[5] Erstes Bändchen

[5][7]

Vorbemerkung

Alle Stücke dieser Sammlung waren anfänglich für eine Monatsschrift bestimmt, womit das Publikum vor drei Jahren unter dem Titel »Jupiter« heimgesucht werden sollte; allein, da gerade in diesem Zeitpunkte fast alle deutsche Schriftstellerköpfe einen allgemeinen Kitzel bekamen, ihre Gedanken, Phantasien, Grillen und Einfälle in dem Kleide einer periodischen Schrift unter die Leute auswandern zu lassen, so befand ich für gut, kein Wasser ins Meer zu tragen, sondern meinem »Jupiter« wohlbedächtig ein Plätzchen im Winkel meines Schreibschrankes anzuweisen, bis ihm eine günstige Konstellation oder meine Laune hervorrufen würde. Die Konstellation des Schriftstellerhimmels hat sich zwar im mindsten nicht geändert: die Menge der Schreibenden ist gleich groß und die Menge der Denkenden nicht größer; ein Autor muß also immer noch die beschwerliche Mühe übernehmen, sich durch siebzehn Bogen Meßkatalogus hindurchzudrängen, um dem Publikum vors Gesichte zu kommen, und wehe dem Manne, der in einem solchen Falle nicht Unverschämtheit genug und zwei gesunde starke Ellbogen hat, um von beiden Seiten um sich zu stoßen und sich mit Gewalt durch die Menge hindurchzuarbeiten! – Meine Leser haben es also ganz allein meiner zufälligen Laune zuzuschreiben, daß ich ein schon längst für sie bestimmtes Gericht itzt in[7] einer andern Form auftrage: meine Sammlung soll ein Buch schlechtweg sein und weder vom Jupiter, Minerva, Apoll oder irgendeinem Gotte maiorum et minorum gentium ein titulares Verdienst borgen; ist sein innerer Gehalt nicht kräftig genug, sich den Beifall der Leser zu erwecken, so gähne man und werfe das Büchlein weg!

W ...l [8]

Silvans Bibliothek
oder
Die gelehrten Abenteuer

Praetereas si quid non facit ad stomachum!

Mart.


Silvan kehrte nach drei unangenehmen akademischen Jahren in den Schoß seiner Familie und seiner Bauern, zum Herzeleide aller Hasen und Rebhühner, zurück und hatte kaum bei den auserlesensten ländlichen Feierlichkeiten, unter Abfeurung eines Mörsers, den Tilly auf seinem Rückzuge aus Sachsen in dem Dorfe zurückgelassen, und des sämtlichen Gewehrs aus der großväterlichen Rüstkammer, sich den Eid der Treue schwören lassen, als er schon den Antritt seines Regiments durch eine merkwürdige Tat verherrlichte. Er hatte sich auf der Akademie von verschiedenen Leuten sagen lassen, daß unter allen Möbeln eines Hauses eine Bibliothek die kostbarste und ansehnlichste sei und daß alle französische und englische Standespersonen, die ihre Geburt durch Verstand und Wissenschaft adelten, dergleichen auf ihren Landgütern aufzustellen pflegten; er beschloß augenblicklich, eine seinem Stande so gemäße Pracht nicht zu verabsäumen, und gelobte bei sich den Penaten und Laren sei nes Ritterschlosses, [9] sie nach einer glücklichen Zurückkunft mit einer Bibliothek zu beschenken.

Der Zufall begünstigte sein Gelübde. Einer seiner Vorfahren hatte aus dem nämlichen Grunde, der itzt seinen Abkömmling zum Ankaufe einer Bibliothek antrieb, sich genötigt gefunden, eine weitläuftige Orangerie anzuschaffen, und da der Ort unter einem sehr unfreundlichen Himmel lag, der kaum zu Korn und Erdbirnen die erforderliche Wärme hergeben wollte, so wurde er in die zweite Notwendigkeit gesetzt, ein dauerhaftes wohlverwahrtes Gewächshaus für ihren Winteraufenthalt zu erbauen. Es geschah; ein großes geräumiges steinernes Gebäude wurde errichtet und an seinen Wänden mit den sinnreichsten Emblemen und andern Zieraten geschmückt, die die schönen Geister der ganzen dasigen Gegend aufzutreiben vermochten; denn jedem, der während der Arbeit den Bauherrn besuchte, wurde die Verbindlichkeit aufgelegt, auf der Stelle ein Gemälde zu erfinden und es auf der Stelle nach seiner Anweisung ausführen zu lassen. Das Ganze bekam also einen gemischten Charakter von Unsinn und Einfalt, der es zum possierlichsten Originale der ganzen Malerwelt machte. Jakobs Himmelsleiter mit auf und nieder hüpfenden Engelchen figurierte neben einer Bellone, die mit aufgeblasnen Backen in eine Trompete stieß, an deren fransenreichen Banderole das Wappen des Besitzers prangte; gleich darauf folgte auf einem meergrünen Grunde eine Schweinsjagd mit Figuren in Lebensgröße; Orpheus in spanischer Tracht, wie er mit den lieblichen Tönen eines Hackebrettes große aufgehäufte Malter Brennholz hinter sich drein lockt; eine Tischgesellschaft, die den Geburtstag des Besitzers feiert, unter welcher mitten vom Tische ein stattlicher Schweinskopf hervorleuchtet, dessen Stirne der vergoldte Name desjenigen ziert, dem zur Ehre die Feier angestellt war; Jupiter mit dem Donnerkeile neben einer dicken[10] runden halbnackenden Viehmagd, der ihr gebietender Herr einen Kuß rauben will – weil dieses letzte Gemälde etwas obszen ausgefallen war, so hatte der Künstler auf ausdrücklichen Befehl, statt einen Vorhang vorzuziehn, die unehrbaren entblößten Teile mit den Fingern verwischt; der übrige große Raum war dem Stammbaume gewidmet, der in der Gestalt eines Palmbaums sich bis zu einem sternenvollen eisgrauen Himmel erhub und mit seinem Schatten eine Menge kleiner Gänschen erquickte, die ihre Eltern zu einem fischreichen Teiche führten, in welchem Karpfen und Hechte, nach Boileaus Ausdrucke, zum Fenster heraussahn.

Silvans Vater hatte, von einem ökonomischen Geiste beseelt, viel triftigere Bewegungsgründe in sich wahrgenommen, die ihm den Verkauf der Orangerie anrieten. Sie wurde verhandelt, und jenes herrliche Denkmal der Kunst, das Gewächshaus, blieb, um die Unkosten des Abtragens zu ersparen, müßig stehn.

In einem solchen Zustande fand es Silvan und hatte es den Tag nach seiner Rückkehr von der Universität kaum erblickt, als ihm sein Gelübde einfiel, und stehendes Fußes wurde der Schluß gefaßt, das unbeschäftigte Haus zu einem großen Endzwecke anzuwenden. Es wurde in zwo Hälften zerteilt: die eine zum Pferdestalle, die andere zur Bibliothek bestimmt. Man schaffte hurtig Bretter herbei, baute eilfertig Re-positorien, strich sie mit dem schönsten Himmelblau an und vergoldete jede Kante; in kurzer Zeit war die Behausung der Bibliothek instand gesetzt und alles zur Aufnahme der Gäste, die darinne herbergen sollten, zubereitet. Die schönen funkelnden Repositorien machten Silvanen ein so inniges Vergnügen, daß er beinahe darüber vergaß, zu wessen Ehren sie erbaut waren, nicht viel fehlte, so bekamen sie gar eine andere Bestimmung; doch endlich siegte sein alter Vorsatz: sie blieben, was sie sein sollten, und es wurde wirklich einem alten [11] Kandidaten, der die sämtliche junge Herrschaft vom Hause auf der lateinischen Folter herumgetummelt hatte und itzt als ein Emeritus des Hofmeisterlebens bis zur ersten Vakanz gefüttert wurde, der ernstliche Auftrag gegeben, aus allen Enden der Welt Bücher zusammenzukaufen; ihr Inhalt mochte sein, welcher es wollte – Sprache, Gegen stand, Alter, alles galt gleich –, wenn sie nur von einer Statur waren, wie sie die Höhe erfoderte, die der Tischler den Fächern zu geben beliebt hatte, in welchen sie aufgenommen werden sollten, und eine anständige reinliche Kleidung trugen, daß sie sich doch vor honetter Gesellschaft sehen lassen konnten.

Diesen zwo Bedingungen gemäß brachte der Kommissionar vor allen Dingen seine eigne Sammlung von Predigten, Postillen, Kommunionbüchern und andern ähnlichen Schlages hinein, weil sie so allerliebst in die Fächer paßten, als wenn sie dafür gewachsen wären. Darauf wanderte er aus, und was das erforderliche Maß hielt, wurde eingehandelt.

Eine drollichte Gesellschaft mußte auf solche Weise innerhalb vier Wänden zusammenkommen – so bunt, so gemischt, als sie auf keiner Redoute zu finden sein kann! – Eine Exegesis der Offenbarung drückte einen Anakreon in Quart, weil sie beide einerlei Länge hatten; Gellert verlor sich bescheiden unter der »Europäischen Fama«; Semler lag an Götzens Busen; Crusius umarmte Wolffen; Voltaire drängte sich an Beaumellen; Wieland wurde von zwo jungen philoso-phischen Abhandlungen über die Schultern angesehen; auf Geßnern lehnte sich ein teutsches Staatsrecht; Gleim und Jacobi wurden von einer ungeheuren Konkordanz mit Füßen getreten – weil der Foliant um etliche Zolle niedriger war als sein Nachbar, hatte man ihm, um alle Unregelmäßigkeit zu vermeiden, jene beiden Dichter untergelegt, die girrend unter dem dickbauchichten Körper ach! und oh! seufzten; doch [12] [15]wurden sie endlich aus der Sklaverei befreit und zu einer würdigern Stelle erhoben.

Die possierliche Vermischung hatte wenigstens den Nutzen, daß sie, wie das Grab, Leute in Nachbarschaft brachte, die sich im Leben ohne Balgereien nicht so nahe hätten kommen können, und zum ersten Male wohnten hier Gelehrte aus allen Fakultäten und Wissenschaften nebst Genies und schönen Geistern ohne Verachtung, Neid, Eifersucht und Zänkerei in friedlicher Eintracht untereinander; denn bekanntermaßen sondert man sie in andern Bibliotheken, zu Verhütung alles Unfugs, sorgfältig voneinander und läßt wenigstens nicht zween aus verschiedenen Fächern in eine Nachbarschaft geraten, die bald in die feindseligste Verachtung ausbrechen würde.

Insofern war Silvans Plan der vollkommenste in seiner Art: Er knüpfte das so lange zerrißne Band der Freundschaft zwischen allen Gelehrten zusammen. Doch das Schicksal muß seine Freude an gelehrten Faustkämpfen finden – ein höchst elender Geschmack! – Die Einigkeit hatte nicht vierzehn Tage gedauert, als der ganze Büchersaal in völligem Aufruhre war – alles stürmte, alles tobte!

Die Schuld war freilich wohl den Einwohnern des selben nicht allein beizumessen, sondern vielmehr der tückischen Schadenfreude eines finstern mürrischen Geistes, der über den ganzen polizierten Erdkreis herrscht und gerade wie die Götter Homers, die, wenn es ihnen am Zeitvertreibe und guter Laune fehlt, ein Tiergefechte unter den Menschen veranstalten und sich herzlich darüber freuen, daß die Menschen solche gute Narren sind und sich so hübsch zum Spaß und Kurzweile gebrauchen lassen – der, sage ich, gerade wie diese Majestäten des homerischen Himmels auf seinem bleiernen Throne sitzt und nichts tut, als daß er, wenn ihn die Langeweile einschläfern will, große und kleine Menschenkinder, [15] von jedem Stande und Berufe, mit einem zischenden Tone zusammenhetzt, auf welche Losung die guten Seelen niemals ermangeln, sich tapfer herumzubalgen, zu raufen, mit dem Degen, der Feder und allen Waffen, die nur in dem Zeughause der Rache und Feindschaft anzutreffen sind, sich bis auf den Tod ohne Schonung herumzuschlagen und dadurch jenem heimtückischen Geiste ein Späßchen zur Zeitverkürzung zu verschaffen. Man gibt diesem Tyrannen verschiedene Namen, doch der allgemeinste unter allen ist – der Geist der Kleinigkeit. Sein Reich ist so ausgebreitet, und seine Macht wird so allgemein anerkannt, daß er sich als den unumschränktesten Monarchen unsers ganzen Planetens betrachtet. Auf der Ottomane oder dem Sofa in dem Visitenzimmer sitzt er unter den Damen, bläst ihnen die ganze ärgerliche Chronik der Stadt in die Ohren, zieht ihre Lippen in ein spöttisches Lächeln über eine schiefe Frisur, hält Buch und Rechnung über Eroberungen, die sie nicht gemacht haben, oder streut statt der Schlummerkörner die einschläfernden Geschichtchen ihrer Küche und ihrer Domestiken auf sie hernieder. Er thront in den dicken Locken des Kanzelredners und tritt seine Lunge wie der Kalkant die Blasebälge, wenn er Ketzer oder Heterodoxe widerlegt; er nährt sich von Akten, seine Speise sind juristische und philosophische Di-stinktionen, seine köstlichste Delikatesse sind Varianten und notae variorum, Scholien und Glossen. Sein Tisch ist täglich mit den auserlesensten Floskeln des Kanzleistils, mit den schönsten teutschen Titulaturen in der besten Ordnung besetzt; sein ergötzendstes Schauspiel sind Prozessionen, langweilige Komplimente, einschläfernde Reden und Schulchrien, einfältige Intrigen der Liebe und der Politik, nebst dem ganzen Hof- und Staatszeremonielle, und er hat sich am trefflichsten ergötzt, wo er am öftersten gähnte. Er ist in der moralischen, politischen, gelehrten Welt, was in der physischen [16] die Luft ist: allgegenwärtig, alles durchdringend, zu fein, um von gewöhnlichen Augen gesehn zu werden, und auch dem besten Gesichte entwischt er oft. Jedermann wird von seinem Einflusse regiert, und wehe dem Verwegnen, der sich ihm widersetzt und ihn eine seiner Stellen zu entwenden sucht! Man muß ihn kennen, fühlen, wissen und – schweigen. Die meisten Bewohner unsers Erdballs beten ihn demütig als eine unbekannte Gottheit an und sind von einer schwachherzigen Gefälligkeit gegen seine Befehle so sehr angesteckt, daß sie es höchst verwegen finden würden, wenn ein ehrlicher Mann wohlmeinend sich die Freiheit nähme, ihnen ihre Torheit ganz nackt, ohne alle schimmernde Lumpen der Phantasie, mit welchen sie diesen Götzen anputzen, zum verdienten Spotte hinzustellen. So sei es dann! – Aber da die Herrschaft jenes unseligen Geistes so ausgebreitet ist, so ist es um desto weniger ein Wunderwerk, daß auch in Silvans Bibliothek sein Ansehn so viel vermochte. Im Vertrauen gesagt – viele feine Köpfe versichern, daß er überhaupt nirgends so eifrige Verehrung genießt als unter den Gelehrten; er ist ihr Götze, sagen sie; und – was ich im allergrößten Vertrauen sage! – unsre Nachbaren behaupten mit der frechsten Verwegenheit, daß nirgends seine Altäre so überall und von so aufrichtigen Opfern rauchen als in unserm lieben teutschen Vaterlande, das jederzeit neben den größten Gelehrten die größten Pedanten gezeugt hat. Auch tat der böse Geist wahrhaftig weiter nichts, als daß er mit seinem Stabe an die Türe von Silvans Bibliothek klopfte, ein einziges unverständliches Wort hermurmelte, und sogleich gerieten alle Bände im Büchersaale in eine stoßende Bewegung; kein einziger blieb ruhig, und wer es sein wollte, wurde durch die Unruhe seines Nachbars mit fortgerissen.

Dies war dem eklen Geiste nicht genug, er verlangte ein reizender Schauspiel und hatte ausdrücklich beschlossen, [17] sich diesen Tag an einer Ergötzlichkeit zu vergnügen, deren er seit langer Zeit nicht hatte habhaft werden können. Die Klotzischen Streitigkeiten und die Arlekinaden aller derer, die sich vor einigen Jahren unter uns berühmt zanken wollten, hatten seinen Geschmack etwas verwöhnt, und er war gegenwärtig mit keiner Lustbarkeit zufrieden, wenn sie nicht auf jenen Ton gespannt war. Daher gähnte er und konnte es unmöglich dabei bewenden lassen, solange die stummen Bände bloß aufeinanderstießen, sich drängten; ein so maschinenmäßiges Wackeln war für ihn ein nicht weniger langweiliger Anblick als dem erhabnen Statilius jedes Buch. Langeweile macht sinnreich; Statilius zählt, wenn er zu gähnen anfängt – welches jedesmal nach der dritten Zeile geschieht –, die großen Anfangsbuchstaben der Kapitel, und jener feindselige Geist besann sich, daß er auch ein Zaubrer ist, und machte ohne Verzug Gebrauch von seinen Kräften, um dem Spielchen mehr Anziehendes zu geben.

Er verwandelte durch ein geheimnisvolles Wort aus der kabbalistischen Gelehrsamkeit jedes Buch in seinen Autor, in Figuren von der Größe, in welche Milton seine Teufel zusammenschrumpfen läßt, um sie, ohne zu lügen, sämtlich ins Pandämonium quartieren zu können – eine komische Gesellschaft von Zwergfiguren! Hier guckte ein mürrisches, hagres Dichtergesicht aus einem Stutzerkleide, dort eine witzlose, geistleere Miene aus einer ehrwürdigen Perücke; hier sah ein Köpfchen, klein wie an einem Embryo, aus einem ungeheuren reichen, mit Flittergolde verbrämten Talare hervor, dort stund die schelmischste arglistigste Figur im schwarzen Rocke, Mantel und Überschlägen; da ein stolzer Schwachkopf in der Kutte des Strafpredigers, da ein leeres Gehirn im buntscheckichten Wams eines Freigeistes; oben saß ein Quacksalber mit einem langen, keilförmigen Titel [18] statt des Schildes auf der Brust, neben ihm ein theologischer Klopffechter, der in einer Hand statt des Spießes das System schwenkte, in der andern statt des Schildes die Bibel hielt; an seiner Seite stand eine Apothekerbüchse, die ein paar aufwallende, gärende Flüssigkeiten in sich enthielt, mit einer darauf gemalten Menschenfigur und einer quer darüber laufenden Aufschrift: Der Philosoph C ... – unmittelbar daran lehnte ein aufgedunsner Körper, mit juristischen Phraseologien so ausgestopft, daß sie aus allen Öffnungen hervorquollen, auf seinem Schoße saß ein wohlbeleibtes Männchen mit einem Titel statt des Lorbeerkranzes um die Stirn, unter welcher die undenkendste Miene eines Handwerksmannes saß, mit einer Feder in der Hand, die die Aufschrift hatte: Sic itur ad honores; um ihn lagen einige Truppe Philosophen und Dichter, die der Stolze, wie kriechende Insekten, verächtlich von Zeit zu Zeit übersah, um sie seine Größe fühlen zu lassen, und dann die Nase rümpfte, welches sie ihrerseits reichlich erwiderten. Auf einem Nachtstühlchen saß Quasimodogenitus und ließ sich, wie ein zärtliches Turteltäubchen, von einem Amor mit Mandeln und Rosinen speisen; ein Kritikus rieb neben ihm mit einer Drahtbürste die Politur und den Glanz von verschiedenen Büchern weg; ein anderer aus dieser Klasse maß mit Meßschnure und Winkelmesser Trauerspiele und Lustspiele, Romane und Gedichte aus und schüttelte unaufhörlich wie ein Beseßner mit dem Kopfe. – Im Winkel eines Faches saß ... und suchte die Krümmungen auf, die die Donau hundert Jahre vor Christi Geburt gemacht hatte, schnitzte Männerchen aus Holz von verschiedener Gestalt, strich sie an und stellte sie nach ihren Farben in genealogischer Ordnung; ein anderer, der mit pathetischem Tone die Abenteuer des Sem, Ham und Japhet erzählte, lachte heimtückisch über die ganze Reihe seiner Nachbarn, besonders über diejenigen, die ihm keinen Reverenz machten, er [19] sahe dabei so plump höhnisch aus, daß sein Gesicht schon eine höchst unangenehme Nachbarschaft war. Den größten Trupp machte ein Haufen feierlicher genieloser Geschöpfe, mit der finstersten Maske der Gravität auf dem Gesichte, mit der steifsten Ernsthaftigkeit im ganzen Betragen, in altfränkischer Kleidung; ein jedes darunter hatte eine Aufschrift auf der Brust, die den Namen seiner Grimasse anzeigte: Gründlichkeit, Demonstration, Tiefsinn, Melancholie, philosophischer Geist – ach, wer könnte das ganze Register von Namen herzählen, die sich die gelehrte Grimasse gegeben hat? – Delassare valent Fabium loquacem.

Auf einem solchen Fuße stunden die beiden Armeen, die itzt aufeinander anrücken sollten; ein Krieg zwischen Fröschen und Mäusen kann keinen komischern Anblick geben. Die Streiter waren schon so abgerichtet, daß sie, wie ein Paar Kampfhähne in England, kaum auf das Schlachtfeld traten, als sie schon mit Tumult und Lärmen sich anfielen. Der Aufruhr war so außerordentlich heftig und stürmisch, daß der präsidierende Geist ein Kopfweh davon bekam und in der größten Eilfertigkeit dem Spaße ein Ende machte, um sich nicht das Gehirn zersprengen zu lassen. Er stellte also durch ein Machtwort den Frieden wieder her – aber wie lange? – Die Heere zerstreuten sich wohl, balgten sich aus Furcht für Mißfallen nicht mehr; aber ein jeder Kämpfer fand, da seine Hände ruhen mußten, ein so gewaltiges Jucken in der Zunge und den Lippen, daß er ohne Unterlaß brummte und schnurrte wie ein zänkisches Weib, das gern zanken möchte und doch fatalerweise von ihrem kaltblütigen Manne kein einziges Mal gereizt wird; die ganze vorige Tapferkeit hatte sich in die Lippen gezogen, und die wackelten und wackelten! – daß endlich die Gottheit, die die Aufsicht führte, sich mitleidig entschloß, ihren Bewegungen und Konvulsionen der Lunge Luft zu machen, ehe sie zersprang. Er rief: »Redet!«, [20] und die trübste Miene heiterte sich bei diesem Befehle auf.

Das Gebot wurde befolgt, aber so tumultuarisch, daß der Kopf des Geistes nichts dabei gewann, als daß ihn vorher ein unverständliches Feldgeschrei und itzt vernehmliche Worte zerspalteten: Es war nur ein Tausch von Beschwerlichkeiten. Sie redten alle zugleich, jeder wollte den andern überschreien, jeder redte ein andere Sprache, jeder in einem hastigern Tone die ganze Tonleiter der Polemik hindurch, daß der Geist ungeduldig und voll Verdruß seinen bleiernen Kommandostab auf die Erde warf und laut ausrief: »Geht zum Teufel, ihr Schwätzer!« – Augenblicklich ward alles still.

Die tiefste Stille herrschte in dem ganzen Saale, aber nur auf einige Zeit. Bald störte sie ein Geschwirre, mit welchem hie und da ein paar Nachbarn sich ins Ohr zischelten, erst in einzelne laute Töne und dann in ein völliges lautes Gespräch ausbrachen. Am vernehmlichsten war die Unterredung zweier Figuren, worunter eine in eine braune römische Toga gehüllt war, an deren Säumen statt der Prätexta ein ansehnlicher Streifen Papier prangte, mit Kompilationen aus der Alten und Neuen Welt beschrieben; der andre trug ein schlechtes gewöhnliches Kleid, aber über der rechten Schulter hing ein Fragment von dem Mantel des Diogenes. Jener schüttelte gewaltig mit dem Kopfe, agierte alle Gebärden und Stellungen durch, die Cicero einem Redner in der Toga vorschreibt, und schien einen geheimen Kummer gegen seinen Gesellschafter auszuleeren, der ihn mit einem spöttischen Lächeln anhörte.

»Estne haec gens togata?« rief jener endlich laut und pathetisch aus, indem er ein hastiges Rückpas machte und ein armes Dichterchen, das hinter ihm stand und sich mit fröhlicher Geschäftigkeit aus properzischen, catullischen, ovidianischen [21] Phrasen ein allerliebstes Püppchen auspolsterte, zu Boden warf, daß er, sein Mädchen in dem Arme, über zehn Fächer auf die Erde herunterkollerte.

»Deutsch! wenn ich bitten darf!« unterbrach ihn der andre gelassen. –

»Sind das Gelehrte«, fuhr jener fort, »die itzt hin und wieder auf Kathedern sitzen, die Gründlichkeit unter die Füße treten und currente lingua etwas herschnattern, das sie Philosophie nennen? – Wo ist die goldne Zeit –«

»Lieber Mann, ereifern Sie sich nicht! Wir wollen friedlich ein Wörtchen miteinander sprechen. Was Sie goldne Zeiten zu nennen belieben, heiße ich eiserne.«

»Eiserne! Welche Lästerung!« – Der Geifer quoll ihm hervor.

»Ja, nicht anders! Von Ewigkeit her sind zween Menschen selten einer Meinung gewesen, und folglich können wir es ebensowenig sein: es ist eine Folge unserer Natur. – Wir wollen uns also vertragen; duldenSie, daß ich jene Zeiten eisern und nicht golden nenne, und ich verspreche Ihnen heilig, es ebenso gelassen zu ertragen, daß Sie sie golden und nicht eisern nennen.«

»Wissen Sie aber auch, welche ich meine?« –

»Ja, ja! – Da man gewisse festgesetzte Phrasen auswendig lernte und sie getreulich von Menschen zu Menschen fortpflanzte; da es in jeder Wissenschaft eine Orthodoxie und eine Ketzerei gab und wie bei der Religion zur Schande unsrer Zeiten noch itzt geschieht, 1 jede Partei diejenigen Ketzer schalt, die nicht ihrer Meinung waren, jede Partei allein, mit Ausschließung aller übrigen Menschenkinder, die Wahrheit [22] zu besitzen glaubte, wo man nicht denken, sondern glauben mußte; waren solche Zeiten golden oder eisern?« –

»Und was sind solche Zeiten, wo man so viel und so unsinniges Zeug denkt wie in den gegenwärtigen, wo man alles verkehrt?« –

»Sachte! Was verkehrt man? – Sind Sie Liebhaber von Fabeln? Die Alten haben ja auch Fabeln geschrieben; also werden Sie wohl geruhn, eine aus meinem Munde anzuhören. Wenn ich Ihnen mein Fabelchen erzählt habe, so frage ich Sie noch einmal – was verkehrt man? – und dann bitte ich mir gewisse Antwort aus.

Als Prometheus«, fing er an zu erzählen, »das erste Dutzend Menschen aus seinen schöpfrischen Händen ließ, so hielt er eine Anrede an sie, um sie von ihren künftigen Geschäften und ihrer Bestimmung zu unterrichten. – ›Lieben Söhne‹, sprach er – denn den männlichen Teil redte er zuerst an –, ›ich habe in euch Maschinen erbaut, die an Sonderbarheit alles übertreffen, sich nie völlig selbst kennen und doch vortrefflich ihre Wirkungen verrichten sollen. Ich stelle euch auf diesen Planeten und in euern Kopf einen Spiegel, auf welchen alle die Stückchen Elemente, die Jupiter hier rings um euch herum in der Figur von Bäumen, Steinen, von Luft, Wasser, von Vögeln, Hunden, Schafen und andren Dingen zusammengeballt hat, ein Bild werfen sollen, in welchem sich viele Verbindungen, Trennungen, Stöße – kurz, eingroßer Teil von den Veränderungen dieser um euch schwebenden Elemente abbilden sollen. Keiner unter euch, keiner unter eurer ganzen Nachkommenschaft – keiner unter allen den Spiegeln, die jemals Bilder von diesem Erdkreise auffangen, wird dem andern völlig gleich geschliffen sein: Eine Sache wird nie in einem völlig gleich abgemalt stehn wie in dem andern, und doch werden alle Geschöpfe, die mit einem solchen Spiegel versorgt sind, so handeln, als wenn auf eines[23] jeden Fläche die nämliche Vorstellung erschiene. Jenem auffangenden Spiegel gegenüber habe ich ein andres Glas von herrlicher Wirkung gestellt, ein Zauberglas, das von jenem den ganzen Vorrat von Bildern nach der Reihe aufnimmt und durch eine leichte zufällige Drehung, durch einen unmerklichen Schein jenes Spiegels augenblicklich alles in sich selbst wieder zum Vorschein bringt, was jemals in ihm gleichsam zur Verwahrung niedergelegt wurde. Noch habe ich hier in einem Behältnisse verschiedene kleine Teilchen hingelegt; sobald eins darunter auf euern Zauberspiegel springt, so wird eine Abbildung in ihm stehen; sie sollen in genaue Verwandtschaft mit der Zunge treten, sie soll ihr Werkzeug sein, ihr Überlieferer an andre euresgleichen. Mitten in euch habe ich ein Element gelegt, den feinsten unteilbarsten Teil des ganzen elementarischen Stoffes, aus welchem euer Körper und alles um euch herum zusammengesetzt ist, das Letzte, das nach aller Verwandlung, Zusammensetzung, Veränderung in dem Stoffe dieser Welt übrigbleibt, das selbst keiner Auflösung fähig ist – dieses Element soll die Aufseherin, die Regiererin von euch, sie soll euer Ich sein, das in sich alles vereinigt und von dem alle eure Handlungen Wirkungen sind, das von jenen Spiegeln annehmen muß, was sie ihm vorstellen, und oft Vorstellungen auf sie hinwerfenmuß, oft freiwillig hinwirft. Wie jene Spiegel nicht in euch allen auf gleiche Art geschliffen sind, die Sachen nicht auf gleiche Art abbilden, wie das, was ihr Worte nennen sollt, jene Teilchen, die ich der Zunge zu Gebietern gab, niemals ein bestimmtes Bild allein, sondern eine schwankende Mischung von verschiedenen, die sich wie die Farben des Regenbogens ineinander verlieren, in euern Spiegel hervorrufen werden, so sollt ihr nie dasselbe Ding auf dieselbe Art sehen und doch oft dasselbe auf dieselbe Art zu sehen glauben. –

Doch, so wahr ich Prometheus bin! – Ich habe eine Torheit [24] begangen! Ich wollte euch unterrichten, was ihr tun sollt, und ich lehrte euch, wie ihr es tun werdet. Wohlan! Hier gebe ich einem jeden unter euch ein Glas; reiset aus! Nach einem Jahre soll euch dieser Platz wieder vereinigen: Dann erzählt einander, was ihr gesehn habt!‹ –

Darauf stellte er sie, einem jeden nach einer andern Richtung, hieß sie fortwandern, und sie gingen.

