein Gesicht hin; ein Vergnügen, gleich dem himmlischen Lichtstrahl, der plötzlich in den nacht vollen Abgrund einfallend, den verdammten Seelen einen flüchtigen Blick in die ewigen Wohnungen der Liebe und der Wonne gestatten würde, um die Qual ihrer Verzweiflung vollkommen zu machen.

Die Urkunde, aus welcher ich diese Erzählung gezogen habe«, fuhr Danischmend fort, »steht hier still, ohne uns von dem Aufenthalt des Emirs bei diesen Glücklichen weitere Nachrichten zu geben. Einige Scholiasten sagen, daß er, in voller Wut über die trostlose Vergleichung ihres Zustandes mit dem seinigen, sich von einer Felsenspitze herab gestürzt habe. Aber ein andrer, dessen Zeugnis ungleich mehr Gewicht hat, versichert, daß er unmittelbar nach seinem Abschiede von den Kindern der Natur in den Orden der Derwischen getreten sei, und sich in der Folge, unter dem Namen Schek Kuban, den Ruhm eines der größten Sittenlehrer in Yemen erworben habe. Er unterschied sich, sagt man, besonders durch die Lebhaftigkeit der Abschilderungen, die er von den unseligen Folgen einer zügellosen Sinnlichkeit zu machen pflegte. Man bewunderte die Stärke und Wahrheit seiner Gemälde, und niemand, oder nur [67] sehr wenige, welche die Gabe hatten, zu erraten was für ein Gesicht hinter jeder Maske steckt, begriffen, warum er so gut malen konnte. Er hätte nützlich sein können, wenn er es dabei hätte bewenden lassen. Aber Mißgunst und Verzweifelung erlaubten ihm nicht in so bescheidenen Schranken zu bleiben. Er warf sich zum erklärten Feinde aller Freuden und Vergnügungen des Lebens auf. Ohne den natürlichen und weisen Gebrauch derselben von dem sich selbst strafenden Mißbrauche zu unterscheiden, schilderte er die Wollust und die Freude als verderbliche Sirenen ab, die den armen Wanderer durch die Süßigkeit ihrer Stimme herbei locken, um ihm das Mark aus den Beinen zu saugen, das Fleisch von den Knochen zu nagen, und, wenn sie nichts mehr an ihm finden, den Rest den Maden zur Speise hinzuwerfen. Er beschrieb die Liebe zum Vergnügen als eine unersättliche Leidenschaft. ›Hoffen, daß man sie werde in Schranken halten können‹, sagte er, ›das wäre eben so weise, als wenn einer eine Hyäne auf seinem Schoß erziehen wollte, in Hoffnung sie zahm und gutartig zu machen.‹ Unter diesem Vorwande befahl er alle sinnliche Neigungen auszurotten. Sogar die Vergnügungen der Einbildungskraft hießen ihm gefährliche Fallstricke, und die verfeinerte Wollust des Herzens und der Sinne ein künstlich zubereitetes Gift, dessen Verfertiger mit ewigen Flammen bestraft zu werden verdienten. Diese unbesonnene Sittenlehre, die Frucht seiner verdorbenen Säfte, seines ausgetrockneten Gehirns, und des immer währenden Grams in welchem seine düstre Seele wohnte, predigte er so lange, bemühte sich so sehr sie durch tausend sophistische Schlüsse sich selbst wahr zu machen, bis er es endlich so weit brachte, sich völlig davon überzeugt zu glauben. Itzt bildete er sich ein, daß es lauter Menschenliebe sei, was ihn anfeure, alle Leute zu eben so unglückseligen Geschöpfen machen zu wollen, als er selbst war; und nachdem seine Krankheit ihre höchste Stufe erreicht hatte, endigte er damit, die Zerrüttung seiner Empfindungswerkzeuge und Begriffe dem höchsten Wesen selbst beizulegen, und den Schöpfer des Guten, dessen durch das Unermeßliche ausgebreitete Kraft Leben und Wonne ist, als einengrämischen Dämon abzuschildern, den die Freude seiner Geschöpfe beleidigt, und dessen Zorn nur Enthaltung von allem Vergnügen, nur Seufzer, Tränen und freiwillige Martern besänftigen können.

Es ließen sich noch viele merkwürdige Dinge von den Folgen dieser menschenfeindlichen Sittenlehre sagen, und von dem sinnreichen Gebrauche, welchen die Derwischen, Fakirn, Talapoinen, Bonzen und Lamas in allen Teilen von Asien und Indien davon zu[68] machen gewußt haben. Aber ich würde doch am Ende nur Dinge sagen, die dem Sultan meinem Herrn und der ganzen Welt längst bekannt sind (wiewohl ohne daß die Welt sich dadurch besser zu befinden scheint) und ›es gibt eine Zeit anzufangen, und eine Zeit aufzuhören‹, sagt der weise Zoroaster

Schach-Gebal war (wir wissen nicht warum) mit der Erzählung des Philosophen Danischmend, besonders mit dem Ende derselben, so wohl zufrieden, daß er sogleich Befehl gab, ihm fünfhundert Bahamd'or aus seinem Schatze auszuzahlen. »Sobald«, setzte er hinzu, »die Stelle eines Oberaufsehers über die Derwischen und Bonzen ledig wird, soll sie kein andrer haben als Danischmend!«

Nicht von ungefähr, sondern weil der Sultan von Nurmahal voraus berichtet worden war, daß die Derwischen beim Schlusse der Erzählung des Doktors übel wegkommen würden, hatte der oberste Iman des Hofes Befehl erhalten, sich diese Nacht beim Schlafengehen des Sultans einzufinden. Seine Majestät ergetzten Sich nicht wenig an dem Verdrusse, welchen der Iman, wie Sie glaubten, über die Verwandlung des Emirs in einen Derwischen empfinden würde. Aber vermutlich eben darum, weil der Iman, ohne daß er darum schlauer als andre war, merken mußte, warum er die Ehre hätte da zu sein, beobachtete er sich selbst so genau, daß ihm nicht das geringste Zeichen von Verdruß entwischte. Indessen konnt er sich doch nicht erwehren die Anmerkung zu machen: Wofern es auch (woran er doch billig zweifle) ein solches Völkchen in der Welt gäbe, wie diese so genanntenKinder der Natur, so glaube er doch, daß man besser tun würde, die Nachrichten davon entweder gänzlich zu unterdrücken, oder wenigstens nicht unter das Volk kommen zu lassen.

»Und aus was für Ursachen, wenn man Euer Ehrwürden bitten darf?« fragte der Sultan.

»Ich erstrecke diese meine Meinung«, versetzte der Iman, »auf alle diese Schilderungen von – ich weiß nicht was für idealischen Menschen, die man unter dem angeblichen Zepter der Natur ein sorgenfreies, aus lauter Wollust und angenehmen Empfindungen zusammen gewebtes Leben zubringen läßt. Je unschuldiger und liebenswürdiger man ihre Sitten vorstellt, desto schädlicher ist der Eindruck, den solche Erdichtungen auf den größten Haufen machen werden. Aufrichtig zu reden« (fuhr er in einem sanft schleichenden Tone fort, der ausdrücklich für seine wohl meinende Miene gemacht war) »ich kann nicht absehen, was für einen Nutzen man davon erwartet; oder wie man sich selbst verbergen kann, daß sie zu [69] nichts anderm dienen können, als einen Geist der Weichlichkeit in die Welt auszugießen, der die Bürger des Staats von allen mühsamen Anstrengungen und beschwerlichen Unternehmungen abschreckt, und (indem er das Verlangen allgemein macht, auch so glücklich zu sein als diese angeblichen Günstlinge der Natur, deren wollüstige Moral man uns für Weisheit gibt) zuwege zu bringen, daß sich endlich niemand mehr willig finden wird, das Feld zu bauen, harte Handarbeiten zu verrichten, und sein Leben zur See oder gegen die Feinde des Staats zu wagen. Überhaupt erfordert die Vervollkommnung eines jeden Zweiges des politischen Wohlstandes Leute, die keine Arbeit scheuen, und die mit hartnäckig anhaltendem Fleiße, dessen keine weichliche Seele fähig ist, 12 sich in die Wette beeifern, es in einer gewissen Art von nützlichen Beschäftigungen zur Vollkommemheit zu bringen. Ist es wohl jemals zu erwarten, daß ein wollüstiger Kaufmann reich, ein wollüstiger Künstler geschickt, oder ein wollüstiger Gelehrter groß werden könne? Wird diese Anmerkung nicht wenigstens ganz gewiß von den meisten gelten? Oder sollen wir etwann glauben, ein wollüstiger Richter werde sein Amt desto pünktlicher und gewissenhafter verwalten, oder ein weichlicher Feldherr aus dem Schoße der Üppigkeit desto tapferer hervorgehen, die Beschwerlichkeiten eines Feldzuges desto besser ausdauern, und die Feinde des Sultans unsers Herrn desto schneller und gewisser zu seinen Füßen legen? – Sie sehen, Herr Danischmend, daß ich mich der Waffen begeben kann, welche mir mein eigener Stand gegen Sie an die Hand geben könnte.«

Während daß der Iman diese schöne Rede hielt, sang der Sultan im Tone der langen Weile und mit halb geschloßnen Augen, »la Faridondäne la Faridondon, Dondäne Dondon Dondäne, Dondäne Dondäne Dondon« – denn er wußte sich etwas damit, stark inGassenhauern zu sein. »Nun, Doktor«, rief er, da der Iman fertig war, »laß hören, was du diesen Gründen entgegen zu setzen hast.«

»Ich werde«, versetzte Danischmend, »mit Ihrer Majestät Erlaubnis weiter nichts tun, als kürzlich zeigen, daß die Gründe des Imans erstens zuviel, zweitens zuwenig, und drittens gar nichts [70] beweisen. Zu viel; denn alle seine Vorwürfe treffen die Natur selbst eben so stark als die Schilderungen oder Erdichtungen, die ihm so gefährlich scheinen. Die Grundsätze des weisen Psammis, die allgemeinen Wahrnehmungen und Erfahrungen, auf welche seine Sittenlehre gebaut ist, sind keine Erdichtungen. Wenn der Zustand, worein seine Gesetzgebung die Einwohner der glücklichen Täler setzte, unter allen möglichen der Menschheit am angemessensten, wenn er derjenige ist, worin sie am wenigsten leidet, am wenigsten Böses tut, die Wohltaten der Natur am wenigsten mißbraucht, und am Ende ihres Laufes sich am wenigsten gereuen läßt gelebt zu haben, – wer kann dafür, oder wer hat ein Recht etwas dawider einzuwenden? Sind die angenehmen Empfindungen, die uns die Natur von allen Seiten anbietet, etwa bloßeSchaugerichte? Sind es bloße Versuchungen, die uns in einer verdienstlichen Enthaltung üben sollen? Wenn dies ihre Absicht gewesen ist, so muß man gestehen, daß die Natur wunderliche Grillen hat. Kann man uns übel nehmen, wenn wir geneigter sind diejenigen, welche sie zur Törin machen wollen, für grillenhafte Leute anzusehen? Oder was sollen wir sagen, wenn wir diese sonderbaren Sterblichen, die das Vergnügen in ganzem Ernste für einen Fallstrick ihrer Tugend halten, zu Schlachtopfern ihrer peinvollen Bemühung – die Hälfte ihres Wesens zu zerstören – werden sehen? Werden sie mit ihrer verdorbenen Galle, mit ihrer Schwermut, mit ihrer ängstlichen Furcht alle Augenblicke einen Mißtritt zu tun, kurz mit allen den Gespenstern, womit eine verwundete Einbildungskraft sich umgeben sieht, geschickter sein, ihre eigene Vollkommenheit und das Beste der Gesellschaft zu befördern? Euer Ehrwürden, welche Sich in der Lage befinden, ein Tafelgenosse des Sultans von Indien zu sein, über die innerlichen Angelegenheiten von fünf oder sechs der schönsten Damen in Dely die Aufsicht zu führen, und alle Monate hundert Bahamd'or in Ihren Beutel fallen zu lassen, welche zu erschwingen hundert arme Landleute sich zu Gerippen arbeiten und hungern müssen, – stellen Sich vielleicht den Zustand eines armen Schelms, der von Brotkrumen und Zisternenwasser lebt, und, damit die Schönheit seine Sinne nicht verführen könne, sich die Augen an der Sonne ausgebrannt hat, nicht ganz so unbehaglich vor als ich schwören wollte, daß er sein muß.« –

»Bravo, Danischmend!« sagte der Sultan, mit halber Stimme, und einem aufmunternden Winke, der dem Iman nicht entging.

»Ich sage also« (fuhr der Doktor fort) »wenn die Absicht der Natur nicht gewesen ist, uns durch schöne und ergetzende Gegenstände [71] in Fallen zu locken: so beweisen die Gründe des Imans zu viel. Denn die reizendsten Schilderungen können unmöglich auch nur die Hälfte der Wirkung hervorbringen, welche die besagten Gegenstände selbst tun. Hatte hingegen die Natur wohl gemeinte Absichten, welche nur durch Leichtsinn, falschen Geschmack, oder verderbte Grundsätze von den meisten vereitelt werden: so ist es löblich und nützlich, sie durch solche Schilderungen, wie diejenigen, die dem Iman zu mißfallen das Unglück haben, auf den Pfad der Natur zurück zu führen, und zu einem weisen Genuß ihrer Wohltaten einzuladen.

Zweitens beweisen seine Gründe zu wenig. Denn wenn auch die ganze Welt mit Gemälden von glücklichen Inseln und glücklichen Menschen angefüllt würde, so sind zehen an eines zu setzen, daß die Leidenschaften, welche zu allen Zeiten die Beweger der sittlichen Welt waren, ihr Spiel nichts desto weniger fortspielen werden. Die Begierde nach einem glücklichen Leben wird, in jedem Staate der auf die Ungleichheit gegründet ist, die Begierde nach Reichtum, und der Reichtum die Begierde nach Ansehen, Größe und willkürlicher Gewalt hervorbringen. Diese Leidenschaften werden, je nachdem die Grundverfassung, oder die zufällige Beschaffenheit der Staatsverwaltung, sie mehr oder weniger begünstiget, eine Menge Talente ausbrüten; und das Verlangen nach dem angenehmsten Genusse des Lebens, von welchem der Iman eine allgemeine Untätigkeit besorgt, wird gerade das Gegenteil wirken; es wird uns emsige Leute, Erfinder, Verbesserer, Virtuosen und Helden geben so viel undvielleicht mehr als wir vonnöten haben. Die idealischen Schilderungen der Wollüste der Sinne, der Einbildungskraft und des Herzens werden also, vermöge der Natur der Sache, den großen Zweck mächtig befördern helfen, der Sr. Ehrwürden so sehr am Herzen liegt. Man wird sich, wie ich gar nicht zweifle, so lange man sich an solchen Gemälden ergetzt, in diese glücklichen Inseln, Schäferwelten, oder wie man sie nennen will, hinein wünschen, wo das angenehmste Leben so wenig kostet: aber man wird des Wünschens bald überdrüssig sein; und – ohne zu hoffen, daß man unversehens einen schönen Muschelwagen mit sechs geflügelten Einhörnern vor seiner Türe finden werde, um den Wünscher in die idealischen Welten überzuführen – wird man sich gefallen lassen, diejenigen Mittel zum glücklich leben anzuwenden, die in unsrer Gewalt sind, und in die Verfassung der Welt eingreifen, worin wir uns befinden. Die Schlüsse des Imans beweisen also zu viel und zu wenig, und folglich –gar nichts, welches das dritte war, was ich [72] zeigen wollte. Doch, wir wollen den schlimmsten Fall setzen, der sich als eine Folge der Dichtungen oder Schilderungen, wovon die Rede ist, denken läßt: gesetzt, daß sie die Wirkung hätten, alle Völker, die zwischen dem Ganges und Indus wohnen, zum Entschluß zu bringen, ihrer bisherigen Lebensart zu entsagen – (wiewohl viel eher zu besorgen ist, daß meinEmir-Derwisch ganz Indostan zu seiner fanatischen Sittenlehre, als daß Psammis nur die kleinste Provinz davon zu der seinigen bekehren werde) – aber setzen wir immer den Fall; wie groß meinen Euer Ehrwürden, daß der Schade sein würde? Psammis hätte alsdann zu Stande gebracht, woran die Weisen aller Völker seit einigen tausend Jahren mit sehr mittelmäßigem Erfolge gearbeitet haben; oder suchen diese Herren etwas andres als die Menschen glücklicher zu machen

»In der Tat«, sagte der Sultan lachend, »ich und der Iman mit seinen Brüdern würden bei einer solchen Verwandlung am meisten zu verlieren haben.«

»Die Gefahr scheint größer als sie ist«, sagte Nurmahal: »sechzig Millionen Menschen, wenn gleich ihr Gesetzgeber der Engel Jesrad selber wäre, würden nicht zehen Jahre ohne Sultan und ohne Iman aushalten können.«

»Das hoffen wir auch«, sagte der Sultan. »Indessen bleibt es bei dem, was ich dir versprochen habe, Danischmend. Hier, Iman, sehen Euer Ehrwürden den ernannten Nachfolger des Oberaufsehers über die Derwischen.«

»Die Wahl macht der Weisheit Ihrer Majestät Ehre«, versetzte der Iman mit einer Miene, welche ziemlich deutlich das Gegenteil sagte.

»Es kommt einem Sklaven nicht zu, einen andern Wunsch zu haben als den Willen seines Herrn«, sagte Danischmend: »aber wenn ich Ihre Majestät um irgend ein andres Dienstchen, wie schlecht es auch wäre, bitten dürfte« –

»Kein Wort mehr«, fiel ihm Schach-Gebal ein: »Danischmend ist der Mann, und gute Nacht!«

6
6.

Des folgenden Abends erinnerte der junge Mirza, daß Danischmend noch die Anwendung seiner Erzählung schuldig sei.

»Ihr erinnert mich zu rechter Zeit, Mirza«, sprach der Sultan. »Er sollte über etwas seine Meinung sagen, und statt dessen erzählt‹ er uns ein Märchen, oder eine Historie, die so gut als ein Märchen ist. Was war es, Danischmend?« [73] »Sire, die Rede war voneiner gewissen Polizei, welche vonnöten gewesen wäre, damit der Luxus, den die Sultanin Lili in Scheschian einführte, keinen sonderlichen Schaden tun könnte. Ich bat mir die Erlaubnis aus, die Geschichte des Emirs erzählen zu dürfen« –

»Gut; und ich merke ungefähr was du damit wolltest. Du schilderst uns ein kleines Völkchen von vier-oder fünfhundert Familien, die (dank der Sittenlehre des weisen Psammis die mich so gut einschläferte!) sich gute Tage machen, gut essen und trinken, sich von schönen Mädchen in den Schlaf singen lassen, und bei allem dem die unschuldigsten und glücklichsten Leute von der Welt sind. Das alles war recht schön zu hören: aber deine Meinung ist doch nicht, daß die Gesetzgebung des weisen Psammis für eine Nation, die aus Millionen Familien besteht, brauchbar sein könnte?«

»Ich danke Ihrer Majestät demütigst für die Gerechtigkeit, die Sie meiner Vernunft angedeihen lassen«, erwiderte Danischmend. »Die Geschichte desEmirs und der Kinder der Natur sollte in der Tat nurso viel dartun: daß es ganz verschiedene Sachen seien, ein kleines von der übrigen Welt abgeschnittenes Volk, und eine große Nation, welche in Verbindung mit zwanzig andern lebt, glücklich zu machen. Zwar ist die Glückseligkeit bei dieser sowohl als bei jenem das Resultat eines der Natur gemäßen Lebens. Aber eben darum muß der Unterschied in derHauptsumme des Guten und Bösen verhältnisweise desto größer sein, je weiter ein Volk von der Natur entfernt und je weniger ihm möglich ist, sich mit den bloßen Naturgesetzen zu behelfen. Weder Psammis noch Konfucius, noch alle zwölf Imans, die echten Nachfolger unsers Propheten, selbst, hätten eine Gesetzgebung erfinden können, wodurch durch alle Angehörige eines großen Staats so frei, ruhig, unschuldig und angenehm leben könnten als die so genannten Kinder der Natur. Die Ursachen fallen in die Augen. Dieser Zusammenfluß von besondern Umständen, welche zu den notwendigen Bedingungen des Wohlstandes der letztern gehören, läßt sich bei keinem großen Volke denken. Bei diesem sind Freiheit und allgemeine Sicherheit unverträgliche Dinge; und die Gleichheit bringt unzählige Kollisionen und Zwistigkeiten hervor, welche durch das Recht der Stärke entschieden werden; der Stärkere unterwirft sich den Schwächern, der Schlaue den Einfältigen, und so hört die Gleichheit auf. Eben so unmöglich ist es, daß ein großes Volk die Vorteile der Künste, die das Leben verschönern und angenehmer machen, genießen könnte, [74] ohne auch die Übel zu erfahren, welche den Mißbrauch derselben begleiten. Ein sehr kleines Volk kann durch Gesinnungen und Sitten in den Schranken der Mäßigung und des Mittelstandes erhalten werden, woran seine Glückseligkeit gebunden ist. Aber eingroßes Volk hat Leidenschaften vonnöten, um in die starke und anhaltende Bewegung gesetzt zu werden, welche zu seinem politischen Leben erfodert wird. Alles was der weiseste Gesetzgeber dabei tun kann, ist, den Schaden zu verhüten, welchen das Übermaß oder der unordentliche Lauf dieser Leidenschaftendem ganzen Staate zuziehen könnte. Einzelne Glieder mögen immer das Opfer ihrer eigenen Torheit werden; das ist ihre Sache. Der Gesetzgeber kann es nicht verhindern; denn dies müßte durch Mittel geschehen, wodurch größere Übel veranlaßt würden, um kleinere zu verhüten. Aus diesen Betrachtungen halte ich eine Polizei, durch welche der Luxus einer großen Nation ganz unschädlich werden sollte, für eine eben so große Schimäre, als das Projekt des Philosophen Fanfaraschin, welcher vor ungefähr hundert Jahren zwanzig Quartbände schrieb, um Anweisung zu geben, wie man alle Menschenkinder auf dem festen Land und auf den Inseln des Meeres zu Weisen undVirtuosen bilden könne; – ein Projekt, wovon die Idee schimmernd, die Unternehmung rühmlich, aber die Ausführung – unmöglich war, und, gegen die Absicht des guten Fanfaraschin, einige schlimme Folgen hatte, an die er nicht gedacht zu haben schien, und die desto schädlicher waren, weil eine lange Zeit niemand merkte, woher das Übel kam.«

»Zum Exempel?« sagte Schach-Gebal.

»Unter andern diese, daß unter fünfhundert jungen Leuten, die nach seiner Methode gebildet wurden, sich zum wenigsten hundertundfunfzig fromme, diskrete, schleichende, gleisnerische Schurken bildeten, welche ausgelernte Meister in der Kunst waren, ihre Leidenschaften zu verbergen, ihre schlimmen Neigungen in schöne Masken zu vermummen, die Unverständigen durch eine lauter Tugend und Religion tönende Phraseologie zu täuschen, mit Einem Worte, unter dem Schein der pünktlichsten Moralität mehr Gutes zu verhindern und mehr Böses auszuüben, als sie hätten tun können, wenn man sie ihrem Naturell und den Umständen überlassen hätte. – Ferner, daß aus den besagten fünfhundert ungefähr dreihundert heraus kamen, welche, wie abgerichtete Hunde, alle Künste machten die man sie gelehrt hatte, auf den Wink gingen, alles wieder von sich geben konnten was ihnen eingegossen worden war, über nichts ihre eigene Empfindung zu Rate zogen, an nichts zweifelten [75] was man ihnen für wahr gegeben hatte, kurz, in allen Stücken die Affen des weisen Fanfaraschin vorstellten; welches (ich getraue mir es zu behaupten) gerade wider die Absicht der Natur war. Denn diese will, daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele. Es war an Einem Fanfaraschin genug; und dreihundert Personen, welche das gewesen wären, wozu ihre natürliche Anlage sie bestimmte, wären, so schlecht sie auch immer hätten sein mögen, doch noch immer besser gewesen als dreihundert Fanfaraschin; zumal da unter diesen dreihundert wenigstens zweihundertundneunzig mißlungene Fanfaraschin waren. Ferner« – –

»Ich habe genug«, fiel ihm der Sultan ein; »wann lebte dieser Fanfaraschin

»Zu den Zeiten Schach-Dolkas, Ihrer Majestät Urahnherrns, glorreichesten Andenkens« – –

»La Faridondäne la Faridondon«, – brummte der Sultan: »aber wir kommen aus dem Zusammenhang, Danischmend; was war es was du sagen wolltest, wenn dir der weise Fanfaraschin nicht zur Unzeit in die Zähne gekommen wäre?«

»Daß, wenn gleich nicht gänzlich zu verhindern sei, daß der Luxus einem großen Volke nichts Böses tun sollte, die Geschichte des Emirs und der Kinder der Natur uns dennoch ein paar Grundmaximen an die Hand geben könnte, durch deren Beobachtung die schöne Lili wenigstens den größten Teil des Übels, welches ihr die Unglück-weissagenden Alten angekrähet hatten, zu verhüten fähig gewesen wäre. Hätte diese liebenswürdige Dame meine Wenigkeit zu Rate ziehen können, so würde ich mir die Freiheit genommen haben, ihr diese Antwort zu geben:

Bei Auflösung aller Fragen, von welcher Art sie sein mögen, deucht mir die natürlichste und einfältigste Methode gerade die beste. Diese Maxime gilt vornehmlich, wenn von politischen Aufgaben die Rede ist, wo ganz unfehlbar die verwickelten und weitläufigen Auflösungen noch unbrauchbarer sind als bei allen andern. Die Frage ist: Was sollen wir tun, damit die äußerste Verfeinerung der Künste, des Geschmacks, der Leidenschaften, der Sitten und der Lebensart, mit Einem Worte, der Luxus, einer großen Nation so wenig als möglich schade? – Die Natur, Madam, zeigt uns gegen jedes Übel, dem sie uns unterwürfig gemacht hat, auch ein zulängliches Mittel. Sollte es in diesem Fall anders sein? Ich denke, nein. Wenn wir den größten und nützlichsten, folglich denwichtigsten Teil der Nation vor der Ansteckung bewahren können, so haben wir sehr viel, und in der Tat alles getan, was man von einer [76] weisen Regierung fodern kann. Zu gutem Glücke ist nichts leichter. Der größte Teil der Nation von Scheschian ist derjenige, der zum Ackerbau und zur Landwirtschaft bestimmt ist. Die Natur selbst, in deren Schoß er lebt, erleichtert uns die Mühe unendlich; wir haben beinahe nichts zu tun, als ihr nicht vorsetzlich entgegen zu arbeiten. Lassen Sie diese guten Leute ihres Daseins froh werden. Geben Sie nicht zu, daß sich alle übrige Stände unter unzähligen Vorwänden vereinigen, sie auszurauben und zu unterdrücken; daß das unersättliche Geschlecht der Pachter und Einzieher der königlichen Einkünfte, daß Beamte, Richter, Prokuratoren und Sachwalter, Edelleute, Bonzen und Bettler, so unbescheiden und unbarmherzig an ihnen saugen, bis ihnen nur die Haut auf den Knochen übrig bleibt. Lassen Sie dieser unentbehrlichsten und unschuldigsten Klasse von Menschen so viel von den Früchten ihrer Arbeit, daß sie mit frohem Mut arbeiten, daß sie Zeit zur Ruhe, Zeit zu ihren ländlichen Festen und Ergetzungen übrig haben. Wenn allzu großer Überfluß auch diesem Stande, wie allen übrigen, schädlich ist: so lassen Sie uns nicht vergessen, daß zu wenige oder ungesunde Nahrung, daß Mangel an aller Gemächlichkeit, daß Nacktheit, Kummer und Elend ihm ungleich verderblicher sind. Stimmen wir immer die Glückseligkeit unsers Landvolkes um etliche Grade tiefer herab als die Glückseligkeit der Kinder der Natur war; aber lassen wir ihnen so viel, daß es ihnen, ohne alles natürliche Gefühl verloren zu haben, möglich sei mit ihrem Zustande zufrieden zu sein. Unter uns gesagt, schöne Lili, das sind wir ihnen schuldig, in einem unendliche Mal verbindlichern Grade schuldig, als wir es sind unsre Spielschulden zu bezahlen. Aber wenn dies auch nicht wäre, so sind wir es dem Staate, dem ganzen Scheschian schuldig. Denn es gibt kein anderes Mittel (ich fordre alle Ihre Staatskünstler, Goldmacher und Projektmacher heraus, mir ein andres zu nennen), den allgemeinen Wohlstand eines großen Reiches auf einen festen Grund zu setzen als dieses. Wenn das Landvolk Ursache hat zufrieden zu sein, so verlassen Sie Sich wegen des übrigen auf die Zauberei der Natur. Sie hat für unverdorbene Sinne Reizungen, deren Macht unsern ausgearteten unbegreiflich ist. Der Landmann zieht die angenehmen Gefühle, womit sie seine Arbeiten teils verwebet, teils belohnet, darum mit nicht desto weniger Wollust in sich hinein, weil er ihnen keinen Namen geben, oder sie nicht so zierlich beschreiben kann, wie unsre Dichter, die sie vielleicht nur durch die Anstrengung ihrer Einbildungskraft kennen. Welche Behaglichkeit gießt, indem er an die Arbeit [77] geht, ein schöner Morgen und die aufgehende Sonne über alle seine Glieder aus! Wie erquickt ihn ein frischer, mit den Düften abgemähter Kräuter und Feldblumen durchwürzter Wind! Wie angenehm ist ihm der Schatten eines Baumes in der glühenden Mittagshitze! Wo ist der Reiche, der die teuersten Weine mit der Hälfte der Wollust in sich schlürfe, wie der lechzende Schnitter seinen Krug mit säuerlicher Milch? Versuchen Sie es einmal, schöne Lili, führen Sie diesen gesunden, kernhaften, wohl gebildeten jungen Bauer, diesen echten Sohn der Natur, mitten an den Hof; zeigen Sie ihm alle Ihre Herrlichkeiten, Ihre Pracht, Ihre Feste, Ihre Schauspiele; aber verbergen Sie ihm auch den ewigen Zwang, den Überdruß, die lange Weile, die Gefahren dieser blendenden Maskerade nicht; – wie bange wird ihm ums Herz sein, bis er wieder in seiner Hütte ist! und mit welcher Ungeduld wird er von Ergetzlichkeiten, die ihm beschwerlicher sein werden als die mühseligste Arbeit, zu seinen Schnitterfesten, zu seiner Weinlese, und zu seinen Reihentänzen zurück fliegen! Wie selig wird er in Vergleichung mit dem unsrigen seinen Zustand preisen! Sie sehen, schöne Lili, wie wenig das Glück der zwei besten Dritteile von Scheschians Einwohnern dem Sultan unserm Herrn kosten wird. Ich verlange nichts für sie, als Sicherheit bei ihrem Eigentum, und Schutz vor Unterdrückung; die Natur hat alles übrige auf sich genommen. –›Gut‹, sagen Sie, ›was werden wir damit gegen die Folgen des Luxus gewinnen?‹ – Sehr viel. Es ist schon viel, wenn wir vier Millionen von sechsen vor der Ansteckung verwahrt haben. Aber dies ist noch nicht alles. Die Vorteile davon werden sich auf mehr als Eine Weise auch über den angesteckten Teil verbreiten. Von Zeit zu Zeit werden unsre Großen, werden die reichen und üppigen Bewohner der Hauptstädte, von Überdruß, langer Weile, und von der Notwendigkeit eine abgenützte Gesundheit auszubessern, aufs Land geführt werden; unvermerkt werden sie Geschmack an den einfältigen, aber mit der menschlichen Natur so fein zusammen gestimmten Freuden des Landlebens gewinnen; unvermerkt werden sie eine Menge von Vorurteilen unddie dicke Haut der Fühllosigkeit, die sich gleichsam um ihr Herz gezogen hatte, abstreifen; sie werden sich mit neuen Bildern und nützlichen Wahrnehmungen bereichert sehen, richtiger empfinden, und besseres Blut machen: und so klein auch der Anteil an diesen Vorteilen sein mag, den die meisten mit sich nehmen; so werden sie doch immer besser in die Stadt zurück kommen, als sie abgegangen sind. Noch mehr. Die Natur ist fruchtbar. Das Landvolk, sobald es nach seiner Weise glücklich ist, vermehrt [78] sich ins unendliche. Das Land wird eine unerschöpfliche Quelle, woraus die Städte (und bei Gelegenheit vielleicht auch der Adel) mit gesundem frischem Blute wieder angeschwellt werden, welches den Staat in immer währender Jugend und Stärke erhält. Aus den jungen Schwärmen, welche diese Bienenstöcke ausstoßen, werden sich die übrigen Stände ergänzen, und so werden die Verheerungen, die der Luxus anrichtet, beinahe unmerklich bleiben. Dies, schöne Lili, würd ich sagen, ist mein erstes Hausmittel. Das andre« – –

»Ich mag den Herrn Danischmend ganz gern phantasieren hören«, sagte Schach-Gebal; »aber bei allem dem, wenn er sich, was den zweiten und alle folgenden Punkte betrifft, so kurz als möglich aus der Sache ziehen wollte, so würde mir ein Gefallen geschehen.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »was ich noch zu sagen hatte, betrifft bloß die moralischen Giftmischer. Ich finde deren zwei Gattungen in der Welt. Zur einen rechne ich die üppigen Sittenlehrer, deren Seele bloß in ihrem Blute ist; die den wesentlichen Vorzug des Menschen vor dem Tiere mißkennen, und das höchste Gut gefunden zu haben glaubten, wenn sie den Maulwürfen und Meerschweinchen keinen Vorzug eingestehen müßten: zur andern diese gravitätischen Zwitter von Schwärmerei und Heuchelei, welche, unter dem Vorwande die menschliche Natur von ihren Schwachheiten zu befreien, ihre Grundzüge auskratzen, und ihre einfältig schöne Form am einen Orte stümmeln, am andern recken und aufblasen, um eine Mißgeburt aus ihr zu machen, für die man keinen Namen finden kann. Beide sind als Störer der geheiligten Gesetze der Natur, und als Verderber des schönsten unter allen ihren Werken anzusehen; und wenn ihre verderblichen Bemühungen sich mit den natürlichen Folgen und Einflüssen des Luxus bei einem Volke vereinigen, wie und wem sollt es möglich sein dieses Volk zwischen so gefährlichen Klippen unbeschädigt durchzuführen? – Welche von besagten beiden Arten von Vergiftern die schädlichste sei, ist eine Aufgabe, die vielleicht nicht unwürdig wäre, von der Akademie Ihrer Majestät entschieden zu werden. Aber, wenn wahr ist, was man bemerkt haben will, daß sich jene gemeiniglich in diese verwandeln, so könnte man auf den Gedanken kommen, die Denkungsart der letztern aus einem höhern Grade von Verderbnis der Natur zu erklären. Doch, wie dem auch sei, die Frage ist, wie wir diesen schädlichen Geschöpfen ihr Gift benehmen wollen? Ich vermute, daß jene in einem [79] wohl polizierten Arbeitshause, bei mäßiger Kost und einem Spinnrade richtiger philosophieren lernen sollten. Aber was die zweite Gattung betrifft – es sei nun, daß sie es, wie der Derwisch Kuban so weit gebracht haben, ihre fiebrischen Träume für Wahrheit zu halten, oder daß sie nur gewissen Ärzten gleichen, welche die Leute krank machen um sich ihre Heilung als ein Verdienst anrechnen zu können, – so weiß ich der schönen Lili keinen andern Rat zu geben, als diese wackern Leute nach ihren eigenen Grundsätzen zu behandeln. Wir sind aus der Welt ausgegangen, sagen sie: gut, man nehme sie beim Worte! Man messe zu einer jeden Derwischerei und Bonzerei so viel Land, als sie zu ihrem Unterhalte vonnöten haben, ziehe eine hohe Mauer rings umher, und – um der Welt alle Gelegenheit abzuschneiden sie in dem edlen Werke ihrer Entkörperung zu stören – 13 maure man alles so gleich und eben zu, daß niemand, wer einmal darin ist, wieder heraus könne: so ist allem Bösen vorgebogen, und jedermann kann zufrieden sein.«

»Weißt du wohl, Danischmend«, sagte der Sultan, »daß ich gute Lust habe, deinen Vorschlag, wenigstens was die Bonzen betrifft, ins Werk zu setzen? Es ist wie du sagst; niemand kann was dagegen einzuwenden haben. Ich selbst und meine Untertanen gewönnen etliche Millionen Taels dabei, die man besser anwenden könnte; und die Bonzen hätten vollkommene Muße, Pagoden zu werden, wie und wenn sie wollten.«

Es war glücklich für die Bonzen, oder vielmehr für den Sultan selbst, daß dergleichen Einfälle bei ihm keine Folgen hatten; denn er würde vermutlich in der Ausführung einige Schwierigkeiten gefunden haben.

7
7.

Um die gewöhnliche Zeit fuhr die Sultanin Nurmahal in ihrer Erzählung der Geschichte von Scheschian also fort:

»Da die schöne Lili nicht so glücklich war den weisen Danischmend zum Ratgeber zu haben; so erfolgte nach und nach, was die Mißvergnügten und Milzsüchtigen von den Folgen ihrer schimmerden [80] Regierung geweissagt hatten; und die Gegner des Luxus hatten nun den Triumph, sich in ihren schallreichen Deklamationen auf die Erfahrung berufen zu können. Indessen wurde doch das Übel erst unter der folgenden Regierung sichtbar, welche überhaupt eine der merkwürdigsten ist, die wir aus den Jahrbüchern von Scheschian kennen lernen, weil sie ein erstaunliches Beispiel abgibt, wie viel Böses unter einem gutherzigen Fürsten geschehen kann.

Azor, ein Sohn der schönen Lili, bestieg nach dem Tode seines namenlosen Vaters den Thron unter den glücklichsten Vorbedeutungen. Er war der schönste junge Prinz seiner Zeiten, einnehmend in seinem Bezeigen, sanft von Gemütsart, geneigt Vergnügen zu machen, und sich denjenigen völlig zu überlassen, welche die Werkzeuge des seinigen waren. Das Volk, gewohnt von allem nach dem Eindrucke der auf seine Sinne gemacht wird, zu urteilen, erwartete von der Regierung eines so guten Prinzen goldne Zeiten, und hatte unrecht; es betete ihn zum voraus deswegen an, und hatte unrecht; es hassete und verachtete ihn zwanzig Jahre hernach eben so unmäßig als es ihn geliebt hatte, und hatte sehr unrecht.«

»Sie erregen meine Neugier«, sagte der Sultan: »lassen Sie hören, warum die Scheschianer immer unrecht hatten; unrecht wenn sie ihren König liebten, und unrecht wenn sie ihn haßten; aber vergessen Sie nicht, daß ich kein Liebhaber von Wortspielen bin.«

»Die Neugier Ihrer Majestät soll befriediget werden«, versetzte Nurmahal, »wenn ich anders meine Geschichte lebhaft genug werde erzählen können, um Ihre Aufmerksamkeit zu unterhalten.«

»Ich danke für das Kompliment, das Sie der Gründlichkeit meines Geistes machen«, sagte der Sultan: »aber zur Sache!«

»Der junge Azor war wie die meisten Menschen (Prinzen oder nicht) mit einer Anlage geboren, aus welcher, unter den bildenden Händen eines Weisen, ein vortrefflicher Privatmann, und vielleicht sogar ein guter König hätte hervorkommen mögen. Freilich war er keiner von diesen mächtigen und seltnen Geistern,die sich selbst bilden; die mitten unter einer rohen oder verderbten Nation, in einem unglücklichen Zeitalter, ohne einen andern Anführer oder Gehülfen als ihren eigenen Genius, die Wege der Unsterblichkeit gehen, durch die natürliche Erhabenheit und Scharfsicht ihres Geistes den ganzen Umkreis der menschlichen Angelegenheiten übersehen, und, kurz, die großen Grundregeln einer weisen Regierung in ihrem eigenen Verstande, so wie in ihrem Herzen das Urbild jeder königlichen Tugend finden.« [81] »Allergnädigster Herr«, sagte Danischmend, »ich bitte um Vergebung; aber es ist mir unmöglich, die schöne Nurmahal nicht zu unterbrechen. Der Verfasser, aus dem sie diese prächtige Periode entlehnt hat, glaubte vermutlich etwas sehr Schönes gesagt zu haben; aber es ist bloßer Schall. Es gibt keine so wundervolle Menschen als er uns bereden will; und Prinzen sind, bei allen ihren Vorteilen vor uns andern, im Grunde doch, wie man sagen möchte, nur eine Art von – Menschen. Um der menschlichen Natur und dem guten SultanAzor das gebührende Recht angedeihen zu lassen, wollen wir lieber ohne alle Wörterpracht heraus sagen: Er befand sich nicht in den glücklichen Umständen, welche sich vereinigen müssen, um aus einem jungen Prinzen von der besten Anlage einen vortrefflichen Fürsten zu bilden. So war es in der Tat; und ich bin erbötig im Notfall gegen die ganze Akademie von Dely zu behaupten: Daß von Erschaffung der Welt an (welches schon lange sein mag) kein einziger großer Mann gelebt hat, der sich ohne Anführer, ohne Beispiele, und ohne Gehülfen, bloß durch die Stärke seines eigenen Genius gebildet hätte.«

»Ich danke dem Philosophen Danischmend im Namen aller Sultanen, meiner guten Brüder, für eine so tröstliche Anmerkung«, sagte der Sultan lächelnd. »Allen den Schmeichlern, die mir tausendmal das Gegenteil gesagt haben, zu Trotz, glaube ich, daß er recht hat; und wenn ich nicht besorgte mir einige schale Komplimente zuzuziehen, so wollt ich noch hinzu setzen, daß ich sehr daran zweifle, ob jemals einer von uns nur halb so gut gewesen ist, als er unter günstigern Umständen hätte sein können.«

Es schwebte dem naseweisen Danischmend auf der Zunge, zu sagen: oder nur halb so gut, als er unter den Umständen sein konnte, worin er sich wirklich befand. Aber zu seinem Glücke besann er sich noch, »daß die Wahrheit, die man einem Großen sagt, niemals beleidigen soll«, und daß es wirklich sehr edel an dem Sultan war, aus eigener Bewegung so viel einzugestehen, als er schon eingestanden hatte. Er begnügte sich also der schönen Nurmahal die preiswürdige Demut seines Herren rühmen zu helfen; und die Sultanin setzte die Erzählung also fort.

»Die Erziehung des Prinzen Azor war mehr vernachlässiget worden, als man es von den Einsichten der schönen Lili, seiner Mutter, hätte erwarten sollen. Diese Dame hatte in der Wahl desjenigen, dem sie den vornehmsten Teil seiner Bildung anvertraute, einen kleinen Trugschluß gemacht, der für ihren Sohn, und für die Völker, deren Schicksal einst von seiner Art zu denken abhangen [82] sollte, von großen Folgen war. Sie glaubte, ein Mann, der die Gabe hatte ihr besser als irgend ein anderer die Zeit zu vertreiben, und der überdies die niedlichsten kleinen Verse machte, müsse notwendig auch die Gabe haben einen König zu bilden. Der Prinz bekam also einen schönen Geist zum Hofmeister, der nichts vergaß um seinen Witz zu schärfen und seinen Geschmack zu verfeinern. Azor lernte die Schönheiten der Dichter empfinden, Szenen aus Tragödien deklamieren, den gemeinsten Dingen sinnreiche Wendungen geben, und zwanzig andre solche Künste, welche zur Auszierung gehören, und ihren Wert haben, wenn sie der Schmuck wesentlicher Vollkommenheiten sind. Der Prinz stellte sich auf die edelste und angenehmste Art in einer Gesellschaft dar, er sagte witzige und verbindliche Sachen, er kleidete sich mit dem besten Geschmack, und urteilte besser als jemand von allem was in dem Gebiete des Schönen liegt. Er blies die Flöte, malte ganz artig, und tanzte zum Bezaubern. Seine Feinde (denn bei aller seiner Liebenswürdigkeit fehlte es ihm nicht an Feinden) sagten ihm sogar nach, daß er in der Schwärmerei seiner ersten Leidenschaft für eine Dame des Hofes – Verse gemacht habe; Verse, welche ihm die Ungelegenheit zugezogen hätten, von den Poeten seiner Zeit einhellig zu ihrem Schutzgott erwählt, und im Eingang ihrer Gedichte oder in schallreichen Zueignungsschriften mit hungriger Beredsamkeit um seinen mächtigen Beistand und – eine Mittagsmahlzeit angerufen zu werden.

Eh ich weiter fortgehe, Sire, muß ich eines Umstandes erwähnen, der in verschiedene Teile der Geschichte von Scheschian einigen Einfluß hat, und einen Zweig der Sitten betrifft, worin die Bewohner dieses Landes von den meisten Völkern in Asien unterschieden sind. Das weibliche Geschlecht genoß bei ihnen von alten Zeiten her aller der Freiheit, in deren Besitz es bei den abendländischen Völkern ist; und unter der Sultanin Lili, welche sich eine Angelegenheit daraus gemacht hatte, die schönsten und vollkommensten Personen ihres Geschlechtes aus dem ganzen Scheschian um sich her zu versammeln, war der Hof, aus einer finstern Werkstätte der öffentlichen Geschäfte, ein Schauplatz der angenehmsten Bezauberungen der Liebe und des Vergnügens geworden.

Es konnte dem jungen Prinzen nicht fehlen, in dieser Schule gar bald zu demjenigen ausgebildet zu werden, was die Damen seines Hofes einen liebenswürdigen Mann nannten. Sie beeiferten sich in die Wette, das Werk seiner Erziehung zur Vollkommenheit zu bringen; und es ist zu vermuten, daß ihre Absichten dabei nicht so ganz uneigennützig waren als sie sich das Ansehen gaben. Azor [83] befand sich eben in der Verlegenheit, sein Herz unter so vielen reizvollen Gegenständen eine Wahl treffen zu lassen; als ihm der Tod des Königs seines Vaters eine Krone aufsetzte, von deren Wert er ziemlich romantische Begriffe haben mußte, weil sie (wie er zu einer jungen Schönen seines Hofes zu sagen beliebte) nur in so fern einigen Preis in seinen Augen habe, als er sie, zugleich mit seinem Herzen, zu den Füßen dieser kleinen Zaubrerin legen könne. Man kann aus dieser Probe sicher schließen, wie gut er in den Pflichten, die mit dieser Krone verbunden waren, müsse unterrichtet gewesen sein.

In der Tat waren diese Pflichten für Personen, welche einen so angenehmen Gebrauch von ihrem Leben zu machen wußten, als man es an dem Hofe zu Scheschian gewohnt war, allzu beschwerlich, als daß nicht ein jedes, das man damit beladen wollte, geeilet haben sollte, sich einer so mühsamen Bürde so bald nur immer möglich wieder auf die Schultern einer andern Person zu entledigen. Der junge König überließ den größten Teil davon seiner Mutter; seine Mutter ihrem Günstlinge; der Günstling seinem ersten Sekretär; der erste Sekretär seiner Mätresse; die Mätresse einem Bonzen, welcher, unter dem Vorwand an ihrer Seele zu arbeiten, Gelegenheit fand sich sehr tief in die Angelegenheiten der Welt zu mischen, und endlich eine große Rolle zu spielen, ohne einen andern Beruf dazu zu haben, als einen lächerlichen Ehrgeiz, und die Neigung zum Ränkeschmieden, die damals ein unterscheidendes Merkmal der Personen seines Standes in Scheschian war. Natürlicher Weise konnte diese Einrichtung der Sachen von keiner langen Dauer sein. Das System änderte sich, so wie die geheimen und unermüdeten Bewegungen der Regiersucht und des Eigennutzes eine Verwechselung der Personen veranlaßte. Es begegnete also, zum Beispiel, daß die besagten Pflichten zwischen der Königin-Mutter und einer Mätresse des Königs geteilt wurden; die Mätresse übertrug alsdann ihren Anteil an ihre erste Kammerfrau; diese an ihren Liebhaber; der Liebhaber an seinen vertrautesten Diener, und so fort; und was man von allen diesen Veränderungen am gewissesten sagen konnte, war, daß der Staat gemeiniglich mehr dabei verlor als gewann.«

»Ich bin zwar bereits über zwanzig Jahre Sultan«, sagte hier Schach-Gebal lächelnd: »aber ich möchte doch bei dieser Gelegenheit gerne von dir hören, Danischmend, was ihr andern weisen Leute unter den Pflichten eines Königs versteht.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »ich habe dazu nichts anders vonnöten, als alles das Rühmliche, was Ihre Majestät getan haben, in allgemeine Sätze zu verwandeln« – –

[84] »Keine Komplimente, ein für allemal!« sagte der Sultan. »Eure Gedanken von der Sache, mit Vorbehalt meiner Freiheit davon zu denken was mir belieben wird!«

»Die Pflichten eines Königs also, sind:

Einem jeden sein Recht so bald und so wohlfeil als möglich widerfahren zu lassen, und alle Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen;

die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern zu befördern;

die Verdienste zu belohnen;

die Staatseinkünfte weislich anzuwenden;

und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit vor auswärtigen Feinden zu verschaffen.

In so fern alle diese Pflichten wirklich erfüllt werden (setzt man hinzu), kann es dem Staate gleichgültig sein, ob sie der König durch sich selbst oder durch andere ausübet; genug daß er der erste Beweger aller Triebfedern desselben ist. Indessen hat es doch zu allen Zeiten Fürsten gegeben, welche durch ihr Beispiel diese Pflichten um ein Namhaftes erschwert haben. Sie glaubten ihrem Amte nicht anders genug tun zu können, als indem sie, mit Hülfe der Weisesten und Besten ihres Volkes, selbst an dem allgemeinen Wohlstande arbeiteten. Sie strebten hierin nach Erreichung eines gewissen Ideals, welches sie sich in ihrem Geiste entworfen hatten, und glaubten nicht eher glücklich zu sein, bis sie sich selbst mit einem hohen Grade von Gewißheit sagen könnten: Nun ist unter allen den Myriaden oder Millionen, deren Glück mir anvertraut ist, kein einziger, der durch meine Schuld, durch irgend eine meiner Leidenschaften, oder nur durch meine Nachlässigkeit unglücklich wäre. Sie begriffen unter dem Umfang ihrer Pflichten – eine auf die Grundregeln der Natur und die Bedürfnisse und Umstände ihres Staats gebaute Gesetzgebung; eine väterliche unmittelbare Fürsorge für die Pflanzschulen des Staats; eine zur möglichsten Vollkommenheit gebrachte Polizei; eine gerechte Schätzung und tätige Beförderung der Wissenschaften und der Künste, welche die Sitten und das Leben verschönern. Sie ließen sich nicht daran genügen, gleich den alten Königen Persiens, Augen und Ohren zu bestellen, die in ihrem Namen sehen und hören sollten: sie hielten es für ihre Schuldigkeit, mit ihren eigenen Augen zu sehen, und, damit sie recht sehen könnten, von allem, was ihrem Urteil unterworfen wurde, sich die nötigen Kenntnisse zu erwerben; einen jeden selbst anzuhören; jeden Entwurf einer Verbesserung[85] oder nützlichen Unternehmung selbst zu prüfen; dieAusführung durch ihre eigene Gegenwart zu beleben; alles Gute, das sie tun konnten, wirklich zu tun; alles Böse, das sie verhindern konnten, wirklich zu verhindern; kurz, sie begriffen so viele und mühsame Arbeiten unter dem was sie ihre Pflicht nannten, daß nur eine heroische Tugend vermögend sein kann, einen Sterblichen zu Annehmung einer Krone, unter solchen Bedingungen, zu bewegen, wenn es anders in seiner Willkür steht, sie anzunehmen oder auszuschlagen.«

»Vergiß nicht, Danischmend«, sagte der Sultan, nachdem er zweimal hinter einander gegähnt hatte, »mir morgen bei meinem Aufstehen ein Verzeichnis der sämtlichen morgen- und abendländischen Könige vorzulegen, auf welche du in dieser Beschreibung gezielt hast.«

»Das Gedächtnis Ihrer Majestät wird durch die Zahl nicht überladen werden«, versetzte Danischmend. 14

»Das dacht ich wohl«, sprach der Sultan: »aber desto besser! ich liebe eine ausgesuchte Gesellschaft. – Um Vergebung, Nurmahal, Sie sollen heute nicht wieder unterbrochen werden.«

»Sire«, fuhr die Dame fort, »es ist bei dieser Bewandtnis leicht zu erachten, wie gut die Pflichten des königlichen Amtes unter der Regierung des liebenswürdigen Azors versehen wurden. Er selbst konnte keine Kenntnis davon haben. Er wußte zwar in der äußersten Vollkommenheit, was zur Anordnung eines prächtigen Festes gehörte, welches er einer Geliebten geben wollte: aber wie hätte er wissen können, was zur Anordnung eines großen Staates, zur Besorgung seiner Bedürfnisse, zur Befestigung seiner Sicherheit, zur Bewirkung seines allgemeinen Wohlstandes erfodert wird? Die Natur bildet (ordentlicher Weise wenigstens) keine Fürsten; dies ist ein Werk der Kunst, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes Werk: aber man hatte sich begnügt den guten Azor zu einem liebenswürdigen Edelmanne zu bilden. Da er also genötigt war, seine wichtigsten Geschäfte andern zu übertragen, und [86] da es unmöglich ist, ohne die Kenntnisse, welche ihm mangelten, eine gute Wahl zu treffen: wie konnte sich Azor, jung und unerfahren wie er war, anders helfen, als sie denjenigen zu überlassen, von denen er am günstigsten dachte, weil sie die meiste Gewalt über sein Herz hatten? 15 Zum Unglück befanden sich diese in den nämlichen Umständen wie er selbst. Sie behielten also nur den leichtesten und angenehmsten Teil davon, die Ausübung einer willkürlichen Gewalt, für sich selbst, und überließen das übrige wieder an andere; und so geschah es sehr oft, daß die wichtigsten Angelegenheiten das Schicksal hatten, nach dem Gutachten eines unwissenden Bonzen, oder eines Kammerdieners, oder einer jungen, grillenhaften Schönen, oder (welches mehr als Einmal geschehen sein soll) durch den Einfall eines – Hofnarren entschieden zu werden.

Die Folgen dieser Staatsverwaltung waren so betrübt als man sich vorstellen kann. Die wichtigsten Stellen wurden nach und nach mit untauglichen Personen besetzt; die Gerechtigkeit anfangs heimlich verhandelt, und zuletzt öffentlich feil geboten; unter ihrem Namen triumphierte die Schikane; die öffentlichen Einkünfte wurden verschwendet, und die Forderungen unersättlicher Günstlinge unter die Rubrik der Staatsbedürfnisse gebracht. Alle die höhern und mühseligern Pflichten der Regierung, deren Ausübung mit keinem unmittelbaren Privatvorteil verknüpft war, wurden vernachlässiget. Das Laster, welches sich den Schutz der Großen zu verschaffen wußte, blieb unbestraft; ja es wurde nicht selten unter dem Titel des Verdienstes noch durch Belohnung aufgemuntert. In der Tat wird man wenig Regierungen finden, wo die Verdienste so häufig und so übermäßig belohnt worden wären als in dieser. Aber man wunderte sich eine lange Zeit, wie es zugehe, daß sich diese Verdienste immer nur bei den Angehörigen oder Freunden derGünstlinge fänden; man wunderte sich noch mehr, wie es zugehe, daß die Nation durch lauter Leute von Verdiensten zu Grunde gerichtet werde; und nur eine kleine Anzahl von spekulativen Leuten begriff, daß in allem diesem gar nichts sei, worüber man sich zu wundern habe.«

[87] Da der Sultan hier zum dritten Male gähnte, so wurde die Vorlesung durch einen geschickten Übergang zu einem angenehmern Gegenstande abgebrochen, wovon es dem sinesischen Autor nicht beliebt hat uns Nachricht zu erteilen.

8
8.

»Inzwischen lebte der junge König Azor einige Jahre so glücklich als Jugend, blühende Gesundheit und unumschränkte Macht einen Sterblichen machen können, der seine Glückseligkeit in einer immer währenden Berauschung der Seele, in den ausgesuchtesten Wollüsten der Sinne, der Einbildung und des Herzens findet. Azor liebte das Vergnügen über alles; aber sein edles und gefühlvolles Herz liebte auch es auszubreiten, und wenn er sich selbst glücklich fühlte, so wollte er so weit als sein Gesichtskreis sich erstreckte, lauter Glückliche um sich sehen.

Drei oder vier Jahre gingen auf diese Weise in einer ununterbrochenen Kette von Festen und Ergetzungen vorüber, in welchen Witz und Kunst alle ihre Kräfte zusammen setzten, die kleine Anzahl angenehmer Rührungen, deren die sparsame Natur den Menschen fähig gemacht hat, ins unendliche zu verändern, zu vervielfältigen, zu vermischen, zu erhöhen, und durch tausend geschickt verborgene Handgriffe diese angenehmen Täuschungen hervorzubringen, die den Überdruß betrügen, und die Seele in einem Wirbel von Freuden so schnell herum drehen, daß ihr nicht so viel Macht über sich selbst bleibt, Betrachtungen über das was in ihr vorgeht, und über den Wert der Gegen stände, in deren angenehmer Gewalt sie ist, anzustellen. Man glaubt neue Sinne zum Gefühl des Vergnügens zu bekommen, mit jedem Tage zu einem neuen wollüstigern Dasein hervor zu gehen; und man wird nicht eher gewahr, daß man sich unter einer Art vonBezauberung und außerhalb des angewiesenen Kreises der natürlichen Wirksamkeit befindet, bis Erschöpfung der Lebensgeister, Erschlaffung der Sinne, oder noch empfindlichere Folgen einer wollüstigen Unmäßigkeit, die Seele aus ihrem süßen Taumel wecken, um sie dem Gefühl einer unerträglichen Leerheit und einer Reihe unangenehmer Betrachtungen zu überliefern, welche auf den Weg der Weisheit führen könnten, wenn die Gewohnheit uns nicht bald wieder mit mechanischer Gewalt zu eben diesen Gegenständen und Vergnügungen zurück zöge, deren betrügliche Beschaffenheit wir vergebens erfahren haben, weil sie [88] sich nur unter einer neuen Gestalt zeigen dürfen, damit wir uns aufs neue von ihnen betrügen lassen.«

»Madam«, sagte der Sultan, »pflegt man das, was Sie uns eben itzt mit dem melodiösesten Akzent von der Welt vorgelesen haben, nicht eine Tirade zu nennen? Was es auch für einen Namen haben mag, so erkläre ich hiermit, daß ich nur ein sehr mittelmäßiger Liebhaber davon bin. Ich bin zwar der Moral nie so gram gewesen als mein werter Oheim Schach-Baham, glorreichen Gedächtnisses: aber gleichwohl werden Sie mich verbinden, wenn Sie künftig alle Deklamationen dieser Art, denen Ihr Autor aus einem Naturfehler ziemlich häufig unterworfen zu sein scheint, ohne die mindeste Furcht daß ich etwas dabei verlieren möchte, überhüpfen werden. Ich kann nichts in diesem Geschmacke lesen oder hören, ohne daß ich stracks meinen Iman mit seinen aufgezogenen Augenbraunen und blasenden Backen vor mir stehen sehe. Es ist unangenehm, daß unsre Schriftsteller noch immer den rechten Ton so gern verfehlen, und uns aufgedunsene Perioden, worin irgend ein alltäglicher Gedanke in einem gothischen Putz von schallenden Worten und rednerischen Figuren strotzt, für Philosophie verkaufen wollen.«

Nurmahal, nachdem sie vor diesem schlimmen Geschmacke sich sorgfältig zu hüten versprochen hatte, setzte ihre Erzählung also fort.

»Es war ein Unglück für Scheschian, daß die reizende Xerika, auf welche die erste Neigung des jungen Königs fiel, von derjenigen Art von Seelen war, welche die Natur ausdrücklich für die Liebe und für sie allein gebildet zu haben scheint. Das Herz Azors, wär er auch ein bloßer Schäfer gewesen, war das einzige, was einen Wert in ihren Augen hatte; sie war lauter Empfindung, aber nur für ihn; ihn glücklich zu machen war ihr einziger Wunsch, ihr einziger Stolz, ihr einziger Gedanke. Auch war er's, so lange die Bezauberung der ersten Liebe dauern kann, in einem so hohen Grade, daß, wenn er in irgend einer einsamen Laube zu ihren Füßen lag, und mit dem Kopf auf ihren Schoß zurück gelehnt seine gierigen Blicke in ihren in Liebe schwimmenden Augen weiden ließ, 16 der gute König seiner Krone und aller Kronen des Erdbodens, mit allen davon abhangenden Rechten und Pflichten, so gänzlich vergaß, als ob diese Laube die ganze Welt, und Xerika nebst ihm selbst die einzigen Bewohner derselben gewesen wären. Die Geschäfte der Regierung, [89] und dasjenige, was man die Austeilung der Gnaden nannte, befanden sich also in den Händen eines Günstlings der Sultanin Lili, durch welchen sie wieder stufenweise in so viele andere Hände gespielt wurden, daß (wenn man den geheimen Nachrichten von dieser Regierung glauben darf) sogar Komödianten und Tänzerinnen zu gewissen Zeiten wichtige Personen auf dem Staatstheater von Scheschian vorgestellt haben sollen.«

»Um Vergebung, daß ich Sie schon wieder unterbrechen muß«, sagte der Sultan: »was war das, was man an diesem so wohl eingerichteten Hofe die Austeilung der Gnaden nannte?«

»Sire«, antwortete Nurmahal, »es war schon unter den vorigen Regierungen unvermerkt zur Gewohnheit geworden, alle Arten von Ämtern und Bedienungen, mit welchen Ansehen, Gewalt und Einkünfte verbunden waren, nach Gunst und Gefallen auszuteilen. Man pflegte daher die Besetzung einer solchen Stelleeine Gnade zu nennen. Nach und nach erweiterte sich die Bedeutung des Wortes, und es kam zuletzt so weit, daß aller Begriff von Verdienst dadurch verdrängt, und sogar ein Künstler oder Kaufmann, welcher für gelieferte Arbeit oder Waren eine Forderung zu machen hatte, seine Bezahlung, nach tausend mühseligen Weitläufigkeiten und Verzögerungen, durch geheime Ränke, und mit Aufopferung eines beträchtlichen Teils der Forderung, als eine Gnade nachzusuchen genötiget wurde. Es gab zwar schon damals Leute, welche behaupteten: Ein König von Scheschian habe so viel zu tun, einem jeden [90] das Seine zu geben, daß ihm wenig oder keine Gnaden zu erteilen übrig blieben; jede Ehrenstelle oder Bedienung erfodre gewisse Talente und Tugenden, und müsse also mit demjenigen besetzt werden, welcher die größten Proben gegeben habe, daß er diese Talente und diese Tugenden besitze; ja, der König sei nicht einmal berechtiget, die Pensionen, welche aus dem öffentlichen Schatze bewilliget würden, als Gnaden anzusehen, weil der öffentliche Schatz zu Bestreitung derjenigen Ausgaben geheiliget sein müsse, welche die Ausübung des königlichen Amtes notwendig macht; kurz, der König habe keine Gnaden auszuteilen als aus sei nem eigenen Beutel; und alles Gute, was er als König tue, fließe aus einer eben so verbindlichen Schuldigkeit ab, als diejenige sei, vermöge welcher die Untertanen ihm Ehrfurcht und Gehorsam zu beweisen, und nach Verhältnis ihres Vermögens ihren Anteil zu den Einkünften der Krone beizutragen schuldig seien – allein diejenigen, welche dergleichen Sätze vorbrachten, hätten eben so wohl getan sie für sich selbst zu behalten; denn sie wurden nicht gehört, und der Hof erhielt sich im Besitze, alles was er tat so sehr aus Gnade zu tun, daß, wie gesagt, das Wort Verdienst in seiner eigentlichen Bedeutung zu den verhaßten Wörtern herab sank, welche aus der Sprache der guten Gesellschaft verbannt waren; und daß es niemals anders gebraucht wurde, als, um diejenigen Eigenschaften oder Verhältnisse zu bezeichnen, wodurch man das Glück hatte, den Personen, welche Gnaden austeilen konnten, angenehm zu sein. In den ersten Jahren der Regierung des Königs Azor hingen die meisten Gnaden von der Amme der Königin Lili, von der persischen Tänzerin, welche den Vertrauten des obersten Visirs gefesselt hatte, und von einem gewissen Bonzen ab, der mit großem Eifer arbeitete, diese Tänzerin von der Religion der Feueranbeter, in welcher sie geboren war, zu der seinigen zu bekehren. Es gab also während dieser Zeit ordentlicher Weise nur dreierlei Arten von Verdiensten oder Wegen, Gnaden zu erhalten: das Verdienst sie bezahlen zu können, eine viel versprechende Figur (denn die Tänzerin war sehr uneigennützig), und das Verdienst der Dummheit.

Azor, dessen Hof in dieser Zeit den Glanz der prächtigsten in Asien auslösche, welcher jährlich dreihundertundfünfundsechzig Feste gab, und im Besitz der liebenswürdigen Xerika der glücklichste unter allen Unsterblichen zu sein glaubte – denn wie hätte er auf einer so hohen Stufe von Glückseligkeit nicht vergessen sollen, daß ihn seine Mutter sterblich geboren? – Azor wußte nichts davon, [91] daß seine Provinzen mit raubgierigen Statthaltern besetzt, seine Gerichtsstellen an unwissende und leichtsinnige Gecken verhandelt, und die Verwaltung der Kroneinkünfte, mittelst gewisser geheimer Verträge, an Leute überlassen wurde, die das Arkanum besaßen, an jeder Million, welche sie für den König einzogen, den fünften Teil für sich selbst zu gewinnen; eine Kunst, die in der Folge zu einer solchen Vollkommenheit getrieben worden ist, daß die ersten Meister kaum den Namen von Anfängern verdienten. Der gutherzige Azor glaubte, daß seine Völker glücklich wären, weil er es selbst war, weil er sie glücklich zu sehen wünschte, und weil er gewohnt war alle seine Wünsche erfüllt zu sehen. Überdies hatte er so wenig Begriffe von den Erfordernissen der Regierungskunst, daß man nicht ohne Grund vermutet, er habe sich mit eben der Zuversicht darauf verlassen, daß der Staat ohne sein Zutun aufs beste besorgt werden würde, mit welcher er sich darauf verlassen konnte, daß die Sonne alle Tage auf- und untergehen, die Jahrszeiten wie gewöhnlich auf einander folgen, und in allen dreien Reichen der Natur alles geschehen würde was sich gebührt, ohne daß Seine Hoheit Sich im mindesten darum zu bekümmern hätte.

Der Überfluß, welchen Fleiß und Handelschaft noch immer über den größten Teil des Reiches verbreiteten, nebst den immer währenden Lustbarkeiten, die bei Hofe und in den Hauptstädten herrschten, machten die Folgen einer so übel besorgten Staatsverwaltung eine Zeit lang im ganzen unmerklich. Wie leicht werden zehen tausend unterdrückte Bürger unter einer großen, geschäftigen, mutvollen, und von Entwürfen einer schimmernden Glückseligkeit schwellenden Nation übersehen! Und wie sollte das stumme Seufzen, oder selbst das laute Geschrei dieser zerstreuten Unglücklichen, vor dem noch lautern Getümmel der allgemeinen Emsigkeit und Fröhlichkeit gehört worden sein, oder sich den Weg zum Ohre des mitleidigen Azors haben öffnen können?

Aber eine Veränderung des Systems, worin damals die Staaten des östlichen und mitternächtlichen Teils von Asien verbunden waren, eine Veränderung, wobei der Hof von Scheschian unmöglich gleichgültig bleiben konnte, gab dem jungen Könige Gelegenheit wahrzunehmen, daß seine Geschäfte sehr übel besorgt wurden. Man hatte die Zeit und das Geld, die auf die Zurüstungen zu einem unvermeidlichen Kriege verwendet werden sollten, mit Lustbarkeiten und unnützen Unterhandlungen zugebracht, und die Feinde waren im Begriff in die Grenzen des Reiches einzudringen, als man erst gewahr wurde, daß es sich nicht einmal im Verteidigungsstande befand. Zum [92] Unglück war auch die königliche Kasse so erschöpft, daß Azor sich genötiget sah, seine Zuflucht zu den Kassen seiner Finanzaufseher und Oberpachter zu nehmen, in welchen eine Fülle herrschte, die mit der Leerheit der königlichen vermutlich einerlei Ursache hatte. Das Murren der Nation, welche zu Bestreitung der Kriegsunkosten mit gedoppelten Auflagen belegt wurde, und gleichwohl ihre Beschützung in so schwachen Händen sah, nahm täglich zu; die Feinde bemächtigten sich einer Provinz nach der andern, und der König wußte noch immer nichts von dem eigentlichen Zustande der Sachen: als Alabanda (eine Dame des Hofes, die schon seit geraumer Zeit an einem Entwurf arbeitete, die zärtliche und untätige Xerika zu verdrängen) sich eines günstigen Augenblicks bemächtigte, und zum ersten Male Eindruck auf das Herz Azors machte, indem sie sich das Ansehen gab, von einem lebhaften Eifer für seine Ruhe und für die Glorie seiner Regierung beseelt zu sein. Diese Frau vereinigte alle die Reizungen in ihrer Person, welche das Herz eines Prinzen wie Azor zu fesseln fähig waren; eine blendende und untadelhafte Schönheit mit der Blüte der Jugend, und den angenehmsten Witz mit tausend liebreizenden Grazien. Sie war unwiderstehlich, wenn sie sich vorgesetzt hatte es zu sein; und Azor konnte von dem ersten Augenblick an, da die Gleichgültigkeit, worin Xerika seine Sinne zu lassen anfing, ihm erlaubte ihre Nebenbuhlerin mit Aufmerksamkeit anzusehen, sich nicht genug wundern, wie er so lange von einem so vollkommnen Gegenstande habe ungerührt bleiben können. Die zärtliche Xerika hatte in dem Könige nur Azorn geliebt; Alabanda liebte in Azorn nur den König. Zwanzig andre taugten eben so gut oder besser ihre wollüstige Sinnesart zu vergnügen: aber ihre Eitelkeit konnte nur durch eine unumschränkte Gewalt über das ganze Scheschian befriediget werden; und der Plan, den sie zu diesem Ende machte, bewies ihre Klugheit. Sie entdeckte Azorn, wie übel der Staat unter der Regentschaft seiner Mutter verwaltet worden sei, und überredete ihn, die Zügel der Regierung künftig selbst zu führen. Der Staatsrat und die obersten Kronbedienungen wurden also mit Kreaturen der schönen Alabanda besetzt: und da nichts Unbeständigeres sein konnte als die Gunst dieser Dame; so veränderte sich der Divan unter ihrer Regierung so oft als ihr Kopfputz, oder als die Farben ihres Anzugs, durch deren täglichen Wechsel sie bewies, daß ihre Schönheit in jedem Lichte sich selbst gleich bleibe, und über alles triumphiere, was neben ihr glänzen wolle.

Der König wunderte sich sehr, da er eine Bürde, die er sich so [93] schwer vorgestellt hatte, so leicht fand. Es kostete ihm nur einen Wink, oder höchstens ein bloßes Ja zu allem was ihm die schöne Alabandain eigener Person oder durch ihre Werkzeuge vorschlug. Nichts konnte bequemer sein; aber Scheschian befand sich auch um nichts besser bei einer Regierung, die dem Könige so leicht gemacht wurde.

Gleich zu Anfang des vorerwähnten Krieges hatte sich der Günstling der Sultanin-Mutter, in dessen Händen damals die höchste Gewalt lag, genötiget gesehen, die Anführung der Kriegsheere einem erfahrnen Feldherrn zu übergeben, der zu alt war, um bei dem neuen Hofe in Ansehen zu stehen. Seine Figur, seine Manieren, sein Ton, seine Art sich zu kleiden, und sein Charakter hatten schon lange aufgehört nach der Mode zu sein: aber seine Talente, seine Liebe zum Vaterlande und seine Erfahrung waren Eigenschaften, deren Wert allgemein anerkannt zu werden pflegt, sobald die Zeit kommt, wo man ihrer vonnöten hat. Die dringende Gefahr entschuldigte den Minister, daß er von einem Grundgesetze des Hofes abgehen, und einen so wichtigen Posten einem Manne auftragen mußte, der aus einer andern Welt war, und nichts als – persönliche Verdienste hatte.

Die guten Anstalten, welche der alte Feldherr machte, und die beträchtlichen Vorteile, die er in kurzer Zeit über die Feinde erhielt, ließen einen glücklichen Fortgang des Feldzuges hoffen. Aber kaum hatte sich Alabanda des Königs und der Regierung bemächtiget, so wurde der alte Mann, unter dem Vorwande daß er nicht Feuer genug habe, zurück berufen, und ein sehr artiger junger Herr an seine Stelle geschickt, welcher unstreitig der beste Tänzer am ganzen Hofe war. Er hatte sich durch dieses Talent, und durch die Gabe kleine satirische Verschen über die Damen zu verfertigen, denen die stolze Alabanda nicht erlauben wollte liebenswürdig zu sein, bei der Favoritin in Achtung gesetzt; und weil seine Finanzen sich damals in der niedrigsten Ebbe befanden, so hatte er sich den Posten eines Oberfeldherrn, als ein Mittel wieder zu Kasse zu kommen, von ihr ausgebeten. Die Feinde gewannen mehr dabei, als wenn sie drei Siege über den alten General erhalten hätten. Der Unwille des Adels, der Armee und des Volkes über die unleidlichen Fehler, die dieser eben so unwissende als eigensinnige und raubgierige Heerführer beging, stieg endlich zu einem so hohen Grade, daß sich Alabanda genötigt sah, den Tänzer zurück zu berufen; welcher, nachdem er einige Millionen gewonnen, und dem Reiche für zehnmal so viel Schaden zugezogen, so [94] hoffärtig und mit solchem Geräusche nach Hofe zurück kam, als ob er die herrlichsten Taten verrichtet hätte. Auch empfing er die Krone von Pfauenschwänzen, ein Ehrenzeichen, welches die Großen des Reichs von den niedrigern Klassen des Adels unterschied, aus der eigenen Hand seines Königs, und tanzte bei dem ersten großen Ball, der bei Gelegenheit eines von seinem Nachfolger erhaltenen Sieges dem Hofe gegeben wurde, mit so außerordentlichem Beifalle, daß es nur auf ihn ankam, so viel Herzen zu erobern als er wollte oder behaupten konnte.

Die Vorteile, die der neue Feldherr über den Feind erhielt, versprachen einen glänzenden Ausgang der Sachen. Aber die Ehre des schönen Tänzers, der durch die Krone von Pfauenschwänzen, und die Beute die er den Scheschianern abgenommen hatte, eine wichtige Person im Reiche geworden war, machte es notwendig, einem so gefährlichen Nachfolger in Zeiten Einhalt zu tun. Weil der König itzt durch sich selbst regierte, so fand man, es schicke sich schlechterdings nicht, daß der Feldherr irgend einen Schritt von Wichtigkeit ohne ausdrücklichen Befehl vom Hofe sollte unternehmen dürfen. Er erhielt also, auf seine Anfrage, den Befehl zu einem Treffen gerade zu der Zeit, da die Gelegenheit es mit Vorteil zu liefern vorüber war; er mußte sich ostwärts ziehen, wenn die gegenwärtige Lage ihn westwärts rief, oder einen Posten verlassen, da die Umstände unumgänglich erfoderten ihn zu besetzen. Außer diesem wußte man ihm so viele andre Hindernisse in den Weg zu legen, daß der Heldenmut eines Alexanders darüber hätte ermüden mögen. Bald fehlte es ihm an Truppen, bald an Geld, bald an Proviant, bald an Kriegsvorrat, bald an allem. Gleichwohl überwand er alle diese Schwierigkeiten durch die Hülfsmittel, die er in seinem Genie und in seiner Ruhmbegierde fand, und er war im Begriffe, durch einen entscheidenden Streich den Krieg auf die rühmlichste Weise zu Ende zu bringen, als er die Nachricht erhielt – daß der Friede geschlossen sei.

Wenn die Bedingungen dieses Friedens dem König Azor wenig Ehre brachten, so mußte man doch gestehen, daß sie seinen Ministern desto vorteilhafter waren; denn jede Bedingung wurde ihnen mit hunderttausend Unzen Silbers bezahlt. Scheschian verlor zwar dadurch eine seiner besten Provinzen; aber die schöne Alabanda gewann einen diamantnen Gürtel, der eine kleine Provinz wert war. Azor hatte den Vorteil, mit der Geographie seines Reichs so wenig bekannt zu sein, daß er nichts verloren zu haben glaubte. Man versicherte ihn, die Provinz, die er abtrat, koste [95] mehr zu erhalten als sie wert sei; und alle Hofbonzen und Hofpoeten wurden dazu gedungen, die uneigennützige Großmut des Königs und sein väterliches Mitleiden mit seinem Volke in die Wette zu preisen, und zu einer Heldentugend zu erheben, welche die Taten der größten Eroberer verfinstre.«

»Nach diesen Proben von eurem guten König Azor zu urteilen«, sprach der Sultan, »ist das gelindeste was man von ihm sagen kann, daß er zu einem sehr schwachen Herzen einen noch schwächern Kopf gehabt haben müsse. Ich meines Orts gestehe, daß ein Fürst, der seinen Namen zu den Übeltaten seiner Lieblinge herleiht, ein verächtliches Geschöpf in meinen Augen ist; und ich sehe gar nicht, warum man ihm die Ehre erweisen soll, ihn gut zu nennen, wenn seine Völker bei aller seiner Güte sich nicht besser befinden als sie tun würden, wenn er ein Tyrann wäre.«

»Sire«, erwiderte die schöne Nurmahal, »erlauben Sie mir zu sagen, daß Sie ein wenig zu strenge mit dem guten König Azor verfahren. Er war wirklich einer der liebenswürdigsten Prinzen seiner Zeit. Es mangelte ihm weder an Geist noch an Geschmack, und man hat eine Menge kleiner Anekdoten von ihm, welche das edelste und gütigste Herz beweisen. Eine unglückliche Erziehung« –

»Um Vergebung, Madam«, fiel ihr der Sultan in die Rede: »ich wollte nicht gern, daß man den Fürsten diese Entschuldigung gelten ließe. Die Erziehung der Personen, die zum Throne geboren werden, ist selten so gut als es zu wünschen wäre; und nach Ihrem Grundsatze hätten immer fünfundneunzig von hundert meinesgleichen ein Privilegium, so übel zu regieren, als es ihren Weibern, ihren Bedienten und dem Zufalle belieben möchte. Soll ich euch sagen, wie ich selbst erzogen worden bin? Beim Barte des Propheten! wenn jemals ein Sultan berechtiget war keinen Menschenverstand zu haben, so bin ich's. Weil wir hierunter uns sind, so will ich mir doch das Vergnügen machen, euch ein oder zwei Kapitel aus der Geschichte meiner Jugend zu erzählen.

Mein Oheim Schach – Baham – Friede sei mit seinem Staube! – vertraute meine Erziehung einem seiner Verschnittenen an, unter dessen Aufsicht ein gewisser Fakir, der löblichen Gewohnheit zu Folge, mich so gelehrt machen sollte, als Schach-Baham glaubte, daß der Sohn des jüngern Bruders eines regierenden Sultans zu sein nötig habe. Ich erinnere mich noch so lebhaft als ob es erst heute geschehen wäre, wie vergnügt der gute Oheim Baham war, als ich es in der Mathematik und Physik so weit gebracht hatte, den Mechanismus der bewundernswürdigen Erfindung seines Freundes des Königs [96] Strauß, den fliegenden Drachen, mit Hülfe einer Menge fürchterlicher Kunstwörter, von denen er nichts verstand, erklären zu können. Er beschenkte mich in der Freude seines Herzens mit einer zierlich ausgeschnittenen papiernen Gans in rosenfarbnem Domino, von seiner eigenen Arbeit, außer einem großen Korb voll Zuckerwerk, den ich, sobald es möglich war zu entwischen, zu den Füßen meiner kleinen Mätresse, einer jungen Sklavin der Sultanin meiner Tante, niederlegte. Im übrigen war die Theorie des papiernen Drachen der höchste Gipfel, den ich damals in der Erkenntnis der Natur- und Kunst-Lehre erstieg; denn der Fakir Salamalek, mein verdienstvoller Lehrer, war aufrichtig genug zu gestehen, die Erforschung der Natur sei keine Sache für einen Mann wie er. Aber dafür wußte er sich desto mehr mit meiner Stärke in der Geschichte. Ich zählte alle morgenländische Könige vonSchjan-Ben-Schjan, der einige tausend Jahre vor Sultan Adam, dem ersten Menschen, regierte, bis auf den glorwürdigen Schach-Baham, meinen Oheim, an den Fingern her; ich nannte die Namen aller Frauen und Beischläferinnen des Propheten Salomon, und wußte eine Menge schöner Historien von Königen, die in allem was sie unternahmen überaus glücklich gewesen waren, weil sie schöne Moskeen gebaut, und schöne Stiftungen zum Unterhalt frommer Derwischen, welche Tag und Nacht nichts zu tun hatten als den Koran zu lesen, gestiftet hatten. Nach diesem Teile meiner Gelehrsamkeit könnt ihr euch vorstellen, was für eine Moral und Staatswissenschaft das war, was mir der ehrliche Salamalek unter diesem Titel beizubringen suchte. Die arme Seele! Das muß ich ihm nachrühmen: er ließ sich's so angelegen sein, daß ihm oft der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirne hing. ›Denn die Geister aller Einwohner von Indostan bis ins tausendste Glied würden als Ankläger gegen mich aufstehen‹, sagte er, ›wenn ich diesen wichtigsten Teil der Erziehung eines Prinzen, der dem Throne so nah ist, vernachlässigte.‹ Seine Absicht war gut, wie ihr sehet; und wenn seine Begriffe nicht eben so gut waren, lag die Schuld an ihm? Warum hatte Schach-Baham einen Fakir bestellt, seinen Bruderssohn Moral und Politik zu lehren? – Nach Salamaleks Meinung war der größte und beste aller Sultanen derjenige, der seine fünf Gebete und seine gesetzmäßigen Waschungen mit der pünktlichsten Genauigkeit verrichtete, sich alle Tage seines Lebens vom Wein enthielt, die meisten Derwischereien stiftete, und wenigstens den zehnten Teil seiner Einkünfte unter die Armen austeilte. Er hatte keinen andern Begriff von der Wohltätigkeit eines Fürsten; und wenn man ihn über diesen Artikel predigen hörte, so hatte ein [97] König nichts zu tun, als seine arbeitsamen Untertanen zu Bettlern zu machen, um den müßigen gute Tage zu verschaffen; eine Methode, die er vermutlich deswegen so vortrefflich fand, weil auf diese Weise Bettelei und Reichtum unaufhörlich zirkulieren, und es einem Fürsten nie an Mitteln und Gelegenheit zur Wohltätigkeit fehlen kann, ohne daß es ihm die kleinste Mühe kostet. Diesen feinen Begriffen zu Folge war mein Fakir ein erklärter Feind des Luxus, und behauptete in vollkommnem Ernste: daß es einem Staat unendliche Mal besser wäre, wenn die Hälfte der Nation ihre Tage auf Unkosten der andern mit Müßiggehen zubrächte, als mit den verderblichen Künsten, welche die Üppigkeit beförderten. Die ganze Politik des ehrlichen Mannes war von diesem Schlage. ›Der gerechteste und gottgefälligste Krieg‹, sagte er, ›ist ein Krieg, den man unternimmt, die Feinde des Propheten zu vertilgen, und das islamische Gesetz auf Erden auszubreiten‹; und er nannte mir verschiedene Prinzen, welche sichtbarlich gestraft worden wären, weil sie Juden, Christen, Gebern und Banianen in ihre Staaten aufgenommen, und einem jeden Freiheit gelassen hätten, das höchste Wesen nach seiner eigenen Überzeugung zu verehren. Die Philosophie und die schönen Künste verachtete er als eitles Spielwerk und profane Erfindungen der alten Heiden; und er schalt mit vielem Eifer auf die Üppigkeit der Abassiden, 17 durch deren sträfliche Neugier und verkehrten Geschmack diese Greuel sich unter die Rechtgläubigen eingeschlichen hätten. ›Wer den Koran und die Auslegungen der zwölf Imans wohl inne hat‹, pflegte er zu sagen, ›der allein ist ein wahrer Weiser! Alle diese Theorien der Sittenlehre und Staatswissenschaft, welche man auf die Natur zu gründen vorgibt, sind Blendwerke der bösen Geister, und verdammt sei derjenige‹, rief er mit glühenden Wangen und feurigen Augen, ›der die Seelen der Muselmannen mit diesem Gift ansteckt!‹ Er pflegte oft mit Entzücken von Amru Ben Alas, dem Feldherrn des Kalifen Omar, zu sprechen, der die berühmte Büchersammlung zu Alexandria zum Einheizen in die öffentlichen Bäder hatte verteilen lassen, weil, wie er meinte, alle diese Bücher zu nichts besserm taugten, falls nichts darin enthalten wäre als was man im Koran kürzer und besser gegeben fände, und des Feuers schuldig wären, wofern sie etwas andres enthielten als der Koran. ›Das waren goldne Zeiten‹.‹ rief [98] er mit einer andächtigen Verzerrung seines plumpen Gesichts. ›Das waren die Zeiten, wo die Angelegenheiten des Islamismus blühten! wo die Ungläubigen unter unsre Füße getreten wurden, und das Gesetz des Propheten sich mit einer wundertätigen Schnelligkeit über den Erdboden ausbreitete!‹ – Urteilet aus diesen Proben«, fuhr der Sultan fort, »ob mein Fakir seine Schuldigkeit besser hätte tun können, wenn ihm mein Oheim Baham aufgetragen hätte, mich zu einem Fakir zu bilden! Glücklicher Weise für mich (und für Indostan, denkeich) war unter den Sklaven, die mir zur Bedienung gegeben waren, ein junger Cyprier, der Genie und Erziehung hatte, und die Begriffe und Maximen meines Fakirs, die ihm äußerst ungereimt vorkamen, auf eine so feine Art zu verspotten wußte, daß es ihm sehr wenig Mühe kostete, die Spuren auszulöschen, die sie vielleicht in meinem Gemüte hätten lassen können. Da er überdies die Geschicklichkeit und den guten Willen hatte, mir in meinen kleinen Liebesnöten Dienste zu tun, so bemächtigte er sich meines Vertrauens in einem so hohen Grade, daß ich ihn wie die Hälfte meiner Seele liebte. Wir spielten dem alten Verschnittenen und dem weisen Fakir tausend Streiche, auf deren Erfindung und Ausführung wir uns nicht wenig einbildeten. Gleichwohl konnten wir es nicht so fein machen, daß wir nicht dann und wann über der Tat ertappt und mit großer Feierlichkeit bei dem Sultan verklagt worden wären. Aber Schach-Baham, wiewohl er den Eifer meiner Vorgesetzten lobte, konnte doch selten dahin gebracht werden, unsern jugendlichen Mutwillen züchtigen zu lassen. Er lachte gemeiniglich so herzlich über die Erzählung, die ihm der Fakir in einem kläglichen Ton und mit tragischen Gebärden davon machte, daß er sich die Seiten mit beiden Händen halten mußte; und am Ende mußte sich der ehrliche Fakir mit seinem gewöhnlichen Sprichworte, Jugend hat nicht Tugend, zufrieden stellen lassen. ›Ich erinnere mich noch ganz wohl‹, pflegte er mit einer schlauen Miene hinzu zu setzen, ›daß ich es in Gebals Alter nicht besser machte. Ich war immer ein loser Vogel; der Fakir, mein Hofmeister, Gott tröste seine Seele!hatte seine liebe Not mit mir, und die Kammerjungfern der Sultanin meiner Mutter konnten nicht genug auf ihrer Hut sein. Gebal ist ein aufgeweckter Kopf; er wird wohl klug werden, wenn er ausgetobt hat‹, – und was dergleichen Sprüche mehr waren, an welchen der gute Oheim niemals Mangel hatte. – Was dünkt Ihnen nun von meiner Erziehung, Madam? Finden Sie nicht, daß ich unter den Händen eines alten mürrischen Negers, eines Fakirs der mir so gute Grundsätze beibrachte, eines leichtfertigen jungen Cypriers, etlicher mutwilliger [99] Kammermädchen, und eines Oheims wie Sultan Baham, vortrefflich vorbereitet werden mußte, dem Thron von Indien Ehre zu machen?«

»Sire«, sagte Nurmahal lächelnd, »wenn es mir erlaubt ist, meine Meinung so frei zu sagen, so glaube ich, daß gerade diese Umstände sich vortrefflich zusammen schickten, einen Genie wie der Ihrige war, zu entwickeln. Wenn es wahr ist, daß lebhafte junge Leute gemeiniglich einen unwiderstehlichen Trieb in sich finden, immer das Widerspiel von dem was ihre Hofmeister sagen zu tun, wie konnte man Ihnen einen schicklichern Hofmeister wünschen als den Fakir Salamalek? Die artigen Kammermädchen der Sultanin waren schlechterdings unentbehrlich, die Federn Ihrer Einbildungskraft spielen zu machen, und eine sehr nachteilige Stagnation Ihres Herzens, die bei einer so pedantischen Erziehung zu besorgen war, zu verhüten. Der junge Cyprier mag wohl vielleicht der strengen Sittenlehre Ihres Fakirs das Gegengewicht zuweilen mehr als nötig war gehalten haben; aber wenn er Ihnen auch zu nichts gedient hätte, als den Unterricht dieses albernen Mentors unschädlich zu machen, so war das schon sehr viel. Allein ich bin gewiß, daß er Ihnen einen noch wichtigern Dienst erwies. Seine Spöttereien über die Grundsätze des Fakirs kamen Ihrer eigenen Vernunft zu Hülfe, und befestigten Sie auf die natürlichste Weise von der Welt in den entgegengesetzten; und es kann nicht fehlen, man hat ein großes gewonnen, um klug zu werden, wenn man über die Torheit lachen gelernt hat. Überdies mußte das Beispiel Schach-Bahams und seiner drei Vorgänger« – –

»O, was dies betrifft, Madam«, fiel ihr der Sultan lachend ins Wort, »da haben Sie recht! Drei oder vier solche Vorgänger sind eine unvergleichliche Schule für einen Nachfolger, der sie in ihrem gehörigen Lichte zu betrachten weiß. – Aber genug für heute von Königen und Staatsangelegenheiten; ich bin lange nicht so aufgelegt gewesen zu vergessen, daß ich die Ehre habe Sultan zu sein. Schicken Sie mir etliche von Ihren Odaliken, Nurmahal; ich will versuchen, ob ich mich nicht eben so gut in den Schlaf singen lassen kann, als der alte Weißbart, von dem uns Danischmend letzthin so wunderreiche Dinge vorleierte.«

9
9.

Die kleine Ergetzlichkeit, welche sich Schach-Gebal mit dem Odalisken seiner Favoritin zu machen geruhet hatte, leistete mehr als er davon erwartete. Anstatt ihn einzuschläfern, gelang es einer von diesen [100] jungen Nymphen, seine schlafsüchtige Einbildungskraft zu erwecken, und ihm eine Art von einem Mittelding zwischen Leidenschaft und Geschmack einzuflößen, wovon Anfang, Mittel und Ende, nach der Berechnung des Philosophen Danischmend, drei Tage, einundzwanzig Stunden und sechzehn Minuten dauerte.

Wenn die kürzesten Narrheiten die besten sind, so muß man zur Ehre dieses Sultans sagen, daß er in diesem Stücke nicht unwürdig war, ein Muster aller Herren seines Standes, welche nicht selbst Muster sind, zu sein. Doch, um seiner Weisheit nicht zu viel zu schmeicheln, – die Wahrheit von der Sache war, daß die kleine Sängerin weder genug Geist, noch der Sultan Begierden genug hatte, seinem Geschmack für sie eine längere Dauer zu geben. Er fand sich also nach wenigen Tagen geneigt, die Versammlungen seiner kleinen Akademie, welche durch diese Abwechselung von Zeitvertreib unterbrochen worden waren, wieder zu erneuern; und die Erzählung der Geschichte des Königs Azor wurde, auf seinen Befehl, von der gefälligen Nurmahal folgender Maßen fortgesetzt.

