Ode

Und ich seh dich noch nicht, und mein verlangend Herz
Bebt noch in deiner Umarmung nicht?
Und die Seele, die dich so unaussprechlich liebt,
Freundin, liegt noch, wie vom Gram betäubt,
Wie in Ohnmacht! vom Schmerz ihres ätherschen Lichts
Und der Stärke beraubt, die sie
Zum Olympus oft hob; seufzet und reißt sich nicht
Aus den Fesseln des Kummers los.
Solls vergeblich dann sein, Göttliche, daß ich dich
Meinen Armen schon nah geglaubt?
Und ich soll dich nicht sehn, die meine Seele liebt,
Die ich von allem, was Gott nicht ist,
Aus der Schöpfung Bezirk (ach wie entbehrt ich dich?)
Ganz allein nicht entbehren kann?
Die mein fühlendes Herz mächtig zur Tugend reizt,
Die zur Freundschaft mich bildete,
Dich, dich soll ich nicht sehn? Sinke nur, banger Geist,
In unsterbliche Schmerzen hin!
Sei verschlossen dem Trost! Hoffnung verbreit um mich
Dein zufriednes Gefieder nicht!
Schmerz, dich will ich allein fühlen, du seist hinfür
Meine Wollust! Empfindungen
Meines Jammers, o bebt, bebt, und verstummet nie,
Die entkräftete Seele durch!
Ach, wie kann ich noch sein! Seele, vor Sie gemacht,
Sie zu lieben von Gott gehaucht,
[23]
Ach wie kannst du noch sein? Sei denn, und weine nur,
Beb, und fühle, und denke nicht!
Oder fühlest du noch, denkst du, so sieh in dir,
O so sieh nur ihr Bildnis an,
Ihr olympisches Bild, mit den Empfindungen
Sieh es stumm und zerwallend an,
Wie du sie einst gesehn, da Sie das erste mal
Deinen Augen entgegenkam,
Mit betroffenem Blick, der nur Bewundrung war,
Der erstaunend und unverwandt
Auf ihr ruhte, den Geist, der ihre Bildung schmückt
Und den lächelnden holden Mund,
Und der redlichen Stirn Heiterkeit sah, und dann
In dem Aug, wo die Göttliche,
Wo die Seele sich malt, wo sie der Himmlischen
Mächtig siegende Sprache redt,
Den unsterblichen Hang unserer Seelen las,
Sympathien der Liebe las.
So empfinde mein Herz, wenn du ihr Bildnis siehst,
Das so wert ist, ein Engelsherz
Einzunehmen! wie wert, ach wie so wert ist es,
Daß du es nur allein noch denkst.
Ja, dich denk ich allein, dich – und die Ewigkeit,
Und den Gott, dem du ähnlich bist.
Die sich sonst mir so schön als ein ätherischer
Frühling zeigte, die Zukunft, hat
Keinen Reiz mehr für mich! Bilder der Seligkeit,
Phantasien von Götterlust,
Ach, wo seid ihr dahin? hin! mein betrogner Geist
Haßt euch, treulose Hoffnungen!
Hofft nun nimmer, und sieht, wenn er ins ferne sieht,
Öde, grundlose Tiefen nur.
Ach! wie warst du so kurz, Glück, das der Himmel nur,
Selten nieder zur Erde sendt!
O wie selig war ich! Tage, wo seid ihr hin,
Die ihr voll unaussprechlicher
Seligkeiten, voll Ruh, voll nie empfundner Lust,
Allzu plötzlich vorüber floht?
[24]
Ja, wenn einst meine Zeit mir, wie ein Morgentraum,
Wie die Jahre der Kindheit scheint,
O so werdet ihr mir, Tage der Liebe, noch
In der Ewigkeit festlich sein!
Der Erinnerung wert, daß die Unsterblichen
Froh euch wieder empfinden, wert!
Ach! wie selig war ich! da ich, o Doris, dir
Heimlich weinte, da noch mein Herz
Von Empfindung gedrängt, und deiner Würde voll,
Dich zu lieben, sich selbst verbarg!
O wie seliger noch, da du das erste Mal
Mich mit Augen voll Zärtlichkeit
(O wie redeten sie! o wie viel sagten sie!)
Liebenswürdigste, angeblickt.
Sei mir heilig, o Tag, da Sie empfindungsvoll,
Voll unschuldiger Liebe mich
Ansah, da mir ihr Aug ewige Treue schwur,
Dreienzwanzigster des Augusts
Sei gesegnet! Vor dich bet ich die Vorsicht einst
Mit ätherischen Tränen an;
In der Ewigkeit noch, wenn, die itzt prächtig blühn,
Alle Sonnen verwelket sind,
Wenn Äonen von Zeit in sie geflossen sind,
Feir ich, seligster Tag, dich noch.
In der Göttlichen Arm, ganz in Entzückungen,
In Entzückung des Himmels ganz
Ausgegossen will ich wieder die Seligkeit
Fühlen, die du mir damals gabst.
Welche Zeiten voll Ruh, Tage der heiligen
Liebe, Stunden der Zärtlichkeit,
Fremd dem irdischen Volk, voll von Empfindungen,
Die keine menschliche Sprache sagt,
Folgten, aber zu schnell, himmlischer Tag, dir nach?
An Umarmung und Küssen reich.
Reich an heiliger Lust, und an erhabneren
Überirdischen Freuden reich!
Gott, du hast sie gesehn! Jede Empfindung war,
Jede Neigung in unsrer Brust
[25]
War dir sichtbar; du hast segnend uns angestrahlt,
Denn du, Gott, bist die Liebe ja!
Da Du uns so gesehn, da du uns segnetest,
Dachte da nicht dein göttlich Herz:
Euer Wunsch ist erhört, Kinder der Zärtlichkeit,
Die ihr folgsam dem süßen Hang,
Der mit ewger Gewalt Herzen zusammenzieht,
Euch so redlich, so edel liebt,
Ihr sollt glücklicher sein, als euer zärtliches
Frohes Herze zu wünschen wagt;
Tage warten auf euch, jener Zufriedenheit
Himmelgränzer Welten voll;
Wie sein Leben man lebt, wenn es der Unschuld Reiz,
Und die Weisheit olympisch macht.
Hast du also gedacht, Vorsicht, so winke mir,
O so winke mir Hoffnung zu!
Führe Doris zu mir, daß mein erschöpftes Herz
In den süßen Umarmungen
Wieder mächtiger schlag, und dir, geliebtes Herz,
Folge, wenn du so himmlisch fühlst.
Daß vom lieblichen Glanz, der ihrem Aug entfließt,
Mein erkalteter Geist, belebt,
Wieder aufblüh, geschickt in die äthersche Luft,
Weise Rowe, dir nachzufliehn.
Von ihr zärtlich umarmt, an ihr seraphisch Herz,
Überwallend von Lust, gedrückt,
Vom melodischen Ton, der ihrem Mund entschallt,
Ganz erfüllt, und zu geistigen
Harmonien entzückt, will ich, o Tugend, dich
Stärker lieben und würksamer
Wie auf Schwingen des Wests will ich in Bodmers Arm
Und in Schinzens Umarmungen
Von ihr eilen. Dann soll Doris mich tränenfrei
Küssen, und mich entfliehen sehn.

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Wieland, Christoph Martin. Gedichte. Gedichte. Jugendgedichte. Ode [1]. Ode [1]. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A638-C