Noch ehe sie ihn verließen, rief er ihnen zu: ›Dies sei euer und eurer Nachkommenschaft Geschäfte! Ein jeder wandre einen größern oder kleinern Teil dieses Planeten durch, sehe und sage, was er gesehn hat!‹

Nach einem Jahre kamen sie an den Ort ihrer Ausreise insgesamt zurück. Sie erzählten getreulich, was sie gesehn hatten; einige waren einander begegnet, einige Zeit miteinander gegangen, und so friedlich ihr Bericht anfing, so unruhig und stürmisch wurde er, als er an den Zeitpunkt kam, wo sie in Gesellschaft gereist waren. Ein jeder wollte andre Gegenstände, andre Begebenheiten gesehn haben, ob sie gleich alle eins gesehn hatten. Ein jeder stritt für seine Meinung und fand es höchst unbegreiflich, daß jemand eine andre haben konnte. Endlich wurde das Wortgezänke zum Fauststreite; sie faßten einander bei dem Halse, jeder wollte seinen Nachbar bestrafen, daß er nicht mit ihm übereinstimmte; in der Hitze des Kampfes verrückte sich bei einem jeden der Gesichtspunkt der Streitigkeit, und je mehr sich die Nägel mit dem Blute des Gegners färbten, je begieriger wurde man, ihn zum Geständnisse zu bringen, daß er unrecht habe, je mehr schlug einer auf den andern zu, um ihn zu zwingen, seiner gefaßten Meinung zu entsagen und die seinige anzunehmen, und zwar im völligen Ernste, weil jedes die seinige für die einzige Wahrheit hielt.

Indem sie mit dem heftigsten Zorne wüteten, näherte sich ihnen Prometheus und erschrak nicht wenig, als er seine [25] neue Schöpfung dem Untergange so nahe fand. Er brachte sie durch das nämliche Mittel, wodurch sie sich wechselsweise hatten überzeugen wollen, von ihrem blutigen Scharmützel zurück und hörte ihre Beschwerden an: Ein jeder legte den andern zur Last, daß er die Wahrheit nicht von ihm habe annehmen wollen.

›Lieben Kinder!‹ sprach endlich Prometheus, ›die Wahrheit! O wie wagt ihr es, auf dieses Vorrecht der Götter Anspruch zu machen! Nur den Göttern ist es verstattet, in dem Spiegel jener ewigen Göttin alle Dinge zu sehn, wie sie sind, und ihr sollt durch die Gläser, die ich euch gab, jede Sache sehn, wie sie euch durch euer Glas scheint. Kein Wunder, daß alleein Ding sahn und es doch einem jeden anders schien; denn jedes Glas ist anders geschliffen: manches verkleinert, manches vergrößert, manches ist hell, manches trübe. – Doch ich merke wohl, ich muß ferneres Blutvergießen verhüten; der größte Haufe eurer Nachkommen soll ohne diese Gläser in beständiger Dämmerung die Welt durchwandeln; nur einigen wenigen unter ihnen mögen ihrer anvertraut werden, sie sollen die übrigen lehren, was ihre Augen mit Hülfe der mitgeteilten Waffen entdeckt haben; die übrigen sollen ihnen glauben und durch Gewohnheit und Unterricht unmerklich zum Glauben gebracht werden und sich einbilden, gesehn zu haben, was sie doch nur lernten. –

Itzt trennt euch zum zweiten Male! In einem Jahre sprechen wir einander wieder.‹

Sie gingen, und jeder begab sich nach Prometheus' Anordnung in eine besondere Höhle. Hier setzten sie sich nieder, und von selbst, ohne daß sie wollten, stellten und ordneten sich die auf ihrer Reise gesehenen Dinge in Reihen und Klassen; aus den gesehnen Begebenheiten erwuchsen allgemeine Grundsätze und Regeln, und nach Verlaufe des anberaumten Termins erschien ein jeder auf dem Sammelplatze mit einer[26] fertigen Theorie in seinem Kopfe; allein da jeder verschiedene Dinge auf seiner Reise gesehn, jeder das, was alle sahen, auf eine besondre Art gesehn hatte, so trafen ihre Theorien so wenig zusammen als ihre vorjährigen Berichte; in einigen Grundsätzen waren sie eins, in andern himmelweit voneinander. Da sie aber durch die empfindliche Schiedsrichterkunst des Prometheus und ihre Wunden scheu geworden waren, so blieb es für dieses Mal bei dem Wortwechsel, über welchem sie ihr Befehlshaber antraf.

›Abermals im Zanke!‹ rief er, als er ankam. ›Ich lasse euch noch ein Jahr Zeit, um eure völlige Probe abzulegen.‹

Dieses Jahr brachten sie damit zu, daß sie eine neue Reise taten und unterwegs versuchten, Anwendungen von ihren gefundnen Regeln und Grundsätzen zu machen. Aus verschiednen Regeln mußte auch eine Verschiedenheit der Anwendung entstehen. Sie versammelten sich, und waren sie jemals uneinig gewesen, so waren sie es itzt. ›Wenn du das tun willst, so mache es so‹, sagte einer. – ›Nein, mache es so‹, sprach der andre und ebenso der dritte und die übrigen.

Prometheus versorgte sie mit Baumrinden und steinernen Griffeln und gebot ihnen, sich noch einmal in die Höhlen einzukerkern. Sie taten es: Ein jeder brachte seine Beobachtungen, seine Theorie, seine praktischen Regeln in Ordnung, grub sie in die Baumrinden und gelangte mit seinem System zu Ende des Jahres an dem Sammelplatze an. – Himmel, welche Verschiedenheit, als sie lasen! Da diese letzte Arbeit Mühe gekostet hatte, so wollte jedermann um soviel weniger seine Mühe vergeblich verschwendet haben; man bestand hartnäckig darauf, allein das wahre System zu haben, und es kam abermals zu Schlägen. Sie prügelten sich so lange, bis jeder seine Baumrinden und sein System an dem andern entzweigeschlagen hatte.

Indem kam Prometheus dazu, sahe die Trümmern der Systeme, [27] Trümmern von Haaren, die sie sich ausgerauft, Trümmern von Menschenfleische, das sie sich ausgerissen hatten; zween von den Fechtern lagen tot auf dem Boden, und die übrigen waren schon im Begriffe, einander die Kehle zuzudrücken.

›Ihr Elenden!‹ schrie Prometheus, voller Besorgnis, daß seine neue Schöpfung sich sogleich selbst wieder zerstören möchte, und setzte seine schiedsrichterlichen Fäuste in Bewegung, die noch Lebenden vom Untergange zu erretten. Sie sanken alle kraftlos auf den Boden; einem hing das ausgeschlagne Auge blutend über die Backen herunter; dem zweiten war das Gesicht von den Nägeln zerfetzt wie die Hinterkeulen eines tätowierten Otahiten; dieser war ohne Nase und jener ohne Ohren – genug, der arme Prometheus konnte die verunstalteten Werke seiner Hände nicht ohne Mitleid und Unwillen ansehn. Er wurde so grimmig, daß er sich zweimal schon gefaßt machte, den Rest seiner Schöpfung mit einer guten Keule vor den Kopf zu schlagen, um nicht durch ihre künftigen Händel sich, ihren Urheber, entehrt zu sehn; doch ein Gedanke von Vernunft und Überlegung brachte ihn jedesmal von seinem Vorhaben zurücke. Er hieß sie endlich aufstehn und sprach aus einem Überreste von Rache über sie und ihre Nachkommenschaft den Fluch: ›Nie müsse eure Nachkommenschaft dahin gelangen, ein allgemeines vollkommnes System der Kenntnisse aufzubauen, die ihnen ihr Aufenthalt auf diesem Planeten darbietet; ewig sollen sie sammeln und verlieren, ein jeder dem andern erzählen, was er mit Mühe von der Oberfläche der Dinge aufgelesen hat, und nie -‹, hier verstummte er, ergriff seine vier Söhne, stieß sie von sich und befahl ihnen, so weit zu laufen, als sie ihre Füße tragen würden, ohne sich jemals zu begegnen.«

Der Erzähler dieser Geschichte wollte eben, seinem Versprechen gemäß, die Frage, was verkehrt man nun? – wiederholen, [28] als dem Kompilator, der sie angehört, nicht verstanden und drum für eine alberne Fratze gehalten hatte, ein Männchen lachend über die breiten Schultern sah und lispelnd fragte: »Wissen Sie auch, was folgt?« – Der dicke Kompilator nahm so vielen Platz vom ganzen Fache ein, daß jener nicht, ohne Gefahr zu fallen, um ihn herumgehn und dem Erzähler der Geschichte auf sein Verlangen den Verfolg davon mitteilen konnte. Er nahm also hurtig die klügste Entschließung und kroch ihm durch die weit ausgebreiteten Beine. Darauf fing er, nachdem er seine Federmütze wieder in Ordnung gesetzt hatte, mit Verwunderung an:

»Sie wissen also den Verlauf nicht! -Jene vier fortgejagten Wandrer marschierten unaufhörlich fort. Das halbe Dutzend Mädchen, das Prometheus nebst ihnen hervorgebracht hatte, war indessen von der ersten Zeit ihrer Existenz an herumgeirrt, um etwas aufzusuchen, das ihnen nach der Foderung ihres Gefühls fehlte. Sie stießen einzeln auf ihre laufenden vier Brüder, und jede fühlte sich befriedigt, als sie den gefunden hatte, den sie fand; die beiden übrigen, die für die umgebrachten Märtyrer der Systeme bestimmt waren und also ewig umherwandelten, ohne das Verlangen ihres Herzens sättigen zu können, verwandelte eine erbarmende Göttin in Nachteulen, und sie, nebst ihren sämtlichen Nachkommen, tragen noch den Schmerz der ewigen Ehelosigkeit auf dem Gesichte, sie fliehen vor Scham das Tageslicht, und ihr Geschlecht wurde der finstre Vogel der Gelehrsamkeit, weil die ersten desselben, durch die unglückliche Systemsucht der für sie bestimmten Liebhaber, um Männer, Leben und Menschheit gebracht wurden.«

»Aber die verheirateten Jünglinge?« –

»Die Verheirateten? – gaben System, Theorie und alles auf und vergnügten sich aufs herrlichste mit ihren gefundenen Weibern, ohne den Fluch des Prometheus eben zu empfinden. Sie tändelten, [29] küßten, schäkerten und schäkerten sämtlich eine starke Nachkommenschaft heran. Nach einer langen Folge von Generationen führte der Zufall einige auf den Platz, wo die Brüder ihrer Vorfahren die Wahrheit ihres Systems mit dem Tode besiegelt hatten. Die Fragmente der zerschlagnen Baumrinden hatten wegen der magischen Kraft, die ihnen Prometheus mitteilte, sich die verfloßnen Jahrhunderte hindurch unversehrt erhalten; sie lagen mit ihren Aufschriften in dem nämlichen Zustande, in welchem sie hingeworfen worden waren. Sie fühlten eine geheime Sympathie, einen Zug nach diesen kostbaren Resten, huben sie auf, verwahrten sie heilig; sie wurden von Sohn zu Sohne überliefert; einer änderte hie und da einen Griffelzug, setzte hie und da einen hinzu, die Hauptsache blieb; man machte Abschriften; die Originale gingen verloren, bei jeder neuen Abschrift wurden, oft in der Absicht zu verbessern, oft aus Unwissenheit, oft aus Ungeschicklichkeit, Veränderungen gemacht und – Herr Doktor, das sind unsre Systeme – nur Fragmente, abgeschriebne Fragmente, die unter verschiedenen Veränderungen herumwandern, aus denen das Genie zuweilen ein neuscheinendes zusammensetzt oder auch von jenem Platze, wo das erste Blut dem System zu Ehren floß, ein bisher noch un-gesehnes herholt.« –

»Aber so fragte ich doch recht – bei einer solchen Bewandtnis –, was verkehrt man da?« – sagte jener, der zuerst die Erzählung angefangen hatte. »Und die Antwort darauf ist nichts!« sprach dieser, der sie geendigt hatte. –

»Nur denen verkehrt man etwas, die sich ein System kompiliert haben und es für die einzige Wahrheit halten.« –

Der Kompilator, der noch hinter ihm stund und dies für einen Stich hielt, der seine Ehre verwunden sollte, gab ihm bei jenen Worten von hintenzu eine Ohrfeige vom ersten Range und setzte seinen Arm zu einer zweiten in Bereitschaft, [30] als jener sich hinter seinen Nachbar schlich und Lärm blies. Weil die Nachbarschaft der witzigen Köpfe ihm die nächste war, so erschien auf sein Geschrei ein ganzer Trupp derselben, tanzend und singend, und rief wie betrunkne Musensöhne ein elendes, geschmackloses Pereat; nur einer, mit einer hervorstechenden vielversprechenden Miene, gebot ihnen zu schweigen, und sie gehorchten.

Er erkundigte sich nach der Ursache der Unruhe. »Hier, der Mann«, rief der Beleidigte, der die Ohrfeige empfangen hatte, »dieser aufgeblasene Kompilator, hat mich wie einen Unwürdigen behandelt, mich, der ich unendlich mehr Genie und gesunden Menschenverstand besitze, wovon ein Gran seine ganze Plunderkammer von kompilatorischer Gelehrsamkeit aufwiegt.« – »Sie haben recht«, zischelte ihm der Heerführer der witzigen Köpfe zu, ohne daß es der ehrwürdige Gegner hören sollte, der aber doch etwas davon erschnappte und darum hastig fragte: »Wie, der elende Unwissende hat recht? – Was! was sagen Sie da?« –

Eilfertig lief jener auf ihn zu. – »Sie wissen, wie hoch ich Ihre Gelehrsamkeit schätze; Ihre letzte Schrift war ein Meisterstück, voll herrlicher Zitaten und auserlesener Blumen der Wissenschaft.« – »Was kümmert mich das? Das versteht sich von selbst!« er widerte der Kompilator. »Ich will wissen, ob ich nicht recht habe! Und gleich« – hier wollte er seinen Lobredner bei dem Kragen fassen, aber er war unsichtbar geworden.

»Herr«, sagte er zu dem Manne, der über die erhaltne Ohrfeige nachdachte, und griff ihn bei der Brust fest an, »Herr, sagen Sie, daß ich recht habe, oder –«

»Wie ist mir das möglich?« sagte der andre schüchtern. »Ich bin ja Ihr Gegner, den Sie vorhin –«

»Nu, so kommen Sie! wir wollen kompromittieren« – und so riß er ihn mit sich fort. – »Der Mann dort soll unser Schiedsrichter sein. – Hören Sie, da! Habe ich nicht recht?« –

[31] Der Aufgerufne war einer von den Quartiermeistern des deutschen Parnasses, einer, der die sämtlichen Truppen des Apolls in Regimenter und Kompanien verteilt und Buch und Register darüber hält. Sobald er merkte, daß man ihm die Ehre der Entscheidung zugedacht habe, ward er ungemein freudig, rollte geschäftig seine Listen auf. – »Mit Erlaubnis, wie heißen Sie?« – Der Name wurde ihm genennt; er suchte, er suchte. – »Nein! Sie sind kein schöner Geist.« –

»Ach, Narr! ein schöner Geist! ein Gelehrter bin ich, ein großer Gelehrter!« –

Der Literator, ohne ihn zu hören, fuhr in seinem Suchen fort und sprach, als jener schon weg war: »Wenn ich nur wüßte, unter welcher Fahne Sie stehen, so sollten Sie gleich erfahren, ob Sie recht haben!« – Aber er blieb ohne Antwort und rollte deswegen bedächtig seine Listen wieder zu.

Kläger und Beklagter nahmen ihren Weg zu einem andern Richter und glaubten ihn in einem Manne gefunden zu haben, der ernsthaft in tiefem Nachdenken da saß. Die Parteien trugen ihre Sache vor. »Was ist besser«, fragte der Mann mit der Ohrfeige, »Gelehrsamkeit oder polierter Menschenverstand?« –

»Punkt!« rief der Richter, an den sie sich gewandt hatten, und machte einen mit dem Bleistifte aufs Papier. Darauf fing er an, von seinem Papiere abzulesen:

»Als Minerva aus Jupiters Kopfe hervorgegangen war, wurde sie von ihm der übrigen Götterschaft vorgestellt, und jedermann bewunderte und liebte sie als ein muntres gesprächiges Mädchen, als die liebenswürdigste unter allen Göttinnen; selbst Juno, so eifersüchtig sie sonst gegen jede Schönheit, jede lobenswerte Eigenschaft war, wenn sie jemand außer ihr besaß, konnte sich nicht enthalten, sie mit einem nachdrücklichen Kusse ihrer Gewogenheit zu versichern. Kein Gott im ganzen Olympe, der sie nicht anbetete! keiner, [32] der nicht von ihr lernte! Sie sprach mit einnehmender Freundlichkeit und nichts als gesunde Vernunft; was sie sprach, riß durch eine gewisse innerliche Kraft zum Wohlgefallen hin; es gefiel und überzeugte, weil es gefiel. Auch Mo-mus hatte nichts an ihr zu tadeln, als daß man ihr nicht widerstehen könne – so galant wurde seine Satire! Auf ihrem Gesichte lebte eine ernste gesetzte Heiterkeit, ein weises Lächeln auf den Lippen und in jedem Zuge des Gesichts; sie war sicher zu gefallen und bemühte sich also nicht darum; sie schimmerte nicht, denn sie wußte, daß sie reizte; sie wollte nicht einnehmen, denn sie wußte, daß sie entzückte; gleichwohl war in ihrem ganzen Betragen nicht die mindeste Spur, daß sie ihre Vollkommenheiten kannte. Ihr Selbstzutrauen war das edle Selbstzutrauen der großen Seele, nicht die blinde Zuversichtlichkeit des Stolzes. Sie sagte offenherzig, was sie dachte, und dachte nichts, was sie nicht sagen zu können glaubte. In der Wahl ihrer Freunde und Lieblinge war sie ekel: niemand erwarb ihre Gunst, der ihr nicht glich, den nicht wenigstens die Hälfte der Vortrefflichkeiten zierte, die er an ihr bewunderte; er mußte aus Überzeugung bewundern, wenn er ihre Bewunderung gewinnen wollte. Im kurzen wurde, ihr Freund sein, zum sichern Kennzeichen, daß man etwas wert war; jeder Gott beeiferte sich um die Ehre dieses Kennzeichens, und nur wenige erlangten es.

Die Unglücklichen, die davon ausgeschlossen wurden, denen also ihr Unwert so gut als an der Stirne gezeichnet stund, sannen auf Mittel, sich einem solchen Schimpfe zu entziehn. Sie beredeten eine von den Untergöttinnen, die der angebeteten Minerva zur Dienerin gegeben war, auf die Reden ihrer Gebieterin achtzugeben, alles, auch das geringste, getreulich zu merken, es aufzuschreiben, auswendig zu lernen, welches sie ihrerseits mit den Reden und Handlungen ihrer glücklichen Nebenbuhler ebenso hielten. Es geschah, und da [33] beide Teile einen genugsamen Vorrat gesammelt zu haben glaubten, so wurde die Aufwärterin mit allem möglichen Schmucke, falschen Diamanten, geschliffnem Glase – kurz, mit allem schimmernden Putze behängt, um den Mangel der Schönheit und des Reizes zu verbergen. In diesem blendenden Staate zeigte sie sich den Göttern; alle, die von ihrer Gebieterin verwiesen waren, liefen ihr zu, um vor ihren Füßen zu seufzen; dazu gesellte sich ein noch größrer Haufe von solchen, die ihre eigene Meinung so sehr bei sich selbst erniedrigte, daß sie nicht einmal das Herz hatten, auf Minervens Gunst einigen Anspruch zu machen. Sie krochen aus ihren Winkeln hervor, machten dieser geschmückten Marktschreierin ihre Aufwartung, wurden von ihr willig aufgenommen, so, daß ihre Wohnung in kurzem ein Asylum für den elendesten, schlechtesten Haufen und wie der Hain des Romulus mit Scharen angefüllt wurde. Auch liebten sie ihre Freunde so feurig als das kleine Häufchen von Minervens Anbetern; da die meisten unter jenen Leute mit stumpfem Gefühle und trockner Einbildungskraft waren, so mußten sie notwendig an dem bescheidnen stillen Reize Minervens weniger Geschmack als an dem ankündigenden prahlerischen gehäuften Putze ihrer Dienerin finden. Diese Betriegerin wurde stolz auf ihren Beifall und bekam endlich gar Neigung, Minerven um ihr ganzes Ansehn zu bringen.

Das Projekt gefiel ihrer Eitelkeit doppelt: teils, weil falsches Verdienst das wahre nie neben sich dulden kann, ohne sich erniedrigt zu fühlen, teils, weil sie allein alsdann die ganze Götterschaft zu Bewunderern zu haben hoffte.

›Leihe mir dein Haus!‹ sprach sie eines Tages zu Minerven. ›Ich habe ein großes Fest zu geben, und das meinige hat zu wenig Platz.‹Jene weigerte sich; diese wurde aufgebracht.

Sie dachte auf Rache; doch versuchte sie ihren Anschlag noch einmal durch Bitten; es gelang ihr; das Fest wurde gegeben. [34] Nach Endigung desselben verlangte die Besitzerin des geliehenen Hauses, daß sie wieder ausziehn sollte; sie schickte Boten über Boten; ›komm und vertreibe mich nebst meinen Freunden!‹ war die Antwort. Die beleidigte Göttin ging mit ihren Lieblingen, sich ihr Recht mit Gewalt zu verschaffen; aber wie konnten sie der ungleich größern Schar widerstehn, die das Haus besetzt hielt? – Alle Zugänge waren verschlossen, verriegelt, verrammelt. Sie mußte vor der Tür mit ihrem Häufchen stehenbleiben und noch obendrein sich von ihrer ungerechten Vertreiberin aus dem Fenster wie die schlechteste, niederträchtigste Gassendirne behandeln, schmähen, verachten, beschimpfen lassen. Sie ergrimmte und wollte einbrechen; aber der ganze Trupp der Feinde stürzte sich heraus und trieb sie mit Prügeln, Steinen, Stangen und Spießen fort. Einige wenige ihrer Helfer wurden gefangengenommen, andre gingen treulos von ihr zu den Siegern über, aber der größte Teil blieb ihr treu. Traurig ging der Rest in das kleine Häuschen zurück, das vorhin der Marktschreierin gehörte, und tröstete sich nebst der betrognen Göttin mit der Gerechtigkeit ihrer Sache.«

Der Mann legte sein Papier zusammen, und seine Erzählung wurde geschlossen. – »Wissen Sie den Verlauf Ihrer Erzählung?« fing der an, der mit dem Kompilator von dem Richterstuhl des Erzählers gekommen war. – »Ich will ihn erzählen; hören Sie nur!« –

»Aber woher können Sie den Verlauf einer Geschichte wissen, die meine Erfindung ist?« – fragte der Schiedsrichter.

»Woher? – Sie müssen wissen, daß ich der allgemeine Fortsetzer aller Schriften bin, die ihre Verfasser aus Überdruß oder weil sie erschöpft waren oder aus andern Ursachen unvollendet ließen. Ich weiß ihren Stil, ihre Manier, alles aufs genaueste nachzuahmen, und man müßte ein verzweifelter Kenner sein, wenn man den meinigen unterscheiden [35] wollte. Sobald die erwartete Folge eines Buchs nur um eine Messe außen bleibt, so ist ein gewinnsüchtiger Buchhändler an der Hand, der sich eine Fortsetzung von mir schmieden läßt, und selten widerfährt mir das Unglück, daß nicht der größte Teil des Publikums es als das echte Werk des wahren Verfassers bewundern sollte; bringen gleich etliche vorwitzige Kunstrichter endlich alle Leser von ihrem Irrtume zurück, was schadet's? – L'admiration du moment – der erste Taumel des Beifalls ist doch meine. – Sie sollen gleich einen Versuch hören.

Nicht lange genoß die unglückliche Göttin diesen elenden Trost; bald wuchs die Unverschämtheit ihrer stolzen Über-winderin so stark an, daß sie ihre ehmalige Gebieterin auch sogar aus diesem Zufluchtsorte verdrängen wollte. Sie hatte Lust, sich selbst für Minerven auszugeben, und mußte also die wahre entfernen, deren Gegenwart ein zu deutlicher Beweis wider ihren Betrug gewesen wäre und sie alles ihres Kredits hätte berauben können.

Sie stiftete deswegen ihre Verehrer an, sie mit guter Manier beiseite zu schaffen. Sie brachen des Nachts in Minervens Wohnung ein, schleppten die schlummernde Göttin heraus und übergaben sie dem hülflosesten Zustande.

Tages darauf berief die Unglückliche ihre Freunde zusammen, um sie in ihre Rechte wieder einzusetzen; ein Teil davon, als er sah, wie weit es gekommen war, machte weitläuftige Entschuldigungen und verhielt sich neutral; ein anderer war so treulos, sie nicht mehr erkennen zu wollen; kaum zween oder drei blieben ihr getreu. Sosehr sie von Hülfe entblößt war, so wagte sie es doch, mit dem Beistande dieser wenigen sich von der unrechtmäßigen Unterdrückung zu befreien. Sie wollte ihre Sache vor dem Throne des Jupiters führen; doch ihre Feindin hatte ihr durch tausend Mittel den Weg verlegt. Sie tat von Zeit zu Zeit Versuche; niemals [36] [39]konnte sie durchdringen; sie mußte sich sogar öffentlich in das Gesicht eine Betriegerin schelten lassen, die ihre triumphierende rechtmäßige Überwinderin aus Neid und Stolz zu verdrängen suche. – ›Bin ich nicht Minerva, die leibliche Tochter des großen Jupiters? Ist jene nicht eine Betriegerin, die mich durch die boshafteste List und Gewalttätigkeit aus meinen gerechten Besitzungen vertrieben hat?‹ – Man lachte und kehrte ihr den Rücken zu, und wo man weniger höflich, verachtete, stieß, warf, peitschte man sie fort.

Es war ihr nichts übrig, als daß sie geduldig sich ihrem grausamen Schicksale überließ, von fremder Wohltätigkeit lebte oder sich in die tiefste Einsamkeit mit ihren übrigen Freunden begab, um daselbst Leben und Schmerz zugleich wegzuseufzen. Sie wählte das letzte, ohne zu bedenken, daß sie aus unsterblichem Blute herstammte.

Ihre Unterdrückerin brüstete sich indessen mit ihrem schändlichen Triumphe; sie wurde angebetet und mißbrauchte die leichtgläubige Ehrfurcht ihrer Diener so sehr, daß sie alle in Furcht und Zittern versetzte. Sie gebot, wäre es gleich das unsinnigste Zeug gewesen – man mußte schlechterdings gehorchen oder für den Ungehorsam büßen.

Die Vertriebne konnte in ihrem erniedrigten Zustande auf keinen Verteidiger rechnen noch viel weniger selbst sich zu der Herzhaftigkeit erheben, ihre gekränkten Ansprüche geltend zu machen. Nach einer langen Verbannung, als der Gram ihr beinahe ihren eignen Wert unfühlbar gemacht hatte, ergriff einen ihrer Getreuen plötzlich ein edler Unwille; sein Feuer begeisterte die übrigen, und sie beschlossen, bis vor den Thron des Jupiters zu dringen und ihm zu entdecken, welche niederträchtige Betriegerin er itzt für seine Tochter erkenne. Ihr Anschlag gelang. Sie schlichen in das Schlafgemach des Vaters der Götter und Menschen und fanden [39] ihn, als er eben, den Kopf voll goldner verliebter Bilder, auf dem Sofa lag und von einem nächtlichen Besuche bei der schönsten Tochter Nereus' ausruhte. Er war in der herrlichsten Laune und darum desto geschickter, sich der leidenden Unschuld anzunehmen; seine Tochter, sosehr sie der Kummer entstellt hatte, besaß noch mächtige Reize genug, um ihm zu gefallen und das Bild seiner geliebten Nereide in ihm zu erneuern; ohne Beweis und Gegenbeweis erkannte er sie für seine Tochter und versprach ihr Hülfe. Er setzte sich es ernstlich vor; allein sein vorhabender Liebeshandel beschäftigte ihn zu sehr, als daß er Zeit und Muße zu einer kräftigen Unterstützung übrigbehalten konnte. Indessen wohnte doch Minerva in seinem Palaste, und jeder, der dem Jupiter die Aufwartung machte, tat ihr, wenigstens um des Jupiters willen, die nämliche Ehre an. Die Anzahl der wahren, überzeugten Verehrer nahm allmählich auch zu; aber gegen den überlegnen Haufen der entgegengesetzten Partei war ihr Trupp doch nur ein Chor Reichstruppen gegen eine große preußische Armee.«

»Sie haben meine Geschichte wahrhaftig gut geendigt«, fing der Schiedsrichter an; »ich bin zufrieden; aber können Sie meine Erfindung enträtseln? – Meine Geschichte ist die Geschichte der Gelehrsamkeit und des Menschenverstandes.« –

»Ei«, rief sein Fortsetzer, »das vermutete ich wohl! – Herr Gegenpart! Herr Kompilator! Wir sind entschieden!« –

Wo war der edle Mann? – Weit, weit fortgelaufen! Seine Einbildungskraft war viel zu sehr vertrocknet und von der Last seiner Wissenschaft daniedergedrückt, als daß er eine solche Erdichtung hätte anhören und etwas mehr als die Schale daran finden sollen: Der Kern muß solchen Herren in natura bloß nackt hingelegt werden, oder sie wissen ihn nicht zu entdecken; – es ekelte ihn für einer solchen unschmackhaften [40] Speise, er ließ gern seinen Gegner den Prozeß gewinnen und rennte in der Mitte jener Erzählung mit Brummen und Kopfschütteln davon.

Sein zurückgelaßner Gegner, der die Ursache dieser plötzlichen Verschwindung nicht merkte, glaubte, daß ihn das Bewußtsein seines Unrechts die Flucht angeraten habe, eignete sich den Sieg über ihn zu und wurde so mutig, seine Freude in ein lautes Triumphgeschrei ausbrechen zu lassen, welches eine Menge Neugierige um ihn her versammelte. – »Was gibt's? Was ist's?« waren allgemeine Fragen.

Unter allen drängte sich eine Figur mit einer spruchreichen Miene am nächsten zu dem Triumphierenden und fragte ihn mit abgemeßnem Tone um die Ursache seines Lärms, und als er sie von ihm vernommen hatte, rief er aus:

»Sie haben recht! Wir wissen zu wenig, weil wir zu viel wissen.«

»Welchen Sinn deckt diese Worthülle, Biedermann?« fragte ein kurzes, untersetztes Männchen, das in dem Korbe eines Arzneikrämers ägyptische, chaldäische und hebräische Rätsel und Sentenzen, große Büchsen voll von einer Mixtur, die die EngländerNonsense nennen und hier Philosophie überschrieben war, nebst vielen Gläsern, mit schwarzer Galle, dickem hypochondrischem Blute und Dampfe aus dem Schlunde des Delphischen Orakels angefüllt, am Halse trug, welches alles zusammen eine große Aufschrift an der einen Seite des Korbes unter dem Titel »Laune« ankündigte. –

»Welchen Sinn deckt diese Worthülle, Biedermann?« fragte er. – »Den richtigsten und unrichtigsten!« erwiderte jener.