»Wenn der Sultan Azor eine Handlung von echter königlicher Großmut zu tun glaubte, indem er seinen Feinden gerade in dem Augenblicke, wo sich das Glück für seine Waffen zu entscheiden anfing, nicht nur Friede, sondern noch eine von seinen besten Provinzen dazu schenkte: so kann man doch nicht in Abrede sein, daß die Begierde, seiner geliebten Alabanda (einer Eroberung, die ihn für den Verlust von zwanzig Provinzen schadlos gehalten hätte) desto ungestörter zu genießen, die wahre wiewohl geheime Triebfeder seiner Großmut war. Wenigstens bewies der Gebrauch, den man von einem so teuer erkauften Frieden machte, daß die Vorteile seines Volkes schwerlich dabei in Betrachtung gezogen worden waren. Denn man dachte weder daran, das Reich auf künftige Fälle in bessere Verfassung zu setzen, noch die Provinzen wieder herzustellen, die durch den Krieg entvölkert und verwüstet worden waren. Azor teilte die Geschäfte der Regierung unter einige Geschöpfe der schönen Alabanda, welche ihn beredeten, daß er selbst regiere, indem er von dieser Zaubrerin und ihren Mitschuldigen unumschränkt regiert wurde. Prächtige Feste und immer abwechselnde Lustbarkeiten, über deren Erfindung sich alle witzige Köpfe von Scheschian elendiglich erschöpften, verschlangen unermeßliche Summen, wovon der zehente Teil hinlänglich gewesen wäre, die zerstörten Städte wieder aufzubauen, und jedes traurige Denkmal der Verwüstung in den Gegenden, welche der Schauplatz des Krieges gewesen waren, auszulöschen. Zehen tausend in die äußerste [101] Not herunter gebrachte Familien hätten durch die Unkosten einer einzigen Geburtsfeier wieder glücklich gemacht, und in eine dem gemeinen Wesen nützliche Tätigkeit gesetzt werden können: aber weil sich niemand fand, der dem Sultan einen solchen Vorschlag getan hätte, – weil die schöne Alabanda weit über die Schwachheit erhaben war, irgend einen neuen Triumph ihrer grenzenlosen Eitelkeit dem Mitleiden oder der Wollust Gutes zu tun aufzuopfern; wie hätte Azor, bei aller seiner natürlichen Gutherzigkeit, auf einen solchen Gedanken verfallen sollen? – Er, der keinen Begriff von dem innern Zustande seines Reiches, keine Fertigkeit über irgend etwas als über die unmittelbaren Gegenstände seines Vergnügens zu denken, und am allerwenigsten den mindesten anschauenden Begriff von dem Elend hatte, welchem abzuhelfen sein großer Beruf war! Er hätte in einer unkennbaren Verkleidung, allein, oder nur von einem oder zwei rechtschaffenen Männern begleitet, sich von den prächtigen Straßen, die zu seinen Lustschlössern führten, entfernen, und in die entlegneren Teile seines Reichs, in die Hütten der Landleute oder unter die Trümmern kleiner Städte, deren blühender Stand in mutloses Elend verwandelt war, sich hinein wagen müssen, um die Unglücklichen kennen zu lernen, die nach seiner Hülfe seufzeten. Wie unendlich viel Gutes würde eine einzige solche Reise seinen Völkern getan haben! Aber« – –

»Mirza«, sagte Schach-Gebal in einem plötzlichen Anstoß von empfindsamer Laune zu seinem Günstlinge, »vergiß nicht, dich morgen früh mit Pferden für mich, dich selbst und Danischmenden an der westlichen Pforte des Gartens bereit zu halten. Wir müssen eine solche Lustreise mit einander machen. Aber mit euerm Leben sollt ihr mir alle drei für das Geheimnis stehen! – Weiter, Nurmahal!«

»Sire, der gute Sultan Azor ließ sich nichts von einer solchen Lustreise träumen, wie diejenige, wozu Ihre Majestät Sich mit einem so rühmlichen Feuer entschlossen haben. Wenn er reisete, so geschah es in Begleitung seines ganzen Hofstaats, und mit einem Pomp, der das Bild des triumphierenden Heerzuges eines Weltbezwingers darstellte. Der Aufwand einer einzigen solchen Reise verzehrte die jährlichen Einkünfte einer ganzen Provinz: und da eine verderbliche alte Gewohnheit 18 die Landleute nötigte, die Kamele, Pferde und Wagen unentgeldlich herzugeben, welche das Gepäcke [102] des Königs und seines Gefolges fortzuschaffen erfodert wurden; so tat dieser einzige Umstand den Gegenden, durch welche der Zug ging, einen beinahe eben so empfindlichen Schaden als ein feindlicher Überfall. Im übrigen vergaßen die immer wachsamen Günstlinge des Sultans und seiner Gebieterin nicht, dafür zu sorgen, daß die königlichen Augen nirgends durch den Anblick des Mangels, der Nacktheit und des Elends beleidiget werden möchten. Die Mirzas, durch deren Gebiete die Reise ging, stellten, um sich dem Hofe gefällig zu machen, lange zuvor Zurüstungen an, ihren Oberherrn auf eine glänzende Art zu empfangen, oder ihn im Vorübergehen mit dem Anblick ländlicher Feste und Szenen von Fröhlichkeit zu ergetzen, welche dem guten Fürsten die betrügliche Freude machten, die geringsten seiner Untertanen für glücklich zu halten.«

»Bald fange ich an Mitleiden mit euerm Azor zu haben«, sagte Schach-Gebal. »Ein König muß ein Gott sein, oder er muß betrogen werden, wenn alle seine Leute die Abrede mit einander genommen haben, ihn zu betrügen

»Bei allem diesem«, fuhr Nurmahal fort, »hatte Scheschian, im ganzen betrachtet, mehr als jemals das Ansehen eines in seiner vollen Blüte stehenden Reiches. Die Natur hatte seine meisten Provinzen mit ihren reichsten Gaben überschüttet. Fleiß und Handlung belebte die größern Städte, und die Künste stiegen zum Gipfel der Vollkommenheit hinan. Alabanda trat nicht bloß in die Fußstapfen der schönen Lili; sie war zu stolz eine bloße Nachahmerin zu sein, sie wollte die Ehre haben zu erschaffen.

Da sie gewohnt war den Sultan auf die Jagd zu begleiten, so geschah es einsmals, daß sie sich mit ihm in eine von diesen wilden Gegenden verirrte, welche die Natur so gänzlich verwahrloset hat, daß nichts als der magische Stab einer Fee mächtig genug scheint, sie zur Schönheit umzubilden. ›Welch eine Gegend‹, rief Alabanda mit einer Art von Entzücken aus, ›um einen Gedanken darin auszuführen, der die Regierung meines Sultans auf ewig glänzend und unnachahmlich machen würde! Welch eine Gegend, um sie zu einem Sitze der Liebesgötter, zu einem Inbegriff aller Bezauberungen der Sinne und der Einbildung umzuschaffen!‹ – Azor sah die Zaubrerin Alabanda mit Erstaunen an: aber er war selbst zu sehr ein Freund des Wunderbaren; und wenn er es auch weniger gewesen wäre, so liebte er die schöne Alabanda viel zu zärtlich, um ihre angenehmen Gedanken [103] durch Einwürfe zu unterbrechen. Er überließ ihr also die Ausführung eines Einfalls, der an Ausschweifung vielleicht niemals seines gleichen gehabt hat. In wenigen Tagen war sie mit ihrem Entwurfe fertig, und itzt wurden Millionen Hände aufgeboten ihn auszuführen. Seit den Zeiten der stolzen Könige von Ninive und Memphis hatte man kein ähnliches Werk unternehmen gesehen. Doch was waren die ägyptischen Pyramiden, oder die Mauern des alten Babylon gegen die Schöpfung der Göttin Alabanda? Gebirge wurden geebnet; unersteigliche Felsen hier gesprengt, dort zu Palästen, kleinen Tempeln, Grotten und reizenden Einsiedeleien, oder zu großen stufenweise sich erhebenden Terrassen ausgehauen, und in Gärten, Alleen, Blumenstücke und Lustwäldchen verwandelt. Entlegene Flüsse wurden in diese aus dem Nichts hervorgehende Zauberwelt geleitet, und durch erstaunliche Wasserkünste gezwungen, die Gärten und Haine, welche Alabanda in die Luft gepflanzt hatte, mit springenden Brunnen und Wasserfällen, unter tausendfachen Gestalten und Verwandlungen, zu beleben. Mitten unter allen diesen mannigfaltigen Schöpfungen erhob sich ein wahrer Feenpalast; Marmor, Jaspis und Porphyr waren die geringsten Materien, woraus er zusammen gesetzt war; und alle Manufakturen von Indien, Sina und Japan wurden zu seiner Ausschmückung erschöpft. Die Gärten, die ihn umgaben, prangten mit den schönsten Gewächsen des ganzen Erdbodens, welche mit so guter Ordnung ausgeteilt waren, daß man mit jeder höhern Terrasse, die man bestieg, sich in ein anderes Klima versetzt glaubte. Die schönsten und seltensten Vögel aller Weltteile bewohnten diesen wundervollen Ort, den sie mit ihren mannigfaltigen Stimmen und mit natürlichen oder gelernten Gesängen belebten. Und in der Mitte einer unzähligen Menge kleiner Lustwälder, über welche dieses Zauberschloß herrschte, beherbergte ein künstlicher Ozean alle Arten von Wassergeschöpfen; ein großer See, dessen über Marmor rollende Wellen man oft mit einer Flotte von kleinen vergoldeten Schiffen bedeckt sah, welche an Zierlichkeit und schimmernder Ausschmückung dasjenige zurück ließen, worin Kleopatra den Herrn der einen Hälfte der Welt zum ersten Male bezauberte. Die Beschreibung, welche Alabanda von den Wundern dieses nach ihrem Namen genannten Ortes verfertigen ließ, machte etliche große Bände aus, und die billigste Berechnung alles dessen, was diese Wunder gekostet hatten, überstieg zweimal die jährlichen Einkünfte des ganzen scheschianischen Reiches; welches in der Tat eine ungeheure Summe war. Unzählige Fremde wurden durch die Neugier herbei gezogen, sie zu sehen; aber der Vorteil, [104] den das Land von ihnen zog, war nur ein geringer Ersatz des vielfältigen Schadens, den es durch die Ausschweifungen der schönen Alabanda erlitten hatte. Eine unendliche Menge von Landleuten war dem Feldbau entrissen worden, um als Tagelöhner an der Beschleunigung eines Werkes zu arbeiten, welches ihr ungeduldiger Stolz unter ihren Blicken wachsen sehen wollte. Etliche Provinzen befanden sich dadurch in Unordnung und Mangel versetzt; der Preis der Lebensmittel stieg übermäßig; der öffentliche Schatz war erschöpft, die Einnahme des folgenden Jahres beträchtlich vermindert, und das Reich mit einer ungeheuern Schuld beladen, wovon der größte Teil fremde Länder bereicherte; weil der ekle Geschmack der launenhaften Alabanda nichts Einheimisches schön genug fand, ungeachtet alle Künste in Scheschian blüheten.

Zum Unglück für die Nation war diese Favoritin kaum mit Ausführung eines solchen Werkes fertig, als ihre unerschöpfliche Einbildungskraft schon über der Idee eines andern brütete, welches, durch die grenzenlose Gefälligkeit ihres Liebhabers, eben so schnell und mit eben so wenig Rücksicht auf die Umstände des Staats zur Wirklichkeit gebracht wurde. Schon im zweiten Sommer, den sie mit dem Könige zu Alabanda zubrachte, bemerkte sie, daß die Gebäude zu weitläufig, die Gärten zu verworren und überladen, und mit Einem Worte das Ganze eine Art von Karikatur sei, wo die Natur von der Kunst verschlungen werde, und das ermüdete Auge in einer unübersehbaren Mannigfaltigkeit sich verliere. Dieser weisen Beobachtung zu Folge wurde in einer der anmutigsten Gegenden des ganzen Reichs ein andrer Lustsitz angelegt, in dessen kleinerem Umfange die schöne Alabanda, mit Hülfe einiger poetischen Köpfe des Hofes, bemüht war, die Natur über alle mühsamen Bestrebungen der Kunst triumphieren zu lassen. Die Natur zeigte sich da mit allen ihren eigentümlichen Reizungen, in dem leichten Gewand einer Nymphe, oder in der reizenden Unordnung einer Schönen, die von ihrem Liebhaber überrascht zu werden hofft. Man konnte sich wirklich keinen angenehmern Ort träumen lassen; aber es kostete so viel, der schönen Natur diesen Sieg über ihre Nebenbuhlerin zu verschaffen, daß man sich genötigt sah einen Vorwand zu ersinnen, um die Untertanen mit einer neuen Steuer zu belegen. Auf solche Weise wurde Scheschian nach und nach mit den herrlichsten Denkmälern der üppigen Erfindsamkeit dieser Favoritin angefüllt. Die Unternehmer dieser Werke und einige Künstler, welche weniger wegen ihres vorzüglichen Talents als durch Empfehlungen und Hofränke angestellt wurden, fanden unstreitig ihre Rechnung dabei. Etliche [105] Poeten, die um den zehnten Teil der Einkünfte eines Hofküchenschreibers gedungen waren, über alles, was der Hof tat oder getan haben wollte, Oden zu machen, posaunten und leierten von Wundern und goldenen Zeiten. Aber die Provinzen sanken zusehens in einen kläglichen Stand von Entkräftung und Verfall herab, und die Nation hatte sehr große Hoffnung, in kurzem einem Virtuoso zu gleichen, der, durch einen kleinen Verstoß gegen die Rechenkunst, in einem sehr zierlichen neu gebauten Palaste, mitten unter einer herrlichen Sammlung von Gemälden, Statuen und Altertümern – verhungert.«

Nurmahal hielt bei diesem Absatz ein wenig ein, weil sie gewahr wurde, daß der Sultan in Gedanken vertieft schien; als dieser sich auf einmal mit einer auffahrenden Bewegung an Danischmenden wandte. »Glaubst du nicht, Danischmend«, fragte ihn Schach-Gebal, »daß die Sultanen meine Mitbrüder sehr vieles, was sie tun, unterlassen würden, wenn sie einen Freund hätten, der ehrlich genug wäre, ihnen die Wahrheit zu sagen?«

»Vielleicht«, antwortete Danischmend mit einem kaum merklichen Achselzucken. – »Vielleicht auch nicht«, – murmelte er hinten nach.

»Und warum nicht?« fragte der Sultan.

»Sire«, sagte der Philosoph, »wollen Ihre Majestät schlechterdings, daß ich Ihnen die Wahrheit sagen soll?«

»Das bedurfte, nach der Anmerkung die ich eben machte, keiner Frage«, sprach der Sultan.

»So sage ich, daß wenigstens drei gegen eins zu wetten ist, daß die meisten Sultanen weder mehr noch weniger tun würden als ihnen beliebt, wenn sie gleich den Konfucius oder Zoroaster selbst zum Freunde hätten. Denn, – gesetzt, zum Exempel, der König Azor hätte einen solchen Freund gehabt, so wäre es allezeit darauf angekommen, ob dieser den rechten Augenblick zu seiner Vorstellung gewählt hätte. Denn der geringste Umstand, ein kleiner Nebel, es sei nun in der Luft oder im Gehirne Seiner Hoheit, oder eine kleine Blähung in dem Magen Seiner Hoheit, ein kurzer Wortstreit, den Sie kurz zuvor mit Ihrer Mätresse gehabt, ein Traum oder sonst eine Kleinigkeit, die Ihren Schlummer beunruhigte, die schlimme Laune Ihres Affen, oder dir Unpäßlichkeit eines Ihrer großen Hunde, – ein einziger von tausend Umständen von dieser Wichtigkeit wäre hinlänglich gewesen, die Wirkung der besten Vorstellung zu vernichten. Doch, gesetzt der Freund hätte den günstigen Augenblick ergriffen: wie leicht konnte es ihm, bei aller Redlichkeit [106] seiner Absicht, in dem entscheidenden Moment an der Geschicklichkeit, oder an dem Glücke fehlen, seiner Vorstellung die rechte Wendung zu geben! Wie leicht hätte ein einziges Wort, das ihm entschlüpft wäre, alles wieder verderben können, was zwanzig glückliche Vorstellungen gut gemacht hatten! Und dennoch, setzen wir abermal, es sei ihm gelungen den verlangten Eindruck auf seinen Herrn zu machen: wie bald wär es geschehen gewesen, daß dieser Eindruck, eine Viertelstunde darauf, durch eine Gegenvorstellung eines andern wohl meinenden Dieners, – oder durch einen einzigen Blick, im Notfalle durch ein einziges kleines erkünsteltes Tränchen einer geliebten Alabanda, wieder ausgelöscht worden wäre! – Ich stelle mir zum Beispiele vor, die schöne Alabanda träte gerade zur nämlichen Zeit in das Kabinett ihres Sultans, da der vorbesagte Freund es verlassen hätte; der Freund, dem wir Mut und Eifer genug leihen wollen, gegen irgend eine neue kostbare Grille, wovon die Phantasie der schönen Favoritin kürzlich entbunden worden, im Namen des gemeinen Besten Vorstellungen zu tun.

›Ich komme‹ (sagt sie mit einem Ausdruck von Vergnügen, der über ihr ganzes Gesicht einen glänzenden Reiz verbreitet), ›ich komme Ihrer Majestät einige Zeichnungen vorzulegen, und zu vernehmen, welche davon Ihren Beifall hat, um zum Modell des neuen Amphitheaters, wovon wir neulich sprachen, genommen zu werden.‹

›Lassen Sie sehen, Madam‹, sagt der Sultan mit einem Frost, den er ihr und sich selbst gern verbergen möchte.

›Sie sind wirklich alle schön; aber wie finden Siediese? Ich gestehe, daß ich sie vorziehen würde, wenn ich zu wählen hätte. Man kann nichts Größeres, nichts Prächtigeres denken. Die Ausführung würde der Zeiten Ihrer Majestät würdig sein, welche durch so viele unnachahmliche Werke ein Wunder des spätesten Weltalters bleiben werden.‹

›Aber, meine liebste Sultanin‹ –

(hier heftet Alabanda einen aufmerksamen Blick, vermischt mit einem kleinen Zusatz von Erstaunen, auf den Sultan.)

›Ich habe Mühe‹ –

›Was fehlt Ihnen, mein liebster Sultan? Sie sehen nicht völlig so aufgeheitert aus als Sie mich diesen Morgen verließen.‹

›Ich kann es nicht von mir erhalten, Ihnen meine Ungeneigtheit zu etwas, das Ihnen Vergnügen macht, zu erkennen zu geben; und doch‹›Ich [107] verstehe Sie nicht, Sire; erklären Sie Sich. Kann ich unglücklich genug sein etwas zu wünschen, das Ihnen unangenehm ist?‹

›Ungütige Alabanda! wurde ich wohl einen Augenblick anstehen, die ganze Welt zu Ihren Füßen zu legen, wenn ich Herr davon wäre?‹

›Vergeben Sie meiner Zärtlichkeit den Anfang eines schüchternen Zweifels‹, ruft die Dame mit einer liebkosenden Stimme, und mit einem von diesen Zauberblicken, deren Wirkung ein Liebhaber in allen Atomen seines Wesens fühlt, – indem sie ihre schönen Hände sanft auf seine Schultern drückt.

Der Sultan – wir wollen ihn, mit Ihrer Majestät Erlaubnis, so tapfer sein lassen als nur immer möglich ist – macht eine Bewegung, als ob er sich ihren Liebkosungen, aus einem Gefühl sie nicht zu verdienen, entziehen wolle, sieht sie unschlüssig an, und arbeitet mit einiger Verlegenheit endlich ein zweites Aber heraus – ›Aber, meine Schönste, wie viel meinen Sie wird die Ausführung dieses Entwurfs kosten?‹

›Eine Kleinigkeit, Sire; zwei oder höchstens drei Millionen Unzen Silbers.‹ 19

›Man versichert mich, daß die Ausführung des geringsten Plans ungleich höher zu stehen kommen würde; und ich gestehe Ihnen, daß verschiedene dringende Bedürfnisse meiner Provinzen‹ – –

›Dringende Bedürfnisse?‹ – ruft die Dame in einem traurigen und erstaunten Tone. ›Ist's möglich, daß jemand so übel gesinnt sein kann, die Ruhe meines geliebten Sultans mit so ungetreuen Berichten zu vergiften? Alle Provinzen Ihres großen Reiches sind glücklich, und haben keinen andern Wunsch als ewig von dem besten der Könige beherrschet zu bleiben. Und gesetzt der Staat hätte außerordentliche Bedürfnisse; können Sie zweifeln, daß Ihre Schatzkammer nicht reich genug sei, sie zu bestreiten, ohne daß man vonnöten habe, an einer kleinen Summe zu sparen, die zum Vergnügen Ihrer Majestät und zur Verschönerung der Hauptstadt Ihres Reichs angewendet werden soll?‹

[108] ›Aber, – liebste Alabanda, wie viele Tausende könnte ich mit dieser Kleinigkeit, wenn Sie ja etliche Millionen eine Kleinigkeit nennen wollen, glücklich machen?‹

›Vergeben Sie mir, liebster Sultan – aber ich kann mich kaum von meinem Erstaunen erholen. Es gibt, wie ich sehe, Leute, die sich kein Bedenken machen Ihre Gütigkeit zu mißbrauchen. Wer kann Ihnen gesagt haben, daß ein König Millionen verschwenden müsse, um müßige Bettler oder bettelhafte Müßiggänger glücklich zu machen? Doch ich merke wohl was unter der Decke liegt: nicht die Unkosten, nur dieVerwendung derselben ist gewissen Leuten anstößig. Es mag sein! Wir wollen das Amphitheater fahren lassen. Ein schönes Stift für ein paar hundert blaue Bonzen‹ – –

›Wir wollen gar nicht bauen, Alabanda!‹

›Ich bin sehr unglücklich, heute nichts sagen zu können, das den Beifall Ihrer Majestät zu erhalten würdig wäre.‹

›Wie reizbar Sie sind, Alabanda!‹

›Nicht reizbar, aber gerührt, da mir auf einmal ein trauriges Licht aufgeht. Ach Azor! wozu diese Verstellung? wozu diese Umschweife? Warum entdecken Sie mir nicht lieber auf einmal mein ganzes Unglück?‹

›Sie setzen mich in Erstaunen, Alabanda: wo nehmen Sie diese Einfälle her, meine Schönste?‹

›Wie kalt! Wär es Ihnen möglich so wenig bei der Angst, die Sie in meinen Augen lesen, zu empfinden, wenn meine Besorgnisse nicht allzu wohl gegründet wären? Ach Azor!‹ – (Hier läßt sie sich in eine trostlose Lage auf den Sofa fallen.) ›Ach! ich bin das elendeste unter allen Geschöpfen! Ich habe Ihr Herz verloren. Eine andre glücklichere‹ – hier verliert sich ihre Stimme, Tränen rollen aus ihren schmachtenden Augen, ihr schöner Busen atmet schwer und pocht in verdoppelten Schlägen. Der bestürzte, gerührte, allzu schwache Azor vergißt auf einmal alle Vorstellungen und Berechnungen seines Freundes; er sieht nichts als seine Alabanda in Tränen. Er eilt mit ausgebreiteten Armen auf sie zu. Welche Vorstellungen, welche Berechnungen sollten gegen diese Blicke, diese Tränen, diesen Busen aushalten können? Er wirft sich zu ihren Füßen, sagt und tut alles was ein schwärmender Liebhaber sagen und tun kann, um eine zweifelnde Geliebte zu beruhigen. Nun sind nicht nur sechs, sechshundert Millionen sind itzt eine Kleinigkeit in seinen Augen – kurz, die angenehmste Aussöhnung erfolgt (nach keiner längern Weigerung, als die Dame nötig glaubt um den Wert davon zu erhöhen) auf diesen kleinen Sturm; Alabanda befestiget sich in dem Herzen [109] des zärtlichen Sultans; das Amphitheater wird gebaut, und der arme Freund (nach einer eben so langen Weigerung auf Seiten seines königlichen Freundes) wie billig aufgeopfert, um die Tränen zu rächen, welche durch seine Schuld die schönsten Augen der Welt trübe gemacht haben.«

»Was sagen Sie zu diesem neuen Talent unsers Freundes Danischmend?« fragte Schach-Gebal die schöne Nurmahal mit einem angenommenen Erstaunen. – »In der Tat«, erwiderte sie, »er hat keine unfeine Gabe, Komödien aus dem Stegreife zu spielen; und wenn mir erlaubt wäre einen Vorschlag zu tun, so wär es, ihn anstatt zum Oberaufseher über die Derwischen, zum Oberaufseher über die Schauspiele inDely zu machen.«

»Es kann beides sehr wohl mit einander gehen«, erwiderte der Sultan: »man muß die Talente des Mannes nicht unbenützt lassen; er mag es sich selbst beimessen, wenn man viel von ihm fodert. Aber in ganzem Ernste, Danischmend, die Erzählung von den Ausschweifungen, wozu die Prinzessin Alabanda euern armen Azor verleitete, hat mich auf einen Gedanken gebracht, der, wie ich hoffe, den Beifall deiner Philosophie erhalten wird. Mir fiel ein, daß ich meinen Untertanen ein beträchtliches Geschenk machen könnte, wenn ich drei oder vier meiner entbehrlichsten Lustschlösser niederreißen, und die ungeheuern Gärten, Lustwälder und Jagdbezirke, die dazu gehören, zum Anbauen unter sie austeilen ließe.«

»Sire«, sagte Danischmend mit lachenden Augen (denn er hatte bei aller seiner Philosophie zu viel Lebensart, um dem Trieb zum Lachen, der ihn anwandelte, freien Lauf zu lassen), »der bloße Gedanke würde dem Herzen Ihrer Majestät unendlich viel Ehre machen, wenn er auch unausgeführt bliebe; welches« –

»Nein, nein«, fiel ihm der Sultan ins Wort, »das soll er nicht! Er soll ausgeführt werden; denn was nützt ein Gedanke, der eine bloße Spekulation bleibt? Ich bekümmere mich wenig darum, ob er mir viel oder wenig Ehre macht: aber ich liebe meine Untertanen; ich stelle mir die Freude vor, die ich einigen tausend Haushaltungen dadurch machen könnte, und, ich bekenne euch meine Schwachheit aufrichtig, ich kann dieser Vorstellung nicht widerstehen.«

»Liebenswürdige Schwachheit!« rief die schöne Nurmahal, indem sie eine von den Händen Seiner Majestät an ihre Lippen drückte.

»Die Frage ist nur«, fuhr der Sultan fort, »welche von den vielen, aus denen ich wählen kann, aufgeopfert werden sollen? In der Tat [110] ist keines, das nicht seine eigenen Schönheiten hat. – Doch, das werden wir heute nicht ausmachen. Gute Nacht, meine Kinder! – Danischmend, die erste Komödie, die in meiner Gegenwart aufgeführt wird, soll von deiner Erfindung sein!«

Der junge Mirza, welcher den Auftrag hatte, sich morgen mit Anbruch des Tages bereit zu halten, um den Sultan auf seiner geheimen Reise zu begleiten, brachte diese Nacht bei einer kleinen Mätresse zu, die er in einem sehr artigen kleinen Hause in einer von den Vorstädten von Dely unterhielt. Hier wurde ihm die Zeit so kurz, daß er erst einzuschlafen anfing, als er wieder hätte erwachen sollen. Kurz, er vergaß den Auftrag des Sultans so gänzlich, als ob niemals die Rede davon gewesen wäre; und es war glücklich für ihn, daß sich der Sultan eben so wenig daran erinnerte. In der Tat pflegte Se. Hoheit so viele Einfälle dieser Art zu haben, daß es lächerlich gewesen wäre, Ernst daraus machen zu wollen. Gleichwohl würde der letzte Einfall, mit dem er einschlief, Folgen gehabt haben, wenn Schach-Gebal mit sich selbst und mit seinen geheimen Ratgebern hätte einig werden können, auf welche von seinen Lustschlössern das Verdammungsurteil fallen sollte. Man sprach so lange von der Sache, bis man endlich nichts mehr zu sagen hatte, und da hörte man auf davon zu sprechen. Alles blieb wie zuvor; Schach-Gebal hatte nichts desto weniger das Vergnügen, seinem Herzen mit der großmütigen Freigebigkeit Ehre zu machen, die er in Gedanken ausgeübt hatte.

10
10.

»Die erfindsame Phantasie und die verschwenderische Gemütsart der schönen Alabanda« (fuhr Nurmahal fort) »würde allein schon hinlänglich gewesen sein, die Einkünfte des scheschianischen Reiches, so hoch sie sich auch beliefen, zu erschöpfen. Aber die obersten Staatsbedienten, die Finanzaufseher, und das ganze zahlreiche Geschlecht der Günstlinge (denn jeder Günstling hat wieder die seinigen) verschlangen zur nämlichen Zeit so beträchtliche Summen, daß selbst die Verdoppelung der ehmaligen Abgaben (welche von den Zeiten des Krieges her, gegen das königliche Wort, noch immer fortdauerte) zu Bestreitung eines so ungeheuern Aufwandes unzulänglich war. Man sah sich also gezwungen, unter allerlei Vorwand alle Jahre neue Auflagen zu machen. Und da die Regierung um nichts weniger besorgt war, als den arbeitsamen und nützlichen, das ist, den armen Teil der Nation, der dadurch am meisten gedrückt wurde, durch die nötige Aufmunterung und Unterstützung in den Stand zu [111] setzen, so viel von seinem Erwerbe abzugeben: so mußten die Folgen einer so unweisen Staatswirtschaft in wenigen Jahren merklich genug sein, um jeden, der nur einiger Maßen das Ganze zu übersehen fähig war, mit schwermütigen Ahnungen von dem nahen Untergange des Staates zu erfüllen.

Was diejenigen, denen das gemeine Wohl zu Herzen ging, am empfindlichsten beleidigte, war die Gleichgültigkeit des Hofes bei solchen Zufällen, wodurch ganze Provinzen, in den kläglichsten Notstand gesetzt wurden. In einigen richtete, zum Exempel, das Austreten gewisser Flüsse von Zeit zu Zeit die schrecklichsten Verwüstungen an. In andern hatte der Mißwachs, aus Mangel gehöriger Vorsorge und Polizei, Hunger und Seuchen veranlaßt, wodurch ganze Gegenden zum Grabe ihrer elenden Bewohner wurden. Die Hälfte der Unkosten, welche man während dieser öffentlichen Not auf die gewöhnlichen und auf außerordentliche Hoflustbarkeiten verwendete, wäre hinlänglich gewesen, allem diesem Elende zuvorzukommen; 20 einem Elende, dessen bloßen Anblick die verzärtelten Sinne und die wollüstige Einbildungskraft des Sultans und seiner Gebieterin nicht eine Minute lang zu ertragen fähig gewesen wären. Aber weder Azor noch Alabanda wußten, daß diese hunderttausend Unzen Silbers, die an einem einzigen Feste in mutwilliger Üppigkeit verschwendet wurden,den Wert des Brotes ausmachten, welches an eben diesem Tage zweimal hunderttausend Familien hätte sättigen sollen, wenn es nicht mit einer unmenschlichen Hartherzigkeit diesen von Arbeit, Kummer und Dürftigkeit entkräfteten Menschen, und ihren vor Hunger weinenden Kindern, aus dem Munde gerissen worden wäre, um von demjenigen, der sich ihren allgemeinen Vater nennen ließ, in Sardanapalischen Gastmälern [112] verzehrt, und unter die Genossen und Werkzeuge seiner tyrannischen Ausschweifungen verteilt zu werden.«

»Dies ist ein so abscheulicher Gedanke«, rief Schach-Gebal, »daß ich lieber heute noch in die Kutte eines Derwischen kriechen, oder, wie ein gewisser König, sieben Jahre lang ein Ochse sein und Gras fressen, als länger Sultan bleiben wollte, wenn ich Ursache hätte zu glauben, daß ich mich in diesem Falle befinden könnte.«

Nach einer so nachdrucksvollen Erklärung würde es nicht nur sehr unhöflich, sondern wirklich grausam gewesen sein, dem guten Sultan zu entdecken, daß er sich schon oft in diesem Falle befunden habe. Man versicherte ihn also einhellig des Gegenteils, mit dem gebührenden Dank für diese abermalige Probe seinerMenschlichkeit, und Nurmahal fuhr fort.

»Der gute König Azor war weit entfernt, den elenden Zustand seiner Provinzen auch nur von ferne zu argwohnen. Seine Visire hatten die sorgfältigsten Maßregeln genommen, daß die Klagen des Volkes nicht zu seinen Ohren dringen konnten. Er sah sich von lauter glücklichen oder glücklich scheinenden Leuten umgeben. Seine Hauptstadt stellte einen Inbegriff der Pracht und der Reichtümer der ganzen Welt, die umliegenden Gegenden ein Land der Bezauberungen, und selbst die Hütten des Landvolkes das Bild des Überflusses und der Freude dar. Ströme von Gold und Silber flossen aus allen Provinzen seines Reichs der Hauptstadt zu; aber, anstatt in tausend schlängelnden Bächen wieder zurückzukehren, und durch einen regelmäßigen Umlauf alle Gliedmaßen des großen Staatskörpers in lebhafter Munterkeit zu erhalten, verloren sie sich dort in einer unzähligen Menge kleiner durch einander laufender Kanäle, oder stürzten sich in bodenlose Schlünde, oder verdünsteten in die Luft. Der größte Teil von dem, was ehmals der Reichtum der Nation gewesen war, zirkulierte itzt unter einer kleinen Anzahl, bei welcher es so schnell im Kreise herum getrieben wurde, so oft und auf so mannigfaltige Art seine Form ändern mußte, daß die Masse selbst durch eine unmerkliche Abnahme sich zuletzt auf eine sehr merkliche Weise vermindert befand. Aber lange zuvor, ehe man sich entschließen konnte es gewahr zu werden, fiel der schlechte Zustand des Reichs einem jeden in die Augen, welcher Gelegenheit hatte es von einem Ende zum andern zu durchreisen. Die Größe des Elendes der Provinzen verhielt sich wie ihre Entfernung von der Hauptstadt. Hunger und Nacktheit nahm mit jeder Tagreise zu; mit jedem neuen Morgen zeigte sich das Land schlechter angebaut, weniger bevölkert, weniger gesittet, und mehr mit Zeichen des Mangels und der [113] Unterdrückung angefüllt; bis man endlich nichts als ungeheure Wüsten vor sich sah, von welchen der Sultan keinen andern Vorteil bezog, als die Hoffnung, einen auswärtigen Feind durch ihren bloßen Anblick abzuschrecken, oder ihn wenigstens unfehlbar durch Hunger aufzureiben, eh es ihm möglich wäre ins Innere des Reichs einzudringen.

Um das Unglück von Scheschian vollständig zu machen, spielten die abgöttischen Priester dieses Landes zu Azors Zeiten eine Art von tragikomischem Possenspiele, welches einen äußerst nachteiligen Einfluß auf den Geist, die Sitten und die äußerlichen Umstände der Nation hatte.«

Bei diesen Worten wachte die Aufmerksamkeit des Sultans, welche beinahe eingeschlummert war, auf einmal auf; er stützte sich auf den linken Arm, und sah der schönen Nurmahal mit allen Zeichen der ungeduldigen Erwartung ins Gesicht.

»Ihre Hoheit werden Sich nicht betrogen finden«, sagte die Dame, »wenn Sie Begebenheiten erwarten, welche auch dann noch überraschen, wenn man sich auf das Außerordentlichste gefaßt gemacht hat.«

»Ich erwarte nichts andres«, sagte der Sultan: »und eben deswegen bin ich so begierig mehr davon zu wissen, daß ich voraus sehe, Eure Erzählung wird mich diesmal um den Schlaf bringen, den sie mir befördern sollte. Ich habe die blauen Bonzen nicht überhört, deren die Dame Alabanda in ihrer Unterredung mit dem guten Manne Azor erwähnte. Ich wollte Danischmenden nicht aus dem Zusammenhange bringen; aber itzt, da Ihr selbst auf diesen Gegenstand kommt, hoffe ich genauer mit diesen wackern Leuten bekannt zu werden.«

»Das einzige warum ich Ihre Hoheit vorher bitten muß«, versetzte Nurmahal, »ist, daß es mir erlaubt werde, mein Amt bei dieser Erzählung an Danischmenden zu überlassen, welchen die Stärke, die er in diesem Teile der alten Geschichte besitzt, fähig macht, Ihre Neubegierde auf die vollkommenste Weise zu befriedigen.«

»Von Herzen gern«, sagte der Sultan: »und, was noch mehr ist, er soll die Erlaubnis haben, so umständlich zu sein als es ihm beliebt; denn ich erwarte Begebenheiten, wovon auch die kleinsten Züge einem denkenden Kopfe nicht gleichgültig sind.«

Danischmend hatte keine Ursachen anzuführen, welche hinlänglich gewesen wären, die Ablehnung dieses Auftrags zu rechtfertigen. Er unterzog sich also demselben mit guter Art, und, nach einer kleinen Pause, fing er seine Erzählung folgender Maßen an.

[114] »Wiewohl, nach meinem Begriffe, die schlechteste Regierungsform und die schlechteste Religion immer besser ist als gar keine: so gestehe ich doch so willig als irgend jemand, daß eine Nation, wie groß auch ihre Vorteile in andern Stücken sein möchten, unmöglich zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit sich erheben könne, wenn sie das Unglück hat, einer ungereimten Verfassung oder einer unvernünftigen Religion unterworfen zu sein. Das letzte war der Fall, worin sich die Einwohner von Scheschian seit undenklichen Zeiten befanden. Die Verblendung dieses Volkes über eine Sache von solcher Wichtigkeit würde allen Glauben übersteigen, wenn uns die Geschichte der Welt, in ältern und neuern Zeiten, nicht so viele abgöttische Völker bekannt machte, welche sich eben so handgreiflich haben hintergehen lassen als die Scheschianer. Die alten Ägypter stellen uns hierin ein Beispiel dar, welches alle andere überflüssig macht. Das Erstaunen bindet uns die Zunge, und die Gedanken stehen still, wenn wir hören, daß ein so weises Volk fähig war, Affen, Katzen, Kälbern, Krokodillen und Meerzwiebeln, mit allen Verzückungen einer fanatischen Ehrfurcht, als göttlichen Wesen, oder wenigstens als sichtbaren Bildern göttlicher Wesen, zu begegnen. 21 Ich [115] weiß nicht, ob etwas demütigender für die Menschheit sein kann, als die Gewißheit worin wir sind, daß nichts so Unsinniges und Lächerliches erträumt werden kann, welches nicht zu irgend einer Zeit oder auf irgend einem Teile des Erdenrundes von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen für wahr, ernsthaft und ehrwürdig wäre angesehen worden. Das schlimmste ist, daß wir selbst, bei aller Verachtung, womit wir fremde Torheiten anzusehen gewohnt sind, große Ursache haben zu glauben, daß wir an ihrem Platze nicht weiser gewesen sein würden. Erziehung, Beispiel, Gewohnheit und Nationalstolz würden sich bei uns so gut als bei jenen vereiniget haben, unsre Vernunft zu fesseln, und dasjenige was wir itzt, mit so gutem Grunde, Unsinn nennen, zum Gegenstand unsrer wärmsten Verehrung zu erheben. Gleich den Ägyptern würden wir das Unvermögen, uns irgend einen gesunden Begriff davon zu machen, ein heiliges Dunkel genannt haben, in welches sterblichen Augen nicht erlaubt sei einzudringen. 22 Kurz, in den Zeiten der alten Beherrscher des Nils, zu Memphis oder Pelusium geboren, würden wir, gern oder ungern, Katzen, Krokodille und Meerzwiebeln angebetet haben so gut als jene; und dies zu eben der Zeit, da uns nichts so widersinnig gedeucht hätte, als einen Mohren, in demutsvoller Stellung und mit allen Zeichen eines andächtigen Vertrauens in seinen Gesichtsmuskeln, einen Elefantenzahn oder das Horn eines Ziegenbocks in seiner Not anrufen zu sehen.[116] 23

Dieser kleine Eingang, Sire, hat mir nötig geschienen, unser Urteil über den Aberglauben der Scheschianer zu mildern, und, in Betrachtung der Schwachheiten der menschlichen Natur, uns zu einer Nachsicht zu vermögen, ohne welche wenige Erdbewohner ihren Anspruch auf den Titel vernünftiger Wesen behaupten könnten.«

»Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »was geschehen ist, ist geschehen; wir wollen es dabei bewenden lassen; wiewohl ihr euch, alles wohl überlegt, diese Dissertation hättet ersparen können. Denn am Ende haben wir doch nichts weiter daraus gelernt, als daß alle Köpfe unter dem Monde zu Zeiten ein wenig mondsüchtig sind, und [117] daß keine Krähe der andern die Augen aushacken soll, wie König Dagobert sagte. Also nichts mehr hiervon, und zur Sache!«

Diesem Befehl zu Folge fuhr der Doktor also fort – –

Der Herausgeber an die Leser

Lücken, geneigte Leser, sind in allen Arten der menschlichen Kenntnisse, besonders in Geschichts-Erzählungen, eine allzu gewöhnliche Sache, als daß es euch befremden sollte, hier in der Erzählung des so genannten Philosophen Danischmend eine Lücke, und zwar, wie wir nicht bergen, eine beträchtliche Lücke zu finden.

Diese Lücke ist nicht etwann von der Art derjenigen, welche von den Gelehrten Hiatus in Manuscriptis genannt zu werden pflegen. Die Handschrift, aus welcher wir die Geschichte von Scheschian gezogen haben, liegt vollständig vor uns, und es kam bloß auf uns an, ob wir sie so vollständig, als der lateinische Übersetzer sie geliefert, mitteilen wollten oder nicht.

Vielleicht betrügen wir die Neugierde vieler Leser gerade da, wo sie am wenigsten geneigt sind, es uns zu vergeben. Und wirklich hätten wir kein Bedenken tragen sollen, die Geschichte der Religion des alten Scheschians, und der Veränderungen welche sich unter einigen Königen mit ihr zugetragen, der Welt ohne Lücken vorzulegen, wenn uns das Beispiel des lateinischen Übersetzers, und die Gründe, womit er sein Verfahren beschönigt hat, hinlänglich geschienen hätten, die Nachfolge desselben zu rechtfertigen.

Er behauptete nämlich: Die weisesten Männer wären von jeher der Meinung gewesen, daß es einer von den wichtigsten Diensten, welche man der wahren Religion leisten könne, sei, wenn man dem Aberglauben und der Tartüfferei (ihren schädlichsten Feinden, weil sie die Maske ihrer Freunde tragen) diese Maske abziehe, und sie in ihrer natürlichen Ungestalt darstelle. Bloß aus diesem Grunde hätten gelehrte und ehrwürdige Schriftsteller aus den ältern Zeiten des Christentums, ein Laktantius, ein Arnobius, ein Augustinus und andere, sich eine ernstliche Angelegenheit daraus gemacht, die Ausschweifungen und Betrügereien der heidnischen Priesterschaft (sogar nicht ohne Gefahr durch Bekanntmachung der ärgerlichsten Greuel schwachen Gemütern anstößig, zu werden) an das helleste Licht hervor zu ziehen. Sie hätten diese Gefahr als ein kleines, zufälliges und ungewisses Übel angesehen, welches gegen den großen Nutzen, den sie der Gottseligkeit und der Tugend von jener Entlarvung der religiösen Betrügerei versprochen, [118] in keine Betrachtung komme. Es ist wahr (setzt er hinzu), Leser, welche mehr Witz als Unterscheidungskraft besitzen, könnten Ähnlichkeiten, und boshafte Leute Anspielungen zu finden glauben, wo keine sind; aber, wenn uns diese Besorgnis aufhalten sollte, welche Geschichte würde man schreiben dürfen? Eine jede wohl geschriebene Geschichte kann, in einem gewissen Sinne, als eine Satire betrachtet werden; und ich fordere den weisesten und unschuldigsten unter allen Sterblichen heraus, uns ein aufrichtiges Gemälde der Gesetze, Sitten, Meinungen und Gebräuche, von welchem Lande in der Welt er will, und sollte es Kappadocia, Pontus, oder Mysia sein, zu liefern, welches nicht voller Anspielungen zu sein scheinen sollte.

Diese und andre Gründe des lateinischen Übersetzers hätten uns vielleicht zu einer andern Zeit überzeugen, und bewegen können seinem Beispiele zu folgen. Aber in den Tagen, worin wir leben, kann die Behutsamkeit in Dingen dieser Art kaum zu weit getrieben werden. Der kleinste Anlaß, den wir wissentlich dem Leichtsinn und Mutwillen unsrer Zeiten gegeben hätten, durch die schalkhaften Wendungen, die auch der mittelmäßigste Witz in seiner Gewalt hat, unsrer Erzählung einen unechten Sinn anzudichten, würde in unsern Augen alle guten Eindrücke überwiegen, welche wir uns, ohne übertriebene Erwartungen zu hegen, von dieser Geschichte der Könige in Scheschian versprechen. Nichts ist in unsern Tagen überflüssiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferei. Es sind Zeiten gewesen (kein Vernünftiger wird es leugnen), wo man sich durch Kämpfe mit diesen Feinden der Religion und der bürgerlichen Gesellschaft Verdienste machen konnte. Aber sie sind nicht mehr. Andre, in ihren Folgen ungleich mehr verderbliche Ausschweifungen, Geringschätzung der Religion und Ruchlosigkeit, gewinnen unvermerkt immer mehr Grund; die ehrwürdige Grundfeste der Ordnung und der Ruhe der menschlichen Gesellschaft wird untergraben, und unter dem Verwande, einem Übel, welches größten Teils eingebildet ist, zu steuern, arbeitet der zügellose Witz, in den Mantel der Philosophie eingehüllt, der menschlichen Natur ihre beste Stütze, und der Tugend ihre wirksamste Triebfeder zu entziehen. In einem solchen Zeitpunkte können diejenigen, welche es mit der Menschheit wohl meinen, nicht zu vorsichtig sein; und bloß aus dieser Betrachtung haben wir geglaubt, der Welt einen größern Dienst durch die Unterdrückung der besondern Umstände der Religionsgeschichte von Scheschian als durch die Mitteilung derselben zu erweisen.

[119] Damit aber gleichwohl der Zusammenhang des Ganzen nichts dadurch verliere, haben wir für nötig gehalten, dem Leser einen Auszug aus der Erzählung des Philosophen Danischmend mitzuteilen, welcher ihn in den Stand setzen möge, von dem schlechten Zustande der alten scheschianischen Verfassung über diesen Punkt, von den Verdiensten, welche sich der Sultan Ogulum sie erworben, und von dem Zwiespalt, der das Reich zu Azors Zeiten erschütterte, sich wenigstens einen allgemeinen Begriff zu machen.


»Nach dem Beispiele der Ägypter und andrer abgöttischen Völker, verehrten die Scheschianer einen Affen, als den besondern Schutzgott ihrer Nation; und, wie alle asiatischen Länder, wimmelte Scheschian vonBonzen, deren hauptsächlichste Beschäftigung war, das verblendete Volk in der gröbsten Verfinsterung des natürlichen Lichtes, und in einem ihnen allein nützlichen Aberglauben zu unterhalten. Unter den verschiedenen Gattungen derselben, welche Danischmend schildert, begnügen wir uns, nur zweier zu erwähnen, deren Institut uns Europäern unglaublich scheinen müßte, wenn wir nicht aus der Sammlung der so genannten Lettres edifiantes, und aus der Kompilation des P. Dü Halde benachrichtiget wären, daß sich wenigstens von der einen Gattung noch heutiges Tages eine zahlreiche Nachkommenschaft in der Tatarei und in Sina erhalten hat. Die ersten, sagt Danischmend, nannten sich Ya-faou, oder Nachahmer des Affen, und unterschieden sich von den übrigen Bonzen durch eine scheinbare Strenge, ein unreinliches Aussehen, eine große Fertigkeit sich in Begeisterung zu setzen, und eine Unwissenheit, welche nahe an die tierische grenzte. Wenn man den Feinden dieser Ya-faou glauben dürfte, so war kein Laster, welches sie unter dem Mantel von Sackleinwand, womit sie ihre Blöße deckten, nicht ungestraft ausgeübt haben sollten. Man beschuldigte sie der Betrügerei, der Ränkesucht, der Unmäßigkeit, und einer ungezähmten Lüsternheit nach dem Eigentume der Scheschianer; Untugenden, welche sie, wie man sagte, unter einer Maske von Einfalt, Redlichkeit, und Verachtung der irdischen Dinge künstlich zu verbergen wußten. Sie nähren, sagte man, unter dem Scheine der tiefsten Demut den unausstehlichsten Stolz; sie sind rachgierig und grausam bei dem Ansehen einer unüberwindlichen Sanftmut, und allgemeine Feinde der Menschen mit der Miene der Unschuld und Gutherzigkeit. »Diese Beschuldigungen sind zu hart« (fährt Danischmend fort), »als daß es billig wäre ihnen einen unbedingten Glauben beizumessen. Aber dies ist unleugbar, daß die Unnützlichkeit der [120] Ya-faou der geringste Vorwurf war, der ihnen gemacht werden konnte. Sie hatten allem, was man Vernunft, Wissenschaft, Witz, Geschmack und Verfeinerung nennt, einen unversöhnlichen Krieg angekündiget; und ihren unermüdeten Bemühungen war es vornehmlich zuzuschreiben, daß Scheschian in so vielen Jahrhunderten nicht die mindeste Bestrebung zeigte, sich aus dem Wust einer die Menschheit entehrenden Barbarei empor zu arbeiten. In Betrachtung der nachteiligen Folgen einer solchen Tätigkeit, hätte man Ursache gehabt, sich ihnen noch verbunden zu achten, wenn sie sich hätten begnügen wollen, ganz und gar müßig zu sein. Gleichwohl war auch in diesem Falle die Last sie zu füttern keine Kleinigkeit. Denn man rechnete zu Sultan Azors Zeiten über zwölfmal hunderttausend Ya-faou, und sie waren überhaupt Leute von vortrefflichem Appetit. – – Es ist etwas Unbegreifliches, daß diese Nachahmer des Affen zu gleicher Zeit der Gegenstand der lebhaftesten Ehrfurcht und der öffentlichsten Verachtung waren. Man trug sich mit einer unendlichen Menge lächerlicher Erzählungen in Prose und Versen, worin man sich mit ihren Sitten und selbst mit ihremStande die größten Freiheiten nahm; man sprach und schrieb und sang auf öffentlicher Straße von ihnen als von dem verworfensten Auskehricht des menschlichen Geschlechtes; man beschuldigte sie ungescheut aller Übeltaten, wozu ihre herumschweifende Lebensart ihnen selbst Gelegenheit und ihren Feinden Vorwand gab. Kurz, derjenige würde lächerlich geworden sein, der in guter Gesellschaft ihren Namen mit dem geringsten Zeichen von Achtung ausgesprochen hätte; und alles dies zu eben der Zeit, da noch eine Menge von Leuten den Staub für heilig ansahen, in welchen ein Ya-faou seine Füße gesetzt hatte; da das gemeine Volk sich mit sklavischer Folgsamkeit in allen seinen Geschäften von ihnen regieren ließ, und viele nichts Angelegneres hatten, als dafür zu sorgen, daß alles, was von ihrem Vermögen nicht schon bei ihren Lebzeiten von diesen würdigen Leuten aufgegessen worden war, ihnen wenigstens nach ihrem Tode nicht entgehen möchte.

Ich kann nicht umhin« (fährt Danischmend fort) »›noch einer Gattung von privilegierten Müßiggängern zu erwähnen, deren Institut, so seltsam es auch beim ersten Anblicke scheint, aus einem gewissen Gesichtspunkt betrachtet, etwas Gemeinnütziges hatte, wodurch es sich über die übrigen Gattungen der Ya-faou erhob. Man nannte sie scherzweise die Fruchtbringenden; allein sie selbst legten sich, wegen der Unabhänglichkeit, von welcher sie Profession machten, den stolzen Namen Kamfalu, Könige der Meinungen, [121] bei. Ungeachtet ein altes Vorurteil ihnen einen Teil der Vorrechte und des Ansehens der Ya-faou beilegte, so scheinen sie doch mehr eine Sekte von Freigeistern als wirkliche Bonzen gewesen zu sein, und in ihren Grundsätzen sowohl als in ihrer Lebensart vieles mit den Cynikern der alten Griechen, mit den Anhängern des Lao-Kiun in Sina, und mit unsern Kalendern gemein gehabt zu haben. Sie lebten zwar auch auf Unkosten des Volkes wie die Ya-faou; aber sie bezahlten gleichsam dafür mit einer Menge kleiner Talente, wodurch sie sich angenehm und beinahe unentbehrlich zu machen wußten. Sie belustigten die Großen mit ihrem Witze, und sich selbst mit der Leichtgläubigkeit des Volkes. Die Freiheit, die ihnen ihr Orden gab über alles zu spotten, und ein unerschöpflicher Vorrat von mutwilligen Erzählungen und Anekdoten verschaffte ihnen Zutritt in der schönen Welt; und so groß ist die Macht eines eingewurzelten Vorurteils, daß der Morgenbesuch eines Kamfalu bei einer schönen Frau als eine Sache die nichts zu bedeuten habe angesehen wurde. Aber die Kamfalu kannten den Wert ihrer Vorrechte zu gut, um sich allein auf die vornehme Welt einzuschränken: und wenn sie sich bei der Dame beliebt machten, indem sie ihrem Schoßhunde liebkoseten und über ihre Nebenbuhlerin lästerten; so schmeichelten sie sich der jungen Bäurin durch ein sympathetisches Mittel, sich der Treue ihres Mannes zu versichern, ein, oder indem sie ihr aus der Hand weissagten, daß sie fünf- oder sechsmal Witwe zu werden Hoffnung habe. Sie waren im Besitz von einer Menge bewährter Hausmittel gegen alle Zufälle, welche Menschen und Vieh zustoßen können; sie schlichteten die kleinen Streitigkeiten zwischen Eheleuten, Verwandten und Nachbarn; und es gab wenig Heiraten unter dem Volke, die nicht ein Kamfalu gestiftet hätte. Eine von den Regeln ihres Ordens, die keine Ausnahme zuließ, war, kein Mitglied in denselben aufzunehmen, welches sich nicht durch eine fechtermäßige Gestalt und eine blühende Gesundheit zu dieser Ehre legitimieren konnte. Aber was ihnen am meisten Ansehen und Vorteile verschaffte, war der Ruf, ein besonderes Geheimniswider die Unfruchtbarkeit zu besitzen. Man versichert, daß in den Zeiten, da die aufs höchste gestiegenen Ausschweifungen ihre schädlichen Folgen zum Nachteil der Bevölkerung am stärksten geäußert, die edelsten Geschlechter von Scheschian die Erhaltung ihres Stammes lediglich dem geheimen Mittel derKamfalu zu danken gehabt hätten. Ein Verdienst, wodurch sie, nach dem Urteile der Staatskundigen, sich ein so starkes Recht an die öffentliche Dankbarkeit erwarben, daß selbst der große Sultan Tifan, da er alle Arten von herum [122] schweifenden Bonzen gänzlich aufhob, die einzigen Fruchtbringenden, als Leute die dem Staate wichtige Dienste geleistet hätten, bei ihrem alten Vorrecht erhielt, auf Kosten ihrer freiwilligen Wohltäter müßig zu gehen.«

»Ich finde«, sagte Schach-Gebal, »diese Achtung des Sultans Tifan für die Verdienste der Fruchtbringenden um so lobenswürdiger, da ich versichert bin, daß die Erben, womit der Adel von Scheschian durch ihre Vermittelung versehen wurde, stärkere Sennen und frischeres Blut in die Familien brachten, und also tüchtig wurden, die Stammväter einer markigern Nachkommenschaft zu werden. Indessen sollte nichts wundern, wenn die Ya-faou nicht aus dem nämlichen Grunde einiges Recht an die Nachsicht des Königs Tifan gehabt hätten.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »das herbe und abschreckende Aussehen, welches diese letztern sich gaben, scheint ihnen größten Teils die Gelegenheit, sich um die höhern Klassen des Staats verdient zu machen, abgeschnitten zu haben. Vermutlich fehlte es ihnen an gutem Willen nicht; aber da sie aus der feinen Welt gänzlich ausgeschlossen waren, sahen sie sich genötiget, ihn bei den geringern Klassen gelten zu machen, wo ihr Beistand, wenigstens in Rücksicht auf den Staat, gänzlich in Verlust ging, folglich nichts Verdienstliches haben konnte.«

Nachdem Danischmend von den verschiedenen Gattungen und Arten der scheschianischen Bonzen, von ihren Grundsätzen, von ihrem Götzendienste, von ihrer vorgegebenen Zauberkunst, von dem Orakel der großen Pagode, und besonders von den Mitteln, wodurch sie sich eine beinahe unumschränkte Gewalt über die Köpfe und über die Beutel der Scheschianer zu erwerben gewußt, umständliche Nachricht gegeben; läßt er sich in eine weitläufige, und für jeden andern als den Sultan Gebal tödlich langweilige Erzählung gewisser Streitigkeiten ein, welche um sehr unerheblicher Dinge willen unter diesen Bonzen entstanden sein, und durch die unvorsichtige Teilnehmung des Hofes an denselben Gelegenheit gegeben haben sollen, daß die Nation sich in verschiedene Parteien zerspaltet, aus deren heftigem Zusammenstoß endlich einer der wütendsten Bürgerkriege, wovon man jemals ein Beispiel gesehen, entstanden sei. Der gänzliche Untergang des Staates würde unvermeidlich gewesen sein, wenn nicht glücklicher Weise für dieses betörte Volk Ogul-Kan dazwischen gekommen, und durch seine Eroberung die tobenden Bonzen genötiget hätte ihrer Privathändel zu vergessen, um auf ihre gemeinschaftliche Erhaltung bedacht zu sein.

[123] »Gut« (ruft hier Schach-Gebal aus), »hier erwartete ich meinen guten Bruder Ogul-Kan. Ich bin sehr begierig zu hören, was er zu den Streitigkeiten der scheschianischen Bonzenschaft gesagt haben mag. Denn bei aller Achtung, die ich für seine übrigen Verdienste hege, wird er mir nicht übel nehmen, wenn ich mir ihn als einen sehr mittelmäßigen Metaphysiker vorstelle.«

»Sire« (versetzt Danischmend), »der bloße Menschenverstand, von welchem er sich in dieser Sache leiten ließ, führte ihn sicherer, als die subtilste Dialektik vielleicht hätte tun können. Die tatarische Horde, deren Anführer er war, hatte von ihren Voreltern eine sehr einfältige Religion geerbt. Sie kannten weder Tempel noch Priester. Sie verehrten einen unsichtbaren Herrn des Himmels, von welchem sie glaubten, daß er die guten Menschen liebe und die bösen – nicht hasse, sondern besser mache. Sie hielten es für unrecht ein Bild von ihm machen zu wollen. Denn (sagten sie in ihrer Einfalt) wenn man auch den großen Berg Kantal selbst zu seinem Bilde aushauen wollte, so würde dies dennoch nur eine sehr kindische Vorstellung von der Größe eines Monarchen geben, der die Sonne in der einen Hand und den Mond in der andern hält. Diesem Begriffe zu Folge begnügten sie sich, in jedem Hause eine schwarze Tafel an der Wand hängen zu haben, worauf mit goldnen Buchstaben geschrieben stand: ›Ehre sei dem Herrn des Himmels!‹ Vor dieser Tafel pflegten sie täglich etwas Räuchwerk anzuzünden; sie baten dabei den Herrn des Himmels, daß er sie an Leib und Seele gesunderhalten möchte; und hierin bestand ihr ganzer Gottesdienst. 24 Es war also nicht wohl anders möglich, als daß sie die Religion von Scheschian zugleich mit Verachtung und mit Abscheu ansehen mußten; und Ogul-Kan konnte mit allem seinem Ansehen nicht verhindern, daß nicht in der ersten Hitze eine große Anzahl von Pagoden zerstört worden wäre. Dieser Prinz scheint zwar selbst kein Freund des Aberglaubens gewesen zu sein; aber er war ein zu vernünftiger Mann, um zu fodern, daß seine neuen Untertanen auf einmal eben so vernünftig sein sollten wie er. Er wußte, daß die Gewalt eines Monarchen sich nicht über Gewissen und Einbildung erstreckt; er wußte auch, wie gefährlich es ist, eine noch unbefestigte Regierung mit Unternehmungen gegen die eingeführte Religion anzufangen. Er bezeigte sich also sehr billig, ja sogar günstig gegen die [124] Priesterschaft von Scheschian; erklärte sich öffentlich, daß er sie bei ihren Gerechtsamen und Vorteilen schützen und nichts gegen ihre Religion unternehmen wolle; und hielt was er versprochen hatte.

Kaum fingen die Bonzen wieder an, der Ruhe zu genießen, welche sie der Regierung dieses weisen und guten Königs zu danken hatten: so erinnerten sie sich auch ihrer ehmaligen Streitigkeiten wieder; und auf einmal wurde wieder von allen Seiten zum Treffen geblasen. Aber hier hörte die Gefälligkeit des Sultans Ogul auf. Er ließ ein Edikt ausgehen, worin einem jeden erlaubt wurde, seine Meinung über die Gegen stände des Streites mit Bescheidenheit bekannt zu machen; aber er verbot zugleich alle Bitterkeit, und alle Anzüglichkeit im Disputieren; und um seinem Verbot den gehörigen Nachdruck zu geben, setzte er die Strafe von zweihundert Streichen auf die Fußsohlen darauf, wenn sich jemand, wer es auch wäre, gelüsten ließe, einen andern seiner Meinungen wegen zu schimpfen oder zu verdammen. ›Meinungen über Dinge, welche ihren Besitzer zu keinem schlimmern Manne machen, sind weder Staatssachen noch Verbrechen‹, sagte er: ›ich werde mich niemals damit abgeben, sie zu untersuchen, und noch weniger mich bereden lassen, sie zu bestrafen. Gedanken und Träume 25 sollen in meinem Reiche frei sein; und man soll keinem Menschen verwehren, seinen Traum zu erzählen, oder seine Meinung zu sagen, wenn er jemand findet der ihm [125] zuhören will. Das einzige Mittel, Grillen und Meinungen unschädlich zu machen, ist, wenn man ihnen Luft läßt. Laßt die Bonzen in Scheschian, so lange sie wollen, untersuchen, ob ihr großer Affe ein Genius oder ein Orang-Outang gewesen, ob er zu Wasser oder zu Lande in Scheschian angekommen, oder ob er aus dem Schweif eines Kometen herab gefallen sei: so lange die Untersuchung eine Privatsache bleibt, und der Streit mit Bescheidenheit geführt wird, kann die Ruhe des gemeinen Wesens nichts davon zu besorgen haben.‹ 26 Aber Ogul-Kan dürfte sich nur verleiten lassen, aus solchen Streitfragen eine Staatsangelegenheit zu machen, wenn in wenig Jahren das ganze Reich in Feuer stehen sollte.

»So dachte der weise Ogul« (fährt Danischmend fort), »und verdient Ehrensäulen dafür, daß er so dachte. Aber diese Politik war nicht nach dem Geschmack der Bonzen. Sie ließen es darauf ankommen, ob er den Übertretern des Gesetzes sein Versprechen halten würde. Ogul hielt sein Versprechen pünktlich. Ein Ya-faou, der die Meinungen eines gewissen Tulpan, welche vor der Eroberung viele Bewegungen verursacht hatten, öffentlich mit großer Heftigkeit bestritt, und die Anhänger derselben für unwürdig erklärte von Sonne und Mond beschienen zu werden, empfing auf dem größten Marktplatze der Stadt Scheschian die ganze Summe der zweihundert Prügel auf die Fußsohlen, ohne daß Einer daran fehlte; und da sein Geschrei und seine Aufhetzungen einen Aufruhr unter dem Pöbel verursachten, ließ Ogul-Kan die Schuldigen, an der Zahl zweitausend, von seiner tatarischen Leibwache umringen, und den funfzigsten Mann von ihnen, ohne Ansehen der Person, an die kahl gemachten Äste eines hohen Eichbaums aufhängen, der im äußersten Vorhofe der großen Pagode stand. Diese Justizpflege war ein wenig tatarisch: aber sie brachte ein großes Gut hervor; denn sie machte die Bonzen verträglich. Das Volk schrie über Tyrannei; Sultan Ogul kehrte sich nicht daran; und in kurzem erkannte die Nation mit Dankbarkeit, daß er sie durch eine wohl angebrachte Strenge von einem großen Übel befreiet hatte.

Von der Zeit an, da die Bonzen in ihren Streitschriften nicht mehr schimpfen, und durch geheime oder öffentliche Beschuldigungen ihren Gegnern keinen Schaden mehr zufügen durften, verloren sie [126] auch die Leidenschaft zum Grübeln und Streiten, wovon sie seit geraumer Zeit besessen gewesen waren. Sie fingen an gewahr zu werden, daß sie sich dadurch bei Vernünftigen nur lächerlich machten, und glaubten weiser zu handeln, wenn sie ihren Witz anwendeten, die Religion von Scheschian mit dem gesunden Menschenverstande ihrer neuen Gebieter auszusöhnen. Diesem löblichen Vorsatze zu Folge geschah es, daß sie, indem sie sich bemühten ihre Grundsätze in das vorteilhafteste Licht zu stellen, unvermerkt auf einen ziemlich einförmigen Lehrbegriff gerieten, der den Tatarn immer einleuchtender wurde: und da die Kamfalu zu gleicher Zeit mit gutem Erfolg an der Bekehrung der tatarischen Schönen arbeiteten; so fand sich nach wenigen Jahren, daß die Eroberer (den König und einige seiner Vertrauten ausgenommen) die Religion des Landes angenommen hatten, ohne daß man recht sagen konnte, wie es zugegangen war. Aber es fand sich auch zugleich, daß die Wallfahrten nach der großen Pagode merklich abnahmen. Es entstand aus der Vermischung des scheschianischen Aberglaubens mit dem groben tatarischen Menschenverstand eine Art von Mittelding, welches zwar keine neue Religion vorstellte, aber doch unvermerkt in dem Nationalgeiste, in den Vorurteilen, Gewohnheiten und Sitten von Scheschian eine Veränderung hervorbrachte, welche mit einigem Grund ein Schritt zur Verbesserung genannt werden konnte. Was vermutlich das meiste dazu betrug, war die Freiheit, sich auf die Wissenschaften und schönen Künste zu legen, welche Ogul-Kan allen seinen Untertanen erteilte. Denn vormals war dies, wie bei den Ägyptern, ein ausschließliches Vorrecht der Priesterschaft gewesen. In einem Zeitlaufe von vierzig bis funfzig Jahren wurden die graubärtigen Bonzen gewahr, daß sie sich in einer neuen Welt befanden, welche nicht mehr so leicht zu behandeln war als die alte. Die Märchen, womit sie sonst die Fragen der Neugierigen gestillet hatten, wurden nicht mehr so befriedigend gefunden als ehmals. Die Untersuchungen über den Grund dessen was die Menschen wahr nennen, über die Natur, den Zweck und die wesentlichen Rechte der politischen Gesellschaft, und über andre Dinge von dieser Wichtigkeit, welche immer häufiger angestellt wurden, hatten die Folge, daß vieles, was man für wahr gehalten hatte, falsch befunden wurde. Und wenn man Gegenständen, die vor einer aufgeklärten Vernunft keine Gnade finden konnten, noch immer einen Rest von Ehrerbietung bewies, so war sie derjenigen gleich, womit man ein altes Gemälde aus den Kinderjahren der Kunst anzusehen pflegt: man schätzt es, nicht weil es gut, sondern weil es alt ist.

[127] Es war von den Bonzen nicht zu erwarten, daß sie eine so wichtige Veränderung mit Gleichgültigkeit ansehen sollten. Auch taten sie ihr Möglichstes, dem sichtbaren Schaden zu wehren, den die Ausbreitung der Vernunft und der Menschlichkeit ihnen selbst und ihren Pagoden zufügte. Aber da sie merkten, daß die letzten Anstrengungen ihrer Kunst nur den Triumph ihrer Gegnerin zu zieren dienten: so schmiegten sie sich endlich unter ihr Schicksal, und betrugen sich ungefähr so, wie eine handelnde Nation, welche sich genötiget sieht, gewisse Zweige von Gewerbe, wiewohl mit augenscheinlichem Verluste, bloß deswegen fortzuführen, um nicht die Handlung selbst zu verlieren, und der Hoffnung entsagen zu müssen, durch irgend eine günstige Wendung der Umstände sich vielleicht dereinst ihres Schadens wieder zu erholen.

Indessen war eine von den heilsamen Folgen dieser Revolution in dem Nationalgeiste von Scheschian, daß die Bonzen selbst sich angelegen sein ließen, an persönlichen Verdiensten wieder zu gewinnen, was sie auf einer andern Seite verloren hatten.« Danischmend führt hiervon viel Besonderes an, unterläßt aber gleichwohl nicht, die Anmerkung zu machen: sie hätten bei allem dem nicht recht verbergen können, daß es ihnen lieber gewesen wäre, der Notwendigkeit so viele Verdienste zu haben überhoben zu sein. »Sie belauerten«, sagt er, »mit der scharfsichtigsten Aufmerksamkeit jede Gelegenheit und jedes Mittel, ihren großen Zweck mit wenigern Unkosten zu befördern; und glücklicher Weise für sie spielte der leichtsinnige Mutwille, womit einige die Freiheit der damaligen Zeiten zu mißbrauchen anfingen, ihnen Waffen in die Hände, welche sie, unter dem scheinbarsten Vorwande, gegen ihre unversöhnlichen Feinde, Witz und Vernunft, gebrauchen konnten.«[128] 27

Danischmend beginnt seine Erzählung von diesem Aufstand der Bonzen gegen die Usurpation einer tyrannischen Philosophie mit einer allgemeinen Betrachtung, welche nicht so viel benützt wird als sie es zu verdienen scheint. »Dasjenige«, sagt er, »was in allen sittlichen Dingen die Grenzen des Schönen und des Häßlichen, des Guten und des Bösen, des Rechts und des Unrechts bestimmt, ist eine allzu feine Linie, als daß sie nicht alle Augenblicke von der Unwissenheit und dem Leichtsinn übersehen, oder von den Leidenschaften übersprungen werden sollte. Daher eine Quelle von Übeln, welche man nicht verstopfen darf, auch wenn man es könnte, – der häufige Mißbrauch von Dingen, wovon der rechte Gebrauch der menschlichen Gesellschaft nützlich ist, und welchem abzuhelfen man bisher noch keine andre Mittel erfunden hat, als solche, die dem Dienste gleichen, den der gutherzige Bär in der Fabel seinem Freunde, dem Eremiten, erweist, da er, um eine Fliege von der Nase seines schlafenden Freundes zu verjagen, einen Stein ergreift, und auf Einen Wurf die Fliege und den Eremiten tötet.

Die Scheschianer geben uns hiervon ein merkwürdiges Beispiel. Sie waren unvermerkt klüger geworden als ihre Vorfahren. Ihre Begriffe von der wahren Beschaffenheit der Dinge, von ihrem Verhältnis gegen die Menschen, und von dem sehr wesentlichen Unterschiede zwischen den Gegenständen und den Vorstellungen, die man sich davon macht, klärten sich je länger je mehr auf. Die Vorteile dieser glücklichen Veränderung verbreiteten sich über das ganze Reich, wiewohl sie nur von scharfsichtigen Beobachtern bemerkt wurden. Aber die Nachteile, die damit verbunden waren, wahrzunehmen, dazu reichte das Gesicht des blödesten Kopfes hin. So lange die Nation dumm war, konnte sie nicht mißbrauchen – was sie nicht hatte. Damals war die Quelle alles Übels, daß sie ihre Vernunft gar nicht zu gebrauchen wußte. Jtzt, da die Scheschianer, wie junge Vögel, die Schwingen ihres Geistes zu versuchen anfingen, begegnete es oft, daß sie zu hoch fliegen wollten und fielen; oder daß [129] sie sich unvorsichtig in Örter wagten, wo sie sich in verborgene Schlingen verwickelten. Kurz, diejenigen, die entweder wirklich mehr Witz hatten als andre, oder doch dafür angesehen sein wollten mehr zu haben, fühlten nicht so bald die Freiheit, in welche Ogul-Kan ihre Vernunft gesetzt hatte, als sie schon anfingen sie häufig zu mißbrauchen. Es war wohl bei den wenigsten so böse gemeint als es ihnen ausgelegt wurde. Wie leicht war es, in der hüpfenden Freude, die einem Menschen natürlich ist, der nach einer langen Gefangenschaft wieder freie Luft atmet und sich seiner Füße wieder nach eigenem Gefallen bedienen darf, wie leicht war es da, die vorerwähnte Linie zu überhüpfen, und vor lauter Freude – nicht mehr dumm zu sein, ein wenig närrisch zu werden! Man hatte den Aberglauben als ein großes Übel kennen gelernt; man bildete sich ein, sich nicht weit genug davon verlaufen zu können, und verlief sich also in den entgegen gesetzten Abweg. Indessen war dies allerdings kein geringes Übel, und verdiente die Aufmerksamkeit der Vorsteher des Staats um so mehr, da es von den höhern Klassen unvermerkt auch zu den niedrigern überging.«

Hier fiel der Sultan Danischmenden in die Rede. »Du berührst«, sagte er, »einen Punkt, über den ich schon lange gewünscht habe etwas Gewisses bei mir selbst festsetzen zu können. Es ist, wie du wohl bemerkt hast, nicht ratsam die Quelle von solchen Übeln zu verstopfen, die aus dem Mißbrauch einer Sache entstehen, wovon der Gebrauch gut ist. Und gleichwohl ist das Übel, von dem du sprichst, von einer so gefährlichen Art, daß man schlechterdings genötigt ist seinem Fortgange zu steuern. Ich möchte wohl hören, was du mir in diesem Falle zu tun raten wolltest.«

»Sire« (antwortete Danischmend), »die Frage, worüber ich meine Meinung sagen soll, hätte vorlängst besser als zwanzig andre verdient von unsrer Akademie zu einer Preisfrage gemacht zu werden. Ich unterstehe mich nicht zu sagen, daß ich die Auflösung davon gefunden habe; und mir deucht, diejenigen, welche sie so leicht finden, möchten sich wohl nie die Mühe genommen haben, ihre Tiefe zu erforschen. Doch vielleicht ist sie eine von den Fragen, deren Auflösung gar nicht einmal möglich ist, oder, welche sich wenigstens nicht anders als durch einen kühnenSchnitt auflösen lassen.

Der Fall dünkt mich dieser zu sein: Wir befinden uns zwischen zwei Übeln, wovon wir schlechterdings genötigt sind eines zu wählen; es fragt sich also, welches wir wählen sollen?

Hier, deucht mich, kann zuversichtlich als ein unstreitiger Grundsatz angenommen werden: daß in einem solchen Falle, wenn [130] das eine Übel einen unendlichen und unheilbaren Schaden tut, das andere hingegen unter gewissen Bedingungen ins unendliche vermindert werden kann, notwendig das letztere gewählt werden müsse.

Dies vorausgesetzt kommen hier zwei Übel in Betrachtung: der Schade, der aus dem Mißbrauch der Vernunft und des Witzes, wenn ihnen völlige Freiheit gelassen wird, entspringen kann und wird; und derjenige, der daher entstehen muß, wenn diese Freiheit durch irgend eine Art von Zwangsmitteln eingeschränkt wird. Nun sage ich: Den Gebrauch der Vernunft und des Witzes in einem Staat einschränken, ist eben so viel, als Unwissenheit und Dummheit mit allen ihren Wirkungen und Folgen in dem besagten Staate verewigen, falls sich die Nation noch in einem barbarischen Zustande befindet; oder, wenn sie sich bereits zu einem gewissen Grade der Erleuchtung empor gehoben hat, sie in Gefahr setzen, von Stufe zu Stufe wieder in diese Barbarei zurück zu sinken, die den Menschen zu den übrigen Tieren herab würdiget, ja gewisser Maßen unter sie erniedriget. Denn, wie soll diese Grenzlinie, in welche man Vernunft und Witz einschränken will, gezogen werden? Wer soll sie bestimmen? Was für Regeln sollen dazu festgesetzt werden? Wer soll Richter sein, ob diese Regeln in jedem vorkommenden Falle beobachtet oder überschritten werden? Wodurch will man verhindern, daß der Richter nicht seine eigene Denkungsart, seine Vorurteile, seinen persönlichen Geschmack, vielleicht auch seine Leidenschaften und besondern Absichten, zur Richtschnur oder zum Beweggrunde seiner Urteile mache? Wird die Vernunft und der Witz der Nation nicht dadurch von dem Grade der Erkenntnis oder Unwissenheit, der Redlichkeit oder Unlauterkeit des Richters, oder von der ungereimten Voraussetzung, daß ihn seine Weisheit und Rechtschaffenheit nie verlassen werde, abhängig gemacht? Wenn wir denken dürfen, warum sollten wir nicht über alles denken dürfen? Und ist denken nicht etwas andres als nachsprechen? Kann man denken ohne zu untersuchen? oder untersuchen ohne zu zweifeln? Und wenn sich dieses Recht zu zweifeln bis man untersucht hat, und zu untersuchen eh man irgend ein Urteil faßt, nicht auf alle Gegenstände erstreckt; wenn man annehmen wollte, daß es solche gebe, welche man nicht untersuchen dürfe, weil schädliche Folgen daher entspringen könnten: würde die Nation nicht immer in Gefahr schweben, daß es ihren Obern einmal einfallen könnte, die Untersuchung alles dessen für schädlich zu erklären, was sie bloß ihres eignen Vorteils wegen nicht untersucht haben [131] wollten? Die Jahrbücher des menschlichen Geschlechts belehren uns, daß unsre Obern zuweilen Tyrannen gewesen sind, oder wenigstens schwach genug, sich von irrigen Meinungen und von Leidenschaften, eigenen oder fremden, beherrschen zu lassen. Auf welchem seichten Grunde würde demnach die öffentliche Glückseligkeit stehen, wenn es von der Willkür etlicher weniger Sterblichen abhinge, die großen Triebfedern des allgemeinen Besten der Menschheit, Vernunft und Tugend, nach ihren besondern Begriffen und Absichten einzuschränken?

Was ich von der Vernunft gesagt habe, gilt in seiner Art auch von dem Witze, dessen wichtigster Gebrauch ist, alles was in den Meinungen, Leidenschaften und Handlungen der Menschen mit der gesunden Vernunft und dem allgemeinen Gefühl des Wahren und Schönen einen Mißlaut macht, das ist, alles wasungereimt ist, als belachenswürdig darzustellen. Jede Einschränkung dieses Gebrauchs ist ein Freiheitsbrief für die Torheit, und ein stillschweigendes Geständnis, daß es ehrwürdige Narrheiten gebe. Unvermerkt würden sich noch andre Torheiten hinter diese verstecken; denn ihre Familie ist zahlreich, und manche sehen einander so ähnlich, daß es sehr leicht ist eine für die andere anzusehen. Was anders würde also aus der Einschränkung der Vernunft und des Witzes erfolgen, als daß, unter dem bleiernen Zepter der Dummheit, Aberglaube und Schwärmerei, Tyrannei über Seelen und Leiber, Verfinsterung der Vernunft, Verderbnis des Herzens, Ungeschliffenheit der Sitten, und zuletzt allgemeine Barbarei und Wildheit die Oberhand gewinnen würden?

Und dies würde nicht etwa bloß eine zufällige Folge, es würde die notwendige und unvermeidliche Wirkung davon sein, wenn man den freien Lauf der Vernunft und des Witzes hemmen, und es in die Gewalt einzelner Personen geben wollte, den Zügel, womit man sie gefesselt hätte, nach ihrem Gutbefinden anzuziehen oder nachzulassen.

Nun lassen Sie uns auf der andern Seite sehen, ob der Schaden, welchen man von dieser Freiheit zu besorgen hat, so beträchtlich ist, daß er gegen den Schaden ihrer Unterdrückung in Betrachtung kommen kann; und ob er nicht vielmehr unter gewissen Bedingungen sich nach und nach ins unendliche vermindern muß?

Es ist wahr, die Freiheit der Vernunft, des Witzes, der Einbildungskraft, und dessen was man Laune nennt, kann und wird zuweilen gemißbraucht werden, um Weisheit und Tugend selbst in ein falsches Licht zu stellen, und vielleicht die ehrwürdigsten Gegenstände, [132] um unwesentlicher Gebrechen willen, lächerlich zu machen. Man hat überdies einige Beispiele, daß etwas ungereimt Scheinendes bei anwachsender Einsicht wahr befunden worden, und also aufgehört hat ungereimt zu sein. 28 Es ist also möglich, daß die[133] Freiheit, welche dem Mutwillen des Witzes gelassen würde, den Fortgang der Wahrheit selbst aufhalten könnte. Aber alle diese Übel, so groß man sie auch immer sich einbilden mag, sind zufällig und selten; der Nachteil, den sie der menschlichen Gesellschaft bringen können, wird durch tausend entgegen wirkende Ursachen teils verhütet, teils unmerklich gemacht, und, was das wichtigste ist, er muß, vermöge der Natur der Sache, immer abnehmen. Der Krieg zwischen Vernunft und Witz, und ihren ewigen Feinden Unverstand und Dummheit, ist ein Übel wie alle andre Kriege. Er bringt zwar zufälliger Weise allerlei schädliche Ausbrüche hervor, und es sind immer viele, die auf diese oder jene Weise darunter leiden: aber er ist ein notwendiges Übel, welches durch seine Folgen das größte Gut befördert. Jede neue Eroberung, die von jenen über diese gemacht wird, schwächt den Feind, befestigt die rechtmäßige Oberherrschaft, und beschleuniget den Anbruch jener glückseligen Zeiten, deren Unmöglichkeit noch niemand bewiesen hat, und welche (wenn es auch unwahrscheinlich wäre, daß sie jemals kommen würden) dennoch das große Ziel aller Freunde der Menschheit sein müssen; der Zeiten, wo Polizei, Religion und Sitten, Vernunft, Witz und Geschmack einträchtig zusammen wirken werden, die menschliche Gattung glücklich zu machen

»Danischmend mein Freund« (sagte der Sultan als der Doktor mit seiner Rede fertig war), »alles was du uns hier gesagt hast, mag sehr gut sein, wenn voneinem Staat in Utopien die Rede ist, den du mit idealischen Menschen nach Belieben besetzen und regieren kannst, wie es dir gefällt. Aber die Rede ist, mit Erlaubnis deiner Philosophie, nicht von dem, was der menschlichen Gesellschaft überhaupt, sondern von dem was diesem oder jenem besondern Staate gut ist; und da wirst du vermutlich zugeben, daß sich kein wirklicher Staat, mit Menschen von Fleisch und Blut besetzt, denken lasse, dessen Bewohner die Vorteile, die sie darin genießen, nicht mit Aufopferung eines Teiles ihrer natürlichen Rechte erkaufen müßten. Du hast uns sehr schön bewiesen, daß es zum Besten der menschlichen Gesellschaft gereiche, wenn der Vernunft und dem Witze, folglich – weil du keinen Richter erkennen willst, der in jedem besondern Fall entscheide, was Vernunft und Witz sei – auch der Unvernunft und dem Aberwitze volle Freiheit gelassen werde: aber alle deine Gründe sollen mich nicht hindern, dem ersten, der sich die [134] Freiheit nehmen wollte, meine Völker durch seine Schriften zum Mißvergnügen und zur Empörung zu reizen, die Ohren abschneiden zu lassen; oder den ersten Philosophen, der sich gelüsten lassen wird, das Gesetz unsers Propheten für ein Werk des Betrugs zu erklären, mit fünfhundert Streichen auf die Fußsohlen zu belohnen. Darauf kannst du dich verlassen. Ich bin der Mann, mein Wort so genau zu halten als Ogul-Kan.«

»Sire«, erwiderte Danischmend ganz ruhig, »meine Meinung ging nur wider solche Anordnungen, die es von der Einsicht und Willkür einzelner Personen abhängig machen, wie klug oder wie dumm eine Nation sein soll. Indessen, und bis die Akademie oder irgend ein anderer Adept Mittel dem Mißbrauche der Freiheit zu wehren, welche der Freiheit selbst unnachteilig sind, ausfündig gemacht haben wird, möchte wohl schwerlich zu verhindern sein, daß das Wort Mißbrauch nicht immer zweideutig bleiben sollte; und also wird (mit Ausnahme weniger besonderer und seltener Fälle, worüber dem Landesherrn zu erkennen obliegt) doch immer das Sicherste sein, lieber einige Ausschweifungen zu übersehen, als uns durch eine gar zu strenge Regelmäßigkeit in Gefahr zu setzen, des edelsten Vorrechts der Menschheit verlustiget zu werden. 29

Wenn mir erlaubt ist« (fuhr Danischmend fort), »die Anwendung der vorgelegten Frage auf die Priester von Scheschian zu machen, so deucht mich, daß nur ein mißverstandenes Interesse diese Bonzen verleiten konnte, die Freiheit, welche Ogul-Kan seinen Untertanen zugestanden hatte, so gefährlich zu finden. Der Staat und die Religion von Scheschian konnten nicht anders als bei dieser Freiheit gewinnen. Ja die Bonzen selbst würden dabei gewonnen haben. Sie würden anfänglich aus Notwendigkeit, hernach aus Gewohnheit, zuletzt vielleicht aus Neigung und Wahl sich immer weiter von allem demjenigen entfernt haben, was sie einem gerechten Tadel unterwürfig gemacht hatte. Frei von dem Vorwurf einer unbändigen Begierde zu herrschen und die Güter ihrer Mitbürger an sich zu ziehen, geziert mit jeder Tugend ihres Standes, würde die Hochachtung ihres persönlichen Wertes sich mit der Würde ihres Amtes vereiniget haben, sie durch die allgemeine Zuneigung besser als durch Strafgebote vor unbilligen Mißhandlungen sicher zu stellen. Denn ich unterstehe mich zu behaupten, daß es kein Volk auf Erden gibt, welches [135] nicht geneigt sein sollte, einen weisen und tugendhaften Mann eben dadurch, daß er ein Priester ist, doppelt ehrwürdig zu finden. Allein die Bonzen von Scheschian hatten das Unglück, diese Betrachtung nicht zu machen. Die Verbesserung oder Abstellung alles dessen, was dem gesunden Menschenverstand an ihren Begriffen, Maximen und Sitten anstößig sein mußte, war unstreitigder geradeste Weg, sich dem öffentlichen Tadel zu entziehen; aber es war auch der beschwerlichste. Lieber wollten sie durch tausend schleichende Wendungen und niedrige Kunstgriffe diejenigen zu unterdrücken suchen, vor deren Fähigkeiten und Einsichten sie sich, auch ohne besondere Ursache, aus einer An vonInstinkt, fürchteten; und die Sicherheit der scheschianischen Religion diente ihnen bloß zum Vorwande, ihre Rachsucht an einem jeden auszulassen, der gegen ihre offenbarsten Ungereimtheiten und gröbsten Mißbräuche etwas einzuwenden hatte. Sie ließen keine Gelegenheit entschlüpfen, in Gesellschaften, oder unter vier Augen, sonderlich bei Personen von Stand und Ansehen, zu verstehen zu geben, daß solche Leute in billigem Verdachte ständen, weder an den großen Affen noch an den allgemeinen Schutzgeist (wie sie das höchste Wesen nannten) zu glauben. Gestanden sie auch einigen derselben Talente zu, so bedauerten sie doch zugleich in einem seufzenden Tone, daß diese Talente nicht besser angewendet würden, und beklagten die Gefahr der Nation, wenn solchen Leuten gestattet würde, ihr süßes Gift in unbehutsame Seelen fallen zu lassen. Durch dergleichen Künste gelang es ihnen bei allen, welche sich mit angeerbten Begriffen behalfen, das ist, bei dem größten Teile der Nation, sich im Besitz eines gewissen Einflusses zu erhalten, der vielleicht nur desto tiefere Wurzeln schlug, weil sie ihn der sanften Gewalt einschmeichelnder Überredungen, und tausend feinen Ränken, womit sie die Gemüter zu umspinnen wußten, zu danken hatten. Sie genossen unter einigen schwachen Regierungen das Vergnügen, von Zeit zu Zeit kleine Verfolgungen gegen Witz und Vernunft zu erregen; und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Barbarei, wel che unter Ogul-Kan in die Schlupflöcher der Ya-faou hatte flüchten müssen, mit schnellen Schritten zurück gekommen wäre, sich des Hofes und der Paläste der Großen und Reichen wieder zu bemächtigen, wenn die Regierung der schönen Lili nicht zu gutem Glücke der Nation einen andern Schwung gegeben hätte.«

»Man muß gestehen«, sagte Schach-Gebal, »die Bonzen von Scheschian haben keine sonderliche Ursache, sich Danischmenden für das Denkmal, das er ihnen stiftet, verbunden zu halten.«

[136] »Sire«, erwiderte der Doktor, »wenigstens werden mir Ihre Hoheit glauben, daß ich keine Bewegursachen haben kann, sie anders abzuschildern als sie waren. Die Wahrheiten, die ich sage, können niemand Schaden tun; aber sie können, wofern Ihre Hoheit erlauben die Geschichte von Scheschian bekannt zu machen, noch den spätesten Zeitaltern als ein Spiegel nützlich werden. Ich halte diese Art von Spiegeln für eine sehr gute Erfindung; denn am Ende ist doch einem jeden daran gelegen zu wissen wie er aussieht; und so achtsam man auch auf sich selbst ist, so gibt es doch immer einige Flecken wegzuwischen, oder einige kleine Unordnungen an seiner Person zu verbessern. Wer sich keiner größern Gebrechen bewußt ist, darf getrost hinein sehen; und wer hinein guckt, und über den Spiegel, oder über die Fabrik, worin er gegossen worden, schilt, von dem getraue ich mir zu behaupten, daß es ihm sehr an – Klugheit fehlen müsse.«

»Wenn du die Einwilligung meines Imans erhalten kannst«, versetzte der Sultan, »so sollst du nicht zu klagen haben, daß ich deiner Spiegelfabrik hinderlich sei. Ich bin immer ein Beförderer der Fabriken gewesen.«

Nach der gewöhnlichen Unterbrechung fährt Danischmend, auf Befehl des Sultans, fort, sich den Weg zu den Händeln zu bahnen, welche unter dem Sultan Azor zwischen den Bonzen in Scheschian ausbrachen, und das Unglück des Reichs vollständig machten.

»Die Gestalt«, sagt er, »welche der Nationalgeist von Scheschian unter der Regierung der Königin Lili annahm, war dem System und den Absichten der Bonzen nicht sehr vorteilhaft. Der Aberglaube, auf den ihr vormaliges Ansehen gegründet war, setzt eine gewisse Verfinsterung der Seele als eine notwendige Bedingung voraus, und nimmt also in der nämlichen Gradation ab, in welcher die Aufklärung eines Volkes zunimmt. Witz, Geschmack, Geselligkeit, Verfeinerung der Empfindung und der Sitten, sind seine natürlichen Feinde; ihre gegenseitige Antipathie ist unversöhnlich; und entweder gelingt es ihm sie zu unterdrücken, oder sie unterdrücken ihn. Die Bonzen von Scheschian sahen sich dem letztern Falle so nah, daß sie endlich, wie es scheint, an der Erhaltung ihres vormaligen Systems zu verzweifeln anfingen. Ein jeder war nun bloß darauf bedacht, anstatt für die gemeine Sache, für sich selbst zu arbeiten, und von seinen eigenen Talenten, körperlichen oder geistigen, so viel Vorteil zu ziehen, als er Gelegenheit dazu hatte.

In dieser Lage befanden sich die Sachen, als im zehnten Jahre der Regierung Azors ein Ya-faou, der sich durch seine Bemühungen [137] um die scheschianischen Altertümer hervor getan hatte, mit einer Entdeckung auftrat, welche so wenig sie auch beim ersten Anblicke zu bedeuten schien, durch ihre Folgen das ganze Reich in Verwirrung setzte. Er hatte nämlich gefunden, oder glaubte gefunden zu haben, daß der Name des großen Affen auf den ältesten Denkmälern der Nation niemals Tsai-Faou (wie er seit einigen Jahrhunderten geschrieben und ausgesprochen wurde), sondern allezeit Tsao-Faou geschrieben sei. Da nun Tsai in der scheschianischen Sprache allezeitfeuerfarben, Tsao hingegen, vermöge eines mit großer Gelehrsamkeit von ihm geführten Beweises, von jeher blau bedeutet hatte: so ergab sich der Schluß von selbst, daß der Name des blauen Affen eigentlich der wahre, uralte und charakteristische Name der Schutzgottheit ihres Landes sei.

Gorgorix (so nannte sich der Ya-faou), welcher, nach Art aller Altertumsforscher, eine ungemessene Freude über diesen Fund hatte, der ihm Gelegenheit gab, Dissertationen zu schreiben, worin er seinen in vielen Jahren mühsam gesammelten Vorrat von Kollektaneen, Lesarten, Verbesserungen, Ergänzungen, Mutmaßungen, Zeitrechnungen, etymologischen Untersuchungen, und dergleichen, anbringen konnte, – glaubte sich nicht genug beschleunigen zu können, der Welt eine so wichtige Entdeckung mitzuteilen. Wirklich hatten ihn die Untersuchungen, die er bei dieser Gelegenheit anstellen mußte, auf die Spur so vieler andrer antiquarischer und grammatischer Entdeckungen gebracht, und eine jede derselben hatte ihm zu so vielen gelehrten und äußerst interessanten Digressionen Anlaß gegeben, daß, ungeachtet des Titels seines Buchs, dasjenige was darin den blauen und feuerfarbnen Affen betraf, kaum den zwanzigsten Teil davon ausmachte. Seine Absicht scheint anfangs nichts weniger gewesen zu sein, als Neuerungen in der Religion seines Landes anzuspinnen; und vielleicht würde die Sache ohne Folgen geblieben sein, wenn seine Schüler und Freunde weniger eifrig gewesen wären, die Entdeckungen des großen Gorgorix (wie sie ihn nannten) in allen Zeitungen und Journalen von Scheschian als Dinge von der verdienstlichsten Wichtigkeit anzupreisen. Durch die unbescheidenen Bemühungen dieser Leute geschah es denn, daß sein Buch endlich die öffentliche Aufmerksamkeit rege machte. Verschiedene Bonzen, welche den Ruhm des großen Gorgorix mit scheelen Augen ansahen, traten mit kritischen Beleuchtungen seines Buches hervor, worin es ihnen nicht sowohl darum zu tun war, zu ergründen, ob Gorgorix recht oder unrecht habe, als der Welt zu zeigen, daß sie zum [138] wenigsten einen eben so großen Vorrat von Kollektaneen besäßen, und noch scharfsinnigere und gelehrtere Ergänzungen, Verbesserungen, Mutmaßungen, Zeitrechnungen und Wortableitungen zu machen wüßten als Gorgorix. Bald gesellten sich auch einige Ya-faou zu ihnen, welche die Entdeckung dieses Antiquars aus einem ganz andern Gesichtspunkt ansahen, und über die Gottlosigkeit und Gefährlichkeit dieser Neuerung ein mächtiges Geschrei erhoben. Da es weder diesen noch jenen an Freunden mangelte, die aus mancherlei Ursachen und Absichten öffentlich ihre Partei ergriffen, so wurde der Streit immer hitziger und allgemeiner. Die Liebe zum Neuen zog den größten Teil der jungen Bonzen und Ya-faou auf die Seite des blauen Affen, und Gorgorix sah sich in kurzem an der Spitze eines ansehnlichen Teils der Nation.

Nun bekam er Mut, dasjenige, was er anfangs in einem bescheidenen und problematischen Tone vorgebracht hatte, mit dem herrischen Anstand eines gelehrten Diktators vorzutragen, und allen, welche die Bündigkeit seiner Beweise nicht so einleuchtend fanden als er selbst, mit einer Verachtung zu begegnen, die seinen Gegnern unerträglich war. ›Man muß entweder ein Dummkopf sein‹, sagte er, ›wenn man die Wahrheit meiner Entdeckungen nicht einsehen kann, oder sehr boshaft, wenn man sie nicht sehen will.‹ Diese unter den Gelehrten zu Scheschian sehr gewöhnliche Art zu disputieren, hatte auch hier ihre gewöhnliche Wirkung. Die Gemüter der Streitenden wurden immer mehr erbittert; die Streitfragen selbst vermehrten sich täglich durch die Wut einander nichts einzugestehen; und eine Menge von Leuten erklärte sich mit der größten Hitze für die eine oder die andere Partei, ohne untersucht zu haben wer recht habe, oder zu einer solchen Untersuchung geschickt zu sein.