»Wie gehe das, ehrlicher Freund?«

»Den richtigsten – wer ihn versteht, den unrichtigsten – wer ihn nicht versteht.«

– »Hab manchen Narrn schon gehört! – Sprich deutlich! Laß nicht in die Mäander des Witzes [41] dich herumwirbeln! Noch spiel mit deinen Hörern auf Senecas Grabe die blinde Kuh!«

»Ei, ei, Herr Ritter! Sagen Sie das sich selbst! Eine Lehre, die ihr Urheber selbst ausübt, ist ihrer zwei wert.«

»Was soll mir das, witziger Spitzkopf? – Wir wissen zu wenig, weil wir zu viel wissen! – Hör ich die Worte, stutzt mein Verstand; krabbeln um ihn herum wie Ratten und Mäus wie im Tuche, das dem heiligen Apostel vom Himmel heruntergelassen wurde, voll reiner und unreiner Tierlein.«

»Pah! Das ist ein Ton! – Lieber Mann! Eine Dose Nieswurz ist eine herrliche Blutreinigung für Kopf und Stil. – Doch die Erklärung ist die Krücke der Gedanken; ohne sie hinkt oft der schönste; wohl! Sie sollen eine bekommen! – Wir wissen zu wenig, weil wirzu viel wissen: Gute und schlechte Köpfe vor uns haben entdeckt, eingehandelt, angesammelt; das ganze Warenlager ist angefüllt, und niemand hat das Verzeichnis davon ganz inne. Die Gelehrsamkeit ist gegenwärtig ein weitläuftiges Behältnis von ausgegrabnem Erze: Kupfer, Gold, Eisen, Silber – alles übereinandergehäuft; es muß geschieden und so lange geläutert werden, bis das Hauptmetall reiner Menschenverstand, reine Vernunft, übrigbleibt – dieser Stein der Weisen, der letzte Zweck des philosophischen Alchimisten! – Wir wissen zu wenig – denn wir haben diese allgemeine reine Vernunft noch nicht gefunden; wir wissen zu viel- denn wir sind noch mit der Menge unbearbeiteter Materialien überhäuft. Wir müssen verlieren, um zu gewinnen; wir müssen wegwerfen, um zu erlangen; vergessen, um zu lernen; beschneiden, um die Säfte des Wachstums zu konzentrieren; Blut lassen, um desto gesünderes zu bekommen. – Wissen Sie die Begebenheiten des Königs Midas?«

»Was braucht's Begebenheit? Was kümmert mich der langohrichte Midas, weidlicher Antithesenmann? – Weiß [42] ohne Midas, was denkst. Noch sitzt auf dem Grabe der Vorwelt manch nasweiser Sohn des Teuts und grabt aus ihren modernden Gebeinen das Mark, daß die Nägel ihm schmerzen, und hat er herausgeholt den eiternden Rest, hält er verdrossen die Naslöcher zu vorm kostbaren Qualm und ruft: ›Herr, er stinket schon!‹«

Der andere Interlokutor konnte sich über dieses witzige Phantasieren so wenig des Lachens enthalten, daß er sich umdrehen und den Schwärmer in seinem Paroxysmus von Fieberhitze zurücklassen mußte. Bei der etwas flüchtigen Umdrehung stieß er auf einen langen, hagern Körper, der durch die schnelle Bewegung der Luft zugleich in einem kleinen Wirbel herumgerissen wurde. Als er wieder zu einem festen Stande gelangte, faßte er jenen, der ihm die Bewegung mitgeteilt hatte, ernsthaft bei der Hand. »Ich hörte Sie gegen jenen Aberwitzigen der Begebenheiten des Königs Midas gedenken; ist etwa ein neues Manuskript vom Könige Midas bei der neulichen Durchsuchung der pomptinischen Sümpfe gefunden worden? Hurtig sagen Sie mir das, daß ich darüber schreibe!«

»Ich weiß nichts vom Manuskripte noch von der Durchsuchung der pomptinischen Sümpfe.«

»Die ist gewiß, so gewiß, als die Sonne aufgeht, geschehn. Sie wollen – ich merk's wohl – zuvorkommen und behalten die Nachricht für sich. Offenbaren Sie mir alles! Ich schreibe darüber, und Sie sollen die Ehre haben, daß Ihr Name in der Vorrede als der Name des Mitteilers genennt wird.«

»Wenn es nun wäre, wollten Sie die Reise daran wenden?« »Beileibe! – Es ist genug zu wissen, daß es gefunden ist.« »Und ohne es gesehn zu haben?« – »Weiß ich viele Bogen davon vollzuschreiben! Ich habe von Kameen, von Basreliefs, von Onyxen, Achaten, vom Ringe des Polykrates und dem Kasten des Cypselus umständlich geschrieben, ohne eins mit[43] Augen erblickt zu haben. – Ist vielleicht gar ein Stückchen murrhinum gefunden worden? Ich behaupte zum voraus, daß es eine Scherbe von den murrhinis et onychinis ist, quibus Eliogabalus minxit – und an Beweisen soll mir's, so wahr ich lebe! nicht fehlen. Wenn man nur erst mit sich einig ist, was man behaupten will, so ist es unendlich leicht zu finden, wodurch man es behaupten kann; das müßte mir ein verzweifelter Autor in einer toten Sprache sein, dessen Worte sich nicht so künstlich drehen ließen, daß gerade der Sinn dar-inne liegt, den ich eben brauche.«

»Wenn Sie die Denksäule Ihres Ruhms aus Scherben von des Heliogabalus Nachttöpfen aufzurichten gedenken, so dauern Sie mich; denn man hat keine einzige noch gefunden, sowenig als ein Manuskript von der Geschichte des Königs Midas.«

»Woher haben Sie aber Ihre Geschichte? – Aus einem bekannten alten Autor ist sie nicht; denn diese weiß ich auswendig, und aus einem alten muß sie doch sein.«

»Warum das?«

»Was wüßten denn die Neuern, wenn sie es nicht aus den Alten lernten? – Kein gescheiter Gedanke, kein gescheiter Ausdruck, den sie nicht aus jenen Lehrern der Weisheit haben!«

»Ja, Sie sind nicht der erste, der dies gesagt hat – aber wenn Sie erlauben – die Meinung ist Vorurteil, Pedanterei, Mangel an Philosophie, an Kenntnis des menschlichen Geistes; man muß die Geschichte des menschlichen Geistes nur mit halbem blinzendem Auge übersehn haben, um ein so schiefes Urteil zu fällen.«

»Recht!« schrie hinter ihm ein andrer, der das Gespräch mit angehört hatte. »Hören Sie meine Meinung davon! Alle diese Kritikaster, diese gelehrten Handlanger werden sich nicht die Mühe geben und über Sachen denken, die etwas [44] mehr als Silben sind. – Die Alten sind vortreffliche Schriftsteller, doch nicht die vortrefflichsten, und da alle Vortrefflichkeit in dieser Welt relativ ist, so waren sie es für ihre Zeiten mehr, für die unsrigen weniger; neuere vortreffliche Schriftsteller, die nicht bloße Nachbeter und Nachäffer der Alten sind, müssen also vortrefflicher für uns als die vortrefflichsten Alten sein. Wenn ich billig bin, so setze ich sie, im allgemeinen betrachtet, in dem, dessen Schönheit von Zeiten und Sitten nicht abhängt, einander gleich, und wenn ich den Alten etwas zum voraus lasse, so sind es etliche Grane Originalität mehr – weil der Zufall das Stückchen Erdenkloß, aus welchem sie bestunden, sich tausend Jahre früher zum Leben entwickeln ließ. Wer seinen Becher unter hielt, als der erste Tropfen der Hippokrene aus dem Parnaß hervorquoll, hat vor denen, die hundert Jahre nach ihm ihr Wasser aus dem indes entstandenen Bache schöpften, gewiß keinen andern Vorzug, als daß er es hundert Jahre früher trank, und wer weiß, ob durch die Wirkung der Luft und die Ausdünstung das Wasser unter der Zeit nicht wohlschmeckender geworden ist, dahingegen das erste, was hervordrang, mineralischer sein konnte. – Und noch nehme ich den Neuern nicht alle Originalität, selbst da, wo sie ihnen schlechterdings nicht zuzukommenscheint. Shakespeare hatte Stellen, wo ein gelehrter Kommentator mit griechischen und lateinischen Sprüchelchen sonnenklar beweisen könnte, daß sie nichtsein sind, und doch ist es noch sonnenklarer, daß er sie weder Lateinern noch Griechen stehlen konnte, weil er ihre Sprache nicht wußte. – Les beaux esprits se rencontrent. – Nichts ist leichter, als daß zwei Kleider von ähnlichem Stoffe und ähnlicher Farbe einerlei Nuancen in gewissen Augenblicken bekommen und daß bei zween Geistern von ähnlicher Konstitution unter der Menge Ideen, die der Zufall in sie hineingeworfen hat, zween oder mehrere zusammengeraten, die [45] schon einmal in einem andern Kopfe zusammengetroffen sind; keiner bekömmt sie vom andern, sondern beide vom Zufalle. – Die Ideen, sagt ein platonischer Schriftsteller, die in dem ewigen Verstande, diesem allgemeinen Behältnisse alles dessen, was Idee heißt, verwahrt liegen, verteilte der Aufseher der Welt unter die vernünftigen Geschöpfe der verschiedenen Planeten; jeder Planet empfing eine gewisse Anzahl, die er nicht übersteigen kann. Auf dem unsrigen – denn die Geschichte der übrigen ist uns unbekannt – wurde die Aufsicht über das für uns bestimmte Paket dem Zufalle anvertraut. Er streute sie aus und befruchtete mit ihnen die Keime aller menschlichen Geister; und was können also menschliche Geister tun? – Eine gewisse mitgeteilte Quantität von Ideen auf verschiedene Art zusammensetzen. – Einerlei Ideen haben wir alle, die Elemente unsers Denkens sind so gewiß in allen Geistern die nämlichen als die Elemente einer amerikanischen und norwegischen Pflanze; nichts macht unter Geistern den Unterschied, als – die größre oder kleinere Anzahl, die der Zufall ihm von der ganzen Masse der für das menschliche Geschlecht bestimmten Ideen mitzuteilen beliebte, und die mehrere oder geringre Mannigfaltigkeit ihrer Zusammensetzungen. – Worinne können nun die Alten von den Neuern unterschieden sein? – Die Antwort geben Sie sich selbst!« –

»Und diese soll vermutlich zum Vorteile der Neuern ausfallen?«

»Zum Vorteile keiner Partei! – Die Alten hatten schlechte Schriftsteller wie wir; es sind von dem Zufalle, diesem Despoten des Ruhms, vortreffliche und mittelmäßige Schriften aus ihrem Zeitalter aufbehalten worden; ihre besten Schriftsteller haben gute und weniger gute Schriften hinterlassen, und selbst an ihren besten Produkten ist nicht alles gut – nämlich das nur verstanden, was unter allen Himmelsstrichen und [46] Völkern gut und schön ist! –vorausgesetzt, daß es ein solches Schöne und Gute gibt, das, wo nicht Illusion, doch an Anzahl wenigstens sehr gering ist. – Was einem Griechen oder Römer nur als einem solchen gefiel, kann kein Deutscher oder Franzose beurteilen – wohl aber sagen, daß ihm, als Deutschen, als Franzosen, ungleich mehr in den Neuern als in den Alten gefällt. – Widersinnig ist es also, die Alten zu Göttern erheben wollen, die allein das Vorrecht hatten, ohne Fehl und Makel zu sein, ein elendes Vorurteil, das sich unter den Gelehrten, wie die Märchen unter den Ammen, fortpflanzt, das jedermann nachbetet, und der am meisten, wer am wenigsten selbst darüber gedacht hat. Ein Artikel aus der geheimen Rockenphilosophie der gelehrten Welt, die so stark und ungleich stärker ist als die Rockenphilosophie der Spinnweiber! – So gewiß ist es, daß der Mensch -Mensch bleibt im flanellnen Unterrock und dem seidnen Jupon, in verstutzten Haaren und der Allongenperucke, im Korchete und der Robe, unter der Pelzmütze und dem Doktorhute; allenthalben ist Vorurteil sein Tyrann, nur in verschiedner Gestalt – und nirgends so häufig als unter Gelehrten.« –

»Herr, Sie reden frisch von der Leber weg!« rief einer ihm über die Schultern zu.

»Ja«, antwortete er, indem er sich zu ihm kehrte, »das ist meine Art! Ich kündige allen Vorurteilen allgemeine Fehde an: Wo ich eins erblicke, schwillt mir gleich Blut und Galle auf; ich fühle mich mit Tapferkeit begeistert, wie ehemals ein tapfrer Ritter, wenn er einen Drachen sah; mein ungestümes Feuer reißt mich hin, ich muß zuschlagen, ich muß kämpfen, ich muß die Wahrheit sagen oder ersticken und dann – à bon entendeur salut!« –

»O um des Himmels willen«, sagte der andre, »reden Sie nicht laut, daß niemand sich umsieht und gewahr wird, daß ich neben Ihnen stehe!« –

[47] »Warum das?« –

»Sie sprechen zu frei, und wenn man hörte, daß ich mit Ihnen rede, könnte man leicht auf den Argwohn kommen, mich in Ihrer Klasse zu suchen, und, behüte der Himmel! man könnte glauben, daß ich so frei gesprochen habe.« –

»Wäre Ihnen das Schande?« –

»Bewahre! so viele vornehme, reiche, gelehrte Leute zu beleidigen! Ihnen die Wahrheit zu sagen –«

»Die sie sich selbst niemals sagen und doch höchst nötig zu wissen brauchen!« –

»Nur sachte! Ich bitte Sie inständigst! – Wer wird denn mehr Verstand und Einsicht besitzen wollen als diese Großen, Vornehmen, Reichen, Gelehrten, Geehrten« –

»Elender, ist denn groß, vornehm, reich, gelehrt, geehrt sein mit Verstand und Einsicht besitzen eins? Sie denken sklavisch, niedrig, klein, wenn Sie so denken.« –

»Ich flehe Sie, ich beschwöre Sie, nur sachte! Leise! Sie bringen mich noch ins Unglück.« –

»Du feiger Hase! So will ich denn schreien, daß alle Ohren im Himmel und auf Erden davon erklingen sollen: Du bist ein feiger, niedriger, kleiner, nichtswürdiger Geist! Ein Mann ohne Kopf, weil du kein Herz hast!« –

Wirklich rief er auch diesen Panegyrikus in einem so lauten Tone aus, daß wenigstens der ganze Saal davon erzitterte, wenn die Erschütterung gleich nicht seinem Versprechen gemäß zum Himmel reichte. Alles kam haufenweise auf ihn zugelaufen, um den Mann zu sehn, der seinem Nebenchristen so deutlich und verständlich sagen könne, wieviel er wert sei. Die zudrängende Menge wuchs so stark an und machte den Platz so enge, daß das schüchterne Männchen, das er der öffentlichen Beschimpfung bloßstellen wollte, die Gelegenheit erwischte, sich wegzustehlen, ob er gleich von dem Wahrheitsager fest bei dem Rocke gehalten [48] wurde. Er entkam glücklich und versteckte sich, als man ihn aufsuchte, hinter Reineken den Fuchs, auf welchem Gottsched, statt eines Sessels, in lang ausgestreckter Majestät dasaß.

Durch diesen Zulauf, der eigentlich nur eine Befriedigung der Neubegierde sein sollte, wurde der Wahrheitsager, weil er ihn für Beifall hielt, so heftig angefeuert, daß er sich vornahm, seine strafpredigende Tapferkeit auch an der Menge zu versuchen, deren Aufmerksamkeit ihn itzt in seinem vorgeblichen Berufe aufmunterte. Im Grunde wurde er wahrhaftig, wie er sich einbildete, von dem ganzen Zirkel um ihm herum bewundert, seine mutige Freimütigkeit gelobt und der ganze Mann für einen großen Geist, weil er solche feine, vortreffliche Bemerkungen fremder Fehler zu machen wüßte – und für einen edeldenkenden Menschenfreund ausgegeben, weil er bittre Wahrheiten ganz ohne Scheu und Furcht aus dem Herze heraussagte. Wenn der gute Wahrheitsager nach keiner größern Ehre gegeizt hätte, als deswegen gelobt worden zu sein, weil er seinen Zuhörern und Zuschauern das edle Vergnügen verschaffte, einen ihrer Mitbrüder einige Zeit unter sich herabzusetzen, so hätte er froh und zufrieden mit dem eroberten Anteile von Lob und Bewunderung in der Stille sich wegbegeben sollen; aber so wählte er eine unglückliche Partie: Sein Ruhm sollte wachsen, und er schwand ganz weg.

»Ihr lacht«, rief er seine Zuhörer an, »über die Verspottung dieses Elenden, der meinen Händen entwischt ist? – Habt ihr mehr Herzhaftigkeit, die allgemeinen tyrannisierenden Vorurteile, diese hundertköpfichten Drachen, zu bestreiten? – Gewiß nicht! denn ihr schleppt selbst ihr Joch. Wollt ihr zur Ehre unsers Jahrhunderts nicht an euch selbst den Anfang machen, euch aus einer Leibeigenschaft herauszuarbeiten, die nur eine Begleiterin der Barbarei sein darf?« – [49] Der Kreis seiner Zuhörer fing allmählich an zu schmelzen. –

Er fuhr ungehindert fort: »Beherrscht euch nicht allgemein die barbarische Verachtung, mit welcher jedermann die Wissenschaft, die Geschicklichkeit erniedrigt, die nicht die seine ist? – Wie niedrige Handwerker, die, auf das Interesse ihrer Innung eingeschränkt, mit kurzsichtigem Blicke das allgemeine Band der Nützlichkeit übersehen, das sie insgesamt an die menschliche Gesellschaft knüpft, verachtet der Philosoph den Rechtsgelehrten, der Rechtsgelehrte den Dichter, der Dichter den Rechtsgelehrten, der Mann von Geschäften den Gelehrten vom Handwerke, was dieser seinerseits reichlich erwidert – kurz, schätzt nur Mitglieder seiner Klasse und verschmäht mit handwerksmäßigem Ekel alle, die nicht dazugehören.« –

Der Zirkel seiner Zuhörer bekam hier eine so große Verminderung, daß kaum noch eine einfache Reihe übrigblieb. –

Demungeachtet setzte er seine Rede mutig fort: »O legt ein Vorurteil ab, das euch den untersten Ordnungen der Menschheit gleichsetzt, euch, die ihr so gern über alle erhaben sein wollt! Bedenkt, daß der Mensch nicht bloß darum auf diesen Planeten gepflanzt ist, um zu wissen und zu sammeln, was Geschöpfe seiner Art vor ihm dachten, empfanden, taten. Nein, ihm wurde dieser große Garten zu bewohnen gegeben, um aus den allenthalben ausgestreuten Keimen des Vergnügens die Pflanze der Glückseligkeit aufzuziehn, und weil kein Gewächs sich in so viele Gattungen und Arten teilt als dieses, so sind auch eine unendlich vielfältige Menge von Wartungen nötig, um eine jede nach der Anlage des Bodens, wo sie wachsen soll, ziehen zu können, und gewiß, der Stoff unsrer Erdfläche kann nicht so mannigfaltig, so abwechselnd sein als die Anlagen menschlicher [50] Geister; das wißt ihr insgesamt, und doch achtet ihr diesen Willen der Natur nicht, sondern mit pedantischem Stolze –«

Plump! fiel der ganze Rest seines Auditoriums über ihn her, sobald er nur die letzten zwei Worte ausgesprochen hatte, warf ihn zu Boden und prügelte ihn mit vereinten Fäusten weidlich durch; darauf gingen sie gravitätisch fort und ließen ihn liegen.

Er war übel zugerichtet und brauchte höchst nötig einen kleinen Trost, den ihn die feste Überredung, um der Wahrheit willen gelitten zu haben, reichlich verschaffte. Er setzte sich in eine bequeme Positur und erzählte sich zur Stillung seiner Schmerzen folgende Fabel:

Der Affe besaß ehmals das Talent der Nachahmung in einem viel höhern Grade als gegenwärtig; alle Handlungen und Gebärden der Tiere drückte er in der komischsten Kopie aus. Jupiter hatte ihm ausdrücklich diese Geschicklichkeit mitgeteilt, um durch seine lächerlichen Vorstellungen die zufälligen Fehler seiner Geschöpfe zu bessern, die er sich ohne eine neue Schöpfung nicht zu heben getraute.

Der abgeschickte Grimassierer trat sein Amt an; er agierte dem Löwen die plumpen Manieren des Kameles, dem Tiger den stolzen Ernst des Löwen, dem Esel die grinsende falsche Freundlichkeit des Tigers, dem Pferde die stupide Langsamkeit des Esels, dem Panthertiere den Übermut des Rosses auf sein Geschlecht – einem jeden den Fehler des andern vor, und er wurde von jedem bewundert, belacht, geliebt. – Der Affe ist das klügste Tier der Schöpfung, sprach jedermann, das besserndste, lehrreichste Geschöpf!

Endlich geriet er, um seiner Pflicht alle Genüge zu tun, auf den Anschlag, eine Universalkur mit dem ganzen Tierorden vorzunehmen. Er stellte sich auf einen Berg und berief alle zu dem Schauspiele zusammen. Niemand, der außenblieb! Niemand, [51] der sich nicht die angenehmste Unterhaltung versprach!

Der Schauspieler stellte das Fehlerhafte, das Lächerliche einer jeden Tiergattung mit der lebhaftesten Pantomime vor: Niemand lachte, alles wurde ernsthaft. – Er glaubte, seine Aktion sei zu matt, und gab ihr mehr Leben: Man wurde bis zum Sauersehn ernsthaft. Er spannte alle Nerven seines Talents an, und man ging allmählich gar fort.

Bei einer zweiten Vorstellung war die Zahl der Zuschauer um ein großes vermindert, bei der dritten noch mehr, und bei der vierten war gar niemand.

Unter Tieren war seine Nützlichkeit vorbei; er wagte sich an den Menschen, ging die nämliche Stufen durch und hatte die nämlichen Schicksale, ausgenommen nur, daß er gleich bei der ersten allgemeinen Versammlung mit blutendem Gesichte und zerschlagner Hirnschale, neben seiner Schaubühne liegend, zurückgelassen wurde.

Kaum waren seine Wunden geheilt, als ihn seine komische Laune von neuem überfiel; von allen Klassen der Geschöpfe war er bewundert, verachtet und gemißhandelt worden, niemand war übrig als Jupiter selbst, den er zufälligerweise, da er eben um Stoff für seine Satire verlegen war, auf einem seiner verliebten Kreuzzüge antraf. Er trat zu ihm, spielte dem verwunderten Zeus seine ganze ärgerliche Liebeschronik vor, der Gott sah ihm ernst zu und sagte endlich: »Du brauchst dein Talent nicht mehr; ich sehe, daß meine Kreaturen nichts besser dadurch werden« – und sogleich schränkte er seine Fähigkeit in die engen Grenzen ein, die ihn noch itzt zum bloßen elenden Nachäffer machen.

Der Gedankenstrom des Wahrheitsagers war ihm ohne seine Überlegung von selbst in dieser Richtung herabgelaufen, und er stutzte nicht wenig, als er in seiner Fabel eine Moral erblickte, die niederschlagender als tröstend für ihn sein [52] mußte. Er hub sich bedächtig auf und schöpfte daraus die gute Warnung, in seinem Predigen der Wahrheit etwas vorsichtiger zu verfahren. Mit diesem Vorsatze begab er sich auf den Weg, denn sein tätiger Geist verstattete ihm keine längre Ruhe.

Er ging, und gleich stieß seinem aufmerksamen Beobachtungsgeiste eine Gesellschaft von seltsamen Figuren auf, die sich mit den bewundernswürdigsten Kapriolen sehen ließen: Hier tanzte einer auf dem Kopfe, dort schwenkte sich ein andrer in einem Rade, der drehte sich mit verbundnen Augen auf einer Degenspitze herum, jener lief mit bloßen Füßen über ein glühendes Eisen, einer schwatzte einen altfränkischen Jargon unter den possierlichsten Konvulsionen, ein andrer machte Seifenblasen und haschte darnach; auf einem Gerüste, das dem Theater eines Zahnarztes nicht unähnlich sah, lagen ein Haufen Harlekine, die deutschen Wörtern Kopf und Schwanz mit den Zähnen abrissen, mit großen Holzsägen die Vokalen heraussägten und die Wunde mit einem Apostrophe überklebten. –

»Himmel!« rief der Wahrheitsager glühend, »was macht dieser Haufe?« –

»Wir machen Originalwörter!« schallte ihm entgegen.

»Und was ihr!« sprach er wie versteinert zu einem Truppe, der in schwarzen Kleidern herumschlich, mit Blut und Eiter besprützt, große Henkersschwerte an der Seite und Pokale voller Gift in den Händen, die sie einander taumelnd zutranken. –

»Was macht ihr?« –

»Trauer- Blut- Mord- Henkerspiele; unsre Nahrung ist Gift; jeder von uns muß täglich einen solchen Becher voll auf die Gesundheit aller derer ausleeren, die wir in unsern Schauspielen umgebracht haben. Wir haben in einem Jahre in unsern Dramen die ganze Geschichte gewürgt, und kein [53] Mann von einiger Beträchtlichkeit ist ehemals gehängt oder geköpft worden, den wir nicht noch einmal auf dem Theater vom Leben zum Tode gebracht haben. Um den Zuschauer nicht die Augen ganz trocken weinen zu lassen, so machen wir unsre Personen meistens zu solchen Schurken und Teufeln, daß es niemanden sehr dauern kann, wenn solche schändliche Brut haufenweise niedergemetzelt wird. Wir wollen es in kurzem dahin bringen, daß kein Mensch, der Geschmack und menschliche Empfindungen hat, vor Furcht und Schaudern einen Fuß in ein deutsches Schauspielhaus setzen soll.« –

»O ihr Könige und Fürsten Deutschlands!« rief der Wahrheitsager mit erhabnen Händen, »laßt doch jeden eurer Untertanen die Hälfte seines Ackers mitNieswurz besäen!« – Auf ähnliche Arten war ein ganzer Trupp beschäftigt, wovon jeder den andern durch gefährlichere und sonderbarere Sprünge und größre Narrheiten zu übertreffen suchte. Ein Mann stand neben ihnen und klatschte unter den heftigsten freudigsten Ausrufen ihnen seinen Beifall zu.

»Lieber Herr«, fragte der Wahrheitsager, »was für Luftsprünger sind das, die Sie mit Ihrem Beifalle so freigebig beehren, und wer sind Sie?« –

»Ich – nenne mich Rezensent H ... und bin ein Ästhetiker, und diese Herren – sind Originalgenies, dieSie nicht durch jene verwegne Benennung beleidigen sollten – Sie, der Sie ohne die mindeste Originalität gerade auf zwei Beinen wie alle Menschen einhergehn!« –

»Und was ist Ihre Verrichtung bei diesen –«

»Ich habe acht«, fiel ihm der Rezensent ein, »und sobald ein neuer Stern an dem Horizonte der Originalgeister aufsteigt, so verkündige ich mit lauter Stimme: Sehet, abermals ein Originalgenie, abermals ein Stern der ersten Größe!«

»Sie sind also der Türhüter bei dem Himmel der Originalgeister [54] und lassen vermutlich den am liebsten hinein, der Sie am stärksten in die Augen schlägt –«

»Wie verstehn Sie das?« fragte der andre etwas hitzig. »Ist das ein Tusch? – Herr, ich habe meinen Studentendegen noch – wenn Sie viel schwatzen! – Morgen um 9 Uhr in dem Büschchen –«

»Nicht zu hitzig, liebes Kind! – Die Waffen des Gelehrten sind Vernunft und Räsonnement, weder Degen noch Pasquille noch Grobheiten noch Persiflagen; diese gehören Narren und elenden Köpfen. – Kommen Sie! Lassen Sie uns über Ihr Amt räsonieren! – Sie sind der Taxator der Originalität? – Was nennen Sie ein Original? – Ich kann Ihnen aus gültigen Gründen beweisen, daß die Originalität ein eben so schwankendes, relatives Ding ist als Neuheit, Schönheit und alle andere Dinge dieses Planetens – eine Idee, deren Gestalt in jedem Kopfe ändert, der sie beherbergt!« –

»Sie sind ein wunderbarer Mann! – Hat nicht jedermann das Wort im Munde?« –

»Und eben darum die wenigsten im Verstande! – Gestehen Sie mir! Für Sie ist derjenige original, der Sie, wie ich vorhin sagte, am schärfsten in die Augen schlägt – oder, mit gewöhnlichern Worten, der Ihnen den meisten Staub in die Augen wirft!« –

»Den will ich sehn, der mir das beweisen soll! – Mein Herr, Sie hätten Ursache, etwas bescheidner zu sein.« –

»Geben Sie mir ein Beispiel! Denken Sie so bescheiden von sich, daß Sie sich irren können, und wenn ich Ihnen bewiesen habe, daß Sie sich geirrthaben, so will ich so bescheiden sein und kein Wort mehr hinzutun. – Zur Sache! – Wie wird das Genie gebildet? – Die Natur gibt einem Menschen ein Gehirn, begabt mit einem lebhaften Vermögen, Ideenanzunehmen und sie häufig, schnell, mannigfaltig zusammenzusetzen, und stimmt alle Nerven, alles, was nur mit den Verrichtungen [55] des Genies in einer Verbindung steht, auf einen Ton, der sie befördert, erleichtert, beschleunigt. Von der Zeit an, wo ein solches Gehirn unter der Bedeckung eines Hirnschädels an die Luft hervorkömmt, wird es mit Ideen angefüllt; je schneller, je leichter, je häufiger dieser Vorrat eingesammelt wird, je hurtiger, vielfacher, ungewöhnlicher die Ideen zusammengesetzt werden, desto mehr Genie ist das Gehirn. – Woher empfängt es aber seine Ideen? – Ich weiß nur zween Kanäle: entweder von den Gegenständen und Begebenheiten um ihn, das heißt aus eigner Erfahrung, oder aus Büchern, aus der Erfahrung andrer. Alle Zusammensetzungen, die das Genie mit den empfangnen Ideen vornehmen kann, sind im Grunde Kopien von den verschiedenen Arten der Zusammensetzung, in welcher wir unsre Ideen durch jene zween Kanäle erhielten. Jedes sogenannte Originalbild des Dichters, jeder Charakter, jede Situation, jede Begebenheit in den Werken des theatralischen Schriftstellers, hat im Grunde in der Erfahrung des Verfassers oder in einem von ihm gelesenen Buche etwas Ähnliches, wonach es gebildet ist, ist im Grunde eine Nachahmung. – Was ist nun original? – Eine solche Zusammensetzung der Ideen, solche Charaktere, Situationen und Begebenheiten, wovon derjenige, der sie liest, die Urbilder nicht weiß, deren Nachahmungen sie sind; also muß derjenige Schriftsteller für den Leser original sein, der seine Erfahrungen nicht kennt und seine Bücher nicht gelesen hat, und da gegenwärtig die Bücher dem Genie meistens die Muster zu seinen Zusammensetzungen hergeben, so nennen Sie und andere denjenigen original, der Bücher gelesen hat, die Sie nicht gelesen haben. Also muß diese Benennung einem Schriftsteller bei diesem Leser zukommen, bei jenem nicht, und gleichwohl befehlen Sie allen Lesern, diesen oder jenen für einen Originalgeist zu halten? – Nach meinem Begriffe können Sie das nicht: Die Originalität ist ein [56] solches Eigentümliche in den Zusammensetzungen der Ideen – denn nur hierinne kann ein Gehirns von dem andern etwas Eigentümliches haben –, das keinem bekannten Muster gleich ist; allein mir ist bekannt, wasIhnen nicht bekannt ist, und Sie wissen vieles, wasich nicht weiß; in vielen Fällen können Sie folglich einen Mann original zu nennen würdigen, wo ich es nicht kann. Habe ich das Vorbild, nach welchem ein Skribente sich bildete, so aufmerksam studiert als er und nur zur Hälfte seine Talente, so verringert sich seine Originalität schon um ein Großes.«

»Wenn aber alles Nachahmung ist, was nennen Sie da Nachahmung?«

»Wo der Vorsatz nachzuahmen so merklich ist, daß jeder nur mittelmäßig Belesner sein Urbild erkennt, wo die nämlichen Zusammensetzungen der Ideen ohne Eigentümlichkeit übergetragen sind. Doch ist auch hier eine große Vorsicht in der Beurteilung nötig. Die Verschiedenheit der großen Genies scheint unendlich zu sein, aber weit gefehlt! Nirgends so viele Ähnlichkeiten als unter ihnen! Alle ihre Unterschiede sind Unterschiede der Nuancen, im Grunde sind sie alle eins. Die vorzüglichste Eigenschaft derselben ist eine gewisse Biegsamkeit, eine Fähigkeit, wie Chamäleone alle Farben anzunehmen; diese Biegsamkeit allein macht, deucht mich, hauptsächlich den Unterschied des Grades zwischen Genie und Genie, wenn einer stattfindet. Ein Autor kann also mit einem andern auf ähnlichen oder gar gleichen Wegen seine Muster eingesammelt haben, und sie werden beide eine ähnliche Farbe bekommen, daß der undenkende Haufe, der nach dem ersten Anblick urteilt, und oft auch gescheite Leute, die jenes nicht wissen oder bedenken, geradezu dem spätern mit dem Namen des Nachahmers brandmalen, obgleich dieser den ältern, mit dem er Ähnlichkeit hat, nicht mehr als alle andre Menschenkinder studieret, sondern gelesen hat; aber die [57] ursprüngliche Ähnlichkeit seiner Anlagen bekam durch diese Lektüre einen Stoß, eine Wendung, die sie vielleicht ohnedies erst später erhalten hätten, alles, was der spätere dem erstern in so einem Falle zu verdanken hat!« –

»Wie es scheint, mein Herr, wollen Sie alles umkehren und in allem klüger sein als andre.« –

»Nein, das eben nicht! Nur das sagen, was mirscheint. – Ich wollte euch, ihr Herren, eine Menge solcher parties hon-teuses an euren ästhetischen und literatorischen Formularen zeigen.« –

»Herr, keine Injurien! Oder –«

»Geduld, liebes Kind. Nur ein paar Wahrheiten! – Wie lange habt ihr euch mit den Wörtern – Geschmack, schöne Natur, das Wunderbare, episch, Handlung – und einem ganzen Schwarme andrer herumgeschleppt, wobei der größte Teil so wenig einenette Idee hatte als der gemeine Kopf bei Wiedergeburt, Erleuchtung und Berufung! Nichts sind es als Worte, mit einem bißchen Phantasie aufgestutzt, die wie blutlose Gespenster aus Kopf in Kopf, aus Mund in Mund herumwandeln! Eure schönen Ästhetiken sind meistens nichts als Örter, wo sich jene Phantome, wie die wahren Gespenster auf den Kirchhöfen, versammeln, wo sie zu Hause sind.«

»Herr, bedenken Sie, daß so viele große philosophische Köpfe daran –«

»Gearbeitet haben? – Das weiß ich! –

Aber wen betriegt die Einbildungskraft leichter als den großen philosophischen Kopf, der von ihr allein lebt und ohne sie ein elender Wortspalter ist?« –

»Wollen Sie ein so festes Gebäude umstoßen?«

»Nein, ich nicht; gern sage ich, was dem Gebäude fehlt, aber einzustoßen, einzureißen – bewahre mich der Himmel! Geschehn wird es sicher, dafür stehe ich Ihnen.«

[58] »Sie haben wunderliche Grillen!«

»Weil wir doch einmal in ein ernstes Gespräch geraten sind, so hören Sie nur noch ein paar von meinen Grillen, wie Sie es nennen! – Ist es nicht das ewige Lied aller Zeiten und Völker gewesen, wo der Verstand zu allgemeinen Wahrheiten aufstieg, daß man bis zum Himmel erhub und einige Zeit darauf bis in die Hölle warf; das folgende verdrängt das vorhergehende, nicht durch seine Güte, sondern durch seineNeuheit. Jedes Zeitalter sieht mit stolzem Mitleide auf das vorhergehende und empfängt das nämliche Mitleid von dem folgenden. Die Gebäude des Verstandes sind, wie die Nester der Vögel, nur so lange gut, als darauf gebrütet wird. Wir bauen wie die ägyptischen Könige für die Ewigkeit, und sehr oft erleben wir doch selbst das Ende unserer unsterblichen Werke.«

»Alles umsonst! Unser erleuchtetes Jahrhundert –«

»Leben Sie wohl! Für heute habe ich Ihrem Nachdenken genug Beschäftigung gegeben. Künftig ein mehreres!« –

Sie trennten sich voneinander, und mit einem höhnischen Lachen sahe der Ästhetiker dem Manne nach, dessen ungereimte Grillen er nicht verdauen konnte, und bedauerte ihn herzlich, daß ein so hübscher Mann auf solche wunderliche Meinungen verfallen wäre – das heißt in planem Deutsch, daß er etwas behauptete, was er nicht begreifen konnte.

Fest von der Richtigkeit seiner Gedanken überzeugt, ging der Wahrheitsager weiter und fand eine ganze Gesellschaft von verschiedenen Figuren, die alle in ihren Mienen und Gestikulationen Beschwerde und Klage ausdrückten. Sie hatten sich in einem Zirkel gelagert, und er drängte sich nahe an sie, um sie zu behorchen.

Eben perorierte ein ernsthafter Mann, der auf seinem Gesichte die ganze Miene der Redlichkeit und guten Meinung in deutlichen Zügen trug. Sein Vortrag war äußerst gesetzt [59] und mäßig; nur zuweilen, wenn er über Verderben und Sitten klagte, erhub er sich zu einer gewissen Stärke. Seine Klagen betrafen meistens, wenn man sie bis auf den Grund auflösen wollte, das Übel, daß alle Menschen nicht wie er waren. Besonders führte er weitläuftige Beschwerden über die Verderbnis, die über die Theorie und Ausübung der Moral herrschte. – »Jedermann«, sprach er, »schafft sich eine Moral nach seinen Neigungen.«

»Ist das etwas Neues?« fiel ihm der horchende Wahrheitsager von hintenzu ins Wort. »Das tun Sie, das tun alle Menschenkinder.« –

Jener sah ihn steif an. – »Wie denn das, mein lieber Mann?« fragte er gelassen. –

»Wie das? – Von der Natur empfängt jeder Mensch eine gewisse bestimmte Anlage des Charakters, sein körperliches System wirkt viele Jahre auf seinen Geist, ehe ihm durch den Unterricht Ideen und Grundsätze beigebracht werden können; in diesem Zeitpunkte wird nicht nur der Grad seiner Begierde bestimmt, sondern er wird auch zubereitet, eine Art von Eindrücken leichter anzunehmen. In einer solchen Verfassung trifft ihn der Unterricht des Lehrers, der Bücher, des Umganges an; aus allen diesen drei Kanälen fließt ihm eine Menge zu, wovon aber nichts bekleibt, als was mit der Richtung harmoniert, die der Körper dem Geiste schon gegeben hat. – Der lebhafte, mit tätigen Lebensgeistern, raschem, warmem Blute ausgerüstete Körper teilt den Neigungen des Geistes die nämliche Lebhaftigkeit mit; man streue in ihm einen Samen aus, welchen man wolle, keiner wirdwahrhaftig aufgehn als derjenige, der solche Früchte trägt, die das Klima und der Boden vertragen. Wir glauben, durch unsern Unterricht Wunder zu tun, die Gemüter ganz umzukehren, Neigungen einzupflanzen, Begierden auszurotten, alles Illusion! – Ja, wir können in der Tat, wir können den lebhaftesten [60] Geist so niederdrücken, daß er eine lebendige ernste Moral zu sein scheint; aber haben wir dadurch etwas gewonnen, daß wir der Natur entgegenarbeiteten? – Und noch haben wir nicht einmal mehr getan, als einen Baum durch Stricke zur Erde gezogen, er wächst freilich nun nimmermehr völlig gerade, aber wenn wir die Banden wegnehmen, zieht er sich gewiß so viel wieder in die Höhe, als seine ersteiften Fasern zulassen. – Wählt also nicht jeder Mensch seine Moral im Grunde nach seinen Neigungen?« –

»Ich bin noch nicht davon überzeugt.« – »Auch traue ich mir die Kraft, Sie zu überzeugen, nicht zu, noch viel weniger habe ich die Absicht; nur sagen will ich, was mir scheint. – Unsre Begriffe vom Guten und Bösen, vom Begehrungswer-ten und Verabscheuungswürdigen wachsen allmählich aus der Reihe von Eindrücken empor, die der Körper und äußerliche Veranlassungen auf uns machen, also im Grunde aus unsern Neigungen, und worinne besteht die Moral als in den Begriffen, was zu fliehen und was zu begehren ist? – Noch mehr! Nicht allein von den besondern natürlichen Anlagen des Menschen hängen seine moralischen Grundsätze ab, auch der äußerliche Stand ändert sie notwendig. Ein Mann, der in der großen Welt und für dieselbe erzogen wird, hat ganz andre Ingredienzen zu seiner Glückseligkeit als der im Mittelstande und dieser andre als der in der niedrigsten Klasse; Bestreben nach Ehre, Ansehn, Gewalt muß dem ersten Tugend, den beiden andern, wenigstens dem letzten, wo nicht Laster, doch etwas Schädliches sein, weil ihnen die Gelangung dazu so erschwert ist, daß sie, ohne ihre möglichere Nützlichkeit und Vorteile zu versäumen, ihren Zweck nicht betreiben könnten. Ohne Zweifel tadelt man darum den Ehrgeiz eines Mannes, der jene Vorzüge nicht hat, da man ihn hingegen an denen nicht mißbilligt oder gar erhebt, die sie besitzen; wenigstens wüßte ich keine andre Ursache dieses [61] Urteils. – Tugenden läßt ein Stand nicht zu, die der andre fodert; man vergleiche des Grafen von Chesterfield Lehren, die er in seinen Briefen dem jungen Stanhope gibt, mit dem Unterrichte, den jeder gute, ehrliche Vater seinem Sohne, der nicht für die große Welt bestimmt wäre, erteilen müßte; jener empfiehlt im Grunde nichts als die feinste Betriegerei, die feinste Kunst zu lügen; dieser würde zu den entgegengesetzten Tugenden, zur Offenherzigkeit, zur Aufrichtigkeit und zu vielen andern ähnlichen ermahnen. Beide haben recht. Die Madam Pompadour nennt mit ihrer gewöhnlichen Freimütigkeit die Künste der großen Welt l'art de tromper; wenn sie diesen Namen verdienen, so schließt er eine Menge von den Tugenden aus, die im Verzeichnisse der Moralen als allen unentbehrlich stehen.« –

»Sie sind es auch –«

»Lassen Sie mich nur erst meinen Schluß ziehn! – Wenn die früh entstandnen Anlagen, das äußerliche Verhältnis jedem Menschen besondere moralische Grundsätze geben und auch verlangen, wenn von denen, die ihn der Unterricht aufzwingt, nur diejenigen bekleiben, die mit jenen beiden Stücken übereinkommen, was geschieht da anders, als daß jeder eine Moral nach dem Systeme seiner Neigungen bekömmt und ausübt – eure allgemeine Moral lernt und seine eigne ausübt?« –

»Aber nicht ausüben sollte!«.

»Und warum denn nicht? – Ihr Herren Moralisten fangt von hintenzu an; ihr stopft euch eine Puppe mit allen möglichen Tugenden aus, deren ihr nur habhaft werden könnt, stellt sie hin und ruft: Dieser muß man gleichen! – Wozu nützt das? – Daß Leute von guter Gemütsart nach einem Ziele laufen, wozu ihnen der Atem fehlet, und ängstlich sich quälen, wenn sie sehn, daß sie es nie erreichen werden; daß andre gar nicht in die Laufbahn der Tugend treten, weil man [62] ihnen den Weg mit so vielen Dornen verwebt. Ihr habt insgesamt etwas Romanenschwung –«

»Sie reden etwas frei, mein Herr.« –

»Das ist meine Art so: Ich sage, was mir scheint. – Warum will denn ein Moralist, das heißt, ein Mensch, dem seine Neigungen, sein Charakter, seine Denkungsart diese und keine andern Grundsätze gegeben haben, warum will dieser Gesetzgeber sein? – Er trägt nichts vor als eine Erzählung dessen, was seine Glückseligkeit ist und durch welche Mittel er und Leute von seiner Art dazu gelangen. Seine und vieler andern Glückseligkeit kann eine ernste gravitätische Miene haben, soll deswegen die Tugend und Glückseligkeit andrer nie lächeln? – Ich rede hier von Leuten, die selbst denken, nicht von solchen, die nichts als Glossatoren über hergebrachte moralische Observanzen sind, die euch zumuten, daß ihr, um tugendhaft und glücklich zu werden, eine Reise durch ein ganzes Bücherbrett voll Quartanten anstellen sollt, wo ihr bei jedem Schritte fühlt, daß euch die Reise schon einen großen Teil eures Lebens unglücklich macht, und am Ende – wißt ihr, wie seit geraumer Zeit die moralischen Bücher des Heiligen Römischen Reichs den Menschen haben glücklich machen wollen.« –

»Also wären Moralen überflüssig?« –

»Nein, nicht alle, nur solche! – Wir müssen von vorn anfangen, den Menschen durchstudieren. – Doch was mache ich? Lehren will ich nicht; das sei ferne! Die heiterste, fröhlichste Moral ist gewiß die beste, und die sauerste, trübsinnigste die schlimmste, die, wie von einer guten Moral neulich jemand verlangte, nur bittre, herbe Arzneien verschreibt; ich danke für eine solche Kur. – Auch kann ich mir unmöglich einbilden, daß derjenige, der das kleinste Insekt mit seiner vollkommnen Glückseligkeit versorgte, den Menschen allein auf diesen Planeten gesetzt haben solle, um ängstlich an sich [63] herumzuschnitzeln und sich zu beunruhigen, daß er keine Papenhovische Statue aus sich zimmern kann. Jeder Sterbliche geht itzt trotz allen Moralen den Weg, den Natur und Schicksal ihn führen, und wenn diese ihn beständig und immer auf verschiedene leiten, wie bisher, so denke ich, wird der allmächtige Ruf eines Moralisten sie gewiß auf keinen allgemeinen insgesamt bringen. – Wozu also die ewigen Klagen über Verderbnis und Sitten? Sie heißen doch weiter nichts als: Gegenwärtig haben nicht alle Menschen meine Denkungsart, meinen Charakter,meine Sitten, was ich herzlich bedaure.« –

»Sie haben höchst gefährliche Prinzipien!« brüllte ein andrer aus der Gesellschaft. –

»Ich sage, was mir scheint.« –

»Mit Ihrem verzweifelten ›scheint‹ verwirren Sie eine Menge Menschen, stören sie in ihrem Glauben –«

»Nein, das will ich nicht. Ich rate vielmehr: Wählt euch die Meinung, die euch in euren Umständen den größten Trost, die größte Zufriedenheit verschafft, diese glaubt! Dieses muß für den größten Teil der Menschen das Kennzeichen der Richtigkeit sein und vielleicht für alle, denn eure sogenannte Beweise, Gründe, und wie ihr es heißt, sind Illusionen; der Mensch, wenn er glaubt, glaubt allemal im Grunde aus Illusion.« –

»Himmel«, schrie der andre, »was für Meinungen! Fort mit dem abscheulichen Manne, der solche verdammte Sätze ausbrütet!« –

»Kaltes Blut! Vernunft! Überlegung!« schrie der Wahrheitsager. »Verwerfen Sie nicht das Ihnen Auffallende, untersuchen Sie uneingenommen und dann widerlegen oder billigen Sie!« –

»Was? Solche abscheuliche, gerade wider alle angenommenen Grundsätze laufende Meinungen!« –[64] [67] »Wenn meine Vorfahren, wenn sie die Freiheit hatten, Meinungen anzunehmen und bekanntzumachen, warum soll ich es nicht auch haben; sie sagten, was ihnen schien, und ich, was mir scheint. Das ist das allgemeine Recht der Menschheit, und wer dieses kränkt –«

»Fort mit dem Bösewichte!« – Gleich stieß er in ein Hüfthorn, das er an der Seite trug, und auf seinen hellen quäkenden Ton kam eine ganze Kuppel von allen Enden herbeigelaufen. – »Du Brüter verderblicher Meinungen!« schrie der Eiferer, »du Störer des Glaubens!« – Auf diese Losung fiel die ganze Kuppel über ihn her. Ihr Anführer wurde eine Kohlpfanne ansichtig, die Silvan in der Bibliothek zurückgelassen hatte; er wollte kurz vorher, ehe dieses bisher beschriebne Schauspiel eröffnet wurde, Büchsenkugeln gießen, doch weil ihn der Jäger zu einem erblickten Raube abrief, ließ er die Kohlen in der Begeisterung zurück und eilte der Beute nach.

Diese Kohlpfanne ergriff der Eiferer, um dem gottlosen Urheber schädlicher Meinungen die Ohren zu sengen oder, wenn es sich mit Ehren tun ließ, gar die ganze Person bei langsamem Feuer zu braten. Der Tumult war nicht gering. Der präsidierende Geist der Kleinigkeit war über den vorhergehenden, für ihn langweiligen Gesprächen eingeschlafen und wurde itzt durch den Lärm plötzlich aufgeweckt. Er fuhr auf, erblickte die glühende Kohlpfanne, erschrak in der Schlaftrunkenheit, faßte seinen Zauberstab und schlug sich unbewußt auf den Boden – husch! waren alle Autoren wieder in ihre Werke verwandelt, die Kohlpfanne stürzte herab, der gesengte Autor hinterdrein, in die Kohlen hinein, fing an zu glimmen, dampfte, platzte, brannte lichterloh. Der Geist wurde bestürzt, nahm seinen Stab und eilte voller Verwirrung davon.

Indem kam Silvan mit zween Hasen, die er in seiner Bibliothek [67] aufhängen wollte, sah die Verwüstung, die die Flammen angerichtet hatten – denn sie hatten schon die ganze unterste Reihe Quartanten verheert –, stellte sich das Unglück vor, das möglicherweise seine ganze Burg betreffen könnte, und machte Anstalten zum Löschen. Der Brand wurde gestillt, und da er seine Augen aufhub, um den ganzen Schaden zu übersehn, wurde er eine schöne hoffnungsvolle Hirschhaut gewahr, die die Seite des Repositoriums zierte, wo die Feuersbrunst wütete, und halb verbrannt, halb versengt war – nahm sich's zu Herzen und schwur einen teuern Eid, die Bibliothek von Stund an zu verkaufen und nie mit Gelehrten und Büchern, so feuerfangenden Materien, wieder etwas zu tun zu haben. Er hielt Wort und weihte den leeren Saal den Hühnern und anderm Federviehe des Ritterschlosses.

[68]

Der Streit über das Gnaseg-Chub
Eine Geschichte aus einem andern Weltteile

In einem Lande, dessen Name sich längst aus der Welt und also auch aus der Geographie verloren hat, herrschte einst ein Streit, der anfänglich bloß die Hauptstadt desselben beschäftigte und zuletzt ein allgemeiner Streit des ganzen Landes wurde. Eigentlich entstund er unter den Neowi, den Priestern der herrschenden Religion, und da es unmöglich ist, daß Neowi sich zanken

– sollte es auch nur um eine Silbe sein –, ohne daß ihr Gott in eine von beiden Parteien gezogen wird, so ist es kein Wunder, daß eine Privatuneinigkeit, die noch dazu aus sehr verächtlichen Ursachen entstand, eine öffentliche Angelegenheit wurde. Jeder Einwohner, besonders der Hauptstadt, nahm Anteil daran, und wenn er nichts von der Sache wußte oder verstund und nicht selbst geschäftig dabei sein konnte, so lobte oder schmähte er doch.

Die herrschende Religion des Landes war die Religion des großen Tun, der unter einem alten irdenen Bilde verehrt wurde, dessen Figur die Länge der Zeit und verschiedene [69] Unglücksfälle bei den Wanderungen der Vorfahren so unkenntlich gemacht hatten, daß die Lehrer der Religion allen ihren Witz an den Erklärungen derselben erschöpften, den großen Tun bald zu einem Esel, bald zum Kaninchen, bald zu einem Gewächse und zu noch verächtlichern Geschöpfen machten und sich tapfer herumzankten, wenn der eine nicht den Kopf oder den Willen hatte, den Witz des andern so natürlich zu finden als er selbst; und dabei genossen sie den Vorteil, einander aus den niederträchtigsten Bewegungsgründen hassen und verfolgen zu können und noch obendrein gerühmt zu werden, daß sie zur Ehre des großen Tun eines seiner vorzüglichsten Gesetze übertraten, welches Liebe und Duldung war.

Unter der Menge Priester, die dem öffentlichen Gottesdienste vorstunden, waren vier Se-Neowi oder Oberpriester, und dem Ältesten darunter mußten alle übrige eine gewisse Unterwürfigkeit bezeugen. Deswegen wurde er niemals geliebt und sehr selten bloß gehaßt und nicht verfolgt.

Der Erste Oberpriester, der bei gegenwärtigem Streite dieses Amt führte, war der beste Mann von der Welt, so ehrlich im Herzen wie im Gesichte: liebreich, gefällig und nachgebend, solange er den Rechten des großen Tun und der Vernunft nichts zu vergeben glaubte. Sein Hauptfehler war ein liebenswürdiger Fehler – er war zu freigebig und hatte dadurch seine häuslichen Umstände so verwickelt gemacht, daß er zu verschiedenen Malen in der Gefahr des Bankeruttes sich befand. Demungeachtet mußte der gute Mann sich wegen dieser übertriebnen Tugend, die nicht einmal vorsetzlich, sondern eine Folge seines Temperamentes war, in allen Gesellschaften einen Verschwender, einen unordentlichen Schwelger nennen lassen, weil er, um andre glücklich zu machen, unglücklich geworden war. Selbst Fehler, deren ihn niemand, der ihn kannte, fähig hielt, wurden ihm als Ursachen [70] seiner mißlichen Verfassung angedichtet: Er war ein Weinsäufer, ob er gleich nichts als Wasser trank; ein Fresser, obgleich jedermann wußte, daß er zu der Sekte gehörte, die sich dem Gelübde, nichts als Hülsenfrüchte zu genießen, unterwarf. Der Pöbel glaubte es; die Klügern – glaubten es nicht und verfuhren doch gegen ihn eben so, als wenn sie es glaubten.

Der Zweite übertraf ihn an Güte und Freundlichkeit mit dem Gesichte und noch mehr mit den Reden; er war ein gleißender Betrüger, eine Schlange, die sich künstlich in den Busen eines jeden stahl und dann unversehens, oft aus bloßem tückischem Mutwillen, ihn biß. Ein mehr als priesterlicher Stolz und die unumschränkteste Herrschsucht lauerten in seinem Herzen wie in einem Hinterhalte, um diejenigen, die das Unglück hatten, ihm zu mißfallen, hinter der freundlichen Miene zu überraschen und zu überwältigen. Seine Schwäche nötigte ihn, besser zu sein, als er sein wollte; auf jedem Throne wäre er ein Nero gewesen – und vielleicht noch mehr.

Jedes Volk war das, was es seinen Gott sein ließ, und jeder einzelne Mensch ist den Vorstellungen gleich, die er sich von seinem Gotte macht. Schon aus diesem Grunde hätte man den rachsüchtigen, gewalttätigen Charakter dieses Mannes vermuten können, da er die Bildsäule des großen Tun für die Abbildung eines Tigers erklärte und in seinen Reden bei öffentlichen Feierlichkeiten ihn stets als einen zornigen, strafenden Tyrannen abmalte, der niemals die Donnerkeile aus der Hand legte. Daher sah er auch die Erhöhung an der einen Seite des Bildes für einen Donnerkeil an, da hingegen der Erste Oberpriester es für einen Blumenkorb hielt, der ausgeschüttet werden sollte, wodurch nach seiner Meinung die immer wirksame Wohltätigkeit des großen Tuns abgebildet wurde.

[71] Der auf ihn folgende war eine gute, ehrliche Menschenseele, unfähig, mit Willen böse zu sein, und alles im übrigen, wozu man ihn machte. Wer ihn zuerst für sich einnahm, dessen Freund war er, und widerstund der andern Partei mit der friedlichsten Hartnäckigkeit. Seine phlegmatische Anhänglichkeit an dem Gewohnten machte es in den öftern Kriegen seiner Mitbrüder, denen, die sich Neuerungen widersetzten, ungemein leicht, ihn zu gewinnen. Er war zufrieden, wenn man sich zankte, und zufrieden, wenn man ruhig war. Wenn ja zuweilen sein kaltes Blut durch gewisse Vorstellungen einige Grade erwärmet wurde, so war doch sein Eifer allemal unwillkürlich, und wenn er aus irgendeiner geheimen Leidenschaft für die ungerechte Sache nach seiner Art eiferte, so begegnete ihm weiter nichts, als was uns armen Erdenbewohnern alle Tage widerfährt – er handelte aus andern Bewegungsgründen, als er glaubte. Er fand in dem Bilde des großen Tun eine Schnecke.

Der Unterste war ein junger, ziemlich feuriger Mann, der noch zu wenig Bekanntschaft mit der Welt hatte, um nicht allezeit auf der Seite desjenigen zu sein, der ihn am listigsten hintergehn konnte. Übrigens hatte er den Charakter eines Mannes, dem man, bei einer guten, aber noch unausgebildeten Anlage, ins Gesicht gesagt hat, daß er ein vollkommner Mann ist. Anfangs wollte er – aus Bescheidenheit oder warum sonst, weiß ich nicht – kein Urteil über die Statue des Tun wagen, aber endlich entschied er – es wäre ein Trampeltier.

In dieser ehrwürdigen Gesellschaft herrschte äußerlich, kleine Scharmützel ausgenommen, ein beständiger Friede, und in den Herzen war ein ununterbrochner Krieg. Man wunderte sich überaus, daß Neowi in einer solchen Einigkeit leben konnte, und schloß aus diesem Vorfalle, der sich seit der Stiftung dieses Ordens nicht zugetragen hatte, als aus [72] einer sichern Vorbedeutung, daß die Zeiten des Laum sich näherten, welches nach einer alten Tradition der Zeitpunkt sein sollte, wo dieser Staat von innrer und äußrer Sklaverei befreit werden und den höchsten Gipfel seiner Glückseligkeit erreichen sollte. Die Hoffnung, diese Epoche vielleicht noch zu erleben, tröstete die geringen Einwohner und verschaffte ihnen die Geduld, mit welcher sie ihr Joch trugen.

Aus den vorhergehenden Schilderungen wird man schon vermuten können, bei welchem unter den vier Oberpriestern die innerlichen Gärungen des Hasses den ersten Ausbruch gewinnen mußten. Der Zweite war es, Y-Zingu genannt. Alle übrige würden geruhet und sich wenigstens mit einer kollegenmäßigen Kaltsinnigkeit weder geliebt noch gehaßt haben, wenn dieser sie nicht in Feuer gesetzt hätte.

Er haßte den Ersten Oberpriester, den Tsi-gar, schon seit dem Antritte seines Amtes, doch nur heimlich und aus keiner andern Ursache, als weil dieser der Erste und er nur der Zweite Oberpriester war. Dieser Haß wuchs um die Hälfte, als Tsi-gar anfing, einen dicken Bauch zu bekommen, welcher an einem Priester allgemein für ein besondres Merkmal von der Gewogenheit des großen Tun angesehn wurde. Man sagte daher im Spotte von Tsi-gar, es wäre kein Wunder, daß ihm der große Tun gewogen sei, da er seinen Bauch mit seinem ganzen Vermögen ausgepolstert hätte. Sobald dieser erhabne Vorzug sichtbar zu werden anfing, verriet die Freundlichkeit des Zweiten Oberpriesters gegen ihn schon mehr den Zwang, den er sich dabei antun mußte; seine Komplimente wurden häufiger und studierter und eben daher verdächtiger; er widersprach, wo er sonst nur Zweifel erregt, er tadelte laut, wo er sonst nur Bedenklichkeiten geäußert hatte: Kurz, der Friede war dem Bruche nahe, und es fehlte, um ihn völlig zu bewerkstelligen, nichts weiter, als daß eine Gelegenheit die Art des Angriffs an die Hand gab. – Der unselige Bauch!

[73] Die Religion des großen Tun hatte für ihre Wahrheit und Vortrefflichkeit keine andern Dokumente aufzuweisen als das obengedachte irdene Bild und ein Buch, auf Bast geschrieben, das wegen seiner veralteten Sprache keine Seele verstund und, wie jedermann glaubte und versicherte, alles Vortreffliche, was nur jemals von menschlichen Köpfen gedacht worden ist, und vieles außerdem enthielt, was niemals in einem menschlichen Gehirne gewesen war. Wenn alles, was in den Lehrbüchern der Priester daraus gezogen sein sollte, sich wirklich darinne befand, so war es freilich etwas schwer zu begreifen, wie man zu einer Zeit, wo man noch auf Bast schrieb, so vortreffliche und besonders so spitzfündige Sachen sagen konnte, so unzweifelhaft es auf der andern Seite die vielen darunter gemengten Ungereimtheiten zu machen schienen, daß es aus keinen andern als aus jenen Zeiten herrührte. Allein eben daher bewies man seinen höhern Ursprung, und die Ungereimtheiten waren Unerforschlichkeiten, die kein irdischer Verstand ergründen könnte. Der klügere Teil, der es übrigens aus Gewohnheit für ein Werk des großen Tun annahm, schrieb – aber heimlich! – die Spitzfündigkeiten und die Ungereimtheiten auf die Rechnung der Priester und ließ dem Kodex von Bast nichts als eine kleine Anzahl ganz guter und gesunder Sittenregeln übrig, die aber, ohne vieles darinne zu finden, was man erst hineinlegen mußte, den Menschen nicht die Hälfte seines Verhaltens lehrten; doch dies war eine bloße Vermutung, die es auch bleiben mußte, da niemand als ein Priester die Handschrift untersuchen konnte, weil niemanden als ihnen die Sprache desselben zu lernen vergönnt war.