Unvermerkt verwandelte sich diese Fehde aus einem Wortkrieg in einen weit aussehenden Religionsstreit, und jede Partei wandte alles an, sich zu vergrößern: als Kalaf, ein junger Bonze, welcher Mittel gefunden hatte sich bei Hofe in einiges Ansehen zu setzen, das bisher noch zweifelhafte Übergewicht durch seinen Beitritt auf die Seite des Gorgorix zog. Nicht, als ob er sich im geringsten für die Sache selbst interessiert hätte; denn er hatte sich nie die Mühe genommen, das Buch dieses Ya-faou zu lesen, und niemand in der Welt bekümmerte sich weniger als er, ob der große Affe blau, grün oder pomeranzengelb sei. Aber Kalaf war ehrgeizig; er hatte ein Auge auf die Würde eines Oberbonzen der Hauptstadt Scheschian, welche in kurzem ledig werden mußte, und der blaue Affe konnte ihm zu einem Vorhaben beförderlich sein, wozu er sich in [139] dem ordentlichen Laufe der Dinge wenig Hoffnung zu machen hatte. Sein gutes Glück hatte ihn zu dem Amte erhoben, eine persische Tänzerin, deren rühmliche Fesseln derVertraute des ersten Günstlings der Sultanin Lili trug, von der Religion der Gebern, worin sie erzogen war, zu der scheschianischen, für welche ihr Liebhaber sich ungemein beeiferte, zu bekehren. Da die Tänzerin große Ansprüche an Witz machte, so war dies eben kein leichter Auftrag. Allein Kalaf war ein liebenswürdiger Mann, wenigstens in den Augen einer Tänzerin; er fand Mittel sich vor allen Dingen ihres Herzens zu bemeistern, nicht zweifelnd, wenn er einmal dieses gewonnen hätte, würde sich ihr Kopf nicht lange gegen seine Gründe halten können. Er wußte ihrer Eitelkeit so gut zu schonen, und die Augenblicke, welche seiner Unternehmung am günstigsten waren, so geschickt zu wählen, daß die Tänzerin endlich gestehen mußte, daß er sie überzeugt habe: aber sie erklärte sich zu gleicher Zeit, wenn sie ja genötiget würde sich den großen Mithras unter dem Bilde eines Affen vorzustellen, so sollte es doch schlechterdings kein andrer als ein blauer sein; denn blau war ihre Lieblingsfarbe. Kalaf, zu klug, durch eine unzeitige Unbiegsamkeit in einem Punkte, woran ihm so wenig gelegen war, sich der Frucht so vieler mühsamen Nachtwachen zu berauben, und scharfsichtig genug, um beim ersten Blicke zu sehen was man aus einer Sache machen kann, versicherte sie, daß er selbst immer geneigt gewesen sei sich für den blauen Affen zu erklären, und daß er itzt um so eifriger für ihn arbeiten würde, da er das günstige Vorurteil seiner schönen Neubekehrten für nichts Geringeres als die Wirkung eines übernatürlichen Einflusses halten könne. Von dieser Stunde an hatte Gorgorix keinen stärkeren Verfechter als den Bonzen Kalaf. Der Vertraute des Günstlings, welcher es unmöglich fand seiner Tänzerin etwas abzuschlagen, war der erste unter den Hofleulen, der für die neue Meinung gewonnen wurde. Der Vertraute gewann den Günstling, der Günstling die Sultanin, die Sultanin den König ihren Sohn, und das Beispiel des Königs den ganzen Hof.

Die erste große Folge dieses glücklichen Fortgangs war, daß Kalaf bald darauf zur erledigten Würde eines Oberbonzen der Stadt Scheschian befördert wurde.

Huktus, ein Bonze von edler Geburt und großem Ansehen, hatte sich zu dieser Würde die meiste Hoffnung gemacht, und alles angewandt sie zu erlangen. Unter andern Umständen würde Kalaf kein furchtbarer Nebenbuhler für ihn gewesen sein; aber Kalaf hatte sich einen Augenblick zu Nutze gemacht, da die persische Tänzerin alles [140] vermochte. Es ist wahr, es kostete ihm die Mühe, sie zu einer kleinen Gefälligkeit gegen den Günstling der Königin zu überreden; und die ärgerliche Chronik sagte sogar, daß er in seinem eigenen Hause Gelegenheit dazu gemacht habe. Ein Beweggrund dieser Art konnte wohl dem Günstling hinreichend scheinen, Kalaffen, der keine andre als die Verdienste eines geschmeidigen Höflings aufzuweisen hatte, vor dem Bonzen Huktus, für den die Wünsche des ganzen Volkes sprachen, den Vorzug zu geben; nur war er nicht hinlänglich, diesen Vorzug vor den Augen der Nation zu rechtfertigen. Huktus verbarg seinen Unmut unter dem Scheine der vollkommensten Gleichgültigkeit; aber sein Herz kochte Rache. Die Streitigkeiten über Tsai und Tsao, an welchen er bisher aus Klugheit wenig Anteil genommen hatte, schienen ihm Gelegenheit darzubieten, diese Rache unter einem scheinbaren Vorwand auszuüben. Kalaf hatte sich an die Spitze der Partei der Blauen gestellt: Huktus bedachte sich also nicht lange, sich öffentlich für die Feuerfarbnen zu erklären. Der größte Teil der ältern Bonzen und Ya-faou war auf seiner Seite: und da sich bald darauf auch diejenigen unter den Großen von Scheschian, die mit der Regierung der Sultanin Lili nicht zufrieden waren, zu ihnen schlugen; so machten sie eine Gegenpartei aus, deren Absichten, Maßregeln und Bewegungen ernsthaft genug wurden, um den Staat mit gefährlichen Unruhen zu bedräuen.«

Hier läßt sich Danischmend in eine umständliche Entwicklung der verschiedenen Vorteile, Nebenabsichten und Leidenschaften ein, welche die eigentlichen Triebräder der öffentlichen Handlungen beider Parteien waren, und, wenn anders seine Erzählung zuverlässig ist, einen Beweis abgeben könnten, daß die Kunst, das Interesse der Religion und des Staats zum Deckmantel unedler Leidenschaften und eigennütziger Forderungen zu machen, nicht unter diejenigen gehöre, an deren Erfindung oder Vervollkommnung dieNeuern einen gerechten Anspruch zu machen hätten.

»Bisher« (so fährt er fort) »hatte sich der geringere Teil der scheschianischen Nation in die Händel derBlauen und Feuerfarbnen (wie man die Parteien zu nennen anfing) wenig eingemischet, oder es waren doch nur wenige in ihren angeerbten Begriffen von dem großen Affen irre gemacht worden. Die meisten begnügten sich über die Neuerungen des Gorgorix und seiner Freunde den Kopf zu schütteln, und zu beklagen, daß eine so ausgemachte Sache, als der Name und die Farbe ihrer Schutzgottheit wäre, vorwitzigen Untersuchungen ausgestellt werden sollte. Aber Kalaf, dessen ungezähmter Ehrgeiz einen vollständigen Triumph verlangte, ruhete nicht, bis [141] er auch den größern Teil des gemeinen Volkes von der Blauheit des großen Affen überzeugte. Was ihm die erwünschteste Gelegenheit dazu gab, war eine prächtige Pagode von blauem Porzellan mit goldnen Verzierungen, welche auf Veranstaltung der Sultanin Lili dem Tsao-Faou zu Ehren aufgeführt wurde. Der Eifer dieser Dame, der Nachwelt ein so schönes Denkmal ihrer Liebe für die Künste zu hinterlassen, verwandelte sich unvermerkt in einen Eifer für die Sache des blauen Affen selbst. Das Volk, unter dessen Augen dieser schöne Tempel empor stieg, wurde von den Anhängern Kalafs in rätselhaften Ausdrücken vorbereitet, außerordentliche Dinge zu erwarten. Die Blauen ließen in ihrem Gesicht und Ton eine große Zuversichtlichkeit sehen, ohne sich über die Ursache derselben zu erklären; und Huktus mit seinem Anhang zitterte ohne zu wissen wovor.

Endlich kam der Tag, welchem beide Parteien, jene mit ungeduldigem Verlangen, diese mit unruhiger Erwartung eines gegen sie geschmiedeten Anschlags, entgegen sahen; der Tag, da die blaue Pagode eingeweihet werden sollte. Sobald die Sonne aufgegangen war, führte Kalaf das versammelte Volk in einen nahe bei der Hauptstadt gelegenen Wald, der seit undenklichen Zeiten dem großen Affen heilig gewesen war. Mitten in diesem Walde war ein großer runder Platz, und in der Mitte des Platzes eine Art von Thron aufgerichtet, welchen Kalaf bestieg, um diese berühmte Anrede an das Volk zu halten, von welcher die Geschichtschreiber seiner Partei versichern, daß sie niemals ihresgleichen gehabt habe. Kalaf sagte so erhabene und unbegreifliche Dinge, es strahlte eine so ungewöhnliche Begeisterung aus seinem ganzen Wesen, der majestätische Ton seiner Stimme, die Überzeugung, womit er sprach, die Figuren, wovon er Gebrauch machte, der Strom seiner Worte, rissen die Zuhörer mit solcher Gewalt dahin, daß man ihm Beifall geben mußte, ohne das geringste von allem was er gesprochen begriffen zu haben. Die vornehmste Absicht seiner Rede war, das Volk in Erstaunen und in ein zitterndes Erwarten irgend einer wundervollen Entwicklung zu setzen. Niemals hatte ein Redner die Zauberkraft des Galimatias besser studiert als Kalaf. Die Wirkung davon starrte ihm aus jedem Aug entgegen; und um sie auf den höchsten Grad zu treiben, endigte er seine Rede mit einer feierlichen Apostrophe an den großen Affen, den er beschwor, sein Volk aus der Ungewißheit zu reißen, und durch irgend ein sichtbares Wunder zu zeigen, unter welcher Farbe ihm seine Verehrung am angenehmsten sei.

Kaum hatte Kalaf die letzten Worte ausgesprochen, so sah man [142] auf einmal den Baum, an dessen Stamm der Thron des Oberbonzen befestiget war, in Flammen eingehüllt; und unter Blitz und Donner 30 stieg vor den bestürzten Augen eines unzähligen Volkes ein großer blauer Affe herab, und setzte sich mit einer so majestätischen Miene auf dem Throne zurechte, daß die Hoffnung Kalafs selbst durch die Geschicklichkeit seines Zöglings übertroffen wurde.

Dieser Streich war, wie man leicht denken kann,entscheidend. Der hartnäckigste Anhänger des feuerfarbnen Affen sah sich gezwungen, dem Zeugnis seiner Sinne gewonnen zu geben. Sogar die Freidenker, welche bei diesem Schauspiele zugegen waren, wurden von dem allgemeinen Schwall mit fortgerissen, und die wenigen, die ihrer Vernunft noch mächtig genug blieben um durch ein so grobes Blendwerk hindurch zu sehen, waren aus kluger Furcht die eifrigsten, der Gottheit des blauen Affen zuzujauchzen. Er wurde mit einem alle Einbildung übersteigenden Triumph in seinen neuen Tempel eingeführt; und der König Azor selbst, der sich aus bloßer Gefälligkeit gegen die Launen seiner Mutter für die Meinung der Blauen erklärt hatte, konnte sich nicht erwehren, die Sultanin an der Spitze des ganzen Hofes zu begleiten, und das erste feierliche Opfer mit seiner Gegenwart zu zieren.

So schrecklich die Nachricht von dieser Begebenheit dem Bonzen Huktus und seinen Freunden war, so zeigte er doch in diesem entscheidenden Augenblicke, daß es ihm nicht an der wichtigsten Eigenschaft mangle, die zum Haupt einer Partei erfordert wird.« Außer vielen andern wohl ausgesonnenen Maßregeln, in deren Erzählung wir Danischmenden nicht folgen können, ließ er sich vornehmlich angelegen sein, den Eindruck, welchen Kalaf mit seinem [143] blauen Affen auf den unaufgeklärten Teil der Nation gemacht hatte, von Grund aus zu vernichten. Seine Anhänger beschuldigten diesen Oberbonzen öffentlich der Zauberei, und eines geheimen Verständnisses mit den bösen Geistern. Dies war in der Tat ein Einfall, der seinem Erfinder Huktus Ehre macht. Hätten die Feuerfarbnen sich begnügt, dem Volke begreiflich zu machen, daß Kalaf ein Betrüger sei, so würden sie ihm wenig dadurch geschadet haben; denn wie schwach ist die Wirkung der Vernunft gegen Schwärmerei und Aberglauben! Aber dreist versichern, daß er die bösen Geister mit in seine Verschwörung gegen den Tsai-Faou gezogen habe, dies hieß ihm wirklich einen gefährlichen Streich beibringen. Eine solche Anklage hatteWahrscheinlichkeit in den Augen des gemeinen Volkes: sie zog seine Neigung zum Wunderbaren auf Huktus‹ Seite; sie gab Gelegenheit zu einer unendlichen Menge unglaublicher Erzählungen, welche man, mitten unter der Versicherung daß sie unglaublich wären, begierig ausbreitete, mit selbst erfundenen Umständen glaublicher zu machen beflissen war, und zuletzt wirklich glaubte. Kurz, Huktus erhielt dadurch seine Absicht so vollkommen, daß der Pöbel in den meisten Provinzen des Reichs entschlossen war, es eher auf das äußerste ankommen zu lassen, als dem Glauben seiner Voreltern und dem feuerfarbnen Affen untreu zu werden.

»Vermutlich« (fährt Danischmend fort) »hätte Kalaf am weisesten gehandelt, wenn er diese Beschuldigungen mit kalter Verachtung angesehen, und durch eine zwar standhafte, aber ruhige und langsame Fortführung seines Plans, die Hindernisse, die er in den Vorurteilen der halben Nation fand, zu besiegen gesucht hätte. Aber sein Hochmut und seine Hitze vertrugen sich mit keinen so gelinden Maßnehmungen. Stolz auf seine Gewalt über den Geist der Sultanin Lili, welche damals noch das Steuerruder führte, und verwegen gemacht durch den schwärmerischen Eifer eines zahlreichen Anhangs, glaubte er stark genug zu sein, die Widerspenstigen durch Zwangsmittel zu unterwerfen. Eine königliche Verordnung, wovon er der Urheber war, erklärte alle diejenigen für Aufrührer, welche sich weigern würden dem blauen Affen zu huldigen. Die Bildnisse des Tsai-Faou wurden aus allen Pagoden weggeschafft, und mit andern von blauem Porzellan ersetzt, wovon in den Vorhöfen der blauen Pagode eine schöne Fabrik zum Vorteil derselben angelegt war. Alle Pagoden wurden mit Bonzen von Kalafs Anhang besetzt, und diejenigen abgedankt, welche lieber ihren Einkünften als dem feuerfarbnen Affen entsagen wollten. Diese Gewalttätigkeiten hatten den Erfolg, [144] den ein weiserer Mann als Kalaf ihm vorher gesagt hatte, ohne Glauben zu finden. Tausend persönliche Beleidigungen, wodurch die Feuerfarbnen täglich zur Rache gereizt wurden, der Übermut, womit die Blauen, als die siegreiche Partei, mit ihren feuerfarbnen Mitbürgern verfuhren, und die öffentliche Verfolgung, welche zuletzt über diese verhängt wurde, erschöpften endlich ihre Geduld. Ganze Provinzen ergriffen die Waffen, und kündigten Azorn den Gehorsam auf, wofern er seinen Untertanen nicht zum wenigsten die Wahl lassen würde, ob sie blau oder feuerfarben sein wollten.

Zum Glück für das Reich Scheschian erfolgte um eben diese Zeit eine Veränderung bei Hofe, wodurchLili von der Staatsverwaltung entfernt, und die schöne Alabanda, eine heimliche Gönnerin der Feuerfarbnen, die Vertraute oder vielmehr die unumschränkte Beherrscherin des Sultans Azor wurde. Dieser günstige Umstand machte den Feuerfarbnen Luft, und verhütete den gänzlichen Ausbruch eines allgemeinen Bürgerkrieges. Alabanda hatte zwar große Lust ihren Freunden eine vollständige Rache an den Blauen zu verschaffen; aber Kalafs Anhang war zu groß, und der Ausgang eines Bürgerkrieges zu ungewiß, als daß ein solcher Anschlag bei den Häuptern der Feuerfarbnen selbst Eingang gefunden hätte. Man begnügte sich also auf beiden Seiten einen Vertrag zu Stande zu bringen, wodurch die Sachen in eine Art von Gleichgewicht gesetzt wurden. Indessen zeigte sich in der Folge, daß der Altertumsforscher Gorgorix der Nation durch seine Entdeckung eine Wunde geschlagen hatte, welche zwar zugeschlossen, aber nicht von Grund aus geheilt werden konnte. Das immer währende Gezänke der Bonzen; der Abscheu, welcher natürlicher Weise beide Parteien gegen einander erfüllen mußte, wenn sie dem Gegenstand ihrer Verehrung von der andern Partei mit Verachtung begegnen sahen; die Beeiferung sogar in den gleichgültigsten Dingen sich von einander zu unterscheiden: alles vereinigte sich, dieBlauen und Feuerfarbnen mit einem unauslöschlichen Hasse gegen einander zu entzünden; mit einem Hasse, der nicht nur das zarte Gewebe der feinern Bande der Natur zerriß, sondern stark genug war, um von Zeit zu Zeit die gröbern Fesseln der bürgerlichen Verhältnisse zu zerbrechen. Er glich einem schleichenden Gifte, welches die ganze Masse des politischen Körpers ansteckte, und alle andre Gebrechen und Zufälle desselben bösartiger machte, als sie an sich selbst gewesen wären. Bei jeder Veranlassung brach das gärende Übel bald in diesem bald in jenem Teile des Reichs aus: und da der Hof weder mächtig genug war, eine von den Parteien gänzlich zu unterdrücken, noch weise genug, ein [145] genaues Gleichgewicht zwischen ihnen zu erhalten; so drückte und verfolgte immer eine die andre wechselsweise, je nachdem sie in einer Provinz oder bei Hofe selbst die Oberhand hatte; und das Unglück der Nation wurde durch diese neue Klasse von Beschwerden, wie schimärisch auch die erste Quelle derselben war, so vollkommen gemacht, daß die Scheschianer sich endlich zum zweiten Male in der unseligen Lage befanden, das Ende ihres Elendes nur von einer gewaltsamen Staatsveränderung zu erwarten.«

Unter den Anmerkungen, womit der Sultan Gebal diese Erzählung etlichemal unterbrach, hat uns nur Eine wichtig genug geschienen, bemerkt zu werden. Er zweifelt nämlich, wie es möglich gewesen, daß eine Nation, die man uns (wenigstens von den Zeiten des Sultans Ogulan) in einem Zustande von Aufklärung und Verfeinerung vorstellt, dumm genug habe sein können, sich zum Opfer eines so albernen antiquarischen Streites machen zu lassen?

Die Auflösung, welche Danischmend von diesem Problem gibt, verdient wenigstens gehört zu werden. »Es ist wirklich eine klägliche Sache«, spricht er, »Geschöpfe unsrer Gattung ihres besten Vorzugs vor den übrigen Tieren auf eine so demütigende Art beraubt zu sehen. Und gleichwohl habe ich bisher von den Scheschianern nichts gesagt, was nicht, unter gewissen Voraussetzungen, so glaublich wäre als irgend eine andre natürlich Begebenheit. Diese Voraussetzungen sind zum Exempel – daß kein gewöhnlicheresPhänomen in der Welt ist, als Leute mit Vernunft rasen zu sehen; oder auch, zu sehen, daß sie bei tausend Gelegenheiten vernünftig, und in einer einzigen Sache unsinnig sind; – daß man zu allen Zeiten und auf allen Teilen dieses Erdenrundes sehr alberne Meinungen und sehr unsinnige Gebräuche im Schwange gesehen hat; – daß der Aberglaube, wenn er in Zeiten der Unwissenheit und der rohen Einfalt sich des Gehirns eines Volkes bemächtiget und etliche Jahrhunderte Zeit gehabt hat sich fest zu setzen, durch eine stufenweise zunehmende Aufheiterung zwar geschwächt, aber schwerlich anders als nach Verfluß eines langen Zeitraums, und durch eine ununterbrochene Fortdauer der Ursachen welche seinen Untergang befördern, so gänzlich vernichtet werden kann, daß die Überbleibsel davon nicht zuweilen in Gärung geraten, und wunderliche, auch wohl bösartige Zufälle veranlassen sollten. Überdies«, fährt er fort, »würde mir nichts leichter sein, als einen jeden Teil meiner Erzählung durch historische Beispiele dessen, was unter den abgöttischen Völkern des Erdbodens, und zum Teil unter den Moslemim selbst, vorgegangen ist, zu erläutern. Ich sehe nicht, warum [146] die Scheschianer wegen ihrer Verehrung eines feuerfarbnen Affen mehr Vorwürfe verdienen sollten, als die weisen Ägypter wegen der Anbetung des Stiers Apis, und so vieler andrer Tiere, worunter auch Affen und Meerkatzen waren; und der Streit über die Frage, ob der große Affe blau oder feuerfarben sei, scheint mir jenen wohl wert zu sein, den die Stadt Oxyrynchus mit der StadtKynopolis, ihrer Nachbarin, über die Gottheit desAnubis und ich weiß nicht was für eines Meerfisches mit spitziger Schnauze, aus dem Geschlechte der Rochen, geführt haben soll, wenn wir einem der weisesten Männer des alten Gräciens glauben dürfen. Dieser Fisch, welcher der Schutzgott der Oxyrynchiten war, wurde von den Kynopoliten als ein bloßer Fisch behandelt, und also ohne Bedenken gegessen. Die Einwohner von Oxyrynchus, die dies natürlicher Weise sehr übel nahmen, glaubten ihren Gott nicht besser rächen zu können, als indem sie an den Hunden, welche zu Kynopolis heilig waren und auf gemeiner Stadt Unkosten unterhalten wurden, das Wiedervergeltungsrecht ausübten. Es entstand darüber ein so blutiger Krieg zwischen diesen beiden ägyptischen Städten, daß die Römer sich endlich genötigt sahen, die Wütenden mit Gewalt aus einander zu reißen. 31 Im übrigen läßt sich vermuten, daß der [147] denkende Teil der Nation, das ist (nach der billigsten Berechnung) unter tausend Einer, den ganzen Streit eben so ungereimt gefunden haben werde als wir. Hingegen ist nicht weniger zu glauben, daß die meisten von diesem tausendsten Teile sich darum nicht weniger für einen von beiden Affen interessierten. Es ist mit einem alten Aberglauben eben so wie mit andern alten und unvernünftigen Gewohnheiten beschaffen. Man sieht die Torheit davon ein, man lacht darüber, man beweist sich selbst mit vielen Gründen, daß es Mißbräuche sind: aber gleichwohl beobachtet man sie nicht allein um der alten Gewohnheit willen; sondern man rechnet es noch demjenigen als ein Verbrechen an, der sich die Freiheit nehmen wollte davon abzugeben. Privatvorteile und Leidenschaften können wohl gar die Ursache sein, daß wir solche Mißbräuche, bei der völligsten Überzeugung daß es Mißbräuche sind, mit Eifer und Hitze verfechten. Man unterscheidet in solchen Fällen Theorie und Ausübung. Man behauptet einennützlichen Mißbrauch, und lacht bei sich selbst der Toren, welche betrogen zu werden verdienen, weil sie betrogen werden wollen

Wir schließen diesen Auszug mit den eigenen Worten des weisen Danischmend, und mit einer Betrachtung, die wir von Herzen unterschreiben. »Die Ränke und Kunstgriffe«, spricht er, »welche von beiden Parteien angewandt wurden, einander zu schwächen und zu unterdrücken, – einander wechselsweise das Vertrauen des Königs und das Ruder des Staates aus den Händen zu winden, – oder sich dem Hofe furchtbar zu machen, und allen seinen Unternehmungen, unter dem Vorwande des gemeinen Besten, unübersteigliche Hindernisse in den Weg zu legen; – die Künste, welche gebraucht wurden, tausend streitende Privatvorteile mit dem Interesse der Parteien in einen wirklichen oder doch anscheinenden Zusammenhang zu bringen; – der schändliche Mißbrauch, den man zu Beförderung aller dieser Absichten mit den ehrwürdigen Namen der Religion, des [148] königlichen Ansehens und des allgemeinen Besten trieb; – die unzähligen Auftritte von Ungerechtigkeit, Betrug, Verräterei, Undankbarkeit, Raubsucht, Giftmischerei, usw. welche unter diesen ehrwürdigen Masken gespielt wurden: alles dies würde überflüssigen Stoff zu einem ungeheuern Geschichtbuche geben, welches zu lesen nur die größten Verbrecher verdammt zu werden verdienen könnten. Unglücklicher Weise ist die Geschichte der polizierten Völker, wenn man ihre Kriege (einen andern Schauplatz von Abscheulichkeiten) abrechnet, beinahe nichts anders als dies. Für einen Menschen, der an den Schicksalen seiner Gattung wahren Anteil nimmt, ist es Pein, bei diesen ekelhaften und grauenvollen Gemälden zu verweilen. Das Herz des Menschenfreundes schaudert vor ihnen zurück. Ängstlich sieht er sich nach Szenen von Unschuld und Ruhe, nach den Hütten der Weisen und Tugendhaften, nach Menschen die dieses Namens würdig sind, um; und wenn er in den Jahrbüchern des menschlichen Geschlechtes nicht findet was ihn befriedigen kann 32, flüchtet er lieber in erdichtete Welten, zu schönen Ideen, [149] welche, so wenig auch ihr Urbild unter dem Monde zu suchen sein mag, immer Wirklichkeit genug für sein Herz haben, weil sie ihn (wenigstens so lange bis er durch Bedürfnisse oder unangenehme Gefühle in diese Welt zurück gezogen wird) in einen angenehmen Traum von Glückseligkeit versetzen, – oder, richtiger zu reden, weil sie ihn mit dem innigsten Gefühle durchdringen, daß nur die Augenblicke, worin wir weise und gut sind, nur die Augenblicke, die wir der Ausübung einer edlen Handlung, oder der Betrachtung der Natur und der Erforschung ihres großen Plans, ihrer weisen Gesetze und ihrer wohltätigen Absichten, – oder der Freundschaft und Liebe, und dem weisen Genusse der schuldlosen Freuden des Lebens widmen, – daß nur diese Augenblicke gezählt zu werden verdienen, wenn die Frage ist, wie lange wir gelebt haben

Der sinesische Herausgeber dieser wahrhaften Geschichte sagt uns, daß der Sultan über dem letzten Teile der Rede des weisen Danischmend eingeschlafen, und dieser also genötigt worden sei, mit weiterem Moralisieren einzuhalten; ein Umstand, der uns, wie er vermutet, verschiedene schöne Betrachtungen entzogen hat, welche der indostanische Philosoph über diesen Teil der Geschichte von Scheschian noch ge macht haben könnte.

[150] Des folgenden Abends befahl ihm der Sultan, über den Rest der Regierung des unglücklichen Azors so schnell als nur immer möglich sein würde, hinweg zu glitschen. »Es gibt« (sprach er) »gewisse Leute, diegar zu dumm sind, wie sogar mein guter Oheim Schach-Baham irgendwo angemerkt hat; und gewiß ist dieser Azor einer aus dieser Klasse. Man kann nicht bald genug mit ihm fertig sein.«

11
11.

Danischmend setzte also die Geschichte der Regierung Azors folgender Maßen fort.

»Die kläglichste unter allen den Schwachheiten, welche den Ruhm des guten Königs Azor verdunkeln, war seinem Alter aufbehalten: eine Schwachheit, welche desto verführerischer ist, weil sie einer Tugend ähnlich sieht; desto schädlicher, weil sie Böses ausguter Absicht tut, und desto schwerer zu vermeiden, da selbst der Weiseste aller morgenländischen Könige nicht weise genug war, sich ihrer zu erwehren.«

»Dies nennt man, denke ich, ein Rätsel«, sagte Schach-Gebal. »Ich bilde mir eben nicht ein, in der Kunst Rätsel aufzulösen dem Sultan, dessen du eben erwähntest, gleich zu kommen: aber diesmal wollt ich doch raten, daß die Schwachheit des großen Azors, die du uns noch aufbehalten hast, entweder Bigotterie ist, oder doch etwas das ihr sehr ähnlich sieht. Hab ich es getroffen, Doktor?«

»Zum Erstaunen«, erwiderte Danischmend, indem er in seinen Ton und in seine Gesichtsmuskeln alle die Bewunderung brachte, die er der Scharfsinnigkeit seines gebietenden Herren schuldig war. »Es waren nun zwanzig Jahre«, fuhr er fort, »seitdem die schöneAlabanda eine unbegrenzte Gewalt über das Herz, über den Hof und über die Schatzkammer des Sultans von Scheschian usurpierte. Gewohnheit und Sättigung hatten ihre Bezauberung endlich aufgelöst; und Alabanda sah die Zeit kommen, wo sie sich in der traurigen Notwendigkeit befand, zuzugeben, entweder daß Azor aufgehört habe empfindlich, oder daß sie selbst aufgehört habe reizend zu sein.«

»Als ob nicht beides zugleich hätte Platz haben können«, sagte die schöne Nurmahal.

»Wenigstens«, versetzte der Doktor, »war es natürlicher an ihr, das erste zu glauben.«

»Und an Azorn das andre«, sagte der Sultan mit einem spitzfündigen Lächeln.

[151] »Wie dem auch sein mochte«, fuhr Danischmend fort, »die gute Dame beging den Fehler, einen Zufall, den man nach Verfluß von zwanzig Jahren einen von den natürlichsten in der Welt nennen kann, für eine unerträgliche Beleidigung anzusehen. So unbillig dies scheinen mag, so unbesonnen war es, den guten Sultan, welcher wirklich ganz unschuldig an der Sache war, so oft er lange Weile hatte (und dies war sehr oft), mit Vorwürfen von Untreue und Undankbarkeit, und mit allen tragikomischen Wirkungen der Eifersucht und bösen Laune zu verfolgen. Denn was konnte sie anders von einem solchen Betragen erwarten, als – gerade das, was wirklich erfolgte? nämlich, daß er die alte Abgöttin seiner Seele, die er seit geraumer Zeit kaum noch liebenswürdig fand, in kurzem unerträglich finden mußte. Von diesem Augenblick an hatte die Regierung der schönen Alabanda ihr Ziel erreicht. Azor suchte nun im Wechsel eine Glückseligkeit, an welche sein Herz gewöhnt war: er zerstreute sich dadurch eine Zeit lang; aber die Befriedigung fand er nicht, die ein reizbares Herz von den Sinnen, oder von den launischen Einfällen einer herum flatternden Phantasie vergebens erwartet. Er wurde also dieser Wanderungen des Herzens um so viel eher überdrüssig, da ihn Lili und Alabanda angewöhnt hatten, von weiblichen Köpfen, aber von den feinsten und witzigsten weiblichen Köpfen, regiert zu werden.

Die Freiheit, worin die gefälligen Schönen seines Hofes ihn wider seinen und ihren Willen ließen, machte ihm sein Dasein zur beschwerlichsten Last. Mehr als einmal versuchte er's, die schöne Alabanda wieder so reizend und zauberisch zu finden, als sie es gewesen war: aber der unglückliche Erfolg seiner Bemühungen überzeugte ihn zuletzt, daß sie wirklich aufgehört haben müsse es zu sein; und wozu konnt es ihm helfen, das Unmögliche bewerkstelligen zu wollen?

In dieser Verfassung befand sich Azor, als es der persischen Tänzerin, deren bereits in dieser Geschichte Erwähnung geschehen ist, gelang, ihn die Erfahrung machen zu lassen, daß er den ganzen Zirkel der Torheiten, zu welchen ihn die Schwäche seines Herzens fähig machte, noch nicht durchlaufen habe. Diese Kreatur hatte durch ihre Reizungen und durch die Freigebigkeit ihrer Verehrer Mittel gefunden, die Flecken ihres vormaligen Standes auszulöschen, und nach und nach sich bis zum Rang einer Vertrauten der Sultanin Alabanda empor zu schwingen. In dieser Stellung fand Gulnaze (so hieß die verwandelte Tänzerin) häufige Gelegenheiten, die Reizungen ihres Witzes und ihrer äußerst angenehmen Unterhaltung vor den Augen [152] des Sultans auszulegen; Reizungen des Geistes, welche mächtig genug waren, in ihrer Gesellschaft vergessen zu machen, daß ihre ersten Liebhaber bereits ehrwürdige Graubärte vorstellten. Nicht als ob sie nicht noch immer liebenswürdig gewesen wäre; aber, nachdem sie sich einmal unter der Maske der Freundschaft in Azors Herz hinein gestohlen, würde sie es auch mit der Hälfte ihrer noch übrigen Annehmlichkeiten in den Augen eines so reizbaren Potentaten gewesen sein. Kurz, Azor, der ohne sie die lange Weile, die ihm Alabanda und alle andre Schönen seines Hofes verursachten, unausstehlich gefunden haben würde, machte auf einmal die Entdeckung, daß er nicht ohne Gulnaze leben könne. Unvermerkt hatte sie sich aller Zugänge seines Herzens bemächtiget; und eben so unmerklich wurde sie aus einer Vertrauten die unumschränkteste Beherrscherin seiner Neigungen. Keine ihrer Vorgängerinnen hatte so viel Gewalt über ihn gehabt; aber keine hatte ihn auch so wenig fühlen lassen, daß er Fesseln trug. Alabanda hatte ihn durch die Zauberkraft ihrer Reizungen beherrscht: Gulnaze regierte ihn durch die vollkommene Kenntnis der schwachen Seite seines Kopfes und seines Herzens. Was Wunder, daß ihre Herrschaft vollständig und dauerhaft war!«

»Wohl angemerkt, Danischmend!« flüsterte Nurmahal lächelnd.

»Finden Sie das?« sagte der Sultan, indem er sie auf die Schulter klopfte.

»Der Eifer, den Gulnaze vor mehr als zwanzig Jahren, da ihr Einfluß nur noch mittelbar war, für die Sache des blauen Affen gezeigt hatte, verdoppelte sich itzt, da das königliche Ansehen in ihren Händen lag. Die Blauen faßten neuen Mut, und glaubten zu den ausschweifendsten Hoffnungen berechtigt zu sein. Was die Neigung der Favoritin zu der neuen Sekte am stärksten unterhielt, war der schlaue Einfall, den ein Ya-faou von den Freunden des Oberbonzen Kalaf gehabt hatte, eine Art von religiösen Festen zu erfinden, wobei die Sinne zum Behuf einer fanatischen Andacht auf die angenehmste Weise unterhalten wurden. Die Einführung derselben war der letzte tödliche Streich, welchen Kalaf den Feuerfarbnen beibrachte, deren Andachtsübungen mehr Finstres und Schreckendes als Angenehmes oder Herzrührendes hatten. Die Anzahl der Blauen vermehrte sich nun täglich; Azor selbst fand immer mehr Geschmack an den Andachten seiner Geliebten; und es währte nicht lange, so fielen alle andre Arten von Ergetzungen. Man lud einander auf eine Partie in der blauen Pagode ein, wie vormals zu einer Lustreise aufs Land oder zu einem Maskenball. Unvermerkt wurde ein gewisser Schnitt von Devotion ein unterscheidendes Merkmal der Hofleute, [153] und jedermann, wer an Erziehung und Lebensart Anspruch machte, bestrebte sich, sie zu kopieren so gut er konnte. Wäre dies die schlimmste Wirkung des Einflusses der schönen und devoten Gulnaze gewesen, so hätte man Ursache gehabt von Glück zu sagen; die Erheiterung des scheschianischen Aberglaubens möchte den Übergang zu einer gründlichen Verbesserung vielmehr befördert als gehindert haben. Aber die Lebhaftigkeit ihrer Leidenschaften erlaubte ihr nicht der Zeit zu überlassen, was sie durch Zwangsmittel in einemAugenblicke zu bewerkstelligen hoffte. Nicht zufrieden, die Feuerfarbnen so weit herunter gebracht zu haben, daß sie sich glücklich genug schätzten, wenn sie nur geduldet wurden, tat sie dem Tsao-Faou ein feierliches Gelübde, nicht eher zu ruhen, bis sie Scheschian von allen Anhängern seines Nebenbuhlers gereinigt haben würde. Ein königlicher Befehl diente zum Vorwand, alle, welche sich weigerten dem blauen Affen zu opfern, als Ungehorsame, und bei dem geringsten Widerstand als Aufrührer, mit einer Härte zu bestrafen, welche endlich den Blauen selbst anstößig wurde. Grausamkeiten, wovor der Menschlichkeit grauet, und wovon zu wünschen wäre daß sie ohne Beispiele sein möchten, wurden, ohne Azors Wissen, in seinem Namen ausgeübt, und sind das einzige was die letzten Jahre seiner Regierung der Vergessenheit entzogen hat; bis er endlich, beladen mit dem allgemeinen Hasse seines Volkes, zu spät für seinen Ruhm vom Schauplatz abtrat. Ein denkwürdiges Beispiel, daß ein Fürst mit allen Eigenschaften eines liebenswürdigen Privatmannes, mit wenig Lastern und vielen Tugenden, durch den bloßen Mangel fürstlicher Eigenschaften so viel Böses stiften kann als der greulichste Tyrann. Azor war weder ehrgeizig noch begierig nach dem Eigentum seiner Untertanen, weder launisch, noch hartherzig, noch grausam. Weit entfernt zu verlangen, daß seine unüberlegtesten Einfälle für Gesetze und Göttersprüche gelten sollten, oder, wie viele seines Standes, sich einzubilden, daß Scheschian bloß um seinetwillen aus dem Chaos hervorgegangen sei, und seine Untertanen für eben so viele Sklaven anzusehen, deren Glück oder Unglück, Sein oder Nichtsein, nur in so fern als es sich auf seinen Vorteil beziehe, in Betrachtung komme, – war er der leutseligste, der mitleidigste und wohltätigste Fürst seiner Zeit. Unwissenheit in den Pflichten seines Standes, Unwissenheit in der Kunst zu regieren, wollüstige Trägheit, und allzu großes Vertrauen zu seinen Günstlingen, die er als seine Wohltäter ansah, weil sie ihm die Last der Regierung abnahmen, Fehler der Erziehung, Schwachheiten des Herzens und des Temperaments, nicht Laster waren es, [154] die ihm die Liebe seiner Völker und die Hochachtung der Nachwelt entzogen haben. Seine größten Fehler waren, daß er mit eignen Augen bloß durch fremde sah; daß seine Ohren nur angenehme Dinge hören wollten; daß er nur sprach was man ihm auf die Zunge legte; und, wenn er auch, entweder durch die natürliche Schärfe seines Geistes, oder durch die Bemühungen irgend eines ehrlichen Narren, der seinen Kopf wagte ihm die Augen zu öffnen, zuweilen eine gute Entschließung faßte, – zu viel Mißtrauen gegen seine eigenen Einsichten und zu viel Gefälligkeit für seine Günstlinge hatte, um seiner Entschließung treu zu bleiben. Indessen muß man gestehen, daß auch das Schicksal nicht ohne alle Schuld an den Fehlern seiner Regierung war. Die Gebrechen und Untugenden Azors würden wenig geschadet haben, wenn es lauter weise und tugendhafte Personen um ihn her versammelt hätte. Er würde solche Leute, wenn sie übrigens eben so witzig und unterhaltend gewesen wären als seine Günstlinge, eben so wert gehalten haben, sich ihnen eben so gänzlich überlassen haben, und Scheschian würde glücklich gewesen sein. Aber freilich zeigt uns die Geschichte des ganzen Erdkreises kein einziges Beispiel, daß ein schwacher und untätiger Fürst, durch einen Schlag mit einer Zauberrute, bei seinem Erwachen auf einmal von lauter Walsinghams und Süllys umgeben gewesen wäre, und wir sind wohl nicht berechtigt, ein solches Wunder vom Schicksal zu erwarten.«


Ende des ersten Teils [155] [157]

Zweiter Teil

1
1.

»Herr Danischmend, ein paar Worte, ehe wir weiter gehen«, sagte der Sultan. »Wenn es ohne der historischen Wahrheit Gewalt anzutun, geschehen könnte, daß du uns auf diesen Azor, der (unter uns!) die Erlaubnis schwach zu sein ein wenig zu sehr mißbraucht, diesen Abend einen guten König gäbest, so würdest du mir keinen kleinen Gefallen erweisen. Ich weiß wohl, die Geschichte soll den Fürsten nicht schmeicheln; und dies aus einem gedoppelten Grunde: erstens, weil es genug ist, daß uns in unserm Leben geschmeichelt wird; und dann, weil die Wahrheit, die man nach unserm Tode von uns sagt, uns nicht mehr schaden, der Welt hingegen nützen kann. Aber ich möchte doch auch nicht, daß es so heraus käme, als ob ich mir alle Abende in meinem Schlafzimmer eineSatire auf die Sultanen von Scheschian machen ließe. Ich erinnere mich irgendwo gelesen zu haben, ein Mensch sollte nichts, was einen Menschen angeht, für fremd ansehen; und ich sehe nicht ab, warum wir Sultanen uns nicht in dem nämlichen Falle befinden sollten. Mit Einem Worte, ich interessiere mich für die Sache, und dies ist, denke ich, genug.«

»Ihre Hoheit befehlen also daß ich den Sultan Isfandiar überhüpfe?« fragte Danischmend –

»Eine weise Frage!« antwortete Schach-Gebal. »Ich muß doch wohl zuvor wissen, wer Sultan Isfandiar war, eh ich sie beantworten kann!«

»Er war Azors unmittelbarer Nachfolger, sein einziger Sohn von der schönen Alabanda, und einer von den scheschianischen Sultanen, deren Regierung einer förmlichen Satire auf böse Fürsten ähnlich sieht.«

»Er war also noch schlimmer als Azor?«

»Um Vergebung, Sire! Azor war in der Tat kein böser Fürst; er war nur schwach. Isfandiar hingegen« – –

»Gut, gut«, fiel ihm der Sultan ins Wort: »wir wollen immerhin Bekanntschaft mit ihm machen, wenn es auch nur wäre, weil er ein [157] Sohn der schönen Alabanda war, die ich, bei allem Bösen was du uns von ihr sagtest, dennoch sehr liebenswürdig finde. Und aus eben diesem Grunde ersuch ich dich, den armen Isfandiar so leicht davon kommen zu lassen als du immer kannst.«

»Wofern« (sagte Danischmend) »unter dem WorteSatire eine Rede oder Schrift verstanden wird, worin man zur Absicht hat jemanden verhaßt oder lächerlich zu machen: so verhüte der Himmel, daß mir jemals der Gedanke einfalle, eine Satire auf Fürsten zu machen, und wenn es auch nur über den König Tonos Konkoleros, oder einen der alten Pharaonen in Ägypten wäre. Aber unglücklicher Weise hat es unter den Großen zu allen Zeiten einige gegeben, deren Leben eine Satire auf sie selbst war; ich will sagen, die sich durch ihre Torheiten verächtlich und durch den Mißbrauch ihrer Gewalt verhaßt gemacht haben, ohne daß der Biograph, der den Auftrag erhielt ihre Geschichte zu erzählen, die mindeste Schuld an der Sache hatte. Ich besorge, der Sultan Isfandiar war in diesem Falle, und daher« – –

»Immerhin!« rief der Sultan: »das Böse, das du von ihm sagen wirst, bleibt unter uns. Erinnere dich nur, daß ich unnötige Vorreden hasse.«

»Sire« (fing Danischmend an), »Isfandiar war, wie gesagt, Azors und Alabandens einziger Sohn, und der jüngste von verschiedenen, welche seine Sultaninnen ihm geboren hatten. Er wurde, ungeachtet der Entfernung seiner Mutter von dem Herzen des Königes, bei Hof erzogen – wie die scheschianischen Prinzen damals erzogen zu werden pflegten.«

»Dies ist gerade, was wir wissen wollen«, sagte Schach-Gebal.

»Er hatte die geschicktesten Lehrmeister in allen den Wissenschaften und Künsten, welche sich (wie man zu sagen pflegt) für einen Prinzen schicken. Er lernte von der Mathematik so viel, daß er ein Dreieck kunstmäßig von einem Viereck unterscheiden konnte. Er wußte, zum Beweise seiner geographischen Kenntnisse, die Namen aller Flüsse, Seen, Berge, Provinzen und Städte von Scheschian herzusagen; und, um eine Probe seiner Stärke in der Philosophie zu geben, verteidigte er in seinem dreizehnten Jahre öffentlich einen sehr tiefsinnigen Beweis, daß ein Ding – ein Ding ist, und so lang und so fern als es ist was es ist, nicht zugleich etwas andres sein kann als es ist. Sein Lehrer in der Staatswissenschaft hatte nichts Angelegeners, als ihm die ausgebreitetste Kenntnis von dem Umfang und den Rechten derhöchsten Gewalt, und von den unzählbaren Mitteln und Wegen, wie man sich mit guter Art des Eigentums [158] seiner Untertanen bemächtigen kann, beizubringen. Hingegen nahm sich sein Lehrer in der Moral sehr in Acht, die Zärtlichkeit seines Ohres durch Erwähnung des unangenehmen Wortes Pflichten zu beleidigen. Er bildete sich ein, es vortrefflich gemacht zu haben, wenn er dem Prinzen, in zierlich gedrehten Perioden oder durch rührend ausgemalte Beispiele,Gerechtigkeit und Wohltätigkeit als die höchsten Tugenden eines Fürsten vorschilderte. Aber der Ton, worin er von diesen Tugenden schwatzte, das unbesonnene und übertriebene Lob, womit er einige Fürsten wegen ziemlich zweideutiger Handlungen dieser Art unter die Götter versetzte, mußte natürlicher Weise eine verkehrte Wirkung bei seinem Untergebenen tun. Der junge Isfandiar machte sich von Gerechtigkeit und Wohltätigkeit einen Begriff, der für das Glück seiner künftigen Untertanen gänzlich verloren ging. Er glaubte, die Ausübung dieser Tugenden hange bloß von seiner Willkür ab; und er mutmaßte auch nicht von ferne, daß sie allein durch ihre unzertrennliche Verbindung zu Tugenden werden, und daß die unermüdete Bestrebung, beide in dem ganzen Umfang des Regentenamtes auszuüben, eine so wesentliche Fürstenpflicht sei, daß derjenige, welcher sie funfzig Jahre lang in der höchsten Vollkommenheit ausgeübt hätte, beim Schlusse seines Lebens kein andres Lob verdient hätte, als das Zeugnis seine Schuldigkeit getan zu haben. Kurz, der höfische Mentor hatte keinen Begriff davon, daß man einem jungen Fürsten die Ausübung aller Tugenden, von welchen das Wohl seiner Untergebenen und die möglichste Vollkommenheit seines Staates abhängt, unter der Gestalt von Verbindlichkeiten vorstellen müsse, deren Forderungen eben so dringend als unverletzlich sind; es sei nun, daß man sie von den Gesetzen des höchsten Wesens, als des Königs über die Könige, oder von einem gesellschaftlichen Vertrag ableite, vermöge dessen derjenige, der die meisten Rechte zu haben scheint, gerade der ist, der die meisten Pflichten hat.«

»Ohne Unterbrechung, Herr Doktor«, sagte der Sultan: »ich sollte doch denken, der Sittenlehrer des jungen Prinzen Isfandiar habe nicht so ganz unrecht gehabt, ihm das, was ihr die Pflichten der Fürsten nennt, unter einer gefälligen Gestalt zu zeigen. Das Wort Pflicht ist ein hartes Wort: es hat für die Untertanen selbst einen widrigen Ton; wie sollten wir andere unsere Ohren daran gewöhnen können? Wir werden die Tugend immer liebenswürdiger finden, wenn unsere Neigung zu ihr freiwillig ist, als wenn sie uns mit Gewalt aufgebürdet wird.«

[159] »Um Vergebung, gnädigster Herr«, erwiderte der freimütige und unhöfische Danischmend. »Es gibt ein weniger gefährliches Mittel uns unsere Pflichten angenehm zu machen. Anstatt uns zur Tugend durch Lobeserhebungen anzuspornen, welche die Ausübung unserer Schuldigkeit zu einem Gegenstande der Ruhmsucht und Eitelkeit machen, würde besser getan sein, uns zu überzeugen, daß die Vollziehung unsrer Pflichten mit den unmittelbarsten und wichtigsten Vorteilen und mit dem reinsten Vergnügen verbunden ist. Immerhin mag auch des Ruhmes, als des natürlichen Begleiters guter Taten, erwähnt werden. Aber zu bedauern ist der Fürst, dessen Herz nicht empfindsam genug ist, das Vertrauen und die Liebe seines Volkes allen Lobgedichten, Ehrendenkmälern, Bildsäulen, Schaumünzen und Inschriften vorzuziehen, womit Dankbarkeit oder Schmeichelei seine Taten verewigen können. Wie wenig wahre Befriedigung können ihm diese geben! denn wie oft sind sie nicht an Tyrannen und namenlose Könige verschwendet worden!«

»Danischmend hat nicht ganz unrecht«, sagte der Sultan, der diesen Abend in der Laune war, seinen Philosophen schwatzen zu hören: »der Moralist des Prinzen Isfandiar war, wie es scheint, ein zu guter Höfling, um ein guter Sittenlehrer zu sein.«

»Gleichwohl« (fuhr Danischmend fort) »war sein Lehrer in der Geschichte noch schlimmer, wiewohl unstreitig der gelehrteste Mann in seiner Art, den man im ganzen Reiche hatte finden können. Die Geschichte war das Lieblingsstudium des Prinzen, und wirklich erwarb er sich eine Fertigkeit darin, womit er bei tausend Gelegenheiten sich und seinem Lehrer Ehre machte. Dieser erhielt zur Belohnung die Stelle eines königlichen Geschichtschreibers mit einer großen Pension. Konnte der gute Sultan Azor sich einfallen lassen, daß der Mann, den er so edel belohnte, die Oberstelle auf einer Ruderbank verdient habe? Und doch war nichts gewisser.

Das Amt eines Lehrers der Geschichte bei einem jungen Fürsten erfodert einen Mann, der mit der wärmsten Rechtschaffenheit einen tief sehenden und viel umfassenden Blick, und das reinste sittliche Gefühl mit der scharfsinnigsten Unterscheidungskraft vereiniget. Keine geringern Eigenschaften setzt die vollkommene Gerechtigkeit voraus, welche er in Zeichnung der Charakter und in Beurteilung der Handlungen, sowohl aus dem sittlichen als politischen Gesichtspunkt, auszuüben hat. Er muß (wenn es mir erlaubt ist, mich durch ein Beispiel verständlicher zu machen) in Alexandern einen dieser außerordentlichen Sterblichen erkennen, welche die Natur zu Ausführung ungewöhnlich großer Dinge gebildet hat;[160] welche, wie die Götter Homers, eine Mittelklasse zwischen Menschen und höhern Wesen ausmachen, und daher in ihren Lastern wie in ihren Tugenden mehr als gewöhnliche Menschen sind. Er muß jedem seiner Vorzüge, jeder seiner Tugenden ihr Recht widerfahren lassen, ohne seiner Laster um jener willen zu schonen, oder die Schönheit von jenen um dieser willen zu mißkennen. Er muß fähig sein, in dem großen Entwurfe dieses wohltätigen Eroberers einen ganz andern Geist zu entdecken, als derjenige war, der dieAttilas antrieb den Erdboden zu verheeren. Er muß einem Manne, der zum Beherrscher der Welt geboren war, 33 aus der erhabenen Leidenschaft, große Taten zu tun, kein Verbrechen machen; einer Leidenschaft, welche an einem kleineren Geist Ehrgeiz gewesen wäre, aber bei jenem der angeborne Enthusiasmus einer Heldenseele war. Aber weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß der Sieg bei Arbela nicht mehr war, als was zwanzig andre griechische Feldherren eben so gut hätten bewerkstelligen können als Alexander; und daß hingegen eine fast übermenschliche Größe der Seele dazu erfodert wurde, den Arzneibecher aus der Hand seines Leibarztes zu nehmen und mit ruhig heiterm Lächeln auszutrinken, während er demselben mit der andern Hand den Brief hinreichte, worin ihm entdeckt wurde, daß dieser Arzt durch Versprechungen, welche einen Heiligen verführen könnten, bestochen sei, ihm Gift zu geben! Weh ihm, wenn er nicht empfindet, daß Alexander, da er lieber brennenden Durst leiden, als etliche seiner Soldaten des Wassers, welches sie ihren schmachtenden Kindern in ihren Helmen zutrugen, berauben wollte, ein größerer Mann war, als da er, von Feldherren und Königen umgeben, zum ersten Mal vom Thronhimmel der persischen Sultanen auf das besiegte Asien herab sah; oder wenn er nicht empfindet, daß der überwundene Darius, in dem Augenblicke, da er, gerührt von dem edlen Betragen seines Siegers gegen seine Gemahlin und Kinder, niemand als Alexandern für würdig erklärte den Thron des Cyrus zu besteigen, – größer als Alexander war; – Alexander hingegen in dem Augenblicke, da er, berauscht von der wollüstigen Pracht der persischen Könige, beim Eintritt in das innere Gezelt des Darius ausrief: Dies nenn ich König sein! von der Hoheit eines Halbgottes zum gemeinen Erdensohn herunter sank!

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Weit entfernt von dieser Feinheit und Wärme des sittlichen Gefühls, urteilte der gelehrte Mann, der den jungen Isfandiar durch die Geschichte zu einem Könige bilden sollte, von den Großen und ihren Handlungen nach keiner bessern Regel, als nach dem Schein den sie von sich warfen, und (in allen Fällen, wo er keine besondere Ursache hatte zu loben, was er nach seinen Grundsätzen hätte tadeln müssen) nach denVorurteilen der übel zusammen hängenden, schwärmerischen, in einigen Stücken überspannten, in andern allzu schlaffen Sittenlehre, an welche er in den Schulen der Bonzen auf eine mechanische Weise angewöhnt worden war. Jeder Eroberer hieß ihm ein Held, jeder freigebige Fürst großmütig, jeder schwache Fürst gut. Vornehmlich machte er sich zur Pflicht, dem Prinzen von den Fürsten seines Stammes immer die vorteilhaftesten Begriffe zu geben, wiewohl es größten Teils auf Unkosten der Wahrheit geschehen mußte. Er malte alles ins Schöne; er vergrößerte ihre guten oder erträglichen Eigenschaften, stellte ihre Laster in den tiefsten Schatten, und entschuldigte durch sophistische Spitzfindigkeiten was sich nicht verbergen ließ. Kurz, er behandelte ihre Geschichte nicht anders, als ob die Begriffe vom Guten und Bösen, sobald sie auf einen Großen angewendet werden, willkürlich würden, oder als ob der königliche Mantel durch eine talismanische Kraft jedes Laster, das er bedeckt, in eine schöne Eigenschaft verwandeln könnte. – ›Man muß gestehen‹ (pflegte er von einem offenbaren Tyrannen, oder von einem in Üppigkeit versunkenen Wollüstling zu sagen), ›daß dieser große Sultan in einigen Handlungen seines Lebens die Strenge, welche durch die Umstände seiner Zeiten notwendig gemacht wurde, etwas weiter getrieben hat als zu wünschen war‹ – oder: ›Es ist nicht zu leugnen, daß seine Neigung zu den Ergetzungen nicht immer in den Schranken der weisesten Mäßigung blieb; aber diese Schwachheiten‹ (setzte er hinzu) ›wurden durch so viele große Eigenschaften vergütet, daß es eben so unbillig als unehrerbietig wäre, sich dabei aufzuhalten.‹

Der junge Prinz hätte nicht so schlau sein müssen als er war, wenn er sich nicht einige kleine Grundsätze hieraus gezogen hätte, welche das wenige Gute, das der Unterricht seines Sittenlehrers in seinem Gemüte übrig gelassen hatte, vollends vernichteten; zum Beispiel: Daß die Laster eines Fürsten ein Gegenstand seien, von welchem man mit Ehrerbietung reden müsse; daß ein Fürst um so weniger vonnöten habe seinen schlimmen Neigungen Gewalt anzutun, weil es immer in seiner Macht stehe, das Böse, das er tut, wieder zu vergüten; daß man es einem Sultan desto höher anrechnen müsse, [162] wenn es ihm gefällt einige gute Eigenschaften zu haben, weil es bloß an ihm lag, ungestraft so schlimm zu sein als er nur gewollt hätte, und dergleichen mehr. Der junge Isfandiar ermangelte nicht, aus diesen und ähnlichen Sätzen, welche aus der verkehrten Weise, wie ihm die Geschichte beigebracht wurde, zu folgen schienen, sich eine geheime Sittenlehre zu seinem eigenen Gebrauch zu bilden, welche desto gefährlicher war, da sein von Natur wenig empfindsames Herz keine Neigungen hatte, welche seinen Launen und Leidenschaften das Gegengewicht hätten halten können.

Ich habe mich, nicht ohne Gefahr dem Sultan meinem Herrn lange Weile zu machen, bei der Erziehung des Prinzen Isfandiar verweilt, weil ich überzeugt bin, daß sie großen Teils an den Torheiten und Lastern schuld ist, welche die Regierung dieses unglücklichen Fürsten auszeichnen.«

»Aber, wenn dies wäre«, sagte Schach-Gebal, »wie viele Königssöhne in der Welt müßten eben so schlimm sein, als dein Isfandiar! Denn ich bin gewiß, daß unter zehen kaum Einer ist, der sich einer bessern Erziehung rühmen kann.«

»Sire« (antwortete Danischmend), »dieses letzte als eine Erfahrungssache vorausgesetzt, ließe sich schließen, die meisten Fürsten würden, durch eine besondere Vorsehung welche für das Beste der Menschheit wacht, mit einer so vortrefflichen Anlage in die Welt geschickt, daß sie alles dessen was die Erziehung an ihnen verderbt ungeachtet, immer noch gut genug blieben, um uns zu zeigen wie vortrefflich sie hätten werden können, wenn der Keim der Vollkommenheit in ihnen entwickelt und zur Reife gebracht worden wäre.«

»Wofern dies nicht etwann Ironie ist«, sagte Schach-Gebal lächelnd, »so bedanke ich mich bei dir im Namen aller, die bei dieser sehr verbindlichen Hypothese etwas zu gewinnen haben.«

»Ich empfinde meine Pflicht zu stark« (erwiderte Danischmend), »um von einer so ernsthaften Sache anders als in vollem Ernste zu reden. Und ich denke, nichts kann dem hohen Begriff, den wir uns von der Güte des unsichtbaren Regierers der Welt zu machen schuldig sind, gemäßer sein, als der Gedanke, daß er (ordentlicher Weise wenigstens) nur die schönsten Seelen zu seinen Unterkönigen in den verschiedenen Teilen des Erdkreises ernenne.«

»Wenn mir erlaubt ist meine Meinung über eine Sache von dieser Wichtigkeit zu sagen«, sprach die schöne Nurmahal, »so denke ich, Danischmend habe niemals etwas Wahrscheinlicheres gesagt. Wäre es nicht so wie er behauptet, so dünkte mich unerklärbar, woher es komme, daß unter zwanzig großen Herren kaum Einer so schlimm [163] ist, als sie alle zwanzig sein sollten, wenn man bedenkt, was die Lebensart, worin sie aufwachsen, die verkehrten Begriffe, welche sie unvermerkt einsaugen, die Mühe, die man sich gibt, durch Schmeichelei, niederträchtige Gefälligkeit und schlaue Verführungskünste ihren Kopf und ihr Herz zu verderben, bei gewöhnlichen Menschen für eine Wirkung tun müßten.«

»Ich zweifle nicht, meine guten Freunde«, sagte der Sultan, »daß alles dies eine abgeredete Schmeichelei ist, die ihr mir sagen wollt. Indessen ist doch wenigstens die Wendung, die ihr dazu genommen habt, zu loben. Aber ich sehe nicht, Danischmend, was der Taugenichts Isfandiar dabei gewinnen kann.«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »es mangelte ihm, wie ich bereits erwähnte, an dem Kostbarsten, was die Natur einem Sterblichen, sie mag ihn zum Pflug oder zu einer Krone bestimmt haben, geben kann, an einer empfindsamen Seele. Diesen Mangel kann auch die vollkommenste Erziehung nicht ganz ersetzen; aber, da sie doch wenigstens etwas tun kann (denn warum sollte sich die Natur nicht eben sowohl verbessern als verschlimmern lassen?), so sind in einem solchen Falle die Leute, deren Amt dies ist, desto größere Verbrecher, wenn sie darin saumselig sind.«

»Vermutlich fehlten sie mehr aus Ungeschicklichkeit als aus Bosheit«, sagte die Sultanin.

»Ich würde selbst nicht strenger von ihnen geurteilt haben«, erwiderte Danischmend, »wenn es weniger gewiß wäre, daß diese Herren (wiewohl sie ihre wahre Absicht unter der gewöhnlichen Phraseologie von Menschenliebe, Patriotismus und Uneigennützigkeit verbargen) insgesamt kein höheres Augenmerk hatten, als ihr Glück zu machen; ein Zweck, den sie am gewissesten zu erhalten glaubten, wenn sie keine Gelegenheit versäumten, sich durch eine wenig bedenkliche Gefälligkeit in das Herz des künftigen Thronerben einzustehlen.

So fehlerhaft indessen die Erziehung dieses Prinzen war, so würde doch der Schade, den sie ihm zufügte, nicht unheilbar gewesen sein, wenn er nicht das Unglück gehabt hätte, einem gewissen Kamfalu in die Hände zu fallen, der ein Bösewicht aus Grundsätzen, aber der angenehmste Bösewicht war, den man jemals gesehen hatte. Ich werde, um dem Charakter dieses Menschen sein gehöriges Licht zu geben, genötiget sein, eine kleine Digression in die Gelehrtengeschichte der damaligen Zeit zu machen.

Es lebte damals ein Schriftsteller, namens Kador, der sich von dem großen Haufen der moralischen Schreiber seiner Zeit durch eine [164] Art von Antipathie gegen alles Aufgedunsene und Gezierte in Empfindungen, Begriffen und Sitten, und überhaupt durch eine merkliche Entfernung von der Kunstsprache sowohl als von den Maximen jenes großen Haufens unterschieden hatte. Es ist natürlich, daß die besagten Schreiber mit diesem Unterschied um so weniger zufrieden waren, weil das Publikum zwischen ihren Schriften und den seinigen noch einen andern Unterschied machte, der ihrer Eitelkeit nicht gleichgültig sein konnte. Man las nämlich seine Werke mit einem Vergnügen, welches immer die Begierde zurück ließ sie wieder zu lesen; da hingegen die ihrigen ordentlicher Weise nur zum Einpacken der seinigen gebraucht wurden. Sie hätten mehr oder weniger als gewöhnliche Menschen sein müssen, wenn sie dieses nicht sehr übel hätten finden sollen. Sie suchten den Grund davon nicht in der schlechten Beschaffenheit der übel zubereiteten und unverdaulichen Nahrung, welche sie dem Geist ihrer Zeitgenossen vorsetzten, sondern (wie natürlich war) in der Verdorbenheit des menschlichen Herzens, welchem Kador, ihrem Vorgeben nach, auf die unerlaubteste Weise schmeichelte. Denn der scherzende Ton, worin er zuweilen sehr ernsthafte Wahrheiten sagte, und die launige Freimütigkeit, womit er der Heuchelei die Maske abnahm und der Verblendung die Augen öffnete, waren in den ihrigen untrügliche Zeichen seines bösen Willens gegen die Tugend. In der Tat dachte Kador von den Tugenden der Sterblichen nicht ganz so günstig, als diejenigen, welche selbst für Muster angesehen werden wollen, zu wünschen Ursache haben. Er leitete die meisten praktischen Urteile und Handlungen der Menschen aus den mechanischen Wirkungen physischer Ursachen, oder aus den geheimen Täuschungen der Einbildung und des Herzens her; und je erhabener die Beweggründe waren, aus welchen jemand zu handeln vorgab, desto größer war das Mißtrauen, welches er entweder in die Redlichkeit dieses Jemands oder in die Gesundheit seines Gehirnes setzte. Wiewohl er überhaupt eine sehr gute Meinung von der menschlichen Natur hegte, so behauptete er doch, sie sei binnen etlichen tausend Jahren, durch die unaufhörliche Bemühung an ihr zu künsteln, zu bessern und zu putzen, so übel zugerichtet worden, daß es leichter sei an einem verstümmelten Götterbilde die Majestät des Gottes, den es vorgestellt, als in den menschlichen Karikaturen, die sich vor unsern Augen herum bewegen, die ursprünglich schöne Form der Menschheit zu erkennen. Indessen gab es doch, seiner Meinung nach, immer eine Anzahl schöner Seelen, welche (durch glückliche Zufälle, oder, wie er geneigter war zu glauben, durch die geheimen [165] Veranstaltungen einer wohltätigen Gottheit), wo nicht ganz unverstümmelt, doch wenigstens nur mit leichten Beschädigungen, noch ganz leidlich davon gekommen wären. Er erklärte sich für den wärmsten Liebhaber dieser schönen Seelen: von ihnen allein dacht er gut; ihnen allein traute er jede edle Gesinnung, und die Fähigkeit, der Tugend große Opfer zu bringen, zu. Die übrigen mochten noch so künstlich angestrichen, noch so gothisch herausgeputzt, in noch so weite und lang schleppende Mäntel eingehüllt sein, kurz, sich noch so viele Mühe geben, durch entlehnte Zieraten und äußerliche Formen von Weisheit und Tugend Hochachtung zu erwecken: an ihm verloren sie ihre Mühe. ›Es sind Pagoden‹, pflegte er lächelnd zu sagen, ›welche sehr wohl tun, sich, wie die sinesischen, in weite Mäntel zu hüllen; durchsichtiges Gewand würde ihre Ungestalt zu sichtbar machen.‹ Kador mochte wohl so unrecht nicht haben, als die Pagoden, seine Gegner, die Welt gern überredet hätten. Gewiß ist, daß der bessere Teil der Welt sich nicht überreden lassen wollte, und daß er gerade so viele gesunde Köpfe und schöne Seelen, als man ihrer damals in Scheschian zählte, auf seiner Seite hatte. Selbst diejenigen, welche nicht in allen Stücken seiner Meinung waren, billigten sowohl seine Absichten als die Mittel wodurch er sie ausführte, und erkannten in ihm den aufrichtigen Liebhaber des Wahren, und den wohl meinenden Freund der Menschheit. Aber zufälliger Weise hatte er das Mißvergnügen, daß einige seiner Grundsätze von einer Art von Leuten gemißbraucht wurden, denen es gleich stark an feinerem Gefühle des Herzens und an Richtigkeit der Beurteilung mangelte. Das Wahre grenzt immer so nah an den Irrtum, daß man keinen großen Sprung vonnöten hat, aus dem sanft sich empor windenden Pfade des einen in die reizenden Irrgärten des andern sich zu verirren. Diese Leute gaben sich das Ansehen, dem besagten Schriftsteller in allem beizustimmen, einen einzigen Punkt ausgenommen. ›Er hat recht‹, sagten sie, ›so lang er in seinem wahren Charakter bleibt, so lang er das Eitle der menschlichen Begriffe und Leidenschaften schildert, und das Lächerliche ihrer Forderungen an Weisheit und Tugend aufdeckt. Aber er schwärmt selbst, sobald er von schönen Seelen, von der Zauberei der Empfindung, von Sympathie mit der Natur, und von der Göttlichkeit der Tugend fabelt. Es gibt keine schöne Seelen, und nur ein Tor glaubt an die Tugend. Was die Menschen Tugend nennen, besteht, wie die Münze in gewissen Ländern, in einer Anzahl abgeredeter Zeichen, welche man unter einem gewissen Stempel für einen gewissen Preis in Handel und Wandel gelten zu lassen übereingekommen ist. Der innere Wert [166] kommt dabei gar nicht in Betrachtung. Dem Korn nach ist eben so wenig Unterschied zwischen dem Schelm, der gehangen wird, dem Nachrichter, der ihn hängt, und dem Richter, der ihn hängen läßt, als zwischen dem geschmeidigen Europäer, dem aufgeblasenen Perser, dem andächtigen Armenier, dem höflichen Sinesen, und dem rohen Kamtschadalen. Das Gepräge macht den ganzen Unterschied.‹

Die Leute, welche so dachten, fanden bald Anhänger genug, um eine zahlreiche Sekte auszumachen. Sie nannten sich die Philosophen, und wer nicht von ihrer Brüderschaft war, hatte die Freiheit von den Titeln Betrüger oder Schwärmer welchen er wollte auszuwählen. Denn nach ihren Grundsätzen mußte er notwendig eines von beiden sein. Der ehrliche Kador erfuhr die Kränkung, von der kurzsichtigen Menge mit diesen anmaßlichen Philosophen in Eine Linie gestellt zu werden, weil sie zuweilen seine Sprache redeten, und in gewissen Stücken eben das zu tun schienen, was Er getan hatte. Man konnte oder wollte nicht gewahr werden, daß nichts verschiedener sein konnte, als der Geist, welcher ihn, und der welcher diese Philosophen beseelte, und als der Endzweck, den Er undSie sich vorgesetzt hatten. Wenn Er des Schwärmers spottete, und den Afterweisen, den Betrüger, oder den Selbstbetrogenen ihrer Ansprüche an Weisheit und Tugend entsetzte: so geschah es auf eine Weise, welche in Personen von gesundem Urteile keinen Zweifel veranlassen konnte, daß er es nicht redlich mit Wahrheit und Tugend meine. Wenn Sie hingegen eben dies zu tun schienen, fiel es in die Augen, daß ihre Absicht sei, die Tugend selbst lächerlich zu machen, und den ewigen Unterschied zwischen wahr und falsch, Recht und Unrecht aufzuheben. Der Schmerz, sich mit einer Klasse von Menschen, die er verachtete, vermengt zu sehen, und die Gefahr, durch den Mutwillen der einen und den Unverstand der andern wider seinen Willen Böses zu tun, brachte ihn, ohne daß er sich einen Augenblick bedachte, zu der einzigen Entschließung, welche in solchen Umständen eines ehrlichen Mannes würdig war. Er erklärte sich öffentlich, und mit Verachtung des Tadels und der Vorwürfe, welche er von beiden Gattungen zu erwarten hatte, für die Sache der Tugend. Aber da er, seiner Überzeugung treu, fortfuhr, keine Tugend gelten zu lassen, welche nicht, zum untrüglichen Zeichen ihres innern Wertes, mit dem Stempel der schönen Natur bezeichnet war: so erfolgte was er vorher gesehen hatte. Die besagten Philosophen und der Pöbel der Moralisten waren in gleichem Grade unzufrieden mit ihm. Beide fanden in seinen Schriften so viel Vorwand [167] als sie nur wünschen konnten, seine Grundsätze und seine Absichten in ein falsches Licht zu stellen; und am Ende zeigte sich, daß er mit allen seinen Bemühungen nichts gewonnen hatte, als die kleine Zahl der Vernünftigen in der Überzeugung zu stärken: Daß Blödigkeit des Geistes und Verkehrtheit des Herzens gleich unheilbare Übel sind; daß es zwar nicht unmöglich ist, durch mechanische Mittel den großen Haufen der Menschen zu einer ganz leidlichen Art von – Tieren zu machen; aber, daß Weisheit und Güte ewig ein freiwilliges Geschenk bleiben werden, welches der Himmel nur den schönen Seelen macht

»Was du uns hier erzähltest, Danischmend, möchte sich an einem andern Orte ganz gut haben hören lassen«, sagte der Sultan: »aber du scheinst darüber vergessen zu haben, daß die Rede nicht von deinem Freunde Kador, sondern von dem Prinzen Isfandiar, und von einem gewissen schelmischen Kamfalu war, den du uns als einen Verführer dieses jungen Menschen bekannt machen wolltest.«

»Sire« (war Danischmends Antwort), »Ihre Hoheit ziehen mich in diesem Augenblicke aus keiner geringen Verlegenheit. Ich fing eben an gewahr zu werden, daß ich mich verirret hätte; und wer weiß was für Wendungen ich hätte nehmen müssen, um mich wieder auf den Punkt zu finden, den ich unvermerkt aus dem Gesichte verlor! Der Kamfalu also, zu welchem Sie mich zurück zu bringen die Gnade haben, war eines von diesen verzärtelten Kindern der Natur, welche sie in einem Anstoß von verschwenderischer Laune mit allen ihren Gaben überhäuft, aber vor lauter Eilfertigkeit die einzige vergessen hat, ohne welche alle übrige mehr gefährliche als vorteilhafte Geschenke sind. Er war von schöner Bildung, und der Bau seines Körpers schien Unsterblichkeit anzukündigen. Er besaß in einem hohen Grade alles was einen jungen Mann zu einem Günstling des schönen Geschlechtes zu machen pflegt, und alles was ihn im Besitz ihrer Gunst erhalten kann. Er war lebhaft, feurig, unternehmend, und niemand hatte die Kunstsprache der Zärtlichkeit, und alle die schlauen Verführungskünste, wodurch sich die Schönen wissend oder unwissend hintergehen zu lassen gewohnt sind, mehr in seiner Gewalt als er. Das Einnehmende seiner Person, ein unerschöpflicher, mit der größten Leichtigkeit in tausend Gestalten sich verwandelnder Witz, und eine natürliche Beredsamkeit, bei welcher ihm, in gewissen Fällen, seine Begierden die Dienste der höchsten Begeisterung taten, machten ihn zum angenehmsten und gefährlichsten Gesellschafter von der Welt. Nichts konnte leichtfertiger sein als seine Grundsätze in Beziehung auf die Gebieterinnen unsers [168] Herzens; aber unglücklicher Weise für das ganze Scheschian waren diese Grundsätze ein Teil des allgemeinen Systems seiner sittlichen Begriffe. Eblis (so nannte sich der Kamfalu), dessen Herz keine Vermutung hatte, daß es eine höhere Art von Wollust gebe als die Befriedigung der Sinne und das eigennützige Vergnügen des gegenwärtigen Augenblicks – Eblis hatte sich ein System gemacht, aus welchem Wahrheit, Tugend, Zärtlichkeit, Freundschaft, kurz, jedes schönere Gefühl und jede edlere Neigung, verbannt waren. ›Alles ist wahr‹, sagte er, ›je nachdem wir es ansehen; von unserer innerlichen Stimmung und von dem Gesichtspunkt, woraus wir sehen, hängt es lediglich ab, ob uns ein Gegenstand schön oder häßlich, gut oder böse scheinen soll. Tugend ist eine Übereinkunft der feinern Köpfe, durch einen angenommenen Schein von Gerechtigkeit, Uneigennützigkeit und Großmut dem großen Haufen Zutrauen und Ehrfurcht einzuflößen. Sie bedient sich dazu einer gewissen hoch tönenden Sprache, gewisser edler Formen und schlauer Wendungen, welche sie unsern Neigungen und Handlungen gibt, um das Ziel unsrer Leidenschaften desto sicherer zu erhalten, je behutsamer wir es den Augen der Welt zu entziehen wissen. Müßige oder bezahlte Pedanten haben diese Sprache, diese Formen in einen wissenschaftlichen Zusammenhang räsoniert. Blöde Köpfe sind einfältig genug gewesen, diese Zeichen für Sachen anzusehen, und unter diesen leeren Formen gleichsam einen Körper zu suchen. Narren haben sich zu allen Zeiten vergebens oder auf Unkosten ihrer Vernunft bemüht, uns die Tugend, von welcher jene schwatzten, in ihrem Leben zu zeigen. Aber ein dreifacher Tor müßte der sein, der einen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen, – der den Augenblick, das Einzige was in seiner Gewalt ist, einem Traume von Zukunft aufopfern, – oder für andre leben wollte, wenn er sie nötigen kann für ihn da zu sein!‹ Diese abscheuliche Moral« –

»Ich besorge, Danischmend, es ist die Moral von zwei Fünfteln meiner Rajas, Omras und Mollas«, sagte der Sultan.

»Das verhüte der Himmel«, versetzte Danischmend. »Aber dessen bin ich versichert, daß es, wenn unser Herz uns nicht, wider Willen unsrer Köpfe, zu bessern Leuten machte, die Moral aller Erdenbewohner wäre.«

»Mir deucht«, sprach die schöne Nurmahal, »nichts beweiset besser, wie wahr es ist, daß nur die schönen Seelen der Tugend fähig sind, als der Ton, in welchem Eblis von dieser ihm unbekannten Gottheit spricht. ›Ein dreifacher Tor müßte der sein, der seinen Freund auf Unkosten seiner selbst glücklich machen wollte.‹ Ja [169] wohl, Eblis! ein dreihundertfacher Tor müßt er sein. Aber dies weiß Eblis nicht – denn woher sollt er es wissen können? – daß der Fall, den er setzt, gar nicht möglich ist. Ein Freund kann für seinen Freund nichts auf Unkosten seiner selbst tun, – denn dieser Freund ist er selbst. 34 Welchen größern Gewinn konnt er machen als die Glückseligkeit seines Freundes? Er könnte sein Leben für ihn geben, und würde in dem letzten Augenblicke, der vor diesem süßen Opfer vorher ginge, mehr leben als in zwanzig Jahren, die er bloß sich selbst gelebt hätte.«

»Schwärmerin! – komm und gib mir einen Kuß«, rief der Sultan. »Zweiundzwanzig Jahre, seit ich Sultan bin, verhindern mich nicht zu fühlen, daß etwas in dieser Schwärmerei ist, das meine ganze Sultanschaft aufwiegt.«

»Die Grundsätze des verführerischen Eblis fanden in dem Herzen des Prinzen Isfandiar so wenig Widerstand, daß sie sich ohne große Mühe seines Kopfes bemeistern konnten. Eblis hatte das Anstößige, welches sie für eine jede noch nicht ganz verdorbene Seele haben müssen, so geschickt zu verbergen gewußt, daß der Prinz sich mit vollkommner Sicherheit dem Vergnügen überließ, seinen Geist, wie er wähnte, von Vorurteilen zu entfesseln, deren Joch nur diejenigen tragen müßten, welche zum Gehorchen geboren wären. Da er ohnehin eine starke Neigung in sich fühlte, seine Laune zur einzigen Regel seiner Urteile und Handlungen zu machen: so konnt es nicht wohl anders sein, als daß er ein System sehr überzeugend finden mußte, welches ihm, von dem Augenblick an, da er alles können würde was er wollte, die Vollmacht erteilte, alles zu wollen was er könnte.

Die Ungeduld, so viel Jahre als der König sein Vater noch zu leben hätte, zwischen sich und dem Ziele seiner feurigsten Wünsche zu sehen, nahm mit jedem Jahre so stark zu, daß sie bei einem Prinzen, der so wenig gewohnt war seinen Leidenschaften zu gebieten, sich [170] endlich zu deutlich verraten mußte, um dem alten Azor verborgen zu bleiben. Alle Mühe, die sein Liebling anwandte, ihn zu einem klügern Betragen zu bereden, war vergeblich. Isfandiar tadelte alle Maßregeln des Hofes, sprach mit sehr wenig Zurückhaltung von den Schwachheiten seines Vaters, und begegnete der schönen Gulnaze so, als ob er sich vorgesetzt hätte, sie alle Augenblicke zu erinnern daß sie eine persische Tänzerin gewesen sei.

Azor ertrug diesen Übermut mit einer Nachsicht, welche zu sehr die Miene einer Schwachheit hatte, um den Prinzen zum Gefühl seiner Pflicht zurück zu bringen; und in der Tat würde ein strengeres Verfahren zu nichts gedient haben, als ihn die Abnahme seines Ansehens und die Ohnmacht einer zum Ende sich neigenden Regierung desto kränkender fühlen zu lassen. Die seinige war so verhaßt, daß sein Thronfolger schon dadurch allein, weil er sie öffentlich mißbilligte, der Abgott des Volkes wurde. Der Hof des letztern vergrößerte sich zusehens; und man sprach endlich so laut von der Notwendigkeit, den alten König einer Bürde, welche jüngere Schultern erfordre, zu entladen; daß Isfandiar vermutlich nicht länger gezögert haben würde, diese Gesinnungen der Nation zum Vorteil seiner Wünsche anzuwenden, wenn ihn nicht der Tod des Königs wenigstens dieser letzten Stufe seines Verbrechens überhoben hätte.

Niemals sind die Erwartungen eines Volkes stärker betrogen worden, als an dem Tage, da Isfandiar den Thron von Scheschian bestieg. Aber was für Ursache hatten auch die Scheschianer mehr von ihm zu erwarten als von seinem Vater? Wie viele Könige, welche sich durch die heiligsten Gelübde verbinden müssen nur für die Glückseligkeit ihrer Völker zu leben, erinnern sich dieser Gelübde noch, nachdem sie den ersten Zug aus dem Zauberkelch der willkürlichen Gewalt getan haben? In Scheschian mußten sich die Könige zu nichts verbinden. Das Volk schwor ihnen grenzenlosen Gehorsam, und sie – erlaubten, am Tag ihrer Krönung, dem geringsten ihrer Untertanen – den Saum ihres Mantels zu küssen. Was für Erwartungen kann ein Volk auf eine solche Gnade gründen?

Azor hatte vor seiner Thronbesteigung alle Herzen durch Leutseligkeit und Güte gewonnen; man erwartete goldne Zeiten von ihm, und fand sich betrogen.

Isfandiar hatte sich nie die geringste Gewalt angetan, die ungestüme Hitze, die Unempfindlichkeit und das Wetterwendische seiner Gemütsart zu verbergen. Niemand wußte einen Zug von ihm anzuführen, der eine große Seele oder ein wohltätiges Herz bezeichnet [171] hätte. Allein man war der langen Regierung seines verhaßten Vaters überdrüssig; Isfandiar hatte sich öffentlich an die Spitze der Mißvergnügten gestellt; man hoffte, daß derjenige besser regieren würde, der von den Gebrechen der alten Regierung so lebhaft gerührt schien, und so viele Gelegenheit gehabt hatte durch fremde Fehler weise zu werden. Aber man betrog sich sehr. Isfandiar würde sich eben so mißvergnügt bezeigt haben, wenn Azor der beste der Könige gewesen wäre.

Die erste Probe, welche der neue Sultan von seinem Vorhaben ohne Grundsätze zu regieren gab, war die Veränderung, die er bei Hofe und in der Staatsverwaltung vornahm.

In den letzten Jahren Azors hatte man sich durch die äußerste Not gedrungen gesehen, den übermäßigen Aufwand der Hofhaltung einzuschränken, und einige Männer von bewährter Redlichkeit und Einsicht zu den wichtigsten Staatsbedienungen zu berufen. Es war zu spät für die Glückseligkeit von Scheschian; aber noch immer früh genug, um noch größere Übel zu verhüten. Durch die Weisheit und unverdrossene Arbeit dieser ehrwürdigen Alten war die Staatswirtschaft in bessere Ordnung gebracht, und dem Volk, ohne Nachteil der Krone, beträchtliche Erleichterung verschafft worden. Isfandiar zählte vermutlich beides unter die Mißbräuche; denn er setzte seinen Hofstaat auf einen prächtigern Fuß, als er in den glänzendsten Zeiten Azors gewesen war; und die einzigen unter den Staatsbedienten seines Vaters, welche er um jeden Preis hätte kaufen sollen, wurden abgedankt. Sie mußten einem Schlaukopfe Platz machen, der sich durch ein Projekt, die Scheschianer, mittelst eines neu erfundenen Kunstworts, die Luft, welche sie einatmeten, versteuern zu lassen, das Vertrauen Seiner Hoheit erworben hatte.

Isfandiar hatte kaum einige Monate das Vergnügen geschmeckt alles zu tun was ihm beliebte, als er anfing sich seinen Launen mit einer Sorglosigkeit zu überlassen, welche, ungeachtet des jovialischen Geistes, womit er sie würzte, in den Augen der Vernunft eine desto anstößigere Art von Tyrannei war, weil sie bewies, daß er fähig sei, mit kaltem Blut und bei völligem Gebrauch seiner Sinne die unsinnigsten Dinge zu tun. Er schien sich sehr viel damit zu wissen, daß er keine erklärte Favoritin hatte wie sein Vater. Aber dafür hielt er eine ungeheure Menge von Hunden, Jagdpferden und Falken; gab unermeßliche Summen für Gemälde aus, ohne den geringsten Geschmack von der Kunst zu haben, und belohnte mit unmäßiger Verschwendung alle Abenteurer und Landstreicher, die, mit dem Titel witziger Köpfe, Virtuosen und Besitzer seltsamer Kunststücke, an [172] seinen Hof kamen, weil, wie sie sagten, nur der größte der Könige würdig sei, der Besitzer ihrer Talente und Raritäten zu sein.

Ohne irgend eine herrschende Leidenschaft zu haben, hatte er nach und nach alle, und jede mit desto größerer Wut, weil er vorher sah, sie würde bald von einer andern verdrängt werden. Das arme Scheschian gewann also wenig bei seiner Mäßigung in einem einzigen Punkte; einer Mäßigung, wovon der Grund vielmehr in seiner Unfähigkeit zu lieben, als in seiner Weisheit lag, und welche ihn nicht verhinderte, wenn es ihm einfiel, die Einkünfte einer ganzen Provinz an die erste sinesische Gauklerin, die ihn eine Viertelstunde belustigte, wegzuschenken.

Eben dieselbe wunderliche Laune, welche die Regel seines Geschmacks war, regierte ihn bei Besetzung der wichtigsten oder ansehnlichsten Hofämter und Staatsbedienungen. Er machte in einem solchen Anstoß seinen Pastetenbäcker zum ersten Minister, ein andermal seinen Barbier zum Hauptmann über die Leibwache. Der Reichskanzler wurde abgesetzt, weil er ein schlechter Tänzer war, und ein gewisser Quacksalber schwang sich durch die Erfindung einer Pomade in die Stelle des Oberschatzmeisters, der die Verwegenheit gehabt hatte, Seiner Hoheit vorzustellen, daß zehntausend Unzen Silbers eine zu große Belohnung für die Erfindung einer neuen Pomade sei. Keiner von seinen Dienern konnte eine Stunde lang auf seine Gnade zählen; und das schlimmste war, daß man sie durch Wohlverhalten eben so leicht als durch Übeltaten verscherzen konnte. Der einzige Eblis besaß das Geheimnis sich ihm unentbehrlich zu machen, und, ohne einen andern als den Titel seines Günstlings, den Hof und den Staat eben so willkürlich zu regieren als der Sultan selbst. Ich hatte vielleicht unrecht, das Mittel, dessen er sich dazu bediente, ein Geheimnis zu nennen; denn im Grunde kann nichts einfacher sein. Es bestand in der Kunst, sich in alle Launen seines Herrn zu schicken, ihn alles tun zu lassen was er wollte, und für alle seine Unternehmungen, so ausschweifend sie sein mochten, Mittel zu schaffen.«

»Das letzte ist eben so leicht nicht, als du dir einbildest«, sagte der Sultan.

»Sire«, versetzte Danischmend, »nach des Günstlings Grundsätzen und Art zu verfahren konnte nichts leichter sein. Nach ihm hatte der Sultan das Recht zu nehmen, so lange seine Untertanen etwas hatten, das ihnen genommen werden konnte.«

»Und wenn sie nichts mehr hatten?«

»Dieser Fall war, seiner Meinung nach, so bald noch nicht zu besorgen.

[173] ›Der Hunger, und die Begierde nach einem Zustande, worin sie müßig gehen können, wird sie schon arbeiten lehren‹, pflegte er zu sagen, ›und so lange sie arbeiten, können sie geben.‹«

»Dieser Eblis fürchtete sich also nicht vor den Folgen der Mutlosigkeit?«

»Das Übel war, daß er dem Sultan eine Philosophie beigebracht hatte, welche die menschliche Natur in seinen Augen verächtlich machte. Er sah die Menschen für nichts besseres als eine Gattung von Tieren an, von welcher sich mehr Vorteile ziehen lassen als von irgend einer andern; und in der Kunst, sie für ihren Gebieter zu gleicher Zeit so nützlich und so unschädlich als möglich zu machen, bestand, nach ihm,das große Geheimnis der Regierungskunst. Man hätte ihm diesen Grundsatz gelten lassen können, wenn er vorausgesetzt hätte, daß der Vorteil des Gebieters und des Staats allezeit einerlei sei. Aber dies war es nicht was er damit wollte.

›Der Mensch‹, sagte Eblis, ›ist aus zwei entgegen gesetzten Grundneigungen zusammen gesetzt, deren vereinigte Wirkung ihn zu dem macht was er ist:Hang zum Müßiggang und Hang zum Vergnügen. Ohne den letztern würde ihn jener ewig in einer unüberwindlichen Untätigkeit erhalten; aber so groß sein Abscheu vor Abhänglichkeit und Arbeit ist, so ist doch sein Hang zum Vergnügen noch stärker. Um beide zu vereinigen, ist ein Zustand von Unabhänglichkeit, worin er alles mögliche Vergnügen ohne einige Bemühung genösse, das letzte Ziel seiner Wünsche. Er kennt keine Seligkeit über dieser. Daher dieser unauslöschliche Hang zum Despotismus, der dem armseligsten Erdensohn eben so angeboren ist als dem Erben des größten Monarchen. In dem ganzen Scheschian ist kein einziger, welcher nicht wünschte, daß alle übrige nur für sein Vergnügen beschäftigt sein müßten. Allein die Natur der Sache bringt es mit sich, daß nur ein Einziger dieser Glückliche sein kann: alle übrige sind durch die Notwendigkeit selbst dazu verurteilt, sich, so lange sie leben, mehr oder weniger zu diesem letzten Wunsche des Sterblichen empor zu arbeiten; und selbst das Glück, ihm nahe zu kommen, kann nur Wenigen zu Teile werden. Was soll nun der Einzige hierbei tun, der, mit dem vergötterten Diadem um die Stirne, oben auf der Spitze des Berges steht, und nichts Höheres zu ersteigen sieht? Soll er sich etwann in dem Genuß seiner Wonne durch albernes Mitleiden mit der wimmelnden Menge stören lassen, welche voll klopfender Begierde sich aus der Tiefe empor zu heben versucht, und, neidische Blicke auf die versagte Glückseligkeit heftend, bei jedem Tritt auf der schlüpfrigen [174] Bahn in Gefahr schwebt, durch das Gedränge ihrer Mitwerber oder ihre eigene Hastigkeit tiefer, als sie empor gestiegen ist, wieder herunter zu glitschen? Soll er vielleicht so höflich sein, einem unter ihnen Platz zu machen? – Wahrhaftig! Sie mögen sehen, wie sie hinauf kommen; dies ist ihre Sache. Die seinige ist, indem sie von Stufe zu Stufe zu ihm empor klettern, sich ihrer Hände zu bedienen, um alle Güter und Freuden der Welt zu den Füßen seines Thrones aufhäufen zu lassen; und wenn ihm der Genuß alles dessen, was die übrigen wünschen, noch eine Sorge verstatten kann, so ist es, zu verhindern, daß von der wetteifernden Menge keiner hoch genug steige, ihn von seinem Gipfel herab zu drängen. Nichts würde dem Einzigen gefährlicher sein, als wenn die Menge alle Hoffnung in einen bessern Zustand zu kommen verlöre. Diese Hoffnung ist die wahre Seele eines Staats; mit ihr versiegt die Quelle des politischen Lebens; eine allgemeine Untätigkeit verkündigt, gleich der Todesstille vor einem Sturme, die schrecklichen Wirkungen der Verzweiflung, unter welchen schon so manche Thronen Asiens eingestürzt sind. Aber nichts ist leichter als diesem Übel zuvorzukommen. Es gibt zwischen dem Tagelöhner und dem Sultan so viele Stufen; und jede der höhern Stufen ist für den, der einige Grade tiefer steht, so beneidenswürdig, daß etliche Beispiele, welche von Zeit zu Zeit die Hoffnung zu steigen in den letztern wieder anfrischen, hinreichend sind, den Staat in dieser Geschäftigkeit zu unterhalten, wodurch alle Glieder desselben, indem sie bloß ihren eigenen Vorteil zu befördern glauben, dem glücklichen Einzigen dienstbar werden.‹

Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß nichts seichter sein kann als diese Trugschlüsse des sinnreichen Eblis. Die Grundfeste eines Staats besteht in der Zufriedenheit der untersten Klassen mit dem Stande worin sie sich befinden, und sein Untergang ist von dem Augenblick an gewiß, da der Landmann Ursache hat, den müßig gehenden Sklaven eines Großen zu beneiden.

Die Grundsätze des sinnreichen Eblis hatten drei große Fehler. Sie hingen eben so wenig unter sich zu sammen, als sie mit der Erfahrung übereinstimmten; und man konnte sie alle Augenblicke übertreten, ohne an Gründen Mangel zu haben, welche die Ausnahmen rechtfertigten. Aber sie schmeichelten den Leidenschaften eines Fürsten, der keine andre Regel kannte noch kennen wollte, als seine Laune. Isfandiar fand nichts bündiger als die Schlüsse seines Lieblings.

Man konnte schwerlich weniger Anlage zu einer mitleidigen Sinnesart haben als dieser Sultan. Das kleinste Ungemach, das ihn selbst betraf, setzte ihn in die heftigste Ungeduld; aber das Leiden andrer [175] fand keinen Zugang zu seinem Herzen. Wie überflüssig war die Bemühung, einen solchen Fürsten noch durch Grundsätze gefühllos zu machen! Und gleichwohl hatte Eblis nichts Angelegeners, als ihm seine Untertanen bei jeder Gelegenheit in dem verhaßtesten Lichte zu zeigen.