Die feierlichen Gebräuche, die man gleichfalls darinne zu finden vorgab, hatten teils durch die Veränderung des öffentlichen Geschmackes, der Denkungsart, der Sitten usw., teils durch die ungeschickte Vermischung des Alten und Neuen [74] [77]ihre halbe, wo nicht ganze Kraft verloren. Kein Mensch ließ sich es einfallen, daß die ganze Masse der Religion eine große Läuterung bedurfte, indessen daß der Erste Oberpriester unermüdet an einem Plane zu ihrer Verbesserung insgeheim arbeitete. Doch hatte er die Klugheit, bei Kleinigkeiten den Anfang zu machen und sie so behutsam als möglich wegzuräumen; denn, sagte er oft zu sich, Sachen, an denen die Heiligkeit angerostet ist, muß man nie durch gewaltsame Mittel und auf einmal glatt polieren wollen. Geduldig muß man reiben, bis allmählich der Rost sich verliert, und dann kann man getrost aus der Sache machen, was man will.

Aus diesem weisen Grundsatze hatte er nach verschiednen gelungnen Unternehmungen mit Unbeträchtlichkeiten in der Periode, da sich die Gewogenheit des großen Tun an seinem Bauche zu offenbaren anfing, einen Versuch im größern gewagt. Er hatte ein Gebet, das zu den Zeiten, als das Land noch seine eigne Regenten hatte, und in einer Pest eingeführt worden war, das Ausdrücke enthielt, die er teils dem großen Tun, in Friedenszeiten, ohne Undankbarkeit nicht sagen zu können glaubte, teils, wenn man etwas dabei denken wollte, bei der gegenwärtigen Lage der Sachen gar keinen Sinn hatten – hatte außer diesem Gebete eine Verwünschung eines benachbarten Volks, das unterjocht und also auf keine Weise mehr gefährlich für das Land war, an dem Feste Te-salu zum ersten Male aus Liebe zur Vernunft und Menschlichkeit weggelassen, doch mit vorhergegangner Einwilligung seines Obern, des allgemeinen Hauptes aller Priester im ganzen Lande, welches Iwal genennt wurde.

Jedermann billigte diese Veränderung oder hielt sie wenigstens nicht für tadelnswürdig, wenn er sie auch nicht lobte. Selbst ein großer Teil des gemeinen Volks fand nichts dawider einzuwenden, aber desto mehr der Zweite Oberpriester. Er hatte sich schon einen kleinen Anhang gemacht und [77] war eben im Begriffe, seinen Widersacher auf den Kampfplatz öffentlich herauszufodern, als er aus dem Munde des Iwals selbst erfuhr, daß die vorgenommne Veränderung mit seinem Willen geschehn sei, und er warf sich auf die Erde, küßte den Saum seines Kleides und tat mit der inbrünstigsten Miene ein Gebet an den großen Tun, daß er seinem Volke einen Iwal lange, lange erhalten möchte, der mit einer so weisen Vorsorge für die Verbesserung seines Dienstes wachte, und setzte hinzu, daß unter einem solchen Iwal die Zeiten des Laum höchstens nur vier Wochen noch entfernt sein könnten. Der Iwal hub ihn auf, umarmte ihn, dankte ihm gerührt für seinen Wunsch und glaubte in dem Augenblicke wirklich, ein Verdienst um den großen Tun zu haben, daran er etliche Minuten vorher noch nicht gedacht hatte.

Geradesweges ging der heuchlerische Oberpriester zu seinem Feinde hin und wünschte ihm mit Tränen Glück, daß er von dem weisen Iwal zum Werkzeuge einer Religionsverbesserung gebraucht worden sei, und beschloß mit den nämlichen Worten, mit welchen er seinen Sermon bei dem Iwal geendigt hatte. Der Erste Oberpriester umarmte ihn, und jener nahm seine Umarmung mit verstellter Hitze an; doch konnte er sich nicht enthalten, als er sich dem Bauche seines Nebenbuhlers nahte, einen lauten Seufzer zu tun, und da er, aller Vorsicht ungeachtet, in dem Feuer der Verstellung sich vergaß und den verhaßten Bauch berührte, so empfand er einen so heftigen Schmerz in dem großen Gallengange, daß er laut schrie, zurücksank und in eine Art von Betäubung geriet.

»Was widerfährt dir?« fragte der bekümmerte Tsi-gar, als jener wieder zu sich zu kommen schien.

»Ach«, antwortete er mit einem tiefen Seufzer, »die Gaben des großen Tun sind alle herrlich und dankenswert; aber mir gab er ohne Zweifel im Zorn über meine Vergehungen ein zu empfindliches Herz. Jede Empfindung, die andern Menschen [78] sanft und die süßeste Wonne ist, hat bei mir einen Stachel, der mein Marks durchbohrt, und keine so sehr als die Empfindung der Freundschaft. Dieses himmlischste Glück genieße ich nie anders als mit einer völligen Erschütterung aller Nerven am ganzen Körper, und kannst du dich nun wundern, warum ich bei deiner Umarmung in diese Schwachheit versank?«

Der ehrliche Tsi-gar, dessen Herz, mit Erlaubnis des großen Tuns, wirklich etwas zu empfindlich geraten war, dankte ihm mit der größten Rührung für seine freundschaftlichen Gesinnungen und bereute es bei sich herzlich, daß er sich gegen einen solchen Mann einen geheimen Argwohn hatte erlauben können; ebenso unwillig gegen sich, warf er die ganze Schuld auf seine Übereilung, daß er von etlichen zweideutigen Handlungen eines solchen Mannes intoleranterweise so geurteilt hätte, als wenn es auf ihn gerichtete feindliche Anfälle gewesen wären. Er hatte sogar die Unvorsichtigkeit guter Seelen und legte ihm ein Bekenntnis seines vermeinten Versehens und seine Reue darüber ab, bat ihn um Verzeihung, ersuchte ihn um seine Freundschaft und Beihülfe bei der vorhabenden Religionsverbesserung, entdeckte ihm seinen darüber gemachten Entwurf und – tat noch vieles, wovon ich ihm wohlmeinend abgeraten hätte, wenn ich sein Freund gewesen wäre. Alles dieses war so gut, als hätte er seinem verstellten Gegner den ganzen Operationsplan zu seinen künftigen Verfolgungen in die Hände gegeben und zu ihm gesagt: So mußt du den Degen führen, wenn du, ohne daß ich's gewahr werde, mich durchstoßen willst.

Tsi-gar freute sich triumphierend, durch Sanftmut und Güte es dahin gebracht zu haben, daß niemand mehr in seinem Orden sein Feind war, faßte neue Entschlüsse zu Verbesserungen, die er unter diesem neuen Beistande auszuführen gedachte, ohne zu argwohnen, daß man nur einen [79] Waffenstillstand geschlossen hatte, um Zeit zur Überlegung und zu Verstärkung seiner Kräfte zu gewinnen. Die nächste Gelegenheit zog ihn aus seiner gutherzigen Verblendung.

Durch einen Zufall, den niemand erforschen konnte oder vielmehr nicht erforschen wollte, weil es jedermann für eine außerordentliche Wirkung des großen Tun ansah, war das Stück seiner Bildsäule, welches nach der Erklärung des Zweiten Oberpriesters einen Donnerkeil bedeutete, abgebrochen und wurde nirgends gefunden – weil es die untern Priester aus einer priesterlichen Vorsicht beiseite geschafft hatten. Der Iwal stellte Bußtage an und versagte sich vier Wochen lang den besten Tisch, den er allein im Lande führte, um durch Hunger und armselige Nahrungsmittel den Zorn des großen Tun zu versöhnen. Durch eine ganz natürliche Folge verschwand bei dieser Fastendiät zusehens sein ansehnlicher Bauch, und die Gewogenheit des großen Tun war mit ihm verloren. Er grämte sich darüber, daß er nur, da alle Iwal die auserwähltesten Lieblinge des großen Tun gewesen waren, der einzige Verworfne sein sollte, und grämte sich so sehr, daß er immer hagrer wurde und – starb.

Tsi-gar, der Erste Oberpriester, der es sich eine Vorschrift sein ließ, Meinungen, die in das Glaubenssystem eines ganzen Volks verwebt waren, nicht geradezu umzustoßen, sondern, wenn er auch gleich ihre Falschheit gewiß erkennte, mit einer erlaubten, heilsamen Verstellung sie zum Nutzen eines jeden anzuwenden, stellte aus diesen Gründen an einem von den angestellten Bußtagen dem Volke vor, daß der große Tun aus Mißfallen über die Vergehungen des Landes seinen Blumenkorb verborgen habe und daß er ihn reichlicher als zuvor angefüllt wieder zum Vorschein bringen und über das ganze Volk ausgießen werde, sobald ein jeder den ernsten Vorsatz fassen würde, besser zu leben. Er wußte zwar von dem Betruge der untern Priester nichts, allein, er [80] erklärte sich bei sich selbst den Vorfall aus andern Möglichkeiten.

Y-Zingu, der Zweite Oberpriester, prophezeite in seiner Rede mit der größten Zuverlässigkeit, daß das ganze Land in kurzem durch Erdbeben, Überschwemmungen und andere gräßliche Plagen untergehen werde, weil der große Tun seinen Donnerkeil zu ihrer Bestrafung nicht hinlänglich befunden und ihn deswegen im Zorne weggeworfen habe.

Nach einer Gewohnheit, die – ich kann nicht sogleich umständlich erklären, warum – den größten Teil der Menschen fesselt, fanden die fürchterlichen Vorstellungen des letztern viel mehr Beifall und Überzeugung als die liebreichen Ermahnungen des erstern. Man glaubte und fürchtete; in allen Gesellschaften waren die bevorstehenden Unglücksfälle die einzige Unterhaltung; jedermann dichtete neue hinzu und fand ein grausames Vergnügen daran, andere und sich selbst durch seine Erzählungen zittern zu machen. Da in diesem Lande das Licht des Verstandes nur noch eine kleine Lampe war, die erst zu brennen anfing, so ist es um soviel weniger verwundrungswürdig, daß die Sache gerade so und nicht anders vorging.

Überhaupt war die politische Verfassung einer vollkommnen Aufklärung des Verstandes und einer allgemeinen Erleuchtung nicht günstig, sondern schränkte vielmehr die Verfeinerung des ganzen Volkes auf eine gewisse Mittelmäßigkeit ein, die es ewig nicht überschreiten konnte. Die Vornehmen besaßen das Mark des Landes und ließen dem Mittelstande und dem Geringern nichts als die Knochen übrig, um daran zu nagen. Die letztern lebten in einer völligen bürgerlichen Sklaverei; sie waren ein Teil von dem Vermögen der Großen, wurden als angewiesne Lasttiere mit den Gütern verkauft und gekauft. Die wenige Zeit, die ihnen ihre mühselige Arbeit zum Denken übrigließ, war nicht zureichend, [81] ihnen den Grad der Erleuchtung zu geben, der ihrem Stande gemäß und nötig ist; auch würde der geringste ein Unglück für sie gewesen sein, weil er sie ihr Elend einzusehn gelehrt hätte. Die Verächtlichkeit, mit welcher sie behandelt wurden, nahm ihnen in ihren Augen allen Wert eines Menschen und machte durch lange Gewohnheit eine verächtliche Begegnung für sie zu einem ihnen zukommenden Zerimonielle. Der Mittelstand, der größtenteils von den Beschäftigungen für die Vornehmern lebte, opferte diesen gern einen Teil seiner Freiheit und seiner Ehre auf und kroch vor ihren Füßen herum, um von ihnen gebraucht, bezahlt zu werden und nach reichlichem Gewinne wie ihre Patrone müßig zu gehen. Ihre erste Bemühung war daher, das bißchen in den Kopf hineinzupfropfen, was sie zu solchen broterwerbenden Geschäften geschickt machte, und alles, was sie zu bessern Köpfen und zu bessern Gesellschaftern gemacht hätte, wurde als überflüssig oder schädlich geflohn; sie waren meistenteils gute Bürger, aber schlechte Menschen. Die ihr gutes Einkommen aus der Handlung oder dem Besitze eignen Vermögens über jene Notwendigkeit hinwegsetzte, ihrem Gehirne um des Unterhalts willen Gewalt anzutun, waren sogar ohne die Politur, die manchen unter unsern jungen Leuten ein dreijähriger Aufenthalt auf der Akademie allein geben muß; sie waren leere Köpfe, gegen Vornehmere plump, gegen Ärmere stolz und gegen jedermann -grob. Die Vornehmen, die den Ton ganz allein angaben, waren, diejenigen ausgenommen, denen ein kurzer Aufenthalt am Hofe die grobe, rohe Hülse heruntergerissen hatte, im Grunde von den letztern nicht viel verschieden. Sie hielten sich alle im Herzen für Götter und taten äußerlich wohl zuweilen als Menschen; doch trugen sie auch kein Bedenken, andern ihre vermeinte Götterschaft geradezu fühlen zu lassen, wenn es die Umstände mit sich brachten. Ihre einzige Beschäftigung war die cura habendi, die Wirtschaft, [82] eine nützliche und unentbehrliche Beschäftigung!, die aber für sie einen doppelten Schaden hatte: Sie wurden aus der Notwendigkeit gesetzt, ihren Kopf und ihr Herz zu polieren, weil zu ihrer Beschäftigung keins von beiden erfodert wurde; durch die beständige Gewohnheit, auf ihren Gütern zu befehlen und sich als kleine Monarchen anzusehn, hatte sich bei ihnen eine andre eingeschlichen, daß sie jedermann in dem Verhältnisse wie sich und ihre Bauern betrachteten. Zu den geringen Arbeiten der Wirtschaft, die ohne die schwächste Anstrengung des Kopfs Leib und Seele in eine gelinde Bewegung setzen und doch unmittelbar durch Nutzen oder Vergnügen belohnen, waren sie von Jugend auf hingezogen worden und waren also mit einer so kleinen Wirksamkeit auf zeitlebens zufrieden.

Diese Abschilderung war nur nötig, um sich eine Vorstellung von dem gesellschaftlichen Tone der Hauptstadt zu machen und zu begreifen, wie man vier Wochen lang in allen Gesellschaften von nichts als von der Prophezeiung des Zweiten Oberpriesters reden, sie nicht bloß als eine in Form einer Prophezeiung abgefaßte Drohung ansehn und dafür zittern konnte. Die Sache war: Es tat dem Gespräche ebendie Dienste als Wasser einem Mühlrade, da man ohnehin, wenn die Wetteraspekten erschöpft, der kleine Vorrat von glücklichen und unglücklichen Stadtbegebenheiten und törichten Handlungen – die es teils waren, teils durch eine sinnreiche Auslegung dazu gemacht wurden – ausgeleert war, sich in allen Gesellschaften die Kinnbacken wund gähnte. Y-Zingu tat hierbei sein möglichstes, die Vorstellung des Ersten Oberpriesters insgeheim zu verschreien und – viel fehlte nicht! – gar zu verketzern.

Dieser hingegen hielt sich für verbunden, dem reißenden Strome der Furcht Einhalt zu tun. Er tat es in der nächsten öffentlichen Rede, die er ans Volk halten mußte, und tat es auf [83] eine so gute, sanfte Art, daß, niemand etwas dawider einzuwenden fand und sogar einige ihm lauten Beifall gaben. Den Tag darauf und alle folgende dachte kein Mensch mehr weder an den Ersten noch an den Zweiten Oberpriester, weder an Überschwemmung noch an Furcht. -Abermals ein Sieg der Wahrheit! sagte sich Tsi-gar und pries den großen Tun.

Der gute Mann! – Denselben Tag, als er seine Rede hielt, langte ein neuer Taschenspieler an, der ganz unerhörte, Zaubereien ähnliche Dinge machte. Jedermann brannte von Verlangen, ihn zu sehn und, wenn er ihn gesehn hatte, von einem gleichen Verlangen, andern zu erzählen, was er gesehn hatte; die völlige Aufmerksamkeit des Publikums stahl der Taschenspieler weg und ließ den Oberpriestern, ihren Segen und ihren Verwünschungen, nicht ein Plätzchen ineinem Kopfe übrig, und um soviel weniger hatte man itzt Lust, sich vor seinem Untergange zu fürchten, weil der Taschenspieler eine Ursach mehr war, sich seines Lebens zu erfreun. Kurz, der Taschenspieler tat alles und die Rede des Tsi-gar gar nichts.

Doch seinem Feinde, dem Y-Zingu, spielte der Künstler einen noch schlimmern Streich: Er machte, daß niemand mehr seine Verkleinerungen des erstern anhören wollte noch konnte. Das beste dabei war, daß die Ankunft des Taschenspielers die Furcht der gesamten Einwohner vom Grund aus heilte.

Der so vermeinte gute Erfolg seiner Rede schien dem Ersten Oberpriester eine neue Auffoderung zu sein, in seinen angefangnen Verbesserungen fortzufahren. Er wagte einen leichten, aber nach der damaligen Verfassung des Menschenverstandes gewiß kühnen Schritt. An den öffentlichen Festen sang das ganze Volk zum Schlusse des Opfers Gnaseg-chub, ein paar Worte, die gegenwärtig wegen Abänderung der Sprache keine Seele mehr verstand und keine Seele mehr erklären konnte. Um einer so unvernünftigen Verehrung abzuhelfen, machte Tsi-gar mit einer leichten Veränderung aus [84] denselben: Naseg-rub, welches in der damaligen Sprache ohngefähr: Erhöre uns! bedeutete. Er beratschlagte sich mit seinen Kollegen darüber; alle fanden die Verbesserung vortrefflich, und keiner erteilte ihm so viele Lobsprüche darüber als der Zweite Oberpriester. Er mußte!, weil der vermaledeite Taschenspieler ihn aus seiner vorteilhaften Stellung herausgetrieben hatte.

Es wurde dem Volke bekanntgemacht, und der größte Teil war es zufrieden, sagte wenigstens nichts mehr, als was die Leute bei jeder neuen Sache sagen -ein paar leichte Einwendungen, um doch zu zeigen, daß man Verstand genug hat, Einwendungen zu machen. Alle Zungen waren in Bereitschaft, Naseg-rub bei dem nächsten Feste, dem größten im Jahre, auszurufen.

Mittlerweile fiel es der Frau des Zweiten Oberpriesters ein, daß die Sachen ihres Mannes sehr langsam fortschritten und die ganze Maschine einen neuen Stoß brauchte, um in eine schnellere Bewegung gebracht zu werden. Sie nahm sich also vor, diesen Stoß zu tun.

Am vorhin gemeldeten großen Feste tanzten die Weiber der Oberpriester einen gewissen feierlichen Tanz, den das Altertum geheiligt hatte und wobei die Erste Oberpriesterin ungemeine Vorzüge genoß. Sie allein tanzte mit bloßen Brüsten und bloßen Füßen auf einem seidnen Teppiche, der über einen Rasenplatz gebreitet war, und die übrigen durften bei der härtesten Strafe diesen Teppich nicht berühren, sondern mußten um denselben herum in einer leinenen Hülle tanzen, die den ganzen Körper vom Kopf bis auf die Füße bedeckte. Wenn der Tanz vorüber war, erschienen die sämtlichen Oberpriester, knieten am Rande des Teppiches hin und küßten die Brüste und die Füße der Ersten Oberpriesterin, die sich zu einem jeden deswegen herabbeugte. Je seltsamer dieser Gebrauch war, je mehr tat man ihm, da er zur Religion[85] gehörte, die Ehre an, ihn durch vernünftige Erklärungen vernünftig zu machen. Man gab den ersten Urhebern desselben schuld, daß sie dadurch die Priester, die durch den beständigen Umgang mit der Gottheit leicht stolz werden könnten, die Demut auf eine sinnliche Art hätte lehren wollen: Das Küssen der Brüste solle sie erinnern, daß sie wie andre sterbliche Menschenkinder an den Brüsten ihrer Mütter gesaugt haben; das Küssen der Füße sei eine Anerkennung des mütterlichen Ansehns über sie und solle sie belehren, daß sie, so hoch sie auch erhaben wären, doch eine Mutter zur Welt gebracht hätte, welcher sie Demütigung und Gehorsam leisten müßten. 2 Auf diesen Schlag hielt sich noch eine Menge andrer Erklärungen in den Köpfen der Einwohner auf, wovon aber zuverlässig keine einzige in dem Kopfe des ersten Urhebers gewesen war. – Wer die Geschichte der christlichen Kirchen studiert hat, wird sich leicht vorstellen können, wie die Sache beschaffen war.

Lange schon hatte die Zweite Oberpriesterin dieses Vorrecht der Ersten mit neidischen Augen angesehn, und keinen Tag im Jahre brachte sie mit so vielem Mißvergnügen zu als dieses Fest, ob es gleich nach seiner ersten Bestimmung ein Tag der allgemeinen Freude sein sollte. Demungeachtet hatte sie ihren Mann die Ursache ihrer Betrübnis nicht merken lassen, sooft er sich auch darnach erkundigte. Doch itzt, da sich das Fest wieder näherte, fand sie sich nicht stark genug, ihr Anliegen länger zu verhehlen. Doch die Art ihrer Entdeckung war sehr alltäglich: Sie stellte sich krank, [86] [89]schwermütig, unzufrieden; der Mann war so gütig, nach der Ursache ihres Kummers neugierig zu sein; sie weigerte sich seufzend, sie ihm bekannt zu machen – der Mann ward hitzig, drang in sie – sie wurde immer kälter und gab ihrem Kaltsinne durch einen tiefgeholten Schlußseufzer einen Nachdruck, der so stark auf dem Ehegatten wirkte, daß er sie küßte, sie liebkoste, ihr allerhand artige Sächelchen vorsagte, bis seine eheliche Liebe und seine Neugierde in völliger Flamme stand; dann wurde das große Geheimnis unter vielen Vorwürfen, die sie sich selbst über ihre Indiskretion machte, in seinen Schoß ausgeschüttet oder, welches einerlei ist, statt des Öls in seine Flamme gegossen. Hinterdrein folgte eine Peroration, die eine kräftige Beteurung enthielt, daß sie nicht eher zu ihrer vorigen Ruhe wieder gelangen würde, als bis diese Stolze mit Schimpf und Spotte um ihre Vorzüge gebracht worden wäre. – Gerade die gewöhnliche Wendung, die dergleichen Angelegenheiten gegeben werden! – und darum halte ich mich nicht weiter dabei auf.

Daß der Oberpriester am Ende der Konferenz versprach, die Stolze auf das empfindlichste zu demütigen, und daß er versprach, es zur Ehre des großen Tuns zu tun, das wird wohl jedermann selbst raten.

Das Fest erschien, der Tanz ging vor sich. Der Erste Oberpriester verrichtete seinen demütigen Kuß an den Brüsten und Füßen seiner Frau. Der Zweite näherte sich, sie reichte ihm die Brust, und – ach! schrie sie laut und sank auf den Teppich hin – er hatte sie in die Brust gebissen.

Unterderhand waren Leute von dem Boshaften abgerichtet, welche sogleich durch ihre Auslegung von dem Vorfalle dem Erstaunen des Volkes die Richtung geben mußten, die es nach seiner Absicht nehmen sollte. Sie zischelten ihren Nachbarn ins Ohr, der Zorn des großen Tun habe sich an dieser Unwürdigen offenbart. – Sie wußten in der Geschwindigkeit [89] ihr eine Menge heimlicher Laster anzudichten, worunter der Ehebruch das geringste war. Aus dem Gezischel wurde ein Gemurmel und aus dem Gemurmel eine verständliche Rede und ein allgemeiner Glaube, besonders da die verwundete Oberpriesterin, die selbst diesen Unfall als eine Wirkung des göttlichen Zorns ansehn mochte, bei ihrer Weg-schaffung ein Gebet an den großen Tun tat, worinne sie um Verzeihung flehte, wenn sie wider ihr Wissen etwas versehn hätte. – Die gute Frau war sich gewiß keiner ehelichen Sünde bewußt, denn sie war im fünfundvierzigsten erst Frau geworden und stund gegenwärtig im achtundfunfzigsten. Indessen nahm das versammelte Publikum diese Anrede an den großen Tun als ein öffentliches Bekenntnis ihrer fleischlichen Vergehungen an, weil es einmal mit seinen Gedanken auf diesen Weg gebracht worden war.

Man foderte allgemein, daß das Fest den folgenden Tag noch einmal gefeiert und die Zerimonie noch einmal von der Zweiten Oberpriesterin verrichtet werden sollte. Es geschah zu ihrer großen Zufriedenheit.

Als bei dem Schlusse des Opfers die Reihe an den obengedachten Ausruf kam, rief ein kleiner Haufe das alte verstandlose Gnaseg-chub, und ein unendlich größrer überstimmte ihn mit dem verbesserten Naseg-rub. Der Erste Oberpriester freute sich insgeheim, und der Zweite ärgerte sich, daß er glühte.

An gewissen vernünftigen Sachen leuchtet die Vernünftigkeit mit einer so unwiderstehlichen Kraft in die Augen, daß auch der finsterste Kopf davon erhellt wird; aus diesem Grunde mochte das Volk diesmal so klug handeln, da doch die Ereignis mit der Oberpriesterin auch auf ihren Mann und auf Sachen, die von ihm herrührten, einen Schatten geworfen hatte und nach der listigen Veranstaltung des Zweiten Oberpriesters geworfen haben mußte.

[90] Die unglückliche Oberpriesterin starb inzwischen, teils an der Wunde, die sehr tief war, teils vor Gram über die Ungnade, in welche sie bei dem großen Tun gefallen zu sein glaubte; denn – wie es bei unvermuteten Dingen geschieht – sie hatte in der Bestürzung die Schlangenzähne des boshaften Y-Zingu gar nicht gefühlt.

Gleich den Tag nach ihrem Tode empfing der Hinterlaßne aus dem Serail des Regenten eine andre Frau; denn nach den Gesetzen des Landes und der Religion durfte kein Priester länger als höchstens zwei Tage unverheiratet sein; auch wurde bei ihrer Wahl die Tüchtigkeit zum Ehestande als das hauptsächlichste Erfodernis angesehn – und daß diese Frau aus dem Serail kam, das ging so zu.

Die gegenwärtigen Regenten hatten bei der Eroberung des Landes, in welchem alles das Erzählte vorging, für sich, ihre Erben und Erbnehmer in infinitum eine Art von Leibeigenschaft des weiblichen Teiles im ganzen Lande eingeführt. Jedes Mädchen gehörte vom zwölften Jahre an dem Regenten: War sie hübsch, so mußte sie unnachbleiblich in das Serail des Hofes geliefert werden; war sie häßlich, so konnten die Eltern gegen Erlegung einer Summe, die nach den Bedürfnissen des Staates gemindert oder gesteigert wurde, das Eigentumsrecht über sie erkaufen, und die Veranstaltung war so weislich geordnet, daß keine schöne nicht ausgeliefert und keine häßliche nicht losgekauft wurde. Aus dieser Sammlung von den auserlesensten Früchten des ganzen Landes wurden alle Kandidaten des Ehestandes versorgt 3 oder vielmehr mit Weibernbelehnt, welches höchst notwendig war, da Überdruß und Vergänglichkeit, diese zween Feinde der weiblichen Reize, nirgends mehr als in einem Serail wüten.[91] Die Priester durften keine andre wählen, als die sie von den Händen des Regenten aus seiner Sammlung erhielten – vermutlich war dies eingeführt, weil die Priester schlechterdings heiraten mußten und die übrigen Einwohner so ekel waren, entweder gar ledig zu bleiben oder sich mit den natürlich häßlichen zu befriedigen; doch auch diesem Mißbrauche wurde im kurzen durch eine harte Auflage auf dergleichen gesetzwidrige Heiraten anderweitig abgeholfen.

Alle Weiber der obern und geringern Priester hatten daher die Miene und die Sitten des Serails, und die itzt der Erste Oberpriester empfing, war eine Spröde, die Tages, vorher erst in Ungnade gefallen war. Doch da sie viele Verdienste besaß, die ihr eine vorzügliche Tüchtigkeit zum Mitgliede eines Serails verschafften, so erhielt sie auch in ihrem neuen Stande noch viele heimliche und öffentliche Besuche von ihrem ehmaligen erhabnen Liebhaber, und je hartnäckiger ihre Sprödigkeit wurde, je hartnäckiger wurde die Liebe des Prinzen.

Der Zweite Oberpriester, der als ein Weltkenner allerhand nachteilige Folgen für das alte Gnaseg-chub aus dieser Verbindung besorgte und doch nach der bekannten Beobachtung, daß ein gelungner Versuch allen unsern übrigen noch so unbedeutenden Projekten, die nur einigen Zusammenhang mit jenem haben, eine Elastizität gibt, durch den für ihn glücklich ausgeschlagnen Biß angespornt wurde, sich dem Naseg-rub mit doppelter Stärke zu widersetzen -dieser Mann, sage ich, hielt es für außerordentlich nötig, eine Gegenmine anzulegen. Der böse Streich, den ihm das Volk spielte, da es bei seinem Ausrufe der Verbesserung des Oberpriesters folgte, zog Neid, Stolz, Rachsucht und sein ganzes Priesterherz mit ins Spiel. Eine solche Gegenmine glaubte er am besten bei dem neuen Iwal anzubringen. Dieses war ein guter, ehrlicher Mann, von einem planen, nicht gesunden [92] und nicht kranken Verstande, der zwar mit kleinen Übeln und Beschwerungen behaftet war, die ihm zuweilen das Ansehn eines einfältigen Verstandes gaben, aber doch im ganzen nichts schadeten, mit einem Herzen, das zwar ziemlich stark empfand, aber seine ganze Empfindlichkeit auf die Seite der Frömmigkeit gelenkt hatte. Ein solcher Verstand und ein solches Herz in einem Iwalskleide waren die besten Gegenminen gegen alle vernünftige Anstalten, wenn man nur damit umzugehen wußte. Y-Zingu wußte es. Er stellte dem Iwal das Naseg-rub als eine eigenmächtige, vorwitzige, schädliche Veränderung in den öffentlichen Religionshandlungen vor, versicherte ihn, daß manches fromme Herz im stillen darüber seufzte und nur nicht wagte, in laute Klagen auszubrechen, daß der Erste Oberpriester wider alles Recht diese Veränderung ohne Zuziehung des Iwals und der übrigen Priesterschaft gewagt habe, daß die Erbauung gehindert, die Einfältigen geärgert, in ein Mißtrauen gegen ihre Priester, die Religion, den großen Tun, die ganze Welt – der Himmel weiß, gegen wen mehr versetzt würden; genug, mehr fehlte nicht, als daß er es audrücklich sagte, so mußte die ganze sichtbare Welt, das Firmament mit allen Sternen untergehen, wenn man nicht Gnaseg-chub, sondern Nasegrub an dem großen Feste des großen Tun ausrief. Der Iwal, ohne die Priesterrhetorik dieses Mannes zu kennen, stellte sich zwar die Sache nicht völlig so schlimm vor, als er den Worten nach gesollt hätte, aber doch in dem höchsten Grade schlimm, zu dem er seine schlaffe Einbildungskraft anspannen konnte, und schlimm genug, um dem Naseg-rub den Krieg anzukündigen.