›Das Volk‹, sagte Eblis zum Sultan seinem Herrn, ›ist ein vielköpfiges Tier, welches nur durch Hunger und Streiche gebändiget werden kann. Es wäre Unsinn, seine Liebe durch Wohltaten gewinnen zu wollen. Tausend Beispiele von schwachen Fürsten, welche die Opfer einer allzu milden Gemütsart geworden sind, beweisen diese Wahrheit. Das Volk sieht alles Gute was man ihm erweist für Schuldigkeit an, erwartet immer noch mehr als man zu seinem Besten tut, und hält sich von aller Pflicht der Dankbarkeit losgezählt, sobald es sich in seinen ausschweifenden Erwartungen betrogen sieht. Mit Widerwillen trägt es die Fesseln der Abhänglichkeit; unbeständig in seinen Neigungen, willkürlich in seinen Urteilen, und immer mit dem Gegenwärtigen unzufrieden, dürstet es nach Neuerungen; Unfälle, welche seinen Gebietern zustoßen, sind ihm fröhliche Begebenheiten; und wiewohl es selbst unter allgemeiner Not am meisten leidet, sehnt es sich dennoch nach öffentlichem Unglück, um Gelegenheit zu haben zu murren, und seine Vorsteher mit Vorwürfen zu überhäufen. Wenn eine Gottheit vom Himmel stiege, die Menschen zu beherrschen, sie würde nicht frei von ihrem Tadel bleiben. Der schlechteste unter ihnen hält sich für gut genug die Welt zu regieren, und eben darum weil der Pöbel nichts weiß, glaubt er alles besser zu wissen als seine Obern. Vergebens würd es sein, für die Glückseligkeit dieser Unersättlichen zu arbeiten: man müßte einen jeden von ihnen zu einem Sultan machen können, um ihn zufrieden zu stellen; sie bleiben mißvergnügt so lange noch etwas zu wünschen übrig ist. Nichts ist gefährlicher als sie mit dem Überfluß und den Wollüsten bekannt zu machen; es würde weniger Gefahr sein einen schlafenden Löwen, als die Begierlichkeit dieser Leute aufzuwecken. Sie mit seidenen Banden oder Blumenketten binden zu wollen, wäre eben so viel als eine Hyäne mit Spinneweben zu fesseln. Nichts als die eiserne Notwendigkeit, und die Verzweiflung ihre Ketten jemals zerreißen zu können, ist vermögend sie in ihren Schranken zu halten; und, gleich andern wilden Tieren, müssen sie ausgemergelt werden und den Stock immer über ihrem Rücken schweben sehen, um einen Gebieter dulden zu lernen.‹«

»Danischmend«, sagte der Sultan, »ich gestehe, die Abschilderung, die uns Eblis von dem Volke macht, ist nicht geschmeichelt; [176] aber es ist Wahrheit darin. Ich denke ungern an die Folgen, welche sich daraus ziehen lassen: und gleichwohl würd es, wie Eblis sagt, gefährlich sein, sich selbst in einer so wichtigen Sache täuschen zu wollen.«

»Gnädigster Herr«, versetzte der Philosoph, »ich weiß nicht ob mich meine Gutherzigkeit verhindert hat, den Menschen, den ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren studiere, so zu sehen wie er ist. Es mag wohl zu viel Rosenfarbe in meiner Phantasie herrschen. Aber, wie dem auch sein mag, ich kann mich unmöglich überwinden, die Menschen für so bösartig anzusehen, als sie in der Theorie dieses Eblis sind. Wenn die Erfahrung für ihn zu reden scheint, so spricht sie nicht weniger für mich. Kennen wir nicht kleine Völker, welche im Schoße der Freiheit und der einfältigen Mäßigung glücklich sind? Vergleichen wir einmal diese Völker mit denjenigen, welche unter den Bedrückungen der willkürlichen Gewalt einer harten Regierung schmachten! Der erste Anblick wird uns sogleich einen starken Unterschied bemerken lassen. Jene zeigen uns ein gesundes, vergnügtes, fröhliches Ansehen. Ihre Wohnungen sind weder weitläufig noch prächtig; aber auch die ärmste ihrer Hütten sieht einer Wohnung von Menschen, nicht einem Schlupfwinkel wilder Tiere gleich. Sie sind schlecht gekleidet; aber sie sind doch vor Frost und Nässe beschützt. Ihre Nahrung ist eben so einfältig; aber man sieht ihnen wenigstens des Abends an daß sie zu Mittage gegessen haben. Diese schleichen, als lebende Bilder des Elends, mit gesenkten Häuptern umher, und heften aus hohlen Augen gramvolle Blicke auf die Erde, welche sie – nicht für sich und ihre Kinder – bauen müssen. Überall begegnen unserm beleidigten Auge blutlose, ausgehungerte und sieche Körper; – schwermütige, düstre, von Sorgen abgezehrte Gesichter; – alte Leute, welche sich mit Mühe von der Stelle schleppen, um zur Belohnung einer funfzigjährigen schweren Dienstbarkeit das wenige Brot, das ihr vom Mangel eingeschrumpfter Magen noch ertragen kann, dem Mitleiden der Vorübergehenden durch Betteln abzunötigen; – verwahrloste, nackende, krüppelhafte Kinder, oder wimmernde Säuglinge, welche sich anstrengen, einer hungernden Mutter noch die letzten Blutstropfen aus der ausgemergelten Brust zu ziehen. Halb vermoderte Lumpen, die von den dürren Lenden dieser Elenden herab hangen, zeigen wenigstens daß sie den Willen haben ihre Blöße zu decken: aber was wird sie vor der sengenden Sonne, vor Wind und Regen und Kälte decken? Ihre armseligen aus Kot und Stroh zusammen geplackten Hütten stehen jedem Anfall der Elemente offen.

[177] Hierher kriechen sie, wenn die untergehende Sonne sie von der täglichen Arbeit für gefühllose Gebieter ausgespannt hat, ermüdet zusammen, und schätzen sich noch glücklich, wenn sie so viel Vorrat von einem Brote, welches ihre Herren für ihre Hunde zu schlecht halten würden, übrig finden, als sie vonnöten haben, um nicht hungrig auf einem Lager von faulendem Stroh den letzten Trost des Elenden vergebens herbei zu seufzen.«

»Wie du malst, Danischmend!« – rief der Sultan mit einer auffahrenden Bewegung aus, indem er sich zu verbergen bemühte, wie gerührt er war. »Ich schwöre beim Haupte des Propheten, daß ich, ehe der Mond wieder voll sein wird, wissen will, ob innerhalb der Grenzen meines Gebiets solche Unglückliche leben; und wehe dem Sklaven, dem ich die Sorge für meine Untertanen anvertraut habe, in dessen Bezirk ein Urbild deiner verfluchten Malerei gefunden würde! Es ist mein ganzer Ernst, und zum Beweise davon trag ich das Amt dieser Untersuchung dir selbst auf, Danischmend! Morgen, nach dem ersten Gebete, erwart ich dich in meinem Zimmer, damit wir weiter von der Sache sprechen.«

Was der gutherzige Danischmend dem Sultan gesagt haben mag, um ihm im Namen aller, welche bei dieser Aufwallung seines königlichen Herzens interessiert waren, den demütigsten Dank zu erstatten, wollen wir, um uns nicht zu weit von unserm Wege zu entfernen, der Einbildung des Lesers überlassen.

»Gut«, sagte Schach-Gebal, dessen Hitze sich während der Danksagungsrede des Philosophen wieder merklich abgekühlt hatte, »du weißt meinen Willen! Morgen eine Stunde nach Sonnenaufgang, Danischmend! – Itzt will ich noch die Ausführung deiner Einwendungen gegen die Theorie des Günstlings Eblis hören. Laß sehen, wie du dich aus der Sache ziehen wirst.«

»Ich behauptete« (fuhr Danischmend in seinem Vortrage fort), »daß die Erfahrung, auf welche sich Eblis bezieht, um seine häßlichen Gemälde von der Bösartigkeit des Volkes zu rechtfertigen, wenigstens eben so stark für meine als für seine Meinung rede; und ich stellte zu diesem Ende eine Vergleichung an, zwischen einem Volke, welches unter einer freien, oder wenigstens unter einer milden Regierung glücklich ist, und einem Volke, dem ein Tyrann wie Isfandiar, mit Hülfe eines Günstlings wie Eblis, so mit spielt, wie man es von der Vereinigung harter Grundsätze mit einer unempfindlichen Sinnesart erwarten kann. Wenn der Kontrast zwischen dem Wohlstande des einen und dem Elende des andern beim ersten Anblick in die Augen fällt, so wird uns eine fortgesetzte Aufmerksamkeit [178] keinen geringern Abstand zwischen ihrem sittlichen Charakter entdecken lassen. Dasglückliche Volk ist zufrieden mit seinem Zustande; es gewöhnet sich mit Vergnügen an ihn, und ist geneigt zu glauben, daß es keinen bessern gebe. Es segnet den guten Fürsten, unter dessen Gesetzen es in ungekränkter Sicherheit der Früchte seines Fleißes und seiner Mäßigung genießt. Weit entfernt Veränderungen zu wünschen, ist es im Gegenteil bereit, Gut und Leben alle Augenblicke für die gegenwärtige Verfassung, für ein Vaterland, worin es glücklich ist, für einen Fürsten, in welchem es seinen allgemeinen Vater erblickt, aufzuopfern. Das unterdrückte Volk, ich gestehe es, sieht dem Bilde sehr ähnlich, welches Eblis unbilliger Weise von dem Volke überhaupt machte. Aber wie sollt es anders sein können? Sollte sich nicht die Menschheit in Geschöpfen, welche ihre natürliche Gleichheit mit ihren Unterdrückern fühlen, gegen solche Kränkungen empören, deren bloßer Anblick alle Gesetze der Natur, der Religion und des gesellschaftlichen Lebens zur Rache aufruft? Ist es zu verwundern, wenn die Vergleichung ihres Elends mit dem wollüstigen und unbarmherzigen Übermut ihrer Herren sie endlich wütend macht? Oder was kann man anders erwarten, als daß anhaltende Tyrannei, Sorglosigkeit für den Staat, Kaltsinn beim Anblicke der allgemeinen Not, und öffentliche Verspottung derselben durch die übertriebenste Üppigkeit, ein Volk, dessen Geduld erschöpft ist, endlich zur Verzweiflung treiben werde?

›Das Volk‹, sagt Eblis, ›ist launisch in seinen Leidenschaften, undankbar für das Gute, das man ihm erweist, ungestüm und unersättlich in seinen Forderungen; es ist neidisch über die Vorzüge seiner Obern, geneigt alle ihre Maßregeln zu tadeln, ungerecht gegen ihre Tugenden, unbillig gegen ihre Fehler; es sieht sie als seine ärgsten Feinde an, und ergetzt sich an allem, was sie kränken und demütigen kann, als an dem angenehmsten Schauspiele.‹ – Aber sollte wohl jemand die Verwegenheit haben können, zu behaupten, die Menschen seien von Natur so bösartige Geschöpfe? Wer macht sie dazu? Was für Gewalt muß der Menschheit angetan worden sein, welche grausame und langwierige Mißhandlungen muß sie erlitten haben, bis sie so werden konnte, wie Eblis sie schildert! Ist es nicht der Gipfel der Ungerechtigkeit, die Menschen dafür zu bestrafen, daß sie die verkehrten Geschöpfe sind, wozu man sie selbst gemacht hat? Mir deucht, die Unterdrücker der Menschheit haben wohl keine Ursache sich zu beschweren. Die unbegreifliche Geduld, womit die meisten Völker des Erdbodens sich zu allen Zeiten von einer kleinen [179] Anzahl von Isfandiarn und Eblissen haben mißbrauchen lassen, ist der stärkste Beweis der ursprünglichen Mildigkeit der menschlichen Natur. Wenn wir von Empörungen, Bürgerkriegen, und gewaltsamen Staatsveränderungen hören, so können wir allemal mit der größten Wahrscheinlichkeit vermuten, daß unleidliche Beleidigungen den Anlaß dazu gegeben haben.«

»Nicht allemal, mein guter Danischmend«, sagte der Sultan: »dein Eifer für die Sache des Volks macht dich vergessen, wie viele Beispiele die Geschichte des Erdbodens uns zeigt, daß auch gute Fürsten, Fürsten, welche wenigstens einige geringe Fehler mit großen Tugenden vergüteten, Schlachtopfer der unbändigen Herrschsucht eines stolzen Priesters, oder der übermütigen Anmaßungen aufrührerischer Emirn geworden sind.«

»Gleichwohl«, erwiderte Danischmend, »würde sich vielleicht in jedem besondern Falle zeigen lassen, daß die Fürsten, auf welche Ihre Hoheit zu zielen scheinen, durch sehr wesentliche Fehler in der Regierung, durch allzu große Nachsicht gegen die Laster ihrer Günstlinge, durch häufigen Mißbrauch einer willkürlichen Gewalt, durch offenbare Ungerechtigkeiten und ein tyrannisches Verfahren sowohl mit dem Volk als mit den Großen ihres Reiches, sich die unglückliche Ehre zugezogen haben, der Nachwelt zu Trauerspielen Stoff zu geben. Ein König gewinne nur die Zuneigung seiner Untertanen, er verdiene sich den glorreichesten und süßesten aller Titel, den Namen eines Vaters des Volks: so wird er gewiß sein können, in ihrer Liebe zu seiner Regierung und zu seiner Person unerschöpfliche Mittel gegen alle Anschläge und Unternehmungen seiner Feinde zu finden. Ich möchte den Priester oder die Emirn sehen, welche die Verwegenheit hätten, sich an einen Fürsten zu wagen, dem die Herzen aller seiner Untertanen zur Brustwehr dienen!«

Schach-Gebal hatte vermutlich einige geheime Ursachen, warum er nicht von sich erhalten konnte, die Gründe seines Philosophen überzeugend zu finden. Indessen schien er doch zu fühlen, daß er den Streit nicht würde fortsetzen können, ohne seinem Gegner Blößen zu geben, die den Sieg nicht lange unentschieden lassen dürften. Er spielte also das Sicherste, und entließ die Gesellschaft für diesmal, indem er zu der schönen Nurmahal sagte: »In der Tat, es fehlt unserm Freunde Danischmend nichts als etwas mehr Kenntnis der Welt, um (für einen Philosophen) ganz leidlich zu räsonieren. Er hat den Fehler aller dieser Herren, gern von Dingen zu reden die er nicht versteht: aber er spricht doch gut, und dies ist, zum Zeitvertreib, alles was ich von ihm fordre.« [180] Die Achseln des weisen Danischmend waren im Begriff die Antwort auf dieses unerwartete Lob zu geben, als er sich noch zu rechter Zeit erinnerte, daß es nicht erlaubt sei, über irgend etwas, das ein Sultan sagen kann, die Achseln zu zucken. Er begnügte sich also, wie gewöhnlich, seinen ungelehrigen Kopf gegen den Erdboden zu stoßen, und schlich davon.

2
2.

Unsere Leser erwarten ohne Zweifel, daß Danischmend, mit einem Auftrage beladen, der für die Ruhe Schach-Gebals und für das Beste der armen Indostaner von der größten Wichtigkeit war, das Amt, den alten Sultan einzuschläfern, der schönen Nurmahal wieder überlassen werde. In der Tat hatte Schach-Gebal mit so vielem Ernst von der Sache gesprochen, daß der ehrliche Philosoph selbst, so gut er sonst die Launen seines Gebieters kannte, diesmal von der Hoffnung, ein Werkzeug der Glückseligkeit seines Vaterlandes zu werden, sich hintergehen ließ. Diese Hoffnung ließ die ganze Nacht durch keinen Schlaf in seine Augen kommen; aber sie entschädigte ihn dafür durch die angenehmsten Träume, die jemals die Seele eines Menschenfreundes gewieget haben. Mit der unumschränkten Gewalt des Sultans bekleidet, zweifelte er keinen Augenblick an dem Erfolge seiner Bemühungen. Denn es war eine von den Maximen, die er immer im Munde zu führen pflegte: Die Großen könnten alles was sie ernstlich wollten. »Welche Wonne!« rief er aus: »in kurzem soll der Mann, der im ganzen Indostan am wenigsten glücklich ist, der Sultan selber sein!«

Sobald die ersten Sonnenstrahlen den Horizont röteten, stand Danischmend im Vorzimmer, so munter als ob niemand besser geschlafen hätte als er. Aber es vergingen drei oder vier Stunden, bis Schach-Gebal, wiewohl er in der Tat nichts Wichtigers zu tun hatte, Zeit finden konnte sich seiner zu erinnern. »Ist Danischmend da?« fragte er endlich, nachdem er wohl dreimal war berichtet worden, daß Danischmend da sei. »Laßt ihn herein kommen!« – Der arme Philosoph, der inzwischen Zeit genug gehabt hatte aus seinen schönen Träumen zu erwachen (denn zu den Träumen eines Menschenfreundes kann wohl kein unbequemerer Ort sein als ein Vorgemach), schlich mit gesenkten Ohren herbei. »Ha, mein guter Danischmend«, rief ihm der Sultan mit einer jovialischen Miene zu, »ich hatte dich ganz vergessen. Was bringst du uns Neues, Danischmend?« – Diese Anrede hätte einem feinern Höfling, als unser [181] Philosoph war, die undankbare Mühe erspart, Seine Hoheit an einen unangenehmen Gegenstand zu erinnern, dessen Andenken Sie, wie es schien, glücklich verschlafen hatten. Aber Danischmend hätte so lange an dem Hofe zu Dehly leben können als Nestor, ohne jemals ein Hofmann zu werden. Er erinnerte also den Sultan an seinen gestrigen Schwur. Schach-Gebal hörte alles was ihm der gute Mann zu sagen hatte, mit vieler Gefälligkeit an. »Aber bedenkst du auch«, sagte Gebal, »daß du in drei Jahren nicht fertig werden könntest, wenn du alle meine Provinzen durchreisen, und von Haus zu Haus dich erkundigen wolltest, wie sich die Leute befinden? Ich kann mich unmöglich entschließen dich so lange zu entbehren. Weißt du was, Danischmend? Das erste Mal, wenn ich auf die Jagd reite, sollst du mich begleiten. Wir werden da leicht Gelegenheit finden, uns von meinen übrigen Leuten zu entfernen, und dann wollen wir, ohne uns zu erkennen zu geben, die Nacht in irgend einem abgelegnen Dorfe zubringen. Finden wir dort eine lebendige Seele, welche Böses von mir spricht, so soll mir der Emir, in dessen Bezirk der Ort gehört, dafür Rechenschaft geben. Ich will ihn zu einem Beispiel für die übrigen machen, und verlaß dich darauf, daß es nicht ohne Wirkung sein soll. Indessen können wir mit Muße an die Ausführung deiner Entwürfe denken. Aber sage mir, Danischmend, hast du ausfündig gemacht, wer die drei Kalender waren, welche gestern jenseits des Flusses, den Gärten meines Serails gegen über, unter der großen Cypresse saßen?« –

Danischmend hustete noch zu rechter Zeit einen Seufzer weg, der ihm entgehen wollte, und von diesem Augenblick an war die Rede – von den drei Kalendern.

3
3.

In der folgenden Nacht wurde, bis der Sultan einschlief, von – den drei Kalendern gesprochen. Nurmahal und der junge Mirza hatten sehr viel von ihnen zu sagen.

Die Nachrichten, welche man über diesen wichtigen Gegenstand einzog, waren so mannigfaltig, hingen so wenig zusammen, und schienen so viel Geheimnisvolles zu verraten, daß man etliche Nächte hinter einander von nichts anderm reden konnte als von den drei Kalendern. Inzwischen lief doch am Ende alles darauf hinaus, daß man nichts Sonderliches von ihnen wüßte, und daß es sich in der Tat der Mühe nicht verlohnte mehr von ihnen wissen zu wollen.

Endlich wurde Schach-Gebal dieses Zwischenspiels überdrüssig.

[182] »Ihr seid mir feine Leute«, sagte Schach-Gebal. »Ich will die Geschichte der Könige von Scheschian wissen, und man spricht mir seit sieben Tagen von nichts als von Kalendern. Bin ich etwa ein Schach-Riar?«

Es versteht sich von selbst, daß es nur auf Seine Hoheit angekommen war, diese sieben Tage durch mit andern Gegenständen unterhalten zu werden. Aber, wie jedermann weiß, würd es sehr unhöflich gewesen sein, den Sultan etwas von dieser Reflexion merken zu lassen.

Danischmend setzte demnach seine Erzählung vonIsfandiar und seinem Günstlinge folgender Maßen fort.

»Den Grundsätzen des sinnreichen Eblis zu Folge war nichts unweiser, als ein so gefährliches Tier, wie er das Volk abmalte, reich werden zu lassen. Aber zum Unglück für die Scheschianer blieb die Bedeutung des Wortes reich so unbestimmt, daß Eblis die armen Leute, so lange sie noch etwas hatten, was sich, wenn das Wort Bedürfnis im engsten Sinne genommen wird, entbehren läßt, immer noch zu reich fand.

Der Adel in Scheschian war von Alters her ein Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke gewesen. Die Könige hatten die Edeln als ihre gebornen Räte und Gehülfen in der Verwaltung der besondern Teile des königlichen Amtes betrachtet; und wiewohl das Ansehen des Adels unter dem tatarischen Stamme von Stufe zu Stufe nach eben dem Verhältnisse, wie das königliche stieg, gesunken war, so besaß er doch wenigstens noch sehr schöne Überbleibsel seiner ehmaligen Vorzüge.

In allen Staaten, wo sich ein solcher Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke befindet, hat man zu allen Zeiten wahrgenommen, daß sich der Adel auf Unkosten des Volkes, und das Volk sich auf Unkosten des Adels zu vergrößern sucht. Jener, da er wenig Hoffnung hat, seine Rechte auf der Seite des Thrones zu erweitern, sucht sich für seine Ergebenheit gegen denselben durch Anmaßungen über die Rechte des Volkes zu entschädigen. Dieses, da es sich von allen Seiten gedrängt sieht, und leicht begreift, daß es dem Übergewicht des Thrones am wenigsten widerstehen kann, wendet alles an, sich wenigstens die kleinen Tyrannen vom Halse zu schaffen, deren Joch desto verhaßter ist, je weniger sie ihre Bedrückungen durch den Vorwand des allgemeinen Besten erträglicher machen können. Man gibt dem Fürsten williger, weil man weiß, daß die Sorgen für den ganzen Staat auf seinen Schultern liegen, und weil wenigstens dieVermutung vorwaltet, daß ein Teil der öffentlichen Abgaben [183] zu Bestreitung der öffentlichen Bedürfnisse angewandt werde. Aber alles was man denjenigen geben muß, welche, dem Könige gegen über, eben so demutsvolle Untertanen als die übrigen, in dem Bezirke hingegen, wo sie zu befehlen haben, kleine Monarchen vorstellen, sieht man als unbillige Erpressungen an, welche man seinen eigenen Bedürfnissen abbrechen muß, um den Stolz und die Üppigkeit einer Menschenklasse zu nähren, die man für sehr entbehrlich hält, weil der Vorteil, den sie dem Ganzen verschaffen, nicht sogleich in die Sinne fällt.

Die Könige haben von jeher sich dieser gegenseitigen Gesinnung des Adels und des Volkes zur Ausdehnung ihrer eigenen Gewalt gar meisterlich zu bedienen gewußt. Sie haben das Volk gebraucht den Adel niederzudrücken; und sobald dieser Zweck erreicht war, dem Adel, dessen Beistand sie gegen den besorglichen Übermut des Volkes vonnöten zu haben glaubten, die Werkzeuge seiner Unterdrückung Preis gegeben.

Da es zu spät war, wurde Volk und Adel gewahr, daß sie sich zu einer sehr albernen Rolle hatten gebrauchen lassen; daß in einem Staate, wo das Volk im Besitze großer Vorrechte ist, die Vorzüge des Adels dem Volk eben so heilig sein sollen, als seine eigenen; und daß jeder von diesen beiden Ständen nicht nur seine eigene, sondern die allgemeine Sicherheit und den öffentlichen Wohlstand untergräbt, wenn er die Rechte des andern zu schwächen oder seinen besondern Nutzen auf Kosten des andern zu vergrößern sucht.

Die Scheschianer waren in diesem Stücke nicht vorsichtiger gewesen als viele andre Völker. Der Hof hatte sich ihre Torheit zu Nutze gemacht, weil das Interesse der Höflinge ist, die Autorität eines Herrn, der durch ihre Einflüsse regiert wird und in dessen Gewalt sie sich teilen, so unumschränkt zu machen als sie können. Sie überredeten die Könige – und nichts kostet weniger Mühe als diese Überredung –, daß ein Fürst an Ansehen und Macht gewinne, was sein Adel und sein Volk an Freiheit und Reichtum verliere; und die guten Könige dachten gewiß an nichts weniger, als an die unfehlbare Folge der politischen Operation, wozu sie sich so leicht bereden ließen. Die Erfahrung mußte sie belehren, daß ein Despot, dessen Adel aus Höflingen und dessen Volk aus Bettlern besteht, – ein Despot, dessen Städte ohne Einwohner sind, und dessen Ländereien brachliegen und verwildern; ein Despot, der anstatt über zwanzig Millionen glücklicher Menschen, über halb so viel träge, mißvergnügte und mutlose Sklaven zu gebieten hat; – daß dieser Despot ein viel kleinerer Herr sei, als ein eingeschränkter [184] Fürst, der nicht spitzfündig genug ist, einen Unterschied zwischen seinem Nutzen und dem Nutzen seiner Untertanen zu machen, sondern einfältiglich der Stimme seines Menschenverstandes glaubt, die ihn versichert, daß es besser sei, der geliebte Vater von den Bewohnern eines kleinen Landes, als der gefürchtete Tyrann einer ungeheuern Einöde zu sein, in welcher hier und da noch hervorragende Trümmer das Zeugnis ablegen, daß einst Menschen da gewohnt haben, welche bessere Zeiten sahen als die seinigen.

Die Erfahrung mußte die Könige von Scheschian von dieser großen Wahrheit, dem Grundpfeiler aller wahren Staatskunst, unterrichten; aber, wie Isfandiar vielleicht anfing sie gewahr zu werden – war es zu spät.

Unter der Regierung des schwachen Azor war der größte Teil des Adels durch den übermäßigen Aufwand, wozu er von dem Beispiele des Hofes verleitet und gewisser Maßen genötiget wurde, in sehr kurzer Zeit dahin gebracht worden, in den niedrigsten Hofkünsten die Mittel zu suchen, diesen Aufwand auf andrer Leute Unkosten fortzusetzen. Unter Isfandiarn wurde das Werk der vorher gehenden Regierungen und der eigenen Torheit der Edeln vollendet. ›Übermäßige Ungleichheit ist die verderbliche Pest eines Staats‹, sagte Eblis. Und so mußte eine sehr wichtige, aber in den Händen eines verächtlichen Werkzeuges der Tyrannei sehr übel versorgte Wahrheit zum Vorwande dienen, den Adel zum Volk und beide zu Sklaven herab zu würdigen. Vor dem blendenden Glanze des Thrones verschwand aller Unterschied. Isfandiar sah den edelsten Emir des Reichs und den niedrigsten Tagelöhner gleich weit unter sich, und es war ein Spiel für ihn, aus einem Reitknechte, wenn es ihm einfiel, einen Fürsten zu machen. Dies war das unfehlbare Mittel, jeden Überrest von Tugend und Ehre, der noch in den ausgearteten Söhnen besserer Väter glimmte, zu ersticken. Die Edeln sanken, so wie sie sich an eine solche Behandlung gewöhnen lernten, zu wirklichem Pöbel herab; und wenn sie sich noch durch etwas von ihm unterschieden, so war es durch einen höhern Grad von Unwissenheit und Ungezogenheit, durch schlechtere Sitten, und einen vollständigern Verlust alles moralischen Gefühls, aller Scheu vor sich selbst, vor dem Urteil ihrer Zeitgenossen, und vor dem furchtbaren und unbestechlichen Gerichte der Nachwelt. Unfähig sich zu dem großen Gedanken ihrer wahren Bestimmung zu erheben, unfähig sich in dem schönen Lichte geborner Fürsprecher des Volkes und Mittler zwischen ihm und dem Thron anzusehen, setzten sie ihre Ehre in eine unbedingte Unterwürfigkeit unter die [185] gesetzlose Willkür des Sultans; sie wetteiferten um den Vorzug, die Werkzeuge seiner schändlichsten Leidenschaften, seiner ungerechtesten Befehle zu sein. Wer am niederträchtigsten schmeicheln, am wurmähnlichsten kriechen, am geschicktesten betrügen konnte, wer den Mut hatte einer Schandtat mit der unerschrockensten Miene unter die Augen zu gehen, kurz wer sich aller dieser Schwachheiten der menschlichen Natur, die man Scham, Mitleiden und Gewissen nennt, am vollkommensten entlediget, und in der Fertigkeit des Lasters, in der Kunst, es mit dem edelsten Anstande, mit der leichtesten Grazie auszuüben, den höchsten Gipfel erreicht hatte, – war der beneidete Mann, den die geringern Bösewichter mit Ehrfurcht ansahen; der Mann, der gewiß war sein Glück zu machen, und nach welchem jedermann sich zu bilden beflissen war. Zu einem so gräßlichen Zustande von Verderbnis hatte das Gift der Grundsätze des sinnreichen Eblis die Scheschianer gebracht; und so gewiß ist es, daß die Menschen, eben so leicht als ein weiser und guter Fürst sie zu guten Geschöpfen bilden kann, sich von einem Isfandiar zu Ungeheuern umgestalten lassen.

Dieser hassenswürdige Tyrann begnügte sich nicht, durch alle Arten von Räuberei und Unterdrückung seine Untertanen so elend zu machen, als es, ohne sie gänzlich und auf einmal aufzureiben, möglich war: er wollte sie auch dahin bringen, daß sie unfähig wärendie Tiefe ihres Elendes einzusehen. Wenn er dabei die Absicht gehabt hätte, ihnen das Gefühl desselben zu benehmen, indem er machte daß sie es für ihrennatürlichen Zustand hielten, so hätte man es ihm noch für einen Überrest von Menschlichkeit gelten lassen können. Aber Isfandiar würde sehr beschämt gewesen sein, zu dem Verdachte, daß er einer solchenSchwachheit fähig wäre, Anlaß zu geben. Er hatte keine andre Absicht dabei, als es ihnen unmöglich zu machen, auch nur den bloßen Gedanken zu fassen, daß Menschen nicht dazu erschaffen sein könnten, sich von einem Menschen so sehr mißhandeln zu lassen. Zu diesem Ende wurde Sorge getragen alles von ihnen zu entfernen, was ihnen einen gesunden Begriff von der Bestimmung und den Rechten der Menschheit, von dem Zwecke des gesellschaftlichen Vereins, und von dem unverbrüchlichen Vertrage, der dabei zum Grunde liegt, hätte geben können. Jede andre als die Philosophie des Eblis wurde aus Scheschian verbannt. Niemand durfte sich zu einem Schriftsteller aufwerfen, ohne vom Hofe dazu bevollmächtiget zu sein, und seine Schrift der Beurteilung desselben unterworfen zu haben; und ein paar ehrliche Enthusiasten, welche der Anblick ihres [186] Vaterlandes dahin gebracht hatte, in einem Anstoß von VerzweiflungWahrheiten zu sagen, welche man nur unter guten Fürsten sagen darf, wurden so grausam wegen dieser aufrührerischen Vermessenheit gezüchtiget, daß einem jeden, dem seine Ohren und seine Nase lieber waren als sein Vaterland, die Lust vergehen mußte ihrem Beispiele nachzufolgen.

Inzwischen herrschte am Hofe Isfandiars und unter den verschiednen Klassen und Ordnungen der Werkzeuge seiner Tyrannei eine alle Einbildung übersteigende Üppigkeit. Alle Künste, welche der Wollust dienstbar sind, wurden nach dem Maße ihrer Unnützlichkeit in eben dem Verhältnise hochgeschätzt und aufgemuntert, wie die nützlichern Künste nach dem Grad ihrer Nützlichkeit verachtet, gehemmt und abgeschreckt wurden. Und weil die Bestrebung, dem verzärtelten Geschmack und den stumpfen Sinnen der Großen neue Bequemlichkeiten, neue Ersparungen des kleinsten Aufwands ihrer ausgenutzten Kräfte, neue Mittel ihre schlaffen Nerven reizbar zu machen, anzubieten, beinahe der einzige Weg war, der dem Volke zu Verbesserung seines Zustandes noch offen stand: so wurden täglich neue Künste, oder wenigstens neue Werkzeuge der üppigen Weichlichkeit erfunden; und während daß der Ackerbau im kläglichsten Verfalle lag, stiegen jene zu einem Grade von Vollkommenheit, wovon man in den Zeiten der schönen Lili noch keinen Begriff hatte. Eblis triumphierte bei jeder Gelegenheit über diese herrliche Wirkung seiner Grundsätze. ›Was für Wunderwerke‹, pflegte er zu sagen, ›kann Hunger und Gewinnsucht tun! Ich biete allen Zauberern und Feen Trotz, mit allen ihren Stäben und Talismanen auszurichten, was ich ganz allein durch diese zwei mächtigen Triebräder der menschlichen Natur bewerkstelligen will.‹

In der Tat gewannen die meisten, welche Tag und Nacht für die Üppigkeit des scheschianischen Hofes arbeiten mußten, wenig mehr dabei als den notdürftigsten Unterhalt. Aber auch hier vergaß Eblis seine Grundsätze nicht. Von Zeit zu Zeit erhielt ein Mann von Talenten (wie man diese Leute nannte) eine Belohnung, welche die Begierde der übrigen so heftig anfachte, daß sich Tausende in der Hoffnung eines ähnlichen Glückes zu Tode arbeiteten. Indessen hütete man sich doch sorgfältig, kein Talent zu belohnen, bei welchem es nur im mindesten zweideutig sein konnte, daß es nicht etwann wegen eines Vorzugs in demjenigen, was die eigentliche Vollkommenheit desselben ausmacht, sondern bloß als ein Werkzeug der Üppigkeit Isfandiars und seiner Günstlinge belohnt werde.

[187] Der beliebteste Maler, der Mann dessen Arbeit mit Entzücken angepriesen und mit Golde aufgewogen wurde, war nicht der größte Meister in der Kunst; sondern derjenige, welcher leichtfertige Gegenstände auf die wollüstigste Weise zu behandeln wußte: und eine Sängerin, welche (in der Sprache dieses Hofes zu reden) albern genug war, nur durch die Vollkommenheiten einer schönen Stimme und den Gebrauch derselben zum Ausdruck hoher Empfindungen und tugendhafter Leidenschaften gefallen zu wollen, hatte die Freiheit im Besitz einer frostigen Bewunderung unbedauert zu verhungern; während eine andre, durch die anziehende Kraft ihrer Augen, durch ein gewisses wollüstiges Girren und hinsterbende Töne, üppige Bilder in der Phantasie ihrer Zuhörer rege zu machen, mit einem unendlich kleinern Talent der Abgott derLeute von Geschmack war, und den Aufwand einer Prinzessin machen konnte.

Die Weissagungen der verdrießlichen Alten, wel che dem scheschianischen Reiche von der goldnen Zeit der Königin Lili Unglück und Verderben angedrohet hatten, waren nun in ihre vollständigste Erfüllung gegangen. Der kleinste Teil der Nation führte das Eigentum und den Erwerb des größern, gleich einem dem Feind abgejagten Raub, durch die ungeheuerste Verschwendung im Triumph auf. Ein größerer Teil suchte, durch seine Bereitwilligkeit im Dienste der Großen jedes Laster zu begehen, sich ein Recht an das beneidete Glück, den Raub mit ihnen zu teilen, zu erwerben. Aber der größte Teil schmachtete in einem Zustande, den nur die lange Gewohnheitalles zu leiden und die sklavische Mutlosigkeit eines stufenweise zum Vieh herab gewürdigten Volkes, dem Tode vorziehen konnte. Die Verderbnis der Sitten war so groß, daß selbst den wenigen, welche noch einen Überrest von Rechtschaffenheit, wie aus einem allgemeinen Schiffbruche, gerettet hatten, alle Hoffnung verging, dem Strom entgegen zu schwimmen. Alle Stände hatten ihre wahre Bestimmung vergessen, oder waren unfähig gemacht worden sie zu erfüllen. Die niedrigste Klasse hörte auf zu arbeiten; das Land und die Städte wimmelten von ungestümen Bettlern, welche ihren Müßiggang, zur Schande der Regierung, mit dem Mangel der Arbeit entschuldigten. Gleichwohl wurden die fruchtbarsten Provinzen des Reichsaus Mangel an Anbauung nach und nach zu Wildnissen. Die Gewerbe nahmen zusehens ab, der Kreislauf der Lebenssäfte des Staats war allenthalben gehemmt, und die Hauptstadt selbst, die schon so lange der Schlund gewesen war, in welchen alle Reichtümer desselben sich unwiderbringlich verloren hatten, stellte den empörenden Kontrast der äußersten Üppigkeit und [188] des äußersten Elendes in einem Grade, der die Menschheit beleidigte, dar. Eine halbe Million hungernder Menschen schrie den Sultan um Brot an, wenn er sich in einem schimmernden Palankin zu einem seiner Großen tragen ließ, um den Ertrag etlicher Provinzen in einem einzigen abscheulichen Gastmahle verschlingen zu helfen – und der Lärm der Trompeten und Pauken, der dem unglücklichen Volke die grausame Fröhlichkeit seiner Tyrannen ankündigte, machte ihr Murren, ihre Verwünschungen unhörbar. Die Großen, die Günstlinge, Isfandiar selbst, konnten bei aller Bemühung, einander vorsetzlich zu verblenden, sich selbst die schreckliche Wahrheit nicht verbergen, daß sich das Reich seinem Untergang nähere. Auch mangelte es nicht an Vorschlägen und Entwürfen, den schädlichsten Mißbräuchen abzuhelfen, das Finanzwesen zu verbessern, den Untertanen ihre Last zu erleichtern, den Fleiß wieder aufzumuntern, und so ferner. Aber die einzigen von diesen Entwürfen, die der Ausführung wert waren, wurden entweder als patriotische Träume verworfen, oder unter allerlei Vorwänden dem Privatvorteile gewisser Leute aufgeopfert. Einige angebliche Verbesserungen wurden zwar ins Werk gesetzt; aber sie bestanden in bloßen Palliativen, welche die Ausbrüche des Übels eine Zeit lang verbargen, ohne die Wurzel desselben auszurotten. Die mißverstandene Maxime, daß man dem allzu tief eingedrungenen Luxus nicht Einhalt tun könne, ohne die ganze Maschine des Staats in die gefährlichste Stockung zu setzen, war immer die Antwort, womit sich diejenigen abfertigen lassen mußten, welche augenscheinlich bewiesen, daß es lächerlich sei, eine Krankheit, die man vorsetzlich ernährt, durch schmerzlindernde Mittel heilen zu wollen. Doch gesetzt auch, Isfandiar, da ihn endlich die ersten Erschütterungen des Thrones, dessen Grundfeste untergraben war, geneigt machten, zu allen Rettungsmitteln die Hand zu bieten, gesetzt er hätte einen großen, durchdachten, das Ganze umfassenden Entwurf einer allgemeinen Verbesserung unternehmen wollen: so mangelte es ihm an geschickten und redlichen Männern, denen er die Ausführung anvertrauen konnte. Wo hätte er solche Männer suchen sollen? In welcher Schule, durch welche Beispiele hätten sie sollen gebildet werden? Es war schon lange, seit der Geist der Tugend die Scheschianer verlassen hatte. Niemand bekümmerte sich um das gemeine Beste; der Name Vaterland setzte das Herz in keine Wallung; ein jeder sah in seinem Mitbürger, in seinem Bruder selbst, nichts als einen heimlichen Feind, einen Nebenbuhler, einen Menschen dessen Anteil den seinigen kleiner machte. Jeder dachte nur auf seinen eigenen Vorteil, [189] und (wenige Unbekannte, welche das Verderben ihres Volkes im verborgenen beweinten, ausgenommen) war niemand, der nicht alle Augenblicke bereit gewesen wäre, einen beträchtlichen Privatvorteil mit dem Untergang der halben Nation zu erkaufen. Der Luxus hatte die ganze Masse dieses unglücklichen Reiches mit einem so wirksamen Gift angesteckt, daß der Kopf und das Herz, der Geschmack und die Sitten, die Leiber und die Seelen seiner Einwohner, gleich ungesund, und (da das Übel seiner Natur nach langwierig ist) durch die Länge der Zeit so daran gewöhnt waren, daß dieser abscheuliche Zustand ihnen zur andern Natur geworden war. Die Gefühllosigkeit für das Elend ihrer Mitbürger herrschte nicht nur in den verhärteten Herzen der Großen; sie hatte sich aller Stände bemeistert. Jedermann dachte nur darauf, wie er die allgemeine Not zu seinem eigenen Vorteil benutzen wolle, und das Übel nahm täglich zu, so wie sich diejenigen vermehrten, die bei dem Untergange des Staats zu gewinnen hofften. Alle Rechtschaffenen hatten sich so weit als möglich von einem Hof entfernt, wo die Weisheit lächerlich und die Tugend ein Verbrechen war; und der unglückliche Isfandiar sah sich zu einer Zeit, da die Weisesten und Besten kaum hinreichend gewesen wären den Staat zu retten, von einer Bande von Witzlingen, Lustigmachern, Gauklern, Kupplern und Schelmen umgeben, welche, je näher der Augenblick des allgemeinen Untergangs heran nahte, in diesem Gedanken selbst eine neue Aufmunterung zu jedem fröhlichen Bubenstücke zu finden, und entschlossen zu sein schienen, dem Verderben in einem Rausch von sinnloser Betäubung entgegen zu taumeln.

Unter den unzulänglichen Mitteln, mit welchenEblis die Ausbrüche der tödlichen Krankheit des Staats zu verstopfen suchte, war eines, welches durch seine unvermeidlichen Folgen das Übel, dem es abhelfen sollte, unendlich verschlimmerte. In allen großen Staaten, die man jemals auf der Fläche des Erdbodens entstehen und verschwinden gesehen hat, zog der äußerste Luxus übermäßige Üppigkeit unter den Großen und Reichen, und übermäßiges Elend unter den Armen, nach sich. Beides bringt in Absicht auf die Sitten einerlei Wirkung hervor. Die Reichen stürzen sich durch Verschwendung und Müßiggang in die Gefahr arm zu werden; der Anblick dieser Gefahr ist ihnen unerträglich, und um ihr zu entgehen, ist kein Verbrechen, keine Schandtat, keine Unmenschlichkeit, welche sie nicht zu begehen bereit sein sollten. Und warum sollten sie nicht? da der Witz (der bei ihnen die Stelle der Vernunft vertritt) dem Laster schon lange den Weg gebahnt, und mit Hülfe einesverzärtelten [190] Geschmackes gearbeitet hat, den Unterschied zwischen Recht und Unrecht aufzuheben, und das angenehme oder nützliche Verbrechen mit tausend Reizungen, ja selbst mit dem Schein der Tugend auszuschmücken. Die Armen bringt die Verzweiflung, einen andern Ausweg aus ihrem gegenwärtigen Elend zu finden, zu dem unglücklichen Entschluß, es durch lasterhafte Mittel zu versuchen. Ein Elender, der nichts zu verlieren hat, läßt sich, um seinen Zustand zu verbessern, zu allem gebrauchen; er wird ein Betrüger, ein falscher Zeuge, ein Giftmischer, ein Meuchelmörder, sobald etwas dabei zu gewinnen ist. Andre, welche die Unterdrückung mutlos, und die Mutlosigkeit faul gemacht hat, stürzen sich auf dem abhängigen Wege des Müßiggangs bis in die schändlichsten Laster hinab. Sie werden aus Bettlern Diebe, aus Dieben Straßenräuber und Mordbrenner. Andere finden in dem schimmernden Zustande, worein sie Leute, die eben so wenig Ansprüche an Glück zu machen hatten als sie selbst, durch Aufopferung der Tugend versetzt sehen, einen Reiz, den die Vergleichung desselben mit ihrem gegenwärtigen Elend unwiderstehlich macht. Ist es Wunder, wenn der Anblick einer mit Diamanten behangenen Lais, die in einem vergoldeten Triumphwagen den Gewinn ihrer Unzucht zur Schau trägt, tausend junge Dirnen zu Priesterinnen der Venus, oder wenn der Anblick eines zu den höchsten Würden im Staat empor gestiegenen Kupplers tausend Kuppler macht? Es ging also sehr natürlich zu, wenn zu Isfandiars Zeiten alle Arten von Lastern in Scheschian im Schwange gingen; nichts als ein unaufhörliches Wunderwerk hätte die natürlichen Wirkungen täglich anwachsender Ursachen hemmen können. Der Übergang von einer Stufe des Lasters zur andern ist unmerklich; es kostet unendlich mehr Mühe sich zu der kleinsten vorsetzlichen Übeltat, wenn esdie erste ist, zu entschließen, als das Ärgste zu begehen, wenn man einmal die unglückliche Leichtigkeit, Böses zu tun, erlangt hat. Kommt dann noch die Ansteckung verdorbener Sitten bei einem ganzen Volke, und das häufige Schauspiel der unterdrückten Tugend und des siegprangenden Lasters hinzu; sehen wir den Fürsten und die Großen selbst die Verachtung der Gesetze und der Tugend durch ihr Beispiel aufmuntern: dann ist wahrhaftig der Fall da, wo es eben so barbarisch ist Verbrechen zu bestrafen, als es ungerecht wäre, einem Menschen, den man hinterlistiger Weise trunken gemacht, die Ausschweifungen zur Last zu legen, die er in der Abwesenheit seiner Vernunft begangen hätte.

Eblis machte diese Betrachtung nicht. Er sah nur das Übel; die Quelle wollt er nicht sehen. Aber das Übel erheischte schleunige [191] Mittel. Die geringern Verbrechen hatten für die Scheschianer nichts Abschreckendes mehr, denn die ungeheuersten fingen an alltäglich zu werden. Giftmischerei und Vatermord wurden so gewöhnlich, daß sich niemand mehr getraute mit seinem Erben unter Einem Dache zu wohnen. Alle Bande der Gesellschaft waren los; und wie hätten die bürgerlichen Gesetze einem Volke, welches die Natur selbst zu mißhandeln fähig war, Ehrfurcht einprägen sollen? Keine öffentliche Sicherheit, keine Scheu vor der Schande mehr! Es war leichter unter der Klasse, welche sich Leute von Ehre nennen, einen falschen Zeugen oder einen Meuchelmörder, als unter dem Pöbel einen Tagelöhner zu mieten. Die allgemeine Verderbnis hatte auch die schönere Hälfte der Nation alles dessen beraubt, was die Schönheit veredelt und sogar den Mangel derselben vergüten kann. Schamhaftigkeit und Unschuld, die lieblichsten Grazien dieses Geschlechts, waren den Scheschianerinnen fremde – noch mehr, sie waren ihnen lächerlich geworden. Es war unmöglich, eine ehrliche Frau von einer Metze an etwas anderm zu unterscheiden, als an der seltsamen Affektation, womit diese sich bemühten wie ehrliche Frauen, und jene wie Metzen auszusehen. Mit einem Buhler davon zu laufen, oder einem Manne, der nicht so viel Gefälligkeit hatte als ein Mann von Lebensart haben sollte, Rattenpulver einzugeben, waren Verbrechen, denen sich ein jeder, der das Unglück hatte vermählt zu sein, täglich ausgesetzt sah. Die Justiz hatte ihr möglichstes getan, den unleidlichen Ausbrüchen dieses sittlichen Verderbens Einhalt zu tun. Alle Gefängnisse und alle Galgen in Scheschian waren angefüllt; aber man verspürte keine Abnahme des Übels. Die Hauptstadt selbst, ungeachtet der künstlichen und scharfen Polizei, welche Eblis darin eingeführt hatte, sah mehr einem ungeheuern Haufen von schändlichen Häusern und Mördergruben als dem Mittelpunkt eines großen Reichs ähnlich. ›Verzweifelte Übel erheischen verzweifelte Heilungsmittel‹, sagten die politischen Quacksalber an Isfandiars Hofe. Man schärfte also die Strafgesetze, man vermehrte sie ins unendliche, man erfand neue Todesarten, man ermunterte die Angeber geheimer Verbrechen durch ansehnliche Belohnungen, man bemächtigte sich der Personen auf den leichtesten Argwohn, – und man war ungemein betroffen, oder stellte sich doch wenigstens so, da man gewahr wurde, daß eine so vortreffliche Justiz – die Scheschianer nicht besser machte. Im Gegenteil zeigte sich bald, daß die Kur ärger als die Krankheit selbst war. Man wollte die öffentliche Sicherheit wieder herstellen, und die allgemeine Gefahr vermehrte sich. Man wollte dem Verbrechen Einhalt tun, und [192] man öffnete ihm tausend neue Pforten. Zuvor hatten die Scheschianer nur vor Räubern und Mördern gezittert: itzt zitterte man auch noch vor den Angebern. Zuvor kannte der Unmensch, der durch eines andern Tod gewinnen wollte, kein andres Mittel zu seinem Zwecke zu gelangen als Gift und Dolch: nun gab es ein gesetzmäßiges Mittel, wobei wenig Gefahr und viel zu gewinnen war; man machte sich zum Angeber und ging mit seinem Anteile an dem Raube der Justiz im Triumphe davon. Die Scheschianer merkten bald, daß die Profession der Angeber einträglicher war als irgend eine andre. Sie gab häufige Gelegenheiten sich um die Großen verdient zu machen, und verschiedene Beispiele eines schleunigen und blendenden Glückes, welches auf diesem Wege war gefunden worden, reizten die allgemeine Begierlichkeit. Jedermann ward zum Angeber. Das Laster verlor in der Tat die Sicherheit, die es so lange genossen, aber zum Unglück hatte die Unschuld hierin keinen Vorteil vor ihm. Die Scheschianer fanden, alles gegen einander abgewogen, mehr Vorteil dabei, wenn sie fortführen lasterhaft zu sein; und so zeigte sich am Ende, daß man durch diese übel bedachten Veranstaltungen die Verbrechen nicht abgeschreckt, aber wohl den kleinen Überrest von Unschuld und Tugend, der den verdorbenen Staat noch vor der Fäulnis und gänzlichen Auflösung bewahrte, völlig vernichtet hatte.

Ärger konnte wohl eine Staatsoperation von solcher Wichtigkeit nicht mißlingen. Aber der schlaue Eblis hatte doch etwas dabei gewonnen, wodurch er überflüssig entschädigt zu sein glaubte. Die unendliche Vermehrung der Strafgesetze hatte ihm, unter dem Schein einer preiswürdigen Fürsorge für die Sitten, einen Weg gezeigt, die Sünden der Scheschianer zu einer reichen Quelle von Einkünften zu machen. Die Ergiebigkeit derselben hatte etwas so Anreizendes, daß man täglich auf die Vervollkommnung dieses edlen Zweiges der Finanzen bedacht war. Insonderheit schien das Verbrechen der beleidigten Majestät ein herrliches Mittel, sich der Güter der Großen und Reichen mit guter Art zu bemächtigen. Die Rechtsgelehrten von Scheschian (Leute welche für einen leidlichen Preis alles was der Hof gern sah zu Recht erkannten) erschöpften daher alle ihre Scharfsinnigkeit, die Theorie eines so einträglichen Verbrechens aufs feinste auszuarbeiten; sie setzten alle seine Äste und Zweige bis auf die allerkleinsten Fäserchen sehr künstlich aus einander, und bewiesen zum Schrecken der armen Scheschianer, daß man zu gewissen Zeiten kaum ein Glied rühren, kaum Atem holen könnte, ohne sich dieses furchtbaren Lasters schuldig zu machen.

[193] Es konnte mit einem bloßen Worte, mit einer Miene, in Gedanken, ja sogar im Traume – es konnte an dem elendesten Gemälde das den König vorstellte, an einem Bedienten der königlichen Küche, an einem königlichen Hunde, an dem Napfe worein der König spuckte, begangen werden. Der behutsamste Tadel der Maßregeln des Hofes, der kleinste Seufzer, den das Mitleiden mit sich selbst einem Unrecht leidenden Scheschianer auspreßte, die leiseste Berufung auf die Rechte der Menschheit, war ein Majestätsverbrechen. Zum Beweise, daß man des Vergnügens zu strafen nicht satt werden könne, schien man nichts Angelegners zu haben, als der Nation täglich neue Gelegenheiten zu geben, sich strafbar zu machen; und niemand, ach niemand! ließ sich in den Sinn kommen, daß das strafwürdigste, das ungeheuerste aller Verbrechen – die Beleidigung der Menschheit sei.«

»Danischmend«, rief der Sultan aus, »ich bin deines Isfandiars müde. Der Sultan, sein Günstling, sein Hof und seine Untertanen sind samt und sonders nicht würdig, länger von der Sonne beschienen zu werden. Wie wenn du eine hübsche Sündflut kommen ließest, und die ganze ekelhafte Brut vom Erdboden wegspültest?«

»Sire«, sagte Danischmend, »dies ist die Sache des Himmels: er wird seine Ursache haben, warum er einer verbrecherischen Welt so lange zusieht.«

»Keine Metaphysik, Herr Doktor! Höre was ich dir sagen werde. Ich gebe dir bis morgen Bedenkzeit, ob du sie durch ein Erdbeben, oder durch eine Sündflut, oder durch Heuschrecken und Pest vertilgen willst. Genug, wenn sie mir nur je eher je lieber aus den Augen kommen.«

4
4.

»Die Lebenskräfte eines großen Reiches« (so fuhr Danischmend des folgenden Abends fort) »sind beinahe unerschöpflich; und eine Nation kann sich Jahrhunderte lang ihrem Untergange nähern, kann oft unmittelbar an dem Rande desselben schwanken, und noch Kräfte genug haben, sich wieder aufzuraffen und den schrecklichen Augenblick etliche Jahre weiter hinaus zu setzen. Ein weitläufiges, unter einem günstigen Himmel liegendes Land, welches eine lange Zeit aufs fleißigste angebaut worden ist, muß lange verwahrloset werden, bis es zur Wildnis wird; und Menschen, welche einmal an gewisse Gesetze, an einen gewissen Grad von Unterwürfigkeit gewöhnt sind, können unendlich viel leiden, bis das Unvermögen ihren Zustand [194] länger auszustehen die Bezauberung auflöst, oder Verzweiflung ihnen wenigstens den Mut gibt – zu sterben.

Diese Betrachtung pflegt die Werkzeuge einer ungerechten Regierung bei dem Anblick der zerstörenden Folgen ihrer Tyrannei gleichgültig und sicher zu machen. Das Übel ist noch nicht so groß, denken sie; der Esel schleppt sich noch immer unter seiner Last fort, er kann noch mehr tragen; und so wird immer noch mehr aufgelegt, bis er zu Boden sinkt und stirbt. 35 Indessen ist wahrscheinlich, daß sich eine Wissenschaft erfinden ließe, wie man, unter gegebenen Umständen, für jedes Land den Tag, die Stunde, und den Augenblick ausrechnen könnte, wo der Staat unter einer gewissen Summe von Übeln – (die Dazwischenkunft irgend eines wohltätigen Wunderwerks ausbedungen) – einsinken müßte; und nichts ist mehr zu wünschen, als daß zum Besten des menschlichen Geschlechts ein Preis auf Erfindung eines solchen politischen Barometers gesetzt werden möchte.«

Schach-Gebal hatte, wie man vielleicht schon bemerkt haben wird, gewisse Launen, worin er, bei allem seinem Witz, Dinge zu sagen fähig war, welche seinem Oheim Schach-Baham Ehre gemacht hätten. Die Wahrheit zu sagen, er hörte zuweilen nur mit halbem Ohr, und dies war gerade, was ihm diesmal begegnete. Sobald er hörte, daß Danischmend seinen Diskurs mit einer Reflexion anfing, überließ er sich, ohne ganz unachtsam darauf zu sein, den Gedanken, die sich von ungefähr anboten, bis ihn der politische Barometer, wie ein elektrischer Schlag, auf einmal wieder zur Aufmerksamkeit weckte. Die Idee gefiel ihm. »Höre Danischmend«, rief er, »der Einfall, den du da hattest, ist vortrefflich. Wenn es nur an einem Preise liegt, so setze ich zehntausend Bahamd‹ or für den Erfinder aus. Du kannst morgen dem Präsidenten meiner Akademie Nachricht davon geben.«

[195]

Nurmahal und Danischmend sahen einander verstohlner Weise an; aber der Ton des Sultans war zu ernstlich, als daß es ratsam gewesen wäre, ihn mit Lächeln zu beantworten. Sie zogen sich also mit Hülfe einer kleinen Grimasse so gut aus der Sache, als es in der Eile möglich war. Danischmend versicherte Seine Hoheit, der zehente Teil des versprochnen Preises werde hinlänglich sein, die Philosophen von Indostan in Tätigkeit zu setzen; und Schach-Gebal ergetzte sich nicht wenig an dem Gedanken, seine Regierung durch eine so sinnreiche und nützliche Erfindung verherrlicht zu sehen. Nach einer kleinen Weile fuhr Danischmend, auf Befehl des Sultans, in seiner Erzählung fort.

»Aus Mangel des politischen Lastenmessers, welcher das Glück gehabt hat den Beifall Ihrer Hoheit zu erhalten, läßt sich dermalen nicht genau bestimmen, wie lange Scheschian unter Isfandiars Regierung noch hätte schmachten können, wofern dieser unweise Fürst durch einen Schritt, der in den damaligen Umständen des Reichs durch nichts gerechtfertiget werden konnte, die fatale Stunde nicht selbst herbei gerufen hätte.

Ihre Hoheit erinnern Sich ohne Zweifel noch derBlauen und Feuerfarbnen, die unter der RegierungAzors so gefährliche Unruhen in Scheschian angezündet hatten. Isfandiar, der sich bei seiner Thronbesteigung das Gesetz gemacht zu haben schien, alles zu hassen was sein Vater geliebt hatte, nahm einige Jahre lang die Feuerfarbnen aus keinem andern Grund in seinen besondern Schutz, als weil unter der vorigen Regierung die Blauen die Oberhand gehabt hatten. Damit ja niemand an dem Beweggrunde seines Betragens zweifeln könnte, spottete er öffentlich und ohne Zurückhaltung über den Glauben der einen und der andern. Eblis hatte ihn angewöhnt, die Religion überhaupt in einem falschen Lichte zu betrachten. Nichts konnte kürzer sein als die Metaphysik dieses Günstlings war. ›Notwendigkeit und Ungefähr‹, sagte er, ›haben sich in die Regierung der Welt geteilt. Der Mensch schwimmt wie ein Sonnenstaub im Unermeßlichen; sein Dasein ist ein Augenblick; dieser Augenblick ist alles was er sein nennen kann, und sich diesen Augenblick zu Nutze zu machen, ist alles was er zu tun hat.‹ – Auf solche Trugschlüsse hatte er die ruchlose Sittenlehre und die tyrannische Staatskunst gebaut, wovon der Untergang seines Vaterlandes die Folge war. ›Die Religion‹, sagte man öffentlich an Isfandiars Hofe, ›ist eine nützliche Erfindung der ältesten Gesetzgeber, um unbändige Völker an ein ungewohntes Joch anzugewöhnen. Sie ist ein Zaum für das Volk; die Beherrscher desselben müssen den Zügel in [196] ihrer Hand haben: aber den Zaum sich selbst anlegen zu lassen, wäre lächerlich.‹

Wenn diese Sätze auch in gewisser Maße auf das, was man Staatsreligion nennt, anwendbar wären, so konnte doch nichts unbesonnener sein, als sie laut genug zu sagen, um von jedermann gehört zu werden. Wiewohl Eblis die Religion nur für ein politisches Mittel gegen die Unbändigkeit des Pöbels hielt, so hätte er doch einsehen sollen, daß die gute Wirkung dieses Mittels lediglich von dem Glauben an seineKraft abhängt; so wie die Amulette, womit die Braminen und Bonzen ihre Anhänger in Ostindien und Sina zu beschenken pflegen, nur durch die hartnäckige Zuversicht zu ihren geheimnisvollen Kräften einige Wirkung tun können. Dem Volk öffentlich sagen daß man es nur betrüge, und erwarten daß es sich dem ungeachtet immerfort betrügen lassen werde, setzt eine Geringschätzung des gemeinen Menschenverstandes voraus, welche der Klugheit des witzigen Eblis wenig Ehre macht. Dieses Betragen mußte nach der damaligen Lage der Sachen in Scheschian notwendig einen gedoppelten Schaden tun. Auf der einen Seite schlich die Verachtung der Religion von den Großen und Gelehrten sich nach und nach bis zum Pöbel herab, welcher froh zu sein schien, daß seine Beherrscher töricht genug waren, den Damm, der ihnen noch einige Sicherheit gegen den Schwall der allgemeinen Verderbnis verschaffen konnte, selber zu durchstechen. Auf der andern Seite ließen die Bonzen von der blauen Partei, wie leicht zu erachten ist, diesen Anlaß, ihre verfallenen Angelegenheiten wieder herzustellen, nicht unbenützt. Je näher die Gefahr andrang, welche dem scheschianischen Aberglauben den Untergang drohte, desto eifriger waren sie, kein Mittel unversucht zu lassen, das Volk aus seiner schlafsüchtigen Gleichgültigkeit aufzuwecken, und in das wilde Feuer einer fanatischen Andacht zu setzen. Unter den Händen einer weisen Regierung würde die Gleichgültigkeit der Scheschianer gegen den ungereimten Glauben ihrer Väter das Mittel geworden sein, eine große Verbesserung ohne gewaltsame Erschütterungen und auf eine beinahe unmerkliche Weise zu bewerkstelligen. Aber die Unbesonnenheit der anmaßlichen Philosophen dieser Zeit, das alte Gebäude einzureißen, ohne ein anderes von festerem Grunde, bessern Materialien und edlerer Bauart auszuführen, ließ, nicht nur diese glückliche Gelegenheit entschlüpfen, sondern vermehrte noch die Übel, welche die unmittelbaren Früchte des Unglaubens sind, mit allen den unseligen Folgen des Fanatismus, der (wie uns die Jahrbücher der Menschheit belehren) allemal, wenn Gottlosigkeit und sittliche [197] Verwilderung am höchsten gestiegen sind, seine verwüstende Fackel am heftigsten geschwungen, und oft ganze Weltteile das grausame Schicksal eines Landes, das von Feinden und Freunden zugleich verheeret wird, hat erfahren lassen.

Der Hof, dessen einzige Beschäftigung war, die allgemeinen Übel des Staats in seinen besondern Nutzen zu verwenden, unterließ nicht, alle Bewegungen derBlauen aufs schärfste zu beobachten, und fand desto leichter Gelegenheit ihnen beizukommen, da sie, durch ihre schwärmerische Hitze verblendet, sich stark genug glaubten, ihre Gegner, die Feuerfarbnen, und den Hof der sie beschützte selbst, heraus zu fordern. Wiewohl sie, der Zahl nach, die kleinere Partei ausmachten, so schien ihnen doch der Reichtum ihrer vornehmsten Glieder eine desto gewissere Überlegenheit zu geben, da, ordentlicher Weise, der Reichste derjenige ist, der sich die meisten Anhänger zu verschaffen weiß. Aber eben diese Reichtümer waren das, was die Raubsucht Isfandiars und seiner Gehülfen reizte. Man beschloß sich derselben unter einem Vorwande zu bemächtigen, den man entstehen lassen konnte sobald man wollte. Man stellte sich als ob man über die Bewegungen der Blauen unruhig würde; man sprach viel von Gefahren, welche über dem Nacken des Staats schweben sollten; man flüsterte von einer übel gesinnten Partei, von geheimen Anschlägen, von verdächtigen Zusammenkünften; und man endigte damit, daß es vonnöten sein werde, mit einiger Strenge gegen die Blauen zu verfahren. Man hielt mehr als man versprochen hatte, in Hoffnung, die Blauen würden sich nicht geduldig genug mißhandeln lassen, um keine Gelegenheit zu größern Mißhandlungen zu geben; und man fand sich nicht betrogen. Kurz, man ruhete nicht, bis man sie zu einigen Bewegungen aufgereizt hatte, denen man den Namen von Aufruhr und Empörung geben konnte; und nun hatte Eblis seinen Zweck erreicht. Aber er und der unglückliche Isfandiar genossen diese Freude nicht lange. Die Blauen, angeflammt von einigen schwärmerischen Anführern, welche desto mehr zu gewinnen hofften je weniger sie zu verlieren hatten, empörten sich endlich im ganzen Ernste. Eine unendliche Menge von Mißvergnügten aller Arten schlug sich zu ihrer Partei. Das Volk, welches schon lange mit Ungeduld auf ein öffentliches Zeichen zum Aufruhr gewartet hatte, rottete sich in verschiedenen Provinzen von Scheschian zusammen, riß allenthalben die Bildsäulen Isfandiars nieder, plünderte seine Kassen, und ermordete alle, die es als Werkzeuge seiner tyrannischen Regierung verabscheute. Der Taumel, worin man am Hofe zu Scheschian zu leben gewohnt war, machte, daß man die ersten [198] Ausbrüche eines Aufstandes, von welchem so leicht vorher zu sehen war daß er allgemein werden würde, mit Verachtung ansah; und Eblis glaubte einen großen Streich gemacht zu haben, da er die Anführer einer zusammen gelaufnen Rotte, welche in der Hauptstadt selbst Unruh erregt hatte, mit Strafen belegen ließ, bei deren bloßer Erzählung allen übrigen, wie er sagte, die Waffen aus den Händen fallen sollten. Aber er kannte die menschliche Natur nur halb. Das unmittelbare Anschauen dieser Strafen, und der Anblick einiger tausend gedungener Mörder, bereit, auf den ersten Wink, wie eben so viele wilde Tiere, unter ein friedsames und schüchternes Volk einzufallen, hätte diese Wirkung allerdings getan: aber dieNachrichten, welche sich von diesen neuen Beweisen der Grausamkeit Isfandiars in den Provinzen verbreiteten, taten eine ganz entgegen gesetzte auf die Einbildungskraft der Scheschianer. Ihr Mißvergnügen verkehrte sich in Wut; die Anführer der Empörung fanden sich nun in der unumgänglichen Notwendigkeit zu siegen, oder wenigstens nicht ungerochen zu sterben. Der Aufstand, dessen Gefahr Eblis, so lang es möglich war, seinem betrogenen Herrn verborgen hatte, gewann in kurzem eine solche Gestalt, daß man sich gezwungen sah Isfandiarn die Augen zu öffnen.

Dieser Prinz, dem es weniger an Mut, als an der Geschicklichkeit ihn zu regieren, fehlte, machte sich fertig, an der Spitze eines Kriegsheers, dessen Treue er durch große Geschenke und noch größere Versprechungen erkauft zu haben glaubte, zum ersten Mal in seinem Leben – gegen seine eigenen Untertanen zu Felde zu ziehen. Die Häupter der Empörung hatten inzwischen Zeit genug gehabt, sich in Verfassung zu setzen, Abrede mit einander zu nehmen, und nach einem gemeinschaftlichen Plane zu handeln. Da sie entschlossen waren, die Waffen nicht eher niederzulegen, bis sie die Wohlfahrt des Staats und die Rechte seiner Bürger gegen die Anmaßungen der willkürlichen Gewalt auf eine dauerhafte Art sicher gestellt hätten: so fanden sie nötig alles so viel möglich zu vermeiden, was ihrem Unternehmen das Ansehen eines strafbaren Aufruhrs geben könnte. Das ganze Scheschian sollte überzeugt werden, daß sie die Waffen nicht gegen ihren rechtmäßigen König, sondern bloß zu notgedrungner Beschützung ihrer wesentlichsten Rechte gegen die Eingriffe seiner Ratgeber ergriffen hätten. In dieser Absicht ließen sie eine Art von Manifest an Isfandiarn gelangen, worin sie, nach einer lebhaften Vorstellung aller ihrer Beschwerden, sich erklärten, daß sie sogleich wieder aus einander gehen wollten, sobald der König diesen Beschwerden abgeholfen, und, zum Beweise seiner Aufrichtigkeit, [199] den Günstling Eblis der gerechten Rache einer ganzen beleidigten Nation ausgeliefert haben würde.«

»Dies«, sagte Schach-Gebal, »war eine Zumutung, wozu ein Fürst, der auf seine Ehre hält, sich nie verstehen wird.«

»Auch war Isfandiar weit von einem solchen Gedanken entfernt«, fuhr Danischmend fort. »Aber es währte nicht lange, so bekam er Ursache sich reuen zu lassen, daß er die Erhaltung eines Einzigen – die auf der Waage der Klugheit ein Atom ist, wenn die Wohlfahrt des Staats und die Sicherheit des Thrones in der andern Schale liegt, – für wichtig genug angesehen hatte, sie so teuer zu erkaufen. Eblis wurde bald gewahr, daß die Sachen seines Herrn und seine eigene einer furchtbaren Entscheidung nahe waren. Er fand es zu gefährlich für sich selbst, seine eigene Sicherheit von dem Ausgang eines Treffens abhangen zu lassen, von welchem er sich in jeder Betrachtung wenig versprechen konnte. Er bedachte sich also nicht lange. Treue, Dankbarkeit, Freundschaft konnten ihn nicht verhindern, eine schändliche Tat zu tun; denn sie waren für ihn bloße Namen ohne Bedeutung. Er ließ sich in geheime Unterhandlungen mit den Häuptern der Mißvergnügten ein, und machte sich anheischig, mit dem größten Teile des königlichen Kriegsheeres zu ihnen überzugehen, wofern sie ihm die Ehre, auf gleichen Fuß mit ihnen selbst an der Wiederherstellung der öffentlichen Ruhe zu arbeiten, zugestehen und hinlänglich versichern würden. Die Empörten gingen alles ein, und Eblis arbeitete inzwischen mit eben so viel Eifer als Behutsamkeit daran, die Truppen und ihre vornehmsten Anführer teils in seinen Anschlag zu ziehen, teils zu unwissenden Werkzeugen desselben zu machen; und dies tat er zu eben der Zeit, da er seinen Herrn durch den Schein der feurigsten Ergebenheit und durch eine Menge falscher Nachrichten in die tiefste Sicherheit zu versenken wußte. Sein Anschlag ging so glücklich von Statten, daß er, in einem Anstoße des Schwindelgeistes, welcher große Verbrecher schon so oft zu Werkzeugen ihres eigenen Untergangs gemacht hat, auf einmal sich die stolze Hoffnung träumen ließ, in dem Augenblicke, da Isfandiar vom Throne herab stürzen würde, sich selbst hinauf zu schwingen. Die Empörten hatten bisher noch immer geneigt geschienen, die königliche Würde in dem verhaßten Isfandiar zu schonen. Aber Eblis stellte ihnen vor, daß es unmöglich sei, so lange der Tyrann lebe, an eine dauerhafte Staatsverbesserung zu denken, oder nur Sicherheit für ihre eignen Personen und Güter zu hoffen. Er wußte ihnen die Notwendigkeit, das Übel (wie er sagte) durch einen kühnen Streich an der Wurzel abzuhauen, so eindringend vorzustellen, [200] daß man ihn auf alle mögliche Weise zu unterstützen versprach, wofern er die Ausführung dieses Streiches übernehmen wollte.

Alles schien sich zu vereinigen, den Verräter Eblis des glänzenden Ziels seiner Wünsche teilhaftig zu machen, als er auf einmal (aber zu seinem Unglück erst da es zu spät war) die Erfahrung machte: daß der Lasterhafte sehr unrecht tut, wenn er von den Werkzeugen seiner Übeltaten Tugend erwartet. Eblis hatte gehofft, die Wenigen, denen er sein Geheimnis anzuvertrauen genötiget war, durch Eidschwüre, Belohnungen und Erwartungen eines schimmernden Glückes gefesselt zu haben. Aber er betrog sich. Einer von ihnen machte die Bemerkung, daß wahrscheinlicher Weise noch mehr zu gewinnen sei, wenn er dem Sultan die Treulosigkeit seines Vertrauten entdecken würde. Er tat es eine Stunde zuvor, ehe der Anschlag gegen das Leben des Sultans ausgeführt werden sollte. Es war um Mitternacht. Isfandiar, von wütendem Grimm über die Undankbarkeit eines Günstlings, für den er sich selbst aufgeopfert hatte, hingerissen, verschmähte den bloßen Gedanken der Flucht. Der Emir, der ihm die Verschwörung entdeckte, hatte nicht vergessen, sich vorher eines Teils der Leibwache zu versichern. Von diesen und von allen, auf deren Treue er sich am meisten verlassen zu können glaubte, umgeben, befahl Isfandiar, den Verräter Eblis und die übrigen Zusammenverschwornen in Verhaft zu nehmen. Sie hatten sich eben an einem abgeredeten Orte versammelt, um zur Ausführung ihres Vorhabens zu schreiten, als sie gewahr wurden, daß sie verraten waren. Es brauchte nur einen Augenblick, um das Schreckliche ihrer Lage in seiner ganzen Größe zu übersehen. Die Verzweiflung allein konnte ihnen den einzigen Ausweg öffnen, der noch möglich war. Sie entschlossen sich zum hartnäckigsten Widerstand. ›Der schrecklichste Tod ist uns gewiß‹, rief Eblis: ›mit den Waffen in der Hand können wir, im unglücklichsten Falle, nur sterben; aber es ist eben so wohl möglich, daß wir die Oberhand erhalten.‹ Wütend schlugen sie sich durch die Trabanten Isfandiars hindurch, drangen mit großem Geschrei in den Palast ein, und stießen alles nieder, was sich ihnen entgegen setzte. In wenigen Augenblicken war der ganze Palast in Aufruhr; die meisten schlugen sich auf die Seite der Verschwornen. Der Augenblick kam, da derjenige, zu dessen Füßen vor kurzem Millionen Sklaven im Staube sich wälzten, in angstvoller Betäubung nach Hülfe, nach Mitleiden umher sah, und nicht einen einzigen fand, welcher Tugend genug gehabt hätte, seine Brust zum Schilde eines verabscheuten Königs zu machen. ›Ja‹, rief er den auf ihn eindringenden Verschworenen entgegen, ›ich will sterben, aber [201] ich will nicht ungerochen fallen.‹ Mit diesen Worten stürzte er sich mit gezücktem Dolch auf Eblis hin; doch eh er ihn erreichen konnte, fiel er von unzähligen Stichen durchbohrt zu Boden. Inzwischen hatte der Lärm, den dieser wilde Auftritt im Palaste verursachte, einen großen Teil der Hauptstadt aus dem Schlaf erweckt. Das Volk stürmte haufenweise herbei. Dumpfes, gräßliches Geschrei: ›Freiheit, Freiheit! weg mit dem Tyrannen und seinen Gehülfen!‹ schallte furchtbar durch die Hallen des Palasts. Eblis, mit dem Haupte Isfandiars an der Spitze seines Schwerts, hoffte durch diesen Anblick die Raserei des Pöbels zu besänftigen: aber das abgerissene Haupt des Sultans in der Hand seines treulosen Günstlings zu sehen, dieser Anblick veränderte auf einmal den Gegenstand ihrer Wut. Der Verräter wurde in Stücken zerrissen. Alle die ihn verteidigen oder rächen wollten, fielen. Der Palast wurde geplündert und in Flammen gesetzt. Das Feuer ergriff einen Teil der Stadt, und fraß desto schneller um sich, da niemand daran dachte, seinen Verwüstungen Einhalt zu tun. Alle Greuel eines allgemeinen Aufruhrs vereinigten sich, die unglückliche Stadt Scheschian etliche Tage lang zu einem Schauplatz von Taten zu machen, von welchen die Menschlichkeit schaudernd ihr Antlitz wendet. Gleichwohl war dies alles nur der Anfang, und, so zu sagen, das Zeichen zur allgemeinen und völligen Auflösung aller Bande, wodurch die Nation bisher noch zusammen gehalten worden war. Isfandiar hinterließ keinen gesetzmäßigen Thronfolger; denn er hatte seine Brüder und seine Neffen, die Söhne eines jüngern Bruders von Azorn, bald nach seiner Thronbesteigung unter verschiedenem Vorwande aus dem Wege geräumt. Die vornehmsten Städte des Reichs machten Anstalten sich in Freiheit zu setzen, konnten aber über die Gestalt der Verfassung, welche sie sich geben wollten, so wenig einig werden, daß sie entweder durch bürgerliche Unruhen zu Grunde gingen, oder bald diesem bald jenem von fünf oder sechs der mächtigsten Emirn, welche um die Krone stritten, sich unterwerfen mußten. Während dieses Streites, der mit aller Wut und Langwierigkeit eines Bürgerkrieges geführt wurde, erfuhr Scheschian die Drangsale der Anarchie zum zweiten Mal in einem Grade, der entsetzlich gewesen sein muß, da er mit der Stufe der Verderbnis, zu welcher die Nation herab gesunken war, in Verhältnis stand. Etliche Jahre lang schien alles Gefühl von Moralität in jeder Seele bis auf den letzten Funken erloschen zu sein, und den ungeheuern Leichnam des Staats einer scheußlichen Verwesung überlassen zu haben. Auch würde dies, allem Ansehen nach, das Schicksal von Scheschian gewesen sein, wofern nicht der [202] Schutzgeist der Menschheit zu einer Zeit, da man alle Hoffnung aufzugeben anfing, den unglücklichen Rest einer einst so großen und blühenden Nation mit mitleidigen Augen angesehen hätte.«

»Ich danke dir, Danischmend«, sagte Schach-Gebal, »für die gute Justiz, welche du, zur Ehre des Thrones und zur Warnung aller künftigen Isfandiarn und Eblissen (wenn anders die Natur jemals wieder ihresgleichen hervorbringen sollte) an diesen Ungeheuern ausgeübet hast. Im übrigen will ich dir nicht verhalten, daß du uns eine Art von Genugtuung dafür schuldig bist, uns seit dem ehrlichen Ogul-Kan (der bei allem dem gleichwohl einige große Untugenden hatte) mit lauter namenlosen oder schwachen Königen unterhalten, und die Reihe zuletzt gar mit einem Taugenichts beschlossen zu haben, der in der Tat so hassenswürdig ist, daß der verdienstloseste unter seinen Vorgängern bloß dadurch, weil man gar nichts von ihm sagen kann, in Vergleichung mit ihm zu einem guten Fürsten wird. Es ist unangenehm einen so mißgestalteten Charakter nur für möglich zu halten.«

»Und noch unangenehmer«, sagte Danischmend, »daß schwerlich eine Nation auf dem Erdboden ist, welche sich des Glückes rühmen könnte, unter ihren Fürsten keinen Isfandiar gehabt zu haben. Gleichwohl deucht mir sogar dieser schlimmste unter den Königen von Scheschian weniger Haß als Bedauern verdient zu haben. Alle Umstände, in welchen er lebte, schienen von irgend einem feindseligen Genius zu seinem Verderben zusammen geordnet zu sein. Kein tugendhafter, kein ehrlicher Mann unter seinem ganzen Volke, welcher Menschlichkeit genug gehabt hätte, dem verblendeten Fürsten wenigstens aus Mitleiden die Wahrheit zu sagen! Lauter abschätzige Sklaven zu seinen Füßen, lauter schändliche der Schamröte unfähige Schmeichler an seinem Ohr! Sollte man es für möglich halten, daß ein Isfandiar, ein gekrönter Missetäter, dessen Leben eine Kette von lasterhaften und unsinnigen Ausschweifungen war, von einer Menge von Rednern und Schriftstellern seiner Zeit mit allen Lobsprüchen, die nur immer der beste König verdienen kann, überhäuft worden sein könnte? Sollte man glauben, daß ein Scheschianer unverschämt genug habe sein können, diesen nämlichen Isfandiar, in Gegenwart von Tausenden, deren Blicke und Mienen ihn Lügen straften, den würdigsten und geliebtesten unter den Fürsten, den Vater seines Volkes, den wohltätigen Schutzgott seines Reiches zu nennen? Gleichwohl gab es unter den Gelehrten, unter den angeblichen Weisen der Nation solche Elende; und, was beinahe eben so erstaunlich ist, Isfandiar war fähig solchen Unsinn [203] mit Vergnügen anzuhören, und die dreifachen Sklaven, welche die Verwegenheit hatten mit Wahrheit Tugend und Ehre ein so freches Gespötte zu treiben, auf der Stelle mit Belohnungen zu überhäufen, welche zu geben und verdient zu haben in gleichem Grade schändlich war. Konnte Isfandiar alles Gefühl von Recht und Unrecht so gänzlich verloren haben, um die ausschweifendsten Lobreden, Lobreden welche den bittersten Satiren so ähnlich tönten, ohne vor Scham zu vergehen, anzuhören? Und wenn er es konnte, wie unwürdig der menschlichen Gestalt mußte der erst sein, den die Hoffnung eines ehrlosen Gewinsts fähig machte, die Sprache der Empfindung wissentlich zu mißbrauchen, um einen weltkündigen Tyrannen in seiner Verhärtung zu bestärken! Was für Elende mußten es sein, welche solche Lobreden anhören konnten, ohne in allgemeinem Aufstand dem ungeheuern Lügner ins Gesicht zu widersprechen! welche sogar fähig waren, ihm lauten Beifall zuzuklatschen! Man muß gestehen, die Scheschianer verdienten einen König wie Isfandiar; und man braucht sich nur einen Augenblick vorzustellen, wer sie waren, um das Mitleid, welches der Anblick des Leidens unsrer Mitgeschöpfe natürlicher Weise in uns erweckt, in Freude über die Zerstörung einer so häßlichen Brut ausgearteter Menschen verwandelt zu fühlen.«

5
5.

»Danischmend hat uns die Verdorbenheit der scheschianischen Nation so groß und so allgemein vorgestellt«, sagte die Sultanin, »daß ich nicht begreife, wo er den Mann hernehmen will, der aus diesem Chaos eine neue Welt zu erschaffen fähig sein sollte. Dies bin ich wenigstens gewiß, daß dieser Mann sich nicht am Hofe zu Scheschian gebildet haben kann.«

»Der beste unter allen sinesischen Königen 36 bildete sich unter einem Strohdache«, versetzte Danischmend. »Und wie hätte (sagt ein sinesischer Schriftsteller) der tugendhafte Landmann Chun nicht der beste unter den Königen werden sollen? Sein erster Stand hatte ihn vorher zum Menschen gebildet. Dies ist die Hauptsache. Wie wenige unter denjenigen, die von der Wiege an zu künftigen Herrschern erzogen werden, können sich dieses Vorteils rühmen!

[204] Tifan, der Wiederhersteller seines Vaterlandes,Tifan, der Gesetzgeber, der Held, der Weise, der Vater seines Volkes, der geliebteste und der glücklichste unter allen Königen, – mit dessen Geschichte ich im Begriff bin den Sultan meinen Herrn zu unterhalten, würde wahrscheinlicher Weise alles dies nicht gewesen sein, wenn er an dem Hofe seines Vetters Isfandiar, oder an irgend einem andern asiatischen Hofe seiner Zeit, wäre gebildet worden.

Von der Natur selbst auf ihrem Schoße erzogen, fern von dem ansteckenden Dunstkreise der großen Welt, in einer Art von Wildnis, zu einer kleinen Gesellschaft von unverdorbenen, arbeitsamen und mäßigen Menschen verbannt, ohne einen Schatten von Vermutung, daß er mehr sei als der geringste unter ihnen, brachte er die ersten dreißig Jahre seines Lebens in einem Stande zu, worin sein Herz, ohne es zu wissen, zu jeder königlichen Tugend gebildet wurde.

Dieses sonderbare Glück, ohne welches er schwerlich der Stifter der allgemeinen Glückseligkeit seiner Nation geworden wäre, hatte Tifan der Grausamkeit Isfandiars und einem andern eben so glücklichen als ungewöhnlichen Zufalle zu danken: nämlich, dem Umstande, daß seine erste Jugend dem einzigen tugendhaften Manne, der vielleicht damals im ganzen Scheschian lebte, anvertraut worden war.

Isfandiar hatte bald nach seiner Thronbesteigung alle seine Brüder, nebst den Kindern, welche Temor, der einzige Bruder seines Vaters, hinterlassen hatte, aus dem Wege geräumt. Tifan, der jüngste unter den letztern, war damals etwann sieben Jahre alt, und befand sich unter der Aufsicht eines bejahrten Visirs, den sein Vater vorzüglich geliebt hatte. Dschengis (so nannte man diesen Visir) hatte einen einzigen Sohn von gleichem Alter mit dem Sohne des Prinzen Temor; und das einzige Mittel, wodurch er das Leben des jungen Tifan retten konnte, war, seinen eigenen Sohn den von Isfandiarn abgesendeten Mördern Preis zu geben. Dschengis hatte den Mut, der Tugend ein so großes Opfer zu bringen.

Er gab sein eigenes Kind hin, und zog sich mit dem jungen Tifan, der nun für seinen Sohn gehalten wurde, in eine unbekannte Gegend der mittäglichen Grenze von Scheschian zurück. Es war ein fruchtbares aber unangebautes Tal, von Gebirgen und Wildnissen eingeschlossen, und, wie er glaubte, von der Natur selbst zu seiner Freistätte bestimmt für den Tugendhaften, der sein Glück in sich selbst findet, und für einen jungen Prinzen, den das Glück seine Unbeständigkeit in so zarter Jugend schon erfahren ließ.

Hier legte Dschengis eine Art von Pflanzstätte an, indem er einer [205] Anzahl Sklaven beiderlei Geschlechts, die er von den benachbarten Tschirkassiern zu diesem Ende gekauft hatte, die Freiheit unter der Bedingung schenkte, daß sie ihm helfen sollten diese öden Gegenden anzubauen. Die Natur belohnte seinen Fleiß mit dem glücklichsten Erfolge. In wenigen Jahren verwandelte sich der größte Teil dieser angenehmen Wildnis in Kornfelder, Gärten und Auen, von tausend kleinen Bächen gewässert, welche Dschengis und seine Gehülfen aus den benachbarten Gebirgen in ihre aufblühenden Pflanzungen ableiteten. Die frohen Bewohner lebten im Überflusse des Notwendigen, und in dieser glücklichen Armut an entbehrlichen Dingen, welche für den Weisen oder für den Unwissenden Reichtum ist. Dschengis, wiewohl sie alle seine Sklaven gewesen waren, maßte sich keiner Herrschaft über sie an.

Alle Ungleichheit, welche nicht von der Natur selbst herrührt, war aus den Hütten dieser Glückseligen verbannt. Die Väter der sämtlichen Haushaltungen machten zusammen eine Art von Gericht aus, das sich über Dinge, welche die allgemeine Wohlfahrt betrafen, beratschlagte, und die kleinen Streitigkeiten schlichtete, die unter einem so wenig zahlreichen, so fröhlichen und so armen Völkchen entstehen konnten.

Im Schoße dieser kleinen Kolonie wuchs, als unter seinesgleichen, der Neffe des größten und üppigsten aller morgenländischen Könige in einer Unwissenheit seines Standes auf, welche der weise Dschengis für nötig hielt, was auch das Schicksal über seinen königlichen Pflegesohn beschlossen haben möchte. ›Ist er zum Throne bestimmt‹, dachte er, ›so werden die Völker, die er einst glücklich machen wird, die Asche des ehrlichen Dschengis dafür segnen, daß er ihnen einen König erzogen hat, der, in der Gewohnheit die niedrigste Klasse von Menschen als seinesgleichen anzusehen, – in der Gewohnheit nichts von andern zu erwarten, was sie nicht auch von ihm fodern können, – in der Gewohnheit seinen Unterhalt seinem eigenen Fleiße zu danken zu haben, – aufgewachsen, des sinnlosen Wahnes unfähig ist, daß Millionen Menschen nur darum in der Welt seien, damit er allein müßig gehen und sich allen seinen Gelüsten überlassen könne. Ist es hingegen sein Schicksal sein Leben in der Dunkelheit zuzubringen, so ist die Unwissenheit seiner Abkunft ein Gut für ihn selbst: ihm den wohltätigen Irrtum, sich für den Zustand worin er lebt geboren zu glauben, benehmen wollen, wäre in diesem Falle Grausamkeit.‹

Tifan ließ sich also, wenn er hinter seinen Herden herging, wenig davon träumen, daß ihn die Geburt bestimmt habe, statt des Schäferstabes [206] einen Zepter zu führen; und das fürstliche Blut, das in seinen Adern floß, sagte ihm so wenig von irgend einem angebornen Vorzuge vor den Leuten mit denen er lebte, daß er vielmehr einen jeden mit einem Gefühl von Ehrerbietung ansah, welcher besser arbeiten konnte, und also nützlicher war als er. Oft wenn Dschengis den jungen Prinzen, in seinem Kittel von grober Leinwand, mit beschwitzter Stirne von der Feldarbeit zurück kommen sah, lachte er bei sich selbst über die Unverschämtheit jener Schmeichler, welche die Großen der Welt bereden wollen, als ob sogar in ihrem Blute ich weiß nicht was für eine geheimnisvolle Zauberkraft walle, die ihrer ganzen Person und allen ihren Trieben und Handlungen eine gewisse Hoheit mitteile, welche sie von gemeinen Menschen unterscheide und diese letztern zu einer unfreiwilligen Ehrfurcht zwinge. ›Wer dächte, daß dieser junge Bauer ein Königssohn wäre?‹ sagte er zu sich selbst. ›Er ist wohl gebildet; seine Augen sind voller Feuer; seine Züge bezeichnen eine gefühlvolle und wirksame Seele: aber bei dem allen erkennt, außer mir selbst, niemand der ihn sieht etwas anders in ihm, als einen zum Karst und Pfluge gebornen Bauernsohn, und er selbst ist vollkommen überzeugt, daß Hysum, unser Nachbar, ein ungleich besserer Mann ist als er.‹«

»Diese Betrachtung schmeichelt den Fürstensöhnen nicht«, sagte Schach-Gebal, »und ich gestehe, daß ich sie nie gemacht habe; aber nun, da sie gemacht ist, deucht mir, sie hat recht. Die Poeten und Romanschreiber die uns solche Dinge weismachen wollen, verdienten etliche Dutzend Streiche auf die Fußsohlen dafür, denn ich wette, sie glauben selbst kein Wort davon.«

»Der junge Tifan verlor bei der Lebensart, worin ihn sein Pflegevater erzog, die feine Lilienfarbe und das schwächliche Ansehen, welches, wenn er am Hofe zu Scheschian erzogen worden wäre, ihn vermutlich von gemeinen Erdensöhnen unterschieden hätte. Aber er gewann dafür einen starken und dauerhaften Körper, eine männliche Sonnenfarbe, frisches Blut, und Lippen, in welche er nicht nötig hatte zu beißen, um sie röter als reife Kirschen zu machen.

Indessen war der weise Dschengis weit davon entfernt, die angeborne Bestimmung seines Pflegesohns aus den Augen zu verlieren. Tifan hatte ihm zu viel gekostet, als daß er sich hätte begnügen sollen, ihn bloß zu einem guten Landmanne zu bilden; denn alles was der betörte Isfandiar tat, um die Nation so schnell als möglich zu Grunde zu richten, machte es mehr als wahrscheinlich, daß Tifan vielleicht eher als er dazu tüchtig wäre, sich aufgefordert finden könnte, sein Recht an die Krone geltend zu machen. Dschengis setzte [207] sich also nichts Geringeres vor – und der bloße Vorsatz klingt schon widersinnig, so sehr hat er das allgemeine Vorurteil wider sich –, als den jungen Tifan (ohne ihm, bis es Zeit wäre, das Geringste von seinem Vorhaben merken zu lassen) mitten unter lauter Hirten und Ackerleuten zu einem guten Fürsten zu bilden. Überzeugt, daß Güte des Herzens ohne Weisheit eben so wenig Tugend, als Wissenschaft ohne Tugend Weisheit ist, bemühte er sich, zu eben der Zeit, da er sein Gefühl für das Schöne und Gute und jede sympathische und menschenfreundliche Neigung zu nähren und in Fertigkeit zu verwandeln suchte, seinen Verstand von den eingeschränkten Begriffen, die sich von den Gegenständen, die ihn umgaben, in seiner Seele abdruckten, stufenweise zu den erhabnen Ideen der bürgerlichen Gesellschaft, des menschlichen Geschlechts, der Natur, des Ganzen, und seines geheimnisvollen aber anbetenswürdigen Urhebers zu erheben. Alle sittliche Vollkommenheit eines Menschen, zu welchem besondern Beruf er immer geboren sein mag, hängt davon ab, daß diese Ideen in seinem Verstande, und die Gesinnungen, welche sich aus ihnen bilden, in seinem Herzen die Herrschaft führen. Aber für keinen Menschen ist dies unentbehrlicher als für denjenigen, der dazu berufen ist, sittliche Ordnung in irgend einem besondern Teile der allgemeinen menschlichen Gesellschaft zu unterhalten. Wehe seinen Untergebenen und ihm selbst, wenn seine Seele von dem Bilde einer allgemeinen Harmonie und Glückseligkeit nicht in Entzücken gesetzt wird! wenn ihm die Rechte der Menschheit nicht heiliger und unverletzlicher sind als seine eigenen! wenn die Gesetze der Natur, mit tiefen unauslöschlichen Zügen in seine Seele gegraben, ihn nicht in allen seinen Handlungen leiten! Mit Einem Worte, wehe dem Volke, dessen Beherrscher nicht lieber der Beste unter den Menschen als der Mächtigste unter den Königen sein möchte! – Diese Begriffe sind keine Grillen einsiedlerischer Weltbeschauer. Unglücklich genug für das menschliche Geschlecht, wenn sie von den Großen und Mächtigen dafür gehalten werden! Aber die Natur der Dinge hängt nicht, wie das Glück oder Unglück der Menschheit, von den Begriffen der Großen ab. Sie können nicht verhindern, daß die Strafen der Natur nicht unfehlbar auf die Verachtung eines jeden Gesetzes der Natur folgen; 37 und wenn die [208] bisherige Gestalt des Erdbodens noch Jahrtausende dauern sollte, so wird die Geschichte aller künftigen Alter sich mit der Geschichte aller vergangenen vereinigen, die Könige zu belehren: daß jeder Zeitpunkt, worin jene großen Grundbegriffe mit Dunkel bedeckt gewesen, jene wohltätigen Grundgesetze nicht für das was sie sind, für das unverletzliche Gesetz des Königs der Könige, anerkannt worden sind, ein Zeitpunkt des öffentlichen Elends, der sittlichen Verderbnis, der Unterdrückung und der allgemeinen Verwirrung, eine unglückliche Zeit für die Völker und eine gefährliche für die Könige gewesen ist.«

Danischmend war, wie wir sehen, in einer vortrefflichen Stimmung, den Königen Moral zu predigen; aber zum Unglück ermangelten seine Predigten niemals, den Sultan seinen Herrn einzuschläfern. Der gute Doktor wollte eben einen neuen Anlauf nehmen, als er gewahr wurde, daß seine Zuhörer, jeder in einer eigenen Stellung, in tiefem Schlummer lagen. »Daß doch meine Moral immer und allezeit eine so narkotische Kraft hat!« sprach er zu sich selbst: »ich begreife nichts davon. Einer von den Zauberern, meinen Feinden, muß die Hand im Spiele haben: es ist nicht an ders möglich.«

6
6.

»Die Begriffe« (so fuhr Danischmend in der Erzählung von Tifans Erziehung fort), »welche dieser junge Prinz von dem weisen Dschengis erhielt, konnten nicht anders als auf seinen Verstand und auf sein Herz mit ihrer vollen Kraft wirken, und jenem alles dasLicht, so wie diesem alle die Rechtschaffenheit mitteilen, welche sie, vermöge der Natur der Sache, einer unverdorbenen Seele mitteilen müssen. Die Grundsätze –


I. Alle Menschen sind Brüder, und haben von Natur gleiche Bedürfnisse, gleiche Rechte, und gleiche Pflichten.

[209] II. Die wesentlichen Rechte der Menschheit können weder durch Zufall, noch Gewalt, noch Vertrag, noch Verzicht, noch Verjährung, sie können nur mit der menschlichen Natur verloren werden; und eben so gewiß läßt sich keine notwendige noch zufällige Ursache denken, welche einen Menschen, unter was für Umständen er sich auch befinde, von seinen wesentlichen Pflichten los zählen könnte.

III. Ein jeder ist dem andern schuldig, was er in den gleichen Umständen von ihm erwarten würde.

IV. Kein Mensch hat ein Recht, den andern zu seinem Sklaven zu machen.

V. Gewalt und Stärke gibt kein Recht, die Schwachen zu unterwerfen, sondern legt ihren Besitzern bloß die natürliche Pflicht auf, sie zu beschützen.

VI. Ein jeder Mensch hat, um einen gerechten Anspruch an Wohlwollen, Mitleiden und Hülfe von Seiten eines jeden Menschen zu haben, keinen andern Titel vonnöten, als daß er ein Mensch ist.