In seiner Unterredung mit dem Ersten Oberpriester darüber widerlegte dieser zwar mit vieler Richtigkeit und Deutlichkeit die Anschuldigungen seines Verleumders, besonders die, daß er seine Verbesserung ohne die Einwilligung seiner [93] Mitpriester unternommen habe: Allein dem guten Iwal begegnete wider sein Wissen und Willen die nicht ungewöhnliche menschliche Schwachheit, daß der erste Eindruck die Herrschaft über ihn behielt, die Überzeugung von der Wahrheit dessen, was der ehrliche Tsi-gar für sich anführte, zwar nicht ganz hinderte, aber sie doch hinderte, auf seine Entschließung zu wirken. Er verwies den Ersten Oberpriester zur Ruhe und untersagte ihm nachdrücklich jede künftige Veränderung.

Diese Zurückweisung reizte den Stolz des Tsi-gar: Er hätte ein unempfindlicher, schläfriger Mann sein müssen, wenn diese Reizung bei der Anschwärzung einer so offenbar gerechten Sache außengeblieben wäre. Er schlug also, um seine Absichten seinem Verleumder zum Trotze durchzusetzen, einen Weg ein, dessen Wahl freilich nur insofern zu billigen war, weil ihn die feste Überzeugung von der Güte und Nützlichkeit seiner Unternehmung dazu bestimmte und er löbliche Absichten darauf zu verfolgen suchte.

Er gab seiner Frau den Auftrag, sich ihrer ehmaligen Vertraulichkeit mit dem Regenten zunutze zu machen, zu ihm zu gehn und ihn zu bitten, daß durch seinen ausdrücklichen Befehl das Gnaseg-chub förmlich des Landes verwiesen würde. Sie willigte gleich darein – denn sie war der Zweiten Ober-priesterin schon im Serail gram gewesen, weil sie einmal um ihrentwillen eine harte Demütigung ausstehn mußte. – Die gerechte Sache ward ihre Sache; sie ging geradesweges zum Regenten, stimmte ihre Sprödigkeit etliche Töne herunter, tat darauf ihre Bitte – »Herzlich gern!« war die Antwort. »Gleich soll mein Edikt auf allen Gassen und Kreuzwegen des Landes öffentlich abgesungen werden.«

Es geschah. Tsi-gar freute sich und lobte den großen Tun, daß er der guten Sache abermals aufgeholfen hätte.

Unterdessen hatte Y-Zingu auch die übrigen Oberpriester [94] wider den Ersten aufgewiegelt. Der Dritte wurde ein geschworner Feind des Naseg-rub, weil es etwas Neues war; der Vierte ein noch größrer, weil er nicht der Urheber davon war. Jener eiferte auf der Stelle darwider und ließ es dabei bewenden; dieser lärmte wie ein kleiner mutwilliger Bologneser und biß endlich gar zu. Sie taten vereinigt dem Iwal eine Vorstellung wider den Befehl des Regenten, und dieser nahm es sehr übel, daß man seinen Regenten bewegt hatte, etwas ohne sein Vorwissen zu befehlen. Sie gewannen ihn ganz.

Der Iwal wußte wohl, daß Befehle des Regenten nur öffentlich abgesungen würden, um beizeiten den Leuten zu melden, daß man darauf sinnen müsse, wie man sie nicht halten und doch nicht bestraft werden könne, und war also wegen der Haltung dieses Ediktes nicht in der mindesten Unruhe: In zween Tagen hatte Regent und Untertan vergessen, daß es gegeben worden war. Er ließ deswegen bei der abermaligen Annäherung des größten Festes ein anders von seiner eignen Erfindung machen, worinne gerade das Gegenteil geboten wurde. Etliche alte Leute, die noch aus den vorigen einfältigen Zeiten übrig waren, hielten sich für verbunden, allein dem Befehle des Fürsten zu folgen; hingegen der erleuchtete Haufe richtete sich ohne fernere Nachfrage nach dem letzten Befehle, rühre er doch her, von wem er wolle.

Hieraus entstund ein allgemeiner Streit. Es wurden Parteien, die zwar nicht zu öffentlichen Tätlichkeiten griffen, aber doch in Privatgesellschaften einander mit den bittersten Anzüglichkeiten verfolgten. Wenn jemand um seine Tochter zur Ehe angesucht wurde, so war seine erste Frage, ob sein künftiger Schwiegersohn an dem größten Feste im Jahre Naseg-rub oder Gnaseg-chub ausrief, und sein Ja oder sein Nein richtete sich darnach, ob dieser ebenso ausrief als er selbst. Diese beiden Worte knüpften und zerrissen Freundschaft, [95] machten zufriedne und mißvergnügte Ehen, verhalfen zu Ämtern und entfernten davon, verschafften und raubten Patrone, schlossen und verhinderten Käufe, machten Verträge, Kontrakte – mit einem Worte, sie waren die beiden Angeln, in welchen sich die Privatglückseligkeit der Hauptstadt und der benachbarten Städte und Dörfer herumdrehte. Man achtete sich es sogar für einen Schimpf, keinen Anteil an der allgemeinen Uneinigkeit zu nehmen, wenn man auch weiter keine Kenntnis von der Sache hatte.

Da die Hauptstadt nur eine mittelmäßige, beinahe kleine Stadt war, so kann man sich leicht einbilden, daß man in kurzem lächerliche und traurige, ungereimte und artige Geschichtchen auf Unkosten des Ersten Oberpriesters aussann, die sich so weit, als man nur vom Gnaseg-chub etwas wußte, schnell ausbreiteten; aber allezeit wurde der gute Mann in einem nachteiligen Lichte vorgestellt, weil er die unterliegende Partei war.

Man sagte, der große Tun habe ihn für seine Verwegenheit des Nachts gezüchtigt und ihn mit einer großen Narbe über der Nase gebrandmalt – die er doch seit seinem fünften Jahre von einem üblen Falle hatte.

Die sich klüger dünkten, erzählten sich mit vieler Ernsthaftigkeit, seine gegenwärtige Frau habe ihn zu dem Nasegrub verleitet und dieses sei eine Bedingung gewesen, unter welcher sie versprochen habe, ihm in ihrer Ehe treu zu sein. – Warum? fragten Leute, die klug waren. Man verwunderte sich über ein solches übel angebrachtes Warum und ließ es bei der Versicherung bewenden, daß die Sache ihre völlige Richtigkeit habe – ohne sich an den chronologischen Einwurf zu erinnern, daß man schon Naseg-rub ausrief, ehe die gegenwärtige Frau seine Frau war.

Die witzigen Köpfe machten es sich zur Ehre, mit der ausgelassensten, oft ziemlich niedrigen Satire auf den armen [96] Tsi-gar loszugehn. Sie schmiedeten ausdrücklich für ihn eine chronique scandaleuse; doch da es leidlicher ist, einfältige Sachen als fade zu hören, so möge die ganze Chronik meinetwegen in der Unbekanntschaft des Publikums bleiben.

Während dieser allgemeinen Bemühung, den armen Tsi-gar zu verkleinern, ermangelten die übrigen Oberpriester nicht, es auf ihre Art zu tun. Sie beschuldigten ihn verschiedener Irrtümer, die geradezu die Grundsäulen des Glaubenssystems umstießen. Selbst sein Naseg-rub war eine Erzketzerei, und hinter allem, was er tat, sollten böse, der Religion gefährliche, der Indifferentisterei, dem Synkretismus und andern polemischen Mißgeburten günstige Absichten lauschen, und – was gewiß die größte Verlegenheit in der Welt verursachen muß – er wurde genötigt, über Meinungen sich zu entschuldigen, die ihm als Irrtümer aufgebürdet wurden und vor seiner Vernunft die allein richtigen waren.

Neben der Frömmigkeit war in dem Herze des Iwals ein Kraut aufgewachsen, das gemeiniglich mit jenem in einem Boden fortkommt – der Stolz, und noch dazu die Art des Stolzes, die auf die äußerlichen Bezeugungen der Ehre und der Demütigung anderer ihre ganze Zufriedenheit beruhen läßt, Menschen als beifallswürdig oder als hassenswert dem Verstande vorstellt, nachdem sie sich durch äußerliche Unterwerfung mehr oder weniger erniedrigen, und nach diesem Maßstabe Gunst und Ungnade austeilt. Dem Y-Zingu kostete es bei seiner kriechenden, niedrigen Denkungsart nicht die geringste Überwindung, bei seinen Unterredungen mit dem Iwal nicht von der Erde aufzustehn, bei jedem Worte den Saum seines Kleides zu küssen und – welches das Zeichen der höchsten Ehrerbietung in diesem Lande war – den rechten Fuß dieses aufgeblähten Vorgesetzten bei dem Abschiede mit seiner Stirne zu berühren. Zu allem diesen konnte sich der Erste Oberpriester nicht verstehn: Er erwies [97] dem Iwal den Grad der Ehrfurcht, den er ihm nach den Gesetzen und nach der hergebrachten Gewohnheit schuldig war, und jeden Schritt, den er darüber täte, hielt er für eine Beleidigung wider die Rechte der Menschheit und eine unanständige Verscherzung derselben. Man merkt es also, daß er den Stolz der Rechtschaffenheit besaß, der durch ein lebhaftes Gefühl seiner selbst erzeugt wird. Auch kann man zum voraus merken, was dieser Stolz, da er mit dem Stolze des Iwals zusammenstieß, der vorhabenden Sache für einen Ausschlag geben mußte. – Natürlicherweise keinen guten! keinen auf die Seite des Oberpriesters!

Der Iwal ging mit seinen Leidenschaften zu Rate. Die Frömmigkeit zwang ihn, sich der Sache anzunehmen, weil es eine Sache der Religion war, und sein Stolz faßte, ohne weitere Überlegung, das Urteil ab, daß der Erste Oberpriester unrecht haben müßte.

Dieses Urteil war der Leitfaden, den er bei seinen Untersuchungen darüber in die Hände nahm. Ein etwas klügerer Kopf tat den Vorschlag, beide Parteien, die nunmehr sehr erbittert gegeneinander waren und um soviel weniger nachgeben wollten, dadurch zum Stillschweigen zu bringen, daß er keinen von beiden recht behalten ließ: Er sollte weder Gna-seg-chub und Naseg-rub, sondern Ase-rub auszurufen befehlen, welches gleichfalls einen guten Verstand hätte, auf die Gelegenheit paßte und den Knoten der Uneinigkeit auf einmal entzweischnitte, besonders wenn man, wie es billig wäre, auf das übrige verleumderische Anbringen der Oberpriester, vornehmlich des Y-Zingu, weiter keinen Augenmerk richten und alle dergleichen in Zukunft verbitten wollte.

So gut der Rat war, so mißfiel er doch dem Iwal aus einem sehr menschlichen Grunde – weil er ihn sich nicht selbst gegeben hatte. Er setzte seine Untersuchungen unermüdet fort, scheute die Gefahr nicht, durch so viele Arbeiten sich um die [98] Gewogenheit des großen Tuns, die an seinem Bauche sich herrlich offenbarte, auf lange Zeit zu bringen, und untersuchte mit einer phlegmatischen Bedächtlichkeit drei Jahre lang, ob man an dem größten Feste im Jahre Gnaseg-chub oder Naseg-rub singen sollte. Die Wahrheit war für ihn in einen so tiefen Brunnen gefallen und seine Entschlossenheit hinter ihr drein, daß er endlich mehr aus Überdruß als aus Überzeugung entschied, mehr weil er nicht länger untersuchen konnte, als weil er genug untersucht zu haben glaubte.

Nach drei Jahren Untersuchung, nach so vielen Feindseligkeiten, die die Priester sich angetan hatten, nachdem die öffentliche Meinung von dem ganzen Orden um vieles geschmälert, nachdem durch Zwiste das größte Fest im Jahr oft entheiligt worden war, befahl der Iwal, man sollte an dem größten Feste des großen Tuns singen – wie man vor tausend Jahren gesungen hatte.

»Wenn dieses die weiseste Entscheidung war, die man nach einer dreijährigen Untersuchung finden konnte, so hätte ich dem Iwal in einer Sekunde nach der Anlage des Zweiten Oberpriesters dazu verhelfen wollen«, sagte bei der Bekanntmachung dieses Befehles ein kluger Kopf.

»Ja, so hätte ja der Iwal die Ehre einer dreijährigen Untersuchung nicht gehabt«, sagte ein noch klügrer. Er untersuchte nicht, um entscheiden zu können, sondern – um zu untersuchen. –

So untersuche er dann in Ewigkeit! Der große Tun beschere ihm Uneinigkeiten und Priestergezänke genug dazu!

[99]

Die Erziehung der Moahi

Tertius e coelo cecidit Cato –

Juvenal


Die Moahi, ein gegenwärtig unbekanntes Volk, hatten das Schicksal sehr vieler Nationen und Gesetzgeber, daß sie bei guten Einsichten schlechte Gesetze machten und zu den besten Absichten die schlechtesten Mittel wählten.

Der größere und vornehmere Teil des Volks lebte in einer Stadt unter einer aristokratischen Verfassung beisammen und suchte sich durch die Bedrückung und Aussaugung der übrigen, die auf den Landgütern ihrer Beherrscher arbeiten mußten, täglich zu einem höhern Grade des Luxus und der Verfeinerung zu erheben. In einem Zeitpunkte, wo gerade alle Übel, die bei einer Aristokratie voller Luxus unvermeidlich sind, am höchsten gespannt zu sein schienen, genoß dieser kleine Staat das sonderbare Glück, unter seinen Regierern ein paar Männer zu besitzen, die für ihre Republik bei ihren ersten Anfängen Lykurge oder Solone gewesen wären; doch itzt war unter dem Haufen ihrer verderbten Mitbrüder diese Ehre nicht zu gewinnen. Das ganze stadtväterliche Kollegium war dem römischen Senate ähnlich, wie ihn [100] August fand – difformis et incondita turba – eine Rotte, die per gratiam et praemium 4 zusammengekommen war, und bis auf diese Stunde bleibt mir es daher ein Rätsel, wie jene beiden rechtschaffnen Männer, die diese zween Wege um ihrer Rechtschaffenheit willen gewiß nicht betreten haben, von einem so elenden Haufen zu Mitgliedern gewählt werden konnten.

Sie mußten lange Zeit, teils aus Klugheit, teils wegen des Widerstandes, nichts tun als zusehn, wie unüberlegte Gesetze und das schlechte Beispiel die Verderbnis täglich weiter ausbreiteten. Sie waren beide Philosophen, hatten in ihrem Leben viel gedacht, die Plane aller Regierungen, die sie kennenlernen konnten, durchstudiert, hin und wieder Fehler bemerkt und, was einem empfindenden Denker angeboren ist, fleißig Plane zu Verbesserungen und, da sie diese Palliativkuren zu schwach befanden, Entwürfe zu Monarchien und Republiken gebrütet, bei deren Ausführung das die geringste Erfodernis war, daß alle Reiche der Welt über den Haufen geworfen und alle Menschen vollkommner geschaffen werden mußten. Ein solcher politischer Architekt macht es wie jeder andre Baumeister, der gemeiniglich das schönste Gebäude, das in seinem Gehirne zu finden ist, auf das Pergament zeichnet, unbekümmert, ob der Bauherr nicht betteln gehn müßte, wenn er den Riß ausführte. Zum Glücke für den Staat der Moahi hatten seine Regenten so lange Zeit und Lust, sich bloß um des Widerspruchs willen dem Besserungsgeiste und der Projektmacherei dieser zween Männer zu widersetzen, als beides am feurigsten bei ihnen brausete. Da ihre Hitze durch Alter und beständigen Widerspruch gedämpft war, traf sich es erst, daß man ihnen ganz allein die Regierung überließ, wozu ein merkwürdiger Umstand die Veranlassung gab. [101] Einige Mitglieder des Hoy-nik oder hohen Rats hatten bei einem vierwöchentlichen Aufenthalte an einem benachbarten Hofe einige vortreffliche Mittel zu Verkürzung der langen Winterabende gelernt. Nach ihrer Rückkunft teilten sie diese neuen Kenntnisse ihren übrigen Mitgliedern mit, und kurz darauf wurde beschlossen, eine Schauspielergesellschaft für den künftigen Winter zu verschreiben, Leute aufzumuntern und mit Gelde zu unterstützen, die Redouten und As-sembleen geben mußten. Keine ihrer Verordnungen hatte noch einen so glücklichen Erfolg gehabt als diese, und der folgende Winter schien jedem Einwohner, der an diesen Lustbarkeiten Anteil nehmen durfte, nur ein vergnügter Sommertag zu sein.

Während dieser Zeit bekamen jene zween Philosophen das Ruder ganz allein in die Hände. Oft waren sie die einzigen in dem öffentlichen Versammlungshause, oder wenn ja noch etliche andre den Beratschlagungen beiwohnten, so waren sie doch meisten teils durch das viele Nachtwachen bei Spielen und Bällen so erschöpft, daß sie herzlich gern zu allem gleich ja sagten, um nicht ihre Köpfe zu einer zweiten Antwort anstrengen zu müssen, und nun wurde man erst gewahr, was für einen Schatz man an jenen arbeitsamen, ungeselligen Weisen hatte.

Eine solche Gelegenheit war so gut als eine eröffnete Laufbahn für die Verbesserungsbegierde dieser beiden Männer, die sie sich auch sehr wohl zunutze machten. Wenn jeder, der den Aufwand nur einigermaßen durch Borgen oder eignes Vermögen bestreiten konnte, wie unsinnig nach dem Vergnügen rennte, saßen sie bei einer nüchternen Abendmahlzeit freundschaftlich beisammen und arbeiteten an Entwürfen, wie man dem Staate wieder die innere Güte verschaffen könnte, die er vormals gehabt, ehe er von den Verderbnissen des Luxus angesteckt worden wäre.

[102] »Diese Generation von Menschen ist verloren«, sagte eines Abends Amur-see. »Alles, was die Gesetzgebung gegenwärtig tun kann, besteht einzig darinne, daß sie die junge Nachkommenschaft vor der Seuche bewahrt, die aus unserm Staate einen Haufen elender, weibischer, kindischer Toren gemacht hat. In einem Zeitraume von höchstens dreißig Jahren müssen alle itzt lebende Erwachsene, wenn Üppigkeit und Wollust so unter ihnen fortwüten, tot sein, und alsdann, sollten auch wir es nicht erleben, wird aus der itzigen Jugend ein Volk hervorwachsen, das den Namen Moahi wie unsre Väter verdient, ein Volk, das das Andenken derjenigen segnet, die ihm zu ihrer ursprünglichen Würde durch ihre Veranstaltungen wieder verholfen haben; die noch übrigen Verderbten werden in Verachtung und Schande geraten; die Üppigkeit wird alsdann in die Einsamkeit kriechen müssen wie itzt Unschuld und Mäßigkeit. Das müssen goldne Zeiten werden, und siehe! von diesen können wir die Schöpfer sein.«

»Wieso?« fragte sein Freund Samar-ka. –

»Wenn wir uns der Gelegenheit, da itzt die Last der Regierung auf unsern Schultern allein liegt, weislich bedienen und eine solche Erziehung anbefehlen, wodurch wir unsern Endzweck erlangen können. Alle Gesetze sind da, wo die Bürger nicht durch die Erziehung zu der Haltung derselben gebildet werden, ohne Kraft, nichts als geschriebne Worte. Der Mensch lernt durch Übung und Gewohnheit das Böse; auf dem nämlichen Wege muß er auch das Gute lernen, und wer nicht allmählich hierdurch dazu gleichsam unvermerkt gezwungen wird, den zwingt kein Gesetz dazu. Die Erziehung muß Gesetze entbehrlich machen – soweit dies angeht. – Unser erstes Augenmerk muß also die Erziehung der vor-handnen Kinder sein.«

»Und unser Endzweck dabei«, fuhr der andre fort, »muß [103] sein, sie wieder zu den Tugenden unsrer Väter zurückzubringen.«

»Nichts anders!« rief Amur-see. »In der morgenden Sitzung soll der Anfang mit einem Gesetze darüber gemacht werden.«

In dieser Sitzung schien es ihnen von der äußersten Notwendigkeit, Kinder und Eltern voneinander abzusondern; »denn«, sagte Amur-see, »die Verderbnis ist eine unverschämte buhlende Dirne; Man darf ihr nicht einmal ins Gesicht sehn, um nicht von ihr bezaubert zu werden. Unsre Kinder dürfen gar nicht wissen, daß so ein betrügendes Ungeheuer in der Welt ist.« Man faßte also eine Verordnung darüber ab, die unter allen am besten beobachtet wurde, weil man das, was sie anbefahl, zufälligerweise schon getan hatte, ehe sie gegeben wurde; denn da die Eltern mit ihrem Vergnügen zu sehr beschäftigt waren, als daß ihnen die Gegenwart ihrer Kinder nicht hätte lästig werden müssen, da man die Sorgfalt der Erziehung und die häuslichen natürlichen Freuden und Beschäftigungen seiner nicht würdig genug achtete, so wurden alle menschliche Kreaturen, sobald Vater und Mutter das ihrige getan hatten, um sie an das Tageslicht zu bringen, in den abgelegensten Teil des Hauses verwiesen und nach und nach einer Kinderfrau, einem Kinderwärter, einem sogenannten Lehrer usf. übergeben. Das Vermögen eines jeden war zu seinem Aufwande nicht zureichend, und daher blieb zur Belohnung eines solchen Mietlings nur ein notdürftiger Rest übrig, woher eine leicht einzusehende Folge entstund. Bei allem dem wurde doch die Verordnung des Amur-see und Samar-ka befolgt, welches gewiß nicht geschehen wäre, wenn es um der Verordnung willen hätte geschehn sollen.

Die beiden guten Männer wurden itzt erst gewahr, was sie schon längst hätten gewahr werden können, und freuten sich nicht wenig, durch ein Gesetz einen so schönen Anfang zu [104] Erreichung ihrer Absichten gemacht zu sehn, wofür sie doch eigentlich dem zufälligen Laufe der Dinge hätten danken müssen.

»Viel ist schon getan«, sagte Amur-see acht Tage darauf, »aber noch mehr übrig! – Wenn wir unsre Nachkommenschaft zu den erhabnen Tugenden unsrer Voreltern zurückbringen wollen, so müssen wir vor allen Dingen die körperlichen Anlagen zur Faulheit, Weichlichkeit, Bequemlichkeit, Wollust und andern itzt herrschenden Lastern schwächen, entfernen, hindern, die sie teils durch die natürliche Fortpflanzung geerbt haben, teils in der Folge von der verderbten Gesellschaft ihrer Mitbürger mitgeteilt bekommen könnten. Körperliche Anlagen werden durch die Speisen und die äußerliche Pflegung unterhalten oder befördert. Unser zweites Gesetz muß also die Diät und die Lebensart unsrer Kinder bestimmen.« Demzufolge verordnete man, »daß die Speisen der Kinder bis ins zwölfte Jahre höchst einfach sein und alles Fleisch der Tiere ihnen so sehr als den Juden das Schweinefleisch verboten sein und selbst von den erlaubten Vegetabilien nur eine gewisse mäßige Quantität täglich gereicht werden sollte. Ihr Getränk solle lauteres, zuweilen trübes, schmutziges Wasser sein und oft ganze Tage ohne Brot oder eine andere Nahrung von ihnen zugebracht werden. Wenn sie hungert«, hieß es im Gesetze, »so sage man ihnen: Du sollst itzt hungern! Wenn sie durstet: Durste bis morgen! Ihre Neigung und Empfindung soll nie ihr Wille sein und, wenn es ist, niedergedrückt werden. Ihr ganzer Körper muß die Witterungen jederJahrszeit tragen lernen: Man führe sie in Nässe und Kälte, in Hitze und Staub. Von ihren ersten Jahren an muß ihr Lebenslauf eine ununterbrochne Übung sein, den Beschwerlichkeiten der Natur und des Schicksals zu trotzen und Menschen zu werden, die es fühlen, von welchen Voreltern sie abstammen, bei denen die sinnlichen Triebe und [105] Leidenschaften glimmende Funken und die erhabnen politischen und moralischen Tugenden lodernde Flammen sind.«

Denen dies Gesetz zu Gesichte kam oder die es der Mühe wert achteten, sich damit bekannt zu machen – denn auch unter den Moahi war es gebräuchlich, unter Gesetzen zu leben und sie nicht zu kennen –, diesen wenigen war eine solche Kinderdiät ungemein will kommen. Man erhielt dadurch den Vorteil, seine Kinder aufs äußerste zu vernachlässigen und eben dadurch dem Gesetze Gnüge zu tun, den Aufwand der Erziehung zu vermindern, die Kinder wild aufwachsen zu lassen und sich dadurch das Lob eines Gehorsams gegen das Gesetz zu verdienen; andre genossen die Bequemlichkeit, unter dem besten Vorwande Kinder tot hungern und frieren zu lassen, die ihnen zur Last waren; genug, einem jeden, der das Gesetz zuerst befolgte, riet ein Vorteil dazu, den er sich nach seinen Neigungen dabei versprach, und keinem die Ursache, warum die Gesetzgeber es befolgt wissen wollten. Durch eine sonderbare Fügung mußten diese ersten gerade Männer von Ansehn sein, und im kurzen brachte es ihr Beispiel dahin, daß es bei dem air de qualité ein wesentliches Stück wurde, seine Kinder barbarisch zu behandeln. Alle, die auf dieses air nur den geringsten Anspruch machten, äfften den Vornehmern nach, erfüllten das Gesetz, ohne einen Buchstaben davon gesehn zu haben; die Vornehmern, um sich von den Geringern zu unterscheiden, trieben es immer weiter, und endlich kam es dahin, daß viele Familien ihre Kinder nach Maß und Gewicht füttern und wie Maschinen behandeln ließen, die keinen eignen Willen, sondern nur eine Bewegungskraft haben, die von dem Willen ihrer Aufseher wie von einer Schnure regiert wurde. Man sahe die vornehmsten Kinder bleich, hungrig, oft beinahe barfuß, in der schlechtesten Kleidung in dem häßlichsten Wetter durch die Gassen führen. Einige ließen sie sogar zu Stärkung ihrer[106] Zähne Leder kauen, und andre ersonnen ein Eisbad, in welches man sie nach einem gewissen Takte mit dem bloßen Hintern tauchte und mit einem Bade von siedendem Wasser abwechselte. Durch diese Kur wurden die sämtlichen Hinterteile des ganzen Staats so abgehärtet, als sie es kaum in Sparta und Kreta gewesen sein können. Andre ließen ihre Nachkommenschaft ohne Unterschied des Geschlechts auf den Köpfen stehn, auf Händen und Füßen kriechen, um ihre Körper an jede Lage zu gewöhnen, ohne daß dadurch der Umlauf des Geblütes gehindert würde. Ein Künstler erfand eine Maschine, die er die schöne Tortur nannte, wo den Kindern, wenn sie eine Feder berührten, sich ein ganzer Teller mit den lockendsten Konfitüren darbot und, wenn sie etwas davon nehmen wollten, ein Prügel hervor fuhr, der sie empfindlich auf die Hände schlug, und da kein einziges Lust bezeigte, zum zweiten Male dieses Spiel zu versuchen, so wurde es den Ammen, Aufsehern und Aufseherinnen als ein Teil ihrer Pflicht anbefohlen, täglich eine halbe Stunde diese Übung mit ihnen vorzunehmen. Ein andrer lieferte ein außerordentlich schönes Mädchen, das er die Wollust nannte, welches die Knaben umarmen mußten, wofür sie mitten in der Umarmung aus allen Öffnungen ihres Leibes mit Wasser über und über besprützt wurden. Der gesamte Menschenverstand der Nation arbeitete, die Erfüllung des Gesetzes zu erleichtern, daß, wenn man die Absicht gehabt hätte, eine Nation Taschenspieler zu erziehn, keine bessern Anstalten hätten vorgekehrt werden können. Einige sonst ziemlich verständige Leute folgten der Gewohnheit wegen der Neuheit der Sache, andre aus einfältiger, guter Meinung und machten es in der besten Absicht wie die Leute, die in Erwartung eines schleunigern Effektes ein ganzes Glas Arznei auf einmal verschlucken, wovon ihnen ihr Arzt nur stundenweise etliche Tropfen verordnet hat.

[107] Wenn die beiden Gesetzgeber über einen solchen Erfolg ihrer Verordnungen sich nicht hätten herzlich freuen sollen, so hätten sie nicht die Urheber davon sein müssen. Zwar sahen sie wohl die Übertreibungen und die lächerlichen Ungereimtheiten, zu welchen ihre gutgemeinten Vorschläge Anlaß gegeben hatten, mit Mißfallen, allein in ihren Augen waren dies Mißbräuche, die von dem größern gestifteten Nutzen weit überwogen wurden.

Je weniger sie einen so unbegrenzten Gehorsam von ihren Mitbürgern erwartet hatten, desto mehr wurden sie itzt aufgemuntert. Für die Körper der Nachkommenschaft und also auch für den Charakter, insofern jener auf diesen Einfluß hat, war gesorgt; die nächste Sorge gehörte dem Verstande. Sa-mar-ka, ein ungemein gütiger, leutseliger, sanfter Mann, der von dem lebhaftigen und beinahe heftigen Amur-see befürchtete, daß er, seine Nachkommen verständig zu machen, ebenso harte Maßregeln anordnen würde, als er gewählt hatte, sie tugendhaft zu machen, schlug sich sogleich auf eine freundliche Art ins Mittel und behielt sich die Abfassung dieses Gesetzes vor, so wie er bei dem vorhergehenden seinem Freunde freie Hand gelassen hatte. Amur-see war es zufrieden und billigte die Verordnung seines Gehülfen, ob er gleich ebenso fest überzeugt war, daß er vieles besser gemacht haben würde, als Samar-ka es bei den vorigen gewesen war.

Man befahl diesmal, »daß man aus der Erlernung der jugendlichen Wissenschaften keine Arbeit, sondern ein Spiel, einen Zeitvertreib machen sollte. Die Kinder und jungen Leute sollten Vernunft und Wissenschaft erlangen, ohne es selbst zu wissen. Alle Härte sei vom Unterricht entfernt, und der beste Lehrer sei derjenige, der seinen Schüler Kenntnisse ohne ein einziges schmerzendes Wort beigebracht hat.«

[108] Dieses Gesetz blieb in einer großen Dunkelheit. Die meisten Eltern wußten sich gar nichts daraus zu nehmen; denn alles, was darinne geboten wurde, mußte in der Stube geschehn, ohne daß eine Seele öffentlich ein Wort davon gesprochen hätte. Sonach überließen sie die Beobachtung desselben dem Gutdünken der Lehrer. Einige unter diesen, die unter Prügeln und Schmähungen das hatten werden müssen, was sie waren, und ein mitleidiges, gutes Gemüt besaßen, richteten sich gern darnach, weil sie auch ohne Gesetz ihren Untergebnen die Schmerzen würden erspart haben, die ihnen selbst so empfindlich gewesen waren; andre, von einem ungestümen und rachsüchtigen Charakter, gaben, des Gesetzes ungeachtet, ihren Lehrlingen die Schläge und Empfindlichkeiten mit Wucher wieder, die sie ehmals genossen hatten.

Endlich wurde einer der Stadtregenten, der bisher die meisten Bälle und Gastereien gegeben und darum das größte Ansehn hatte, durch eine nächtliche Erkältung krank. Weil in solchem Zustande nichts bessers für ihn zu tun war, durchblätterte er die Gesetze, die er während der alleinigen Staatsverwaltung der beiden Philosophen samt und sonders gebilligt und unterschrieben, aber noch nicht hatte lesen können. Er fand diese letzte Verordnung über die Erziehung, sie gefiel ihm, besonders der Einfall, daß der Unterricht einSpiel sein sollte. Ein Einfall brachte den andern in seinem Kopfe hervor, und er beschloß, ein solches Spiel zu ersinnen, das allen mündlichen Unterricht unnötig machte. Als er das erste Gastmahl wieder gab und noch so gute Diät halten mußte, daß er sich nur von sechs Schüsseln zu essen traute, war seine Erfindung und sein Werk schon zustande. Seine beiden sechs- und siebenjährigen Knaben bekamen es den Tag darauf zum Geschenke und setzten es unter den Tisch. Der Erfinder unterließ nicht, seines Werks bei jedem Gastgebote zu [109] gedenken, es jedermänniglich vorzuzeigen, und jedermänniglich, der nicht zum letzten Male bei ihm wollte gegessen haben, erhob Erfinder und Arbeit per omnes gradus compa-rationis. Einige trieben die Schmeichelei so weit, daß sie das Werk auf der Stelle abzeichnen und nachmachen ließen. Die weniger Vornehmen hätten eine solche Maschine, als sie allgemein wurde, um das schönste Gastgebot nicht entbehrt. Dadurch wurde die Gewinnsucht und der Erfindungsgeist der Künstler angefacht, und im kurzen waren Maschinen zu Erlernung der Wissenschaften der wichtigste Handel der Stadt und umliegenden Gegend.

Etliche unter diesen Erfindungen waren sehr sinnreich, andre ganz brauchbar und die meisten abgeschmackt. Man ersann Kasten, wo vermittelst der Umdrehung eines Rades alle Handwerkszeuge und Instrumente, von dem Ambosse bis zum Kurkzieher, alle Kleidungsstücke, Pantoffeln und Haarnadeln mit eingeschlossen, alle Essen und Getränke, das stinkende Wasser nicht ausgenommen, in Modellen und Abbildungen hinter einem Glase vorbeimarschierten, während daß sich in einem Kasten darunter ein angenehmes Orgelwerk hören ließ. Man verfertigte auch, die Erlernung der Sprache zu erleichtern, Sprachmaschinen, in Form der Trompeten, die dazu dienen sollten, die verschiedene Artikulierung der Töne in fremden Sprachen desto bequemer und schneller herauszubringen. Ein Marktschreier verkaufte sogar einen Schnupftobak, dessen öftrer Gebrauch die Wörter einer Sprache durch die Nase in das Gehirn führen sollte, indem jedes Korn so zubereitet war, daß es durch die Berührung der Nasennerven ebendieselbe Schwingung in den Ge-hirnnerven hervorbringen mußte, die erfoderlich ist, das Wort zu denken, welches ins Gehirn transportieret werden sollte, durch welches herrliche Mittel einhundertunddrei Söhne und Töchter ihr liebes bißchen Menschenverstand [110] [113]aus dem Kopfe weggenießt und keine Silbe von einer Sprache dafür hineinbekommen haben.

»Die menschlichen Kenntnisse«, lautete das vierte Gesetz, »sind einander untergeordnet wie die menschlichen Begebenheiten: Eine jede entsteht aus einer andern und bringt eine andre hervor. Die erste Rücksicht der Lehrer soll es also sein, die ersten Kenntnisse zuerst und die folgenden, wie jede aus der hervorgehenden herfließt, zu lehren.«

Quandoque bonus dormitat Homerus. Der ehrliche Sa-mar-ka mochte dieses Gesetz zum Schlusse einer Sitzung, wo jeder Magen nach dem Tische eilte, abgefaßt und die Einwilligung der übrigen verlangt haben. Auch machte es wegen seiner Zweideutigkeit nachdenkenden Leuten große Kopfschmerzen.

Im ganzen gefiel jene Vorstellung der Kenntnisse; sie stellt eine Sache, die sich selten jemand sinnlich denkt, sinnlich vor und erweckt zugleich eine Menge dunkle, unentwik-kelte Ideen – eine Art von Vorstellung, die anfangs allezeit gefällt. Da der erste Schwindel vorüber war, so fingen einige Grillenfänger an sich zu fragen: Welches sind denn die ersten Kenntnisse? In welcher Rangordnung müssen sie aufeinander folgen? – Einer antwortete: »Die einfachsten Begriffe sind die ersten, aus denen sich die übrigen, wie die Blätter aus einer Rosenknospe, nach und nach entfalten.« Diese fingen also an, ihren SchülernWesen, Substanz, Form, Figur etc. etc. zu erklären und daraus alle übrige Ideen herzuleiten, die aber alle ihren Weg neben den Ohren des Lernenden vorbei nahmen. – »Nein«, sagte ein andrer, »die ersten sind diejenigen, die bloß die Sinne affizieren.« Sie lehrten also ihre Lehrlinge nach der strengsten Ordnung riechen, schmecken, sehen, hören, fühlen, lehrten alsdann die Einbildungskraft, das Gedächtnis und endlich den Verstand; das heißt, sie sagten die Regeln her, nach welchen das Auge sieht, das Ohr hört [113] etc., die Einbildungskraft ihre Bilder zusammensetzt, der Verstand urteilt und schließt. Auch bei dieser Methode nahm der Unterricht den nämlichen Weg wie bei der vorigen. – »Ja«, sagte ein dritter, »sinnliche Ideen sind wohl die ersten, nur muß man den Schüler nicht die Theorie davon erklären, sondern sie ihm durch einen fleißigen Umgang mit den Gegenständen derselben beibringen.« Die Stuben derjenigen, die so dachten, wurden Behältnisse von Milcheimern, Hufeisen, Ofengabeln, Hammern, Zangen und andern ähnlichen sinnlichen Gegenständen, worunter ein jeder mit einem wohlausgesonnenen moralischen Denkspruche bekleistert war. Diese Methode hatte die Wirkung, daß es in den Köpfen der Schüler wie in ihren Stuben aussah. – »Weg mit allem dem«, rief ein vierter, »die ersten Kenntnisse sind diejenigen, die ich dazu mache.« – Er schrieb ein großes Buch darüber, ließ reichlich pränumerieren und reichlich drucken. – »Ihr guten Leute«, sprach endlich einer, »macht es doch mit euerm Kopfe wie mit euerm Magen! In diesen stopft ihr alles hinein, was er nur bearbeiten kann, ohne eine Rangordnung unter den Speisen zu machen: nach der Muttermilch und in jungen Jahren wenig und allmählich immer mehr, und dabei sorgt ihr nicht, ob sich das Genoßne gehörigerweise in Blut, in Fließwasser, in Drüsensaft nach und nach verwandle, sondern das überlaßt ihr dem Magen. Ist dieser gut, so gehn alle diese Verrichtungen von sich selbst vonstatten, taugt er nichts – was wollt ihr denn dabei tun? – Höchstens könnt ihr sorgen, daß er nicht schlechter wird, solange es geht. Pfropft in den Kopf hinein, was er nur in jedem Alter verdauen kann, und was er zuerst verdaut, das sind die ersten Kenntnisse, die erste Masse zu seinen künftigen. Der ganze Gang der denkenden Kräfte ist so: Wir sammeln ein, und in dem guten Kopfe stellt sich alles von selbst in Ordnung, und je mehr der eingesammelte Vorrat zunimmt, je mehr nimmt [114] das Vermögen, ihn zu bearbeiten, zu. Sorgt nicht sowohl dafür, daß die Köpfe eurer Schüler vollgestopft werden, das ist für Kopf und Magen keine gute Diät, sondern über ihre Kräfte; denn Gelehrte können in geringer Anzahl, aber gute, gesunde, geübte Köpfe müssen in Menge dasein, wenn dem Staate geholfen werden soll.« –

Mich deucht, der Mann hatte nicht ganz unrecht. –

Es wurden noch verschiedene andre Verordnungen, besonders in Ansehung der fremden Sprachen, und alle auf den nämlichen Schlag gemacht; alle hatten die Absicht zum Grunde, der Jugend den Unterricht angenehm zu machen und sie, wie man sich schmeichelte, durch diese Mittel dafür einzunehmen.

Endlich besann sich Samar-ka oder wurde vielmehr gewahr, daß der größte Teil der bisherigen Lehrer von dem Auswurfe des Volks aus ökonomischen Gründen hergenommen wurde, daß diese Beschäftigung dadurch in eine große Verächtlichkeit geraten war und darum kein Mensch von Talenten und Geschicklichkeiten sich dazu begab, der nicht durch widrige Umstände gleichsam darein verstoßen wurde. Die besten Gesetze, sagte er sich, müssen daher ohne Frucht sein, weil dieser elende Haufe teils zu träge, teils zu ungeschickt ist, sie mit Vernunft und Überlegung ins Werk zu setzen. Man muß dem Staate eine hinlängliche Anzahl guter Lehrer bilden und durch Ehre und Belohnungen Genies anlocken, sich dazu bilden zu lassen. Es ist eine Sache, die den Vorteil des ganzen Staats betrifft! Der Staat muß also die Unkosten der Anstalten tragen.

Der Winter war inzwischen unter vielen Freuden verstrichen. Eine Schauspielergesellschaft, worunter etliche nicht zu verachtende Gesichter und des Abends lauter Schönheiten waren, war in dieser Republik etwas so Neues, und die galanten Sächelchen, die man sie auf dem Theater täglich sagen [115] hörte, hatten der Einbildungskraft aller Einwohner einen solchen Schwung gegeben, daß jedermann vom Wirbel bis auf die Fußzehe ganz Liebe, Gefühl und Galanterie war. Diese Theatergrazien hatten sich, wie man vorgab, durch die ungesunde Luft der Stadt und besonders durch einen starken Windzug des Komödienhauses, welches die Schuld des Baumeisters war, viele Unpäßlichkeiten, besonders starke Beklemmungen, zugezogen, die sie nötigten, zu Anfange des Frühlings das Bad zu gebrauchen. Die Herren, die am Ruder der Stadt saßen, fühlten sich gleichfalls mit Husten, Engbrüstigkeit, Mattigkeit in allen Gliedern, Schwindel, Entkräftungen und tausend andern Übeln befallen, daß sie unvermeidlicherweise das Ruder ganz und gar aus den Händen legen und sich in die nämliche Kur begeben mußten. Ehe die Abreise geschah, hielt es Samar-ka nebst seinen Freunde für nötig, in der letzten vollzähligen Versammlung nach kollegialischem fleißigem Erwägen den Schluß zu einer Pflanzschule für gute Lehrer fassen zu lassen, wozu sie beide schon einen Plan entworfen hatten, der nicht mehr als funfzigtausend Liwar zu seiner Ausführung erfoderte. Sie hatten das Zutrauen nicht, daß ihre Kollegen aus Einsicht und Billigung einstimmen würden, sondern verließen sich ganz auf die bisherige Faulheit, aus welcher sie alle ihre Gesetze genehmigt hatten. Wie sahn sie einander verwundert an, als alle mit einer Stimme riefen, daß man sich in dergleichen weitaussehende Unternehmungen dieses Jahr gar nicht einlassen könne, weil sich ein Bau gefunden hätte, der die äußerste Beschleunigung verlangte. – »Und welcher Bau kann wichtiger sein?« fragte Samar-ka. – »Unser Komödienhaus muß von Grund auf gebauet, erweitert werden, es sind neue Dekorationen nötig, neue Ermunterungen für die Unternehmer der Redouten; alles dieses muß diesen Sommer fertig werden, und zwar sobald die Gesellschaft aus dem Bade zurückkömmt. [116] Das kostet Geld! Wie kann man da auf den Einfall kommen, unnütze Geldverschwendungen anzufangen!« –

»O unglückliche Moahi!« rief Amur-see und wollte sein Amt niederlegen, welchem Beispiele sein Freund folgte.

»Also sind kleine Summen, die auf die Erziehung der Nachkommenschaft verwendet werden, Verschwendungen und ungleich größre, die ihr dem Vergnügen aufopfert, nützliche Ausgaben?« rief Amur-see noch einmal, faßte seinen Freund bei der Hand und wollte den Saal mit ihm verlassen.

Was sollte man also tun? – Die Reise ins Bad war äußerst dringend, und der ganze Plan der Sommerlustbarkeiten wäre verrückt worden, wenn man diese beiden Männer von ihrem hartnäckigen Eigensinne nicht hätte zurückbringen können. Man lief ihnen nach, man bat sie, man beschwor sie bei der Wohlfahrt des Staates, ihren Entschluß aufzugeben und die Verwaltung des Regiments wenigstens den Sommer hindurch noch zu übernehmen; alsdann sollten sie derselben entledigt werden, um ihre Tage in einer rühmlichen Ruhe zu beschließen. Man kitzelte ihre Eigenliebe so lange, bis sich die Rechtschaffenheit von ihr bereden ließ, etwas von ihren strengen Rechten zum Besten des Staats nachzugeben. Sie wurden unter einem all gemeinen Zurufe zu ihren Sitzen zurückgeführt und erhielten das Versprechen, daß man, sobald nach der Rückkunft derer, die itzt zu verreisen gedächten, eine Versammlung in pleno gehalten würde, es als die angelegenste Sache behandeln wolle, einen Fonds zu Bestreitung der 50 000 Liwar auszumachen, daß man unterdessen Anstalten machen könne, die Materialien anzuführen, damit, sobald der Fonds entdeckt wäre, ungesäumt zum Baue des vorgeschlagnen Lehrerseminariums geschritten werden möchte.

Die beiden ehrlichen Patrioten waren so gütig, sich damit abspeisen zu lassen. Die Badekur ging glücklich vonstatten; [117] jedermann kam wohlgestärkt und in freudiger Hoffnung zurück, ein Schauspielhaus zu finden, das den verloschnen Glanz ihres Vaterlandes in eine lichterlohe Flamme bringen würde; aber – welches Erstaunen! – statt eines Komödienhauses fand man ein Lehrerseminarium, auf das beste eingerichtet, und die Summe, die von dem zum Komödienhause bestimmten Gelde überschüssig gewesen war, zu Besoldungen der Unterweisenden und Belohnungen der Lernenden angewendet. Diese Täuschung einer so großen Hoffnung brachte bei allen Zurückkommenden das Blut in die heftigste Wallung, und nicht viel fehlte, so hätte die ganze Badekur dadurch vernichtet werden können.

Es half nichts, man mußte sich in Geduld fassen und sich bei der nächsten Gelegenheit rächen. Diese gab die gegenwärtige Sache selbst an die Hand. Man klagte den Amur-see und seinen Gefährten an, daß sie die Grundgesetze des Reichs umgestoßen und etwas eigenmächtig getan hätten, wozu sie die Einwilligung des ganzen Senats abwarten mußten. Das Volk hörte, daß die Beklagten schuld daran wären, daß sie den ganzen Winter ohne Komödie leben müßten, und man drang auf ihre Bestrafung, die nicht allzulange darauf erfolgte: Sie wurden beide auf immer aus der Republik verwiesen.

Sie gingen beide großmütig fort und freuten sich, ihrem Vaterlande die Wirkungen ihres Patriotismus zu Beschämung seines Undankes zurückzulassen.

[118]

Zweites Bändchen

[119][121]

Vorbemerkung

Obgleich der Titel auf die in diesem Bändchen enthaltnen Stücke wenig oder gar nicht paßt, so hat man ihn doch um der Käufer willen nicht verändern wollen, und der Verfasser wird es seinen Lesern gern vergeben, daß sie sich mit seinem Titel entzweien, wenn sie nur mit ihm und seinem Buche in guter Freundschaft bleiben.

W ...l [121]

Die Unglückliche Schwäche
Eine Geschichte

Bei einem Mittagsessen in dem Hause der Gräfin D. sahe der Herr Leclerc, der für diese Dame verschiedene Wechselgeschäfte besorgte und darum oft bei ihr speiste, die älteste Tochter des H. von F ..., eines armen Edelmanns, der in dem letzten französischen Kriege geblieben war und seinen Töchtern nichts als den für sie lästigen Vorzug der Geburt hinterlassen hatte; sie sehen und sich verlieben war eins; Herr Leclerc hielt um sie an, und nach einigen Schwierigkeiten war sie ein Vierteljahr darauf mit ihm getraut. Dem Manne schien nunmehr nichts weiter zu fehlen, um so glücklich als beneidenswürdig zu sein. Seine Handlung war in dem herrlichsten Stande, weitläuftig, von dem besten Rufe, und die mannigfaltigen Verbindungen, worinnen er andern mit seinem Gelde oder Kredite nützen konnte, verschafften ihm ein gewisses Ansehn, das ihn in die Gesellschaft der vornehmsten Häuser brachte, wo sich jedermann befleißigte, ihm mit der größten Achtung zu begegnen, weil jedermann sein Schuldner war. Itzt kam zu diesen günstigen Umständen eine Gattin hinzu, die, wenn er auch ihre Geburt von seinem Vermögen [122] aufwägen lassen wollte, ihm doch einen Schatz von persönlichen Vortrefflichkeiten mitbrachte, wofür sie kein Äquivalent von ihm erhielt; er besaß alles, womit ein jeder zu seinem Glücke vorliebnehmen würde, und doch fehlte ihm alles: Der Mann hatte eine zu weite Seele. Sie war ein wirklicher Abgrund, in welchen das Schicksal alle seine Herrlichkeit werfen konnte, ohne ihn jemals zu erfüllen; es blieb beständig ein leerer Raum übrig, und da unglücklicherweise seine Begierden unaufhörlich arbeiteten, die Lücke voll zu machen, und doch, wenn sie voll schien, sich sogleich wieder eine neue öffnete, so bestund sein ganzer Lebenslauf in der immerwährenden Bemühung, ein Herz wie das Sieb der Danaiden auszufüllen. Sein Kopf war daher gleichsam eine Niederlage von Entwürfen und Projekten zu seiner Vergrößerung, die oft so weit hinaussahen, daß ihre Ausführung nach aller Wahrscheinlichkeit zeitlebens verschoben bleiben mußte.

Bei seiner Bewerbung um das Fräulein F ... machten es ihre Anverwandten, weil sie seinem Vermögen nicht widerstehn konnten, zur vorzüglichsten Bedingung, daß er sich adeln lassen sollte. – Sein übermäßiger Stolz nahm die Bedingung mit Freuden an, allein – wer sollte das vermuten? – das Fräulein setzte sich dawider, und zwar aus einem raffinierten Stolze: Sie wollte sich vermutlich dadurch einen Schein vonVernünftigkeit geben, daß sie einen solchen Vorzug ebenso leicht wegwerfen konnte, als ihn andre gierig zu erhaschen suchten; vielleicht wollte sie auch die Welt dadurch belehren, daß sie sich mit ihrem persönlichen Werte genug zu glänzen getraute, ohne einen fremden zu borgen; genug, auf ihr dringendes Bitten unterließ der Herr Leclerc, sich den Adel zu erkaufen, ob er gleich mit schwerem Herzen darein willigte.

Diese Unterlassung war für ihn die Ursache einer immerwährenden [123] Beunruhigung: Er konnte sich nicht anders als wie einen Schuldner betrachten, dem seine Gemahlin die Ehre angetan habe, ihn zu heiraten, ohne etwas anders dafür zu bekommen als einen Mann ohne Stand, und er wollte doch gern, daß sieihm schuldig sein sollte. Aus dieser Kränkung seines Stolzes entstund unmittelbar nach seiner Vermählung eine gewisse zurückhaltende komplimentenreiche Kälte, die sich natürlicherweise gar bald auch seiner Gemahlin mitteilen mußte. Wenigstens konnte ihre Liebe, wenn sie auch noch so groß gewesen wäre, sich an seiner steifen Höflichkeit nicht hinlänglich erwärmen, um in Flammen auszubrechen. Sonach verstunden beide einander unrecht: Sie hielt seinen Kaltsinn für Bürgerstolz und er den ihrigen für Ahnenstolz, und diese Voraussetzung äußerte sich auf seiner Seite zuerst durch lautes offenbares Mißvergnügen, wodurch es nach einigen kleinen Verdrießlichkeiten dahin kam, daß beide ganz abgesondert aßen, tranken und schliefen und sich nicht anders sahen, als wenn sie sich im Hause unvermeidlich begegneten, welches noch sehr selten geschah.

So ruhig während dieser Zeit die Frau Leclerc ihre Stunden mit Lesen und weiblichen Arbeiten zubrachte, so unruhig war jeder Augenblick für ihren Mann. Er liebte sie wahrhaftig, und wenn nicht der Stolz seine Zärtlichkeit daniedergedrückt hätte, so würde er nie den mißlichen Schritt getan haben, sie seine Unzufriedenheit so deutlich fühlen zu lassen. Allein der Stolz hatte den Schaden angerichtet; er mußte ihn also wiedergutmachen. Seine Zärtlichkeit arbeitete sich während jener Absonderung wieder empor; er wünschte wieder mit ihr zu leben, und da dieses nicht geschehen konnte, wenn er sich nicht die Grille aus dem Kopfe schaffte, daß sein Stand ihn in ihren Augen verächtlich mache, so beschloß er ohne ihr Vorwissen sich den gräflichen Titel zu kaufen, um[124] damit ihren vermeintlichen Stolz auf ihren Adel gleichsam zu überbieten und zum Stillschweigen zu bringen.

Zur Ausführung seines Projektes bediente er sich eines Abenteurers, der sich während jener Uneinigkeit unter dem Namen eines Grafen von Z. in sein Haus eingeschlichen hatte. Ein Mann war es, der mit allen Großen und Vornehmen in der Welt die genauste Verbindung zu haben vorgab und, wo er sie nicht hatte, sie doch durch seine Dreistigkeit und Zudringlichkeit sehr leicht erlangte. Durch keine andern Mittel hatte er sich in die Bekanntschaft des Herrn Leclerc gebracht, dem er sogleich, seine Dienstleistungen bei allen Potentaten unter der Sonne anbot, und der leichtgläubige Mann, der seinen Eigendünkel durch diese Freundschaft mit den herrlichsten Aussichten geschmeichelt sah, ließ sich alles von ihm bereden und würde ihm Glauben beigemessen haben, wenn er ihm gleich einen Platz auf dem chinesischen Throne versprochen hätte. Indessen daß er so den Mann mit goldnen Vorstellungen von künftiger Größe hinterging und keinen geringen Vorteil aus seiner freigebigen Leichtgläubigkeit zog, so machte er unterderhand Anstalt, einen heimlichen Roman mit der Frau anzufangen, welches die einzige Absicht war, warum er sich in das Haus einzuführen gesucht hatte. Obgleich die Natur für gut befunden hatte, ihn mit einer Gestalt zu begaben, die auch die schwachherzigsten Frauenzimmer vor dem Unglück, sich in ihn zu verlieben, bewahren konnte, so trug er doch zu der Stärke seines Witzes und seinen rednerischen Talenten das feste Vertrauen, daß sie ihn bei allen möglichen Liebesoperationen hinlänglich unterstützen und zum Sieger machen würden, und da ihm etlichemal ich weiß nicht welches günstige Ohngefähr seine Absichten hatte gelingen lassen – was er nicht seinem guten Glücke, sondern seiner großen Geschicklichkeit zuschrieb –, so hoffte er dreist, daß sie ihm nie fehlschlagen könnten, und [125] unternahm deswegen die größten Wagestücke in der Liebe, woran sich auch ein Mann mit allen Vorteilen der Figur nicht anders als behutsam gewagt hätte. Ein solches Wagestück war auch der vorhabende Versuch bei der Frau Leclerc, und er durfte sich nicht wundern, daß er nur sehr langsam darinne fortschreiten konnte.

Die Frau Leclerc – um bei dieser Gelegenheit den vornehmsten Zug ihres Porträts zu geben – war im Grunde weder untüchtig noch ungeneigt zu solchen verliebten Unternehmungen, denn lieben mußte sie; ihr Herz war von Natur zur beständigen Empfindung gestimmt, und sie befand sich also gegenwärtig, da sie ihren Mann nicht lieben konnte, in einem wirklichen Bedürfnisse nach einem Gegenstande, dem sie ihr vakantes Herz zuwenden konnte. Aber weit gefehlt, daß ihre Liebe von einer Stärke des Gefühls, einer zu hoch gespannten Empfindungskraft herrührte! Nein, es war vielmehr eine übertriebne Weichheit des Herzens, das keinem einzigen Eindrucke widerstehn konnte und jederzeit dahin gerissen wurde, wohin es der gegenwärtige Stoß trieb, und ebenso leicht sich den Augenblick darauf wieder auf die entgegengesetzte Seite hinziehen ließ. Diese unglückliche Schwäche allein machte die vielen und großen Vergehungen möglich, die sie bei aller Güte des Charakters in der Folge beging, und versprach auch itzt dem Grafen Z. einen glücklichen Erfolg und würde ihm doppelten Mut gegeben haben, wenn ihn seine Liebe etwas mehr gelehrt hätte, als daß die Frau Leclerc anbetenswürdig war.

Kaum hatte der Liebesritter in Erfahrung gebracht, daß ihr Mann entschlossen sei, sich und seine liebe Ehefrau mit einem höhern Stande zu beschenken, als er vor Freuden die Hände zusammenschlug, daß ihm eine so günstige Gelegenheit zur Ausführung seines Plans aufstieß, und der Gang seiner vorhabenden Unternehmung war ihm von den Umständen [126] selbst gleichsam vorgeschrieben. Er mußte dem ehrgeizigen Manne in seinem Verlangen nach der Standeserhöhung behülflich sein, um sich auf immer in seiner Gunst zu befestigen und zu gleicher Zeit allen künftigen eifersüchtigen Argwohn dadurch unkräftig zu machen; alsdann, wenn der Wille des Mannes befriedigt war, mußte der glimmende Unwille der Frau angefacht, zur Flamme gebracht und alle Rückkehr zur Versöhnung mit dem Manne unmöglich gemacht werden; da man ihr Herz durch jeden Eindruck leicht formen konnte, wie man beliebte, so mußte er es zum voraus wider das Geschenk eines höhern Standes einnehmen, wodurch sie ihr Mann wiedergewinnen wollte, ihr die Handlung ihres Mannes als eine Torheit und wohl gar als eine Beleidigung vorstellen, daß er zu ihrer Vernünftigkeit, worauf sie sich ungemein viel zugute tat, nicht Zutrauen genug habe, um ihre Liebe zu erwarten, ohne seine Zuflucht zu einem so elenden Hülfsmittel zu nehmen; ihr Mann mußte ihr durch eine solche Vorstellung wirklich verächtlich und womöglich verhaßt werden – ein guter Grund, worauf sich leicht weiter bauen ließ! Und um seine öftern Besuche desto ungehinderter und ohne Verdacht fortzusetzen, mußte er sich bei dem Manne das Ansehn einer Mittelsperson zu ihrer Aussöhnung geben. – So mußte er natürlicherweise verfahren, und kaum hatte er dies Ganze bei sich überdacht, als er ohne Verzug Hand an das Werk legte.

Der erste Schritt, den er tat, ging dahin, daß er die Frau Leclerc von dem Vorsatze ihres Mannes unterrichtete und ihn in dem widrigsten Lichte vorstellte. – »Madam«, sprach er eines Abends, als er bei ihr auf dem Sofa saß, »Sie werden in wenig Wochen eine Gräfin sein. Ihr Mann glaubt Ihren Stolz beleidigt zu haben, daß er Ihnen statt eines Namens, den so viele edle Vorfahren führten, nur einen kahlen bürgerlichen gab; er will ihren Verlust ersetzen und ist itzt im [127] Begriffe, sich selbst einen Titel zu verschaffen, der Sie zu seiner Schuldnerin machen soll. Sie opferten ihm Ihren Adel auf, und er will Ihnen nicht allein diesen, sondern auch noch einen Überschuß hinzugeben, um mehr gegeben als empfangen zu haben. Ihnen, die Sie aus Vernunft und Überlegung einen Rang aufgaben, den Sie mit leichter Mühe erhalten konnten, muß nach Ihrer bekannten Delikatesse in dem Punkte der Ehre ein so toller Ersatz höchst verächtlich scheinen, zumal da er aus einer für Sie so entehrenden Voraussetzung herfließt, die sich nicht mit der mindesten guten Meinung von ihrer persönlichen Vortrefflichkeit verträgt. Was für einen niedrigen Begriff muß man von Ihrer Vernunft und Ihrer Ehrliebe haben, wenn man Ihnen Liebe und Versöhnung um einen so elenden Preis abkaufen will? Mir würde ein solches Verfahren entweder ein Versuch scheinen, meine Grundsätze der Ehre, meine Vernunft auf die Probe zu stellen, oder ein Scheinvergleich, den man mir nur anböte, um ihn angeboten zu haben und mir alle Gelegenheit zur Rechtfertigung zu benehmen und mich in den Ohren der Welt als eine Eigensinnige, Hartnäckige zu verschreien, die die Urheberin der Uneinigkeit sein muß, weil sie alle Vermittelung von sich weist. – Kurz, dieser vorgebliche Ersatz Ihres Verlustes ist ein listiger Anschlag, Sie in Ihren Augen, in den Augen Ihres Mannes und der ganzen Welt zu erniedrigen unter dem Scheine, Sie zu erhöhen.« –

Die Rede, die er unter verschiedenen ähnlichen Wendungen noch länger ausdehnte, tat ihre gewünschte Wirkung; je gewisser Herr Leclerc das Mittel ausgefunden zu haben glaubte, sich mit sich selbst und mit seiner Gemahlin wieder einig zu machen, je gewisser war es nunmehr nach jener falschen Eingebung, daß er das Mittel gewählt hatte, alle Einigkeit auf immer aus ihrer Ehe auszuschließen.

Der Graf Z. trat unmittelbar darauf seine Reise an, die verlangte [128] Standeserhöhung zu bewerkstelligen. – Herr Leclerc wurde baronisiert, und nicht lange darauf sahe er sich durch die Vermittelung seines Freundes und ansehnliche Aufopferungen von einem gewissen Hofe zum Grafen erhoben. Kaum hatte er das Diplom erhalten, als er zu seiner Gemahlin flog, die der Graf Z. schon zu diesem Auftritte vorbereitet hatte, und es ihr mit Ehrerbietung überreichte, und zwar mit dem Zusatze, daß er ihr hier einen Titel schenke, um ihm durch die persönlichen Vortrefflichkeiten seiner künftigen Besitzerin einen Wert mitteilen zu lassen. »Wir wollen wieder ganz Mann und Frau sein«, fügte er hinzu; »Sie sollen der Unrecht leidende Teil sein, und ich will Sie beleidigt haben, ich will es Ihnen abbitten, und Sie sollen mir vergeben. Mag doch unser Mißverständnis entstanden sein, woher es will, es soll auf immer vergessen sein, und nie möge ein neues unsre Einigkeit trennen! Ohne Sie zu lieben, hätte ich einen solchen Schritt zur Aussöhnung nicht getan, und ich beschwöre Sie bei dem Reste Ihrer Liebe, daß Sie den Titel, den dieses Papier auch Ihnen erteilt, bloß als ein Denkmal unsrer Versöhnung annehmen; der Anfang unsers gräflichen Standes soll mir das Datum sein, mit welchem die glückselige Periode unsrer erneuerten Liebe anfängt, und nur der Tod soll das Datum sein, wo sie schließt.« – Mit diesen Worten verband er eine feurige Umarmung, die die verwirrte Ehefrau aus aller Fassung brachte; ihr weiches Herz vermochte einer so sichtbaren Zärtlichkeit nicht zu widerstehen, seine Liebkosungen überwältigten sie, sie erwiderte seine Umarmung und setzte, um ihm nicht in der Großmut zu weichen, hinzu: »Ich will unrecht haben, ich will Beleidigerin heißen, und unsre Versöhnung soll mit diesen Worten unterzeichnet sein, ob ich gleich tausend Ursachen hätte, Sie wegen eines Geschenkes zu hassen, das ich verachten gelernt habe.« – Er beschwor sie; seine Umarmung wurde feuriger, seine Zärtlichkeit [129] aufwallender und der ganze Mann ein so lebhaftes Bild der Reue und verliebter Demütigung, daß ein minder weiches Herz hätte augenblicklich gewonnen werden müssen; um soviel mehr mußte ein solcher Anblick seine Gemahlin überwältigen; sie fiel ihm um den Hals und weinte – eine Szene, wobei der Graf nichts tun konnte als vor Ärger an den Fingern nagen, die Lippen einbeißen und mit höchst alberner Miene zur Wiederversöhnung Glück wünschen!