VII. Der Mensch, welcher von andern verlangen wollte, daß sie ihn köstlich nähren und kleiden, – mit einer prächtigen Wohnung und allen ersinnlichen Bequemlichkeiten versehen, – ihm, auf Unkosten ihrer Ruhe, Bequemlichkeit und Notdurft, alles nur mögliche Vergnügen gewähren, – unaufhörlich arbeiten um ihn aller Bemühung zu überheben, – sich bloß mit dem Unentbehrlichen behelfen, damit er seine üppigsten Begierden bis zur Ausschweifung befriedigen könne, – kurz, daß sie nur für ihn leben, und, um ihm alle diese Vorteile zu erhalten, jeden Augenblick bereit sein sollten, sich allen Arten des Ungemachs und Elends, dem Hunger und dem Durst, dem Frost und der Hitze, der Verstümmelung ihrer Gliedmaßen und den schrecklichsten Gestalten des Todes für ihn auszusetzen – der einzelne Mensch, der an zwanzig Millionen Menschen eine solche Forderung machen wollte, ohne sich schuldig zu halten, ihnen sehr große und mit solchen Diensten in gehörigem Ebenmaße stehende Gegendienste dafür zu leisten, – wäre ein Wahnsinniger, und müßte seine Forderung an Leute machen, die es noch mehr als er selbst wären, wenn er Gehör finden sollte.


Diese und tausend andre Sätze, welche sich aus ihnen ableiten lassen, fand der junge Tifan gleichsam mit der eigenen Hand der Natur in seine Seele geschrieben. Es waren eben so viele Gefühle, welche [210] ihn der weise Dschengis in Grundsätze verwandeln lehrte, deren überzeugender Kraft seine Vernunft eben so wenig widerstehen konnte, als es in seiner Willkür stand, den Tag für Nacht, oder warm für kalt zu halten. Er fand keine Vorurteile in seinem Gemüte, welche der vollen Wirkung dieser Wahrheiten entgegen gearbeitet hätten. Alles was ihn umgab, weit entfernt sie zu bestreiten und auszulöschen, erläuterte und bestätigte sie: und da sich Dschengis sorgfältig hütete, ihm die unselige und hassenswürdige Nachricht zu geben, daß der größte Teil der Menschen, durch eine beinahe unbegreifliche Verderbnis des Verstandes und Willens, von jeher so gehandelt und sich so habe behandeln lassen, als ob das Gegenteil aller dieser Wahrheiten wahr wäre, so gewöhnte sich seine Seele dergestalt an diese Art zu denken, daß ihm diejenige, welche damals an dem Hofe zu Scheschian herrschte, eben so widersinnig und ungeheuer vorgekommen wäre, als wenn ihm jemand hätte zumuten wollen, den Schnee für schwarz anzusehen, oder sich von der Mittagssonne in einem glühenden Ofen abzukühlen.

Er war schon achtzehn Jahre alt, eh er noch einen Begriff davon hatte, daß man anders denken könne, als die Natur und Dschengis ihn denken lehrte; eh er wußte, was Mangel und Unterdrückung sei, oder sich die mindeste Vorstellung von einer erkünstelten und auf anderer Elend gebauten Glückseligkeit machen konnte. Dschengis hatte sein Gedächtnis mit einer Menge von Erzählungen, und mit Liedern und Sprüchen aus den besten Dichtern in Scheschian angefüllt: aber diese Erzählungen schilderten lauter unschuldige Sitten; diese Lieder waren lauter Ergießungen eines unverdorbenen Herzens, diese Sprüche lauter Gesetze der Natur und der unverfälschten Vernunft; alles war des goldnen Alters würdig.

Der junge Prinz hatte nun die Jahre erreicht, wo die Natur durch die Entwicklung des süßesten und mächtigsten aller unsrer Triebe gleichsam die letzte Hand an ihr Werk, an den Menschen legt, und indem sie ihn durch das nämliche Mittel zum Urheber seiner eigenen Glückseligkeit und der Erhaltung seiner Gattung macht, ihn auf die überzeugendste Weise belehrt, sie habe sein besonderes Glück mit dem allgemeinen Besten dergestalt verwebt, daß es unmöglich sei, eines von dem andern abzulösen ohne beide zu zerstören. Die Liebe, – dieser bewundernswürdige Instinkt, den die Natur zur stärksten Triebfeder der besondern und allgemeinen Glückseligkeit der Menschen bestimmt hat, – gesellt sich itzt auf einmal gleich einem himmlischen Genius zu ihm, um ihn auf den Weg seiner irdischen Bestimmung zu leiten, und diesen Weg mit [211] Rosen zu bestreuen. Durch sie erhält er die ehrwürdigen Namen eines Ehegemahls und Vaters. Sie konzentriert alle seine sympathetischen Neigungen in der Liebe zu einem Weibe, welches die Hälfte seines Selbsts wird, und zu Kindern, in denen er dies Selbst verjüngt und vervielfältiget sieht. Sie wird auf diese Weise die Stifterin der Familiengesellschaften, welche die Elemente der bürgerlichen sind, und von deren Beschaffenheit das Wohl eines Staates dergestalt abhängt, daß die Verblendung der Gesetzgeber, welche für dieses große Institut der Natur weder so viel Ehrfurcht, als sie ihm schuldig waren, getragen, noch alle die Vorteile, die davon zu ziehen sind, daraus gezogen haben, unbegreiflich ist.

Der tugendhafte und weise Dschengis kannte und ehrte die Natur. Mit Vergnügen sah er dem stufenweisen Fortgange der Neigung zu, welche die Schönheit und Unschuld einer jungen Schäferin, deren Eltern seine Nachbarn waren, dem jungen Prinzen eingeflößt hatte. Er besorgte nicht, daß sie seinem Pflegesohn im Wachstum in jeder Tugend und Vollkommenheit seines künftigen Berufs hinderlich sein würde; und der Gedanke, ihr deswegen Einhalt zu tun, weil Tifan ein Prinz und Tili die Tochter eines gemeinen Landmannes war, konnte ihm um so weniger einfallen, weil die Könige von Scheschian sich allezeit mit Töchtern ihrer Untertanen vermählt hatten. Tili war wirklich so liebenswürdig als es eine Tochter der Natur sein kann. Eine besondere Sympathie, welche von ihrer Kindheit an sich zwischen ihnen geäußert hatte, schien der Beweis, daß sie bestimmt seien eines durch das andere glücklich zu sein. Dschengis unterließ nicht sich diese Stimmung seines Pflegesohns zu Nutze zu machen, um die Früchte der eben so einfachen als erhabenen Philosophie, womit er seine Seele bisher genähret hatte, zur Reife zu bringen. Er entwickelte in freundschaftlichen Unterredungen die neuen Empfindungen des jungen Tifan; er zeigte ihm in denselben die Stimme der Natur, die ihn zur Erfüllung eines wichtigen Teils seiner Bestimmung rufe, und unterrichtete ihn in den ehrwürdigen und süßen Pflichten desselben. Tifan wurde Gemahl, ohne weniger Liebhaber zu sein; er wurde Vater, und in dem Augenblick, da er die ersten Früchte einer keuschen Liebe an seine Brust drückte, fühlte er, daß er, selbst in den Armen der schönen Tili, die süßeste Regung der Natur noch nicht gekannt hatte.

Man hat längst bemerkt: der begeisterte Stand, in welchen eine schöne Seele durch die erste Liebe gesetzt wird, erhöhe sie in jeder Betrachtung weit über das, was ein Mensch gewöhnlicher Weise ist; und es scheint, daß einige Weise des Altertums eben dadurch bewogen [212] worden, in der Liebe eine Art von Genius zu sehen, durch welchen gleichsam neue Sinne für das Schöne und Gute in der Seele eröffnet, und eine Art von unmittelbarer Gemeinschaft zwischen ihr und allem was göttlich ist, hergestellt werde. Dies wenigstens scheint gewiß zu sein, daß wir in dieser Art von Bezauberung eine größere Empfindlichkeit für alles Schöne, eine größere Leichtigkeit jede Tugend auszuüben, einen höhern Grad von allgemeiner Sympathie, einen mehr als gewöhnlichen Hang zu erhabnen, weit grenzenden und wunderbaren Ideen in uns erfahren; und daher scheint auch kein bequemerer Zeitpunkt zu sein, um begeisternde Vorstellungen von dem höchsten Wesen in einer jungen Seele hervor zu bringen, als eben dieser.

Der weise Dschengis mußte diese Betrachtung gemacht haben; denn er wählte mit Vorsatz diese Zeit, um seinem Pflegesohn die geläuterten und erhabnen Empfindungen der Religion einzuflößen, welche er für nötig hielt, um der Seele einen unbeweglichen Ruhepunkt, den Leidenschaften ein mächtiges Gegengewicht, und der Tugend die kräftigste Aufmunterung zu verschaffen. Die richtigsten Begriffe, welche wir aus der Quelle der Natur schöpfen können, sind ohne die Idee eines unendlich vollkommnen Urhebers und Vorstehers der Natur äußerst mangelhaft. Welch ein Unterschied zwischen dem engen Kreis, in welchen die tierische Sinnlichkeit eingeschlossen ist, und dem grenzenlosen All, in welches der erstaunte Geist hinaus sieht, sobald er einen Schöpfer der Welt erkennt, dessen wohltätige Macht ebenso unbegrenzt ist als sein Verstand! Dschengis hegte von dem höchsten Wesen eben diese reinen Begriffe, welche die Weisen der ältesten Zeiten einer langen Betrachtung der Natur und vielleicht einem unmittelbaren Umgang mit höhern Wesen zu danken hatten; Begriffe, die sich unter den Philosophen des östlichen Teils der Erde eine lange Zeit erhalten haben, und selbst durch alle Ungereimtheiten des Aberglaubens und des Götzendienstes nicht gänzlich ausgelöscht werden konnten.

›Das höchste Wesen‹, sagte Dschengis zu dem jungen Tifan, ›ist zwar den äußern körperlichen Sinnen, aber nicht dem Geist unsichtbar, der, sobald er reif genug worden ist, Ordnung und Zusammenstimmung, allgemeine Gesetze, wohltätige Endzwecke und weislich gewählte Mittel in dem großen Schauplatze der Natur, der uns umgibt, wahrzunehmen, an dem Dasein einer höchsten Weisheit und Güte, welche gleichsam die allgemeine Seele des Ganzen ist, eben so wenig als an dem Dasein seiner eignen Seele, die ihm nicht sichtbarer ist als jene, zweifeln kann. Die Welt ist in allen ihren [213] uns bekannten Teilen zu unvollkommen, um selbst das höchste Wesen zu sein, und, im ganzen betrachtet, zu groß und vortrefflich, um nicht das Werk eines höchsten Wesens zu sein. Ist sie dieses, so ist unser Dasein, so sind die Fähigkeiten zu empfinden, zu denken, zu handeln, und durch den rechten Gebrauch derselben in einem hohen Grade glücklich zu sein, so sind die Beziehungen der ganzen Natur auf die Erhaltung, das Vergnügen und den Nutzen des Menschen, eben so viele unschätzbare Wohltaten, welche wir dem Urheber der Welt zu danken haben; und so weiset uns das Verhältnis eines allgemeinen Wohltäters den ersten Gesichtspunkt an, aus welchem wir das höchste Wesen zu betrachten haben.

Die Erwägung der wunderbaren Ordnung, in welcher dieses aus einer so unendlichen Menge verschiedener Teile zusammen gesetzte allgemeine Ganze erhalten wird, leitet uns auf den Begriff eines besondern Endzwecks für jede besondere Gattung, und eines allgemeinen Zwecks für das ganze System der Schöpfung. Diese Verbindung zu gemeinschaftlichen Zwecken führet uns auf die mannigfaltigen Verhältnisse der Wesen gegen einander, und aus beiden entwickelt sich der Begriff besonderer und allgemeiner Gesetze der Natur. Der Mensch, der auf dem besondern Schauplatz, auf den er sich gesetzt befindet, keine vollkommnere Gattung erblickt als seine eigene, sieht sich doch bei allen seinen Fähigkeiten und Vorzügen in einer unvermeidlichen Abhänglichkeit von allem was ihn umgibt. Die ganze Natur muß ihre Kräfte vereinigen, um ihn von Augenblick zu Augenblick im Dasein zu erhalten; das elendeste Insekt, das kleinste Sandkorn ist vermögend ihn im Genuß seiner Glückseligkeit zu stören, ihn zu quälen, ja seinem Leben ein Ende zu machen. Es ist wahr, die ganze Natur ist ihm dienstbar: aber er muß sie gleichsamnötigen, es zu sein; und ohne seine Hände, ohne seinen Witz, ohne seinen unverdrossenen Fleiß, würde dieser Planet, der ihm zur Anbauung angewiesen ist, bald zu einer unwirtbaren Wildnis werden. Aber wie sollte der einzelne Mensch einem solchen Geschäfte gewachsen sein? Es ist augenscheinlich, daß die ganze Gattung sich vereinigen muß, um ihre natürliche Herrschaft über den Erdboden zu behaupten, und daß ein jeder seine besondere Sicherheit, sein besonderes Wohlsein, nur in dem vollkommensten und glücklichsten Zustande der ganzen Gattung findet. Daher diese allgemeinen Gesetze der menschlichen Natur, welche durch die Absonderung der Menschen in besondere Gesellschaften zwar verdunkelt und auf mannigfaltige Weise verfälscht [214] worden sind, aber, so lange der Mensch kein Mittel findet sich eine andere Natur zu geben, notwendig allgemein verbindliche Gesetze für die ganze Gattung bleiben. Ein sehr fühlbarer Beweis, daß sie es sind, liegt darin, weil die Menschen für jede Übertretung dieser Gesetze durch die notwendigen Folgen dieser Übertretung gestraft, weil sie in eben dem Grade, wie sie den Pflichten der Natur untreu sind, unglücklich und elend werden. Diese Betrachtung zeigt das höchste Wesen aus einem neuen Gesichtspunkte. Der Urheber der Natur ist auch der Gesetzgeber der Natur; und eben dadurch, weil die Beobachtung oder Übertretung seiner Verordnungen die unumgängliche Bedingung der Glückseligkeit oder des Elendes unsrer Gattung ist, erkennen wir in seiner Gesetzgebung zugleich den Urheber der Natur, den Wohltäter des Menschen und den vollkommensten Verstand.

Aber auch hier steht die Vernunft noch nicht still. Der Mensch erfährt, mitten im Genuß derjenigen Glückseligkeit, welche ihm der weiseste Genuß der Dinge außer ihm geben kann, daß sie unfähig sind ihm die vollkommne Glückseligkeit zu geben, die er wünscht; und seine so oft betrogene Hoffnung erhebt ihre Augen endlich nach einem unvergänglichen Gute, nach demjenigen, welches das Urbild und die Quelle alles Schönen und Guten ist. In ihm glaubt sie das letzte Ziel aller ihrer Wünsche, und in der unmittelbaren Vereinigung mit ihm den höchsten Endzweck des Daseins aller empfindenden Wesen zu sehen. Die Seele fühlt bei diesem großen Gedanken den Kreis ihrer Tätigkeit sich erweitern, und jenseits der Grenzen dieses Lebens (wovon immer nur der gegenwärtige Augenblick wirklich, der zukünftige ungewiß, und alles Vergangene Traum ist) entdeckt sich ihrem verlangenden Auge eine bessere Zukunft. Und so zeigt sich ihr das Wesen der Wesen aus einem dritten Gesichtspunkte, als das höchste Gut und letzte Ziel aller erschaffenen Geister.

Jedes dieser Verhältnisse der Gottheit gegen die Menschen beweiset bis zum Augenschein, daß die Idee des unendlichen Geistes in dem innern System unsrer Seele eben das ist und sein soll, was die Sonne in dem großen Kreise der Schöpfung, der uns umgibt; – daß sie es sein soll, die der Seele Licht undWärme gibt, um jede Tugend, jede Vollkommenheit hervor zu treiben und zur Reife zu bringen. Jener süße Zug der Sympathie, der uns geneigt macht, uns mit andern Geschöpfen zu erfreuen oder zu betrüben, wird nun etwas ganz anderes als ein bloßer animalischer Trieb. Allgemeine Güte, zärtliche Teilnehmung an den Schicksalen der Wesen unsrer [215] Gattung, sorgfältige Vermeidung alles Zusammenstoßes, wodurch wir ihre Ruhe, ihren Wohlstand verletzen würden, lebhafte Bestrebung ihr Bestes zu befördern und mit dem unsrigen zu vereinigen; alles dies, in dem Lichte betrachtet, welches die Idee der Gottheit über uns verbreitet, sind Gesetze des allmächtigen und wohltätigen Beherrschers aller Welten; Gesetze, von deren Verbindlichkeit uns nichts los zählen kann; Gesetze, von deren Befolgung die Erfüllung des ganzen Endzwecks unsers Daseins abhängt.‹

So waren die Begriffe von Religion beschaffen, welche der weise Dschengis in der Seele des jungen Tifan entwickelte, und solchen Begriffen entsprach der Unterricht, den er ihm von dem Dienste des höchsten Wesens gab. ›Dankbarer Genuß seiner Wohltaten, und aufrichtiger Gehorsam gegen seine Gesetze‹, sagte Dschengis, ›sind der einzige wahre Dienst, den wir einem Wesen leisten können, das unser bloß in so fern bedarf, in so fern es uns zu Werkzeugen seiner großen wohltätigen Absichten erschaffen hat.‹«

»Bewundern Sie nicht auch die mannigfaltigen Gaben unsres Freundes Danischmend?« sagte Schach-Gebal zu der schönen Nurmahal. »Ich sehe daß er im Notfall einen so guten Iman abgeben könnte, als vielleicht jemals einer am Hofe eines Sultans gewesen ist. Aber für heute laß es immer genug sein, Danischmend; und das nächste Mal, wenn von deinem Tifan wieder die Rede sein wird, erinnre dich, daß du mir einen Gefallen erweisen würdest, so bald als möglich auf die Hauptsache zu kommen.«

7
7.

»So viel ich mich von allem, was du uns mit deiner gewöhnlichen, Weitläuftigkeit von der Erziehung des jungen Tifan erzählt hast, erinnern kann« (sagte Schach-Gebal, als Danischmend sich zu gewöhnlicher Zeit anschickte seine Erzählung fortzusetzen), »so mag unter den Händen des ehrlichen Dschengis eine ganz gute Art von Jungen aus ihm geworden sein; aber noch sehe ich, mit deiner Erlaubnis, nicht, wie er dadurch der große König werden konnte, den du uns erwarten gemacht hast.«

»Sire«, versetzte Danischmend, »alles warum ich Ihre Hoheit bitte, ist noch ein wenig Geduld zu haben, und ich bin überzeugt, es wird Ihnen in wenig Tagen kein Zweifel über diesen Punkt übrig bleiben.

Die Größe und Erhabenheit, wozu Dschengis die Begriffe seines Lehrlings empor zu treiben sich bemüht hatte, machten es notwendig, [216] daß er ihm zu gleicher Zeit eine vollständige Kenntnis von dem gesellschaftlichen Leben, von dem was man einen Staat nennt, und von der Einrichtung, Polizei und Verwaltung desselben geben mußte. Er tat es: und nachdem er dem jungen Tifan gezeigt hatte, wie dieser Erdball, vermöge der richtigen Begriffe von der Natur und Bestimmung des Menschen, aussehen und regiert sein sollte; so machte er ihm nach und nach begreiflich, wie es zugehen könnte, daß alles ganz anders wäre als es sein sollte. Von dem anschauenden Begriffe der kleinen Kolonie, in welcher er aufgewachsen war, brachte er ihn stufenweise bis zu dem verwickelten Begriff einer großen Monarchie, von dem ländlichen Hausvater bis zu dem großen Hausvater von Scheschian. Der Prinz folgte ihm in allen diesen Erörterungen ohne sonderliche Mühe. Aber desto größere Schwierigkeit hatte es, ihm begreiflich zu machen, wie aus dem allgemeinen Vater einer Nation ein willkürlich gebietender Herr, und aus diesem Herren, mit einer kleinen Veränderung, ein Tyrann habe werden können.

Der junge Prinz erschrak nicht wenig, wie er vernahm, daß die schönen Ideen von unschuldigen Menschen und goldnen Zeiten, die mit ihm aufgewachsen waren, nur goldne Träume seien, aus denen ihn eine kleine Reise durch die Welt auf eine sehr unangenehme Art erwecken würde.

Sein Verlangen eine Reise, welche ihn so viel Neues lehren würde, zu machen, nahm mit der heftigsten Begierde, allen Drangsalen seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen, täglich zu; und Dschengis trug um so weniger Bedenken, diesem Verlangen nachzugeben, je notwendiger es war, ihm eine ausführliche und anschauende Kenntnis von allen den Mißbräuchen, Unordnungen und daher erwachsenden Übeln zu verschaffen, welchen (wenigstens in einem beträchtlichen Teile des Erdbodens) ein Ende zu machen, seine große Bestimmung war. Überdies hatten die gesunden Grundsätze seiner Erziehung zu tiefe Wurzeln in seiner Seele gefaßt, als daß von der Ansteckung der Welt etwas für ihn hätte zu besorgen sein sollen. Im Gegenteil erwartete er, daß der Anblick alles des mannigfaltigen Elends, welches sich die Menschen durch Entfernung von den Gesetzen der Natur zugezogen haben, den jungen Tifan von der unumgänglichen Notwendigkeit ihrer Befolgung nur desto lebhafter überzeugen werde.

So viel Mühe Tifan hatte, sich von seiner Geliebten und von seinem kleinen Sohne los zu reißen, so überwältigte doch die Ungeduld seiner Neugier, die Welt besser kennen zu lernen, die zärtlichen Regungen der Natur. Er entfernte sich also zum ersten Male von den [217] friedsamen Hütten, worin er, der Welt unbekannt, die glückliche Einfalt seiner Jugend verlebt hatte, und durchwanderte in der Gesellschaft des getreuen Dschengis drei Jahre lang einen großen Teil von Asien. Er lernte die Natur unter tausend neuen Gestalten kennen, und erstaunte über die mannigfaltigen Wunder, wodurch die Kunst sie nachzuahmen, ja selbst zu übertreffen und zu verbessern sucht. Aber er erstaunte noch mehr, wie er sah, daß der elende Zustand der Völker durchgehens desto größer war, je mehr Natur und Kunst sich zu vereinigen schienen sie glücklich zu machen. Die schönsten und fruchtbarsten Provinzen waren immer diejenigen, in welchen das Volk auf die unbarmherzigste Weise unterdrückt wurde. Tifan sah mit Entsetzen Könige, welche das Vermögen ihrer Untertanen wie einen dem Feind abgejagten Raub in den ungeheuersten Ausschweifungen der Üppigkeit verpraßten; Könige, welche das kostbare Blut der Menschen in mutwilligen Kriegen verschwendeten, und sechs blühende Provinzen zu Einöden verwüsteten, um die siebente zu erobern, deren Behauptung es ihnen unmöglich machte, ihren Völkern die Vorteile des Friedens jemals auf zehn Jahre zu versichern. Er sah Könige, welche, aus tiefer Untüchtigkeit zu allen ihren Pflichten, die Verwaltung des Staats Kebsweibern und Günstlingen überlassen mußten, und, während daß sie ihr unrühmliches Leben in Müßiggang und sinnlichen Wollüsten verträumten, sich nicht schämten, von hungrigen oder raubgierigen Schmeichlern mit den besten unter den Fürsten, ja mit der Gottheit selbst sich vergleichen zu lassen. Er sah kleine Rajas, die ihre Untertanen und sich selbst zu Bettlern machten, um sich eine Zeit lang, unter dem allgemeinen Naserümpfen der Welt, das lächerliche Ansehen zu geben, mit den größten Monarchen Asiens in die Wette geschimmert zu haben. Er sah einen sehr guten, sehr liebenswürdigen Fürsten das Unglück seiner Staaten bloß dadurch vollkommen machen, weil ihm sein böser Genius ein allgemeines Mißtrauen gegen alles was ihn umgab, eingeflößt hatte. Kurz, er lernte die Sultanen, Visire, Omras, Mandarinen, Mollas, Derwischen und Bonzen seiner Zeit kennen, und verwunderte sich nun nicht mehr, warum er den größten Teil von Asien in einem Verfall sah, welcher einen baldigen allgemeinen Umsturz ankündigte. Bei allem dem machte er tausend nützliche Beobachtungen, und hier und da, oft unter einem unscheinbaren Dache, die Bekanntschaft eines weisen und rechtschaffenen Mannes, oder eines unbekannten und unbenützten Talents. Dschengis ließ keine Gelegenheit vorbei, wo er ihn die Anwendung seiner Grundsätze zu machen lehren konnte. Er führte ihn allenthalben von den [218] äußerlichen Zufällen auf die Quelle des Übels, und zeigte ihm, wie vergebens man jenen abzuhelfen sucht, so lange diese nicht verstopft ist, oder – welches der Fall vieler Staaten ist – nicht verstopft werden kann. Er zeigte ihm durch Beispiele, welche desto lehrreicher sein mußten weil sie unmittelbar unter ihren Augen lagen, daß nichts einfacher sei als die Kunst weislich zu regieren, und daß es weniger Mühe koste, ein Volk geradezu glücklich zu machen, als es, durch tausend krumme Wege, mit einigem Schein von Recht und Billigkeit zu Grunde zu richten. Er zeigte ihm, daß überall, wo das Volk unterdrückt und der Staat übel verwaltet wurde, der Fürst selbst, von rastloser Gemütsunruhe herum getrieben, von tausend Besorgnissen geängstiget, von allen Seiten mit Schwierigkeiten umringt, zu einer schimpflichen Abhänglichkeiten von der eigennützigen Treue und den schelmischen Ränken der nichtswürdigsten seiner Sklaven verurteilt, belastet mit dem Hasse seiner Untertanen und mit der Verachtung der Welt, – unter allen Unglücklichen, die er machte, selbst der Unglücklichste war. Kurz, diese Reise wurde für den jungen Tifan eine Schule, worin er sich, ohne es selbst zu wissen, zum künftigen Regenten ausbildete; und (was hierbei nicht das unbeträchtlichste ist) eine Reise, welche für ihn so lehrreich und für Scheschian so nützlich war, kostete in drei ganzen Jahren kaum so viel, als alle die Kebsweiber, Mohren, Gaukler und Elefanten, welche den König von Siam von einem seiner Landhäuser zum andern begleiten, in acht Tagen aufzuzehren pflegen.«

Hier unterbricht sich der sinesische Autor, dem wir folgen, selbst, um uns zu sagen, daß die Reisen des Prinzen Tifan eine Unterredung zwischen dem Sultan Gebal, der schönen Nurmahal und dem Philosophen Danischmend über die Reisen junger Fürsten veranlaßt habe, welche er, da die sinesischen Prinzen, einem uralten Herkommen zu Folge, niemals außer Landes zu reisen pflegten, zu übersetzen für überflüssig erachtet habe. Alles was er uns davon meldet, ist – daß, nachdem Schach-Gebal sich, aus vielen Gründen, sehr ernstlich gegen dergleichen fürstliche Wanderungen erklärt, und bei dieser Gelegenheit seiner Galle durch ziemlich bittre Spöttereien über gewisse Könige seiner Zeit Luft gemacht, welche ihre Blödigkeit und ihre schlechte Erziehung mit ungeheuern Kosten in den vornehmsten Reichen Asiens zur Schau getragen – Danischmend, als ob er plötzlich aus einem Traum erwache, an den Sultan seinen Herrn sich gewendet, und gesagt habe: »Aber was würden Ihre Hoheit von einem großen Fürsten sagen, der den Mut hätte, den Ergetzungen seines Hofes, den Reizungen der Jugend und der Allgewalt, [219] und dem wollüstigen Müßiggange, worin junge Fürsten die schönste Zeit des Lebens zu verlieren pflegen, sich zu entreißen, und, in Gestalt eines Privatmannes, weitläufige und beschwerdenvolle Reisen zu unternehmen – umweiser und besser zu werden; um die Menschen, die ein Fürst gewöhnlicher Weise nie anders als in Masken sieht, in ihrer natürlichen Gestalt kennen zu lernen; – und um selbst des Vergnügens, ein Mensch zu sein, und seiner persönlichen Eigenschaften wegen geliebt zu werden, ungestörter und vollkommner genießen zu können? Was würden Sie sagen, wenn dieser Fürst, in Begleitung weniger Freunde, ohne Pracht, ohne Aufwand, ohne den zwanzigsten Teil des Geschleppes, welches die Großen gewöhnlich nach sich zu ziehen pflegen, in allen seinen Staaten herum reisete, überall selbst sich erkundigte, wie die Gesetze beobachtet, wie das Recht gehandhabet, wie die Staatswirtschaft bestellt würde; die Beschwerden eines jeden, der sich an ihn wendete, selbst anhörte, und durch seine Leutseligkeit jedermann zu gleichem Vertrauen einlüde; bei den prächtigen Schlössern seiner Omras, wo jedes Vergnügen ihn erwartete, vorbei eilte, um rauhe Gebirge zu besteigen, oder durch unwegsame schneebedeckte Wälder in die armseligen Hütten der Dürftigkeit hinein zu kriechen, und beim Anblick des elenden Brotes, dessen nur genug zu haben ein Teil seiner nützlichsten Untertanen sich glücklich achten würde, Tränen der Menschheit zu weinen? Und was würden Ihre Hoheit sagen, wenn dieser liebenswürdigste unter den Fürsten, gleich einer zu den Menschen herab gestiegenen Gottheit, jeden seiner Tritte mit Wohltaten bezeichnete, und bei jedem seiner Blicke irgend ein Mißbrauch abgestellt, irgend ein Gebrechen verbessert, eine Übeltat bestraft, ein Verdienst aufgemuntert würde?« –

»Danischmend Danischmend!« (rief der Sultan) »was ich sagen würde? – Ich würde« – hier hielt Seine Hoheit eine ziemliche Weile ein, und der schönen Nurmahal pochte das Herz vor Furcht für den ehrlichen, wohl meinenden, aber, in der Tat, gar zu unbedachtsamen Danischmend. – »Ich würde sagen«, fuhr der Sultan endlich fort, »daß du mir den großen Fürsten auf der Stelle nennen sollst, der dies alles getan hat.«

»Sire«, antwortete Danischmend ganz demütig, »ich gestehe freimütig, daß ich, wofern Ihre Hoheit Sich nicht entschließen es selbst zu sein, weder unter Ihren Vorgängern noch unter Ihren Zeitgenossen einen kenne, der dies alles getan hätte. Aber mein Herz sagt mir, daß die Idee eines solchen Fürsten, die ich in diesem Augenblick, wie durch eine Art von Eingebung, auf einmal in meiner Seele fand, [220] kein Hirngespenst ist. Er wird kommen, und sollt es auch erst in vielen Jahrhunderten sein; ganz gewiß wird er kommen, um zu gleicher Zeit die Ehre der Vorsehung, der Menschheit und des Fürstenstandes zu retten, und der Trost eines unglücklichen Zeitalters, das Vorbild der Könige, und die Liebe und Wonne aller Menschen zu sein.«

»Gute Nacht, Danischmend«, sagte der Sultan lächelnd: »ich sehe du rappelst. Unser Prophet befiehlt uns, Leute in deinen Umständen mit Ehrerbietung anzusehen; aber gleichwohl könnte, deucht mich, eine Prise Niesewurz nichts schaden, Freund Danischmend!«

8
8.

Ungeachtet der launischen Art, wie Schach-Gebal seinen so genannten Freund Danischmend zu Bette geschickt hatte, fand er doch so viel Belieben an der Unterhaltung, die ihm die scheschianische Geschichte gab, daß er die Zeit, die dazu ausgesetzt war, diesmal gegen seine Gewohnheit beschleunigte, weil er neugierig war zu hören, wie Danischmend es anfangen würde, um aus dem jungen Tifan einen so großen König zu machen als er versprochen hatte. Danischmend fuhr also in seiner Erzählung fort, wie folgt.

»Der junge Tifan hatte auf seiner zweijährigen Reise viel gelernt; denn er kannte nun die Menschenwie sie sind; und die Festigkeit, zu welcher, ehe sich Dschengis mit ihm in die Welt hinaus wagte, seine aus der Natur eingesogenen Grundsätze gelanget waren, sicherte seinen Kopf und sein Herz gegen alle die schädlichen Eindrücke, welche gewöhnlich die Folgen des Kontrastes zwischen dem was ist, und dem was sein sollte, in jungen Gemütern zu sein pflegen. Er überzeugte sich bis zum innigsten Gefühl, daß die Menschen unrecht hätten, so zu sein wie sie sind.

›Wenn man ihnen‹, sagte er zu seinem Mentor, ›den Vorzug der Vernunft vor den übrigen Tieren nicht absprechen kann, so muß man doch gestehen, daß sie sich derselben so schlecht bedienen, daß es beinahe besser für sie wäre, dieses gefährlichen Vorzuges gar zu ermangeln. Denn welches Tier ist nicht in seiner Art weniger elend als der Mensch? Sie sind weise in Kleinigkeiten, und Toren in Sachen wovon das Glück ihres Lebens abhängt; sinnreich, wo es darum zu tun ist sich selbst zu hintergehen, und blöde genug sich von andern mit offnen Augen betrügen zu lassen. Sie könnten frei sein, sind geboren es zu sein, beweisen sich's selbst, daß Freiheit eine unentbehrliche Bedingung zur Glückseligkeit und Vollkommenheit vernünftiger Wesen sei; und sind bei allem dem Sklaven, sind es so sehr, daß sogar unter zwanzig unumschränkten Sultanen kaum Einer sich erwehren[221] kann, der Knecht seiner Weiber, oder desjenigen der ihm seine Weiber hütet, oder irgend eines andern noch verächtlichern Geschöpfes zu sein.‹«

»Wohl beobachtet, Tifan!« rief der Sultan Gebal, weil ihm in diesem Augenblick ein paar Sultanen einfielen, die das Unglück hatten, sich in diesem Falle zu befinden, und weil Seine Hoheit über dem Vergnügen, in eben diesem Augenblick über allen solchen Schwachheiten empor zu schwimmen, Sich nicht erinnerte, wie oft in Seinem Leben dies auch Sein eigener Fall gewesen war.

»›Die Freiheit‹ (fuhr Tifan fort), womit sich die Menschen so viel wissen, ist so wenig für sie ge macht, daß sie, sobald sie Mittel finden, sich ihrer zu bemächtigen, ein so kostbares Gut zu nichts zu gebrauchen wissen, als sich selbst und andern Schaden damit zu tun. Die einzigen freien Menschen, die wir auf unsrer Reise gesehen haben, waren Räuber oder herum streichende Bonzen. – Eben so widersinnig gehen sie mit den Gesetzen um, von welchen sie zu glauben vorgeben, daß ohne sie keine Ordnung, keine Sittlichkeit, kein besonderer noch allgemeiner Wohlstand möglich sei. In allen Staaten, die wir gesehen haben, fanden wir die kleinere Zahl einzig bemüht, die Gesetze zu durchbrechen, und die größere, unbemerkt unter ihnen wegzuschlüpfen. Die Religion, hörten wir sagen, ist das Ehrwürdigste, das Beste, was der Himmel den Sterblichen geben konnte: aber mir deucht, sie spielen mit ihrer Religion, wie sie mit ihren Gesetzen spielen. Unter allen diesen unzählbaren Braminen und Bonzen, wovon wir die Länder um den Indus und Ganges wimmeln sahen, mögen wohl einige sehr ehrwürdige Personen sein; aber die meisten widerlegen ihre Lehren so augenscheinlich durch ihre Handlungen, daß man keine andre Wahl hat, als sie entweder für wissentliche Betrüger, oder für Unsinnige zu halten, die das Gift selbst verschlucken, vor welchem sie andre warnen.

Von welcher Seite ich die Menschen ansehe, finde ich sie in Widerspruch mit sich selbst; und immer ma chen sie von dem, wodurch sie besser und glücklicher werden könnten, einen so ungeschickten oder unbescheidenen Gebrauch, daß es in ihren Händen ein Werkzeug ihres Elendes wird. Sie stellen sich als ob sie die sinnlichen Wollüste verachteten, und überfüllen sich damit so oft sie nur können. Die Tugend, sagen sie, ist des Menschen höchstes Gut; und bei jeder Gelegenheit verkaufen sie ihr höchstes Gut um – verächtlichen Gewinst, oder um einen angenehmen Augenblick. Sie haben sich ihrer Sicherheit wegen in große Gesellschaften vereiniget; und verlieren in ihnen unvermerkt alles das was sie in Sicherheitbringen [222] wollten. Sie schmeicheln sich, die Herren der übrigen Geschöpfe zu sein; alle Elemente sind uns dienstbar, sagen sie, die Welt ist unser: und unter jeder Million dieser Herren der Welt sind wenigstens neunmal hunderttausend, welche ihren Anteil an diesem prächtigen Titel um den Zustand der Elefanten des Königs von Siam gern vertauschen würden.

Was soll man von einer so seltsamen Gattung von Geschöpfen denken? Liegt ihre Ähnlichkeit mit den unschuldigen und gutartigen Menschen, unter welchen ich aufgewachsen bin, nur in der äußerlichen Gestalt? Oder wie war es möglich von ihrer ursprünglichen Natur so sehr abzuarten? Was nützen ihnen alle ihre vermeinten Verbesserungen des natürlichen Zustandes, ihre Gesetze, ihre Polizei, ihre Künste, wenn sie nur desto unglücklicher sind, je mehr sie Mittel zum glücklichen Leben haben?‹

›Der Mensch‹, antwortete Dschengis, ›kommt unvollendet, aber mit einer Anlage zu bewundernswürdigen Vollkommenheiten aus den Händen der Natur. Die nämliche Bildsamkeit macht ihn gleich fähig, sich die Form eines Gottes – oder die Mißgestalt eines Ungeheuers aufdrucken zu lassen. Alles hängt von den Umständen ab, in welche er beim Eintritt in die Welt versetzt wurde, und von den Eindrücken, die sein wächsernes Gehirn in der ersten Jugend empfing. Bleibt er sich selbst überlassen, so wachsen seine Neigungen in wilder Üppigkeit mit ihm auf, und seine edelsten Kräfte bleiben unentwickelt. Lebt er in Gesellschaft, so nimmt er unvermerkt die Sprache, die Manieren, die Sitten, die Meinungen, das Interesse und den Geist der besondern Gesellschaft an, die ihn umgibt; und so verbreitet sich das Gift der physischen und sittlichen Verderbnis, wenn es einmal den Zugang in diese Gesellschaft gefunden hat, unvermerkt durch die ganze Masse aus. Der Mensch wird gut oder schlimm, aufrichtig oder falsch, sanft oder ungestüm, blödsinnig oder witzig, träg oder tätig, je nachdem es diejenigen sind, von welchen er sich immer umgeben sieht. Und wiewohl keiner ist, der nicht etwas von der besondern Anlage zu einem eigentümlichen Charakter, womit ihn die Natur gestempelt hat, beibehielte; so dient doch dies in großen Gesellschaften meistens nur die Anzahl der übel gebildeten und grotesken sittlichen Formen zu vermehren. Je größer diese Gesellschaften und je größer die Menge der kleinern ist, aus welchen sie, wie die Zirkel in dem Weltsystem unsrer Sternseher, zusammen gesetzt sind, je mehr diese verschiedenen kleinen Kreise einander drücken und pressen, je häufiger die Leidenschaften, Vorteile und Ansprüche in diesem allgemeinen Gewimmel an einander [223] stoßen; desto mehr geht von der ursprünglichen Gestalt des Menschen verloren. Eine sehr kleine und von der übrigen Welt abgeschnittene Gesellschaft erhält sich ohne Mühe bei der angebornen Einfalt und Güte der Natur. Hingegen ist es eine schlechterdings unmögliche Sache, daß etliche Millionen, welche zusammen in Einem Staate von mäßiger Größe, oder etliche hunderttausend, welche in Eine Stadt zusammen gedrängt leben, einander nicht in ziemlich kurzer Zeit sehr verderben sollten, wofern der Gesetzgeber nicht ganz besondere Sorge getragen hat, dem Übel des Zusammenstoßes der Interessen, und dem noch größern Übel der sittlichen Ansteckung durch weise Einrichtungen zuvorzukommen.‹

›Und wie könnte dies geschehen?‹ fragte Tifan.

›Durch eine sehr einfache Veranstaltung‹, antwortete Dschengis. ›Es geschieht, indem man verhindert, daß die Hauptstadt eines ganzen Reiches zu keiner übermäßigen Größe anwächst; indem man die Stände, deren Unterschied aus der Natur der bürgerlichen Gesellschaft entspringt, wohl von einander absondert, und dafür sorget, daß jeder Ursache habe, mit dem seinigen zufrieden genug zu sein, um zu den höhern ohne Neid hinauf zu sehen; indem man allen Ursachen einer allzu großen Ungleichheit zuvorzukommen oder doch zu wehren sucht; und, was das wichtigste ist, indem man die Vermehrung der Einwohner auf alle nur ersinnliche Weise zu befördern, hingegen Müßiggang, Üppigkeit und allzu große Verfeinerung des Geschmacks und der Lebensart eben so eifrig zu verhindern bemüht ist.‹

›Aber‹ (wendete Tifan ein) ›wenn die Menschen desto mehr zur Verderbnis geneigt werden, je zahlreicher sie sind, wie kann die möglichste Bevölkerung des Staats unter die Mittel gegen die Verderbnis gehören?‹

›Nicht die Menge der Bürger an sich selbst‹ (erwiderte Dschengis), ›sondern die allzu große Verwicklung ihrer Interessen, der häufige und starke Zusammenstoß ihrer Forderungen, die verhältniswidrige Ungleichheit unter den Ständen sowohl, als unter den Gliedern des nämlichen Standes, und die übermäßige Bevölkerung einer einzigen Hauptstadt und Provinz auf Unkosten der übrigen – sind die Ursachen dieser allzu großen Gärung, welche den Staat zur Fäulnis geneigt macht. Ein zahlreicher Adel von mittelmäßigem Vermögen ist einem großen Reiche eben so nützlich, als ihm der unmäßige Reichtum einiger wenigen und die Armut der meisten übrigen schädlich ist. Eben so zieht der Staat viel mehr Vorteile davon, wenn ein Vermögen von zehn Millionen unter hundert Handelsleute verteilt, als [224] wenn es in den Händen eines einzigen ist; und eine Million arbeitsamer Leute, welche Mühe haben das Notwendige zu erwerben, sind dem gemeinen Wesen nützlicher als hunderttausend, welche im Überflusse leben. In einem großen und von der Natur reichlich begabten Staate, wie Scheschian zum Beispiel ist, können, wenn er wohl organisiert ist, schwerlich zu viel Menschen sein. Alles kommt darauf an, sie gehörig zu verteilen, und durch Unterhaltung eines Kreislaufs, der jedem Teile seine erforderliche Nahrung zuführt, zu verhindern, daß kein Teil auf Unkosten der übrigen zu einer verhältniswidrigen Größe anschwelle.‹

Unter tausend solchen Gesprächen, welche, so nützlich sie für den jungen Tifan waren, Seiner Hoheit nicht anders als lange Weile machen könnten« – »Weiß der Himmel!« rief der Sultan gähnend – »kamen Tifan und Dschengis in Scheschian an, wo nach dem Entwurfe des weisen Alten ihre Wanderungen sich endigen sollten. Die unglücklichen Folgen der tyrannischen Regierung Isfandiars hatten damals eben ihre höchste Stufe erreicht. Tifan, so viel Mißbräuche, so viel Torheit, so viel Ungerechtigkeit er auch in andern Ländern gesehen hatte, konnte sich kaum aus der Bestürzung erholen, in welche ihn der elende Zustand von Scheschian setzte. Sein Begleiter versäumte nichts, ihm den ausführlichsten und vollständigsten Begriff davon zu verschaffen. Er führte ihn von Provinz zu Provinz; er zeigte ihm den gegenwärtigen Verfall; er machte ihm begreiflich, in welchem blühenden Zustande sich jede, nach Verhältnis ihrer natürlichen Beschaffenheit, Lage und Beziehung auf die übrigen, unter einer weisen Staatsverwaltung hätte befinden können; und entwickelte den Zusammenhang der Ursachen, welche dieses große Reich in allen seinen Teilen zu Grunde gerichtet hatten. Bei dieser Gelegenheit erzählte er ihm die wichtigsten Veränderungen, welche es seit einigen Jahrhunderten erlitten hatte, schilderte den Geist der verschiedenen Regierungen, und zeichnete die wichtigsten Fehler aus, welche seit den Zeiten der Königin Lili gemacht worden waren. Er zeigte ihm, wie leicht es gewesen wäre jedem Mißbrauche zu rechter Zeit abzuhelfen; wie natürlich es zugehe, daß diese Mißbräuche durch den Aufschub der schicklichsten Hülfsmittel endlich unverbesserlich werden; und wie unvermeidlich der Untergang auch des mächtigsten Staates sei, wenn der Luxus seinem eigenen Lauf überlassen, und den verderblichen Folgen desselben nicht eher, als bis sie die Eingeweide des Staats angefressen haben, und auch alsdann nicht anders als durch hitzige Mittel und gewaltsame Operationen, begegnet werde.«

[225] Hier unterbrach Schach-Gebal die Erzählung durch einen Einwurf, der vermutlich auch auf der Zunge mancher Leser schwebt. »Alles dies«, sagte er, »ist ganz gut; aber ich begreife doch nicht recht, wie der ehrliche Tifan, der von seiner Geburt und vermutlichen Bestimmung nichts wußte, alle diese politischen Untersuchungen interessant genug, und überhaupt wie er begreiflich finden konnte, daß Dschengis sich so viele Mühe gab, ihn aus einem Bauer zu einem Staatsmanne umzubilden.«

»Ich gestehe«, sagte Danischmend, »daß ich diesem Einwurfe hätte zuvorkommen sollen. Tifan zeigte von seiner ersten Jugend an ungewöhnliche Fähigkeiten. Eine glückliche Empfindlichkeit entwickelte frühzeitig alle Kräfte seiner Seele. Sein Verstand kam den Unterweisungen seines Lehrmeisters auf halbem Wege entgegen. Sein Herz war zur Dankbarkeit, zur Freundschaft und zum Wohltun aufgelegt. Immer empfand er die Freude oder die Schmerzen derjenigen, die er liebte, stärker als seine eigenen. Er kannte keine süßern Augenblicke als diejenigen, worin er ihnen Vergnügen machen, oder irgend eine Unlust von ihnen entfernen konnte. Mit einer solchen Seele fühlt man, sobald man einige Kenntnis der Welt erlangt hat, einen innerlichen Beruf zu der edelsten Art von Tätigkeit. Ich glaube schon bemerkt zu haben, daß der junge Tifan, von der Stunde an, da ihm Dschengis einen Begriff von dem wirklichen Zustande der menschlichen Gattung gegeben hatte, den Geschmack an seinem eigenen Glücke verlor, und vor Begierde brannte, dem Elende seiner Mitgeschöpfe abzuhelfen; – einer Begierde, die in gewissem Sinn etwas Romanhaftes hat, 38 aber dem ungeachtet die Leidenschaft großer Seelen und die Mutter der schönsten Taten ist. Dschengis bediente sich dieser Augenblicke, den Prinzen zur künftigen Entdeckung seines Standes vorzubereiten. Er machte ihm Hoffnung, daß er vielleicht bestimmt sein könnte, seines Wunsches in einem höhern [226] Grade, als er nach seinen itzigen Umständen hoffen dürfte, gewähret zu werden; und bestätigte diese Hoffnung durch eine Menge von Beispielen großer Männer, welche aus der Dunkelheit hervor gegangen waren, um Wohltäter des menschlichen Geschlechtes zu werden. ›Die edlen Triebe, die du in dir fühlst‹, sagte er zu ihm, ›sind ein angeborner Beruf zu einer erhabenen und wohltätigen Bestimmung. Vielleicht hat die Vorsehung dich zum Werkzeuge großer Dinge ausersehen. Ist dies ihre Absicht, so wird sie uns Wege dazu eröffnen, von welchen wir uns itzt nichts träumen lassen. Dermalen kommt alles darauf an, daß wir nichts unterlassen was von uns abhängt. Bemühe dich, mein lieber Tifan, die Kenntnisse, die Geschicklichkeiten, die Tugenden zu erwerben, die eine solche Bestimmung voraussetzt; das übrige ist die Sache des Himmels.‹

Tifan kann also, da er seine Reisen unternahm, als ein junger Mensch betrachtet werden, der eine zwar noch unbestimmte aber doch entschlossene Neigung in sich fühlt, irgend eine edle Rolle auf dem Schauplatze der Welt zu spielen; und so ist, wie mich deucht, der Einwurf gehoben, den Ihre Hoheit gegen die Schicklichkeit der politischen Erziehung meines jungen Helden zu machen geruht haben.«

»Aufrichtig zu sein, Danischmend«, sagte der Sultan, »alles was mich an der Sache verdrießt, ist, daß ich nicht so glücklich war, in meiner Jugend einen Dschengis zu finden. Der arme Schach-Baham! Ihm kam es zu, einen solchen Mann für mich zu suchen. Aber es hätten zehen tausend Dschengisse in Indostan leben können, ohne daß er einen einzigen von ihnen ausfündig gemacht hätte. Für ihn waren alle Menschen gleich, diejenigen ausgenommen, welche Märchen erzählen und Bilder ausschneiden konnten; denn diese waren die großen Männer in seinen Augen. – Fortgefahren, Herr Danischmend!«

»Dschengis hatte, nach einem Aufenthalte von etlichen Monaten in Scheschian, hohe Zeit mit seinem Untergebenen unsichtbar zu werden; denn die Kundschafter, deren Eblis eine große Menge in allen Teilen des Reiches unterhielt, hatten ihm Nachricht von unsern Wanderern gegeben, welche seine argwöhnische Aufmerksamkeit rege machten. Aber durch die Vorsichtigkeit des alten Mentors waren sie in ihrer unbekannten Freistätte schon wieder geborgen, als der Befehl zu ihrem Verhaft anlangte.

Der junge Tifan ruhte einige Tage in den Armen seiner geliebten Tili von den Beschwerden einer mühsamen Reise aus. Der Genuß der lang entbehrten häuslichen Glückseligkeit, das Vergnügen, die Gespielen seiner Kindheit und die Gegenden, wo seine Seele die ersten [227] angenehmen Eindrücke bekommen hatte, wieder zu sehen, schien eine Zeit lang diejenigen ausgelöscht zu haben, welche seine Wanderungen durch Scheschian in seinem Gemüte zurück gelassen hatten. Aber diese Erinnerungen wachten bald nur desto lebhafter auf; sie verfolgten ihn allenthalben; und verbitterten die Wonne seines Lebens. Sein Herz machte ihm Vorwürfe, so oft er sich der Freude überließ; es war ihm, als ob er einen Genius in seine Seele flüstern höre: ›O Tifan! kannst du dich freuen, da Millionen Geschöpfe deiner Gattung so elend sind?‹

Bald nach seiner Zurückkunft brachen die öffentlichen Unruhen in Scheschian aus. Dschengis, welcher Gelegenheit gefunden hatte, mit einem zuverlässigen alten Freunde das vertraute Verständnis ihrer jüngern Jahre wieder zu erneuern, erhielt von ihm durch geheime Wege die genaueste Nachricht von allem was vorging. Er teilte sie wieder mit dem jungen Tifan, der vor Ungeduld brannte, die gemißhandelten Scheschianer an ihren Tyrannen gerochen zu sehen; und nun glaubte der Alte, daß es Zeit sei einen neuen Schritt zu tun, um den Prinzen zur Mitteilung seines großen Geheimnisses vorzubereiten. Er entdeckte ihm also, daß er selbst aus einem edeln Geschlechte in Scheschian abstamme; daß er ehmals öffentliche Würden am Hofe des Königs Azor bekleidet habe, und ein Vertrauter des einzigen Bruders dieses Fürsten gewesen sei, aber bald nach dem Tode des letztern, weniger um seiner persönlichen Sicherheit willen, als aus gänzlicher Überzeugung von seiner Unnützlichkeit unter der neuen Regierung, sich in dieses Gebirge zurück gezogen habe, um in ungestörter Ruhe der Erziehung seines geliebten Tifan sich widmen zu können.

›Aber nun‹ (rief Tifan mit aller der Wärme, worein ihn diese Entdeckung gesetzt hatte) ›was säumen wir, unser Blut einem Vaterlande anzubieten, welches in den letzten Zügen liegt, und alle seine Kinder um Hülfe, oder, wenn Hülfe zu spät kommt, wenigstens um Rache anruft?‹

Dschengis hatte einige Mühe dem Prinzen begreiflich zu machen, daß Rechtschaffenheit eben sowohl als Klugheit ihnen nicht eher gestatten könne, eine Partei zu ergreifen, bis auf eine zuverlässige Art entschieden sei, auf welcher Seite sich das stärkste Recht befinde. ›Isfandiar‹, sagte er, ›hat wie ein Tyrann regiert; aber sein Erbrecht an die Krone ist unstreitig und unverletzlich. Die Nation ist schuldig ihn für ihren König zu erkennen. Es ist wahr, sie hat Rechte, welche eben so heilig sind als die seinigen; und sie ist so wenig verbunden alles zu leiden, als er berechtigt ist alles zu tun. Aber vielleicht [228] geht Isfandiar in sich; vielleicht gibt er billigen Vorschlägen Gehör, und vielleicht ist mehr Erbitterung, Rachsucht und Eigennutz als wahre Vaterlandsliebe in den Bewegungsgründen der Häupter der Empörung. Die Zeit muß uns hierüber Licht geben. Sobald Pflicht und Ehre uns auf die eine oder auf die andere Seite rufen werden, dann wollen wir gehen.‹

Der junge Tifan sah einer entscheidenden Nachricht mit Ungeduld entgegen. Aber die Zwischenzeit wurde nicht ungenützt vorbei gelassen. Dschengis, der sich in seiner Jugend den Ruhm eines guten Officiers erworben hatte, las unter den Gespielen seines Pflegesohns einige der stärksten und gewandtesten aus, um sie nebst Tifan in allen Arten von kriegerischen Übungen zu unterweisen. Er vermehrte sie mit einer Anzahl auserlesener junger Tatarn, welche er durch Geschenke und Hoffnungen in seine Dienste zog. Tifan tat sich bald unter dieser mutvollen Jugend hervor; er gewann ihre Liebe in einem so hohen Grade, und schien ihnen allen so unstreitig der wackerste und beste aus ihrem Mittel zu sein, daß sie ihn einmütig zu ihrem Anführer erwählten; ein Umstand, der in den Augen des erfreuten Alten von glücklicher Vorbedeutung war. Nach einiger Zeit langte die Nachricht von dem Tode des Königs an, und von der Zerrüttung, in welche das erbenlose Reich dadurch gestürzt worden sei. Nun war es nicht länger möglich den jungen Tifan zurück zu halten; und nun glaubte Dschengis, daß es Zeit sei, sich seines Geheimnisses zu entledigen.«

Schach-Gebal, dem dieses Geheimnis schon bekannt war, erklärte sich, daß er für diesmal genug habe, und entließ Danischmenden mit der Versicherung, daß es ihm nicht zuwider sein würde, der Fortsetzung dieser Geschichte zuzuhören.

9
9.

Zur gewöhnlichen Zeit setzte Danischmend die Geschichte des Prinzen Tifan folgender Maßen fort.

»Dschengis sah mit innerlichem Frohlocken das Feuer, welches in Tifans Seele brannte, und die Entschlossenheit, mit welcher er bereit war, sein Leben für die Sache eines Vaterlandes zu wagen, zu dessen Verteidigung er, als der vermeinte Sohn eines Edeln von Scheschian, einen angebornen Beruf zu haben glaubte, und seine Ungeduld über jeden Tag, der die Ausübung dieser Pflicht verzögerte. Er genoß des reinen und alle andre Wollust übertreffenden Vergnügens, seine großmütigen Bemühungen dem glücklichsten [229] Erfolge sich täglich nähern zu sehen. Er hatte den Sohn eines Fürsten, der sein Freund gewesen war, nicht nur gerettet; er hatte ihn zu einem der besten Menschen gebildet. Jede Tugend, jede Fähigkeit, deren edler Gebrauch den großen Mann macht, entwickelte sich bei der kleinsten Veranlassung in seiner schönen Seele. Die Natur schien etwas Großes mit ihm vorzuhaben, und das Glück eröffnete ihm bei seinem Eintritt in das männliche Alter einen Schauplatz, wo die Notwendigkeit selbst jedem seine Rolle anweist, wo der Zufall das wenigste tut, und jedes große Verdienst in seinem eigentümlichen Glanz erscheint. ›Meine Ahnungen sind erfüllt‹, sagte Dschengis zu sich selbst: ›Tifan ist dazu bestimmt, ein neues besseres Scheschian aus den Trümmern des alten hervor zu ziehen. Es ist Zeit ihm zu entdecken, wer er ist, und ihn auf den Weg zu bringen, worauf er werden kann, was er sein soll.‹

Die neuesten Nachrichten, welche Dschengis von seinem Freund erhalten hatte, sprachen von einer öffentlichen Verbindung einiger Städte gegen dieEdeln, welche sich zu Nebenbuhlern um den Thron aufgeworfen hatten. Die Verbundenen nannten sich die vaterländische Partei; und wiewohl sie über die Art und Weise, wie die Verfassung des Reiches fürs künftige eingerichtet werden sollte, unter sich selbst nicht einig waren, so stimmten sie doch alle in dem Hasse der Tyrannei und in dem Grundsatz überein, keinen König zu erkennen, der kein besseres Recht als die Obermacht seiner Waffen hätte.

›Die Krone in Scheschian ist aus Mangel eines gesetzmäßigen Thronfolgers der Nation anheim gefallen‹, sagte Tifan: ›diejenigen, welche sich derselben mit Gewalt bemächtigen wollen, haben keinen andern Beruf dazu, als die Sucht zu herrschen. Die Partei der verbundenen Städte ist die Partei der Nation; und die Nation allein hat das Recht die Verfassung festzusetzen, durch welche sie sich des Besitzes ihres gerechten Anspruchs an Freiheit und Glückseligkeit am besten versichern zu können glaubt. Dschengis kann es nicht mißbilligen, wenn ich gehe, meinem Vaterlande Dienste anzubieten, die ich ihm schuldig bin.‹

›Aber was wirst du dazu sagen, Tifan‹, sprach derAlte, ›wenn ich dir entdecke, daß noch ein Prinz aus dem Hause Ogul-Kans übrig ist, dessen Ansprüche um so weniger zweifelhaft sein können, da er ein Sohn des einzigen Bruders des Sultans Azor ist?‹

›Und wo ist dieser Prinz?‹ fragte Tifan mit einer Miene, welche sehr deutlich verriet, daß ihn Dschengis mit einer unwillkommnen Nachricht überrascht hatte.

[230] ›Unsre Nachrichten melden uns nichts von ihm.‹

›Wie kann das Dasein eines Prinzen, dessen bloßer Name alle Unruhen in Scheschian stillen würde, ein Geheimnis sein?‹

›Jedermann glaubt‹ (war die Antwort des Alten), ›daß dieser Prinz, so wie die übrigen von Azors Hause, ein Opfer der mißtrauischen Grausamkeit des Tyrannen Isfandiar geworden sei. Aber man betrügt sich: er lebt; und – was dich noch mehr in Verwunderung setzen wird, mein Sohn! – ich bin der Einzige, der um das Geheimnis seiner Erhaltung weiß.‹

›O mein Vater‹, rief Tifan mit einer immer zunehmenden Unruhe, ›welch ein Geheimnis ist dies! Vielleicht ein unglückliches für Scheschian! Wie wenn dieser Prinz die Eigenschaften nicht hätte, die ein Fürst haben muß, der ein so sehr zerrüttetes, so tief herunter gebrachtes Reich wieder aufrichten, wieder aufs neue blühend machen soll? Wie wenn er ein zweiter Isfandiar, oder wenigstens ein zweiter Azor würde? Wär es in diesem Falle nicht Pflicht – Pflicht gegen das Vaterland, gegen die Nachwelt, gegen lebende und ungeborne Millionen –, ein so gefährliches Geheimnis mit ewigem Stillschweigen zu bedecken?‹

›Der junge Prinz hat eine sehr gute Anlage‹, erwiderte Dschengis, ›und sein Recht‹ –

›O mein Vater‹, fiel ihm Tifan ein, ›welches Recht kann heiliger sein, als das Recht einer ganzen Nation an Glückseligkeit? Welch ein fürchterlicher Gedanke, das Schicksal so vieler von der zweifelhaften Entscheidung des Charakters eines Einzigen abhangen zu lassen!‹

›Aber die Nation muß einen König haben‹, erwiderte Dschengis: ›die Regierung vieler Köpfe taugt nichts in einem so weit grenzenden Staate; und Scheschian in eine Menge kleiner Freistaaten zu zerstücken, und diese wieder durch einen so schwachen Faden als ein gemeinschaftliches Bündnis, in ein Ganzes zusammen binden zu wollen, wäre für die Ruhe und den Wohlstand der Nation gefährlicher, als alles was wir bei einem jungen Monarchen wagen können. Mir deucht, dieser Punkt wurde schon lange zwischen uns ausgemacht.‹

›Gut‹, sagte Tifan: ›aber würde die Nation nicht besser tun, wenn sie durch eine freie Wahl die Regierung demjenigen auftrüge, zu dem sie das beste Vertrauen hätte, demjenigen, der sich eines solchen Vertrauens am würdigsten gezeigt hätte? Der junge Prinz weiß vielleicht nichts von seinem Rechte‹ –

›Er weiß nichts davon‹, sagte Dschengis –

›Und der Nation ist, wie du sagtest, sogar sein Dasein unbekannt‹, fuhr Tifan fort. ›Es kann also nichts Böses daraus entstehen, wenn [231] man sein Recht ihm selbst und dem Volke unbekannt bleiben läßt. Mir deucht, dies wäre doch immer das Sicherste.‹

›Aber‹, versetzte Dschengis, ›wenn mich nicht alles betrügt, so können wir uns selbst keinen bessern Fürsten geben, als diesen, den uns der Himmel gegeben hat. Er ist der edelmütigste, der liebenswürdigste, der tugendhafteste junge Prinz, den die Welt vielleicht jemals sehen wird.‹

›Du sagst dies mit einem so zuversichtlichen Ton‹, erwiderte Tifan: ›wie war es möglich, daß du ihn so genau kennen lerntest?‹

›Sehr möglich‹, antwortete Dschengis, ›da ich ihn selbst erzogen habe.‹

›Du selbst?‹ rief Tifan mit einer Bestürzung, welche zeigte, daß seine Seele der Entwicklung des Geheimnisses aus innerlicher Ahnung entgegen sah.

›Ich selbst, Tifan, unter meinen Augen ist er aufgewachsen, und seit mehr als zwanzig Jahren bin ich nicht von seiner Seite gekommen. – Mit Einem Worte, Tifan, – Du bist dieser Prinz! Du bist der einzige übrig gebliebene Bruderssohn Azors, und der rechtmäßige Erbe des scheschianischen Thrones.‹

›Du bist also nicht mein Vater?‹ sagte Tifan mit einem traurigen Tone der Stimme, indem seine Augen sich mit Tränen erfüllten.

›Nein, bester Tifan‹, versetzte der alte Dschengis, indem er seine Arme um seinen Hals warf und ihn etlichemal mit großer Bewegung auf die Stirne küßte, auf welche eine seiner Tränen fiel. ›Du bist der Sohn meines Freundes. Dein Vater war eines Thrones wert. Er hinterließ dich mir als ein kostbares Unterpfand; und teuer – teuer, bester Tifan, aber nicht zu teuer, hab ich das Recht eines zweiten Vaters an dich erkauft; denn um dein Leben zu erhalten, gab ich dem Isfandiar meinen einzigen Sohn hin. Er glaubte, dich erwürgt zu haben, und ich entfloh mit dir in diese Freistätte. Unwissend was der Himmel über dich beschlossen haben könnte, erzog ich deine erste Jugend, als ob der Privatstand dein Los bleiben würde. ›Wer alles ist, was ein Mensch sein muß, wenn er diesen edeln Namen in seiner würdigsten Bedeutung führen soll, wird allezeit einen guten Fürsten abgeben‹, sprach ich zu mir selbst. Indessen sah ich wohl vorher, daß Isfandiars sinnlose Regierung, zu einer Zeit, wo die behutsame Staatswirtschaft kaum vermögend gewesen wäre das sinkende Reich zu erhalten, sich endlich mit dem Umsturz der gegenwärtigen Verfassung endigen würde. Meine Vermutungen sind in Erfüllung gegangen. Scheschian ist ohne Haupt; alles Elend und alle Greuel der Anarchie schlagen über dem unglücklichen Lande [232] zusammen. Itzt ist die Zeit da, wo die Tugend eines einzigen Mannes das Schicksal der ganzen Nation entscheiden kann. Frage dein Herz, Tifan, was sagt es dir in diesem Augenblicke?‹

›Ich fühle eine Verwirrung in mir‹, erwiderte Tifan, ›aus welcher mich zu sammeln Zeit vonnöten ist. Ich wollte du hättest mich in einem Irrtum gelassen, bei dem ich glücklich war. – Und doch! O mein Vater!‹ (er drückte sein schlagendes Herz an die Brust des Alten, indem er dies sagte) ›ich fühl es, mein Herz wird immer eben dasselbe bleiben. Ich wollte als Sohn des edeln Dschengis gehen, mein Leben für die Ruhe meines Vaterlandes zu wagen; könnt ich als Temors Sohn weniger tun? Temors Sohn, sagt ich! O du ehrwürdiger, bester alter Mann, laß mich deinen Sohn bleiben! Ich kann es ohne Undankbarkeit gegen denjenigen sein, dem ich das Leben zu danken habe. Niemand weiß von unserm Geheimnis als du; und wer würde dir glauben, wenn du es entdecken wolltest? Laß mich deinen Sohn bleiben! Dir hab ich es zu danken, daß ich mich fähig fühle eine Krone zu verachten! Du bist mein wahrer Vater; und ich will die Ehre verdienen, dein Sohn zu sein. Mein höchster Stolz geht nicht weiter.‹

Eine Krone verachten, Tifan?‹ rief Dschengis, indem er sich plötzlich aus seinen Armen los machte. ›Nein, Tifan, dies ist nicht der Weg, mich für das zu belohnen was ich für dich getan habe! Verachte die wollüstige Trägheit, den Müßiggang, die Üppigkeit, den Übermut, die Schwachheiten und die Laster, wovon die meisten, welche Kronen getragen haben, Sklaven gewesen sind! Sei des Thrones wert, für welchen du geboren bist! Aber sage nicht, daß du den erhabensten Auftrag verachtest, womit der Himmel einen Sterblichen beehren kann!‹

›O mein Vater!‹ erwiderte Tifan, indem eine edle Schamröte seine männlichen Wangen überzog: ›vergib den unbedachten Ausdruck eines Gefühls das du nicht mißbilligen kannst! Du kennest meine Seele, die du selbst gebildet hast, die durch deine Einflüsse, durch dein Beispiel, die Tugend lieb gewonnen hat, und allem was schön und groß ist mit ausgespannten Flügeln entgegen eilt! Ich bin alles was du willst. Aber, mein Vater, wer anders als der weiseste undbeste Mann im Reich verdient die Ehre an der Spitze der Nation zu stehen? Und wenn dies ist, wer verdient König zu sein, wofern es Dschengis nicht verdient?‹

›Deine Liebe zu mir macht dich parteiisch‹, erwiderte der Alte: ›und überdies ist es nicht um die Ehre, der Erste zu sein, sondern um ein Amt zu tun, dessen Last jüngere Schultern erfordert als die [233] meinigen. Meine Erfahrung kann dir nützen; aber das Feuer, die Tätigkeit, das Anhalten in der Arbeit, wozu dich deine Jugend fähig macht, könntest du mir nicht mitteilen.‹

›Indessen bleibt noch eine große Schwierigkeit unaufgelöst‹, sagte Tifan. ›Wie willst du den Adel und das Volk von Scheschian überzeugen, daß ich Temors Sohn sei?‹

›Ich?‹ antwortete Dschengis: ›das will ich nicht! Du selbst, Tifan, Du mußt sie überzeugen. Du hast dein eignes Urteil gesprochen! Die Nation weiß nichts von deinem Geburtsrecht, und es würde mir unmöglich sein, wenn ich es auch wollte, sie davon zu überzeugen. Eine freie Wahl muß den Würdigsten zum Throne rufen. Gehe, Tifan, hilf der Nation dies ihr großes Recht gegen diejenigen behaupten, welche sich den Weg zum Thron auf den Trümmern der Freiheit bahnen, und mit Gewalt an sich reißen wollen, wozu sie kein Recht zu haben fühlen. Verdiene, von deinen Mitbürgern für den besten Mann der Nation erkannt zu werden – und wehe ihnen, wenn sie den mißkennen, der, wofern mich nicht alles betrügt, sie glücklich machen wird, wenn sie ihr Glück in seine Hände stellen!‹«

»Danischmend«, sagte Schach-Gebal – »ich fange an zu merken, daß du im Sinne hast, uns mit einem Romane zu beschenken. Bisher klang der größte Teil deiner Erzählung so ziemlich wie eine Geschichte aus dieser Welt. Aber dieser Dschengis, dieser Tifan! Man erinnert sich nicht, solche Leute gekannt zu haben! Nicht als ob ich etwas dawider einzuwenden hätte, daß sie so gute Leute sind! Aber ich hasse alles, was einem Märchen ähnlich sieht, Danischmend!«

»Wenn Ihre Hoheit dies im Ernste meinen«, versetzte der Philosoph, »so bin ich genötigt demütigst um meine Entlassung anzusuchen. Denn ich muß gestehen, je weiter wir in der Geschichte Tifans kommen werden, desto weniger wird sie die Miene einer Geschichte aus dieser Welt haben. Aber dem ungeachtet kann ich mir nicht aus dem Kopfe bringen, daß sie eine so wahre Geschichte ist, als immer die Geschichte von Azorn oder Isfandiarn. Tifan ist kein Geschöpf der Phantasie; es liegt dem ganzen Menschengeschlechte daran, daß er keines sei. Entweder er ist schon gewesen, oder, wenn er (wie ich denke) nicht unter den itzt Lebenden ist, wird er ganz gewiß künftig einmal sein

»Immerhin«, sagte der Sultan lächelnd: »wenn dein Tifan auch ein Traum wäre, so wollen wir wenigstens sehen, ob es sich vielleicht der Mühe verlohnet, ihn wahr zu machen.« [234] »Ich habe Ihrer Hoheit noch so viel davon zu sagen, was Tifan tat als er König war, daß ich wohl zu tun glaube, desto kürzer über das zu sein, was er tat um es zu werden

»Gut, Danischmend, wir kennen einander. Langweilige Erzählungen haben die Gabe nicht, mich einzuschläfern; sie machen mich ungehalten. Wir wissen nun einmal, daß du aus deinem Tifan einen König machen willst; und da die Sache bloß von dir abhängt, so kannst du mich nicht mehr verbinden, als wenn du die Zurüstungen abkürzest, so viel nur immer möglich sein wird.«

»Der Name Dschengis« (fuhr Danischmend fort), »welcher bei allen, die noch aus Azors Zeiten übrig waren, in Ansehen stand, trug nicht wenig bei, den jungen Tifan bei seinem ersten Auftritt in Scheschian in ein vorteilhaftes Licht zu stellen. Die vaterländische Partei empfing ihn mit offnen Armen; und da er bei jeder Gelegenheit die Meinung rechtfertigte, die man beim bloßen Anblick von ihm faßte, so gewann er bald das Vertrauen und die Hochachtung seiner Mitgenossen. Das Unglück der Zeit schien das erschlaffte sittliche Gefühl der Scheschianer wieder erweckt zu haben. Tifan stellte ihnen in einem Alter, mit welchem Weisheit beinahe unverträglich scheint, ein Muster der Vollkommenheit dar, dem sie anfangs ihre Bewunderung und zuletzt ihre Liebe nicht versagen konnten. Er war tapfer ohne Verwegenheit, behutsam ohne Unschlüssigkeit, behend ohne Übereilung. Er forderte immer mehr von sich selbst als von andern, und regierte seine Untergebenen mehr durch sein Beispiel als durch Befehle. Sein Geist entwickelte bei jeder Gelegenheit die Geschicklichkeiten, die das Geschäft voraus setzte. Mußte ein Entwurf gemacht werden: Tifan übersah die ganze Lage der Sache, sah das Verhältnis seiner Mittel zu den Hindernissen, begegnete zum voraus den Zufällen die seine Anschläge durchkreuzen konnten, und bemächtigte sich aller Vorteile, die sein scharfer Blick in den Umständen des Geschäftes entdeckte. War es um die Ausführung zu tun: niemand übertraf ihn an Feuer, an Standhaftigkeit, an unermüdlicher Geduld, an Geschicklichkeit unvorhergesehene Zufälle seinem Plane förderlich zu machen, die Fehler seiner Gegner zu benutzen, oder seine eigenen zu vergüten. Mit allen diesen Talenten verband er die reinsten Sitten, unverzärteltes Gefühl, Geringschätzung der körperlichen Wollüste, Gleichgültigkeit gegen alle Reizungen zur Untreue an seinen Pflichten, Leutseligkeit und Sanftmut gegen seine Untergebenen, Ehrerbietung gegen Alter, Weisheit und geprüfte Tugend, einnehmende Gefälligkeit gegen seinesgleichen; wiewohl er in der Tat mit allen diesen Eigenschaften der einzige [235] in seiner Art war. Und, was seinem Verdienste die Krone aufsetzte, er fand das Geheimnis, mit so vielen Vollkommenheiten von jedermann geliebt zu werden

»Dies Geheimnis braucht doch wohl keines für uns zu sein?« sagte Gebal mit einem Blicke, wodurch er den Erzähler in Verlegenheit setzen zu wollen schien.

»Auf keine Weise«, erwiderte Danischmend: »das ganze Geheimnis besteht in einem Hausmittel, das leicht zu entdecken, aber nicht leicht zu gebrauchen ist. Eine ungezwungene Bescheidenheit zog einen Schleier über seine Vorzüge, der ihren Glanz milderte, ohne verhindern zu können daß sie Aufmerksamkeit und Bewunderung erregten. Seine Bemühung gegen jedermann gerecht zu sein, geringere Verdienste zu sich empor zu heben, und den Belohnungen, welche ihn suchten, auszuweichen, so lange noch jemand da war der ein näheres Recht zu haben glauben konnte; seine Bereitwilligkeit, unter Männern zu dienen die er an Talenten weit übertraf; seine Geschicklichkeit ihnen bei entscheidenden Gelegenheiten seine Gedanken, als ob es die ihrigen wären, unterzulegen, und die Uneigennützigkeit sie den Ruhm genießen zu lassen, den er für sie verdient hatte, zufrieden wenn nur das Gute getan wurde, der Anteil, den er selbst daran hatte, mochte bekannt werden oder unbekannt bleiben: alles dies versöhnte den Neid und die Eifersucht mit seinen Vorzügen. Seine Tugend warf so viel Glanz auf diejenigen, die um ihn waren, daß jedermann stolz darauf war in irgend einem Verhältnisse mit ihm zu stehen. ›Dies hat Tifan auf meinen Befehl getan‹, sagte ein alter Feldherr – ›ich focht an seiner Seite‹, sagte der junge Befehlshaber – ›wir hatten Tifan an unsrer Spitze‹, sagten die Gemeinen –, und jeder glaubte sich selbst durch nichts mehr Ehre machen zu können, als etwas durch Tifan, oder mit Tifan, oder unter Tifan getan zu haben.«

»Wißt Ihr Danischmend«, sagte der Sultan, »daß mir Euer Tifan zu gefallen anfängt? Es ist wahr, man merkt je länger je mehr, daß er nur der phantasierte Held eines politischen Romans ist. Aber, beim Bart des Propheten! man kann sich nicht erwehren zu wünschen, daß man dreißig Jahre jünger sein möchte, um eine so schöne Phantasie wahr zu machen!«

Niemals hatte Schach-Gebal etwas gesagt, das ein recht schönes Kompliment von Seiten seiner Gesellschaft besser verdient hätte. Danischmend, der bei solchen Gelegenheiten nicht sparsam zu sein pflegte, trieb, vermöge der gewöhnlichen Wärme seines Herzens, die Sache beinahe zu weit. Aber Schach-Gebal erklärte sich darüber auf [236] eine Art, die ihn (wenigstens in unsern Augen) wirklich hochachtungswürdig macht. »Ich wünschte«, sagte er, »so vollkommen zu sein, daß ihr Schmeichler in die Unmöglichkeit gesetzt wäret, zu viel Gutes von mir zu sagen. Aber seid versichert, ich täusche mich selbst nicht. Ich weiß, was an der Sache ist; mehr ist unnötig zu sagen. – Wo blieben wir, Danischmend?«

»Bei dem, was nach der damaligen Lage der Umstände die notwendige Folge von Tifans seltnen Verdiensten war. Tifan tat sich unter seiner Partei (zu welcher alles, was noch einen Funken von Redlichkeit und Vaterlandsliebe in sich fühlte, sich geschlagen hatte) so sehr hervor, daß er in ziemlich kurzer Zeit von Stufe zu Stufe bis zur Würde eines Feldherrn stieg; und da derjenige, der bisher die Seele der Partei gewesen war, in einem Treffen blieb, ward er, einhellig und ohne einen Nebenbuhler zu haben, an dessen Platz gestellt.

So groß Tifans Vorzüge und Verdienste waren, so muß man doch gestehen, daß er auch von den Umständen, die zu seiner Erhebung mitwirken mußten, ungewöhnlich begünstigt wurde. Das Glück schien aus Liebe zu ihm seiner natürlichen Unbeständigkeit entsagt zu haben, um ihm in allen seinen Unternehmungen den Weg zu bahnen, alle widrige Zufälle von ihm zu entfernen, und die übrigen zu Mitteln seiner Erhöhung zu machen. Gleichwohl konnte alles was diese, für ihn allein nicht launische Göttin zu seinem Vorteil tat, nicht verhindern, daß nicht der Erfolg mehr die natürliche Frucht seiner Tugend als ein Geschenk des Zufalls zu sein geschienen hätte. Unser Held war nicht nur selbst tugendhaft; er hatte die Gabe, auch diejenigen so zu machen, die um ihn waren. Was bei edlern Seelen ein sympathetischer Trieb, und ein tiefes Gefühl der Göttlichkeit der Tugend, die in ihm vermenschlicht schien, zuwege brachte, wirkte bei andern die Begierde seinen Beifall zu verdienen, und eine Eifersucht, die durch ein edles Ziel zu einer rühmlichen Leidenschaft wird. Sein Anblick, sein bloßer Name setzte seine Freunde und Gefährten in Begeisterung. Von Tifan angeführt glaubten sie mehr als gemeine Menschen zu sein – und waren auch mehr. Seine Beredsamkeit vollendete das Werk seines Beispiels. Die Scheschianer – gleich einem armen Fündling, der, nachdem er sich lange für einen verwahrloseten Auswurf der Natur angesehen, unverhofft von einem edeln und zärtlichen Vater erkannt wird – empfanden wieder das Glück ein Vaterland zu haben; ihre Seelen entzündeten sich bei diesem Gedanken; jeder vergaß darüber sein besonderes Selbst, fühlte dies Selbst nur im Vaterlande, und verlor [237] unvermerkt allen Begriff, anders als durch das allgemeine Glück glücklich sein zu können.

Tifan, indem er auf diese Weise die Scheschianer wieder zum Gefühl der Tugend erweckte, schien in der Tat eine Art von Wunderwerk gewirkt zu haben; denn was war dies anders als den erstorbenen Staatskörper wieder ins Leben zurück rufen?

Dies machte die Grundlage von allem übrigen aus, was er in der Folge zum Besten der Nation zu Stande brachte; ohne dies würden alle seine Bemühungen von geringem Erfolge gewesen sein. Aber nachdem es ihm gelungen war, seine Mitbürger mit der Liebe des Vaterlandes zu begeistern, so machte sich alles übrige gleichsam von selbst. Die Anzahl der Wohlgesinnten nahm täglich zu; ein großer Teil derjenigen, welche das Gift der verdorbenen Sitten zu lange bei sich getragen hatten, als daß man zur ihrer Genesung sich hätte Hoffnung machen dürfen, war in den Flammen des Bürgerkriegs verzehrt worden. Die Häupter der Gegenparteien fanden sich zu schwach, der Nation, welche wieder unvermerkt in ein Ganzes zusammen geflossen und von Tifans Geiste beseelt war, sich länger mit Gewalt aufzudringen: sie wählten den Weg der Unterhandlung, und vereinigten sich endlich mit den Städten und mit dem Überreste des Adels, die großen Angelegenheiten des Reiches der Entscheidung einer allgemeinen Nationalversammlung zu überlassen.

Dschengis hatte alles so gut vorbereitet, daß der Ränkesucht keine Zeit gelassen wurde, ihre geheimen Maschinen anzulegen. Der Reichstag kam in kurzer Zeit zu Stande; die Freunde des Vaterlandes machten die größere Anzahl aus; und Tifan, der über ihre Herzen schon lange König war, wurde durch die allgemeine Stimme seiner Mitbürger für den Würdigsten erklärt, eine Nation zu regieren, die es ihm zu danken hatte daß sie noch eine Nation war, und im Taumel der Freude, womit die Hoffnung beßrer Zeiten sie begeisterte, nicht zu viel zu tun glaubte, wenn sie sichohne Bedingung in die Arme ihres Erretters würfe.

Dschengis erhielt den Auftrag, ihm vor der ganzen Versammlung der Stände den Willen der Nation zu eröffnen; und itzt glaubte der ehrwürdige Alte, daß der Augenblick gekommen sei, sein Geheimnis öffentlich bekannt zu machen. Das allgemeine Vertrauen, welches er sich erworben hatte, die große Meinung von seiner Redlichkeit, der Ton der Wahrheit, mit welchem er sprach, die väterliche Träne, die über seine ehrwürdigen Wangen herab rollte, indem er der Aufopferung seines eignen Sohnes erwähnte: alles dies stopfte jedem [238] Zweifel den Mund. Die Nation war entzückt, in ihrem Liebling den Sohn eines Prinzen zu finden, dessen Andenken sie ehrte. Viele, welche Temorn gekannt hatten, glaubten die Züge seines Vaters in Tifan zu erkennen. Selbst das Wunderbare, welches in der Sache zu liegen schien, beförderte den allgemeinen Glauben. Man überzeugte sich, daß eine für Scheschian wachende Gottheit es so gefügt habe, daß die Nation, indem sie bloß den Besten zu ihrem Haupte zu erwählen dachte, unwissend auf eben denjenigen sich vereinigen mußte, welchen die Geburt zum Thron berechtigte.

Tifan wurde also an dem glücklichsten Tage, den Scheschian jemals gesehen, unter den frohlockenden Segnungen eines unzählbaren Volkes, zum König von Scheschian ausgerufen. Dschengis, der ihm seine Erwählung ankündigte, tat es auf eine Art, welche selbst aus Augen, die noch nie geweint hatten, Tränen preßte.

›Endlich ist er gekommen‹, rief er aus, ›der glückliche, der feierliche Tag, der mich für die Arbeit, für die Sorgen so vieler Jahre, für das größte Opfer, welches ein Vater der Liebe zu seinem Fürsten bringen kann, belohnen sollte! O Tifan! o du, dessen Leben ich mit dem Blute meines einzigen Sohnes bezahlen mußte, sieh in meinen halb erloschnen Augen diese Tränen der Freude und der Zärtlichkeit! Ich hab ihn erlebt den großen Tag, um dessentwillen es der Mühe wert ist, gelebt zu haben! Ich sehe deine Tugend von einem ganzen Volke anerkannt, mit unbegrenztem Vertrauen, mit dem göttlichsten Lose, das einem Sterblichen zufallen kann, mit uneingeschränkter Macht Gutes zu tun, bekrönt. O Tifan! ich höre auf, dein Vater zu sein, um an Liebe, an Treue der erste deiner Untertanen zu werden. Ich kenne dein großes, wohltätiges Herz! Welche Lehren könnte die Weisheit dir geben, die nicht der Finger der Natur selbst in deine Seele geschrieben hat! Aber o mein Tifan! geliebtester, bester der Menschen! wie könnt ich vergessen, daß du mit allen deinen Tugenden, mit allen deinen Vorzügen, doch nur – ein Mensch bist? daß du Schwachheiten und Bedürfnissen, Irrtümern und Leidenschaften, eben so wie der geringste deiner Untertanen, ausgesetzt bist? Möchtest du uns dies durch die Menge deiner guten Taten, durch den unbefleckten Glanz eines der Tugend geheiligten Lebens vergessen machen! Möchten wir immer in dir das sichtbare Ebenbild einer weisen und wohltätigen Gottheit erkennen, und nur alsdann, wenn wir an deine Sterblichkeit zu denken gezwungen sind, mit Zittern fühlen, daß du weniger als eine Gottheit bist! Aber, o Tifan! wenn jemals – Himmel, laß meine Augen sich auf ewig am Anbruche des traurigen Tages schließen! – wenn jemals deine Seele ihrer eigenen [239] Würde und ihrer glorreichen Pflichten vergessen, jemals zu einer unedeln Leidenschaft oder zu einer ungerechten Tat herab sinken wollte – o Sohn meines königlichen Freundes und der meinige, möchte dich dann die Erinnerung an deinen Dschengis, wie der Arm eines Genius, vom Rande des Abgrundes zurück ziehen! Möchte dir dann – – doch nein! niemals, niemals soll – ich schwör es bei der Tugend für die ich dich gebildet habe, niemals wird die schreckliche Stunde kommen, wo dich das Bild deines Dschengis – wie er, vom Blute seines einzigen Sohnes bespritzt, unter der furchtbaren Hülle der Nacht dich auf seinen bebenden Armen tragend, aus Scheschians Mauern entflieht, – wo dies um Rache rufende Bild vonnöten wäre, den Vater seines Volkes, den Besten der Fürsten, zur Tugend zurück zu schrecken! Nein! beßre Ahnungen, frohe lichtvolle Aussichten stellen sich meiner beruhigten Seele dar. Mit den Segnungen deines Volkes und mit meinen Freudentränen bezeichnet, wird jeder Tag deines königlichen Lebens zum Himmel empor steigen, die guten Taten, womit du ihn erfüllt hast, zu den Füßen des Königs der Könige niederzulegen. Ich, – diese Edlen von Scheschian, die Mitgenossen deines Ruhms, und deine Gehülfen in dem großen Werke, dein Volk glücklich zu machen, – dieses unzählbare Volk, welches sein Wohl in deine Hände gelegt hat, – wir alle werden uns selig preisen, deine Zeiten erlebt zu haben, und, mit einem belohnenden Blick auf mein glückliches Vaterland und dich, werden sich einst die Augen deines alten Dschengis schließen.‹

Eine feierliche Stille hielt die ganze Versammlung gefesselt, und Tränen funkelten in jedem auf Dschengis und Tifan gehefteten Auge. Der neue König, von der Begeisterung seiner Empfindungen auf einen Augenblick überwältigt, warf sich mit ausgebreiteten Armen zur Erde; seine Augen, mit den Zeugen der innigsten Rührung erfüllt, starrten gen Himmel. – ›Höre mich‹, rief er in einer heftigen Bewegung der Seele, ›höre mich, alles vermögender Herr der Schöpfung! Wenn jemals‹ –

Hier hielt er inne, als ob seine große Seele, durch eine plötzliche Wiederkehr zu sich selbst, gefühlt hätte, daß es einem Könige nicht gezieme, eine so heftige, wiewohl tugendhafte Bewegung, als diejenige wovon sein Herz erschüttert war, vor den Augen seines Volkes ausbrechen zu lassen. Er schwieg auf einmal – aber man sah in seinen aufgehobnen Augen, daß sein Geist unter großen Empfindungen arbeitete.

Noch immer schwebte stilles Erwarten auf der Versammlung. Endlich raffte sich Tifan wieder auf; er stand mit dem ganzen Anstand [240] eines Königes, der die Majestät seines übernommenen Amtes fühlt, sah mit einem ernsten Blick voll Liebe über sein Volk hin, und dann sprach er:

›Die Empfindungen, die mein Herz in dieser feierlichen Stunde erfüllen, sind zu groß, mit Worten ausgedruckt zu werden. In eben diesem entscheidenden Augenblicke, da ihr, einst meine Brüder und nun meine Kinder, mich für euern König anerkannt habt, wurde mir von dem unsichtbaren Herrn des Himmels und der Erde die Handhabung seiner Gesetze unter euch aufgetragen; dies ist der Augenblick, wo ich in eurer Stimme-Gottes Stimme höre. Ihm werd ich von nun an von der Gewalt Rechenschaft geben müssen, die er durch euch mir anvertraut hat. Ich bin berufen, einen jeden unter euch bei jedem geheiligten Rechte der Menschheit und des bürgerlichen Standes zu schützen; aber ich bin auch berufen, einen jeden unter euchzur Erfüllung seiner Bürgerpflichten anzuhalten. Ich kenne und fühle die ganze Wichtigkeit meines Amtes, und im Angesichte der Erde und des Himmels weihe ich ihm alle Kräfte meines Lebens. Ihm in seinem ganzen Umfange genug zu tun, erforderte die Kräfte einer Gottheit, und ich bin nur ein Mensch. – Ohne eure Mitwirkung, ohne eifriges Bestreben eines jeden unter euch, nach den besondern Verhältnissen seines Standes, mir das gemeine Beste befördern zu helfen, würden alle meine Bemühungen fruchtlos sein. Vergebens würd ich mich unter den Sorgen für euer Glück verzehren, wenn ihr nicht so lebhaft als ich selbst von der großen Wahrheit überzeugt wäret: daß ohne Liebe des Vaterlandes, ohne Gehorsam gegen die Gesetze, ohne Emsigkeit in den Pflichten unsers Berufes, ohne Mäßigung unsrer Begierden und Leidenschaften, kurz ohne Tugend und Sitten, keine Glückseligkeit möglich ist. Euch und eure Kinder zu guten Menschen und zu guten Bürgern zu machen, soll mein erstes und angelegenstes Geschäft sein; und mein Beispiel soll euch überzeugen, daß euer König der erste Bürger von Scheschian ist. Euer Vertrauen zu meiner Tugend hat mir eine eben so unumschränkte Macht anvertraut, als die Könige, meine Vorfahren, besessen haben: aber ich kenne die Menschheit zu gut, um von dieser gefährlichen Macht einen andern Gebrauch zu machen, als mir selbst und meinen Nachfolgern die Schranken zu setzen, die zu unsrer beiderseitigen Sicherheit vonnöten sind. Der beste König kann seiner Pflicht vergessen; ein ganzes Volk kann sein eignes Bestes mißkennen. Ich würde das Amt, für das eurige zu sorgen, schlecht verwalten, wenn ich euern Königen die Macht benehmen wollte, die einem [241] Vater über seine Kinder zusteht. Aber ich würde auch in dem ersten Augenblicke, da ich euer König bin, meiner Menschheit vergessen, wenn ich nicht auf Mittel bedacht wäre, mir selbst und meinen Nachfolgern, so viel als möglich, die Freiheit Böses zu tun zu entziehen. Eine vorsichtige Bestimmung der Staatsverfassung, und eine Gesetzgebung, welche die Befestigung der Ruhe, der Ordnung und des allgemeinen Wohlstandes in diesem Reiche zur Absicht haben wird, soll die einzige Ausübung der Vollmacht sein, die ihr mir überlassen habt; und auch hierin sollen die Weisesten und Besten mir ihre Hände bieten. Ja, ich selbst, von den Gesinnungen, die in meinem Herzen herrschen, ermuntert, ich wag es zu hoffen, redlicher Dschengis, daß deine Sorgfalt mich zur Tugend zu bilden, daß das Opfer, womit du mein Leben erkauft hast, nicht verloren sein wird. Möcht es in dem nämlichen Augenblick aufhören, dieses dem Vaterlande geweihte Leben, wo ich unglücklich genug wäre, dem Geringsten meines Volkes einen unverschuldeten Seufzer auszupressen!‹«

»Danischmend«, rief Schach-Gebal, »ich habe für diese Nacht genug! Deine Leute sprechen nicht übel; aber bei dem allen deucht mir, ich wollte lieber hören, was Tifan getan als was er gesprochen hat.«

»Sire«, erwiderte Danischmend, »wer so spricht wie Tifan, macht sich anheischig sehr viel zu tun.«

»Das wollen wir sehen«, sagte der Sultan.

10
10.

»Nach allem, was ich von dem Könige Tifan schon gemeldet habe«, fuhr Danischmend fort, »kann man sich für berechtiget halten, große Taten von ihm zu erwarten. Gleichwohl muß ich gestehen (und es ist wohl am besten ich tu es gleich anfangs), daß, wennTifan ein großer Fürst war, er es in einem ganz andern Sinn und auf eine ganz andre Weise war, als dieSesostris, die Alexander, die Cäsar, die Omar, dieMahmud Gasni, die Dschingis-Kan, und andre Helden und Eroberer, unter deren Größe die Welt gleichsam eingesunken ist. Tifans Größe war stille Größe, und seine Taten den Taten der Gottheit ähnlich, welche, geräuschlos und unsichtbar, uns mit den Wirkungen überrascht, ohne daß wir die Kraft, welche sie hervorbringt, gewahr werden.

Tifans Taten hatten noch eine andre Eigenschaft mit den Verrichtungen der Natur gemein. Sie entwickelten sich so langsam, sie durchliefen so viele kleine Stufen, und erreichten den Punkt ihrer [242] Reife durch eine so unmerkliche Verbindung unzähliger auf Einen Hauptzweck zusammen arbeitender Mittel, daß man ein schärferes Auge als gewöhnlich haben mußte, um den Geist, der alles dies anordnete und lenkte, und die Hand, welche allem die erste Bewegung gab, nicht zu mißkennen. Eine kurzsichtige Aufmerksamkeit hätte geglaubt, daß sich alles von selbst mache, oder würde wenigstens nicht wahrgenommen haben, wie viel Mühe es kostete, den Bewegungen eines großen Staats so viele Leichtigkeit und eine so schöne Harmonie zu geben.

Das erste, wozu sich Tifan anheischig gemacht hatte, war eine genauere Bestimmung der Staatsverfassung.«

»Gut«, rief Schach-Gebal, »dies ist gerade wo ich ihn erwarte. Ich erinnere mich dessen noch ganz wohl, was du ihn gestern davon sagen ließest. Er will sich der Macht nicht berauben, die einem Vater über seine Kinder zusteht – aber er will so wenig als möglich ist Freiheit haben Böses zu tun. Noch verstehe ich nicht recht, was er will oder nicht will. Ich begreife nicht, wie ein Fürst unabhängig sein, und Freiheit haben kann alles Gute zu tun was er will, ohne auch die traurige Freiheit Böses zu tun zu behalten.«

»Vielleicht wird das, was ich in der Folge melden werde, die Zweifel Ihrer Hoheit auflösen«, erwiderte Danischmend. »Tifan folgte in dieser ganzen Sache dem Rate des weisen Dschengis. Ohne diesen würde er, aus einem zu weit getriebenen Mißtrauen gegen sich selbst und seine Nachfolger, den größten Fehler begangen haben, den ein Monarch begehen kann: denn er war im Begriff dem Adel und dem Volke von Scheschian die gesetzgebende Macht auf ewig abzutreten.

›Der Himmel verhüte‹ (sagte Dschengis, da sie sich mit einander über diese Sache besprachen), ›daß Tifan aus der Verfassung seines Vaterlandes ein unförmliches Mittelding von Monarchie und Demokratie mache, welches, eben darum weil es beides sein will, weder das eine noch das andere ist. Die Nation von Scheschian muß den König als ihren Vater, und sich selbst, in Beziehung auf den König, als unmündig betrachten. Will sie mehr sein, will sie das Recht haben den König einzuschränken, ihm und dem Staat Gesetze vorzuschreiben, und ihre wichtigsten Angelegenheiten selbst zu besorgen, so muß sie sich gar keinen König geben. Wer sich selbst regieren kann, hat keinen Vormund, keinen Hofmeister vonnöten. Erkennt sie aber den König für ihren Vater, und sich selbst als Nation für unmündig, welche Ungereimtheit wär es, gerade den wichtigsten Teil der Staatsverwaltung ihrer Willkür überlassen zu wollen! [243] Welche Ungereimtheit, es auf die Weisheit oder auf das gute Glück des Unmündigen ankommen zu lassen, was für Gesetzen, unter welchen Bedingungen, und wie lang er gehorchen wollte! Es geziemt also allein dem Könige, zugleich der Gesetzgeber und der Vollzieher der Gesetze zu sein. Die Regierung eines Einzigen nähert sich durch ihre Natur derjenigen Theokratie, welche das ganze unermeßliche All zusammen hält. Wenn wir uns ganz richtig ausdrücken wollen, so müssen wir sagen: Gott ist der einzige Gesetzgeber der Wesen; – der bloße Gedanke, Gesetze geben zu wollen, welche nicht aus den seinigen entspringen, odermit den seinigen nicht zusammen stimmen, ist der höchste Grad des Unsinns und der Gottlosigkeit. Die Natur und unser eignes Herz sind gleichsam die Tafeln, in welche Gott seine unwandelbaren Gesetze mit unauslöschlichen Zügen eingegraben hat. Der Regent, als Gesetzgeber betrachtet, hat, wofern er diesen ehrwürdigen Namen mit Recht führen will, nichts andres zu tun, als den Willen des obersten Gesetzgebers auszuspähen, und daraus alle die Verhaltungsregeln abzuleiten, wodurch die göttliche Absicht, Ordnung und Vollkommenheit mit ihren Früchten, der Harmonie und der Glückseligkeit, unter seinem Volke am gewissesten und schicklichsten erlangt werden können.

Hat er mit diesen erhabenen Nachforschungen das besondere Studium seines eigenen Volkes, des Temperaments, der Lage, der Bedürfnisse, kurz, des ganzen physischen und sittlichen Zustandes desselben verbunden, so wird es ihm nicht zu schwer sein, auch die Anstalten ausfündig zu machen, wodurch jene große Absicht – in welcher das Glück des einzelnen Menschen, das Wohl jeder Nation, das Beste der menschlichen Gattung, und das allgemeine Beste desGanzen wie in Einem Punkte zusammen fließen, – auf die möglichste Weise befördert werden könne. Die Geschicklichkeit, alles dieses zu bewerkstelligen, ist leichter bei einem Einzigen, als bei einem ganzen Volk oder bei einem zahlreichen Ausschusse desselben, zu finden; und auch aus diesem Grund ist es der Sache gemäßer, die gesetzgebende Macht dem Fürsten allein zu überlassen.‹«

»Aber, wie wenn unter Tifans Nachfolgern ein neuer Azor oder Isfandiar aufstände?« sagte Schach-Gebal.

»Unstreitig«, erwiderte Danischmend, »ist die gesetzgebende Macht in den Händen eines Kindes oder eines Unsinnigen ein fürchterliches Übel. Aber diesem Unheil (glaubte Dschengis) könne durch ein gedoppeltes Mittel hinlänglich vorgebogen werden; nämlich, [244] durch die Unverbrüchlichkeit der einmal von allen angenommenen Gesetzgebung, und durch eine gewisse Anordnung über die Erziehung der Prinzen des königlichen Hauses, welche ein Hauptstück im Gesetzbuche Tifans ausmachen sollte.

Diesen Grundsätzen zu Folge wurde bald nachdem Tifan die Regierung angetreten hatte, eine königliche Erklärung dieses Inhalts kund gemacht:

1. Da eine mit den unveränderlichen und wohltätigen Absichten des Urhebers der Natur übereinstimmende Gesetzgebung sowohl dem Fürsten als seinen Untergebenen zur unverbrüchlichen Richtschnur dienen muß: So wird der König vor allen Dingen sein Hauptgeschäft sein lassen, mit Beihülfe derjenigen, welche die Nation selbst für ihre weisesten und besten Männer erkennt, ein Gesetzbuch zu verfassen, in welchem die Pflichten und Rechte des Königs, der Nation, und jedes besondern Standes, aufs genaueste bestimmt, und alle die Anordnungen, welche, nach der gegenwärtigen Beschaffenheit des Reichs, zu dessen Widerherstellung und Wohlstand am zuträglichsten erachtet werden, zu jedermanns Wissenschaft gebracht werden sollen.

2. Dieses allgemeine Gesetzbuch soll in der scheschianischen Sprache mit einer solchen Deutlichkeit abgefaßt werden, daß der gewöhnlichste Grad des Menschenverstandes und der Erfahrenheit zureichend sein möge, es zu verstehen. Nichts desto weniger soll veranstaltet werden, daß dieses Gesetzbuch hinfür nicht nur einen Hauptgegenstand der öffentlichen Erziehung ausmache, sondern auch von den Priestern jedes Ortes, an gewissen dazu bestimmten Tagen, dem Volke öffentlich erklärt und eingeschärfet werde.

3. Nicht nur alle Edle, Priester und übrige Einwohner von Scheschian, sondern auch der König und seine Nachfolger, sollen schwören, daß sie dieses Gesetzbuch nach allen seinen Artikeln unverletzlich in Ausübung bringen, und weder selbst demselben entgegen handeln, noch, so viel an ihnen ist, zugeben wollen, daß von jemand dagegen gehandelt werde. Diese Unveränderlichkeit soll ein allgemeiner und unauslöschlicher Charakter aller in dem Buche der Pflichten und Rechte enthaltenen Gesetze sein; diejenigen Polizei- und Staatswirtschafts-Gesetze allein ausgenommen, die wegen ihrer Beziehung auf zufällige und der Veränderung unterworfene Umstände, dem Gutbefinden des Königs und des Staatsrates unterworfen bleiben müssen; jedoch mit dem ausdrücklichen Vorbehalte, daß die Veränderungen, welche der Hof jemals in besagten Gesetzen zu machen für nötig erachten wird, den [245] Grundgesetzen des Buches der Pflichten und Rechte niemals auf einige Weise zuwider laufen dürfen.

4. Weil aber geschehen könnte, daß die obrigkeitlichen Personen, welchen der König einen Teil seiner großen Pflicht, die Gesetze zu handhaben und zu vollziehen, anvertrauen muß, in Verwaltung ihres Amtes saumselig werden, oder gar wissentlich und mutwillig demselben entgegen handeln möchten; nicht weniger, weil besondere Umstände die Aufmerksamkeit des Gesetzgebers auf diese oder jene einzelne Stadt, Gegend oder Provinz notwendig machen können: So soll in jeder Provinz von Scheschian alle fünf Jahre einAusschuß des Adels, der Priesterschaft, der Städte und des Landvolks, aus einer bestimmten Anzahl von freiwillig erwählten und vom Hof unabhängigen Vertretern dieser vier Stände bestehend, in der Hauptstadt der Provinz zusammen kommen, um die Beschwerden der Nation überhaupt oder eines jeden Standes insonderheit in Erwägung zu ziehen, und im Namen der Provinz schriftlich an den König gelangen zu lassen. Und sollte sich, wider Verhoffen, zutragen, daß der König auf einen solchen Vortrag der öffentlichen Beschwerden nicht achtete, oder zu Abstellung derselben nicht die schleunigste Hülfe leistete: so soll derselbe von dem Ausschuß der Stände seiner königlichen Pflicht nachdrücklichst erinnert werden. Falls aber der Hof fortführe, die Beschwerden der Stände mit Gleichgültigkeit anzusehen: so soll es ihnen gestattet sein, auf diejenige Weise, die für solche Fälle im Gesetzbuche bestimmt werden soll, sich selbst zu helfen.

5. Jede Verordnung der königlichen Statthalter und des Königs selbst soll, ehe sie die Kraft eines Gesetzes haben kann, von den Vorstehern der Stände in der Provinz, die es angehet, vorher untersucht und mitdem Buche der Pflichten und Rechte genau verglichen werden. Würde befunden werden, daß die neue Verordnung mit dem Gesetze nicht bestehen könnte: so haben die Vorsteher der Stände, bei Strafe des Hochverrats wider den Staat, solches dem Statthalter oder dem Könige selbst mit den Gründen ihres Widerspruchs anzuzeigen. Und falls der Hof nichts desto weniger auf der Rechtmäßigkeit seiner Verordnung bestände: so sollen die Vorsteher schuldig sein, dieStände selbst zusammen zu berufen; diese aber, wofern sie durch drei Viertel der Stimmen den Widerspruch der Vorsteher für gegründet und gesetzmäßig erkannt haben würden, sollen hierüber eine förmliche Erklärung an den Hof gelangen lassen, und berechtigt sein, die Kundmachung einer solchen widergesetzlichen Verordnung, im Notfall sogar mit Gewalt, zu verhindern. [246] Denn in Scheschian soll nicht der König durch das Gesetz, sondern das Gesetz durch den König regieren.

Ihre Hoheit stellen Sich leicht vor«, fuhr Danischmend fort, »wie zufrieden die Nation mit dieser Erklärung ihres neuen Königs gewesen sein muß, aus welcher so stark in die Augen fiel, daß er nichts Angelegners habe, als unverzüglich sich selbst und seine Nachfolger in die Unmöglichkeit zu setzen, Böses zu tun oder nach bloßer Willkür zu regieren

»Ohne Zweifel«, sagte Schach-Gebal: »Ich stelle mir's eben so leicht vor, als ich mir vorstelle, daß ich lieber ein Strauß oder ein Truthahn, wie der König der grünen Länder und sein Neffe, als ein Sultan sein wollte, wenn ich mich alle Augenblicke mit meinen Untertanen darüber zanken müßte, wer recht hätte, ich oder sie.«

»Allerdings würde dies ein gleich unglücklicher Zustand für einen König und für sein Volk sein«, versetzte Danischmend. »Aber wenigstens befand sich Tifan nie in diesem Falle.«

»Das kam vermutlich daher, weil er unter einem besonders glücklichen Zeichen geboren war«, sagte der Sultan. »Denn gewöhnlicher Weise pflegt ein Volk, sobald es das Recht hat seinem Herrn zu widersprechen, sich der Erlaubnis mit solchem Übermut und so lange zu bedienen, bis das Verhältnis umgekehrt ist – der Herr der Unmündige, und seine getreuen Untertanen der Hofmeister.«

»Ich dächte doch«, sagte Danischmend, »die Geschichte zeigte uns viel weniger Beispiele, wo das Volk sein Recht, zu widergesetzlichen Verordnungennein zu sagen, so gröblich gemißbraucht hätte, – als solche, wo Könige, denen niemand widersprechen durfte, Verordnungen machten, welchen nur Strauße und Truthähne zu gehorchen würdig sein können.«

»Herr Danischmend!« – sagte der Sultan, und hielt inne.

»Wie dem aber auch sein mag«, fuhr der Philosoph ganz gelassen fort, »unter Tifans Regierung (und dies war nicht weniger als in einem Laufe von funfzig Jahren) ereignete sich's kaum zwei- oder dreimal, daß die Stände für nötig erachtet hätten, dem Könige eine solche Vorstellung zu tun. Und jedesmal betraf es bloß Verbesserungen, welche, unter den besondern Umständen der Provinz, worin sie vorgenommen werden sollten, nicht zu raten waren. Sobald Tifan verständiget wurde, daß die abgezielte Verbesserung wider seine Absicht Schaden tun würde: so nahm er seine Verordnung zurück, und die Vorsteher erhielten ein eigenhändiges Danksagungsschreiben.« [247] »Du würdest mir einen Gefallen tun«, sagte Schach-Gebal, »wenn du mir eine Abschrift von einem solchen Danksagungsschreiben verschaffen könntest.«

Danischmend versprach, sich alle Mühe deswegen zu geben, und fuhr fort: »Diese glückliche Harmonie zwischen Tifan und seinem Volke war eben so sehr die Frucht der vortrefflichen Regierungsart dieses Fürsten, als der weisen Gesetze, auf die er sie gegründet hatte. Die Scheschianer waren weder lenksamer noch besser als irgend ein andres Volk in der Welt. Noch vor kurzem hatten sie sich in einem so tiefen Grade von Verderbnis befunden, daß ein Wunderwerk vonnöten schien, um sie wieder zu geselligen Menschen und guten Bürgern zu machen; und es äußerten sich, ungeachtet der bessern Seele welche Tifan ihnen bereits eingehaucht hatte, allenthalben noch die Wirkungen des sittlichen Giftes, wovon die ganze Masse des Staats so lange durchdrungen gewesen war. Tifans Nachfolger hatte in diesem Stücke einen großen Vorteil. Ihm kostete es wenig Mühe, ein wohl gesittetes, an die Ordnung gewöhntes, und ein halbes Jahrhundert lang von dem Geist eines weisen und guten Fürsten beseeltes Volk, nach Gesetzen, die dem größten Teil durch die Erziehung zur andern Natur geworden waren, zu regieren. Aber Tifan, dem niemand vorgearbeitet hatte; der das Reich in einem Zustande von Zerrüttung und Verwilderung übernahm; der so vielfältigen und großen Übeln abzuhelfen hatte; der nicht etwann bloß ein wildes Volk zahm oder ein barbarisches gesittet machen, sondern einen durchaus verdorbenen Staat mit frischem Blut und neuen Lebenskräften versehen mußte: Tifan konnte ein so großes Werk nicht anders als durch einen Grad von Tugend, der selten das Los eines Sterblichen ist, zu Stande bringen. Jede Schwachheit, jedes Laster, womit er behaftet gewesen wäre, würde seinen ganzen Plan vereitelt haben.

Aber Natur, Erziehung und standhafter Vorsatz, alle seine Pflichten in der möglichsten Vollkommenheit zu erfüllen, vereinigten sich bei ihm, ihn von den gewöhnlichen Schwachheiten und Ausschweifungen der meisten Personen seines Ranges frei zu erhalten. Der Natur hatte er ein Herz zu danken, das im Wohltun und in der Freundschaft sein höchstes Vergnügen fand, und seiner Erziehung den unschätzbaren Vorteil, wenig Bedürfnisse zu haben. Nüchternheit, Mäßigkeit, und Gewohnheit sich immer nützlich zu beschäftigen, machten ihm Arbeiten, vor welchen andre Fürsten gezittert hätten, beinahe zum Spiele. Seine Ergetzlichkeiten waren bloß Erholungen von der Arbeit. Er suchte sie bei den schönen [248] Künsten, oder im Schoße der Natur und in dem Vergnügen eineszwangfreien, freundschaftlichen Umgangs. Wenig um die Meinung bekümmert, die der unverständige Haufe von ihm haben könnte, und zu groß um durch äußerlichen Pomp und Schimmer diesen Pöbel verblenden zu wollen, aber äußerst empfindlich für das Vergnügen geliebt zu werden, kannte er keinen andern Ehrgeiz, als den Wunsch, der geliebte Vater eines glücklichen Volkes zu sein. Keine Anstrengung, keine Mühe, keine Nachtwache war ihm beschwerlich, um diesen schönsten unter allen fürstlichen Titeln zu verdienen. 39

Zu allem diesem kam ein Umstand, ohne welchen der beste Wille den tugendhaftesten Fürsten von dem Unglück übel zu regieren nicht verwahren kann. Tifan hatte beinahe lauter rechtschaffene Leute, Männervon eben so aufgeklärtem Geist als edlem Herzen, zu Dienern; und wenn sich auch hier oder da ein Heuchler mit einzuschleichen wußte, so mußte ein solcher doch sein Spiel so behutsam spielen, daß der Schade, den er tun konnte, sehr unbeträchtlich war.«

»Auch dies ist sehr glücklich«, sagte Schach-Gebal. »Dein Tifan hatte gut alles zu sein was du willst; die ganze Natur scheint sich zum Vorteile seines Ruhms zusammen verschworen zu haben.«

»Vielleicht ließe sich wohl behaupten«, erwiderte der ehrliche Danischmend, »daß manche Fürsten in diesem Stücke mehr glücklich als weise gewesen sind. Zu gutem Glück für sie und für ihre Untertanen traf sich's gerade, daß sie meistens ehrliche Leute aus dem Glückstopfe zogen; denn so wie sie es anfingen, hätte das Gegenteil eben so leicht begegnen können. Aber von Tifan kann man sagen, daß er außerordentlich unglücklich gewesen sein müßte, wenn er und der Staat nicht wohl bedient gewesen wären. Er war zu sorgfältig in der Wahl seiner Leute, und verstand sich zu gut auf den Wert der Menschen, um leicht betrogen zu werden. Er war zu sehr Meister von sich selbst, um sich durch den Schein einnehmen zu lassen; und wußte zu gut, was für ein Charakter, was für Geschicklichkeiten und Tugenden zu jedem Amt erforderlich waren, [249] um in den Fehler so vieler Fürsten zu fallen, welche mit den besten Dienern bloß deswegen nichts ausrichten, ›weil sie keinen an seinen rechten Platz zu stellen wissen‹.

Schwache und sorglose Regenten verdienen ihr gewöhnliches Schicksal, von dem Abschaum des menschlichen Geschlechtes umgeben zu sein. Das bescheidne Verdienst steht von ferne; es scheuet sich vor dem ungestümen Gedränge oder den geheimen Ränken derjenigen, welche den Hof der Fürsten nur suchen um ihr eignes Glück zu machen; es will eingeladen sein. Aber wie sollte ein schwacher Regent es entdecken können? Unter einem schlimmen geht es noch ärger. Jener übersieht die Tugend nur; vor diesem muß sie sich verbergen: bei jenem ist sie kein Verdienst, weil er sie nicht kennt; bei diesem ist sieein Verbrechen, weil er sie zu gut kennt.

Tifans Charakter, seine Grundsätze, seine Tugenden, sein einnehmendes Betragen, zogen, wie durch eine magnetische Kraft, nach und nach alle verständige und redliche Leute von Scheschian, das ist, alle die ihm ähnlich waren, an sich. Kein Verdienst, kein Talent blieb ihm verborgen; er war zu aufmerksam um sie nicht zu entdecken; und die Begierde, einem so vortrefflichen Fürsten bekannt zu werden, erleichterte ihm die Mühe sie zu suchen. Überdies vermied er in Absicht auf diejenigen, die zunächst um ihn waren, einen gedoppelten Fehler, welchen viele Große zu begehen pflegen. Um zu zeigen, daß sie keinen Günstling haben, um keine Eifersucht unter ihren Dienern zu veranlassen, um ihre vollkommne Unparteilichkeit zu beweisen, begegnen sie einem ungefähr wie dem andern, und das größte Talent, das wichtigste Verdienst, sieht sich mit einer Menge mittelmäßiger und verdienstloser Leute in Einen Klumpen zusammen geworfen. Oft geschieht es, daß ein Regent bloß durch übertriebene Zurückhaltung, oder durch das Vorurteil, daß ein Diener, wenn er auch alles getan habe, doch nur seine Schuldigkeit getan habe, seinen redlichsten und besten Dienern den Mut benimmt, ihren Eifer niederschlägt, und eben deswegen nicht die Hälfte des Nutzens erhält, den er und der Staat von ihnen ziehen könnten. Noch andre berauben sich der guten Dienste würdiger Männer durch die unglückliche Gemütsart, wegen kleiner Fehler den Wert der wichtigsten Vorzüge zu verkennen; durch immer währendes Mißtrauen und Geneigtheit, bei allem was Menschen tun, immer die unedelsten Bewegursachen vorauszusetzen; durch die Gewohnheit, ihre Diener um der unerheblichsten Dinge willen zu schikanieren, ihnen kein Verdienst anders als gezwungener [250] Weise, und nur wenn es unmöglich ist noch eine Einwendung dagegen aufzubringen, einzugestehen, usf. In allen diesen Betrachtungen verdiente Tifan von den Regenten zum Vorbilde genommen zu werden. Seine unermüdete Aufmerksamkeit; sein aufmunternder Beifall; seine Geneigtheit eher einen Fehler als ein Verdienst zu übersehen; seine Klugheit jeden in sein gehöriges Licht zu stellen, jeden zu demjenigen zu gebrauchen, wozu er die meiste Tüchtigkeit hatte; die Gerechtigkeit, womit er sein Vertrauen jedem nach dem Grade des persönlichen Wertes und der wirklichen Verdienste zumaß; sein Bemühen das Unangenehme in einem Auftrage durch die Leutseligkeit seines Tons oder durch eine verbindliche Wendung zu versüßen; die Achtung, womit er seinen Dienern überhaupt zu begegnen pflegte, und womit er sie desto stärker aufmunterte, selbige zu verdienen, weil er gegen alle Fehler, die aus einem schlimmen Herzen oder ausMangel an Empfindung für Ehre und Rechtschaffenheit entsprangen, sehr streng war: – alle diese Eigenschaften brachten bei seinen Untergebenen eine beinahe wundertätige Wirkung hervor. Niemals ist ein Fürst von bessern Leuten, und muntrer, sorgfältiger, redlicher bedient worden als Tifan. Wer wollte nicht einem so liebenswürdigen Fürsten dienen? sagte man: er besitzt das Geheimnis, die beschwerlichsten Pflichten zum Vergnügen zu machen, und ein einziger Blick von ihm belohnt besser als die reichsten Belohnungen eines andern. Kein Wunder also, daß Tifans Regierung ein Muster einer weisen und glücklichen Staatsverwaltung war; daß er so große Dinge zu Stande brachte; daß Scheschian unter ihm von der untersten Stufe des Elends bis zum Gipfel der Nationalglückseligkeit empor stieg. Kein Wunder, da er die Besten seiner Zeitgenossen zu Gehülfen hatte; da er kein Talent unbenützt, kein Verdienst unbelohnt, aber auch mit eben so vieler Aufmerksamkeit keine Saumseligkeit ungeahndet und keine Bosheit unbestraft ließ; da jede wichtigere Stelle mit dem tüchtigsten und redlichsten Manne, den er finden konnte, besetzt war; kurz, da alle Kräfte des Staats in der schönsten Übereinstimmung einander unterstützten und förderten, um den gemeinschaftlichen Zweck der öffentlichen Wohlfahrt zu bearbeiten.«

»Danischmend«, sagte der Sultan, »ich bin noch nie besser mit dir zufrieden gewesen als heute. Ich fühle wohl, daß es in gewissem Sinn eine sehr nachteilige Sache ist Sultan zu sein. Aber ich bin doch nicht so sehr Sultan, daß ich mich schämen sollte, noch immer etwas zu lernen. Wenn du mir einen Dienst tun willst, so laß mir die vornehmsten Maximen deines Tifan über die Wahl seiner Diener und[251] sein Betragen gegen sie, mit goldnen Buchstaben in ein schönes Buch zusammen schreiben. Ich gebe dir mein Wort darauf, daß es – immer neben meinem Kopfküssen liegen soll.«

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11.

Der sinesische Übersetzer bedauert, daß er, alles Nachforschens ungeachtet, das Buch mit den goldnen Buchstaben, welches Danischmend für den Sultan Gebal verfertigen lassen mußte, nicht habe zu Gesichte bekommen können. Er vermutet, man habe am Hofe zu Dehly ein Staatsgeheimnis daraus gemacht, oder (welches allerdings noch wahrscheinlicher ist) daß es der goldnen Buchstaben und des prächtigen Bandes wegen in die königliche Kunstkammer gelegt, und durch diese gar zu große Hochschätzung der Welt eben so unnütz gemacht worden sei, als wenn man es unter eine von den Pyramiden bei Kairo vergraben hätte. Da wir also außer Stande sind, die vermutliche Neugier unsrer Leser durch Mitteilung eines Buches zu befriedigen, welches (wenn es anders bei der bekannten Ausraubung des mogolischen Schatzes durchThamas Kuli-Kan nicht nach Ispahan gekommen ist) vielleicht noch immer in irgend einem Winkel der kaiserlichen Schatzkammer zu Agra verborgen liegt: so bleibt uns nichts übrig, als den wohl meinenden Danischmend seine Erzählung von der Regierung des Königs Tifan fortsetzen zu lassen so gut er kann.

»Alle Nachrichten«, fuhr er fort, »welche sich aus den blühenden Zeiten des scheschianischen Reiches erhalten haben, vereinigen sich, den Zustand desselben unter Tifans Regierung als den glückseligsten, worin sich jemals eine Nation befunden habe, abzuschildern. Alles, was uns die alten Fabeln oder Überlieferungen von dem wonnevollen Leben der ältesten Menschen unter der Regierung der Götter melden, wurde in dieser bewundernswürdigen Regierung wahr gemacht. Die Fremden, welche Scheschian zu Isfandiars Zeit gesehen hatten, und im dreißigsten Jahre der Regierung Tifans wieder dahin kamen, konnten kaum sich selbst bereden, daß dies das nämliche Land und das nämliche Volk sei. Alle Provinzen dieses weit grenzenden Reichs standen in voller Blüte; das Land und die Städte wimmelten von fleißigen, wohl gesitteten und fröhlichen Einwohnern; und unter diesem fast unzählbaren Volke herrschte eine Ruhe, eine Sicherheit, eine Eintracht, welche, in Verbindung mit der immer regen Tätigkeit und allgemeinen innerlichen Bewegung, unbegreiflich schien. Das Volk ehrte seine Obern, und liebte [252] seinen eignen Zustand; der Adel schien seiner Vorzüge durch die Tugenden würdig, womit er den Gemeinen vorleuchtete. Kein Richter bog das Recht, kein Finanzeinnehmer stahl, kein Statthalter sog seine Provinz aus. Die Gelehrten hatten – Menschenverstand, die Kaufleute – Gewissen, und (was Ihre Hoheit zu glauben Mühe haben werden) sogar die Priester – Verträglichkeit und Menschenliebe

»Nun wahrhaftig«, rief Schach-Gebal, »wenn dies nicht durch Feerei zuging, so möchte ich wohl wissen, wie Tifan es machte, solche Verwandlungen zu bewerkstelligen!«

»Durch die einfachste und natürlichste Operation von der Welt«, sagte Danischmend – »vorausgesetzt, daß ein Fürst die Macht, die Einsichten und den guten Willen Tifans, und einen Ratgeber wie Dschengis habe – mit Einem Worte: durch gute Gesetze.

Dieser erhabenste Teil des königlichen Amtes, und in den damaligen Umständen Scheschians der wichtigste, beschäftigte den Sultan Tifan in den ersten Jahren seiner Regierung mehr als alles übrige. Er bediente sich hierbei anfangs fast ganz allein der Beihülfe seines alten Freundes. Denn so ein weitschichtiges Werk die Gesetzgebung für ein ganzes Volk ist, so schickt sich doch kein andres Geschäft weniger dazu,von vielen Köpfen bearbeitet zu werden. 40

Die erste Frage war: Ob man sich begnügen sollte, die alten Gesetze und Gewohnheiten des Reichs zu verbessern, oder ob zu Erzielung der allgemeinen Wohlfahrt eine ganz neue Gesetzgebung vonnöten sei?

Dschengis war für die letzte Meinung. ›Ein altes, übel gebautes und beinahe schon gänzlich zerfallnes Gebäude‹, sagte Dschengis, ›muß nicht geflickt, es muß vollends eingerissen, und nach einem bessern Plane neu aufgeführt werden.‹

Nach diesem Begriffe arbeiteten Tifan und Dschengis das Gesetzbuch aus, dessen ich gestern bereits erwähnte; und sobald, mit Zuziehung eines Ausschusses der rechtschaffensten Männer, welche die Regierung Tifans aus der Verborgenheit hervor gelockt hatte, die letzte Hand daran gelegt worden war, wurde es im dritten Jahre Tifans öffentlich kund gemacht, und – weil der König Mittel gefunden hatte, den ansehnlichsten Teil der Priesterschaft auf seine Seite zu bringen – ohne einigen Widerstand in allen Provinzen des Reiches eingeführt.«

[253] »Du verstehst unter der Priesterschaft vermutlich keine andre«, sagte Schach-Gebal, »als die Priester des blauen und des feuerfarbnen Affen. Wir kennen diese Herren; und ich begreife alles eher, als wie esTifan anfing, um sie auf die Seite der gesunden Vernunft zu bringen. Dein Tifan konnte ein wenig hexen, das laß ich mir nicht ausreden!«

»Freilich trugen die Umstände vieles bei, sein Unternehmen zu erleichtern«, versetzte Danischmend. »Die ältesten und eifrigsten Verfechter beider Parteien waren teils durch die Verfolgung unter Isfandiarn, teils durch die bürgerlichen Unruhen aufgerieben worden. Die jungen Priester, welche nun den größten Teil des Ordens ausmachten, glaubten an die Gottheit des blauen oder feuerfarbnen Affen nicht stärker als die ehmaligen ägyptischen Priester an die Gottheit des Apis und des Krokodills; hingegen hatten sie große Ursache zu glauben, daß der Rest von Ansehen, worin sie noch bei dem Volke standen, in kurzem völlig verschwinden würde, wenn sie sich der gesunden Vernunft und dem gemeinen Besten, welche offenbar ausTifans ganzer Gesetzgebung atmeten, entgegen stemmen wollten. Zudem hatte man nicht vergessen, sie in den geheimen Unterhandlungen, welche vorher mit ihnen gepflogen wurden, zu überzeugen, daß sie bei der neuen Einrichtung mehr gewinnen als verlieren würden; und wirklich machte sie die neue Gesetzgebung zu einer so unentbehrlichen, ehrwürdigen und in jeder Betrachtung so glücklichen Klasse, daß sie, ohne offenbar wider sich selbst und den Staat zugleich zu arbeiten, sich nicht entbrechen konnten die Absichten des Königs zu befördern.

Das Buch der Pflichten und Rechte wurde also« – –

»Ohne Unterbrechung, Herr Danischmend«, rief der Sultan, »besitzt Ihr ein Exemplar von diesem Buche?«

»Bisher«, antwortete der Philosoph, »hab ich unter allen indianischen Handschriften in der Bibliothek Ihrer Hoheit weiter nichts als einen unvollständigen Auszug davon hervor stochern können, der aber, wie es scheint, von guter Hand herrühret. Indessen halte ich's für keine Unmöglichkeit, daß sich nicht in irgend einem Teile der Welt das Buch selbst oder wenigstens eine Übersetzung davon auftreiben lassen sollte.«

»Ich zahle zehntausend Bahamd'or um ein vollständiges Exemplar davon«, sagte Schach-Gebal.

Danischmend war nicht geldgierig; und wenn er es auch gewesen wäre, so kannte er den Sultan seinen Herrn. Ich zahle zehntausend Bahamd'or für dies Buch, wollte in seiner Sprache weiter nichts [254] sagen, als: Weil es, wie ich höre, nicht zu haben ist, so möcht ich es haben, es koste was es wolle!

Der Philosoph versprach also – nicht, das Unmögliche zu versuchen (wie man bei einer gewissen Nation, die in allen ihren Komplimenten sehr hyperbolisch ist, zu sagen pflegt), aber doch, alles Mögliche anzuwenden, um die preiswürdige Neugier Seiner Hoheit zu befriedigen. »Inzwischen«, fuhr er fort, »da es gleichwohl ungewiß ist, ob dieses Buch überhaupt noch in der Welt zu finden sein mag, so wird es Ihrer Hoheit, wie ich hoffe, nicht zuwider sein, aus dem besagten Auszug einen ziemlich umständlichen, und, wenn mich nicht alles betrügt, interessanten Begriff von den vornehmsten Gesetzen und Anordnungen des Königs Tifan zu erhalten.«

»Keinesweges«, sagte Schach-Gebal: »je eher, je lieber!«

»Das ganze Gesetzbuch war in zwei Hauptteile abgeteilt. Der erste begriff die Pflichten und Rechte desKöniges; der andere die Pflichten und Rechte derNation, sowohl überhaupt, als in allen ihren besondern Gliedern betrachtet.

Der erste Teil bestand aus mehr als zwanzig Hauptstücken. Nichts war darin vergessen, was zurgenauesten Bestimmung der königlichen Vorrechte gehörte. Dem Könige waren darin alle die Grundregeln vorgeschrieben, welchen er in Ausübung dieser von seinem Amte unzertrennlichen Vorrechte genugzutun hatte. Sogar seine Hofhaltung und die Einrichtung seines häuslichen Lebens wurde darin an einegewisse Form gebunden, welche, ohne die Könige mit einem unanständigen und unleidlichen Zwange zu belegen, ihren Begierden Schranken setzte, und ihnen gegen die Weichlichkeit und Untätigkeit der meisten morgenländischen Fürsten zum Verwahrungsmittel diente.

›Es ist‹ (sagte Tifan im Eingange des ersten und wichtigsten Teiles seiner Gesetze), ›es ist ungereimt, während daß man die Rechte und Schuldigkeiten der Bürger aufs genaueste aus einander setzt, die Rechte und Pflichten des Fürsten, von welchen doch das Wohl des ganzen Staats abhängt, unentschieden undschwankend seiner eigenen Willkür, oder der Auslegung und Bestimmung unzuverlässiger und mit keinem entscheidenden Ansehen bekleideter Rechtsgelehrten zu überlassen. Es ist ungereimt, während daß dem Privatmanne vorgeschrieben ist, wie er sich in jedem möglichen Verhältnisse mit seinen Mitbürgern zu betragen habe, die besondern Beziehungen des Fürsten gegen den Staat zweideutig zu lassen, und, indessen das Gesetz den Bürgern in Erwerbung und Verwaltung ihrer [255] Güter alle mögliche Schranken setzt, dem Monarchen das Eigentum seines ganzen Volkes preis zu geben. Belehren uns nicht die Jahrbücher des menschlichen Geschlechtes, wie gefährlich diese widersinnige Nachlässigkeit insgemein für das Glück der Völker, und von Zeit zu Zeit auch für die Ruhe der Fürsten und für die Sicherheit ihrer Thronen gewesen ist? Es ist falsche Politik, sich einzubilden, daß es gefährlich sein könnte, der Majestät durch die genaueste Bestimmung ihrer Rechte die Hände zu binden, und das Volk zu einer beständigen Vergleichung der Handlungen seiner Obern mit der Richtschnur derselben zu berechtigen. Weise Gesetze schränken die königliche Macht in keine andre Grenzen ein, als ohne welche das gemeine Wesen, dessen oberste Diener die Könige sind, immer in Gefahr wäre, von ihnen selbst, oder wenigstens von den Dienern seiner Diener gemißhandelt zu werden. Die ganze Schöpfung wird von ihrem Urheber (wiewohl er, und Er allein, im eigentlichsten Verstande ein unumschränkter Herr ist) nach Gesetzen regiert. Welcher irdische Monarch kann sich für berechtigt halten, willkürlicher regieren zu wollen als Gott selbst? Und wenn dieser oberste Monarch seine Wirksamkeit bloß darum an Gesetze gebunden hat, weil er vollkommen weise und gut ist: aus welchem Bewegungsgrunde könnten Könige, die doch nur Menschen sind und über ihresgleichen herrschen, ungebundene Hände verlangen? – Etwann um Gutes zu tun? Das Gesetz zeichnet ihnen dazu die sichersten Wege vor. Es erspart ihnen die Mühe und die Gefahr, aus tausend Abwegen, die vor ihnen liegen, den rechten Weg auszusuchen; und anstatt sie dem Tadel des Volkes auszusetzen, dient es ihnen zum Schilde gegen alle Mißdeutungen, Vorwürfe und Anmaßungen desselben.‹

Diesem Grundsatze gemäß erklärt und bestimmtTifan im ersten Kapitel die Pflichten und Rechte des königlichen Amtes überhaupt. Die monarchische Verfassung, in so ferne sie durch weise Gesetze eingeschränkt ist, verdient den Namen der vollkommensten Regierungsart eben darum, weil sie der göttlichen am nächsten kommt. Da es vergebens sein würde, eine vollkommnere erfinden zu wollen; so verordnet Tifan, daß Scheschian zu ewigen Zeiten durch einen König regiert werden solle. ›Der König‹, sagt er ferner, ›hat seine Majestät nicht von der Willkür des Volkes, sondern von dem erhabenen Charakter eines sichtbaren Statthalters des obersten Weltbeherrschers. Alle seine Pflichten entspringen aus diesemCharakter, und alle seine Rechte aus – seinen Pflichten. Denn jede Pflicht schließt ein Recht an alles dasjenige, [256] ohne welches sie nicht ausgeübt werden kann, in sich. Sobald ein König von Scheschian unglücklich genug wäre, seine Pflichten abzuschütteln, so hätte er in dem nämlichen Augenblick auch seine Rechte verloren.

Der Vorzug, selbst der Schöpfer seiner Untertanen zu sein, ist ein unterscheidendes Vorrecht der Gottheit. Nichts desto weniger kann der König in gewissem Sinne der Schöpfer seines Volkes werden, indem er die Vermehrung desselben so viel immer möglich ist begünstiget; und dies ist seine erste Pflicht.

Die zweite, worin er sich nicht weniger als einen Nachahmer der Gottheit zeigt, ist die unverwandteVorsorge, seinem Volke (vorausgesetzt daß dieses es an der pflichtmäßigen Anwendung seiner eigenen Kräfte nicht ermangeln läßt) Unterhalt und Überfluß des Unentbehrlichen zu verschaffen. Wenn auf diesem ganzen Erdenrunde Menschen sind, die an dem Unentbehrlichen Mangel leiden, so liegt es wahrlich nicht an der Kargheit der Natur; denn diese hat Vorrat genug, zehnmal mehr Menschen, als sich jemals zugleich auf ihrer Oberfläche befunden haben, reichlich zu ernähren. An den Statthaltern der Gottheit ganz allein liegt die Schuld; denn in ihren Händen liegt die Macht, einer allzu großen Ungleichheit vorzubauen; dem Müßiggang keine Duldung zu bewilligen; den Fleiß aufzumuntern; für den möglichsten Anbau der Ländereien zu sorgen; Vorratshäuser für künftige Notfälle zu unterhalten; den Provinzen zumUmsatz und Vertrieb ihrer Produkte alle von ihnen abhangende Bequemlichkeit zu verschaffen; und (was die unentbehrlichste Bedingung der Bevölkerung sowohl als des Wohlstandes eines jeden Staates ist) dieSitten ihrer Völker zu bilden, und, wenn sie einmal gut sind, sie rein und unverdorben zu erhalten.‹

Auf diese Weise entwickelt Tifan nach und nach alle übrige Pflichten, welche aus der großen Pflicht der Vorsorge für den Staat entspringen, und deren jeder in der Folge ein eignes Hauptstück gewidmet ist. Er bezeichnet sie durch kurze allgemeine Formeln, in welchen, mit eben so viel starken Zügen als Worten, der König als Gesetzgeber, als Richter, als Verwalter der Staatswirtschaft, als Beschützer desStaats, als Aufseher der Religion und der Sitten, alsBeförderer der Wissenschaften und Künste, und, was den Grund zu allen diesen Verhältnissen legt, als derallgemeine Vater und Pfleger der Jugend des Staats, dargestellt wird.

Nichts kann feierlicher sein als die Apostrophe an die Könige [257] seine Nachfolger, womit er dieses Hauptstück schließt. – ›Welch ein Umfang von großen, von äußerst wichtigen Pflichten!‹ ruft der erhabene Gesetzgeber aus. ›Wisset, ihr Könige, die ihr einst auf Tifans Stuhle sitzen, und den furchtbaren Eid der Treue gegen den König der Könige, und gegen dasVolk, das seine Vorsehung euch anvertrauet hat, auf dieses geheiligte Gesetzbuch schwören werdet, wisset, daß meine Hand zitterte, da ich diese Pflichten niederschrieb; daß ein Schauer meine Seele durchfuhr, da ich ihren ganzen Umkreis überdachte. Diese Gesetze, welche wir beschworen haben, werden unsre Richter sein! Je nachdem wir unser großes Amt wohl oder übel verwaltet haben, wird eine Nachwelt, die uns nichts als Gerechtigkeit schuldig ist, unser Andenken ehren und segnen, oder unsre ruhmlosen Namen mit Verachtung aus dem Buche der Könige auslöschen; und wegen alles Guten, welches wir zu tun unterlassen, wegen alles Bösen, welches wir getan haben, wird dereinst ein unerbittlicher Richter Rechenschaft von unserer Seele fordern!‹

In den nächst folgenden Hauptstücken werden diebesondern Pflichten des königlichen Amtes einzeln genauer entwickelt, und die Art und Weise, wie sie auszuüben, durch besondere Gesetze bestimmt. Dieser Ordnung zu Folge macht die gesetzgebende Macht des Königs den Gegenstand des zweiten Hauptstückes aus. Es werden darin die Fälle angegeben, in welchen der König berechtiget ist neue Gesetze zu geben, nachdem sie von den Vorstehern der Stände geprüft und dem Buche der Pflichten und Rechte nicht entgegen stehend befunden worden. Hauptsächlich aber beschäftigt sich Tifan darin mit Anordnung der Mittel, wodurch die Gesetze in jener immer lebhaften Wirksamkeit erhalten werden können, ohne welche der Staat von der besten Gesetzgebung wenig Nutzen ziehen würde. Zu diesem Ende wird nicht nur (wie oben bereits erwähnt worden) dem Ausschusse der sämtlichen Stände des Reiches das Recht zugestanden, in ihren gesetzmäßigen Versammlungen die Beschwerden, welche durch Übertretung oder Mißbrauch eines Gesetzes veranlaßt würden, dem Könige vorzulegen: sondern es werden auch für jede Stadt, und jeden der kleinen Bezirke, in welche die Provinzen zu diesem Ende abgeteilt worden, besondere Aufseher angeordnet, deren Amt ist, auf die Befolgung der Gesetze genaue Acht zu haben, jede Verletzung derselben anzumerken, und alle Monate darüber an den Oberaufseher der ganzen Provinz umständlichen Bericht zu erstatten, damit von diesem sogleich an den König selbst berichtet, und dem Übel mit den gehörigen Mitteln in Zeiten begegnet werden könne.

[258] Übrigens wird in diesem Hauptstücke allen und jeden Einwohnern von Scheschian bei Strafe der ewigen Landesverweisung untersagt, Auslegungen oderGlossen über das Buch der Pflichten und Rechte zu verfassen, oder irgend ein darin enthaltenes Gesetz, unter welchem Vorwand es auch geschehen könnte, zu einem Gegenstande der Privatuntersuchung zu machen. Und falls jemals über den Verstand eines Gesetzes, oder die Anwendung desselben in einem besondern Falle, ein billiger Zweifel entstehen sollte; so kommt zwar dem Könige das Recht der Auslegung oder Erklärung zu: jedoch soll dieselbe in keinem andern, wiewohl ähnlichen, Falle angezogen oder zur Richtschnur genommen werden; es wäre denn, daß sie, mit Einwilligung der Stände des Reichs, die Form und Kraft eines ewig gültigen Gesetzes erhalten hätte.

Im dritten Hauptstück wird die Bevölkerung des Staats als einer der wichtigsten Gegenstände der königlichen Vorsorge betrachtet. ›Die ganze bisherige Verfassung von Scheschian‹ (sagt Tifan) ›der Despotismus der Regierung, die Religion der Bonzen, die unmäßige Größe der Hauptstadt, der Mangel an Aufmerksamkeit auf den Zustand der Provinzen, die Unterdrückung und Ausplünderung des Volkes durch Abgaben, die der Einnahme desselben nicht gemäß waren und durch die bloße Art des Bezugs schon unerträglich wurden, endlich der zügellose Luxus, und die Verderbnis der Sitten; dieser Zusammenfluß von Übeln hatte das Reich binnen einem Jahrhundert unvermerkt auf die Hälfte seiner ehemaligen Einwohner herab geschmelzt, als die letzten Jahre Isfandiars und die darauf erfolgte Zerrüttung das allgemeine Elend vollendeten. Die Entvölkerung der Städte und der verödete Zustand ganzer Provinzen hat die Einführung fremder Kolonien unentbehrlich gemacht. Aber weder dieses noch irgend ein anderes von den Mitteln, die von einigen Fürsten in solchen Fällen angewandt worden sind, kann die abgezielte Wirkung tun, so lange jene Übel fortdauern, von welchen die Entvölkerung eines Staates die notwendige Folge ist, oder sobald ihnen der Zugang wieder eröffnet würde. Das gründlichste und unfehlbarste Bevölkerungsmittel ist demnach eine Gesetzgebung, durch welche nicht die Zufälle der Entvölkerung überpflastert, sondern die Ursachen derselben mit der Wurzel ausgerottet werden.‹ – Dieses war eine der großen Absichten der Gesetze Tifans: und da das ganze System derselben alle zu Hervorbringung dieser Absicht erforderlichen Mittel in sich faßte; so blieb den folgenden Königen nichts übrig, als mit der genauesten Sorgfalt über der Beobachtung dieser Gesetze zu halten, und jeden Mißbrauch, [259] der sie unvermerkt hätte unkräftig machen und untergraben können, sogleich im Keime zu ersticken.

Übrigens läßt sich aus einer Stelle dieses Kapitels schließen, daß Tifan auch in den Ehegesetzen der Scheschianer beträchtliche Änderungen vorgenommen habe. Allein da sie ein besonderes Hauptstück des zweiten Teils seines Gesetzbuchs ausmachen: so läßt sich, bis man eine vollständige Abschrift desselben gefunden haben wird, weiter nichts davon sagen, als daß der ehelose Stand durch Tifans Gesetze niemanden verstattet wurde, der nicht eine angeborne oder zufällige körperliche Untüchtigkeit von der unverbesserlichen Art gerichtlich erweisen konnte.«

»Aber, Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »ich möchte wohl wissen, wie du mir den Zweifel auflösen wolltest, der mir in diesem Augenblicke gegen Tifans Grundsätze über die Bevölkerung einfällt. Ich setze voraus (was doch in der Tat kaum zu glauben ist), daß er wirklich alle physischen, politischen und sittlichen Hindernisse, welche der Vermehrung eines Volkes nachteilig sind, glücklich aus dem Wege geräumt habe; was wird die Folge davon sein? Seine Scheschianer werden sich vermehren wie die Kaninchen; in kurzem werden sie nicht mehr Raum genug haben neben einander zu wohnen; und der bloße Mangel an Unterhalt wird endlich eine ärgere Verwüstung unter ihnen anrichten, als Despotismus, Schwelgerei, Bonzen, Tänzerinnen, Ärzte und Apotheker zusammen genommen nicht anzurichten vermocht hätten. – Wie oft, sagt man, muß sich ein Volk ordentlicher Weise verdoppeln, Danischmend?«

»Die Auflösung dieser Frage«, versetzte Danischmend, »hängt von einer Menge zufälliger Umstände ab, welche das verlangte allgemeine Zeitmaß, in so fern es richtig sein soll, unmöglich zu machen scheinen. Gleichwohl, da sich mit gutem Grunde voraussetzen läßt, daß unter einem Volke, wie wir uns das neue Geschlecht von Menschen, welches die Gesetzgebung Tifans in Scheschian bildete, vorstellen müssen, das ist, unter der gesundesten, nüchternsten, mäßigsten, fröhlichsten und gutartigsten Nation von der Welt, die Leute natürlicher Weise ungleich länger leben, und die Ehen viel länger fruchtbar sind als bei allen andern Völkern: so können wir, deucht mich, ohne Bedenken annehmen, daß sich die Anzahl der Einwohner Scheschians unter besagten Umständen in hundert Jahren wenigstens zweimal verdoppelt haben müsse; und dies macht freilich in zweihundert Jahren eine ungeheure Summe aus.«

»Und woher sollen alle diese Menschen ihren Unterhalt nehmen?«

[260] »Ich setze (vermöge einer Berechnung, womit es unschicklich wäre Ihrer Hoheit beschwerlich zu fallen) voraus, daß Scheschian, auf dem Grade der Vollkommenheit wozu Tifan den Anbau des Landes brachte, vermögend war, wenigstens hundert Millionen arbeitsamer und mäßig lebender Menschen zu ernähren.«

»Dies nenn ich viel, Herr Danischmend, wofern Ihr Euch nicht verrechnet habt. Aber setzen wir immer, daß es so gewesen sei; woher sollen zweihundert, vierhundert, achthundert, sechzehnhundert, und alle die unzähligen Millionen, welche am Ende der zwanzigsten Generation vorhanden sein werden, ihren Unterhalt bekommen? Ich wollte wetten, daß zuletzt nicht einmal Luft genug in der Welt wäre, sie zu nähren, wenn sie auch von bloßer Luft leben könnten.«

»Und dazu kommt noch ein Umstand«, sagte die schöne Nurmahal, »der dem armen Danischmend eine Gelegenheit entzieht, wodurch er die Anzahl seiner Scheschianer von Zeit zu Zeit merklich hätte vermindern können. Wenn Tifans Nachfolger ihrem Vorbilde nur einiger Maßen ähnlich waren, und wenn sich also die Verfassung, welche dieses Reich von Tifan empfing, einige Jahrhunderte erhalten hat, wie man von so einer vollkommenen Gesetzgebung nicht anders erwarten kann: so ist nicht begreiflich, wie Scheschian in dieser ganzen Zeit in einen Krieg von einiger Bedeutung hätte sollen verwickelt werden können. Wer hätte sich unterstehen wollen, einen solchen Staat anzugreifen oder sich ihn zum Feinde zu machen? Und was in der Welt hätte einen König von Scheschian bewegen können, selbst der Angreifer zu sein?«

»Die Ehre seiner Krone kann den besten König nötigen, einen Krieg anzufangen, oder an den Händeln seiner Nachbarn Anteil zu nehmen«, sagte Schach-Gebal. 41 »Doch, wir wollen diese Betrachtung gelten lassen was sie kann; immer seh ich nicht ab, wie sich Freund Danischmend diesmal aus der Sache ziehen wird.«

»Bald würden mir Ihre Hoheit bange machen«, erwiderte der Doktor. »Gleichwohl ist diese Bevölkerungssache so schlimm nicht als sie beim ersten Anblicke scheint. Je mehr sich die Bewohner von Scheschian vervielfältigen, je mehr Hände haben wir die Natur zu bearbeiten; eine Quelle, welche desto ergiebiger ist, je größer die Zahl derer ist die aus ihr schöpfen. Und wer kann das Maß und die Grenzen ihrer Fruchtbarkeit bestimmen? Überdies nimmt auf der [261] einen Seite mit der Zahl der Menschen auch die Summe ihrer Bedürfnisse, und folglich auch der Hände zu, die ihrentwegen in Arbeit gesetzt werden müssen und von dieser Arbeit leben; so wie auf der andern Seite Fleiß und Erfindsamkeit durch die immer nahe Gefahr des Mangels angespornt werden, die Künste zu einer Vollkommenheit zu bringen, wodurch ihnen vermittelst des auswärtigen Handels eine Menge andrer Völker zinsbar wird. Reicht endlich alles dies nicht zu; nun so werden wir uns freilich entschließen müssen, die Bienen zum Muster zu nehmen, und von Zeit zu Zeit die jungen Schwärme zu nötigen, sich andre Wohnsitze auszusuchen: es sei nun, indem ein großer Teil der Scheschianer sich einzeln in fremde Länder zerstreut, wo fleißige und geschickte Ankömmlinge allezeit willkommen sein werden; oder indem der Staat selbst Kolonien aussendet, welche sich auf entlegnen Küsten niederlassen, Künste und Sitten zu barbarischen Völkern tragen, und durch das nämliche Mittel, wodurch sie ihren eigenen Zustand verbessern, zugleich Wohltäter des menschlichen Geschlechts werden. Wie viele und große Inseln, wie viele bewohnbare Gegenden des festen Landes liegen entweder noch ganz öde, oder sind doch lange nicht so bewohnt und angebaut, daß sie nicht noch Raums genug für viele Millionen neuer Ankömmlinge haben sollten, welche, anstatt ihren Unterhalt durch die Jagd in unermeßlichen Wildnissen zu suchen, die Werkzeuge des Ackerbaues und der Künste mit sich bringen, wodurch der zehnte Teil des Bezirks worinhundert Wilde kümmerlich ihrem Hunger wehren, zu einer reichen Vorratskammer für hundertmal so viel gesittete Familien gemacht wird!«

»Sehr wohl, sehr wohl«, sagte der Sultan lächelnd: »und wenn auch dies nicht zureicht, Herr Danischmend, nun, so haben wir ja auf den Notfall noch Heuschrecken, Pestilenz, Erdbeben und Überschwemmungen, welche uns die Mühe ersparen können, eine kleine Abänderung in den Gesetzen des weisen Tifan zu machen.«

»Ich hoffe, wir werden nicht vonnöten haben, die Natur um eine so grausame Hülfe anzurufen. Sie hat schon auf eine andre Weise dafür gesorgt, daß, bei allen möglichen sittlichen Beförderungsmitteln der Bevölkerung, dennoch nicht leicht ein gefährliches Übermaß derselben zu besorgen ist. Die Vermehrung steht, nach einer allgemeinen Beobachtung, in einem selten ungleichen Verhältnisse mit der mehrern oder mindern Leichtigkeit, die das Volk hat, seinen Unterhalt zu gewinnen. Und gesetzt auch, einer von Tifans Nachfolgern hätte sich endlich genötiget gesehen, dem Verbot des ehelosen Standes etwas weitere Grenzen zu setzen: würde nicht diese [262] Notwendigkeit selbst den stärksten Beweis von der Vortrefflichkeit der Gesetze Tifans ausgemacht haben?«

»Bei allem dem«, fuhr Schach-Gebal in seinem einmal angenommenen Tone fort, »mag es in Scheschian jährlich eine hübsche Anzahl Fündelkinder gegeben haben, Herr Danischmend?«

»Eine sehr ansehnliche, allem Vermuten nach«, sagte der Philosoph: »aber desto besser für den König, oder, eigentlicher zu reden, für den Staat!«

»Wie so?« fragte der Sultan.

»Um Ihre Hoheit nicht mit Rätseln aufzuhalten, muß ich sagen, daß es, von Tifans Zeiten an, eigentlich gar keine Fündelkinder in Scheschian gab; – denn von unehelichen war die Rede nicht mehr. Tifans Gesetze hatten dafür gesorgt, daß Natur und Liebe sich niemals in der traurigen Notwendigkeit befinden konnten, das Süßeste und Werteste, was beide haben, verleugnen zu müssen. Aber in allen Städten und andern schicklichen Plätzen waren Häuser angelegt, wo die Kinder der Tagelöhner und der Dürftigen (sobald die Last der Ernährung und Erziehung derselben den Eltern zu schwer fiel) auf Unkosten des Königs erzogen wurden.«

»Dein Tifan war ein seltsamer Kameralist«, rief Schach-Gebal aus.

»Dies war er auch in der Tat, wie Ihre Hoheit aus einem der folgenden Kapitel seiner Gesetze sehen werden. Indessen fiel diese Einrichtung, durch die Art wie sie veranstaltet war, dem Staate gar nicht schwer, und verschaffte ihm hingegen einen vielfachen beträchtlichen Nutzen. In den meisten andern Staaten vereinigen sich Dürftigkeit, ungesunde Nahrung, und durchgängige Verwahrlosung der Leiber und der Seelen, aus den Kindern der Tagelöhner und der untersten Klasse der Handwerksleute eine Art von Geschöpfen zu machen, die von der dümmsten Art von Vieh kaum durch etwas andres als einige, wiewohl öfters sehr unvollkommene, Ähnlichkeit mit der menschlichen Gestalt zu unterscheiden sind. In Scheschian war es ganz anders. Da die Eltern dieser Kinder (außer einem ge ringen Beitrage, den sie zum Unterhalt derselben bis ins siebente Jahr – das ist, bis sie durch die Arbeit, wozu sie angehalten wurden, ihre Nahrung selbst verdienen konnten – von ihrem Verdienste abgeben mußten) bloß für ihren eigenen Unterhalt zu sorgen hatten, den sie durch eine nicht übermäßige Arbeit reichlich erwerben konnten: so brachten sie zu einem Geschäfte, welches die Natur zum Besten der Menschheit mit so vielem Reize verbunden hat, mehr Lust, Munterkeit und Kräfte, als man von andern ihresgleichen, unter den elenden [263] und drückenden Umständen, worin sie in den meisten Ländern schmachten, erwarten kann. Sie zeugten also auch gesundere, stärkere und schönere Kinder; und die weisen Anstalten, welche Tifan zu Erziehung derselben getroffen hatte, waren eben so viele Pflanzschulen, worin dem gemeinen Wesen nützliche Mitglieder von allen Arten gebildet wurden.

In den meisten andern Staaten würden solche Anstalten, aus Mangel kluger Einrichtung und guter Aufsicht, in kurzem ausarten, und den gemeinnützigen Zweck nur auf eine sehr unvollkommene Weise befördern. Aber hier hatte Tifan für alles gesorgt. Alle in dergleichen öffentlichen Erziehungshäusern sonst gewöhnliche Mißbräuche waren unmöglich gemacht. Diese Kinder genossen unter dem Namen der Pflegekinder des Königs den unmittelbaren königlichen Schutz. Die Könige selbst, welche das Gesetz nach dem Beispiele Tifans zu beständigen Reisen durch die verschiedenen Provinzen des Reichs verpflichtete, kamen von Zeit zu Zeit, den Zustand ihrer Pflegekinder zu untersuchen, und die geringste Untreue oder Saumseligkeit auf Seiten der Personen, welche als Bediente oder als Lehrmeister und Aufseher bei diesen Häusern angestellt waren, wurde so scharf bestraft, ein pflichtmäßiges Betragen hingegen, nach Verfluß einer gewissen Zeit, so wohl belohnt, daß Fremde, welche diese sonderbaren Stiftungen sahen, sich nicht genug darüber wundern konnten – daß es so leicht sei, gute Anstalten in der besten Ordnung zu erhalten.«

»In der Tat, ich lasse mir diese Einrichtung gefallen«, sagte Schach-Gebal. »Aber was machte Tifan mit so vielen Pflegekindern?«

»Es scheint nicht, daß er jemals über ihre Menge verlegen gewesen sei«, antwortete Danischmend. »Die stärksten aus ihnen wurden zum Soldatenstand, oder zu andern Verrichtungen, welche vorzügliche Leibeskräfte erfordern, erzogen; und die unfähigsten waren doch immer zu irgend einer mechanischen Arbeit gut genug. Ein großer Teil ging als Dienstboten in die Häuser der Edeln und Begüterten über; mit einem andern Teile wurden die Fabriken besetzt, welche Tifan in großer Anzahl angelegt hatte; und diejenigen, bei denen man eine Anlage zu höhern Talenten, oder den Genie irgend einer schönen Kunst entdeckte, wurden in dem gehörigen Alter ausgeschossen, und in andern ihrer Fähigkeit angemessenen Anstalten zu ihrer Bestimmung zubereitet.«

»Danischmend«, sagte der Sultan, »merke dir, daß wir nächstens das weitere von dieser Sache sprechen wollen. Du sollst mir einen [264] Plan vorlegen, – verstehst du mich? Gute Beispiele verdienen Nachfolger. Für heute haben wir genug.«

12
12.

Der sinesische Übersetzer, ohne der besondern Unterredungen des Sultans Gebal mit seinem Hofphilosophen, und der Entwürfe oder wirklichen Anstalten, welche vermutlich die Früchte davon waren, weiter Erwähnung zu tun, begnügt sich auf seinem bisherigen Wege fortzuschreiten, und berichtet uns, daß der Sultan des folgenden Abends, da die Rede wieder von Tifan und seiner Gesetzgebung gewesen, das Gespräch auf seinen Lieblingsgegenstand, auf dieStaatswirtschaft, gelenkt, und ein großes Verlangen bezeigt habe, zu wissen, wie dieser Fürst so große Ausgaben, als er, nach einigen Proben zu urteilen, sich selbst aufgelegt, habe bestreiten können? Diese Neugier Seiner Hoheit hätte zu einer sehr umständlichen Erörterung der Sache geführt, wovon er, da einem sinesischen Prinzen über diese Rubrik nichts gesagt werden könne was er nicht zu Hause eben so gut finde, sich begnügen würde, folgenden Auszug zu liefern.

»Die Schriftsteller«, sagte Danischmend, »aus welchen ich meine Nachrichten von Tifans Grundsätzen über das Finanzwesen und die Staatsökonomie gezogen habe, erzählen uns davon Dinge, die beim ersten Anblicke sehr seltsam, wo nicht gar unglaublich klingen. Tifan rühmte sich (sagen sie) wenige Tage vor seinem Tode gegen seinen Nachfolger, daß er ihm einen Schatz hinterlasse, dergleichen kein einziger von allen Königen Asiens aufzuweisen habe. ›Es ist wahr‹, sagte er, ›in meiner Kasse wirst du keinen großen Vorrat antreffen: aber ich hinterlasse dir sechzig Millionen vergnügte, wohl genährte, wohl gekleidete, wohl gesittete, fleißige und unsrer Regierung wohl geneigte Untertanen, welche, sobald du sie zum Besten des Staats vonnöten hast, mit allen ihren Fähigkeiten, mit allem ihrem Vermögen, mit allem Blut in ihren Adern, freiwillig dein eigen sind. Ich hinterlasse dir Städte, die von arbeitsamen und geschäftigen Menschen wimmeln, und Landschaften, die einem blühenden Garten ähnlich sind. Wie sehr anders sah dies alles aus als ich König wurde! Aber funfzig Jahre, mein Sohn, sind eine schöne Zeit für einen König, der den Willen hat Gutes zu tun, und der alle seine Untertanen zu Gehülfen zu machen weiß. Auch hoffe ich, du wirst in diesem ganzen Reiche keine verfallene Stadt wieder herzustellen, keinen Sumpf [265] auszutrocknen, keine Einöde zu bevölkern und anzupflanzen übrig finden. Die Provinzen deines Reichs sind wie die Glieder eines gesunden und voll blühenden Körpers; ein gemeinschaftlicher Lebenssaft strömet durch sie hin; jede dient der andern, jede unterstützt die andre; jede trägt das ihrige bei, das Ganze vollkommen zu machen, und erhält vom Ganzen Lebenswärme und Nahrung, und jeden Beistand dessen sie benötigt sein kann. Jede Klasse des Staates ist was sie sein soll, und Ein durch sie alle ausgegossener Geist der Eintracht und Vaterlandsliebe verbindet sie zum allgemeinen Besten. Die Jugend einer jeden Klasse wird zu ihrer künftigen Bestimmung erzogen. Alle eitle Gelehrsamkeit ist aus Scheschian verbannt; die Akademie der Wissenschaften ist in eine Werkstatt nützlicher Erfindungen, in eine Schule der Weisheit, der Tugend und des Geschmacks verwandelt. Nenne mir eine Geschicklichkeit und Kunst, die zum Wohlstand eines Volkes anwendbar ist, und in Scheschian nicht Aufmunterung und Belohnung finde. Und nun, mein Sohn, gestehe, daß dein Vater ein guter Wirtschafter war, und folge seinem Beispiele.‹

Die Wahrheit von der Sache war, daß Tifans Nachfolger an dem Tage da er den Thron bestieg, – zwar keine Schulden, aber wirklich kaum so viel Geld in der Schatzkammer fand, als der reichste Kaufmann zu Scheschian in seiner Kasse liegen hatte. Welch eine Wirtschaft!

Bei den meisten andern Fürsten ist nichts willkommner, als ein Projekt, aus hundert Taels, die in die Schatzkammer fließen, zweihundert zu machen. Bei Tifan würde mit allen Projekten, wobei es darauf ankam die Untertanen ärmer zu machen, nichts als ein Platz im Zuchthause zu verdienen gewesen sein. ›Bringt mir Vorschläge‹, pflegte er zu sagen, ›die Scheschianer klüger, besser, arbeitsamer, geschickter und glücklicher zu machen! Je mehr sie alles dies sind, desto reicher werden sie sein: und bin ich nicht reich genug, wenn es meine Scheschianer sind?‹

Noch eine Seltsamkeit! In allen andern Staaten, oder doch beinahe in allen, pflegen die Auflagen auf das Volk unvermerkt (oft auch sehr merklich) zuzunehmen. Die Bedürfnisse des Staats, sagt man, werden immer größer: und da in den meisten das Vermögen des Volkes in eben der Maße abnimmt wie dieStaatsbedürfnisse zunehmen; so kommt zuletzt der Augenblick, wo das Volk, gerade wann der Staat am meisten bedarf, nichts mehr zu geben hat. In Scheschian war dies ganz anders eingerichtet. Tifan verstand die Kunst große Dinge mit wenigen Kosten zu tun; welches [266] ungefähr eben so viel ist, als die Kunst der alten Helden, mit kleinen Heeren große Siege zu erfechten. Gleichwohl war es nicht anders möglich, als daß die Scheschianer anfangs alle ihre Kräfte aufbieten mußten, um die großen Summen zu erschwingen, die zur Ausführung seiner Anstalten zum gemeinen Besten vonnöten waren. Aber schon im zehnten Jahre seiner Regierung sah er sich im Stande, die Last des Volkes merklich zu vermindern; und in den letzten Jahren bezahlten die Scheschianer dem Staate kaum den dritten Teil dessen, was ihnen unter Sultan Azorn abgenommen worden war; und gleichwohl war der öffentliche Schatz nicht um eine Unze leichter als in den ersten Jahren Tifans, und wenigstens um neunzehn Teile von zwanzig reicher als unter Azorn.«

»Wie ging dies zu?« fragte Gebal.

»Durch die einfachste Operation von der Welt«, antwortete Danischmend. »Im zehnten Jahre Tifans waren ungefähr dreißig Millionen Menschen in Scheschian, welche zusammen zweihundert Millionen Unzen Silbers in die Schatzkammer bezahlten. Im funfzigsten Jahr eben dieses Königs zählte man übersechzig Millionen Einwohner, welche, um die nämliche Summe zusammen zu bringen, nur halb so viel bezahlten als ihre Vorgänger, aber noch immer in die Schatzkammer. Hingegen befanden sich in den letzten Jahren Azors vierzig Millionen Einwohner in Scheschian, welche drei- und zuletzt viermal so viel bezahlen mußten; aber unglücklicher Weise das meiste weder an die Schatzkammer noch an den König, sondern an die ungeheure Anzahl der Pachter und Einnehmer, an die Mätressen des Königs, an die Günstlinge und Höflinge, an die königliche Küche, an die königliche Garderobe, an die königlichen Pferde, Hunde, Katzen, Elefanten, Riesen, Zwerge, Affen und Papageien, und an eine unendliche Menge anderer entbehrlicher Geschöpfe, die zum Hofstaat Seiner Majestät gehörten, und insgesamt sehr große Bedürfnisse hatten. Alle diese Teilnehmer an den Staatseinkünften nahmen soviel davon zum voraus weg, daß ein mäßig starker Esel wenig Mühe hatte, den Rest in die königliche Schatzkammer zu tragen; und dieser einzige Umstand löset, deucht mich, das ganze Geheimnis auf.«

Es gefiel dem Sultan Gebal, bei dieser Stelle in ein so starkes Gelächter auszubrechen, daß Danischmend inne halten mußte. »Der arme Azor«, rief er einmal über das andere aus, »der arme Mann! Kann man auch ein ärmerer Schelm sein als Azor!«

»In der Tat«, sagte Danischmend, »der gute Azor war beinahe noch ärmer als seine armen Untertanen[267] »Du hast recht, Danischmend«, versetzte Schach-Gebal: »die guten Leute sind wirklich zu bedauern! – Aber wo blieben wir? Die Wahrheit zu sagen, ich sehe noch nicht sehr hell in der Haushaltung deines Tifan.«

»In kurzem, hoffe ich, soll Ihrer Hoheit alles sehr deutlich werden«, erwiderte der Philosoph. »SultanTifan machte in seinem Gesetzbuch eine merkwürdige Distinktion zwischen den Bedürfnissen des Königs und den Bedürfnissen des Staats, und folglich auch zwischen dem Beutel des einen und des andern. Zu jenen bestimmte er eine beträchtliche Anzahl von Krongütern, welche seit den Zeiten Ogul-Kans die Domänen des Königs ausgemacht hatten. Er vermehrte sie, mit Bewilligung der Nation, durch einen Teil der verödeten Gegenden, welche, von den bürgerlichen Unruhen her, aus Mangel an Bewohnern unangebaut lagen, und als dem Staat anheim gefallen betrachtet, von Tifan aber mit fremden Kolonisten bevölkert und in wenig Jahren in einen sehr ergiebigen Stand gesetzt wurden. Außerdem waren die Einkünfte von den Bergwerken und Salzgruben von jeher als königliche Güter angesehen worden; und Tifan ließ es um so mehr dabei bewenden, weil er sich und seinen Nachfolgern das Vermögen auch willkürlich Gutes zu tun nicht entziehen wollte; eine Idee, welche sich mit der menschlichen Schwachheit vielleicht entschuldigen läßt, wiewohl sie durch ihre Folgen in spätern Zeiten dem scheschianischen Reiche verderblich geworden ist.

Alle diese Einkünfte betrugen durch die gute Wirtschaft des Königs Tifan in seinen letzten Jahren ungefähr neun bis zehn Millionen Unzen Silbers, welche der König verwalten konnte wie er wollte, ohne jemand deswegen Rechenschaft zu geben. Hingegen mußte er davon seine ganze Hofhaltung, alle seine Privatausgaben, und, nach Tifans ausdrücklicher Verordnung, selbst alle diejenigen bestreiten, welche die Majestät des Thrones erfordert. Da nun diese Summe, so beträchtlich sie war, gar leicht für die Begierden eines schwachen oder ausschweifenden Fürsten unzulänglich hätte sein können: so verordnete Tifan in einem besondern Abschnitte seines Gesetzbuches, wie der Hofstaat des Königs, seine Tafel, und alles was zu seiner Haushaltung gehörte, eingerichtet sein sollte. Eine edle Einfalt und eine sehr große Mäßigung war der Geist dieser Verordnungen. ›Wenn der Luxus‹, sagte Tifan, ›einem wohl eingerichteten Staate verderblich, und nur in einem sehr verdorbenen eine Zeit lang ein notwendiges Übel ist; wenn der größte Reichtum desselben in der Menge arbeitsamer Einwohner besteht, und die Bevölkerung, [268] ohne Mäßigung der Begierden und des Aufwands, unmöglich so weit gehen kann als sie sonst natürlicher Weise gehen würde: so fällt in die Augen, wie notwendig es ist, daß der Hof dem ganzen Staat ein fortdauerndes Beispiel einer Tugend gebe, welche die stärkste Schutzwehre der guten Sitten ist. Nach dem Hofe bilden sich die Großen und der Adel: und vereinigen sich diese, dem Volke mit dem Beispiel einer einförmigen, in die Schranken der Anständigkeit und einer guten Wirtschaft eingeschlossenen Lebensart vorzuleuchten; so wird das Volk desto weniger der Gefahr ausgesetzt sein, den Geist seines Standes und den Geschmack an der Einfalt seiner eigenen Lebensart zu verlieren. Diese Einförmigkeit ist nur solchen Leuten zuwider, in welchen der Müßiggang ausschweifende Begierden und einen grillenhaften Geschmack ausbrütet: in Scheschian kann es keine solche Leute geben; denn das Gesetz duldet keine Müßiggänger. Vom König an bis zum Tagelöhner ist jedermann mit den Pflichten seine Standes oder mit der Ausübung seiner Talente beschäftigt; und beschäftigte Leute, für welche die bloße Ruhe schon eine Art von Vergnügen ist, haben nur einfache und ungekünstelte Ergetzungen vonnöten, weil die Ergetzungen für sie keine Beschäftigung, sondern nur Erholungsmittel nach der Arbeit sind.‹

Eine nach diesen Begriffen eingerichtete Hofhaltung konnte, wiewohl das Anständige, und bei gewisser Gelegenheit selbst das Glänzende, nirgends vermißt wurde, nicht so viel kosten, daß der König nicht noch große Summen in Händen behalten hätte, wovon er einen edeln, wohltätigen und gemeinnützigen Gebrauch machen konnte. Tifan, zum Beispiel, der ein großer Liebhaber der Naturforschung war, wendete einen beträchtlichen Teil seiner eigenen Einkünfte auf physische Versuche, auf mathematische Werkzeuge, und auf Belohnung derjenigen, welche in diesem Fache sich vorzüglich verdient machten. Er stiftete aus seiner eigenen Kasse eine Akademie der schönen Künste, deren immer zunehmendes Wachstum eine seiner angenehmsten Ergetzungen ausmachte. Überdies setzte er für alle Arten nützlicher Bemühungen jährlich eine beträchtliche Anzahl von Preisen aus. Alle Unternehmungen, von welchen dem Staat Ehre oder irgend ein andrer Nutzen zugehen konnte, fanden in ihm einen großmütigen aber zugleich einsichtsvollen Beförderer, welcher Schein und Wahrheit sehr genau zu unterscheiden wußte. Hauptsächlich aber standen alle jungen Leute, welche sich durch Proben außerordentlicher Fähigkeiten hervortaten, unter seinem unmittelbaren Schutze. Er hielt ein Verzeichnis über alle, die zu dieser Klasse gehörten; er verschaffte ihnen [269] Gelegenheit sich vollkommen zu machen; und da er sie genau genug kennen lernte, um ihre mannigfaltigen Talente aufs beste benützen zu können, so mag es wohl diesem Umstande vornehmlich zuzuschreiben sein, daß er im Stande war, die vortreffliche Staatswirtschaft zu führen, deren er sich gegen seinen Nachfolger rühmte.

Bei einem solchen Gebrauch, als Tifan von seineneigenen Einkünften machte, läßt sich leicht begreifen, warum er seinem Sohne keinen großen Vorrat an barem Gelde hinterließ; wiewohl unter allen Rubriken seiner Ausgaben keine einzige war, über die er zu erröten Ursache gehabt hätte. Aber daß es auch mit dem öffentlichen Schatze die nämliche Bewandtnis hatte, würde gegen seine gute Wirtschaft einigen Verdacht erwecken können, wenn Tifan sich nicht zum Grundsatz gemacht hätte, die Einnahme und Ausgabe des Staats so genau gegen einander abzuwägen, daß beim Schlusse jedes Jahres, nach Abzug der letzten von der ersten, wenig oder nichts übrig blieb. 42 Dieser öffentliche Schatz bestand aus den Abgaben, welche teils von den Eigentümern aller liegenden Grundstücke, teils von dem beweglichen Vermögen und Erwerb aller übrigen Einwohner des Reichs erhoben wurden. Er betrug unter Tifans Regierung ordentlicher Weise niemals über zweihundert Millionen Unzen Silbers, und durfte auf nichts andres als die unumgänglichen Ausgaben des Staats, oder auf solche, welche augenscheinlich zum Besten desselben gereichten, und im Gesetzbuch ausdrücklich benannt waren, verwendet werden. ›Der König‹, sagt Tifan, ›hat nicht die mindeste willkürliche Gewalt über das Vermögen seiner Untertanen: er ist schuldig sie dabei zu schützen; aber er ist so wenig als irgend ein andrer Mensch befugt, ihnen nur den Wert einer Stecknadelwider ihren Willen wegzunehmen. Hingegen sind die sämtlichen Bürger des Staats verbunden, zu den Bedürfnissen desselben und zu gemeinnützigen Anstalten nach Verhältnis ihres Vermögens [270] oder Einkommens beizutragen; und da keiner ohne Unsinn diese Schuldigkeit mißkennen, noch ohne ein Verbrechen gegen den Staat sich derselben entziehen kann, so kommt alles bloß darauf an:


daß der Nation dieser Beitrag auf alle mögliche Art erleichtert, und daß ihr die vollständigste Sicherheit wegen gesetzmäßiger Verwendung desselben gegeben werde.‹


Die Verordnungen Tifans zu Erreichung dieser zweifachen Absicht sind so einfach, als man sie von einem Gesetzgeber erwarten kann, der immer den nächsten Weg gehen konnte; weil keine Hindernisse, die er hätte schonen müssen, in seinem Wege lagen, und weil er keine andre Absicht hatte, als je eher je lieber zum Zweck zu gelangen. Vermöge dieser Verordnungen mußten alle Klassen der Einwohner von Scheschian dem Staate jährlich einen festgesetzten sehr mäßigen Beitrag entrichten, der überhaupt so bestimmt war, daß die reichste Klasse am meisten, die ärmste hingegen beinahe nichts bezahlte. In jedem Dorfe und Flecken, so wie in jeder kleinen Stadt, war in der Vorhalle des Tempels ein wohl verwahrter Kasten, in welchen jeder Kontribuent monatlich seinen Beitrag in einem Papier, auf welchem sein Name angemerkt war, durch eine zu diesem Zweck angebrachte Öffnung hinein steckte. 43 Wer sich hierin saumselig finden ließ, ohne eine von den wenigen im Gesetze für gültig anerkannten Ursachen zum Erlaß anführen zu können, wurde sofort mit Gewalt zu seiner Schuldigkeit gebracht. Zwei besonders hierzu angestellte obrigkeitliche Personen führten Rechnung über diese Einnahme, und lieferten das Eingegangene alle Monate von den Dörfern und Flecken in die nächste Stadt, an welche sie angewiesen waren. Aus den kleinern Städten wurde diese Kontribution in die Hauptstadt der Provinz geliefert, und von da alle drei Monate an die Schatzkammer des Staats zu Scheschian Rechnung abgelegt. An jedem Ort, in jeder Stadt und Provinz hatten die bestellten Einnehmer ein Verzeichnis der Kontribuenten ihres Ortes, ihrer Stadt, und ihrer Provinz, so wie die Obereinnehmer zu Scheschian das ihrige von dem, was jede Provinz nach dem einmal festgesetzten Anschlage beizutragen schuldig war. Dieser Anschlag bezog sich teils auf die Ländereien und Häuser, welche, nach Tifans [271] Verordnung, so lange auf dem nämlichen Fuß angesetzt blieben, bis der König und die Stände der Nation gemeinschaftlich eine Erhöhung desselben dem Staate zuträglich oder notwendig finden würden; teils auf alle einzelne Bewohner des Staats (mit Ausnahme der Dienstboten und der Kinder in den untersten Klassen), deren jeder, nach der Klasse zu welcher er gehörte, mit einer unveränderlichen Schatzung belegt war. Da nun alle Monate ein genaues Verzeichnis aller Gebornen und Gestorbenen jedes Ortes an die Vorsteher jeder Provinz, und von diesen jedesmal nach Verfluß dreier Monate an den Hof eingeschickt werden mußte: so war nichts leichter, als die Berichtigung dessen was jede Provinz monatlich zu bezahlen hatte. Und weil keine Reste geduldet, sondern in gewissen Fällen, wo das Unvermögen des Kontribuenten erweislicher Maßen unverschuldet war, der monatliche Ansatz lieber gänzlich erlassen wurde: so ging die ganze Operation immer in gleicher Ordnung fort, ließ sich immer gleichsam mit Einem Blicke übersehen, und war von allen nachteiligen Folgen einer verwickeltern Art von Einrichtung frei.«

»Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »es wäre sehr viel über diese Sache zu sprechen. Simplizität ist in allen mechanischen Veranstaltungen eine schöne Eigenschaft. Aber Tifans Finanzeinrichtung setzt etwas voraus, welches sich nirgends als in einem idealen Staate voraussetzen läßt. Wenn nicht alle seine Kontribuenten und Einnehmer die ehrlichsten Leute von der Welt waren, so wollte ich ihm keinen küpfernen Baham um seine ganze Operation gegeben haben.«

»In der Tat«, erwiderte Danischmend, »ist Tifans ganze Gesetzgebung und Staatsverwaltung auf die Sitten gebaut; aber man muß auch gestehen, daß er nichts unterlassen hat, um seinen Untertanen Sitten zu geben. Liebe zum Vaterlande, zu den Gesetzen, zur Ordnung, waren Tugenden, zu welchen die Scheschianer unter seiner Regierung von Kindheit an gebildet wurden. Die Verbindung des Begriffs der Ehre mit der genauesten Erfüllung jeder bürgerlichen Pflicht, und des Gefühls der Schande mit jeder Unterlassung derselben wurde ihnen zuletzt so natürlich und mechanisch, daß der gemeinste Mann, im Notfall, sich lieber etwas von seiner Nahrung entzogen als der Schande sich ausgesetzt hätte, zur Entrichtung des Beitrags, den er dem Staate schuldig war, mit Gewalt angehalten zu werden. Was die Einnehmer der Staatseinkünfte betrifft, so wurden sie aus einer Klasse gezogen, bei welcher das Gefühl der Ehre eine vorzüglich starke Triebfeder ist. Aber wenn es [272] auch bei einigen weniger wirksam gewesen wäre, so war es, nach Tifans Einrichtung, nicht leicht sich einer Untreue schuldig zu machen, und sehr schwer unentdeckt zu bleiben. In diesem Falle wartete eine äußerst schimpfliche Strafe auf sie; und so wie Tifan die Scheschianer gewöhnt hatte, gab es wenige, welche nicht lieber das Leben als ihre Ohren hätten verlieren wollen.

Es ist vielleicht niemals eine Monarchie gewesen, worin die Untertanen der Schatzkammer weniger bezahlt hätten, als die Scheschianer unter Tifan und seinem ersten Nachfolger. Aber der Hauptgrundsatz, worauf dieser Fürst seine Staatsökonomie gründete, war: Der höchste Wohlstand eines so großen Staates als der scheschianische hange von der möglichsten Bevölkerung ab; die möglichste Bevölkerung von derLeichtigkeit Unterhalt zu finden; diese von dem möglichst geringen Preise aller Erfordernisse des Lebens; und das letztere zu erzielen, hielt er für das einfachste Mittel, die Abgaben des Volkes so leicht zu machen als möglich, die unentbehrlichsten Lebensmittel hingegen auf einen festen Preis zu setzen, welchen die Eigentümer der Ländereien, ohne ausdrückliche Bewilligung des Königs und der Stände, nicht erhöhen durften.

Während der Regierungen Azors und Isfandiars hatten die Scheschianer, unter unzähligen Titeln und Rubriken, welche zu unzähligen Bedrückungen des Volkes Anlaß gaben, nach und nach vierzig, dann funfzig, und zuletzt sechzig bis siebzig vom Hundert ihres jährlichen Einkommens oder Verdienstes abgeben müssen. Tifan schaffte alle diese Rubriken ab. ›Ein Fürst‹, sagte er, ›der alles, was seine Untertanen besitzen, für sein Eigentum ansieht, mag wohl vonnöten haben, auf Kunstgriffe zu denken, wie er sich desselben auf die unmerklichste Art bemächtigen wolle; und freilich ist ein Unterschied, ob ich einen Körper durch kleine aber oft widerholte Ausleerungen langsam abmergele, oder ob ich ihm sein Blut auf Einmal abzapfe: aber am Ende erfolgt in jenem Falle was in diesem; ein wenig Zeit ist alles was man dabei gewinnt. Nach meinen Grundsätzen‹ (fügte er hinzu) ›ist die Frage niemals, was ist des Hofes Interesse? Aber, wenn ich auch, wie Isfandiar, alle Einwohner von Scheschian mit den Rindern und Schafen auf den Triften meiner Kammergüter in die nämliche Klasse setzte, so müßte ich dennoch anders mit ihnen verfahren als Isfandiar. Bin ich mit hunderttausend Untertanen, deren jeder mir, ohne sich zu entkräften, dreimal so viel geben könnte, als ich von ihm fordre, nicht unendliche Mal reicher als mit funfzigtausend Bettlern, die mir endlich nichts mehr zu [273] geben haben, als die Haut die noch um ihre marklosen Knochen hängt?‹

Außer den besagten Personal- und Vermögenssteuern hatte die Schatzkammer in Scheschian keine Einkünfte. Alle Zölle auf ein- und ausgeführte Waren waren mit Tifans wirtschaftlichen Begriffen unverträglich. Getreide und andere Naturalien, oder unverarbeitete Waren in fremde Länder auszuführen, war bei angemeßnen Strafen verboten: denn der erstern hatte ein so weitläufiger und volkreicher Staat wie Scheschian für sich selbst vonnöten, und ohne die äußerste Verarbeitung aller möglichen Produkte der Natur würde es unmöglich gewesen sein, ein unzählbares Volk hinlänglich zu beschäftigen. Hingegen konnte, seiner Meinung nach, ein Zoll auf die ausgeführten verarbeiteten Waren zu nichts dienen, als die Manufakturen und den Handel zu kränken und zu hemmen, welche doch von einer weisen Regierung auf alle nur ersinnliche Art aufgemuntert werden. Auf der andern Seite blieb die Einführung fremder verarbeiteter Waren aus einem doppelten Grunde frei: erstens, weil die scheschianischen wohlfeiler und besser waren; und dann, weil Tifan die begüterten Scheschianer durch ein solches Verbot nicht unnötiger Weise zum Ungehorsam reizen wollte. Die Einführung aber solcher rohen Waren, an welchen sein Land Mangel hatte, mit Abgaben zu belegen, hielt er für unschicklich, weil es vorteilhafter war, sie zum Behuf der einheimischen Manufakturen und Gewerbe auf alle mögliche Weise zu begünstigen. Endlich hatte Tifan noch einen vortrefflichen Grund für die Abschaffung aller Arbeiten von Abgaben, außer der einzigen monatlichen Steuer; und dieser war – weil der Staat ihrer nicht vonnöten hatte. Denn zu allen gewöhnlichen Ausgaben reichten die ordentlichen Einkünfte zu; und bei außerordentlichen Erfordernissen waren die Stände bereit, dem König alles zu bewilligen was er nötig haben konnte.«

»Tifan hatte doch auch ein Kriegsheer?« fragte Schach-Gebal.

»Die nötige Beschützung eines so weitläufigen Reiches erforderte nicht weniger als ein stehendes Heer von zweimal hunderttausend Mann, welche gut diszipliniert und besoldet waren, aber ihren Unterhalt, wie billig, dem Staate durch die friedsamen Dienste abverdienten, wozu sie sich (da ein ununterbrochener Friede ihre Arme zur Verteidigung desselben unnötig machte) gebrauchen lassen mußten. Landstraßen, dergleichen man erst in spätern Zeiten unter der Römer Herrschaft wieder sah, schiffbare Kanäle zum Vorteil des einheimischen Handels, abgeleitete Flüsse, ausgetrocknete [274] Sümpfe, ausgestockte Wälder und dergleichen, waren die rühmlichen Beweise, daß Tifan wußte, wozu zweimal hunderttausend starke, wohl genährte Müßiggänger brauchbar sind.«

»Abermal ein Notabene in Eure Schreibtafel gemacht, Herr Danischmend«, sagte der Sultan. »Man lernt doch immer etwas, woran man nicht gedacht hatte. Dieser Tifan war wirklich ein Mann, wie – ich einen Minister haben möchte!«

»Außerdem machte er« –

»Gut, gut«, rief der Sultan: »er hat die Miene noch sehr viel gemacht zu haben; aber für heute genug!«

13
13.

Danischmend hatte sich vorgesetzt, den Sultan seinen Herrn das nächste Mal noch mit verschiedenen Anordnungen Tifans, die sich auf die Staatswirtschaft in Scheschian bezogen, zu unterhalten: aber Schach-Gebal, dem, sobald er ihn ansichtig wurde, die zweimal hunderttausend starke wohl genährte Müßiggänger wieder zu Kopfe stiegen, ließ ihm keine Zeit dazu. »Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »bei Gelegenheit der Müßiggänger, von welchen gestern die Rede war – was machte wohl mein guter Bruder Tifan mit der ungeheuern Menge von Ya-faou, die, wenn ich mich noch recht erinnere, unter dem schwachen Azor das Land ausfressen halfen? Und was wurde aus denblauen und feuerfarbnen Bonzen überhaupt? Ihr wißt, ich interessiere mich für die guten Leute, und ich will keinen Augenblick länger über ihr Schicksal in Ungewißheit schweben.«

»Eh ich Ihre Hoheit über die erste Frage befriedigen kann«, war Danischmends Antwort, »muß ich bemerken, daß eine von Tifans ersten Sorgen war, die Bewohner seines Staates zu klassifizieren, und sowohl die Pflichten als die Gerechtsamen einer jeden Klasse genau zu bestimmen. Ein großer Teil seines Gesetzbuches ist mit diesem wichtigen Gegenstand angefüllt. Die Landleute, das ist, alle, die sich mit dem Feldbaue, der Viehzucht, und irgend einem andern zur Landwirtschaft gehörigen Teile hauptsächlich beschäftigten, machten den größten Teil der ersten Klasse aus. Sie genossen der Ehre, daß der König selbst zu ihrer Zunft gehörte, indem er, zum öffentlichen Zeichen, daß der Bauerstand, als die wahre Grundlage der ganzen bürgerlichen Gesellschaft, vorzüglich ehrenwert sei, jährlich an einem der ersten Frühlingstage in eigener Person einen Baum pflanzte, und ein Stück Feldes ackerte. Dieser [275] Tag, mit welchem alle Feldarbeiten in Scheschian angefangen wurden, war einer ihrer höchsten Festtage, und der oberste Vorsteher jedes Ortes durch das ganze Reich war verbunden an demselben das nämliche zu tun was der König, dessen Person er bei dieser feierlichen Handlung vorstellte. Die Landleute in Scheschian genossen durch Tifans Gesetzgebung aller Vorzüge frei geborner Bürger: und wiewohl sie großen Teils eine Art von Pachtern der Edelleute oder des Königs selbst waren; so machten sie doch durch die Befreiung von aller willkürlichen und tyrannischen Gewalt, und durch die Mäßigkeit der Abgaben, die sie dem Staat und ihren Grundherren zu entrichten hatten, ohne Zweifel die glücklichste Klasse der Einwohner von Scheschian aus; besonders in einigen Provinzen, wo ein milderer Himmel den Geist der Freude und der sanfteren Gefühle über das Landvolk ausgegossen hatte, und die ungemeine Fruchtbarkeit der Natur ihre Arbeiten beinah in Spiele verwandelte.

Die zweite Klasse, die aus allen den Bürgern bestand, welche sich mit den Handwerken und mechanischen Künsten beschäftigten, und in den Flecken und Städten ihren eigentlichen Sitz hatten, war zwar, besserer Ordnung wegen, in so viele besondere Zünfte, als es verschiedene Arten der mechanischen Künste und Hantierungen gibt, abgeteilt: aber alle alteGebräuche oder Gesetze, welche die Ausübung derselben mit einem Zwange belegten, der das Talent fesselte, den Fleiß niederschlug, und den Fortgang der Kunst hemmte, fanden eben so wenig Schutz bei Tifan als die anmaßlichen Freiheiten, wodurch jedes Handwerk ehmals ein kleiner Staat im Staate und berechtiget gewesen war, alle übrige Bürger nach Gefallen zu bedrücken. Tifans hauptsächliches Augenmerk bei der Polizei dieser Klasse war, auf der einen Seite den Vorteil zu erhalten, daß alle Arten von Manufakturen so gut als möglich gearbeitet, zugleich aber auch ihrer Verfeinerung gewisse Schranken gesetzt würden. Der Luxus verwandelt unvermerkt die Handwerke, welche ganz allein, oder doch hauptsächlich zur Verfertigung der unentbehrlichsten Bequemlichkeiten bestimmt sind, in schöne Künste; der Grobschmied, der Schlösser, der Tischler, wird durch ihn zum Nebenbuhler des Goldarbeiters, des Bildschnitzers, des Malers usf. Die Künste arten aus; das Nützliche wird dem Schönen, das Zweckmäßige dem Launischen der Mode, die einfältige Zierlichkeit der Formen einer übertriebenen Feinheit der Ausarbeitung aufgeopfert. Diese Üppigkeit der Künste unterhält den Luxus, der sie ausbrütete, und die Kunst selbst gerät in Verfall. Tifan, in dessen Augen der Luxus ein auszehrendes Fieber für jeden Staat war, ließ [276] sich nicht daran genügen, alle Künste, welche keinen andern Zweck noch Nutzen als die Beförderung des Müßiggangs und der Üppigkeit haben, aus Scheschian zu verbannen; er bemühte sich auch die Ausartung derjenigen, welche nützlich und unentbehrlich waren, zu verhindern; und eine Frucht dieses Zweiges seiner Polizei war, daß man alle Arten von Hausgeräte, Werkzeuge, Eisen- und Stahlarbeit, Wollen- und Seiden-Manufakturen, und selbst solche Verarbeitungen, welche bloß zur Pracht und Zierlichkeit dienen, nirgends weder besser noch in geringerm Preise haben konnte als in Scheschian. Die Scheschianischen Künstler lernten die innere und wesentliche Güte mit dem Schönen und Gefallenden vereinigen; und daher erhielten sich ihre Arbeiten auch außer Landes lange Zeit in dem Besitz eines Vorzugs, den ihnen keine andre Nation streitig machen konnte.

Die dritte Klasse« – –

»Bestand sie aus Bonzen und Ya-faou?« fiel Schach-Gebal ungeduldig ein –

»Nein, Sire« – –

»So erweise mir den Gefallen«, sagte der Sultan, »und springe über sie weg, und über alle andre, so viel ihrer noch sein mochten, mit deren Polizei du mich hier sehr unnötiger Weise aufhältst, während daß ich ganz andre Dinge wissen will. In welcher Klasse waren die Ya-faou? – Dies ist der große Punkt!«

»Die Wahrheit zu sagen, gnädigster Herr, in gar keiner Klasse«, versetzte Danischmend: »und der Grund, warum Tifan für nötig, oder wenigstens fürsehr nützlich hielt, sie aus dem Verzeichnisse der Geschöpfe die in Scheschian geduldet wurden (dennBürger waren sie nie gewesen), auszulöschen, scheint in der Tat nicht unerheblich. ›Ein Staat‹ (sagt er in seinem Gesetzbuche) ›kann mit nichts füglicher verglichen werden als mit einer großen Pflanzung. Diese besteht aus einer Menge von allerlei Arten von Gewächsen, Bäumen, Stauden, Blumen, Kräutern und Gräsern. Einige Bäume geben Bauholz, andere dienen zum Brennen, andere zu Verfertigung allerlei nötiger Gerätschaft; andere tragen Früchte zur Erfrischung des Menschen, andere Speise für das Vieh. Einige Pflanzen dienen zur Nahrung, andere zur Arznei, viele nützen bloß zum Vergnügen; sie ergetzen das Auge und den Geruch; ein schlechtes Kräutchen verbirgt oft unter einer unscheinbaren Gestalt die herrlichsten Kräfte. Alles was zum Nutzen oder zur Verschönerung der ganzen Pflanzung etwas beiträgt, hat seinen Wert, und wird ein Gegenstand der aufmerksamen Sorgfalt des Besitzers. Aber Unkraut und Trespe, und schmarutzerische Pflanzen, welche bloß [277] darum sich um die nützlichen Gewächse herum winden, um ihnen die besten Nahrungssäfte zu entziehen, kurz, alles was nicht nur an sich selbst zu nichts taugt, sondern im Gegenteile durch seine Ausbreitung das Wachstum und die Vermehrung der nützlichen Gewächse hemmet, wird sorgfältig ausgerauft, und bis auf die kleinsten Fäserchen seiner Wurzeln ausgerottet. Eben so verhält es sich mit einem wohl geordneten Staate. Ein Teil der Bürger beschäftiget sich die übrigen zu nähren, ein andrer sie zu bekleiden, ein dritter ihre Wohnungen zu erbauen, ein vierter sie mit tausend nötigen Gerätschaften und Bequemlichkeiten zu versehen, ein fünfter den Umsatz und Vertrieb dieser Dinge zu erleichtern; einige dienen dem gemeinen Wesen mit ihren Händen, andre mit ihrem Kopfe, andre sogar mit ihrem Blut und Leben. Verschiedene, wenn sie auch keine andere Kunst gelernt haben, besitzen wenigstens die Gabe ihren Mitbürgern Vergnügen zu machen. Alle diese Arten von Einwohnern sind dem gemeinen Wesen entweder unentbehrlich oder doch zu irgend etwas gut: aber wozu ein Ya-faou, in so fern er ein Ya-faou ist, gut sei, dies‹, sagt Tifan, ›habe ich mit allem Nachsinnen nicht heraus bringen können. Ich sehe alle Plätze, worin man dem Staate Dienste leisten kann, schon besetzt; und indem ich alle mögliche Arten von Bedürfnissen überzähle, find ich keines, worauf der Stand der Ya-faou sich bezöge. Vielleicht mögen sie zu einer Zeit, da die Scheschianer, noch zwischen Wildheit und Barbarei schwebend, an Vernunft und Sitten wenig besser als die übrigen Tiere waren, vielleicht mögen sie damals einigen zweideutigen Nutzen geleistet haben. Aber diese elenden Zeiten, wo die Verwilderung und Abwürdigung der menschlichen Natur groß genug war, um die Dienste der Ya-faou vonnöten zu haben, sind, Dank sei dem Himmel, vorbei. In dem angebauten, gesitteten, aufgeklärten und polizierten Scheschian müssen sie entweder, gleich müßigen Hummeln, verdienstlos die Früchte des Fleißes der arbeitsamen Bürger verzehren, oder, wenn sie etwas tun wollten, würde ihre Geschäftigkeit schädlicher als ihr Müßiggang sein. Der größte Teil von ihnen hat durch seine rohe Unwissenheit, durch die Verachtung und Verunglimpfung alles dessen was ein Mittel zur Verbesserung des Nationalzustandes werden konnte, durch die eifrigste Beförderung des Aberglaubens, der Dummheit und einer knechtischen Unterwürfigkeit der Geister unter das Joch sinnloser Vorurteile, den Fortgang alles Guten in Scheschian gehemmt; ihre Grundsätze, ihr Beispiel und ihre Bemühungen vereinigten sich, dem gesunden Menschenverstande, der Tugend und den Sitten auf ewig den Zutritt in dieses unglückliche[278] Land zu versperren; – – und Tifan sollte sie dulden? Nein, bei allem was heilig und gut ist! Sie sollen verschwinden aus unsern Grenzen, und ihre Stätte soll nicht mehr gefunden werden! – Aber‹ (setzt der weise und menschenfreundliche Gesetzgeber hinzu) ›verhüte der Himmel, daß, indem wir die ganze Gesellschaft der Ya-faou zum Nichtsein verdammen, wir gegen die einzelnen Mitglieder derselben ungerecht sein sollten! Ohne Zweifel gibt es Männer von Verdiensten, eines bessern Namens und Platzes würdige Männer, unter ihnen, würdig des Schutzes der Gesetze und der Achtung ihrer Mitbürger, denen sie nützlich zu sein eben so fähig als willig sind. Fern sei es von uns, diese Rechtschaffenen das Schicksal oder die Zusammenkettung von Zufälligkeiten, wodurch sie unter die Ya-faou sich verirret haben, entgelten zu lassen! Sie sollen aus einer Gemeinschaft, die ihrer so unwürdig ist, heraus gehoben, und in einer Gestalt, worin sie den übrigen Bürgern von Scheschian ähnlich sehen, an Plätze gestellt werden, wo sie ihre Fähigkeiten und Tugenden ungehindert, unverfolgt vom Neid und von der Dummheit ihrer Mitbrüder, in völliger Tätigkeit zum gemeinen Besten anwenden können. Auch den übrigen, wofern sie lieber in die Zahl der guten Bürger zurückkehren, als sich freiwillig aus ihrem Vaterlande verbannen wollen, soll der Eintritt in irgend eine für sie schickliche Klasse unbenommen sein. Es soll ihnen frei stehen, ob sie den Karst, oder die Axt, oder den Hammer ergreifen, ob sie graben, weben oder spinnen wollen; wozu uns immer die Stärke ihrer Gliedmaßen oder die Beschaffenheit ihres Geistes sie am tüchtigsten macht. Aber Bürger sollen sie sein, und gute Bürger, oder Scheschian hat weder Luft noch Erde für sie!‹«

»Danischmend«, rief der Sultan in völliger Entzückung, »laß deine erste Sorge sein mir das Bildnis dieses unvergleichlichen Mannes zu verschaffen. Dies nenn ich einen König! Ich muß schlechterdings sein Bildnis haben. Ich will es in allen ersinnlichen Größen und Stellungen malen lassen; es soll in allen meinen Zimmern stehen; es soll mir aus Marmor gehauen und von Golde gegossen werden; ich will es in meinem Ring und in meiner Beteldose tragen; ich will es auf meine Kleider sticken und sogar in meine Schnupftücher wirken lassen« –

»Vortrefflich«, dachte Danischmend; »und noch besser wär es, wenn Ihre Hoheit den Mut hätten, selbst ein Tifan zu sein.«

»Der anbetenswürdige Mann!« rief Schach-Gebal von neuem. – »Aber wie gebärdeten sich die armen Ya-faou dabei? Gab es keine Bewegungen zu ihrem Vorteil? Es soll mich sehr wundern, wenn [279] Tifan eine so schwierige Unternehmung ohne gewaltsame Erschütterung des Staats ausführen konnte.«

»Er hatte seine Maßregeln so gut genommen«, sagte Danischmend, »daß die Aufhebung des ganzen Ordens nicht mehr Bewegung machte, als wenn alleRaupennester in Scheschian auf Einen Tag vernichtet worden wären. Alles war dazu vorbereitet. Die Klassifikation aller Einwohner des Reiches war gemacht, und einer jeden Klasse ihr gehöriger Rang und ihr eigener Kreis der Wirksamkeit angewiesen. Die Scheschianer fingen itzt von selbst an, die Betrachtung zu machen, daß die Ya-faou entbehrliche Leute sein könnten; und nun war es leicht, sie nach und nach auf die Bemerkung zu bringen, daß diese entbehrlichen Geschöpfe nicht nur sehr beschwerlich, sondern wirklich sehr schädlich wären. Die Verachtung, welche sie schon seit den Zeiten Azors und Isfandiars drückte, erleichterte die natürliche Wirkung aller dieser Bemerkungen. Kurz, die Nation wurde gewahr, daß das, womit sie so lange gebunden gewesen, keine Fesseln, sondern nur eine Menge einzelner Faden waren: indem man einen nach dem andern entzwei riß, fand sich – zu allgemeiner Verwunderung – daß man frei war; und nun erstaunte man erst, wie man so lange hatte warten können, sich selbst diese Erleichterung zu verschaffen.«

»Freund Danischmend«, sprach der Sultan, »so ein weiser Mann du bist, so wollt ich doch wetten, daß du dir nicht einfallen lässest, wie viel das was du eben sagtest, zu bedeuten hat?«

»Ich dächte doch«, wollte der Philosoph zu antworten anfangen, wenn ihm Schach-Gebal Zeit gelassen hätte – –

»Alles was du willst, Danischmend; aber gewiß nicht, daß dir diese Bindfaden, die du mich zerreißen gelehrt hast, die Stelle meines Itimadulet eintragen würden? Sultanin«, fuhr Seine Hoheit zu der schönen Nurmahal fort; »ich bin schon seit etlichen Wochen in Verlegenheit, den Mann zu finden, der für einen so wichtigen Platz gemacht ist: und nun geht es mir gerade wie den Scheschianern; mich wundert, wie ich nicht schon lange gewahr wurde, daß er bereits gefunden ist.«

»Ihre Hoheit hätten keine Wahl treffen können, welche Ihrer Regierung mehr Ehre machte«, erwiderte die Sultanin.

»Beim großen Propheten«, rief Danischmend, indem er dem Sultan zu Füßen fiel: »ich beschwöre Ihre Hoheit, zu bedenken was Sie tun wollen! Ich –Itimadulet? Ich zittre vor dem bloßen Gedanken. Machen Sie mich zu allem andern, zum Aufseher über Ihr Schmetterlingskabinett, oder zum Vorsteher Ihrer Akademie, oder [280] zum Vorsteher – Ihrer Truthühner, wofern ich ja ein Vorsteher sein soll; zu allem in der Welt, nur nicht zum Itimadulet! Ich sehe den ganzen Umfang eines solchen Amtes zu sehr ein« – –

»Närrischer Mensch«, rief der Sultan, »eben darum sollst du es haben! Du hast meinen Willen gehört; morgen stell ich dich im Divan vor, und kein Wort weiter!«

14
14.

Die Welt wird durch so wenig Weisheit als nur immer möglich ist, oder, um uns gelehrt auszudrücken, durch ein Minimum von Weisheit regiert. – Dies ist ein Satz, der von Nimrod und seinem Itimadulet an bis auf diesen Tag, durch eine ununterbrochene Überlieferung von einem Sultan und Itimadulet auf den andern fortgepflanzt worden sein soll, und der (wofern er so richtig ist als diejenigen, die es am besten wissen können, behaupten) vermöge des berühmten Grundsatzes der möglichsten Ersparung, in der Tat beweisen würde, daß die Welt unverbesserlich regiert werde. In der Tat gehen die Kenner so weit, uns zu versichern: Wenn es auch zuweilen begegne, daß einEpiktet unter dem Namen Antoninus ein Imperator, oder unter dem Namen Thomas Morus ein Großkanzler werde; so lehre die Erfahrung, daß, trotz aller Weisheit dieser vortrefflichen Männer, die Sachen in der Welt gleichwohl nicht merklich besser gingen als unter den gewöhnlichen Imperatoren und Großkanzlern; zum offenbaren Beweise, daß eine gewisse Fatalität, welche aller menschlichen Weisheit zu stark ist, die Umstände und mitwirkenden Ursachen so fein zu verbinden wisse, daß die Weisheit der besagten Epiktete immer, oder doch meistens – wie eine Kugel, die durch den unterwegs erlittenen Widerstand entkräftet worden – wenige Schritte vor dem Ziele matt und kraftlos zu Boden sinke, und also am Ende dennoch das oben bemeldete Minimum heraus komme, welches nach den Gesetzen und dem ordentlichen Laufe der Natur hinlänglich ist, die Welt im Gange zu erhalten.

Dieses vorausgesetzt wird man es wenigstens nicht ganz unbegreiflich finden, daß der neue ItimaduletDanischmend – ungeachtet er, die Wahrheit zu sagen, von allen zu diesem hohen Amte erforderlichen Eigenschaften, die Gutherzigkeit und Aufrichtigkeit ausgenommen, wenig oder nichts besaß, und (wie unsre scharfsichtigen Leser bemerkt haben werden)von der Regierungskunst nicht viel mehr verstand als ein Blinder von [281] Farben – mit Hülfe seines guten Genius und des Zufalls gleichwohl seine Rolle ganz erträglich spielte, und sie vielleicht mit der Zeit wohl gar vortrefflich zu spielen gelernt haben würde, wenn die Derwischen und Bonzen (die sich's nicht aus dem Kopfe bringen ließen, daß er böse Absichten wider sie im Schilde führe) nicht Mittel gefunden hätten, ihn dem Sultan seinem Herrn verdächtig zu machen. In der Tat geschah dem ehrlichen Danischmend Unrecht: denn niemand konnte von irgend einer übeltätigen Absicht gegen sie entfernter sein als er; er, der den bloßen Schatten des Unrechts tödlich verabscheuete, und nicht fähig gewesen wäre, den geringsten unter allen Fakirn ohne Regungen der Menschlichkeit leiden zu sehen. Aber bei diesen Herren war es eine ausgemachte Sache, daß ein Mann, der sie gern zu bessern Leuten machen wollte, als sie zu sein Lust hatten, ihr geschworner Feind sei: 44 und da sie unter Schach-Gcbals Regierung einen desto größern Einfluß hatten, je abgeneigter ihnen der Sultan war; so war es noch immer viel Glück für den guten Danischmend, daß er mit dem Verlust seiner Ehrenstelle und einer kleinen Entschädigung davon kam, die ihn in den Stand setzte, in seinen alten Tagen, fern vom Hofe und vom Geräusche des geschäftigen Lebens, seinen Betrachtungen über eine Welt, die ihn vergessen hatte, nachzuhängen, und oft bei sich selbst, so herzlich als Demokritus, zu lachen, wenn er sich an alles, was er gesehen hatte, erinnerte; besonders wenn ihm wieder einfiel, daß er Hofphilosoph bei Schach-Gebal, Aufseher über die Bonzen und über das königliche Theater, Biograph der Könige von Scheschian, und, was das Lustigste unter allen war, etliche Monate lang sogar Itimadulet von Indostan gewesen war.

Wir hoffen, Freund Danischmend werde sich durch seine Betrachtungen, durch die Episode von demEmir und den Kindern der Natur, und durch den guten Willen, der aus seiner Erzählung von den Königen in Scheschian allenthalben hervorsticht, dem geneigten Leser schon so wohl empfohlen haben, daß diese kleine Abschweifung, wozu er uns veranlaßt hat, keiner Abbitte vonnöten haben werde. Und so lenken wir ohne weiteres wieder in den Weg unsrer Geschichte ein.

Die Beförderung des weisen Danischmend zum ersten Minister machte keine Veränderung in seinem Amte, den Schlaf des Sultans seines Herrn durch Erzählung der Denkwürdigkeiten von Scheschian [282] zu befördern. Die Geschichte der von Tifan ausgeführten Staatsverbesserung wurde also bei der ersten Gelegenheit wieder vorgenommen; und da Schach-Gebal nochmals sein Verlangen äußerte, zu hören wie es den blauen und feuerfarbnen Bonzen dabei ergangen sei, so befriedigte Danischmend seinen Willen durch folgenden Bericht.

»Die Grundsätze und die gereinigten Empfindungen, welche der weise Dschengis seinem Pflegesohn über den erhabensten Gegenstand, der die menschliche Seele beschäftigen kann, über die Religion, beigebracht hatte, lassen nicht weniger erwarten, als daß Tifan, sobald er den öffentlichen Ruhestand im Reiche hergestellt und die dringendsten Angelegenheiten desselben besorgt hatte, sich mit allem Eifer einer aufgeklärten Frömmigkeit dazu verwendet haben werde, den Völkern von Scheschian, statt des elenden Aberglaubens worin sie seit so vielen Jahrhunderten von ihren Priestern unterhalten worden waren, eine vernünftige und dem wahren Besten der Menschheit angemessene Religion zu geben; und man muß gestehen, daß er hierin alles getan hat, was man billiger Weise von einem Gesetzgeber fordern kann, dessen Schuld es nicht war, etliche tausend Jahre vor der Geburt unsers großen Propheten in die Welt gekommen zu sein.

Um zu seinem Zwecke zu gelangen, mußte er zwei große Dinge zu Stande bringen, – den Aberglauben vernichten, der noch immer dem größern Teile seines Volkes in dem feuerfarbnen oder in dem blauen Affen den geheiligten Gegenstand einer verjährten Anbetung zeigte; – und schickliche Mittel finden, die Scheschianer an würdige Begriffe von dem höchsten Wesen und an einen vernünftigen Gottesdienst zu gewöhnen. Beides würde manchem andern Regenten unendlich schwer und vielleicht ganz unmöglich gefallen sein. Aber Tifan, der in dieser wichtigen Sache ohne Nebenabsichten, nach Grundsätzen die aus der tiefsten Kenntnis des Menschen geschöpft waren, und nach einem durchdachten Plane, langsam, aber anhaltend und standhaft verfuhr, Tifan erreichte seinen Zweck, und – was in einem Geschäfte dieser Art das Außerordentlichste ist, aber die natürliche Folge seines klugen Verfahrens war – erreichte ihn, ohne daß eine so große Veränderung die geringste Erschütterung im Staate verursacht, oder irgend einem Scheschianer einen Tropfen Blut gekostet hätte.

Der erste Schritt, den er zu diesem Ende tat, war eine Verordnung, in welcher beide Teile, Blaue undFeuerfarbne, zum Frieden und zu gegenseitiger Duldung angewiesen wurden. Tifan schilderte darin [283] mit wenigen aber starken Zügen den Abgrund von Elend, worein die Nation unter Azorn und Isfandiarn durchschwärmerischen Eifer und unduldsame Grundsätze gestürzt worden. Er stellte den Geist der Verfolgung in seiner ganzen abscheulichen Ungestalt dar: er führte an, daß die Begriffe der Menschen weder von ihrer eigenen Willkür noch von den Befehlen eines Obern abhangen; daß Irrtum niemals ein Verbrechen sei; daß kein Mensch, kein Priester, keine Obrigkeit in der Welt ein Recht haben könne, andere zu zwingen, ihrer Überzeugung und ihrem Gewissen zuwider zu handeln; und daß der Weg des sanftesten Unterrichts und eines guten Beispiels der einzige sei, auf welchem Verirrete in die Arme der Wahrheit und der Tugend zurück geführt werden können. Diesen Grundsätzen zu Folge versicherte er nicht nur beiden Teilen seinen königlichen Schutz für die ungekränkte Ausübung desjenigen Gottesdienstes, zu welchem sie sich in ihrem Gewissen verbunden hielten; sondern gewährte auch einem jeden, welcher itzt oder künftig von der besten Art das höchste Wesen zu verehren andere Begriffe hegen würde, als diejenigen welche bisher in Scheschian geherrschet hätten, aus gleichem Grunde völlige Freiheit, hierin seinem Gewissen zu folgen: indem er sich ein- für allemal erklärte, daß alle Meinungen, welche mit der Ruhe des Staats und mit den guten Sitten nicht unverträglich wären, sich seines Schutzes auf gleiche Weise zu erfreuen haben sollten.

Von dieser allgemeinen Duldung waren diejenigen allein ausgenommen, welche unglücklich genug sein sollten, sich verbunden zu glauben, die Duldung, welche sie für sich selbst verlangten, niemandem, der anders dächte als sie, angedeihen zu lassen. ›Solche allein‹, sagt Tifan, ›sprechen sich ihr Urteil selbst: indem sie ihre störrige Unverträglichkeit öffentlich zu Tage legen, beweisen sie auf die unleugbarste Weise ihre gänzliche Unfähigkeit zum geselligen Leben. Ferne sei es gleichwohl von uns, sie, die durch eine solche Denkungsart schon elend genug sind, mit einiger Strafe an Vermögen, Ehre, oder Freiheit deswegen zu belegen! Aber daß wir sie für Glieder unsers gemeinen Wesens erkennen, dies können sie ohne offenbare Unbilligkeit nicht erwarten. Sie mögen, so viel ihrer sind, ohne einige Bedrückung von uns und unsern Untertanen, mit Hab und Gut aus unsern Grenzen ziehen, und sich Wohnungen suchen wo sie wollen. Aber in Scheschian kann und soll niemand geduldet werden, der nicht bereit ist seinen Nebenmenschen und Mitbürgern alles Gute zu erweisen, was er will daß sie ihm erweisen sollen.‹« [284] »Itimadulet«, sagte Schach-Gebal, »die Verordnungen meines guten Bruders Tifan haben einen ganz eigenen Ton, der nicht der gewöhnliche Kanzleiton ist; aber ich dächte, daß dies der gute Ton ist. Er begnügt sich nicht zu befehlen; er überzeugt den Menschenverstand, daß seine Befehle gerecht und billig sind. Dies muß notwendig eine gute Wirkung tun.«

»Tifans Verordnung tat eine sehr gute«, versetzte Danischmend. »Sie bahnte ihm den Weg zu seinem großen Vorhaben, und setzte die Gemüter unvermerkt in die Fassung, Neuerungen, zu welchen ein Teil der Scheschianer ohnehin schon gestimmt war, ohne Widerwillen anzusehen.

Bald darauf ging er weiter. Er hatte, seitdem er in Scheschian lebte, unter den Bonzen und sogar unter den Ya-faou selbst nicht wenige angetroffen, welche besser dachten als die übrigen, und nicht ohne innerliche Beschämung sich als die niedrigen Werkzeuge betrachteten, wodurch Dummheit und Aberglauben in ihrem Vaterlande verewiget würden. Es kostete ihm wenig Mühe, alle Priester von diesem Schlage in kurzer Zeit zu seinem Vorhaben zu gewinnen; und nachdem er sich einmal einer ziemlichen Anzahl derselben völlig versichert hatte, konnte er sie ohne Bedenken den Anfang machen lassen, dem Volke stufenweise Begriffe beizubringen, von welchen man mit der Zeit eine heilsame Umstimmung der Gemüter hoffen konnte. Aber auch hier ging er mit aller der Vorsicht zu Werke, womit man verfahren muß, wenn man eingewurzelte Vorurteile ohne gewaltsame Mittel ausrotten will. Eine Zeit lang begnügte man sich, durch Unterricht in denjenigen Wahrheiten, die zum Glauben des Daseins und der Vollkommenheiten des höchsten Wesens und seines Verhältnisses gegen die Menschen leiten, und durch Verbindung dieser Wahrheiten mit einer gereinigten Sittenlehre, einen höhern Grad vonLicht und Wärme in die Seelen der Scheschianer zu bringen; und erst dann, da man gewahr wurde, daß sie über die Ungereimtheit ihres bisherigen Götzendienstes selbst betroffen zu sein anfingen, erleichterte man ihrer noch ungeübten Vernunft die Arbeit, und bewies ihnen geradezu, daß sie bisher irre geführt worden seien. Dieses konnte nun freilich ohne einige Bewegungen nicht geschehen. So unbegreiflich es einem jeden scheinen muß, der die Macht der Vorurteile nicht genugsam erwogen hat, so ist doch gewiß daß die beiden Affen noch immer Anhänger behielten, welche für ihre Erhaltung mit einem Eifer arbeiteten, der einer bessern Sache würdig war. Aber Tifan begnügte sich sie zu beobachten, und ihrem Eifer, sobald er die Schranken der Mäßigung überschreiten wollte, [285] durch die gelindesten Mittel Einhalt zu tun; hingegen trug er kein Bedenken, sie mit gleicher Unparteilichkeit gegen alle Störungen ihrer Gegner zu schützen: und anstatt daß dieses kluge Betragen den Fortgang der guten Sache gehemmt haben sollte, war es derselben vielmehr beförderlich; indem dadurch die Hindernisse unvermerkt aus dem Wege geräumt wurden, und, was bei einem andern Verfahren ein Werk des Zwanges oder einer schwärmerischen Hitze gewesen wäre, nun das langsam reifende, aber desto vollkommnere und dauerhaftere Werk der Überzeugung war.

Die Geschichtschreiber von Scheschian erwähnen bei dieser Gelegenheit eines geheimen Gottesdienstes, welchen Tifan, mit Hülfe der Priester seiner Partei, für alle diejenigen, welche sich geneigt erklärten den Dienst der beiden Affen zu verlassen, angeordnet habe. Sie drücken sich aber so dunkel über diese Sache aus, daß es unmöglich ist, etwas Genaues davon zu sagen. Alles was sich davon vermuten läßt, ist, daß dieser geheime Gottesdienst mit den Mysterien bei den Ägyptern und Griechen viele Ähnlichkeit, und zum hauptsächlichen Gegenstand gehabt habe, diejenigen, welche in dieselben eingeführt wurden, teils durch symbolische Vorstellungen, teils durchdeutlichen Unterricht, von der Eitelkeit des Götzendienstes zu überzeugen, und, vermittelst einer Art von feierlicher Verpflichtung auf die Grundwahrheiten der natürlichen Religion, zu besserer Erfüllung ihrer menschlichen und bürgerlichen Pflichten verbindlich zu machen. Insbesondere mußten die Eingeweihten eine allgemeine Sanftmut und Duldung der Irrenden, in Absicht alles andern aber, was sie bei diesen Mysterien gesehen und gehört hatten, so lange bis die Abgötterei aus Scheschian verschwunden sein würde, ein unverletzliches Stillschweigen angeloben. Diese Veranstaltung (sagen die Geschichtschreiber) wirkte mehr als alles übrige, die große Absicht des weisen Tifan zu befördern. Die Begierde, zu diesen Mysterien zugelassen zu werden, wurde nach und nach eine Leidenschaft bei den Scheschianern; und je mehr Schwierigkeiten ihnen dabei gemacht wurden, desto heftiger war das Verlangen, Anteil an einer Sache zu nehmen, die ihnen, durch die geheimnisvolle und feierliche Art womit sie behandelt wurde, von unendlicher Wichtigkeit zu sein schien. In der Tat mußte Tifan, indem er daran arbeitete, den Scheschianern die sinnlichen Gegenstände ihres bisherigen vermeinten Gottesdienstes zu entziehen, etwas anderes, welches ihre Sinne und ihre Einbildungskraft gehörig zu rühren geschickt war, an dessen Stelle setzen; und ich zweifle sehr, ob er in dieser Absicht auf ein zweckmäßigeres und [286] zugleich unschuldigeres Mittel hätte verfallen können. Vielleicht möchten seine Mysterien in der Folge diese letztere Eigenschaft verloren haben, wenn er nicht die Vorsicht gebraucht hätte, von dem Augenblick an, da der Dienst des höchsten Wesens in Scheschian der herrschende war, die Pflicht des Stillschweigens aufzuheben. Und glücklich wär es für dieses Reich gewesen, wofern er eben so viele Behutsamkeit in Bestimmung des Amtes der Priester gezeigt, und nicht durch eben dasjenige, wodurch er sie zu nützlichen Bürgern des Staates zu machen dachte, ihnen die gefährliche Gelegenheit gegeben hätte, in der Folge sich unvermerkt zu Herren desselben zu machen.«

»Ei, ei, ei!« sagte Schach-Gebal, den Kopf schüttelnd, »was höre ich! Wer hätte so etwas von einem Sultan wie Tifan vermutet!«

»In der Tat läßt sich nicht leugnen, daß ihn seine gewöhnliche Klugheit in diesem Stück ein wenig verlassen habe. Indessen kann gleichwohl zu seiner Entschuldigung dienen, daß es, in seinen Umständen, schwer war, es besser zu machen; und, wenn auch dies nicht zureicht, welcher Gesetzgeber hat Weisheit genug gehabt, jeden möglichen Mißbrauch seiner Anordnungen voraus zu sehen, und durch entgegen wirkende Mittel im Keime zu ersticken? Tifan hatte, aus erheblichen Gründen, den Bonzen die Mühe der öffentlichen Erziehung der Jugend abgenommen, und glaubte verbunden zu sein, sie dafür durch ein anderes Amt zu entschädigen, welches sie bei gebührendem Ansehen erhalten, aber zugleich in die Notwendigkeit setzen würde, gern oder nicht, das gemeine Beste zu befördern. Er bestellte sie also (wie ich neulich schon erwähnt zu haben glaube) zu öffentlichen Lehrern des Buchs der Pflichten und Rechte. Er glaubte den Gesetzen den Charakter der Unverletzlichkeit nicht tiefer eindrücken zu können, als indem er den Unterricht in denselben zu einem wesentlichen Teile des Gottesdienstes machte; und die nachteiligen Folgen, die von dieser Einrichtung etwa zu besorgen sein möchten, glaubte er verhütet zu haben, indem er im Gesetzbuche selbst die Priester gemessenst anwies, sich aller willkürlichen Auslegungen, Ausdehnungen oder Einschränkungen, so wie aller spitzfündigen Fragen und Unterscheidungen, gänzlich zu enthalten, und sich bloß auf die buchstäbliche Erklärung der Gesetze, auf eine ihrem Geiste gemäße praktische Anwendung derselben, und auf die Sorge einzuschränken, die Beweggründe zu ihrer getreuen Erfüllung dem Volke mit der rührendsten Beredsamkeit einzuschärfen. Kurz, nach seiner Vorschrift sollte das Gesetzbuch bloß der Text zum moralischen Unterrichte der Bürger sein. Aber, [287] da es schwer, wo nicht ganz untulich war, die Priester in eine physische Unmöglichkeit zu setzen, aus den ihnen vorgeschriebenen Grenzen heraus zu treten: so begab sich's (wiewohl sehr lange nach Tifans Zeiten), daß die Priester Mittel fanden, aus Lehrern des Gesetzes unvermerkt Ausleger, aus Auslegern Richter, und aus Richtern, zu großem Nachteile der Scheschianer, zuletzt selbst Gesetzgeber zu werden; – wie ich, wofern Ihre Hoheit an der Fortsetzung dieser Geschichte Gefallen tragen sollten, zu seiner Zeit umständlich zu erzählen die Ehre haben werde.

Indessen scheint Tifan alles dies, wenigstens einiger Maßen, vorausgesehen, und daher die Notwendigkeit empfunden zu haben, alle Glieder eines Ordens, der einen so wichigen Einfluß in den Staat hatte, so viel nur immer möglich, zu rechtschaffenen Bürgern zu bilden. Er wendete deswegen, nachdem er die Erblichkeit des Priesterstandes auf ewig aufgehoben hatte, eine ganz besondere Vorsorge auf die Erziehung der künftigen Priester; und seinen unverbesserlichen Anstalten ist es ohne Zweifel zuzuschreiben, daß er selbst noch in seinem Alter das Vergnügen hatte, eine Zucht von Priestern aus seiner Schule hervor gehen zu sehen, dergleichen die Welt vor ihm und nach ihm nur selten gesehen hat. Würdige Diener einer wohltätigen Gottheit, schienen sie keinen andern Wunsch zu kennen als Gutes zu tun. Die Wichtigkeit ihres Amtes erhob und veredelte ihren sittlichen Charakter, ohne sie aufzublähen; und das Beispiel ihres Lebens machte beinahe allen andern Unterricht überflüssig. Ihre Weisheit war bescheiden, sanft, herablassend; ihre Tugend unerkünstelt, ungefärbt und ohne hinterlistige Absichten, die Frucht der glücklichen Harmonie ihres Herzens mit ihrer Überzeugung; sie leuchtete andern vor ohne Begierde gesehen zu werden, und hatte der Folie eines gleisnerischen Ernstes nicht vonnöten. Menschenliebe und patriotischer Geist waren die allgemeine Seele ihres ganzen Ordens. Jedes gemeinnützige Unternehmen fand in ihnen seine eifrigsten Beförderer. Die sich selbst immer gleiche Heiterkeit ihres Geistes, die großen und edeln Gesinnungen wovon sie belebt waren, die Gewohnheit sich in einem von allen Sorgen des Lebens befreiten Zustande bloß mit Betrachtung der Wahrheit und Ausübung der Tugend zu beschäftigen, die Leichtigkeit, womit sie jede Pflicht ausübten, und der sittlicheReiz, der sich dadurch über ihr ganzes Leben ausbreitete, vereinigten sich, sie zu würdigen Lehrern der Nation, zu wahren Weisen, zu Vorbildern einer unverfälschten Tugend, zu Schutzgöttern der guten Sitten, und zu Gegenständen der allgemeinen Verehrung zu machen.« [288] »Itimadulet«, sagte Schach-Gebal, »schaffe mir solche Priester, und dann soll man sehen ob ich ein Feind ihres Ordens bin, wie boshafte Leute vorgeben! Du hast das Rezept, wie man sie machen kann; warum sollte in Indostan nicht möglich sein was in Scheschian möglich war?«

»Sire«, versetzte Danischmend, »was ich im Begriffe bin zu sagen, wird Ihrer Hoheit einer von den paradoxesten Sätzen scheinen, die vielleicht jemals von einem Philosophen behauptet worden sind; aber nichts desto weniger hat es seine völlige Richtigkeit damit. Sollten Ihre Hoheit wohl glauben, daß eben dieser vortreffliche Charakter der scheschianischen Priesterschaft in der Folge eine der wirksamsten Ursachen des Untergangs der Gesetzgebung Tifans wurde, und durch eine lange Reihe von Mittelursachen zuletzt den Untergang des ganzen Reichs beförderte?«

»Und wie kann dies zugegangen sein, Herr Danischmend?«

»Auf die natürlichste Weise von der Welt. Priester, die so weise, so rechtschaffen, so liebenswürdig waren, als diejenigen, welche Tifans Veranstaltungen hervorbrachten, mußten durch eine unfehlbare Notwendigkeit nach und nach zu einer Stufe von Ansehen gelangen, welche sie unvermerkt zu Meistern aller Herzen machte. Man beeiferte sich um ihre Freundschaft, man suchte ihren Umgang, man erbat sich ihren Rat, man unternahm endlich weder Großes noch Kleines ohne einen Priester beizuziehen. Sie wurden die Schiedsrichter aller Zwistigkeiten, die Ratgeber der Großen, und einige von ihnen stiegen durch den Ruf ihrer Tugend und ihrer Talente sogar zu den höchsten Würden des Reiches. Ich denke dies ist genug gesagt, das Rätsel auflöslich zu machen. Man weiß nun wie es weiter ging. – Die Priester von Scheschian waren Menschen – was wollen wir mehr?«

»Verzweifelt!« rief Schach-Gebal, indem er eine gewisse Miene von komischem Unwillen annahm, welche Seiner Hoheit nicht übel zu lassen pflegte: »man ist doch wirklich übel mit diesen Herren dran! Sind sie schlimm, so – sind sie es insgemein in einem so hohen Grade, daß man nicht weiß, wie man ihnen genug wehren soll; sind sie gut, so werden sie dem Staate durch ihre Tugenden gefährlich! In der Tat, ich wollte zu Gott – aber was hilft wünschen? Unentbehrlich sind sie nun einmal! – Denn, unter uns, Danischmend, ich habe mir schon mehr als Eine Nacht in meinem Leben mit Nachdenken verdorben, wie es anzufangen wäre, damit man sich für ihre ferneren Dienste ein- für allemal bedanken könnte: aber ich bin überzeugt daß nicht weiter daran zu denken ist; man kann ihrer eben so [289] wenig entübriget sein, als« – hier hielt der Sultan ein, und setzte nach einer langen Pause – nichts weiter hinzu.

»Ihre Hoheit wollen sagen, als aller andern Stände, von den Sultanen und ihren Visiren an bis zu den Wasserträgern und Holzhackern. Aber welche Klasse von Menschen kann lange das bleiben was sie seinsollte? Die Priester von Scheschian waren nicht die einzigen im Staate, welche nach und nach ausarteten; und nimmermehr würden sie ihm so verderblich geworden sein, wenn die übrigen Klassen ihrem Charakter und ihren Pflichten treu geblieben wären. Indessen ist zur Ehre des Priesterstandes und der Gesetzgebung Tifans genug, daß sie mehr als hundert Jahre nach seinem Tode noch immer die besten unter allen Scheschianern, und überhaupt (wenn man das Landvolk ausnimmt) die letzten waren, die dem Hange zur Verderbnis nachgaben, der sich unter den Nachfolgern Tifans allmählich des Hofes, der Hauptstadt, und endlich der ganzen Nation bemächtigte.

Die Verbesserung, welche Tifan in der Religion seines Reiches so glücklich zu Stande brachte, war ohne Zweifel der wichtigste Dienst, den er seinen Untertanen leisten konnte. Er stellte dadurch eine friedsame Eintracht zwischen Religion und Staat, zwischenden Pflichten der ersten und dem Interesse des andern, zwischen Glauben, Vernunft und Sitten her; eine Eintracht, welche die Quelle von unendlich vielem Guten, und dadurch allein schon ein unschätzbares Gut war, weil sie alles das Böse verschwinden machte, was der Mangel einer solchen Harmonie in den meisten Staaten zu verursachen pflegt. Man muß auch gestehen, daß die Klugheit, womit er in dieser Sache zu Werke ging, die Aufmerksamkeit aller Fürsten verdient, welche sich in einem ähnlichen Falle befinden könnten. Indessen würde er dennoch seinen Zweck entweder gar nicht oder nur sehr unvollkommen erreicht haben, wenn er nicht, durch eine der merkwürdigsten Verordnungen seines Gesetzbuches, alle darin nicht gebilligte Klassen und Gemeinheiten, unter welchen die Ya-faou die ersten waren, gänzlich aufgehoben hätte.

So viel sich aus einigen Umständen abnehmen läßt, müßte eine ausführliche Erzählung, wie er dieses bewerkstelligte, etwas sehr Unterhaltendes sein; aber unglücklicher Weise findet sich hier in den Handschriften eine Lücke« – –

»Schon wieder eine Lücke!« rief Schach-Gebal ungeduldig, »und immer eine Lücke, wo mir am meisten daran gelegen ist, die Sachen recht zu wissen! Ich erkläre hiermit, daß ich dieser Lücken äußerst [290] überdrüssig bin, und – mit Einem Worte, Freund Danischmend, ich will nichts dabei verlieren, verstehst du mich? Wenn eine Lücke in deinen Handschriften ist, so magst du sie ergänzen wie du kannst; kurz – ich will binnen drei Tagen den ganzen Entwurf, wie Tifan in dieser Sache zu Werke gegangen, auf meinem Tische liegen haben, oder – ich wasche meine Hände über die Folgen die daraus entstehen mögen!«

Der Itimadulet versprach, indem er seine Hand auf seinen Kopf legte, dem Willen seines gebietenden Herrn Genüge zu tun; und er entwarf zu diesem Ende einen weitläufigen Plan, worüber der Sultan, da er ihn durchblätterte und die Anzahl der Blätter zählte, ein großes Behagen äußerte. Gleichwohl ist zweifelhaft, ob Seine Hoheit diesen Plan jemals zu lesen Zeit gewinnen konnte. So viel ist gewiß, daß der Derwisch Zikzak, der dem weisen Danischmend in der Würde eines Itimadulet folgte, diesen nämlichen Plan unter den Papieren, welche der Sultan von Zeit zu Zeit von seinem Tische wegräumen ließ, unversehrt und in vergoldetes Leder eingebunden liegen fand, und daß von diesem Augenblick an weiter nichts davon gehört worden ist.

15
15.

In einigen der folgenden Nächte unterhielt Danischmend den Sultan seinen Herrn mit einer ziemlich umständlichen Erzählung, wie Tifan die öffentliche Erziehung eingerichtet habe. Dieser Gegenstand, der wichtigste in den Augen des scheschianischen Lykurgus, machte einen beträchtlichen Teil seines Gesetzbuches aus. In den Tagen, worin die gegenwärtige Geschichte ans Licht tritt, ist über diese Sache so viel geschrieben worden, daß es unmöglich scheint etwas Neues davon zu sagen; und beinahe sollte man Bedenken tragen, irgend etwas davon zu sagen, da nicht ohne Grund zu besorgen ist, das mit Schriften von der Erziehungskunst überfüllte Publikum möchte sich zuletzt des Ekels, der eine natürliche Folge der Überladung ist, nicht länger erwehren können, und gar nichts mehr davon hören wollen; welches denn ein sehr einfaches Mittel wäre, die Früchte aller der großen Bemühungen, die bisher auf die Verbesserung dieses wichtigen Teils der Staatsökonomie verwendet worden, in der Blüte zu ersticken. Aus dieser Betrachtung sowohl, als weil wirklich alles Gute, was sich von dieser Materie überhaupt sagen läßt, unsern Lesern schon aus andern Quellen bekannt sein muß, glauben wir sie uns verbindlich zu machen, wenn wir die weitläufigen [291] Nachrichten des schwatzhaften Danischmend so kurz als nur immer möglich sein wird zusammen ziehen.

»›Ein Staat‹, sagt Tifan im Eingange des Kapitels von der Erziehung, ›könnte mit den besten Gesetzen, mit der besten Religion, bei dem blühendsten Zustande der Wissenschaften und der Künste, dennoch sehr übel bestellt sein, wenn der Gesetzgeber die Unweisheit begangen hätte, einen einzigen Punkt zu übersehen, auf welchen in jedem gemeinen Wesen alles ankommt, – die Erziehung der Jugend. Die vortrefflichste Einrichtung des Justizwesens macht einen Sachwalter nicht gewissenhaft, einen Richter nicht unbestechlich; die beste Religion kann nicht verhindern, von unwürdigen Dienern zum Deckmantel der häßlichsten Laster gemacht, und zur Beförderung der schädlichsten Absichten gemißbraucht zu werden; die herrlichsten Polizeigesetze können wenig Wirkung tun, wenn Vaterlandsliebe, Liebe zur Ordnung, Mäßigung, Redlichkeit und Aufrichtigkeit, den Bürgern fremde Tugenden sind; und die weiseste Staatsverfassung kann dem Monarchen nicht verwehren, durch einen unruhigen Geist, oder durch Trägheit und Schwäche der Seele, oder irgend eine ausschweifende Leidenschaft, seine Völker unglücklich zu machen. Alles hängt davon ab, daß ein jeder zu den Tugenden seines Standes und Berufs gebildet werde; und wann soll, wann kann diese Bildung vorgenommen werden, wofern es nicht in dem Alter geschieht, wo die Seele, jedem Eindruck offen und zwischen Tugend und Laster unschlüssig in der Mitte schwebend, sich eben so leicht mit edeln Gesinnungen erfüllt, an richtige Grundsätze gewöhnt, in tugendhaften Fertigkeiten bestärkt – als, dem Mechanismus der sinnlichen Triebe, dem Feuer der Leidenschaften und der Ansteckung verführerischer Beispiele überlassen, die unglückliche Fertigkeit der Torheit und des Lasters annimmt? Der Wohlstand eines Staates, die Glückseligkeit einer Nation hängt schlechterdings von der Güte der Sitten ab. Gesetzgebung, Religion, Polizei, Wissenschaften, Künste, können zwar zu Beförderungsmitteln undSchutzwehren der Sitten gemacht werden: aber sind erst die Sitten verdorben, so hören auch jene auf wohltätig zu sein; der Strom der Verderbnis reißt diese Schutzwehren ein, entkräftet die Gesetze, verunstaltet die Religion, hemmt den Fortgang jeder nützlichen Wissenschaft, und würdiget die Künste zu Sklavinnen der Torheit und Üppigkeit herab. Die Erziehung allein ist die wahre Schöpferin der Sitten; durch sie muß das Gefühl des Schönen, die Gewohnheit der Ordnung, der Geschmack der Tugend, durch sie mußvaterländischer [292] Geist, edler Nationalstolz, 45 Verachtung der Weichlichkeit und alles Geschminkten, Gekünstelten und Kleinfügigen, Liebe der Einfalt und des Natürlichen, mit jeder andern menschenfreundlichen, geselligen und bürgerlichen Tugend, von den Herzen der Bürger Besitz nehmen; durch sie müssen die Männer zu Männern, die Weiber zu Weibern, jede besondere Klasse des Staats zu dem was sie sein soll, gebildet werden. Die Erziehung – höret es, o ihr, die nach Tifan auf seinem Throne sitzen werden! sie ist die erste, die wichtigste, die wesentlichste Angelegenheit des Staats, die würdigste, die angelegenste Sorge des Fürsten! Alles übrige wird ein Spiel, wenn die öffentliche Erziehung die möglichste Stufe ihrer Vollkommenheit erreicht hat. Die Gesetze gehen alsdann von selbst; die Religion, in ihrer Majestät voll Einfalt, bleibt was sie ewig bleiben sollte, die Seele der Tugend und der feste Ruhepunkt des Gemütes; die Wissenschaften werden zu unerschöpflichen Quellen wahrer Vorteile für das gemeine Wesen; die Künste verschönern das Leben, veredeln die Empfindung, werden zu Aufmunterungsmitteln der Tugend. Jede Klasse von Bürgern bleibt ihrer Bestimmung treu; allgemeine Emsigkeit, von Mäßigkeit und guter Haushaltung unterstützt, verschafft einem unzählbaren Volke Sicherheit vor Mangel und Zufriedenheit mit seinem Zustande. Von dem Augenblick an, da ihr die Veranstaltungen, von deren vollkommenster Einrichtung und öfterer Wiederbelebung so große Vorteile abhangen, vernachlässiget, werden unvermerkt alle übrige Räder des Staats in Unordnung geraten; der Verfall der Erziehung wird die Ausartung der Sitten, und diese, wofern ihr nicht weise genug sein werdet die Quelle des Übels in Zeiten zu entdecken und zu verstopfen, unfehlbar den Verfall des Staats nach sich zu ziehen.‹

Nach Tifans Begriffen war es also bei der Erziehung viel weniger darum zu tun, den künftigen Bürgern gewisse Kenntnisse und [293] Geschicklichkeiten beizubringen – wiewohl auch dieser Teil, nach Maßgebung der künftigen Bestimmung eines jeden, keinesweges verabsäumt wurde – als, jede besondere Klasse zu den Tugenden ihres künftigen Standes, und überhaupt Alle zu jeder Tugend des gesellschaftlichen und politischen Lebens zu bilden. Auf diesen großen Zweck war der ganze Erziehungsplan angelegt. Alles in demselben war praktisch: die Schule machte nicht, wie in den meisten übrigen Staaten, ein besonderes für sich bestehendes Institut aus, welches mit dem gemeinen Wesen nur durch einzelne schwache Faden zusammen hängt; alles bezog sich in den scheschianischen Schulen auf den künftigen Gebrauch, und die Jugend wurde nichts gelehrt, was sie ohne Schaden wieder vergessen konnte.

Tifan verordnete, daß in dem ganzen scheschianischen Reiche die Knaben öffentlich, die Töchter hingegen, deren Bestimmung ordentlicher Weise in den engern Zirkel des häuslichen Lebens eingeschränkt ist, absonderlich von ihren Müttern oder nächsten Verwandten erzogen werden sollten. Unter jenen waren nur die Söhne des Königs, und unter diesen allein diejenigen, welche in besonderem Verstande die Pflegetöchter der Königin genannt wurden, von der allgemeinen Regel ausgenommen. Denn diese letztern wurden, eben so wie die Knaben, in besonders dazu eingerichteten Erziehungshäusern, unter eigener oberster Aufsicht der Königin, zu der einfältigen, arbeitsamen und schuldlosen Lebensart, die ihrer Bestimmung angemessen war, und zu allen Tugenden, ohne welche es unmöglich ist eine rechtschaffene Ehegattin und eine gute Mutter zu sein, auferzogen. Alles was man gemeiniglich gegen dergleichen Anstalten einzuwenden pflegt, fand bei diesen nicht Statt; sie waren so vorsichtig und in allen Betrachtungen so zweckmäßig eingerichtet, daß (den Fall einer allgemeinen Verderbnis der Sitten in Scheschian ausgenommen) eine merkliche Verschlimmerung derselben unmöglich war.

Die Hauptquelle der Gebrechen solcher öffentlichen Anstalten liegt darin, daß man so wenig als möglich darauf verwenden will. Die Leute, die dabei gebraucht werden, sind oft selbst rohe und mit den Eigenschaften zu einem so edeln Beruf gar nicht begabte Leute. Sie haben so wenig, Anspruch an einige Achtung der Welt zu machen, daß es kein Wunder ist, wenn sie meistens schlecht denkende Geschöpfe sind; und sie werden so armselig belohnt, daß es noch weniger zu verwundern ist, wenn Leute ohne Grundsätze und Tugend ihren eigenen Zustand auf Unkosten ihrer Untergebenen zu [294] verbessern suchen; welches denn, da diesen letztern ohnehin alle ihre Bedürfnisse so sparsam als möglich zugemessen werden, nicht geschehen kann, ohne sie an dem Unentbehrlichen Mangel leiden zu lassen. Tifans Veranstaltungen für die Erziehungarmer Kinder von beiderlei Geschlecht verdienten den Namen königlicher Anstalten im eigentlichen Verstande. Nichts, was zu ihrer Vollkommenheit gehörte, war dabei gespart. Die dazu gewidmeten Häuser waren weitläufige wohl eingeteilte Gebäude, von gesunder Lage, mit Gärten und Spaziergängen versehen. Jedes derselben hatte seinen eigenen Arzt, der zugleich der oberste Aufseher der ganzen Anstalt, und ein Mann von geprüftem Werte war. Die Nahrung der Kinder war gesund, zureichend, und wohl zubereitet; ihre Kleidung einfach aber zierlich; und für ihre Gesundheit und Reinlichkeit wurde, wiewohl sie nur die Kinder von Tagelöhnern und armen Leuten waren, eben so viele Sorge getragen, als ob sie von dem besten Adel in Scheschian gewesen wären; ›denn Reinlichkeit‹, sagte der weise Tifan, ›ist eine notwendige Bedingung der Gesundheit, und ohne Gesundheit ist ein Mensch sich selbst und der Welt zu nichts gut.‹

Mir deucht, Tifan zeigte sich in allem diesem als ein wahrer Vater seines Volkes; und den Fürsten, welche bei Anstalten von dieser Art weniger Aufmerksamkeit auf die Einrichtung derselben wenden als er, wollte ich demütig raten, sie lieber gar eingehen zu lassen. 46

Außer diesem ordnete Tifan für jede wichtigere Klasse der Bürger eine besondere Erziehung an. Die Kinder der Landleute hatten, seiner Meinung nach, keiner künstlichen Bildung vonnöten. Die Natur tut bei ihnen das beste. Die Verderbnis der Sitten in einem Staate rührt niemals von ihnen her. Alle Tugenden, deren sie vonnöten haben, sind gewisser Maßen die natürlichen Früchte ihrer Lebensart; und wenn sie nicht durch Härte und Unterdrückung boshaft gemacht, oder durch das böse Beispiel der Städte angesteckt werden, sind sie mit den einfältigen aber gesunden Begriffen und Gesinnungen, die sie der Natur und dem Menschenverstand allein [295] zu danken haben, die unschuldigsten Leute von der Welt. Ihre Unwissenheit selbst ist für sie ein Gut, weil sie eine notwendige Bedingung der Tugenden ihres Standes und ihrer Zufriedenheit mit demselben ist. Entwickelte Begriffe, verfeinerte Empfindungen, physische und mechanische Kenntnisse, oder eine gelehrte Theorie der Landwirtschaft, sind entweder gar nicht für sie ge macht, oder würden ihnen doch wenig nützen. Der junge Bauer kann die Regeln des Feldbaues und der ländlichen Wirtschaft von seinem Vater und Großvater besser lernen als von dem gelehrtesten Naturforscher; und ihm diese Regeln auf eine wissenschaftliche Art beizubringen, wäre weniger weise gehandelt, als wenn man ihn die Redekunst und die Logik lehren wollte, damit er sich ausdrücken und Schlüsse machen lerne. Diesen Begriffen zu Folge schränkte Tifan den Schulunterricht, der sich für das Landvolk schickt, auf die Kunst zu lesen, zu schreiben und zu rechnen, auf die einfachsten Begriffe und Maximen der Religion und Sittlichkeit, und auf die Erklärung eines sehr vortrefflichen Kalenders ein, den er durch die Akademie der Wissenschaften für sie machen ließ. Alles übrige was zu tun war, um die Landleute von ihrem Verhältnis gegen den Staat, von ihren Gerechtsamen, und von ihren bürgerlichen sowohl als häuslichen Pflichten zu belehren, war dem Priester übertragen, mit welchem Tifan jedes Dorf versah. Dieser Priester stellte zugleich die erste obrigkeitliche Person des Dorfes vor, und war durch eine sehr genau bestimmte Vorschrift angewiesen, wie er sein zweifaches Amt zu verwalten habe.

Was hingegen die Bewohner der Städte betrifft, welche durch ihre Lebensart und Bestimmung viel weiter als das Landvolk von dem ursprünglichen Stande der Natur entfernt werden, von diesen urteilte Tifan, daß sie überhaupt einen höhern Grad der Aufklärung, mehr Entwickelung, Verfeinerung und Polierung vonnöten hätten. ›Je größer die Anzahl der Menschen ist‹ (spricht er), ›die in einerlei Ringmauern beisammen leben; je stärker die innerliche Gärung und der Zusammenstoß ist, welche aus der Verschiedenheit ihrer Neigungen, Leidenschaften, Absichten und Vorteile entspringen müssen; je schwerer es ist, mitten unter so vielerlei Dissonanzen die zum Wohl des Ganzen nötige Harmonie zu erhalten; je leichter jede Art von Verderbnis sich unter sie einschleicht, und je schneller sie durch die sittliche Ansteckung fortgepflanzt und bösartig gemacht wird: desto augenscheinlicher ist die Notwendigkeit, die Erziehung in den Städten zu einem politischen Institut zu machen, und alles darin auf den großen Zweck zu richten, die städtische Jugend [296] aufs sorgfältigste zu geselligen Menschen und zu guten Bürgern zu bilden.‹ – Aus diesem Grunde machte der Unterricht in der Sittenlehre, und in der Verfassung, den Gesetzen und der Geschichte von Scheschian, den wesentlichsten Teil derjenigen Erziehung aus, welche allen jungen Bürgern gemein war: und obgleich die Art des Vortrags und die Grade der Ausführlichkeit des Unterrichtsdem Unterschied der Stände und der künftigen Bestimmung angemessen waren; so wurde doch selbst bei der Jugend von den untern Klassen auf keinen geringern Zweck gearbeitet, als sie – zu eifrigen Liebhabern eines Vaterlandes, dessen gegenwärtiger Zustand sich dem Ideal der öffentlichen Glückseligkeit näherte – zu gehorsamen Befolgern einer Gesetzgebung, deren Weisheit ihrem Verstand einleuchtete – und zu willigen Beförderern des gemeinen Besten, mit welchem sie ihr eigenes unzertrennlich verbunden sahen, zu machen.

Außerdem hielt Tifan für nötig und anständig, daß alle Bürger, zu welcher Klasse sie gehören möchten, in ihrer Muttersprache unterrichtet, und gelehrt würden, einige der besten Nationalschriftsteller, die er zu diesem Ende für klassisch erklärte, mit Verstand und Geschmack zu lesen. Er urteilte mit sehr gutem Fuge, daß ein Volk, welches berechtiget sein wolle, sich für besser als Samojeden und Kamtschadalen anzusehen, seine eigene Nationalsprache richtig und zierlich zu reden gelernt haben müsse; und da die jungen Scheschianer das Glück hatten, keine fremde Sprache erlernen zu müssen, so war es um so viel leichter, von ihrer eigenen in einem Grade Meister zu werden, dessen sich, bei andern Völkern, sogar unter den Gelehrten nur die wenigsten rühmen können.

Noch ein andrer Umstand, der die Schulen von Tifans Einsetzung auszeichnet, war, daß dieser Gesetzgeber den Unterricht und die Übung in der Höflichkeit zu einem wesentlichen Teile der öffentlichen Erziehung machte. Er sah die Höflichkeit für eine Vormauer der öffentlichen Ruhe, für den stärksten Damm gegen alle Arten von Beleidungen und gewalttätigen Ausbrüchen der Leidenschaften, und also für das sicherste Mittel an, der Obrigkeit die unangenehme Mühe – und dem Staate den schädlichen Einfluß – häufiger Bestrafungen zu ersparen; und man muß gestehen, unter einem sehr zahlreichen Volke scheint sie, besonders für die geringern Klassen, eine der notwendigsten politischen Tugenden zu sein. In dieser Rücksicht verfaßte Tifan ein besonderes Ceremonial für alle Stände, Klassen, Geschlechter, Alter, Verhältnisse und Vorfallenheiten, an welches die Scheschianer so mechanisch und [297] pünktlich angewöhnt wurden, daß es ihnen endlich zur andern Natur ward. Vielleicht haben die Sineser, welche dieses Institut von jenen borgten, die Sache, nach Art aller Nachahmer, zu weit getrieben; aber die großen Vorteile, die ihrer Polizei davon zugehen, können uns begreiflich machen, wie schön und nützlich dieser Teil von Tifans Gesetzgebung in seiner ursprünglichen Beschaffenheit gewesen sein müsse.

Vermöge eines zur Grundverfassung von Scheschian gehörigen Gesetzes blieben die Kinder ordentlicher Weise in der Hauptklasse ihres Vaters. Diese Hauptklassen waren auf sieben festgesetzt. Sie bestanden aus dem Adel oder den Nairen, den Gelehrten, den Künstlern, den Kaufleuten, den Handwerkern, dem Landvolke, und den Tagelöhnern; und jede der sechs erstern teilte sich wieder in verschiedne besondere: die letzte aber, welche Tifan als die vornehmste Werkstätte der Bevölkerung ansah, und deren Kinder, als dem Staate vorzüglich angehörig (wie schon gemeldet worden), auf öffentliche Unkosten erzogen wurden, waren auf gewisse Weise von besagtem Gesetz ausgenommen. Der Adel, der sich wieder in den höhern und niedern teilte, konnte von dem Könige niemanden mitgeteilt werden. Wenn ein adeliches Geschlecht erlosch, so versammelten sich die Häupter aller übrigen, und erwählten aus der zweiten oder dritten Klasse den Mann, der sich durch die größten Verdienste und den edelsten Charakter der Ehre, in ihren Orden aufgenommen zu werden, am würdigsten gezeigt hatte. Dieser ging dann sofort in die Klasse der Edeln über, und füllte die Lücke durch ein neues Geschlecht aus, welches, von dem Augenblicke seiner Aufnahme an, alle Rechte des Adels eben so vollständig genoß, als ob es so alt als die Welt gewesen wäre. Hingegen hatte der König das Recht, an den Platz jedes erloschenen Stammes aus dem höhern Adel denjenigen aus dem niedern, den er für den Würdigsten achtete, eigenmächtig auszuwählen. Die Kinder aus den vier folgenden Hauptklassen waren nur in dem Falle einer erweislichen Untüchtigkeit zu den Bestimmungen ihrer Klasse, oder einer entschiedenen Neigung und Tüchtigkeit zu den Geschäften einer andern, von dem Gesetze losgezählt; und aus der sechsten Klasse war es, ohne ausdrückliche königliche Erlaubnis (welche im Gesetz auf besondere Fälle eingeschränkt war) gar nicht erlaubt, in die zweite, dritte oder vierte überzugehen. Und auf gleiche Weise waren auch die Heiraten aus einer Hauptklasse in die andere durch ein Grundgesetz, von welchem der König nur selten befreien konnte, untersagt.

[298] Da nun solcher Gestalt die Stände in diesem Reiche gehörig abgesondert waren – welches Tifan für unumgänglich nötig hielt, wenn jeder den ihm eigentümlichen Charakter unvermischt beibehalten sollte: so war eine notwendige Folge hiervon, daß auch jede Klasseihre eigene Erziehung bekommen mußte.

Die Söhne aus der dritten, vierten und fünften erhielten die ihrige teils in dem väterlichen Hause, teils in den für sie angeordneten öffentlichen Schulen, teils bei den Meistern ihrer Profession, bei welchen sie sich außerhalb ihres Geburtsortes, sechs Jahre lang (vom sechzehnten an gerechnet) in derselben üben mußten. Für die Kaufleute, Künstler und feinern Handarbeiter war überdies in allen größern Städten des Reichs eine Art von Akademie angelegt, wo jeder die Theorie seiner Kunst, mit der wirklichen Ausübung verbunden, in möglichster Vollkommenheit und unter Anführung der erfahrensten Meister, zu erlernen Gelegenheit hatte. Aber die Besuchung dieser Akademie war vom Gesetze nur denjenigen als eineSchuldigkeit auferlegt, welche sich in einer von denHauptstädten des Reichs niederlassen wollten.

Die Klasse der Gelehrten, oder, wie sie der sinesische Übersetzer nennt, der Mandarinen, begriff wieder sechs besondere Ordnungen unter sich: die Akademisten, die Priester, die Schullehrer, die Ärzte, die Richter, Polizeiaufseher und andre obrigkeitliche Personen, und die Sachwalter. Die Ordnung, in welcher sie hier genannt werden, bestimmte in Scheschian ihren Rang. Diese sämtlichen Abteilungen genossen vom zehnten bis zum sechzehnten Jahre einer gemeinschaftlichen öffentlichen Erziehung in besonders dazu gestifteten Häusern, deren äußerliche Einrichtung von denjenigen, worin die Pflegekinder des Königs und der Königin erzogen wurden, wenig unterschieden war. Jedes derselben hatte einen Akademisten, einen Priester und einen Arzt zu Oberaufsehern. Eine der vornehmsten Obliegenheiten dieser Aufseher war, die Gemütsart, den Genie und das Maß der Fähigkeiten der jungen Leute aufs genaueste zu erforschen. Ihre Wahrnehmungen darüber mußten sie, mit eben so vieler Genauigkeit, als ob es atmosphärische oder astronomische Beobachtungen gewesen wären, von Tag zu Tag aufzeichnen, und daraus, zu Ende der beiden letzten Jahre, einen mit verschiedenen Probestücken begleiteten Bericht an den Statthalter der Provinz einsenden. Dieser setzte eine Kommission von sechs Akademisten zu Untersuchung derselben nieder; und nach dem Gutachten der letztern wurde jeder Jüngling in diejenige unter den sechs vorbenannten Ordnungen, zu welcher ihn Neigung und Fähigkeit[299] vorzüglich bestimmten, und zugleich in diejenige höhere Schule versetzt, worin die besondere Ordnung, in welche er nun gehörte, zu ihrem künftigen Amte ausgebildet und vollkommen gemacht wurde.

In der Auswahl der künftigen Priester wurde vornehmlich auf diejenige glückliche Mischung des Temperaments gesehen, welche ihrem Besitzer eine vorzügliche Anlage zu Weisheit und Tugend gibt. Alle sehr feurige, unruhige, ruhmbegierige und unternehmende Geister, alle junge Leute von außerordentlich lebhafter Empfindung und Einbildungskraft wurden von einem Stande ausgeschlossen, dessen wesentlichste Pflicht war, dem Volke mit dem Beispiel untadeliger Sitten vorzuleuchten, und die Religion durch ihren Wandel ehrwürdig zu machen. Auf diesen Hauptzweck war ihre ganze Erziehung eingerichtet. Von den Wissenschaften, welche nicht unmittelbar weiser und besser machen, wurde ihnen nur so viel beigebracht, als vonnöten war, um keine Verächter derselben zu sein. Hingegen wurde auf die Bildung ihres Geschmacks besondere Aufmerksamkeit gewendet; denn Tifan behauptete, daß ein feines und gelehrtes Gefühl des Schönen und Guten ein wesentliches Stück der Weisheit sei. Die Religion, zu deren besonderem Dienste sie in diesen Schulen vorbereitet wurden, war nicht mehr der alte armselige Affendienst der Scheschianer: es war diejenige, welche Dschengis ehmals dem jungen Tifan eingeflößt, und dieser zur Grundfeste seiner ganzen Gesetzgebung gemacht hatte. Da sie durchaus praktisch war, da alles Grübeln über die Natur des höchsten Wesens durch ein ausdrückliches Strafgesetz untersagt war: so machte sie auf einer Seite bloß ein politisches Institut, und auf der andern eine Angelegenheit des Herzens aus; oder, mit andern Worten, es war bloß darum zu tun, durch sie ein besserer Bürger, und ein glücklicherer Mensch zu werden, als man ohne sie hätte sein können. Aus diesen Gesichtspunkten allein lehrte man die jungen Priester die Religion von Scheschian betrachten; und aus eben diesem Grunde machte die Moralphilosophie und das Studium der Gesetze die Hauptbeschäftigung ihrer Vorbereitungszeit aus.

Gleich sorgfältig wurden auch die Schullehrer in besondern für sie angeordneten Pflanzschulen zu ihrer künftigen Bestimmung zubereitet. Diejenigen, welche zu diesem Stande ausgewählt wurden, mußten Beweise der größten Fähigkeiten, eines scharfen Beobachtungsgeistes, einer großen Geschmeidigkeit der Seele, und eines edeln Herzens gegeben haben. Tifan glaubte, daß man nur den vortrefflichsten [300] Männern der Nation die Sorge für den kostbarsten Schatz derselben anvertrauen könne. Aber eben darum machten sie auch eine der angesehensten Klassen aus, wurden nächst den Akademisten und Priestern als die vornehmsten Staatsbedienten betrachtet, waren für ihre Arbeit reichlich belohnt, und genossen, wenn sie dem Staate fünfundzwanzig Jahre lang gedient hatten, für ihr übriges Leben einer zwar nicht ganz unbeschäftigten, aber doch ruhigen und mit großem Ansehen verknüpften Unabhängigkeit. Diejenigen, welche man einem so wichtigen Stande widmete, wurden, von ihrem sechzehnten Jahr an, zehn Jahre lang in allen Wissenschaften, die zu einer vollständigen Kenntnis des Menschen gehören, und in allen nur möglichen Fertigkeiten, wodurch sie zu ihrem Amte geschickter gemacht werden konnten, geübt. Sie waren überhaupt in zwei Ordnungen abgeteilt, in die Lehrer der niedern und in die Lehrer der höhern Schulen; und für jede Ordnung waren in jeder Provinz besondere Vorbereitungsanstalten.

Da Tifan sich eine so große Angelegenheit daraus machte, jeder wichtigern Klasse von Bürgern, und besonders denjenigen, welche zur Verwaltung ihres Amtes einen gelehrten Unterricht in den Wissenschaften oder in den Gesetzen von Scheschian vonnöten hatten, ihre eigene Erziehung zu geben: so stellt man sich leicht vor, daß er für die Erziehung des jungenAdels nicht weniger Sorge getragen haben werde. Die Adelichen in Scheschian besaßen nicht nur den größten Teil der Ländereien eigentümlich, wiewohl ohne Gerichtsbarkeit: sondern ihre ehmals sehr übertriebenen, unter Azorn und Isfandiarn aber nach und nach unendlich verminderten Vorzüge waren durch Tifans Gesetzgebung wieder zu einem solchen Glanze hergestellt worden, daß sie nun, sowohl durch ihren Reichtum als durch ihre Vorrechte, die ansehnlichste Kaste im Staate ausmachten. Außer dem wesentlichen Anteil, der ihnen an der Garantie der Gesetze und Nationalrechte zukam, hatte der hohe Adel in Scheschian, der aus den ältesten und begütertsten Familien bestand, ein angebornes Recht an alle obersten Staats-und Kriegsbedienungen. Der König erwählte zwar dazu wen er wollte; aber das Gesetz verband ihn, aus dem Adel zu wählen. So vorzügliche Rechte konnten, nach den Begriffen unsers Gesetzgebers, nicht anders als mit eben so großen Pflichten verbunden sein. Weil die Edeln in Scheschian die reichste Klasse ausmachten, so trugen sie auch zu den Bedürfnissen des Staats am meisten bei; und weil sie die vornehmsten Gehülfen des Königes in der Regierung waren, so mußten sie auch die Geschicklichkeiten und die Tugenden [301] besitzen, die eine so edle Bestimmung voraussetzt. Tifan fand daß es etwas mit dem Besten des Staats ganz Unverträgliches wäre, dem freien Belieben der Edelleute zu überlassen, ob sie müßig gehen, oder sich nützlich beschäftigen; – ob sie rohe Verächter der Wissenschaften, deren Wert sie nicht verstehen, und anmaßliche Despoten der schönen Künste, deren erste Grundbegriffe ihnen fremde sind, – oder aufgeklärte Freunde und Kenner der einen und der andern; ob sie ungeschliffen und ausgelassen in ihren Sitten, verdorben in ihren Grundsätzen, anstößig und übeltätig in ihren Handlungen, – oder ob sie tugendhafte, nach großen Grundsätzen handelnde Patrioten und Menschenfreunde sein; – mit Einem Wort, ob sie, ihrem innern Werte nach, die verächtlichste, oder, ihrer Bestimmung gemäß, die schätzbarste Klasse des Reichs vorstellen wollten. Er glaubte, verzehren was andre arbeiten, sei kein genugsames Verdienst um den Staat; und es sei widersinnig, mit einer niedrigen Seele an den Ruhm und die Rechte edler Voreltern Anspruch machen, und unerträglich, wenn ein verdienstloser Mensch, bloß um eines von ungefähr ihm zugefallnen adelichen Namens willen, auf die nützlichen und an innerlichem Wert edlen Glieder des Staats verächtlich herab zu sehen sich berechtigt hält. Um den Adel von Scheschian vor einer so schimpflichen Ausartung zu verwahren, um ihn wirklich zu dem was er sein sollte zu bilden, ordnete Tifan für die adeliche Jugend seines Reichs eine öffentliche Erziehung an, bei welcher die Mittel, die zu ihrer Vervollkommnung angewandt wurden, den ganzen Umfang seines großen Zweckes umfaßten. Nicht Sklaven, aber zuverlässige Stützen des Throns, weise Vorsteher der Nation, mutige Verteidiger ihrer Ruhe und standhafte Vertreter ihrer Rechte, voll edlen Gefühls ihrer Unabhängigkeit gegen alle Anmaßungen einer willkürlichen Gewalt, aber gehorsam gegen die Gesetze; unfähig eine Unwahrheit zu sagen oder eine Niederträchtigkeit zu tun, großmütig und bescheiden in Verwendung ihres Vermögens, aber Verächter des Reichtums der ein Sold der Knechtschaft und des geschmeidigen Lasters ist, und stolz auf eine Armut, welche durch den Schatten, den sie auf die Tugend wirft, den Glanz derselben mehr erhebt als verdunkelt; Beförderer aller nützlichen Künste, aber vorzüglich geborne Beschützer des Ackerbaues, dem sie ihre eigene Unabhängigkeit zu danken haben; mit Einem Worte, Vorbilder der übrigen Stände in jederTugend des geselligen und bürgerlichen Lebens, und geschickt, die Vorzüge ihres Standes, wofern sie ihnen nicht angeerbt gewesen wären, durch persönliche Verdienste zu erwerben:[302]dies sollten die Edeln von Scheschian sein, und dies wurden sie durch Tifans weise Veranstaltung. Die Schulen, in welchen sie erzogen wurden, standen unter der unmittelbaren Aufsicht des Königs und der Reichsstände. Die geschicktesten Akademisten wurden zu ihren Lehrern und Aufsehern bestellt. Nichts was den Körper, den Geist und das Herz vervollkommnen kann, wurde in ihrer Erziehung verabsäumt. Sie fing sich mit dem fünften Jahre des Alters an, und endigte sich erst mit dem einundzwanzigsten. Kein Sohn eines scheschianischen Edeln war einiger Beförderung fähig, der diese öffentliche Erziehung nicht genossen hatte. In den fünf letzten Jahren derselben mußten dem Könige von Zeit zu Zeit die Beobachtungen der Aufseher über die Fähigkeiten und Sitten ihrer Untergebenen, und Proben ihres Fleißes eingeschickt werden. Alle Jahre wurden diejenigen, deren Zubereitungszeit verflossen war, dem Könige vorgestellt. Er behielt die vorzüglichsten an seinem Hofe, und die übrigen wurden, jeder in seiner Provinz, stufenweise zu den Geschäften und Ehrenstellen, die ihrem Stande zukamen, befördert.«

»Itimadulet«, sagte Schach-Gebal, »was mir an den Erziehungsanstalten deines Tifan am besten gefällt, ist die Anordnung dieser mit wirklichen Proben belegten Berichte über die Talente und Sitten der jungen Leute von den höhern Klassen. Auf diese Weise blieb ihm kein guter Kopf, kein vorzüglicher Charakter in seinem ganzen Reiche unbekannt. Er war nicht in dem Falle, worin wir andern uns zu befinden pflegen, seine Leute aus einem Glückstopfe ziehen zu müssen, wie du neulich sagtest. Sein Staat glich einer künstlichen Maschine, von deren Wirkung der Meister gewiß ist, weil er weiß, daß er seine Federn, Hebel, Räder, Schrauben und wie alle die Dinge heißen, jedes an seinen Platz gestellt hat. Ich denke, Freund Danischmend, diese Kunst sollte sich ihm ablernen lassen – denn wir wollen uns nicht zu weise dünken, von einem solchen Meister zu lernen

»Unstreitig«, erwiderte der neue Itimadulet, »sind unter seinen Verordnungen und Anstalten manche, wovon sich auch in den Staaten des Sultans meines Herren guter Gebrauch machen ließe; zum Beispiel« (setzte er mit einer halb ironischen Miene hinzu) »die vortreffliche Art, wie er Scheschian von dem schädlichen Ungeziefer, den Ya-faou« –

»Aber bei allem dem«, fiel Gebal plötzlich ein, »muß diese treffliche Kunstmaschine, deren Lob ich so eben aus vollem Herzen anstimmte, irgend einen verborgenen Kapitalfehler gehabt haben, daß [303] sie, wie du schon mehr als Einmal etwas voreilig zu verstehen gegeben hast, in so kurzer Zeit ins Stocken geriet, und endlich gar so gänzlich zu Grunde ging, daß weder Tifan noch sein Reich unsern Universalhistorikern auch nur dem Namen nach bekannt ist.«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »war es, wie Ihre Hoheit sagen, etwas voreilig von mir« –

»Hat nichts zu bedeuten, Herr Danischmend! Im Gegenteil, du hast mir einen Gefallen getan, mich auf diesen Punkt aufmerksam zu machen. Ich glaube nun deinen Tifan und seine Gesetzgebung mit seiner ganzen Art zu regieren so gut zu kennen als – meine eignen Angelegenheiten.« –

»Das mag wohl sein!« dachte Danischmend, mit einem Seufzer, den er noch zu rechter Zeit in einen kleinen Husten verwandelte.

– »Seine Staatseinrichtung, wie gesagt, ist ein Meisterwerk«, fuhr der Sultan fort: »aber, ohne mir selbst ein Kompliment zu machen, ich hatte eine Art von Ahndung, daß sie von keiner langen Dauer sein könnte. Indessen muß es doch die Mühe verlohnen, von dir zu hören wie es damit zuging; und dies ist, unter uns gesagt, das einzige, was mich an deiner Geschichte von Scheschian noch interessieren kann. Richte dich also darauf ein, Itimadulet, wenn ich dich wieder rufen lasse, meine Neugier hierüber zu befriedigen.«

16
16.

»Es ist ein trauriges Los aller guten Dinge in der Welt«, fing Danischmend an, als er nach einigen Tagen wieder an das Bette Seiner Hoheit gerufen wurde, »daß sie unter den Händen der Menschen nicht lange unbeschädigt und unverdorben bleiben können. Leider gilt dies von Gesetzgebungen, Staatsverfassungen und Regierungen ganz vorzüglich. Wie vollkommen auch die gesetzmäßige Verfassung eines Staats sein mag, bei der Vollziehung kommt alles auf die Beschaffenheit der Menschen an, in deren Händen die Gewalt ist, welche der Staat dem Fürsten, und der Fürst wieder teilweise denen, die ihm regieren helfen sollen, anzuvertrauen genötigt ist. Wie angelegen ließ sich's nicht der guten Tifan sein, seiner Gesetzgebung eben dadurch die Krone der Vollkommenheit aufzusetzen, daß er ihr die möglichste Dauerhaftigkeit zu geben suchte! Eben darum, weil er einsah, wie sehr alles auf die sittliche Beschaffenheit der Regierten sowohl als der Regierenden ankommt, machte er die moralische Bildung der Scheschianer zum Hauptzweck seiner Erziehungsanstalten, und die Erhaltung der Sitten in der möglichsten [304] Lauterkeit zum Augenmerk aller seiner Verordnungen. Aber eben darum, weil es unmöglich ist unter einem großen Volke die Sitten lange unverdorben zu erhalten, konnt er mit aller seiner Vorsicht mehr nicht bewirken, als daß es mit der sittlichen Verderbnis seines Volkes langsamer zuging, und also der Zeitpunkt des politischen Todes, welchem sich jeder Staat mit immer zunehmender Geschwindigkeit nähert, von dem seinigen etwas weiter entfernt wurde, als es ohne seine Vorkehrungen geschehen wäre.

Ohne Zweifel liegt diese Tendenz zum schlechter werden so tief in der menschlichen Natur, daß ihre Wirkung durch keine menschliche Veranstaltung gänzlich aufgehoben werden kann. Auf diesen Punkt scheint der gute Tifan zu wenig Rücksicht genommen, und überhaupt den Menschen, die er (ohne sich dessen vielleicht bewußt zu sein) zu viel nach seinem eigenen Herzen beurteilte, bei aller seiner Vorsicht, noch immer mehr Gutes zugetraut zu haben, als er mit Recht erwarten konnte: und dieser Umstand ist vielleicht allein der Grund, warum einige seiner Gesetze den Keim ihrer Verderbnis bereits in sich trugen, und die Entwicklung desselben unvermerkt beförderten. So hatte er, zum Beispiel, in der besten Absicht von der Welt die scheschianische Priesterschaft, um sie zu veredeln und dem Staate nützlich zu machen, zu öffentlichen Lehrern des Gesetzbuches bestellt, und zu diesem Endzweck alle nur ersinnliche Sorge getragen, sie zu vortrefflichen Menschen und guten Bürgern zu bilden. Aber, was er nicht vorher gesehen hatte, war, daß er gerade dadurch diesem Stand ein Ansehen und einen Einfluß verschaffte, dessen sich in der Folge – wenn die Sitten nach und nach schlaffer geworden sein, und die Gesetze also einen Teil der Kraft, die sie von jenen erhalten, verloren haben würden – ehrgeizige und heuchlerische Menschen bedienen würden, selbstsüchtige Plane zum Nachteil des Staats durchzusetzen. Aus einer ähnlichen Ursache hatte er, wiewohl anfangs eine gänzliche Umschaffung der scheschianischen Landesverfassung zu seiner großen Absicht nötig schien, den erblichen Adel als eine besondere Klasse von Staatsbürgern beibehalten, und ihn nicht nur im Besitz eines Teils seiner ehmaligen Vorzüge gelassen, sondern ihn noch durch das ausschließliche Recht an die obersten Staats- und Kriegsbedienungen so hoch über alle übrige Klassen erhoben, daß es kaum begreiflich ist, wie Tifan die künftigen Folgen einer so auffallenden Ungleichheit sich selbst habe verbergen können. Was auch immer über diesen Punkt zu seiner Rechtfertigung oder Entschuldigung gesagt werden könnte, gewiß ist, daß dies einer der größten Fehler seiner Gesetzgebung war, und vielleicht [305] mehr als alle übrige zum Untergang derselben beitrug. Denn wie konnte er erwarten, daß ein Volk, das durch eben diese Staatseinrichtung zu der höchsten Stufe der Ausbildung, deren die Menschheit fähig scheint, gelangen mußte, ein so unbilliges Vorrecht einer verhältnismäßig kleinen Anzahl in die Länge dulden, oder daß diejenigen, die im Besitz desselben waren, sich dessen gutwillig begeben würden?

Endlich ist nicht zu leugnen, daß Tifan, wiewohl es sein ernstlicher Wille war, sich selbst und seinen Nachfolgern die Freiheit Böses zu tun so viel möglich zu entziehen, dennoch durch Betrachtungen, an welchen sein Herz mehr Anteil hatte als seine Vorsicht, sich verleiten ließ, den Königen von Scheschian eine größere Macht einzuräumen, als mit der Sicherheit seiner Gesetzgebung, von welcher doch die Sicherheit seines Volkes abhing, in die Länge bestehen konnte.«

»Wie meinst du das, Freund Danischmend?« fragte Schach-Gebal mit einem bedenklichen Zucken der Augenbraunen.

»Ich will damit so viel sagen: Als Tifan sich und seinen Thronfolgern das Vermögen auch willkürlich viel Gutes zu tun nicht entziehen wollte, und diesem zu Folge der Krone ein unabhängiges jährliches Einkommen von zehen Millionen Unzen Silbers zueignete, worüber der König nach seinem Belieben schalten konnte; so geschah es unstreitig aus dem löblichsten Bewegungsgrund, und konnte, so lange sein Geist auf seine Nachfolger forterbte, dem Staate nicht anders als ersprießlich sein. Nur scheint er vergessen zu haben, daß eine große willkürliche Macht Gutes zu tun ihrem Besitzer notwendiger Weise auch eine eben so große Macht Böses zu tun erteilt; und daß also alle Könige nach ihm lauter Tifane gewesen sein müßten, wenn dieser Teil seiner Anordnungen nicht zu verderblichen Mißbräuchen Anlaß und Mittel hätte geben sollen.«

»Was du da sagst, Itimadulet, gilt wohl von der ganzen Gesetzgebung und Staatsverwaltung deines Tifan. Augenscheinlich war alles auf seine persönliche Denk- und Sinnesart berechnet. Die Scheschianer, um das zu bleiben was er aus ihnen machte, hätten immer einen Tifan an ihrer Spitze haben müssen. Wie konnte er so übermäßig bescheiden sein, so etwas als möglich vorauszusetzen?«

»In der Tat«, versetzte Danischmend, »glaubte er durch die äußerst sorgfältige Erziehung, welcher die künftigen Thronfolger nach dem Gesetz unterworfen sein sollten, sein möglichstes getan zu haben, um seinem Reich eine lange Folge eben so guter Könige, als er selbst war, zu versichern. Aber auch dies hing doch gänzlich von der [306] Beschaffenheit derjenigen ab, denen die Vollziehung dieses wichtigsten Teils seiner Gesetzgebung anvertraut werden mußte. Es läßt sich kaum denken, daß er alles dies, und was daraus folgt, nicht vorher gesehen haben sollte. Aber vermutlich war seine Meinung auch nur, selbst das möglichste Gute zu schaffen, und, nachdem er alle Vorsicht, deren ein weder unfehlbares noch allvermögendes Wesen fähig war, für die Zukunft angewandt hatte, es nun dem Schicksal zu überlassen, wie lange sein Werk, und die Bewegung die er ihm einmal gegeben hatte, dauern würde. Zum Unglück für Scheschian blieb der eben so weise als gute, und eben so tätige als weise Tifan, der (wie Ihre Hoheit so richtig urteilten) gleich dem Phönix der Fabel in jedem seiner Nachfolger wieder hätte aufleben müssen« –

»Ich bedanke mich in Parenthesi für die Verschönerung meiner Anmerkung«, sagte der Sultan mit einem etwas zweideutigen Lächeln.

– »unter zweiundzwanzig Königen, aus welchen die Tifanische Dynastie bestand, der einzige in seiner Art; seinen Sohn Temor ausgenommen, der unter der langen Regierung seines Vaters Zeit genug gehabt hatte sich zu überzeugen, daß er, wenn die Reihe dereinst an ihn käme, gegen die Gewohnheit der Thronfolger, nichts besseres tun könne, als sich so zu betragen, daß die Scheschianer noch immer von Tifan regiert zu werden glauben möchten. Dieser Temor würde, seiner vortrefflichen Erziehung ungeachtet, in einer Epoke wie jene, worin sein Vater einen so großen Charakter entfaltet hatte, nur eine mittelmäßige Rolle gespielt haben: in den glücklichen Umständen hingegen, worin er den Thron bestieg, war er gerade deswegen, weil er funfzig Jahre lang Tifans bester Untertan gewesen war, der würdigste Nachfolger dieses großen Königs. Allein mit ihm endigte sich auch das wirkliche goldne Alter der Scheschianer. Nach einer dreißigjährigen Regierung hinterließ Sultan Temor den Thron seinem Sohne Turkan, der das Feuer des Geistes, den Mut und die Tätigkeit seines Großvaters geerbt zu haben schien, aber, da ihm sowohl die Anlage zu den sanftern Tugenden, als der Vorteil, von einem Dschengis in der Dunkelheit des Privatstandes erzogen zu sein, mangelte, eben darum weil er nur zur Hälfte Tifan war, der glücklichen Verfassung seines Vaterlandes die erste Wunde schlug. Nach den Versuchen zu urteilen, die er in den ersten Jahren seiner Regierung machte, die Reichsstände zu verschiedenen Änderungen in den Gesetzen Tifans zu bewegen – Änderungen, welche unter dem Anschein des gemeinen Besten die Macht der Krone beträchtlich vermehrt haben würden –, hätte sein unruhiger Geist sich schwerlich [307] an dem bescheidenen Ruhme seines Vaters begnügt, wenn ihm ein langwieriger Krieg mit dem Könige von Katay nicht einen andern Tummelplatz eröffnet hätte. Er hörte sich zwar gern den zweiten Tifan nennen; aber er wollte es auf seine eigene Art sein« –

»Was du ihm doch nicht übel nehmen wirst?« fiel Schach-Gebal ein –

»Ich nicht; aber die Scheschianer hatten gegen diese eigene Art manches einzuwenden.«

»Danischmend mein Freund, von einem Itimadulet sollte man billig erwarten, daß er das Volk besser kennen müßte, um aus diesem Umstand etwas zum Nachteil Turkans zu folgern. Deine Scheschianer machten es, denke ich, wie alle ihresgleichen wenn es ihnen zu wohl geht: sie wurden übermütig.«

»Sire«, erwiderte Danischmend, »wofern dies der Fall war, so ließ es Turkan nicht an sich fehlen, den Exzeß ihres Wohlbefindens nach Möglichkeit zu mäßigen. Denn er führte Krieg beinahe seine ganze Regierungszeit durch, und Scheschian hatte den ganzen Wohlstand vonnöten, der die Frucht einer achtzigjährigen Ruhe unter der besten Staatsverwaltung war, um von den Folgen seiner glänzenden Unternehmungen nicht zu Boden gedrückt zu werden. Katay war damals nach Scheschian das mächtigste Reich im Osten; es besaß, wie jenes, einen großen Überfluß an den kostbarsten Naturgütern: aber seiner innern Verfassung nach stand es weit hinter jenem zurück, und der große Handelsverkehr, der zwischen beiden Völkern vorwaltete, war gänzlich zum Vorteil der Scheschianer. Übrigens konnte man diesen Krieg in so fern gerecht auf Seiten der Scheschianer nennen, als die erste Veranlassung nicht von ihnen herrührte: aber wahrscheinlich würde Tifan an dem Platze seines Enkels Mittel gefunden haben, auf eine oder andere Weise den Ausbruch desselben zu verhüten.«

»Herr Danischmend«, fiel der Sultan ein, »wenn der Hof von Katay die Gelegenheit gegeben hatte, so erforderte doch wohl die Ehre der scheschianischen Krone eine Beleidigung nicht ungestraft hingehen zu lassen? Aber worin bestand denn die Beleidigung?«

»Eine von den tatarischen Horden, die unter dem Schutze des Königs von Katay standen, hatte eine scheschianische Karawane geplündert. Turkan forderte im Namen seiner Untertanen Genugtuung; der Hof von Katay zögerte; Turkan erneuerte seine Forderungen mit Hitze und Stolz, und da er immer kältere Antworten erhielt, so eilte er (in der Tat viel rascher als er getan haben würde wenn es ihm um Beibehaltung des Friedens zu tun gewesen wäre), seinen [308] nicht weniger stolzen Nachbar die Überlegenheit seiner Macht auf die nachdrücklichste Art fühlen zu lassen. Nach der Grundverfassung des Reichs konnte der König keinen Krieg ohne Einstimmung der Nation unternehmen. Aber diesmal fand Turkan eine große Mehrheit derselben willig, seinen Antrag aus allen Kräften zu unterstützen: das Volk, weil es die erlittene Beleidung um so höher empfand, je lebhafter es seine Vorzüge über die Katayer fühlte; und den Adel, weil ein großer Teil desselben sich Ruhm, Ehrenstellen, und andere ansehnliche Vorteile von dieser Gelegenheit versprach. Der Krieg wurde also beschlossen, und die in Feuer gesetzten Scheschianer beeiferten sich, ihren jungen König, der an der Spitze seines Heers die Miene hatte einem gewissen Sieg entgegen zu eilen, durch Verdoppelung der gewöhnlichen Kriegsmacht und freudige Bewilligung außerordentlicher Beiträge so lange zu unterstützen, bis er den gedemütigten Feind zu einem rühmlichen Frieden gezwungen haben würde. Dieser würde auch vermutlich in wenigen Feldzügen erhalten worden sein, wenn Turkan und sein Volk sich der Vorteile, die ihnen das Glück anfangs zuwandte, mit etwas mehr Mäßigung hätten bedienen wollen. Aber kaum hatte ihnen der erste Sieg einen Teil der feindlichen Grenzen unterworfen, so mischte sich schon die Eroberungssucht ins Spiel; und eine der schönsten Provinzen des Katayschen Reichs, welche Turkan dem seinigen einzuverleiben beschlossen hatte, und die er wechselsweise bald einnahm bald wieder verlor, blieb nicht nur das Ziel eines Krieges, der mit abwechselndem Glücke beinahe seine ganze Regierung durch währte, sondern auch, nachdem sie ihm abgetreten worden war, auf lange Zeit die Quelle eines unversöhnlichen Hasses und oft erneuerter Fehden zwischen den Königen von Katay und Scheschian.

Turkan genoß die Ruhe nicht lange, die er seinem erschöpften Volk endlich wieder verschafft hatte. Von seinen vier Söhnen waren drei auf dem Bette der Ehre gestorben; und so folgte ihm Akbar, der jüngste, in einem Alter, worin es, selbst bei einer Erziehung wie die scheschianischen Königssöhne erhielten, schwer ist, ein großes Volk – und noch schwerer sich selbst zu regieren.«

»Keine Satiren mehr, Herr Danischmend!« unterbrach der Sultan den Erzähler abermals: »vergiß nicht, daß mich nach dem Ende deiner Erzählung verlangt« –

»Wenn dies ist«, sagte Danischmend, dem die sonderbare Laune seines Herren aufzufallen anfing, »so verdient Sultan Akbar Dank; denn seine Regierung war ein starker Schritt, wo nicht zum Ende der Geschichte von Scheschian, wenigstens zu einer Abänderung seiner [309] Verfassung, die dasselbe nicht wenig beschleunigte. Akbar liebte die Künste, die nur im Frieden gedeihen, nicht weniger leidenschaftlich, als sein Vater die kriegerischen geliebt hatte: aber er begnügte sich nicht, die Spuren der Verwüstungen eines langwierigen Krieges in seinem Reich auszulöschen und dessen ehmaligen Wohlstand wieder herzustellen. Er wollte noch mehr tun als Tifan und Temor, und wurde nicht gewahr, daß er, während er sich überredete den höchsten Flor des Reichs zum einzigen Augenmerk zu haben, bloß für seine Lieblingsleidenschaften arbeitete. Von lauter Künstlern und Virtuosen, Kennern und Dilettanten umgeben, deren Interesse war seine Leidenschaft vielmehr anzufeuern als zu mäßigen, hörte er in seinem ganzen Leben nichts was ihn aus dieser süßen Täuschung hätte wecken können. Azor, Lili, und Alabanda selbst blieben in allem, was sie für die schönen Künste taten, weit hinter ihm zurück: denn man mußte ihm die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß er sie nicht, nach Gewohnheit der meisten Fürsten, zu bloßen Sklaven seines Vergnügens herab würdigte, sondern sie um ihrer selbst willen liebte, und nur an der Vollkommenheit ihrer Werke Vergnügen fand. Auch darüber hatte sich keine zu beklagen, daß er sie etwa aus Vorliebe zu einer andern vernachlässige; jede schien vielmehr berechtigt sich für die vorzüglich begünstigte zu halten. Indessen war doch gewiß, daß die Baukunst, weil sie mit seiner Liebe zum Schönen zugleich seine Prachtliebe und Eitelkeit am meisten befriedigte, den ersten Rang in seiner Zuneigung behauptete; wenigstens konnte man nicht anders urteilen, wenn man die Menge und Herrlichkeit aller Arten von öffentlichen Gebäuden sah, womit er die Residenz Scheschian und alle Hauptstädte seiner Provinzen angefüllt hatte. Natürlich reichten die Einkünfte der königlichen Domänen, so groß sie auch waren, bei weitem nicht zu, eine so kostbare und unersättliche Leidenschaft zu befriedigen: und kaum fühlte man diese Unzulänglichkeit, so entstand eben so natürlich das Verlangen ihr abzuhelfen. Das kürzeste Mittel war, einen kleinen Bruch in das Gesetzbuch Tifans zu machen, und Seiner Hoheit nicht nur die willkürliche Verwaltung des öffentlichen Schatzes, sondern auch die Macht nach Gutdünken neue Zuflüsse in denselben zu leiten, auf eine gute Art in die Hände zu spielen. Die Sache lag dem guten Akbar zu sehr am Herzen, als daß sich unter den Kunstliebhabern, von welchen sein Hof wimmelte, nicht gar bald einer gefunden hätte, der sein Haupt nicht eher zur Ruhe legte, bis er ein wohl berechnetes Plänchen, wie das alles am sichersten zu bewerkstelligen wäre, ausgearbeitet hatte. Alles kam darauf an, den Adel und die Priesterschaft [310] dahin zu bringen, daß sie sich, gegen eine billige Entschädigung, eine so ungeheure Ausdehnung der königlichen Gewalt gefallen ließen. Denn diese beiden mußten schlechterdings gewonnen werden: der Adel, wegen des entscheidenden Einflusses, den ihm die Staatsverfassung gab; diePriesterschaft, weil sie unmittelbarer auf das Volk wirkte und durch ihr Ansehen alles über dasselbe vermochte. Beides hatte große Schwierigkeiten, wofern Akbar versucht worden wäre seine Absichten durch gewaltsame Mittel erreichen zu wollen: aber beide Stände konnte man zu gewinnen hoffen, wenn man ihre Mitwirkung unter keiner andern Bedingung verlangte, als in so fern sie ihnen selbst vorteilhafter wäre als die Anhänglichkeit an die Tifanische Konstitution. In dieser Rücksicht glaubte man von den zehen Millionen Unzen Silbers, die der König aus seinen unabhängigen Domänen zog, keinen nützlichern Gebrauch machen zu können, als daß man sie zu Hebung der Skrupel verwendete, welche sich natürlicher Weise beim Antrag einer so wesentlichen Verschlimmerung der beschwornen Staatsverfassung in dem zarten Gewissen derjenigen erheben mußten, deren erste Pflicht die Erhaltung dieser Verfassung war. In der Tat hätten beide Stände eines höhern Grades von Uneigennützigkeit, als man von gewöhnlichen Menschen erwarten darf, vonnöten gehabt, wenn sie eine so günstige Gelegenheit hätten versäumen sollen – die einen, ihre durch den letzten Krieg und durch die Nachahmung der Kunst- und Prachtliebe des jungen Königs erschöpften Finanzen wieder herzustellen –, die andern, welche sich seit Tifans Zeiten mit sehr spärlich zugemeßnen Einkünften behelfen mußten, die ihrigen zu verbessern und ihren Wünschen so viel möglich gleich zu machen. Man trat also in aller Stille mit den vornehmsten Gliedern des Ausschusses der Reichsstände in geheime Unterhandlungen; die Herren machten ihre Bedingungen; man wurde des Handels eins. Aber, was der Hof als den ersten Präliminarpunkt zugestehen mußte, war: Daß es, um die Nation nicht zu sehr zu erschrecken, schlechterdings nötig sei, die alte Form der Verfassung beizubehalten, und sich vor der Hand an der unbegrenzten Bereitwilligkeit der Stände, dem König alles was er verlangen würde zu bewilligen, um so mehr zu begnügen, da die zugleich stillschweigend erteilte Freiheit, den Staat mit so viel Schulden zu belasten, als die väterliche Sorge Seiner Hoheit für den möglichsten Flor desselben bei Gelegenheit etwa für nötig erachten möchte, die zu Dero gnädigstem Befehl stehenden Summen nach Gutbefinden duplieren und triplieren konnte.

Die edeln und ehrwürdigen Patrioten, mit welchen dieser geheime [311] Traktat geschlossen wurde, nahmen es auf sich, ihre übrigen Kollegen, unter den zugestandenen Bedingungen, auf ihre Seite zu bringen, und fanden weniger Widerstand als sie sich selbst vorgestellt hatten: so viel hatten bereits seit Tifans Zeiten die Sitten an ihrer Einfalt und die Gesetze an ihrer Energie verloren!

Akbar berief nun die Stände, um, wie er sagte, über die gegenwärtige Lage und Bedürfnisse des Vaterlandes sich mit ihnen zu beraten. Der Friede, hieß es in der königlichen Rede vom Throne, habe zwar, zu großer Freude Seines väterlichen Herzens, alle Quellen des gemeinen Wohlstandes wieder reichlicher als jemals fließen gemacht: aber die gänzliche Ausheilung aller Wunden, die ein beinahe zwanzigjähriger Krieg dem Staate geschlagen habe, und sowohl die Sicherstellung desselben gegen seine natürlichen Feinde, die nur durch eine entschiedene Überlegenheit von neuen Unternehmungen abgeschreckt werden könnten, als die Erhaltung der so teuer errungenen Früchte des Sieges, machten mehr als gewöhnliche, wiewohl die Kräfte der Nation nicht übersteigende Anstrengungen vonnöten; zu welchen Seine Hoheit Ihre getreuen Stände um so bereitwilliger zu finden hofften, da Sie es ihrer Weisheit gänzlich überließen, für die nötige Vermehrung der Staatseinkünfte durch solche Mittel und Wege zu sorgen, die den Untertanen, besonders der ehrwürdigen Klasse der Landleute, die wenigste Beschwerde verursachen würden.

Die Stände blieben Seiner Hoheit in ihrer Antwort nichts schuldig: denn wiewohl der Geist der Zeiten Tifans von Scheschian gewichen war, so hatte man doch die Sprache derselben beibehalten; und der Kanzleistil jener Zeit blieb immer eben derselbe, auch nachdem es so weit gekommen war, daß man durch die wechselseitigen Komplimente, die der König dem Volke, und die Repräsentanten des Volkes dem Könige machten, des öffentlichen Elendes nur zu spotten schien. Seine getreuen Stände fühlten sich unvermögend, sagten sie, einem so huldreichen und so unermüdet für das Glück Seiner Völker arbeitenden Monarchen den ganzen Umfang des Vertrauens und der Anhänglichkeit, wovon sie durchdrungen wären, zu beweisen. Was könnten sie, um nicht gar zu weit hinter ihrer Pflicht zurück zu bleiben, weniger tun, als den Beschluß fassen, Sein Vermögen Gutes zu tun Seiner grenzenlosen Tätigkeit gleich zu machen? – Diesem zu Folge übertrugen sie ihm volle Machtgewalt, über die Verwendung des öffentlichen Schatzes eben so unbeschränkt zu gebieten als über seine eigene Kasse; und um den großmütigsten der Fürsten in den Stand zu setzen, seinen wohltätigen [312] Wünschen einen desto freiern Spielraum zu geben, ordneten sie verschiedene neue Abgaben an, wovon man zwar seit mehr als hundert Jahren in Scheschian nichts gewußt hatte, die sich aber um so leichter rechtfertigen ließen, da das Reich durch die natürlichen Folgen der Tifanischen Einrichtungen sich augenscheinlich auf einer Stufe von allgemeinem Wohlstand befand, der eine namhafte Vermehrung der Staatseinkünfte ohne merkliche Bedrückung des Volkes möglich und zulässig zu machen schien. Dagegen bewies aber auch Sultan Akbar seine Dankbarkeit für das in ihn gesetzte Vertrauen durch die schönsten – Versprechungen: und als eine tätige Probe seines guten Willens gab er sogleich zwei Gesetze, wovon das eine den Adel, zu einiger Entschädigung für die großen Opfer, die er dem Staat in dem Katayschen Kriege gebracht hatte, auf eine unbestimmte Zeit von allen Abgaben befreite; das andere den Verdiensten des Priestertums, durch verhältnismäßige Erhöhung des Einkommens der verschiedenen Priesterklassen und Stiftung einer Anzahl neuer reich begabter Tempel und Ordenshäuser, gebührende Gerechtigkeit widerfahren ließ.«

»Vortrefflich!« rief Schach-Gebal: »das konnt ich mir voraus vorstellen, daß die Herren die Baulust meines guten Bruders Akbar nicht unbenutzt lassen würden. Aber das Volk, auf dessen Unkosten dieser ganze schöne Handel abgeschlossen wurde, was sagte das dazu?«

»Sire«, erwiderte Danischmend, »das Volk ist, wie Ihre Hoheit wissen, ein gar launiges, grillenhaftes Tier: zur einen Zeit duldet es die auffallendsten Eingriffe in seine Rechte mit der kaltblütigsten Gleichgültigkeit, zur andern gerät es über die unbedeutendste Kleinigkeit in Feuer; heute kann man alles von ihm erhalten, morgen vielleicht gar nichts. Die Scheschianer hatten sich in einigen ruhigen Jahren völlig wieder hergestellt; Akbars Prachtliebe, und die großen Werke, wodurch er alle Arten von Künstlern und Arbeitern in Beschäftigung und ungeheure Summen in den schnellsten Umlauf setzte, machten seinen Namen und seine Regierung der Nation beliebt; der allgemeine Wohlstand, der für den Augenblick dadurch befördert wurde, erhöhte ihren Mut, und machte sie geneigt, dem Fürsten, und den seinem Beispiele nacheifernden Großen einen Teil dessen, was sie von ihnen gewannen, ohne eine allzu genaue Berechnung wieder zu geben. Überdies hielt man es für billig, daß der Adel, der im Kriege sich um die Nation verdient gemacht und zum Teil wirklich viel dabei eingebüßt hatte, belohnt und entschädiget würde; und die Priesterschaft stand, ihrer Weisheit und reinen Sitten wegen, [313] in einem so hohen Ansehen bei dem Volke, daß es von freien Stücken noch mehr für sie zu tun geneigt war als Akbar vorschlug. Bei allem dem fehlte es doch hier und da nicht an Widerspruch und Mißvergnügen, und viele Alte, die von ihren Vätern das Glück der Zeiten Tifans rühmen gehört hatten, weissagten der Nachkommenschaft wenig Gutes von der kühnen Anmaßung, eine Konstitution, welche mehr das Werk einer wohltätigen Gottheit als eines Sterblichen schien, so leichtsinnig verbessern zu wollen. Aber sie wurden überstimmt, und manche Generation ging vorbei, ehe die Folgen der Übel, zu welchen jetzt der Grund gelegt wurde, den Scheschianern zu spät die Augen öffneten.

Es bedarf vielleicht vieler Jahrhunderte, bis so ein Gebäude, wie Tifan errichtet hatte, vor Alter und Baufälligkeit zusammen sinkt. Gleichwohl hätte dieser Augenblick endlich kommen müssen; denn daß eine unzerstörbare Staatsverfassung unter die unmöglichen Dinge gehöre, ist noch von niemand geleugnet worden.«

»So hätte ich große Lust der erste zu sein«, sagte Gebal lachend. »Warum wär es denn so unmöglich, ein Staatsgebäude aufzuführen, das wenigstens eben so dauerhaft wäre als die Pyramiden in Ägypten, die schon einige tausend Jahre stehen, und wahrscheinlich so lange stehen werden, als der Elefant, der die Erde trägt, auf der großen Schildkröte, und die Schildkröte auf der zusammen geringelten Schlange?«

»O gewiß«, sagte Danischmend: »man brauchte zur Aufführung eines solches Staats nur die Pyramiden zum Muster zu nehmen. Auch ist dies, dünkt mich, bei unsern östlichen Staatsverfassungen bereits geschehen; und es erklärt sich daraus, warum, zum Beispiele, das sinesische Reich, wiewohl es schon so oft durch Eroberung unter fremde Oberherren gekommen ist, dennoch seine innere Verfassung bei jeder Revolution unverändert erhalten hat. Ich hätte mich also genauer ausdrücken, und sagen sollen, daß meine Behauptung nur von Staaten gelte, deren Bürger (wie die Scheschianer unter Tifan) freie Menschen sind. Ich zweifle sehr, ob für solche jemals eine bessere Konstitution als die Tifanische diesseits des Mondes gesehen worden ist; und doch ist leicht zu zeigen, daß gerade in dem was ihre Vortrefflichkeit ausmachte, die Ursache ihres Untergangs lag.«

»Wie käme das?« fragte der Sultan mit einer ironischen Miene von unglaubiger Verwunderung.

»Die Tifanische Konstitution«, antwortete Danischmend, »gründete sich einer Seits auf die Einschränkung der Monarchie durch eine solche Verteilung der höchsten Gewalt zwischen dem König, [314] dem Adel und den Stellvertretern des Volks, wodurch keines dieser politischen Gewichte, von deren richtigem Zusammenwirken der Wohlstand des Staats abhing, ein merkliches Übergewicht über die andern sollte erhalten können; andrer Seits auf die Güte der Sitten, und auf eine Kultur, wodurch Tifan die Dauer seiner Gesetze zu einer natürlichen Folge der freien Überzeugung des Volkes von ihrer einleuchtenden Vernunftmäßigkeit zu machen hoffte. Auf diesen zwei Hauptpfeilern ruhte sein ganzes Gebäude; aber jeder dieser Pfeiler selbst stand auf einem sandigen Grunde, der unter einem so schweren Gewicht unvermerkt weichen mußte. Niemals wird in irgend einem Staate derjenige, der mit irgend einem Anteil an Macht und Ansehen bekleidet ist, sich lange in der Einschränkung halten, die ihm das Gesetz vorgeschrieben hat. Gibt das Gesetz die höchste Gewalt in die Hand eines Einzigen; so wird dieser Einzige nicht ruhen, bis er sichüber das Gesetz erhoben, und es dahin gebracht hat, daß sein Wille, nicht der allgemeine, das höchste Gesetz ist. Verteilt es dieselbe unter mehrere durch einander eingeschränkte Mächte; so wird jede von ihnen, so gut wie jener Einzige, sich so lange auszudehnen streben, bis sie den Damm, der sie einzwängen soll, durchbrochen hat: und ist das Gesetz einer jeden, für sich allein, zu mächtig; so werden sie sich gegen dasselbe vereinigen, oder in geheime Unterhandlungen mit einander treten, und – unter der Bedingung sich in die Vorteile, die sich keine allein zuzueignen vermag, brüderlich zu teilen – die schicklichsten Mittel das Gesetz unkräftig zu machen mit einander abreden. Dieser Umstand ist für sich allein schon mehr als hinlänglich, den immer zunehmenden Verfall und endlich, die gänzliche Auflösung jeder politischen Gesellschaft zu bewirken: aber auch ohne ihn würde bloß die Kultur (ich meine eine solche, wozu Tifan durch seine Gesetze den Grund legte) mit der Zeit die nämliche Wirkung hervorbringen.«

»Danischmend ist heute zu paradoxen Behauptungen aufgelegt«, sagte der Sultan: »aber ich seh ihn kommen« –

»Ihre Hoheit halten mir zu Gnaden«, fuhr dieser fort, »wenn ich Ihnen etwas sehr Einfältiges zu sagen scheinen werde, das aber darum nicht weniger wahr ist. Damit ein Volk sich gutwillig einer Regierung unterwerfe, welche, vermöge der Natur der Sache und des Menschen, ewig nach ungebundener Willkürlichkeit strebt, muß besagtes Volk sich in einem Zustande von Dumpfheit, Einfalt und Unmündigkeit befinden, der genau so lange und keinen Augenblick länger dauern kann, als es in Unwissenheit und Vorurteile, gleich einem Wickelkinde, um und um eingewickelt bleibt: und wofern ein [315] gewisser Grad von Kultur sich mit diesem Zustande vertragen soll; so muß die vereinigte Gewalt der Gesetze, der Erziehung, der Sitten und der Gebräuche, im Notfall durch die Schrecken eines eisernen Despotismus verstärkt, zusammen wirken, jeden Fortschritt zu höhern Stufen unmöglich zu machen. Ist aber dieser Fortschritt frei gelassen, wird er durch die Verfassung sogar befördert: so ist nichts natürlicher, als daß endlich die Zeit kommen muß, wo das besagte Volk mit seinen Befugnissen und Rechten, und überhaupt mit seinem wahren Interesse so bekannt wird, daß es sich nicht länger zum leidenden Gehorsam bequemen will, geschweige daß die Blendwerke, Gaukeleien und Zauberformeln länger bei ihm anschlagen sollten, womit es sich ehmals in seiner Dumpfheit bemaulkorben und nach der Pfeife seines Führers tanzen machen ließ. Es wird also« –

»Erspare dir die Mühe uns zu sagen was es tun wird, Itimadulet«, fiel ihm der Sultan ins Wort – »wir kennen das! Aber meinst du nicht auch, daß sich aus dem, was du uns eben da zu sagen beliebt hast, ein vortreffliches Argument gegen deine fortschreitende Kultur ziehen ließe?«

»O gewiß ein vortreffliches«, sagte Danischmend mir einer lächelnden Grimasse, die nicht ganz so ehrerbietig war als einem ersten Minister, der seinem Gebieter antwortet, geziemen will.

»Nicht daß ich etwas gegen die Kultur hätte«, fuhr der Sultan ganz kaltblütig fort: »im Gegenteil! – Nur mit deiner fortschreitenden Kultur, Herr Danischmend, die so lange fortschreitet bis sich die Leute gar nicht mehr regieren lassen wollen, mit der würde ich mich schwerlich recht vertragen können. Ich liebe Ordnung und Ruhe in meinem Lande; das Ei soll nicht klüger sein wollen als die Henne; und wer zum Dreschflegel, zum Hammer, zur Nadel und zur Ahle geboren ist, soll sich den Kopf nicht damit zerbrechen, was er tun wollte, wenn er Oberrichter, Statthalter, Itimadulet, oder Herr des weißen Elefanten wäre. Das ist meine Meinung von der Sache; und nun weiter im Text, Freund Danischmend!«

»Die gar zu schöne, gar zu gute, gar zu vernünftige, und eben darum (wie Ihre Hoheit weislich bemerkt haben) für so alberne Tiere als die Menschen sind gar nicht passende Verfassung, welche Tifan der Einzige den Scheschianern gab, würde also, wenn man sie auch ihre natürliche Zeit hätte ausleben lassen, endlich doch ein Ende genommen haben, sagte ich: aber die Maßregeln, die der Pracht und Kunst liebende Akbar mit seinen getreuen Ständen nahm, ließen es dazu nicht kommen, sondern beschleunigten den fatalen Zeitpunkt [316] um einige Jahrhunderte. Der erste und gefährlichste Schritt war nun glücklich gemacht. Der Hof hatte das Vergnügen zu sehen, daß ein so gewaltiger Bruch in die Tifanische Grundverfassung nicht nur ohne die geringste Erschütterung, sondern sogar mit fast allgemeinem Beifall, gemacht worden war: so eifrig hatten sich's die dankbaren und in aller Stille nach höhern Dingen strebenden Priester angelegen sein lassen, das Glück der Regierung Akbars, und die unendlichen Vorteile, die dem Reich aus den neuen Einrichtungen zuwachsen würden, dem gläubigen Volke von ihren Lehrstühlen sowohl als bei allen andern Gelegenheiten anzupreisen. Von nun an wußte der Hof, der Adel und die Klerisei wie sie mit einander ständen; jener wußte daß er durch diese, diese daß sie durch jenen erhalten könnten was sie wollten. Das alles machte sich anfangs mit der größten Leichtigkeit. Die höchst einfachen Formeln – ›Was wird uns für unsre Gefälligkeit?‹ und ›was verlangen die Herren?‹ – machten die ganze Prozedur aus. Nichts war tröstlicher, als die Harmonie und Eintracht zu sehen, die zwischen dem Hof und dem Ausschusse der getreuesten Stände vorwaltete; nichts bewundernswürdiger, als der leichte und rasche Gang aller Unternehmungen des erstern, die ohne die geringste Friktion von Statten gingen und in der möglichst kürzesten Zeit in größter Vollkommenheit zu Stande kamen; nichts auffallender, als der Glanz, die blühende Gestalt, das Ansehen von Wohlhabenheit, Überfluß und Reichtum, welche Akbars Regierung über das ganze Reich verbreitete. Unglücklicher Weise konnte nur alle diese Herrlichkeit von keiner langen Dauer sein. Denn wie hätten nicht beide Teile bald genug ausfündig machen sollen, daß ihr besonderes Interesse bei diesem Handel, den sie auf Unkosten des allgemeinen Besten mit einander geschlossen hatten, nicht so ganz eben dasselbe sei? Augenscheinlich erforderte es der Vorteil des Hofes, die Gefälligkeiten, die er verlangte, recht wohlfeil zu haben; umgekehrt hingegen verhielt es sich mit dem Interesse der Stände und ihrer Stellvertreter; denn dieses war natürlicher Weise, ihre Ware so teuer zu verkaufen als möglich. In der Tat war der Appetit der letztern so stark, daß das Doppelte von allen Einkünften des Königs kaum zugereicht hätte, ihre bescheidenen Wünsche zu befriedigen. Dagegen hatte auf der andern Seite der Hof, dessen Kasse dem Fasse der Danaiden glich, immer so viele und dringende Bedürfnisse, daß die Reichtümer des ganzen Staates zu ihrer Befriedigung noch unzulänglich schienen. Es konnte also nicht fehlen, daß jene gute Harmonie in der Folge von beiden Seiten durch Schwierigkeiten, Zögerungen und Verweigerungen von [317] Zeit zu Zeit unterbrochen werden mußte. Die Kunst einander auf eine feine Art wechselseitig zu hintergehen und zu übervorteilen, wurde nun das Hauptstudium der Höflinge und der Stellvertreter der Nation: aber auch diese verächtliche Art von Politik reichte nicht lange zu; und die Herren des Ausschusses, durch die gutmütige Geduld des Volkes immer kühner gemacht, fanden zu wichtige Vorteile bei einer unbegrenzten Gefälligkeit gegen die Forderungen des Hofes, als daß die Betrachtung, wie wohl oder übel die ärmern Volksklassen sich dabei befänden, sie länger zurück gehalten hätte. Im Gegenteil, man suchte sich selbst über diesen Punkt durch die gewöhnlichen Trugschlüsse zu täuschen. ›Der Augenschein zeigt ja‹, sagte man, ›daß die Quellen sich mit den Abgaben zugleich vermehren. Ein zu großer Wohlstand ist den untern Klassen mehr nachteilig als vorteilhaft; denn er reizt sie nur zu Müßiggang und Üppigkeit. Sie arbeiten immer nur so viel sie müssen. Größere Abgaben ermuntern die Industrie, und dies in dem Maße, wie sie die Wohlhabenheit und selbst die Subsistenz erschweren‹ – und was dergleichen halb wahre Kameralweidsprüche mehr sind. In der Tat schien die noch immer zunehmende Lebhaftigkeit der Zirkulation, die hohe Vollkommenheit wozu die Fabriken und Handarbeiten getrieben wurden, und der blühende Zustand des auswärtigen Handels, die neuen Maximen eine Zeit lang zu bestätigen. Was für Tifans Zeiten schicklich und sogar notwendig war, hieß es, paßt nicht mehr auf die unsrige. Unvermerkt gewöhnte man sich daran, die Quelle, aus welcher man immer unbescheidener schöpfte, für unerschöpflich zu halten; und so erschwerte man die Subsistenz der Armen, in der wohltätigen Absicht ihre Emsigkeit aufzumuntern, so lange, bis endlich Mangel, übermäßige Arbeit, und die Verzweiflung sich jemals zu einem bessern Zustand hinauf zu arbeiten, ihnen zuletzt das Dasein selbst unerträglich zu machen anfing; ein fürchterlicher Augenblick, der bei einer großen Nation sich gewöhnlich damit endiget, daß sie in einem allgemeinen Aufstand ihre letzten Kräfte zusammen rafft, um sich entweder selbst zu helfen, oder sich zugleich mit ihren Unterdrückern unter den Trümmern des Staats zu begraben.

Von diesem verzweifelten Zustande waren die Scheschianer zwar unter Akbars glänzender Regierung noch weit entfernt: aber, nachdem durch ihre eigene unverzeihliche Nachlässigkeit die Schranken, in welche Tifan die königlichen Prärogative eingeschlossen hatte, einmal durchbrochen waren, eilte der Staat unter seinen Nachfolgern dem Untergange mit immer schnellern Schritten entgegen. [318] Denn nun folgte eine Reihe namenloser Könige, die das Ruder der Regierung, welches sie selbst zu führen unvermögend oder unlustig waren, bald einer Bande zusammen verschworner Minister, bald einem unersättlichen Günstlinge, bald einer ausschweifenden Buhlerin, bald einem herrschsüchtigen Priester, bald dem ersten besten der sich dessen bemächtigen wollte, überließen. Tifans öffentliche Anstalten gerieten zusehens in Verfall, seine wichtigsten Gesetze kamen nach und nach außer Übung, und wurden zuletzt ein bloßer Gegenstand akademischer Streitfragen; und was etwa von seinen Einrichtungen noch beibehalten wurde, erhielt unter den Händen der Priester unvermerkt eine so veränderte Form und Richtung, daß der reine wohltätige Geist des Stifters gänzlich dabei verloren ging, und vielmehr gerade das Gegenteil von dem heraus kam, was er dadurch hatte bewirken wollen.

Wenn die Priesterschaft von Scheschian, wie ich neulich bereits erwähnte, unter die letzten gehörte, die dem einbrechenden Schwall der Sittenverderbnis nachgaben; so darf ich nicht vergessen, zur Steuer der Wahrheit hinzu zu setzen: daß es schwer gewesen wäre den Zeitpunkt zu bestimmen, worin diese ehrwürdigen, exemplarischen Lehrer des Tifanischen Gesetzbuchs die Bemerkung machten, daß man mit dem äußerlichen Scheine der Weisheit und Heiligkeit beim Volk ungefähr eben so weit, und oft noch weiter komme als mit der Realität, und daß das erstere den Neigungen und Leidenschaften der menschlichen Natur ungleich bequemer sei. Genug, die scheschianischen Bonzen machten diese Bemerkung ungefähr um eben die Zeit, oder bald nachher, da der großmütige Akbar sich ihres guten Willens, durch die vorerwähnten ansehnlichen Vermehrungen ihres Anteils an den Gütern dieser Welt, versichert hatte; und nachdem sie einmal gemacht war, währte es nicht lange, daß mit der Sinnesart und den Tugenden der ehmaligen Priester von Tifans Schöpfung auch die letzte Stütze seiner Gesetze verschwand, und diese Klasse von Staatsbürgern durch die Heuchelei und den blendenden Schein, womit sie ihre unbändige Herrschsucht und ihre übrigen Laster zu verdecken wußte, dem Reiche wieder eben so schädlich wurde, als ihre Vorfahren unter Azor und Isfandiar.

Indessen, da es damit vermöge der Natur der Sache langsamer herging, und die Priester ihr Spiel mehr als andere verbergen mußten, gewann der scheschianische Adel einen starken Vorsprung. Sein Reichtum und sein Ansehen stieg unter jeder neuen Regierung; er bemächtigte sich aller Civil- und Militärämter, die ihm Gelegenheit verschafften noch reicher zu werden; er besetzte alle subalterne Stellen [319] mit seinen Kreaturen, und übte über den Hof selbst eine Art von Tyrannei aus, die endlich sogar einem der schwächsten unter allen namenlosen Königen unerträglich zu werden anfing. Dieser König, zu seiner Zeit Tifan der Zweite genannt, wurde solang er lebte von der Königin seiner Gemahlin, und die Königin seine Gemahlin« –

»Wie hieß sie?« fragte Schach-Gebal –

»Dulika, wenn Ihrer Hoheit etwas an ihrem Namen gelegen ist« –

»Warum nicht, da man mir sogar den namenlosen König ihren Gemahl genannt hat? Ich liebe Konsequenz, auch selbst in Kleinigkeiten, Herr Danischmend.«

»Wollte Gott«, dachte Danischmend, »Ihre Hoheit liebten sie in wichtigern Dingen!« – Aber er hütete sich diesmal es laut zu denken.

»Der König also wurde, wie gesagt, von seiner Gemahlin Dulika, und die Königin Dulika, die ihrem Gemahl an Beständigkeit in ihren Zuneigungen nichts nachgab, ihre ganze Regierung durch fast eben so unbeschränkt von Kolaf, dem Oberbonzen der Stadt Scheschian, regiert.«

Gebal warf einen Blick auf die Sultanin Nurmahal, öffnete den Mund, biß sich in die Lippen, und sagte – nichts.

Danischmend fuhr fort, ohne zu tun als ob er es bemerkt hätte: »Tifan der Zweite gehörte weder unter die bösartigen noch unter die blödsinnigsten Fürsten seiner Zeit; im Gegenteil, er war ein strenger Freund von Zucht, Ordnung und Gerechtigkeit, haßte den Müßiggang, und liebte sein Volk: aber zum Unglück war er ein noch größerer Liebhaber von – Schmetterlingen. Der schlaue Bonze bediente sich dieser unschuldigen Schwachheit, Seiner Hoheit beizubringen, daß es keine königlichere Leidenschaft gebe als die Liebe zur Naturgeschichte; dafür gestand er aber auch sehr gern, daß die Schmetterlingsgeschichte der interessanteste Zweig dieser weitläufigen Wissenschaft sei, und daß eine vollständige Sammlung aller Schmetterlingsarten in der Welt ein beneidenswürdiger Schatz wäre, wodurch sich ein König von Scheschian über alle Völkerhirten gegen Morgen und Abend erheben würde. Die Naturgeschichte war um diese Zeit gerade das Lieblingsstudium der Gelehrten und Ungelehrten in Scheschian. Der Oberbonze Kolaf hatte also wenig Mühe, mit Hülfe aller jungen Bonzen denen an seiner Gunst gelegen war, das Schmetterlingskabinett Seiner Hoheit in kurzer Zeit ansehnlich zu erweitern. Tifan der Zweite beschäftigte sich in eigener Person sowohl mit allen zur Aufbehaltung seiner Sommervögel nötigen Arbeiten, als mit ihrer Anordnung und zierlichen Aufstellung.

[320] Nach und nach dehnte sich seine Liebhaberei über alle übrigen Insekten, und als er auch damit fertig war, erst über die zweifüßigen Vögel, und zuletzt (wie es mit solchen Leidenschaften zu gehen pflegt) über alle lebendige und leblose Naturprodukte, auf, über und unter der Erde, aus; und das alles machte dem guten Könige so unendlich viel zu tun, daß er täglich dem Himmel dafür dankte, die Sorge für sein Reich einer so klugen Frau, wie seine Gemahlin in seinen Augen war, mit ruhigem Herzen überlassen zu können.

Kolaf bediente sich inzwischen seiner Gewalt über den Geist der Königin, sie auf das ungeheure Übergewicht des Adels und die Abnahme des königlichen Ansehens aufmerksam zu machen, und sie zu überzeugen, wie notwendig es sei, den Übermut dieser stolzen Untertanen zu dämpfen, und der Krone die verlorne Obermacht wieder zu verschaffen. Er schlug dazu zwei sehr zweckmäßige Mittel vor. Das eine war, einen Krieg anzufangen, der den zahlreichenAdel vermindern und ihm Gelegenheit geben würde, sich durch seine auch im Felde nicht eingeschränkte Üppigkeit und Prachtliebe zu Grunde zu richten; dasandere, den Priesterstand, dessen Ansehen beim Volke seine Anhänglichkeit an die Krone um so verdienstlicher mache, mehr als bisher zu begünstigen, und die ansehnlichern Civilbedienungen, die bisher größten Teils in den Händen unwissender, schlecht erzogener und lasterhafter Menschen übel genug verwaltet worden, mit würdigen Männern aus dem gelehrten Stande zu besetzen. Zum erstern fand sich gar bald eine Veranlassung; denn nichts ist leichter als Händel zu haben wenn man sie sucht: und zum letztern wußte Kolaf ebenfalls zu rechter Zeit Rat zu schaffen.

In der Tat hatte er dem größten Teile des scheschianischen Adels durch die Beschuldigung der Unwissenheit und schlechten Erziehung kein Unrecht getan. Schon lange waren die Gesetze Tifans, die sich auf die Erziehung des Adels bezogen, außer Übung gekommen. Diese von jenem weisen Fürsten, mehr als dem Staate und ihr selbst zuträglich war, begünstigteKaste, hatte seit der Regierung der Könige Turkan und Akbar ihre erhabene Bestimmung, den einzigen Grund ihrer Vorrechte, gänzlich aus den Augen verloren. Zu hoch über ihre Mitbürger hinauf gesetzt um nicht hoffärtig, und zu reich um nicht übermütig zu sein, überließen sich die scheschianischen Nairen in den Jahren, worin sie zur Erfüllung ihrer künftigen großen Pflichten gebildet werden sollten, dem üppigsten Müßiggang und allen Ausschweifungen einer unbändigen Jugend. Sie blieben unwissend, und gewöhnten sich, Gelehrsamkeit und alles was Fleiß [321] und Anstrengung des Geistes erfordert, als Dinge die weit unter ihnen wären, anzusehen. Alle Zweige der Wissenschaften blieben also den Priestern und übrigen Gelehrten von Profession überlassen: und da die erstern vermöge der Konstitution zu Lehrern des Tifanischen Gesetzbuches bestellt waren, und durch ihre vielfachen Verhältnisse gegen das Volk die beste Gelegenheit hatten, sowohl den Charakter als die jedesmalige Lage, Bedürfnisse und Gesinnungen desselben besser als andere kennen zu lernen; so konnte der Oberbonze Kolaf mit gutem Fug erwarten, daß sein Plan, die Bonzen, die das Vertrauen des Volkes besaßen, nach und nach an die Plätze des allgemein verhaßten Adels zu bringen, den vollen Beifall des größern Teils der Nation erhalten würde.

Sobald er also einen ansehnlichen Teil der Nairen durch einen Krieg, den er selbst in geheim angezettelt hatte, aus Scheschian entfernt sah, wußte er es durch seine im ganzen Reiche verbreiteten Freunde und Ordensgenossen so einzuleiten, daß von allen Seiten große Klagen einliefen, über Untüchtigkeit, Unredlichkeit, Mißbrauch der obrigkeitlichen Gewalt, Versagung der Justiz, Verdrehung der Gesetze, Bestechungen, kurz über alle Arten von Verbrechen, deren die bisherigen Justiz- und Polizei-Stellen, Distriktsaufseher, Statthalter der Provinzen und andere Staatsbeamte aus der Kaste der Nairen sich schuldig gemacht hatten. Da es töricht gewesen wäre die Habichte bei den Geiern zu verklagen, so wurden alle diese Beschwerden unmittelbar vor den Thron gebracht. Sie verursachten scharfe Untersuchungen; man fand, sowohl des Beispiels wegen, als um das aufgebrachte Volk zufrieden zu stellen, für nötig, gegen die schuldig Befundenen mit der äußersten Strenge zu verfahren; und das letzte Resultat von allen diesen mit vieler Klugheit in einander gepaßten Operationen war: daß Kolaf zum ersten Minister des Königs, oder, eigentlicher zu reden, der Königin erhoben wurde, und daß binnen wenig Jahren die ansehnlichsten und einträglichsten Staatsbedienungen in den Händen solcher Priester waren, die sich durch Talente, Wissenschaft und einen Schein strenger Tugend und tadelloser Sitten ausgezeichnet hatten. Die Wahl des Hofes wurde dadurch in den Augen der Nation so vollständig gerechtfertigt, daß die Königin, unter dem Schirm der allgemeinen Liebe, welche sie sich durch diese Staatsverbesserung erwarb, nun freie Hände hatte, die wieder hergestellte königliche Autorität so weit auszudehnen als sie wollte.

Dieses Ungewitter, zu welchem Kolaf und seine Anhänger die Zurüstungen in größter Stille gemacht hatten, fand bei seinem Ausbruche [322] die Herren von der adelichen Kaste so wenig vorbereitet, daß ihnen nichts übrig blieb als sich in die Zeit zu schicken, und durch das zweideutige Verdienst des leidenden Gehorsams, womit sie sich den Verfügungen des Hofes unterwarfen, von ihren ehmaligen Vorrechten noch so viel zu retten, daß sie unter günstigern Umständen auch das Verlorne wieder zu gewinnen hoffen konnten.«

So weit war Danischmend, als der Bramine der Sultanin Nurmahal, welcher seit einigen Tagen die Erlaubnis hatte bei dieser Unterhaltung zugegen zu sein, ihn bemerken ließ, daß der Sultan unter seiner Erzählung unvermerkt eingeschlafen war. Der Erzähler empfahl sich also, und schlich in aller Stille nach Hause, um über eine und andere Bemerkung, die er diesen Abend gemacht hatte, seine Betrachtungen anzustellen. Es hatte ihm nicht entgehen können, daß Schach-Gebals Angesicht und Benehmen gegen ihn seit kurzem nicht mehr war wie sonst: und besonders an diesem Abend war die Laune, womit er ihn öfter als gewöhnlich unterbrach, so auffallend gewesen; der Sultan hatte so wenig verbergen können oder verbergen wollen, daß er etwas gegen ihn auf dem Herzen habe; auch hatte er in Nurmahals Gesicht etwas so zurück Gehaltenes, und an dem übermäßig freundlichen Braminen von Zeit zu Zeit eine so tückische Schadenfreude aus den halb geschlossenen Augen hervor blicken sehen. Das alles waren keine Zeichen von guter Vorbedeutung. Je mehr er allen Umständen nachdachte, desto mehr Licht ging ihm auf, und desto weniger blieb es ihm zweifelhaft, daß man über einem geheimen Anschlag gegen ihn brüte, und daß seine Itimaduletschaft, allem Ansehen nach, ihrem Ende nahe sei.

Danischmend hatte diese, ihm von Schach-Gebal in einem seltsamen Anstoß von sultanischer Laune aufgedrungene hohe Ehrenstelle zwar noch nicht lange genug bekleidet, um etwas getan zu haben, was ihm die Ungnade seines Herren oder der schönen Nurmahal und ihres Braminen hätte zuziehen können: aber er hatte desto mehr gedacht und gesprochen; und wenn die Derwischen, Bonzen und Fakirn nicht viel Gutes von ihm erwarteten, so sagte ihm sein Gewissen, daß sie alle Ursache dazu hätten. Er hatte sogar bereits von seinen Anschlägen gegen diese wackern Leute – von welchen er (wie wir wissen) nicht so günstig dachte, als sie es von einem Itimadulet von Indostan billig wünschen mochten – manches gegen den Sultan fallen lassen; und er kannte Seine Hoheit zu gut, um nicht voraus zu sehen, daß sein Geheimnis unverzüglich in den Schoß der schönen Nurmahal niedergelegt worden sei. Er begab sich also mit einer Art von Gewißheit zu Bette, daß es eine zwischen der Sultanin [323] und dem Braminen bereits abgekartete Sache sei, ihn baldmöglichst vom Hofe zu entfernen: aber daß der Augenblick der Ausführung schon so nahe sei, das hatte er sich nicht träumen lassen.

Die Überraschung war daher nicht gering, als er um die Zeit des ersten Morgengebets durch ein großes Getümmel in seinem Hause aus einem sehr ruhigen Schlummer geweckt wurde, und gleich darauf die Tür seines Schlafzimmers aufgehen und einen Officier von der Leibwache hereintreten sah, der ihm im Namen des Sultans ankündigte, daß er sein Gefangener sei.

Da auf ein solches Kompliment nichts anders zu antworten war, so stand Danischmend, beinahe so ruhig als er sich niedergelegt hatte, auf, kleidete sich hurtig an, und folgte dem Officier, der ihn durch einen Labyrinth von Gängen, Treppen und Gewölben endlich in einem kleinen, mit eisernen Gittern verwahrten Zimmerchen absetzte, ihm wohl zu leben wünschte, und, nachdem er die Tür abgeschlossen hatte, ein paar so schwere Riegel vorschob, daß er von dieser Seite seines Gefangenen halben völlig sicher sein konnte.

Danischmend, der sich gleich bei seiner Erhebung zum Itimadulet vorgestellt hatte, daß die Komödie ungefähr einen solchen Ausgang nehmen würde, schickte sich in seine neue Lage (wiewohl er das Unangenehme derselben so lebhaft als ein andrer fühlte) wie ein weiser Mann, hoffte das Beste, war auf das Ärgste gefaßt, und fand bei dieser raschen Veränderung seines Schicksals wenigstens den Umstand tröstlich, daß er dadurch des Frondienstes, Seine Hoheit mit der Geschichte der Könige von Scheschian einzuschläfern, überhoben wurde.

Desto unzufriedener bezeigt sich darüber der sinesische Übersetzer dieser Geschichte, dem die dadurch verursachte Unvollständigkeit eines so wichtigen Werkes so sehr zu Herzen geht, daß er sich nicht enthalten kann, in eine bittre Strafrede gegen die Sultanen, Tschirkassierinnen, Braminen, Fakirn und Bonzen auszubrechen, die an diesem Unheil, wie er sagt, ungefähr zu gleichen Teilen Schuld waren.

Wiewohl nun (fährt er, nachdem er seiner Galle Luft gemacht, in einem ruhigern Tone fort) der Verlust, den die Welt dadurch erleide, unersetzlich sei; so habe er sich doch, um die Wißbegierde der Leser nicht ganz unbefriedigt zu lassen, alle nur ersinnliche Mühe gegeben, über den Ausgang dieser Geschichte, die sich nicht eher als mit dem scheschianischen Reiche selbst hätte enden sollen, einiges Licht zu erhalten; und es sei ihm endlich geglückt, aus alten Sagen und glaubwürdigen [324] Urkunden so viel davon heraus zu bringen, daß er sich im Stande finde, nachdenkenden Lesern einiger Maßen begreiflich zu machen, wie besagtes Reich unter der ungeheuern Last von Übeln, die von einer langen Reihe namenloser oder heilloser Könige über demselben zusammen gehäuft worden, endlich notwendig habe einsinken und zu Grunde gehen müssen.

Ob der lateinische Übersetzer diesen von seinem sinesischen Vorgänger mit so mühsamem Fleiß ausgearbeiteten Anhang nicht für interessant genug gehalten habe, oder ob er durch irgend einen Zufall an Verdolmetschung desselben gehindert worden, ist unbekannt. Genug, daß wir in seiner Handschrift nichts als eine Note am Schluß des Werkes gefunden haben, worin er sich begnügt, seinen Lesern die Resultate der Geschichtserzählung des Sinesers in einem kurzen Auszuge folgender Maßen mitzuteilen.


Der Oberpriester Kolaf und seine Ordensbrüder genossen des Sieges, den sie über den scheschianischen Adel erhalten hatten, nicht so lange als sie zu Ausführung aller ihrer Plane wünschten; der unvermutete Tod der Königin Dulika beraubte sie einer Stütze, die ihnen dazu unentbehrlich war.

Vermög eines von Tifan gegebenen Gesetzes mußte sich der König eine neue Gemahlin aus den zwölf schönsten Mädchen wählen, welche von den Stellvertretern der zwölf Hauptprovinzen des Reichs nach einer vorgeschriebenen Ordnung für ihn ausgesucht wurden.

Kolaf konnte und wollte auf die Wahl der neuen Königin keinen Einfluß haben; aber er besaß ein unfehlbares Mittel, das Herz des Königs für diejenige zu bestimmen, zu welcher er selbst das beste Vertrauen hatte. Der Gewohnheit nach mußten die zwölf Jungfrauen dem Könige bei ihrer Vorstellung ein kleines Geschenk darbringen. Zili, die Tochter eines Oberpriesters, der ein vertrauter Freund des ersten Ministers war, beglückte Seine Hoheit mit einem äußerst seltnen – Schmetterling, der seiner prächtigen Sammlung noch fehlte, und dem er schon lange nachgetrachtet hatte, und Tifan der Zweite, vor Freude außer sich, erklärte die schöne Zili auf der Stelle zur Königin sei nes Herzens und des Reichs.

Kolaf rechnete, wie billig, auf die Dankbarkeit der neuen Königin, welche den Talisman, dem sie ihre Erhebung schuldig war, heimlich von ihm empfangen hatte. Aber die Hofleute machten bald die schwache Seite der jungen Zili ausfündig. Ein wunderschöner junger Nair, der auf einmal durch ihre Veranstaltung am Hof erschien, bemächtigte [325] sich der Zuneigung der Königin Zili durch seine Gestalt, und durch ein Geheimnis die Federn ausgestopfter Vögel in ihrer ganzen Schönheit zu erhalten, der Gunst des Königs, in einem so hohen Grade, daß Kolaf seinen Platz nicht länger haltbar fand, und sich mit einem großen Gehalt und der Würde eines Hohenpriesters von ganz Scheschian, welche ausdrücklich für ihn kreiert wurde, vom Hofe zurück zog.

Von dieser Zeit an stellte der Adel sein verlornes Ansehen nach und nach so gut wieder her, daß die Priesterschaft, wiewohl sie sich vom Hofe fast ganz unabhängig gemacht hatte, es doch der Klugheit am gemäßesten fand, sich an der billigen Teilung zu begnügen, welche ihr von ihren Nebenbuhlern um die Oberherrschaft angeboten wurde; ein Vertrag, der (wie leicht zu erachten) von beiden Seiten nicht so gewissenhaft gehalten wurde, daß nicht jeder Teil beflissen gewesen sein sollte, den andern, so oft sich die Gelegenheit dazu anbot, nach Möglichkeit zu übervorteilen und auszustechen.

Solcher Gestalt bildete sich aus diesem geheimen Einverständnis der mächtigsten Familien des Adels und der Oberpriester eine Art von Aristokratie, worin der Name des Königs und die äußern Formen der Monarchie nur deswegen beibehalten wurden, weil man sich des königlichen Ansehens bedienen konnte, das Volk desto bequemer und ungestrafter zu unterdrücken.

Die Regierung Tifans des Zweiten war eine der längsten in dieser Dynastie, und die neue Ordnung oder Unordnung der Dinge hatte nicht nur Zeit genug sich zu befestigen, sondern erhielt sich auch durch die Klugheit der Häupter beider Parteien in einem ziemlichen Gleichgewichte.

Aber unter seinen Nachfolgern wurde diese friedliche Eintracht häufig unterbrochen. Der Hof des Königs und der geheiligte Palast des Hohenpriesters waren fast immer bald in geheimer bald in öffentlicher Opposition; das Übergewicht der Macht schwankte zwischen beiden hin und her; einige Male kam es sogar zu einem Bruch, der die Ruhe des Reichs erschütterte. Indessen mußte doch zuletzt wieder Friede gemacht werden, und immer war es das Volk ganz allein, das die Unkosten der Aussöhnung tragen mußte.

Die schlechte Haushaltung des Hofes – die kostbaren Launen und grenzenlosen Verschwendungen der Günstlinge von beiderlei Geschlechte – die unersättliche Habsucht der Großen, als natürliche Folge eines übermütigen Luxus, der, wiewohl von dem Blut und Mark des Volkes genährt, niemals genug an sich ziehen konnte um [326] einen bodenlosen Schlund zu füllen – unnötige und ungerechte Kriege, wobei nur Feldherren, Kommissarien und Lieferanten sich bereicherten, während Myriaden unschuldiger Familien zu Grunde gerichtet und der Staat durch die Eroberungen selbst immer ärmer wurde – törichte aber kostspielige Unternehmungen, wobei man ohne Plan und Überschlag des Aufwands und der Kräfte verfuhr, und oft dreimal mit großen Unkosten wieder einreißen mußte, was man mit noch größern gebaut hatte – diese und hundert andere Artikel von gleichem Schlage vermehrten die so genannten Staatsbedürfnisse auf eine so ungeheure Art, daß, ungeachtet die Abgaben, womit das Volk nach und nach unter allen nur ersinnlichen Titeln belastet worden war, den arbeitenden Klassen zu ihrem notdürftigsten Auskommen kaum das Unentbehrlichste übrig ließen, die Zinsen der Staatsschulden zuletzt beinahe die ganze Summe der Einkünfte aufzehrten, und zu Bestreitung der übrigen Ausgaben täglich neue Schulden gemacht werden mußten.

Die Unzufriedenheit des Volkes, welche man lange keiner Aufmerksamkeit würdigte, die immer näher kommende Gefahr eines unvermeidlichen Staatsbankrutts, und die schrecklichen Folgen, die er nach sich ziehen mußte, machten endlich einige redliche Männer, denen das Vaterland am Herzen lag, so kühn, sich zu Vormündern der Nation aufzuwerfen, und ihre Beschwerden der Regierung in einem anständigen aber männlichen Tone vorzutragen. Man verglich den gegenwärtigen Zustand von Scheschian mit dem, was er in den Zeiten des großen Tifan gewesen war, und was er noch itzt in einem ungleich höhern Grade sein könnte, wenn der Ehrgeiz und Eigennutz derjenigen, denen die Nation ihre Wohlfahrt anvertraute, das wohltätige Joch seiner Gesetze nicht abgeschüttelt hätte; man sprach laut und nachdrücklich von den Rechten des Volks und von den Pflichten der Regenten; man ließ keinen Mißbrauch ungerügt, keine Quelle des allgemeinen Elends unentdeckt; man zeigte deutlich und gründlich was anders werden müsse, und wie es besser werden könne. Aber diejenigen, die man dadurch zum Nachdenken erwecken wollte, hörten und lasen entweder nichts, oder hatten zu viel Eigendünkel um sich raten zu lassen, oder affektierten wohl gar Warnungen für Drohungen anzusehen, und ermächtigten sich, die Stimme der Vernunft und der Vaterlandsliebe in dumpfen Kerkern ungehört verhallen zu lassen.

Bald wurde die kleine Zahl der redlich gesinnten Fürsprecher des Volks von einer Menge andrer verdrängt, die (nach ihren Grundsätzen und nach dem Ton ihres Vertrags zu urteilen) keine andre Absicht[327] haben konnten, als die Mißvergnügten noch mehr aufzuhetzen und eine Revolution zu beschleunigen, in welcher sie eine bedeutende Rolle zu spielen hofften.

Die Gärung der Gemüter wurde nun zusehens immer stärker und allgemeiner; das Volk fand seinen Zustand unerträglich, und fing an furchtbare Zeichen zu geben, daß es ihn nicht länger ertragen wolle. Die Regierung hatte sein Zutrauen unwiederbringlich verloren; alle Bande des gesellschaftlichen Vereins waren aufgelöst, alle Springfedern der Regierung ohne Spannung; der Adel und die Häupter der Priesterschaft vom allgemeinen Hasse zu den ersten Opfern seiner Rache bestimmt: mit Einem Worte, das Maß des Unsinns, des Übermuts, der Verbrechen, der Tyrannei, und – der Geduld war voll; nur Ein Tropfen mehr, und es lief über.

Sollte man es für möglich halten, daß diejenigen, die am Ruder des Staats saßen, unter solchen Umständen, während ein jeder, der sich die Ohren nicht geflissentlich zustopfte, den Orkan schon von ferne brausen hörte, sorgloser als jemals schlummerten und von keiner Gefahr sich träumen ließen? Aber sie wurden auf eine schreckliche Art erweckt.

Ein Edikt, worin, unter dem Vorwande dringender Staatsbedürfnisse, dem Volk eine neue Abgabe zugemutet wurde, und welches der Hof in einem Zeitpunkt ergehen ließ, da, entweder zufälliger Weise oder durch geheime Veranstaltungen der Übelgesinnten, ein schnell überhand nehmender Mangel der notdürftigsten Lebensmittel die untern Volksklassen in die lebhafteste Unruhe setzte, – dieses Edikt war das Signal zum allgemeinen Aufstande. Im ganzen Reiche drängte sich der Pöbel in großen Massen zusammen, schwärmte, von den Verwegensten und Ruchlosesten aus seinem Mittel angeführt, überall umher, ermordete alle die es für seine Tyrannen oder für Werkzeuge der Tyrannei ansah, plünderte und zerstörte die Schlösser und Landsitze der Nairen, verbrannte die Zollhäuser, raubte die öffentlichen Kassen aus, und beging alle Arten von Ausschweifungen und Greueltaten. Die Hauptstadt, in welcher die Empörung zuerst ausgebrochen war, ging in allem diesem den übrigen mit ihrem Beispiele vor. Die ihrer Schuld sich bewußten und durch Weichlichkeit und Ausschweifungen entnervten Nairen hatten weder Mut noch Kraft zum Widerstand; viele retteten ihr Leben durch eine schnelle Flucht; die meisten fielen ihren Feinden in die Hände und starben eines schmählichen Todes. Der namenlose König, der letzte und verdienstloseste von Tifans Abkömmlingen, wurde, mit den wenigen die ihn nicht verlassen hatten, in seinem eigenen Palast eingekerkert, [328] und, bei einem mißlungenen Versuch zu entfliehen, der Wut des Pöbels Preis gegeben.

Das Volk, das sich anfangs ohne Plan und Zweck bloß den ungestümen Eingebungen der Verzweiflung, der Rache und Mordlust überlassen hatte, fing endlich an, der Stimme einiger Männer von Talenten und Einsichten Gehör zu geben, die sich zu Wiederherstellung der Ordnung zusammen taten, und durch ihre Popularität das Vertrauen desselben gewonnen hatten. Aber da war kein Dschen-gis, kein Tifan mehr, der mit überwiegenden Geisteskräften Weisheit und Tugend genug vereinigt hätte, um sich alle Gemüter zu unterwerfen, und diese Obermacht, ohne eigennützige Absichten, bloß zum Besten des Ganzen anzuwenden. Der kleinen Anzahl der Wohlgesinnten fehlte es teils an Mut und Beharrlichkeit, teils hofften sie irriger Weise durch die Macht der Vernunft auszurichten, was ihre Gegner, die sich aus Ehrgeiz und Herrschsucht zu Anführern des Volks aufgeworfen hatten, auf einem viel kürzern Wege dadurch erhielten, daß sie sich alles erlaubten und vor keiner Abscheulichkeit zurück bebten, wenn sie nur ein Mittel zu ihrer Absicht war.

Notwendig behielten also die letztern die Oberhand: aber da jeder nur seinen eigenen Zweck verfolgte, keiner dem andern traute, jeder allein herrschen und keiner gehorchen, keiner der Zweite oder Dritte sein wollte, so zerfielen sie unter sich selbst; und während das Reich von einer Menge Faktionen zerrissen wurde, wovon immer eine die andre aufrieb, fielen die benachbarten Könige, nach einem in geheim abgeredeten Plane, zu gleicher Zeit über das zerrüttete und an seinen selbstmörderischen Wunden sich verblutende Scheschian her, und bemächtigten sich, beinahe ohne Widerstand, der Provinzen, die sich ein jeder zu seinem Anteil ausbedungen hatte.

Die unglücklichen Scheschianer, teils unter hundert fremde Völker zerstreut, teils stückweise den angrenzenden Staaten einverleibt, verloren mit ihrer politischen Existenz zugleich ihren uralten Namen; und eines der mächtigsten Königreiche des Orients verschwand so gänzlich von der Erde, daß es, schon zu den Zeiten des sinesischen Kaisers Tai-Tsu, den gelehrtesten Altertumsforschern unmöglich war, die ehmaligen Grenzen desselben zuverlässig anzugeben.


Ende des goldnen Spiegels

Fußnoten

1 Hier bin ich genötiget gewesen eine Lücke zu lassen, welche sich zwar in meinem sinesischen Exemplare nur zufälliger Weise befand, die ich aber aus Mangel eines andern Exemplars nicht ergänzen konnte. Allem Ansehen nach wird das, was Hiang-Fu-Tsee noch sagen wollte, – eine Rodomontade gegen den bekannten Zoilus sein, woran es die sinesischen Autoren eben so wenig als die unsrigen in ihren Vorreden fehlen zu lassen pflegen; und der Leser verliert also nichts durch diesen Mangel.

Anmerk. des latein. Übersetzers

2 Ein gewisser persischer Autor gerät bei Erwähnung dieser Stiftungen Schach-Lolos in eine seltsame Aufwallung. »Kann man«, ruft er aus, »sich sogar im heißesten Fieber einfallen lassen, solche Stiftungen zu machen? Es gehört doch wohl zum Wesen einer Stiftung, daß sie dem Staate nützlich sei? Sultan Lolos Stiftungen mußten gerade die entgegen gesetzte Wirkung tun. Hätte er seine Derwischen und seine Katzen ihrem Schicksal überlassen, so ist Hundert an Eins zu setzen, jene hätten arbeiten müssen, und diese Ratten gefangen, und so hätten beide dem Staat Dienste getan. Welch ein Einfall, sie fett zu machen, damit sie müßig gingen! Gleichwohl was die Katzen betrifft, möcht es noch hingehen; ihr Fett ist doch zu etwas nütze. Aber Derwischenfett! Was soll man mit Derwischenfett anfangen?«

Schek Seif al Horam,

Geschichte der Torheit 364. Teil S. 538.

3 Wir können nicht umhin, die Anmerkung zu machen, daß die Neigung sich zu beschäftigen und ein anhaltender Fleiß unter die seltensten und schätzbarsten Tugenden gehören, die ein großer Herr besitzen kann. Nur um dieser willen verdient, unsers Erachtens, Schach-Dolka einen Platz unter den besten Fürsten, die jemals den Thron gezieret haben. Was hätte er erst verdient, wenn er diesen unverdrossenen Fleiß auf die Ausübung seiner königlichen Pflichten zu verwenden hätte geruhen wollen? – Seine königlichen Pflichten? – Gegen wen? Wo hätte Schach-Dolka hernehmen sollen, daß ein König Pflichten habe? Anmerk. des latein.Übersetzers

4 Allgemeiner Name der ersten Minister der indostanischen Könige der Zeiten, wovon hier die Rede ist.

5 Die Wahrheit ist, daß es weit größer war; aber die schöne Tschirkassierin hatte zu viel Lebensart, um dem Sultan eine solche Unhöflichkeit zu sagen. Beinahe so groß ist alles, was man in dergleichen Fällen wagen darf.

Anmerk. des sines. Übersetzers

6 S. Kämpfers Beschreibung des japanischen Reichs, I.T. 7. Kap. S. 112.

7 Die schöne Nurmahal oder ihre Chronik irrt sich in der Person. Wenn sie sich die Mühe hätte geben wollen, den ehrlichen Gregor von Tours selbst nachzuschlagen, so würde sie im sechsten Buche (wir erinnern uns nicht in welchem Kapitel) gefunden haben, daß es der König Chilperich war; wiewohl man gestehen muß, daß ihr, und dem Sultan Gebal, und dem ganzen Indien, Dagobert und Chilperich völlig gleich viel sein konnten.

Anmerk, des latein. Übersetzers

8 »Hier«, sagt der sinesische Übersetzer, »habe ich eine Anmerkung des indischen Herausgebers dieses Werkes gefunden, die ich mich nicht entschließen kann auszulassen, ungeachtet meine Leser keinen unmittelbaren Gebrauch davon machen können. ›Ich wünschte‹, sind die Worte des Indiers, ›daß alle unsre Großen und Edeln dieser Periode (von den WortenEine allgemeine usw. bis zu Verzweiflung ein) die Ehre antun möchten, sich derselben zu Prüfung derFakirn, denen sie ihre Söhne anvertrauen wollen, zu bedienen. Sie haben dazu weiter nichts nötig, als dem Fakir die Periode vorzulegen, und sich eine Erklärung derselben, und die Entwicklung der darin enthaltnen Begriffe und Sätze von ihm auszubitten. Allenfalls könnten sie, um ihrer Sache desto gewisser zu sein, einen Philosophen von unverdächtigen Einsichten mit zu dieser Prüfung ziehen. Versteht der Fakir die Periode: nun, so sei es denn! Versteht er sie nicht oder räsoniert er darüber wie ein Truthahn: so können Sich Ihre Exzellenzen, Gnaden, Hoch- und Wohlgeboren usw. darauf verlassen, daß er ein vortreffliches Subjekt ist, wenn Ihre Absicht dahin geht, daß Ihr Sohnnicht zu vernünftig werden solle.‹«

9 Es bedarf kaum der Anmerkung, daß Schach-Gebal der nüchternste Sultan seines Jahrhunderts, und ein tödlicher Feind der Trunkenheit an andern war. Seine Feinde haben nicht unterlassen, auch von dieser Tugend, welche sie ihm nicht absprechen konnten, wenigstens den Wert zu verringern, indem sie ihr alles raubten, was sie hätte verdienstlich machen können. Aber wir finden nicht nötig, die Wirkung ihrer Bosheit durch Anführung ihrer unartigen Vermutungen fortzupflanzen. Der arme Schach-Gebal besaß nicht so viel Tugenden, daß es billig sein könnte, ihm auch die wenigen, die er besaß, zweifelhaft machen zu wollen. Anmerk, des sines. Übersetzers

10 Gewissen sinnreichen Köpfen zum besten müssen wir hier eine dreifache Anmerkung machen: nämlicherstens, daß die Worte Bonze, Fakir und Derwisch, so oft sie in dieser Geschichte vorkommen, allezeit in der engsten Bedeutung genommen werden, und weiter nichts bedeuten als Bonzen, Fakirn und Derwischen;zweitens, daß Danischmend hier nicht von allem Verdacht einer schmeichlerischen Gefälligkeit gegen die unbillige Denkungsart seines Herrn frei gesprochen werden könne; und drittens, daß die angebliche Demonstration des Sultans sich augenscheinlich auf einen Trugschluß gründet, und also die Bonzen (welche wir übrigens verteidigen zu wollen weit entfernt sind) keineswegs treffen könne.

Anmerk. des latein. Übersetzers

Gleichwohl konnte, alles wohl erwogen, dem Sultan nicht zugemutet werden, anders zu schließen. Er schloß so: Meine Bonzen reden übel von mir, und ich mache mir eine Ehre aus ihrem Tadel; also ist ihr Lob unrühmlich: denn wär es rühmlich, so wäre mir's Schande, es nicht zu verdienen. Nun ist dies aber ein Gedanke, den ich nicht leiden kann; er ist also falsch; und was von mir gilt, das gilt auch von Ogul-Kan: denn, erweise ich ihm nicht die äußerste Ehre, die nur möglich ist, wenn ich ihn für meinesgleichen gelten lasse? – Diese Art zu schließen läßt sich freilich weder durch die Logik des Aristoteles noch der Herren von Port-Royal rechtfertigen. Aber seit die Welt in ihren Angeln geht, hat die Eigenliebe nie bessere Schlüsse gemacht.

Anmerk. des deutschen Übersetzers

11 Diese Periode sagt beinahe mit den nämlichen Worten, was Xenophon seinen Cyrus im I. Buche derCyropädie (p.m. 52) sagen läßt. Vielleicht hat Psammis diese Stelle wirklich im Sinne gehabt. Wenigstens ist dies nicht die einzige, aus welcher sich erweisen ließe, daß seine Moral echte sokratische Moral ist.

12 Wiewohl nicht zu leugnen ist, daß der Iman hier einige Wahrheiten oder Halbwahrheiten vorbringt, so können wir doch nicht unangemerkt lassen, daß dieser letzte Satz ganz falsch ist. Solon, Pisistratus, Alcibiades, Demetrius Poliorcetes, Julius Cäsar, Antonius, und zehen tausend andre Beispiele haben zu allen Zeiten das Gegenteil bewiesen. Aber freilich mochte dieser Iman, wie viele seinesgleichen, nicht sonderlich in der Geschichte bewandert sein. Anmerk, des latein. Übersetzers

13 Es ist aus den Reisebeschreibungen und Missions-Nachrichten bekannt, daß das Institut der Derwischen sowohl als der Bonzen und Talapoinen sich auf eine after-mystische, schwärmerische Moral gründet, deren Torheit in den Berichten unsrer Missionarien häufig gerüget wird. Die strengern unter den Bonzen haben bei ihren Andachtsübungen und Kasteiungen nichts geringers im Sinne, als Pagoden, d.i. Götter, nach ihrem Tode zu werden. Anmerk. des latein. Übersetzers

14 Wofern Danischmend sich hier nicht überzählt hat, so ist wenigstens zu vermuten, daß die meisten Fürsten alsdann, wenn der Tod im Begriff ist die Gleichheit zwischen ihnen und dem geringsten ihrer Untertanen wieder herzustellen, so denken wie Ludwig VI. von Frankreich, da er sterbend zu seinem jungen Thronfolger sagte: Vergiß niemals, mein Sohn, daß die königliche Autorität nur ein öffentliches Amt ist, wovon du nach deinem Tode (Gott und der Nachwelt) eine genaue Rechnung abzulegen hast.

Anmerk, des latein. Übersetzers

15 Das Vertrauen eines Fürsten zu einem Minister, für welchen er keine besondere persönliche Zuneigung hat, macht ordentlicher Weise (denn es gibt auch hier Ausnahmen) sowohl dem Fürsten als dem Minister Ehre. Es beweiset bei diesem vorzügliche Verdienste, bei jenem die Fähigkeit sie zu schätzen, und die königliche Tugend seine Privatneigungen dem Nutzen des Staates nachzusetzen.

Anmerk. des sines. Übersetzers

16 Dieses Bild erinnert uns an eines der vollkommensten Gemälde des Tasso, auf welches man diese Stelle für eine Anspielung halten würde, wenn Nurmahal nicht etliche Jahrhunderte früher gelebt hätte als der wälsche Dichter.

Ecco tra fronde e fronde il guardo avante

Penetra e vede, o pargli di vedere:

Vede pur certo il vago e la diletta,

Ch‹ egli è in grembo a la donna, essa a l'erbetta:

Ella dinanzi al petto hà il vel diviso

E'l crin sparge incomposto al vento estivo:

Langue per vezzo, e'l suo infiammato viso

Fan biancheggiando i bei sudor più vivo.

Qual raggio in onda, le scintilla un riso

Ne gli umidi occhi tremulo e lascivo,

Sovra lui pende ed ei nel grembo molle

Le posa il capo e'l volto al volto attolle.

E i famelici sguardi avidamente

In lei pascendo si consuma e strugge, etc.

GOFFREDO, C. XVI. 17, 18, 19.

17 Vermutlich sind die Kalifen Harun Al Raschid und sein Sohn Almamon hier gemeint, unter welchen, wie bekannt ist, die griechischen Wissenschaften und Künste in das sarazenische Reich verpflanzt wurden.

Anmerk. des latein. Übersetzers

18 Die meisten alten Gewohnheiten sind verderblich, bloß weil sie alte Gewohnheiten sind. Sie mochten zu ihrer Zeit, unter gewissen Umständen, gut oder doch zu rechtfertigen sein; aber diese Umstände haben aufgehört, und die Gewohnheit, welche dennoch fortdauert, wird schädlich. Daher ist überhaupt nichts so albern als das gewöhnliche Geschrei der Dummköpfe über Neuerungen.

Anmerk. eines Ungenannten

19 Man kann aus Mangel zuverlässiger Nachrichten nicht für gewiß sagen, ob die Scheschianer das Geld nach Unzen Silbers, wie die Sinesen, berechnet, oder ob sie sich goldner und silberner Münzen bedient haben. Wenigstens finden sich, unsers Wissens, keine scheschianischen Münzen in irgend einem europäischen Münzkabinette. Vermutlich aber hat der sinesische Übersetzer, um seinen Landsleuten verständlich zu sein, die scheschianische Art das Geld zu berechnen auf die sinesische reduziert; und wir haben es dabei gelassen, weil es wirklich in Berechnungen die bequemste unter allen ist.

Anmerk. des latein. Übersetzers

20 Dieses Zuvorkommen ist ein Wort von wichtiger Bedeutung, welches wir den Großen zu gelegentlichem Nachdenken bestens empfehlen. »Wenn sie« (sagt unser göttlicher Konfucius) »solchen Übeln, die sich durch menschliche Klugheit nicht vorher sehen lassen, mit Hülfe entgegen eilen, so bald sie von dem Dasein derselben benachrichtiget sind: so ist dies in solchen Fällen alles was man von ihnen fodern kann. Aber es gibt eine Menge unglücklicher Zufälle, welche sich erraten lassen, und Übel, welche man mitGewißheit vorher sagen kann, weil sie die notwendigen Folgen unsrer eigenen Begehungen oder Unterlassungen sind. Diesen erst alsdann abzuhelfen suchen, wenn sie den größten Teil ihrer schädlichen Wirkungen schon getan haben, ist das Betragen einer unweisen Obrigkeit. Es ist die Schuldigkeit unsrer Obern, solchen Übeln zuvorzukommen; und eben darin liegt eine von den wesentlichsten Ursachen,warum man Obrigkeiten vonnöten hat

Anmerk. des sines. Übersetzers

21 Der indische Verfasser spricht hier der herrschen den Meinung gemäß, nach welcher man sich ich weiß nicht welchen seltsamen Begriff von der Weisheit der Ägypter macht, weil dieses Volk (wenn man das sinesische ausnimmt) A1 das erste war, welches Gesetze, Religion und Sitten hatte. In dieser Voraussetzung hat man freilich Ursache sich zu wundern, wie eine so weise Nation so unweise habe sein können. Aber würde es nicht einer natürlichern Art zu schließen gemäß sein, wenn wir sagten: ein Volk, welches fähig war, Kälber, Affen und Krokodille anzubeten usw. war kein weises, sondern ein sehr albernes Volk. Freilich hörte dann die Gelegenheit sich zu wundern auf; und viele Leute finden ein so großes Behagen daran,wenn sie den Mund aufreißen und sich wundern können.

Anmerk. des sines. Übersetzers

22 Danischmend scheint hier die berühmte Inschrift vor Augen gehabt zu haben, welche zu Sais im Tempel der Isis gelesen wurde: »Ich bin alles was ist, was war und was sein wird; und meinen Schleier hat noch kein Sterblicher aufgedeckt.« In diesem Falle hat er unrecht gehabt, nicht zu empfinden, daß uns diese Inschrift von der unermeßlichen Größe und der majestätischen Unbegreiflichkeit der Natur das erhabenste Bild gibt, das jemals in der Seele eines Sterblichen entworfen worden ist.

23 Von der Wahrheit des seltsamen Aberglaubens, den die Mohren mit ihren Fetischen oder Schutzgöttern treiben, kann sich, wer daran zweifeln sollte, aus der Allgemeinen Geschichte der Reisen, und aus der gelehrten Abhandlung du Culte des Dieux fetiches, überzeugen. Übrigens können wir diese Reflexion des Philosophen Danischmend nicht ohne eine Anmerkung lassen. Der Satz, daß keine Nation an dem Platz und in den Umständen welches andern Volkes man will, viel klüger als dieses andere Volk sein würde, scheint seine unzweifelhafte Richtigkeit zu haben: und wenn man keinen andern Gebrauch davon macht, als den unbescheidenen Stolz einiger Völker auf Vorzüge, welche nichts weniger als das Werk ihrer eignen Weisheit sind, dadurch zu demütigen, und sie empfinden zu machen, wie sehr eine gegenseitige Duldung, auch aus diesem Gesichtspunkte betrachtet, in der natürlichen Billigkeit gegründet sei; so scheint er unter die Wahrheiten zu gehören, an welche es nützlich ist die Menschen zuweilen zu erinnern. Allein es ist in unsern Tagen gewöhnlich worden, von eben diesem Satze, mittelst gewisser Wendungen, einen sehr schlimmen Gebrauch zu machen. Man hat daraus folgern wollen, die verschiedenen Völker hätten keine andre als subjektive Gründe ihres verschiednen Glaubens, und alle Religionen könnten daher als gleichgültig angesehen werden, oder es schicke sich für keinen weisen Mann, sich für irgend eine Religion mehr zu interessieren, als in so weit es die Gesetze seines Landes und seine übrige Konvenienz erforderten. Diese verderblichen Grundsätze, welche beinahe zu allen Zeiten die Religion eines großen Teils der Weltleute ausgemacht haben, sind indessen nichts weniger als notwendige Folgen aus der Reflexion des weisen Danischmend. Eine Religion aus allen kann nichts desto weniger, aus innerlichen sowohl als äußerlichen überzeugenden Beweisgründen, die wahre sein, oder unbetrügliche Kennzeichen eines göttlichen Ursprungs haben: und da wir Christen mit dem größten Grade der Gewißheit behaupten können, daß unsre Religion wirklich die einzige sei, welche mit allen diesen Kennzeichen versehen ist; so sind wir nicht nur wohl berechtiget, sondern schlechterdings verbunden, alle übrigen, in so weit sie der unsrigen entgegen stehen, für irrig und verwerflich zu erklären. Die Betrachtung, daß wir, zum Beispiel in den Umständen der alten Ägypter, oder unsrer eigenen abgöttischen Vorfahren, eben so abgöttisch und abergläubisch als sie gewesen sein würden, kann und soll also, vernünftiger Weise, zu nichts anderm dienen, als eines Teils uns Mitleiden mit den Gebrechen der Menschheit und Nachsicht gegen die Irrenden und Verführten einzuflößen; andern Teils uns zu Gemüte zu führen, daß wir es nicht den Vorzügen unsers Verstandes, sondern bloß der göttlichen Güte beizumessen haben, daß wir so glücklich sind, eine reinere Erkenntnis des höchsten Wesens und (wie der Heil. Paul sagt) einen vernünftigen Gottesdienst vor so vielen andern Völkern des Erdkreises zu besitzen.

Anmerk. des latein. Übersetzers

24 Siehe den Auszug aus des Marko Polo Reisen in der Allgem. Hist. der Reisen, T. VII. S. 472. Auch die Religion der Mantschuischen Tatarn kommt in der Hauptsache mit dieser überein. S. Dü Halde Beschr. des sines. Reichs, T. IV. S. 37.

25 Wenn man von einem rohen tatarischen Heerführer, wie Ogul-Kan war, Belesenheit vermuten könnte, so sollte man glauben, daß hier eine Anspielung auf den Tyrannen Dionysius von Syrakus wäre, der den Marsyas, einen seiner Staatsbedienten, hinrichten ließ, weil diesem Marsyas geträumt hatte, er habe dem Tyrannen die Kehle abgeschnitten. Plutarch im Leben Dions, Tom. V.p. 167. edit. Londin. de 1724.Plutarch gibt zum Grunde dieses strengen Verfahrens an: Dionysius habe geglaubt, Marsyas würde schwerlich so gefährlich geträumt haben, wenn er nicht wachend mit dergleichen Gedanken umgegangen wäre; und Montesquieu findet diesen Grund (wenn der unbündige Schluß, auf den er sich stützt, auch richtig wäre) nicht hinlänglich, das Verfahren des Dionysius zu entschuldigen. Esprit des Loix, Tom. I.L. XII. ch. XI. Der Gedanke, sagt er, müßte, um strafbar zu werden, mit irgend einer Handlung verbunden gewesen sein. Aber dies war eben die Sache. Woher konnte Dionys wissen was Marsyas träumte? Marsyas hatte seinen Traum erzählt; und dies schien entweder einen bösen Willen gegen den Fürsten, oder doch einen Grad von Unvorsichtigkeit voraus zu setzen, den ein so argwöhnischer und furchtsamer Fürst, wie Dionysius war, strafwürdig finden mußte. Es war ihm daran gelegen, den Syrakusern zu zeigen, daß man sich auch sogar im Traume nicht ungestraft an seiner Person vergreifen könne.

26 Es gibt, mit Erlaubnis des Sultans, Fälle, wo man sich nicht entbrechen kann, spekulative Meinungen als eine Staatssache zu behandeln. Aber desto größer muß auch alsdann die Vorsichtigkeit sein, um einen Funken, durch allzu große Geschäftigkeit ihn zu ersticken, nicht erst zu einer Flamme aufzustieren.

27 Die Geschichte der außerordentlichen Bemühungen, welche Jamblichus, Plotinus, Porphyrius und ihre Anhänger in einer Art von Verzweiflung fruchtlos angewandt, dem unterliegenden Heidentum gegen die siegreiche Obermacht der christlichen Religion zu Hülfe zu kommen, ist das vollständigste Beispiel, das uns die Historie an die Hand gibt, um den Charakter und das Betragen der Bonzen von Scheschian, in einem gewisser Maßen ähnlichen Falle, zu erläutern. Was ließen diese von dem seltsamsten Eifer glühen Schwärmer unversucht, um wenigstens die letzten Augenblicke des sterbenden Aberglaubens zu verlängern? Orakel, Wunder, wiederkommende Seelen, alles, was außerordentlich war, wurde aufgeboten, Pythagoras und Apollonius wurden zu göttlichen Männern und Theurgen erhoben, um sie mit einigem Schein dem großen Stifter der wahren Religion entgegen zu setzen. Das ganze Heidentum wurde umgeschmolzen, die ungereimtesten Fabeln zu allegorischen Hüllen der erhabensten Wahrheiten gemacht, und das Werk des Betrugs und des Aberglaubens in eine Theosophie verwandelt, deren Entdeckungen und Versprechungen einen blendenden Glanz von sich warfen, und unbehutsame Gemüter durch den Schein eines göttlichen Ursprungs täuschten. Man belegte die christlichen Weisen, welche allen diesen Blendwerken Vernunft entgegen setzten, mit dem verhaßten Namen der Freigeister und Atheisten; kurz, man wagte in der Verzweiflung alles. Aber vergebens traten Aberglauben, Schwärmerei und Philosophie in ein unnatürliches Bündnis: die Wahrheit siegte; und eben dieser Sieg bewies, daß sie Wahrheit war.

Anmerk. des latein. Übersetzers

28 Ein sehr nachdrückliches Beispiel hiervon ist der Satz, daß es Antipoden, oder Gegenfüßler gebe, welcher dem Bischof zu Salzburg Virgilius (wofern es nicht ein andrer Virgilius war, wie aus einigen Umständen sich vermuten läßt) so schlimme Händel machte. Diese Lehre war so unerhört und dem damaligen gemeinen Menschenverstande so anstößig, daß selbst die weisesten Männer sich nicht darein finden konnten. »Man legte es ihm so aus« (sagt Aventinus in seinen Baierischen Jahrbücher), »als ob er eine andre Welt, andre (das ist vermutlich nicht von Adam und Eva entsprungne) Menschen, eine andre Sonne und einen andern Mond behaupte. Bonifacius widerlegt diese Sätze als gottlos und der christlichen Philosophie entgegen laufend, bestraft Virgilen deswegen öffentlich und absonderlich, verlangt von ihm, daß er diese albernen Kindereien (Naenias) widerrufe, und die einfältige und lautere Weisheit des Christentums nicht länger mit dergleichen unsinnigen Träumen beflecke.« Der damalige Papst Zacharias, vor welchen diese Sache, ihrer vermeintlichen Wichtigkeit wegen, gebracht wurde, sah sie nicht mit gelindern Augen an als Bonifacius. Er nennt die Lehre von andern Menschen unter der Erde eine verkehrte Lehre, welche Virgilius gegen Gott und seine Seele ausgesprochen habe; und mutet in sehr ernstlichen Evocatoriis dem Herzog Utilo zu (der, wie es scheint, den guten Virgil in seinen Schutz genommen hatte), den gefährlichen Mann nach Rom zu senden, damit er aufs schärfste examiniert, und, wenn er seines Irrtums überwiesen worden wäre, nach den kanonischen Gesetzen gestraft werden könne. Baron. ad annum 748.

Uns dünkt nicht, daß man hinlängliche Ursache habe, den ehrwürdigen Bischöfen, welche diese Antipodensache mit so vieler Strenge behandelt haben, deswegen so häßliche Vorwürfe zu machen, als viele getan haben. Man hat nicht einmal vonnöten, zu ihrer Entschuldigung die Wendung zu gebrauchen, deren sich der berühmte Augsburgische Patrizier, Marx Welser, in seiner Baierischen Geschichte bedient, nämlich zu sagen: daß diejenigen, welche den Virgilius behaupten gehört, die Erde sei rund und auch auf der andern Halbkugel bewohnt usw. seine Meinung unrecht verstanden, und sie also dem Heil. Bonifacius fälschlich hinterbracht hätten. Es ist genug, daß in den damaligen Zeiten das allgemeine Vorurteil, selbst der Gelehrten, in dem Begriffe von Antipoden etwas höchst Ungereimtes fand. Lange zuvor hatte Kosmas der Indienfahrer, ein ägyptischer Mönch, in seiner christlichen Topographie (welche uns Montfaucon im zweiten Teile seiner Sammlung griechischer Kirchenskribenten geliefert hat) versichert, daß die Erde platt sei, und das himmlische Gewölbe an ihren äußersten Enden aufstehe. Dies war zu einer Zeit, wo das Studium der Natur als eitel und profan gänzlich vernachlässiget wurde, die allgemeine Meinung; und ein Satz, wie der, den Virgilius behauptet haben soll, mußte notwendig frommen Ohren anstößig sein.

Anmerk. des latein. Übersetzers

29 Gegen irgend einen Zweig der Freiheit von dem Mißbrauche, der davon gemacht werden kann, argumentieren, ist eben so viel als gegen die Freiheit überhaupt schließen; denn alles kann gemißbraucht werden, sagt der weise Verfasser der Letters from a Persian in England, p. 159.

30 Wir wollen nicht hoffen, daß sich jemand unter unsern Lesern in dem Falle befinden könne, in welchen der ehrliche Klaus Zettel in Shakspeares Mid-Summer-Nights-Dream die Damen zu Athen zu setzen besorgt, wenn er, in dem Schauspiele von Pyramus und Thisbe (welches er und seine Gesellen an dem Hochzeitfeste des Theseus aufführen wollen), als Löwe auf den Schauplatz kommen, und seine furchtbare Stimme hören lassen würde. »Ich werde«, spricht er, »nicht ermangeln ihnen zu sagen: Erschrecken Sie nicht, meine schönen Damen; ich bin kein wirklicher Löwe, wie Sie etwann denken möchten, sondern wirklich und bei meiner Ehre Klaus Zettel, der Weber, und ein Mann, der sich das größte Gewissen daraus machen würde, das Herz einer schönen Dame zu betrüben.« Aus eben dieser Gemütszärtlichkeit erklären wir also auf allen Fall: daß dies Wetter, womit uns Kalaf erschrecken will, bloß gemachtes Wetter war.

31 Plutarch in seiner Abhandlung von Isis und Osiris. Juvenal macht uns von einem ähnlichen Religionskriege zwischen den Ombiten und Tentyriten, welcher daher entstand,

Quod numina vicinorum

Odit uterque locus, cum solos credat habendos

Esse Deos quos ipse colit – –

in seiner fünfzehnten Satire ein schreckliches Gemälde. Die eine dieser Städte überfiel die andre zur Zeit eines großen Festes, wo man sich eines feindlichen Überfalls am wenigsten versah. Die Partie war sehr ungleich, sagt der Dichter; die guten Ombiten waren wohl bezecht, rosenbekränzt, von Salben triefend, und vom Tanzen müde; ihre Feinde hingegen desto erbitterter, weil sie nüchtern waren (hinc jejunum odium). Der Anfang der Feindseligkeiten wurde mit Worten gemacht; von den Worten kam es bald zu den Fäusten; auf beiden Seiten blieben wenig Nasen unbeschädigt usw. »Aber dies« (fährt der Dichter fort) »deucht den Unsinnigen nur ein Spiel; sie wollen nicht nur Blut, sie wollen Leichen sehen. Man wirft also eine Zeit lang mit Steinen auf einander; endlich ziehen die Tentyriten ihre Schwerter. Die Ombiten fliehen in zitternder Verwirrung; die Furcht beflügelt ihre Flucht; nur Einer hat das Unglück den erbosten Feinden in die Hände zu fallen; dieser Unglückselige wird sofort in Stücke zerrissen und mit Haut und Haar bis auf die Knochen aufgegessen. Sie nehmen sich nicht einmal die Zeit ihn zu kochen, sie fressen ihn mit hungriger Gierigkeit roh hinein, und wer glücklich genug ist ein Stückchen von diesem abscheulichen Fraß zu erwischen, glaubt niemals was Wohlschmeckenderes gekostet zu haben.« – – Ob übrigens dieser Religionskrieg der Ombiten und Tentyriten von jenem zwischen den Kynopoliten und Oxyrynchiten verschieden gewesen, oder ob nicht Juvenal vielmehr den letztern unter dem Namen der erstern, weil sie besser in den Vers passen, geschildert habe, wie Salmasius aus sehr gelehrten Gründen vermutet (in Solin. T.I.p. 317–21), ist eine Aufgabe, die wir primo occupanti überlassen, wofern sie anders ihren Meister nicht schon gefunden hat.

Anmerk. des latein. Übersetzers

32 Wiewohl unstreitig etwas Wahres an diesem Gedanken des Philosophen Danischmend ist, so bleibt darum auf der andern Seite nicht weniger wahr, daß die Geschichte, mit beobachtenden Augen durchforscht, und mit philosophischem Blick aus erhabenen Standpunkten übersehen, eine Quelle sehr nützlicher Kenntnisse für den Bürger, für den Staatsmann, und selbst für den bloßen Weltbeschauer ist. Ein gelaßner und aufgeklärter Geist sieht durch das verworrene Gewebe der menschlichen Torheiten hindurch, und entdeckt in dem Zusammenhang und in der stufenweisen Entwicklung der großen Weltbegebenheiten den festen Plan einer alles leitenden höhern Weisheit; er ergetzt, ermuntert, und bessert sich bei dem Anblick des immer währenden Kampfes der Tugend mit dem Laster, der Vernunft mit den Leidenschaften, der Wahrheit mit dem Irrtum und Betrug, der Wissenschaften mit der Unwissenheit, des Geschmacks mit der Barbarei, und erkennt mit Anbetung die verborgene Hand des großen Urhebers der Natur, der aus diesem ewigen Streit in den Teilen, Ordnung und Harmonie im Ganzen hervorzubringen weiß. Die Geschichte des menschlichen Verstandes, die Geschichte der Tugend, die Geschichte der Religion, der Gesetzgebung, derKünste, der Handelschaft, des Geschmacks, desLuxus, und so ferner, sind eben so viele fruchtbare Gegenden der allgemeinen Geschichte, deren besserer Anbau die herrlichsten Vorteile für die spekulativen und praktischen Wissenschaften verspricht. Weit entfernt also die Gesschichtskunde gering zu achten, wünschten wir vielmehr, es allen Studierenden, und überhaupt allen, welche weiser und besser zu werden wünschen, einleuchtend machen zu können, daß die Geschichte, mit wahrer Sokratischer Philosophie verbunden, das höchste und wichtigste Studium eines Menschen ist, der mehr als eine tierische Maschine sein will; und wir haben diese Anmerkung bloß darum beigefügt, um so viel an uns ist zu verhindern, daß niemand einen unbescheidenen und übertriebenen Hang zu Romanen und Feenmärchen mit dieser Stelle des weisen Danischmend zu rechtfertigen vermeine. So gewiß indessen der hohe Wert der Geschichtskunde ist, so ist doch nicht zu leugnen, daß die gerümpfte Nase, womit gewisse Geschichtsforscher auf alles was die Form der Erdichtung hat herab sehen, Unbilligkeit und lächerliche Pedanterei ist. Den Wenigen, denen ihr Beruf zu erforschen was geschehen ist keine Erholungsstunden übrig läßt, ist es wohl zu gönnen, wenn sie abgehärtet genug sind, die Abscheulichkeiten der Byzantinischen Historie oder der Regierung einer Maria von England mit eben dem kalten Blute zu lesen, womit ein Zeitrechner untersucht, in welchem Jahre der Welt der König Misfragmuthosis zu Diospolis regiert habe. Aber ihr Beispiel oder ihr Geschmack macht keine Regel; und empfindsame Seelen werden – beim Anblick alles des Bösen, was auf diesem Sonnenstaube, den wir bewohnen, Geschöpfe von einerlei Gattung getan haben, um einander ein Leben von etlichen Augenblicken zu rauben oder zu verbittern – sich nur allzu oft genötigt fühlen, mit dem weisen Danischmend in die möglichen Welten der Dichter zu fliehen; und sie können deswegen hinlänglich gerechtfertiget werden, auch ohne daß man den Platonischen Grundsatz, welchen Bacon von Verulam zum Vorteile der Dichtkunst geltend macht, dazu vonnöten hat, vermöge dessen das, was wir hier nur für ein Erholungsmittel geben, sogar zu einer sehr wesentlichen Beschäftigung wird.

33 So wie der Vernünftige natürlicher Weise des Toren Meister ist, so hat der vollkommenste Mann ein angebornes Recht über die übrigen zu herrschen: es ist ein Gesetz der Natur, sagte Aristoteles, der Lehrer des größten unter den Königen.

34 Siehe den vortrefflichen Diskurs von der Freundschaft in Montaignes Essays, L.I. ch. 27, besonders die Stellen wo er von seinem Freunde spricht. Zum Exempel: »En l'amitié de quoy je parle, les ames se meslent et se confondent l'une et l'autre d'un meslange si universel, qu'elles effacent et ne retrouvent plus la cousture qui les a jointes. Si on me presse dire pourquoy je l'aymois, je sens que cela ne se peut exprimer qu'en respondant: parceque c'etoit luy, parceque c'etoit moy.« Die Freundschaft ist Eine Seelein zwei Leibern, sagt-nicht der schwärmerische Plato, sondern der gründliche, der tiefsinnige, der kalte Aristoteles; und von allem, was dieser große Mann gesagt hat, macht nichts seinem Herzen mehr Ehre als dies.

35 Wir finden den nämlichen Gedanken unter dem nämlichen Bilde in einem vor kurzem ans Licht getretenen wunderbaren Buche, welches seinem Verfasser vielleicht im Jahre 2440 mehr Ehre, als im Jahre 1772 Nutzen bringen wird. Dieses ungefähre Zusammentreffen wird, wie wir hoffen, dem guten Danischmend nicht zur Sünde angerechnet werden. Der ehrliche Träumer, dessen wir erwähnten, mag wohl ein wenig mehr schwarze Galle in seinem Blute haben, als ein Mann, dem seine Ruhe lieb ist, sich wünschen soll. Aber es ist doch immer schwer, einem Menschen nicht gut zu sein, der seine Mitgeschöpfe so lieb hat, daß ihn weder Bastille noch Bicetre abhalten kann, alles heraus zu sagen was er auf dem Herzen hat. – Der Leser beliebe nie zu vergessen, daß diese Anmerkung, so wie dieses ganze Werk, im Jahre 1771 und 72 geschrieben ist.

36 Chun, der Mitregent und Nachfolger des guten Kaisers Yao. Siehe Dü Haldes Beschreibung des sinesischen Reichs I.T.S. 263 der deutschen Übersetzung. Im übrigen ist nicht zu bergen, daß die Geschichte der sinesischen Kaiser Yao und Chun, allem Ansehen nach, nicht mehr historische Wahrheit hat, als die Geschichte des scheschianischen Königs Tifan.

37 »Die vollkommensten Gesetze«, sagte Sokrates, »sind diejenigen, welche man nicht ungestraft übertreten kann, weil sie uns durch die natürlichen und unvermeidlichen Folgen ihrer Übertretung bestrafen«; und er beweiset dem Sophisten Antiphon, daß die Gesetze der Natur, oder, welches eben so viel sei, die allgemeinen Gesetze Gottes, diese unterscheidende Eigenschaft haben. Siehe Xenophons Charakter und merkwürdige Reden des Sokrates B. IV. Die Gesetze der Natur und des gesellschaftlichen Lebens sind die Regel der Könige, von welcher sie niemals ungestraft abweichen können. Die ganze allgemeine Staatsgeschichte ist ein Kommentarius über diese große Wahrheit; und ohne weit in die alten Zeiten zurück zu gehen, wird uns zum Exempel das Leben eines Philipps II. und Ludwigs XIV., der tragische Tod Karls I. von England, und der Fall seines Sohnes Jakobs II. Beispiele genug darstellen, sie zu erläutern und zu bestärken.

38 In der Tat fällt das Ungereimte in dem Verhältnis der Kräfte eines einzelnen Menschen, gegen die ungeheure Unternehmung allen Unbilden und Fehden in der Welt steuern zu wollen, einem jeden in die Augen. Und gleichwohl ist nichts wahrscheinlicher, als daßein Dutzend Don Quichotten, die sich mit einander verständen, und, anstatt auf die Feinde des Don Gaiferos und der schönen Melisandra, auf die Feinde des menschlichen Geschlechtes mit eben dem Mute, mit welchem der Held von Mancha seine schimärischen Gegner bekämpfte (nur freilich mit einem gesundern Kopfe als der seinige war), los gingen, – die Gestalt unsrer sublunarischen Welt binnen einem Menschenalter mächtig ins Bessere verändern würden.

39 Sollt es möglich sein, daß unter allen künftigen Regenten, denen diese Geschichte in einem Alter, da ihr Kopf noch nicht zu sehr verschroben und ihr Herz noch nicht ganz versteinert ist, in die Hände käme, auch nur Einer wäre, der, nachdem er diesen Tifan kennen gelernt, den Gedanken ertragen könnte, einen solchen Charakter ein bloßes Ideal bleiben zu lassen?

Anmerk. eines Ungenannten

40 Die Erfahrungen, welche die französische Nation hiervon seit fünf Jahren gemacht hat, bestätigen die Wahrheit dieses Satzes auf die einleuchtendste Weise.

41 Die Erfahrungen, welche die französische Nation hiervon seit fünf Jahren gemacht hat, bestätigen die Wahrheit dieses Satzes auf die einleuchtendste Weise.

42 Man würde die Absicht des Herausgebers dieser Geschichte sehr verfehlen, wenn man dasjenige, was hier und an andern Stellen von den Einrichtungen oder Maximen des Königs Tifan gesagt wird, für einen indirekten Tadel weiser und mit den tiefsten Einsichten in die Regierungskunst begabter Fürsten ansehen wollte. In einem idealen Staate kann man alles einrichten wie man will; in einem wirklichen ist der größte Monarch nicht allezeit noch in allen Stücken Herr über die Umstände. Was in Scheschian schicklich war, oder es durch Tifans Gesetzgebung wurde, ja, was an sich selbst und im allgemeinen als vorteilhaft für alle Staaten gelten kann, kann in einem gewissen Staate, besonderer Umstände und Verhältnisse wegen, nachteilig, unschicklich oder gar unmöglich sein.

43 Im Jahre 2440 soll (wenn Merciers patriotischer Traum noch in Erfüllung ginge) eine ähnliche Einrichtung in Frankreich zu sehen sein. Vielleicht hat die Revolution, welche sich der Träumer wohl nicht so nahe vorstellte, die 645 Jahre, die bis dahin noch hätten verfließen sollen, beträchtlich abgekürzt.

44 Es gibt noch mehr Klassen, bei denen dies eine eben so ausgemachte Sache ist. Jeder greife in seinen eigenen Busen, und richte sich selbst!

45 Es gibt einen albernen, kindischen Nationalhochmut, der unstreitig ein eben so lächerliches als schädliches und also ein sehr häßliches Nationallaster ist: aber es gibt auch einen edeln tugendhaften Nationalstolz, ohne welchen die Griechen niemals die Zeiten des Perikles, die Römer niemals die Zeiten der Scipionen, die Engländer niemals die Zeiten ihrer guten Königin Elisabeth gesehen hätten; ohne welchen eine Nation nur eine große Rotte von Menschen ist, die sich von ungefähr, wie Reisende auf einer Landkutsche, beisammen finden; ein verächtlicher Haufe ohne Charakter, ohne Stärke, ohne Mut, ohne Geschmack, ohne irgend etwas, das sie aus dem Dunkel, das schon so viele Völker verschlungen hat, hervorstechen machen könnte.

46 Es gibt in der Haushaltungskunst gewisse höchst einfältige Regeln, deren Verachtung gleichwohl von großer Beträchtlichkeit ist. Ein Regent wendet, zum Beispiele, zehntausend Taler zu einer gewissen Absicht an, welche durch diese Summe nur sehr unvollkommen, d.i. wenig besser als gar nicht, erreicht wird. Zweitausend Taler mehr würden alles gut machen; aber diese will man ersparen: man muß sich behelfen, heißt es, und überlegt nicht, daß man, um diese zweitausend Taler zu behalten, zehen tausend verliert, weil die Vorteile, die man damit zu gewinnen sucht, nicht gewonnen werden.

A1

Hier betrügt vielleicht den ehrlichen Hiang- Fu-Tsee sein Patriotismus ein wenig. Die Sineser haben (wie uns ein großer Kenner der ägyptischen Altertümer bewiesen hat) eben sowohl wie die Griechen ihre Polizei und Wissenschaften ägyptischen Kolonien oder auf Abenteuer ausgehenden Wanderern dieser Nation zu danken gehabt.

Anmerk. des latein. Übersetzers

Die größten Kenner der ägyptischen Altertümer wissen, im Grunde, bei aller ihrer Belesenheit und Scharfsinnigkeit nicht viel mehr davon als andere. Ihre Hypothesen sind daher auch eben der Hinfälligkeit unterworfen, welche von jeher das Schicksal der wissenschaftlichen Hypothesen gewesen ist. Vor wenigen Jahren bewies man uns, daß die Sineser von den Ägyptern abstammeten: nun hat uns Herr v.P. bewiesen, »daß weder diese von jenen, noch jene von diesen abstammen«; und so gewinnen wir doch so viel dabei, zu wissen, daß wir nichts von der Sache wissen; und dies ist, nach dem Urteil des weisen Sokrates, immer viel gewonnen.


Notes
Erstdruck: Leipzig (Weidmanns Erben und Reich) 1772. Der Text folgt der Ausgabe letzter Hand von 1795.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Der goldene Spiegel. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A67D-1