Der Plan des Grafen war nicht vereitelt, sondern nur weiter hinausgeschoben; sosehr sich auch die beiden Eheleute zu lieben schienen, weil der beruhigte Stolz des Herrn Leclerc ihn itzt den gefälligsten, zufriedensten Manne sein ließ, so versprach doch seine Veränderlichkeit und die üble Laune seiner unersättlichen, immer höher strebenden Begierden dem lauschenden Hinterlistigen tausend Gelegenheiten, wo es leicht werden konnte, die anscheinende Stille in lauten Sturm zu verwandeln; er betrog sich nicht.

Der Ehrgeiz des neuen Grafen empfand bald, daß die gehofften Glückseligkeiten seines angenommnen Standes in dem Genusse minder groß waren als in der Erwartung; seine Mitbürger verachteten aus Neid einen Mann, der sich seiner Gleichheit mit ihnen geschämt hatte, und versagten ihm desto mehr die Ehrerbietung, welche er verlangte, je mehr er zu erkennen gab, daß er sie vermißte; auch war es wirklich unmöglich, sie ihm in einem noch so großen Maße zu geben und nicht immer nach seiner Rechnung ihm ebensoviel schuldig zu bleiben. Was war natürlicher, als daß die Ehrsucht des Mannes, der in seiner stolzen Hoffnung so außerordentlich betrogen wurde, die ganze Stadt mit allen ihren Einwohnern hassen mußte, wo jedermann zu dumm oder zu plump, ungeschliffen und ohne alle Lebensart war, um das erkaufte Verdienst seiner neuen Größe gehörig zu ehren. Eine so hintergangne Erwartung konnte nichts anders als Unzufriedenheit, [130] Verdrüßlichkeit, Unwillen erzeugen, und bei ihm war sie hinreichend, seinen ganzen Mut niederzuschlagen, ihm das Leben zu verfinstern, keine Freude fühlen zu lassen und ihn selbst gegen diejenigen, die er liebte, gegen Gemahlin, Kinder und Freunde unleidlich, mürrisch und unverträglich zu machen, oder vielmehr der Unwille und Verdruß bemeisterte sich seiner so sehr, daß er gar nichts mehr lieben konnte. Seine Freude war jederzeit nur ein starker, aber schnell vorübergehender Sonnenblick, den ihm eine Befriedigung seines Stolzes ablockte, den die Unterbrechung solcher Befriedigungen schon verdunkelte, und itzt, da sein Ehrgeiz eine so heftige Drangseligkeit ausstehen mußte, wurde der ganze Horizont seiner Seele völlig in schwarze Donnerwolken eingehüllt; er wurde wieder der nämliche harte, ungefällige Ehemann, der er vor der Erlangung des Grafenstandes gewesen war.

Welche günstige Umstände für den Grafen Z.! – Hurtig! Der Gräfin dies wunderliche Betragen von der schwarzen Seite vorgestellt! Für sie angreifende Ursachen dazu erdichtet! – Ursachen, die sie aufbringen, die sie überreden müssen, daß sie gekränkt wird, daß sie Unrecht leidet! und die Sache ist zur Hälfte getan, die Uneinigkeit wiederhergestellt. – So machte es der Graf Z., und so gelang's ihm.

Die beständig nagende Unruhe, Verdruß, Unzufriedenheit wurden dem Grafen von Longueville – diesen Namen hatte der Herr Leclerc angenommen – endlich so lästig und sein Verlangen nach Ruhe, das heißt beiihm, nach Nahrung für den Stolz, so überwältigend heftig, daß er beschloß, seinen Aufenthalt zu verändern und sich mit seinem Vermögen an einen Ort zu wenden, wo man ihn nur als Grafen und nicht als geadelten Kaufmann kannte und ihm darum ohne Neid, ohne Mißgunst die gebührende Ehre in dem Grade, wie er sie wünschte, erzeigen würde. Der Entschluß war gefaßt, [131] und ohne seiner Gemahlin oder dem Grafen Z. seine Absicht zu entdecken, reiste er ab, einen solchen Ort zu suchen.

Dieser Mangel an Zutrauen war für den letztern schon ein hinlänglicher Bewegungsgrund, ihn wider den Grafen von Longueville zu reizen, besonders da er vorher der unumschränkteste Vertraute desselben gewesen war und also itzt bei einer so plötzlichen Änderung der Freundschaft besorgen mußte, daß sein Freund auf die Spur seines Anschlages auf die Gräfin gekommen sei, welches ihm das Bewußtsein seiner Absichten höchstwahrscheinlich machte. Er mußte eilen, die Abreise des Grafen auf alle Weise zu nützen, seine Verschwiegenheit gegen seine Gemahlin als die häßlichste Treulosigkeit abzumalen, den ganzen Rest von Liebe in ihr niederzustürzen und sich in ihrem Herze festzusetzen. Das Spiel wurde also sehr ernsthaft: Es war nicht mehr eine verliebte Komödie, ein Roman, sondern das hitzigste Schauspiel, worinne Rache, Eigennutz, List auf seiten des Grafen die obersten Rollen hatten; er wollte durch alle Künste die Gräfin zu einer Untreue gegen die Gesetze des Ehestandes bewegen, zwingen oder, wie es sonst tunlich wäre, nicht aus Wollüstigkeit sie zu genießen, sondern aus List sie durch eine solche Handlung fest an sich zu knüpfen und ihre beiderseitige Sache zu einer und derselben wider ihren Gemahl zu machen, den er nunmehr haßte. Allein dieser Haß war nicht bloß die Folge von dem Unwillen über das Mißtrauen des Grafen gegen ihn, sondern eine Gärung, die der Eigennutz schon lange in ihm unterhalten hatte. Der Graf von Longueville war in seiner unmutigen Laune weniger freigebig, schlug seinem Freunde jede Bitte und oft mit Härte ab, begegnete ihm mit stolzer Kälte und ließ es ihn überhaupt fühlen, daß er ihm Verbindlichkeiten auferlegt zu haben glaubte. So lag der Haß als Embryo seit langer Zeit in dem Herze des Grafen Z.

[132] und brach itzt als eine reife Geburt hervor, und wie der Gräfin eigner Bericht an eine ihrer Freundinnen beweist, so erlag ihre Tugend in dieser Periode unter den Nachstellungen des listigen Mannes. Wie es geschah, soll uns ihre eigne Aussage belehren, die sie als Matrone in einem Briefe an jene Freundin tat. Hier ist er:

»Wenn ich sagte, daß ich meine Tugend als ein unschuldiges, reines Mädchen in ein Alter von funfzig Jahren mitgebracht habe, so wäre ich Ihrer Offenherzigkeit nicht wert, und Zunge und Feder würden sich widersetzen, eine solche Unwahrheit auszubreiten. Sie ist nur einmal gefallen, gefallen unter den Händen des listigsten Nachstellers, aber zu meinem Unglücke war dies einmal genug. Dies Vergehen war von einer Kette, die bis zu meinen gegenwärtigen Tagen der Ruhe reicht, das erste Glied, das der Verbrecher ergriff, um mich durch unzählbare Martern, neue Vergehungen und neue Unglückseligkeiten hindurchzuschleppen, und wenn ich überlege, wie ihm dies gelang – Gott! denke ich alsdann, welch ein verächtliches, elendes Ding ist menschliche, besonders weibliche Tugend! Eine Feder, die von tausend Winden nach tausend Richtungen hingetrieben wird, von jeder Luft einen Stoß empfängt und durch ein kleines Windchen niedergeblasen wird! Bei dem Nachdenken über meinen Fall schäme ich mich vor mir selbst, daß so nichtsbedeutende Ursachen ihn bewirken konnten, so nichtsbedeutende, daß sie mir oft ganz verschwinden und ich gefallen zu sein scheine, ohne sagen zu können, wodurch. Der Mann hatte nicht das mindeste Einnehmende, das mich entschuldigen könnte und das oft unser Herz schon weggerissen hat, ehe die Vernunft mit ihrem Rate dazwischenkommen kann; er war ungestaltet – Sie haben ihn ja gesehn, den Grafen Z., und das ist mehr als mein Gemälde; aber der Schlaue hatte eine Gabe, ein feines, einschleichendes Talent, die Augen gegen alle seine [133] Häßlichkeiten zu blenden, sich mit seiner Zunge, seiner Dienstfertigkeit und seiner unermüdlichen Aufmerksamkeit auf alle meine Verlangen, ja auf die kleinsten Wünsche in das Herz hineinzuschwatzen und dann trotzig mich herauszufodern: Vertreibe mich! Ich vergaß allmählich, daß der Mann nicht schön war, meine Sinne verschlossen sich vor allen widrigen Eindrücken, und ich würde gezürnt haben, wenn ihn jemand häßlich genannt hätte, ob ich ihn gleich nicht widerlegen konnte. Bei dieser Verfassung meiner selbst verreiste mein Gemahl, ohne mir die Ursache seiner Reise zu entdecken. Ich war schon wider ihn aufgebracht, und er hatte sich mir durch die Ungleichheit seiner Laune, durch seine bald übertrieben freundliche, bald ebenso kaltsinnige Begegnung beschwerlich und vielleicht gar verächtlich gemacht; ich setzte wenigstens keinen Wert mehr in seine Hochachtung, bestrebte mich nicht darnach, weil ich wußte, daß seine Güte und seine Unfreundlichkeit nicht aus seinem Herzen herfloß, sondern vielleicht eine Wirkung von Wind und Wetter war. 5 Der Graf unterhielt und stärkte von Zeit zu Zeit meinen Widerwillen, gab jeder bösen Laune meines Mannes durch Übertreibungen und Vergrößerungen ein auffallendes Licht, schob ihr beleidigende Bewegungsgründe unter, machte mir seine Liebe verdächtig, welches nicht schwerfiel, drehte mir jede, auch die gleichgültigste seiner Handlungen auf der schlimmen Seite zu und machte besonders die Heimlichkeit, womit er seine Reise unter so großen Zurüstungen veranstaltete, zu einem Hauptverbrechen, das mich nicht bloß abgeneigt gegen ihn – das ihn mir verhaßt machen mußte. Mein Herz war lange leer gewesen – und ein leeres Herz, welch [134] ein elender Zustand für ein Frauenzimmer! In unserm Herze muß Liebe sein! Ohne sie leiden wir wie bei einem ausgefasteten Magen. Gleichwohl hatte ich diesen traurigen, öden Zustand lange ertragen müssen; für meinen Mann schlug keine Fiber am ganzen Leibe mehr von Liebe; ich fühlte ein Bedürfnis in mir, das kein Gegenstand in der Nähe befriedigen wollte, der Graf hatte schon längst meine Sympathie erregt, er bot sich mir itzt an und – beste Freundin, soll ich ausreden? – Aber die Geschichte des grausamen Augenblicks selbst will ich Ihnen nicht vorenthalten. Wir saßen eines Vormittags nebeneinander und tranken Schokolade; ich zeichnete mit Rötel nach verschiedenen Kupferstichen, die vor mir ausgebreitet lagen; der Listige machte selbst von Zeit zu Zeit einige Züge, zog endlich sein Taschenbuch hervor und zeigte mir eine Zeichnung nach einem Tizianischen Gemälde – eine Leda, welcher Jupiter als Schwan in der wollüstigsten Stellung der Liebe auf dem Schoße sitzt, die – ich kann es Ihnen nicht ausdrücken, welche Empfindungen der erste Anblick des verhaßten Gemäldes in mir sogleich aufwiegelte; mein Herz klopfte wie von einer geheimen Ahndung; ich gebot ihm errötend, es wegzutun, allein der Bösewicht trotzte meinem Geheiße, er ließ es vor meinen Augen, er sprach – aber was? – Worte, wovon jedes eine vergiftete Spitze in mein Herz drückte! Er merkte meine wachsende Verwirrung, ich glühte, ich stritt, ich kämpfte, meine Sinne waren benebelt und – der Verbrecher! wehe ihm und wehe dem Maler, der ihm so gefährliche Waffen verfertigte! Wehe mir und der Natur, die weibliche Herzen aus so geschmeidigem, nachgebendem Tone bildete!

Seitdem hat mich der Unwürdige so fest an sich gefesselt gehalten, daß sein Interesse mit dem meinigen zusammenschmolz; ich war die Marionette, die er an dem Drahte der Liebe nach Willkür regierte: Jede seiner Handlungen [135] mußte ich billigen, und der mindeste Tadel wider ihn schien mir ein Verbrechen und ein Wort, wider ihn gesprochen – eine Missetat. Er geriet um meinetwillen in eine Lebensgefahr, die das Band unsrer gegenseitigen Liebe unzertrennlich zusammenknüpfte. – Allein der Mann war ein Niederträchtiger: Nicht die heilige Flamme der Liebe, nein, der schändlichste Eigennutz hatte seine Wollust entzündet. Doch – etc. etc.«

Die Folgsamkeit gegen den Grafen, deren sie zu Ende des Briefs gedenkt, äußerte sich mehr als zu sehr, da ihr Gemahl zurückkam und ihr ankündigte, daß er sich mit seinem ganzen Vermögen nach G. wenden werde, wo er schon einige Besitzungen angekauft habe, und nunmehr erwarte, die Vorteile und die Annehmlichkeiten derselben mit ihr zu genießen; er bat sie zugleich sehr gütig, sich zu der Abreise so hurtig als möglich in Bereitschaft zu setzen, deren eigentlichen Zeitpunkte er übrigens ihrer eignen Bestimmung überlasse. Der Graf Z. hatte dies Geheimnis gleich bei seiner Ankunft aus ihm zu locken gewußt und die Gräfin auf die Bitte ihres Gemahls vorbereitet, die sie auf seine Eingebung geradezu abschlagen mußte. Vielleicht war es nur ein eigensinniger Widerwille, der den Grafen Z. zu diesem Widerstande antrieb – denn sichtbaren Nutzen hatte er nicht davon – und vielleicht auch Begierde, seine Gewalt über die Gräfin zu gebrauchen und ihren Gehorsam auf die Probe zu stellen – genug, sie versicherte ihn mit einem etwas pikanten Tone, daß sie sich an Ort und Stelle recht wohl befinde und nicht unruhiges Blut genug besitze, ihren Aufenthalt so oft zu verändern. Ihr Gemahl setzte in sie, tat ihr Vorstellungen, ersuchte den Grafen Z., sie von ihrer Hartnäckigkeit zurückzubringen; er versprach's und tat gerade das Gegenteil. Der Graf von Longueville war in der schrecklichsten Unruhe; solange sein Stolz nicht in ihm stürmte, stürmte die Liebe; er war alsdann, [136] wie bereits angemerkt worden ist, so feurig verliebt, daß ihm das geringste Mißfallen seiner Gemahlin Pein verursachte. Der Termin seiner Abreise war seiner Anordnung gemäß so nahe als möglich, die Gräfin war unerbittlich, er mußte nach G., wenn er nicht einen beträchtlichen Teil seines Vermögens einbüßen wollte, er konnte nicht fort ohne seine Gemahlin, weil es seinem Stolze wehe tat, so viele Herrlichkeiten für sie angeschafft zu haben und die Verbindlichkeit ihr nicht auferlegen zu können, die er ihr dadurch auferlegen wollte – weil er ohne Verlust sie nicht zurücklassen, weil er sein Haus nicht verkaufen konnte, das sie schlechterdings bewohnen wollte, weil er sich schämte, das Mißvergnügen seiner Ehe durch eine solche Trennung allgemein bekannt werden zu lassen – alles hielt ihn zurück, und alles zwang ihn zu reisen; was konnte er tun? – Er reiste ohne seine Gemahlin und glaubte, sie durch schriftliche Bitten dahin zu vermögen, daß sie ihm nachfolgte. An Bitten ließ er es nicht ermangeln, aber die Gräfin desto mehr an Gehorsam; er besuchte sie, so weit auch die Reise war, aber sie empfing ihn kaltsinnig und ließ ihn ebenso wieder von sich. Kurz darauf änderte sich die ganze Lage der Umstände; der Vorteil des Grafen Z. verlangte, daß er bei dem Gemahl der Gräfin in G. war; er wollte, daß die Gräfin zu ihm reisen sollte, und sie reiste.

Der Graf von Longueville war abermals unglücklich; er war wohl an dem Orte, den er nach langer Überlegung zu seinem Aufenthalte ausgesucht hatte, der Reichste, der Vornehmste, er hatte die schönsten Möbeln und gab der kleinstädtischen Neubegierde ungemein viel Beschäftigung, wenn er ausfuhr, und reichen Stoff zum Gespräche, allein die Leute waren ihm alle zu ungleich, sie hatten vielen Respekt vor seinem Gelde und seinem Stande, aber sie gingen ihm aus dem Wege; an die vornehme abgemeßne Lebensart war niemand gewöhnt, der gute Ton seines Hauses war für alle Zwang; niemand [137] erschien auf seine Einladungen, und wer erschien, aß und trank verdrossen, stumm und voll ängstlichen Zwanges und eilte, aus dem vermeinten Joche wieder herauszukommen. Sonach saß er einsam, unbewundert, ungeehrt da, weil ihn jedermann zu sehr ehrte; sein Aufenthalt wurde ihm lästig, er sann auf eine Veränderung. Die Ankunft seiner Gemahlin gab ihm noch eine vorübergehende Aufheiterung: Er hatte doch jemanden, vor dem er prangen und sich selbst bewundern konnte, ob die Gräfin gleich alle Geschenke ziemlich kalt annahm und alle Schönheiten seines Hauses und seiner Landsitze bloß ansah.

Er hatte dem Grafen Z. gemeldet, daß er eine Veränderung seines Aufenthaltes wünschte, und ihn, seinen alten dienstfertigen Freund, der durch seine wichtigen Bekanntschaften ungemein viel für ihn vermögen würde, ersucht, einen Plan zustande zu bringen, dessen Ausführung ihn nach seiner Einbildung überglücklich machen sollte. Seiner Größe fehlte noch ein ansehnlicher Titel an einem ansehnlichen Hofe; er hatte diesen Mangel kaum gefühlt, als er ihn zu heben wünschte; sein Wunsch wurde durch die Unannehmlichkeiten seines gegenwärtigen Aufenthaltes dringender gemacht; er bat also den Grafen inständigst, unter Versprechung wichtiger Belohnungen, für ihn einen solchen Titel auszuwirken und Güter in S. anzukaufen, um sich dadurch die Erlangung des Titels zu erleichtern. Der Graf Z. sah ein weites Feld für seinen Vorteil vor sich, eilte deswegen, wie bereits gesagt worden ist, nach G., und die Gräfin mußte mit ihm, ohne daß er ihr die Veranlassung seiner Reise entdeckte.

Er erhielt also von dem Grafen von Longueville seinen vollständigen Auftrag, wurde mit Wechseln und Gelde versehen und reiste auf sein Geschäft aus. Da er aber die Schwäche der Gräfin kannte und sie nicht gern auf die Seite ihres Gemahls in seiner Abwesenheit ziehen lassen wollte, welches [138] doch bei ihr möglich gewesen wäre, sosehr sie auch itzt von ihm abgeneigt schien, so beredete er sie, daß sie unterdessen an den vorigen Ort ihres Aufenthalts zurückgehn mußte, und er begleitete sie selbst dahin.

Er war in seiner Verrichtung überaus glücklich; er hatte seinen Mann gefunden, dessen Privatvorteile er mit der Erlangung seines Gesuchs so zu verflechten wußte, daß er unermüdet am Hofe selbst arbeitete und seine Freunde dazu aufbot, als zu einer Sache, die die Wohlfahrt des Landes so sehr beförderte, daß es dadurch ich weiß nicht um wie große Summen reicher würde. In kurzem war der Wunsch des Grafen von Longueville gewährt, und sein Bevollmächtigter eilte mit der Hoffnung zu ihm zurück, die reichlichsten Belohnungen für die geleisteten Dienste einzuernten.

Warum werde ich so frostig mit einer so wichtigen Zeitung aufgenommen? – dachte der Graf Z. verwundernd, als er seinem Freunde zum ersten Male wieder in die Arme eilte und die freudigste Bewillkommung erwartete. Der Graf von Longueville dankte ihm zwar auf das verbindlichste mit angenommner Freundlichkeit, aber der Schleier war zu dünne, um nicht ein geheimes Mißvergnügen durchscheinen zu lassen; da der Graf Z. alle Ursache hatte, nicht viel Gutes für sich aus solchen Aspekten zu argwohnen, so argwohnte er eine Entdeckung seiner Angelegenheiten mit der Gräfin, worinne er sich nicht im mindesten betrog. Der Graf von Longueville hatte in seiner Abwesenheit einen Brief von ihm an die Gräfin gefunden, der zwar schon alt und auf einer Reise geschrieben war, die er ebenfalls in seinen Geschäften hatte unternehmen müssen – einen Brief, voll der anzüglichsten Spöttereien wider den Grafen von Longueville, mit einer Schilderung von ihm, worinne ihn jeder Zug zum Narren und zum Dummkopfe machte, mit etlichen Anspielungen, die der Eifersucht eines Mannes Materie genug zum Nachdenken [139] geben konnten. Ein Mann von so brennendem Blute wie der Graf würde in der ersten Aufwallung alles zu seiner Rache gewagt haben, wenn der Verfasser dieses so beißenden Briefs zugegen gewesen wäre, doch itzt hatte ihn die Zeit ziemlich abgekühlt, um auf listige Rache zu sinnen. Eine Frau, schloß er zu gleicher Zeit sehr richtig, der man ein solches Gemälde von ihrem Manne vorlegendarf, muß selbst keine bessere Idee von ihm haben und auch geneigt sein, ein gleiches zu machen; seine Eifersucht brauste auf, und alles an seiner Gemahlin und an dem Grafen Z. wurde ihm verdächtig, widrig, verhaßt. Bei solchen innerlichen Empfindungen fiel es ihm ungemein schwer, die Belohnung seines Bevollmächtigten so groß zu machen, als er ohnedies getan haben würde. Dieser war einmal argwöhnisch und wider seinen Freund eingenommen, sahe also sein Geschenk nicht für halb so beträchtlich an, als es wirklich war, die Besorgnis einer Entdeckung hetzte ihn auf, er dachte deswegen auf Rache, ehe er die Beleidigung gewiß kannte, weil für ihn, nach der Lage der Umstände, Rache und Verwahrungsmittel eins war: Er reiste zur Gräfin.

Der Graf von Longueville befahl in seiner eifersüchtigen Laune seiner Gemahlin etwas auffallend gebieterisch, an einem bestimmten Tage abzureisen und an einem bestimmten Tage bei ihm einzutreffen, um mit ihm auf seine neuangekauften Güter nach S. zu gehn; der Termin verfloß, und weder Antwort noch die Gräfin erschien. Er brannte vor Zorn, er reiste zu ihr, erlangte aber nichts als einen heftigen Wortwechsel und einen heftigen Ärger, der ihn so stark überwältigte, daß er in eine hitzige Krankheit verfiel. Den Grafen Z. traf er bei der Gräfin an und ließ etliche Sticheleien auf ihn fliegen, die jenem die Ursache seines Grolles völlig aufklärten; er nahm sich der Gräfin bei dem darauffolgenden Zanke an, mißhandelte ihren Gemahl und wollte sogar den Degen [140] [143]für sie gegen ihn ziehen, allein ihre Bitte verhütete das Duell, doch grub diese Handlung ihre gute Meinung von dem Grafen Z. noch einmal so tief in ihr Herz: Sie machte nunmehr völlig offenbare Partie mit ihm wider ihren Gemahl.

Das hastige Verfahren des Grafen von Longueville schien seiner Gemahlin auf einmal alle ihre guten Eigenschaften genommen zu haben; sowenig sie ihn bis her geliebt hatte, so war doch ihr Mißvergnügen beständig in einen bald dünnern, bald stärkern Schleier von Politesse und Anständigkeit gehüllt, und selbst ihre Widersetzlichkeit bei etlichen Gelegenheiten hatte sozusagen noch den guten Ton der Widersetzlichkeit, war mit einer gewissen Schonung verbunden; doch itzt! – itzt warf ihr Unwille und die Anstiftung ihres Liebhabers auch die leichteste Bedeckung ab; sie mißhandelten beide den kranken Mann auf die unbarmherzigste Weise. Sie hielten sich fast immer in der Stube auf, wo er lag, weil er in seinen Paroxysmen oft nach seiner Gemahlin und ihrer Wartung verlangte, doch wurde ihm nicht gewillfahrt, damit man seine Schmerzen linderte, sondern damit man sie angreifender und nagender machte. Die beiden Liebenden saßen auf dem Kanapee seinem Bette gegenüber, schäkerten, lachten, liebkosten sich – bloß um ihn zu ärgern –, spotteten über ihn, wenn er etwas dawider sagte, ahmten seine Seufzer komisch nach, verdrehten seine Klagen über Schmerz und gaben ihnen einen lächerlichen Zusatz; wenn er Wasser foderte, reichte man ihm scharfen Essig und lachte, wenn er in der Hastigkeit einen großen Teil davon verschluckte und dann das Gesicht in bittre Mienen verzerrte, wenn ihn die herbe Empfindung den Betrug lehrte. – »Aber warum quälen Sie mich so, Madam?« sprach er mit ärgerlicher, halb erschöpfter Stimme. »Warum tun Sie Dinge vor meinen Augen, die einer rechtschaffnen Ehefrau im mindsten nicht anstehn?« –

[143] »Damit Sie nicht gelogen haben, mein Herr, als Sie mich eine untreue Ehefrau nannten.« –

»O der empfindlichen Reden! So quälen Sie mich doch, wenn ich wieder gesund bin –«

»Dieser Zeitpunkt möchte vielleicht nie kommen«, fiel ihm der Graf Z. mit ausbrechendem Lachen ins Wort. »Man muß die Gelegenheit nützen.« –

»O Gott! Ich werde sterben und –«

»Sterben Sie, sterben Sie!« rief der Graf hastig; »nur bitte ich, das im stillen zu tun.« –

»Soll ich in meinem eignen Hause nicht einmal klagen dürfen?« –

»Tun Sie das! Nur nicht, wenn wir sprechen.« –

»Himmel! ich zerspringe! – Ungeheuer, daß dich die Erde verschlinge!« –

»So schnell geht das nicht zu. Sehn Sie? Ihre Befehle gelten gar nichts mehr. Nun ist es wohl aus mit Ihnen, glückliche Reise!« –

Der Kranke schäumte, geriet in Raserei, sprach von würgen, ermorden, Gift, Dolch und Pistolen. Der Graf foderte ihn höhnend auf, Wort zu halten, und stellte sich in Bereitschaft, mit ihm zu fechten; dem Kranken gab Wut und Raserei Kräfte, er sprang bei dieser Höhnerei auf und faßte den Spötter so rasch bei der Kehle, daß er ihn gewiß erwürgt hätte, wenn man auf das Geschrei der Gräfin nicht zu Hülfe gekommen wäre. Seit dieser gefährlichen Szene wagten sie sich wenig wieder in das Zimmer des Kranken und ersparten ihm durch ihre Abwesenheit einen Schmerz, der alle Empfindungen der Krankheit weit überwog. Dafür schmiedete der Graf indessen den völligen Entwurf, wie er nach dem Tode des Grafen von Longueville mit seinem Vermögen verfahren wollte, und paßte Einnahme und Ausgabe schon so genau zusammen, als wenn er der wirkliche Besitzer davon wäre;[144] [147] denn den Tod des Grafen setzte er als eine ausgemachte Wahrheit voraus, und als nicht weniger ausgemacht sah er es an, daß seine hinterlaßne Witwe ihn heiraten würde, und nach diesen Voraussetzungen war es gar nichts Ungereimtes, daß er schon Einrichtungen mit seinem künftigen Vermögen machte. Allein der Erfolg widersprach seinen Voraussetzungen, und so stürzten seine ganzen schönen Entwürfe in nichts zusammen. Der Graf von Longueville wurde wieder gesund und der Graf Z. unsichtbar.

Eine wunderbare Revolution, die alle Leute überaus befremdete, welche nicht wußten, daß der Graf Z. aus zu großem Vertrauen auf die Zuverlässigkeit seiner Voraussetzungen sich schon als wirklichen Besitzer von dem Vermögen des sterben sollenden Kranken betragen, seine eignen Schulden davon bezahlt, seine Garderobe erweitert und verschiedene andre große Ausgaben gemacht hatte, die aller Wahrscheinlichkeit nach der wieder aufgelebte Eigentümer nicht für gültig erklären wollte. Er hielt es also für das sicherste, mit seinen Effekten zu entfliehen, bis die Gräfin und die Umstände seine Rückkunft wieder bewerkstelligen würden.

Man könnte vermuten, daß der Graf nach seiner Genesung sich für die Kränkungen rächen würde, die er hatte erdulden müssen; allein er tat es nicht, sondern war zufrieden, daß sich der Friedensstörer seines Hauses entfernt hatte, und hoffte nunmehr, seine Gemahlin wiederzugewinnen, wozu er auch Versuche machte. Die Arbeit war schwer, doch machte er durch seine wiederholten Bitten und rührenden Vorstellungen einen so tiefen Eindruck auf ihr Gemüt, der desto freier auch in ihren einsamen Stunden fortwirken konnte, weil ihn der Graf Z. durch keinen entgegengesetzten verdrängte. Ihre große Empfindlichkeit und die Gewohnheit, jederzeit dem gegenwärtigen Zuge zu folgen und sich von der Überredung gleichsam herumtreiben zu lassen, begünstigten [147] die Mühe ihres Gemahls so sehr, daß sie sich ergab und ihm versprach, mit ihm auf seine neugekauften Güter zu ziehen und dort die erlangte Ehre mit ihm zu genießen; sie bezeugte sogar über die geschehenen Beleidigungen Reue, entschuldigte sich mit ihrer Schwäche, die der Graf Z. zu mißbrauchen gewußt hätte, und versicherte, daß sie ihn itzt verabscheue. – Das war viel! Und doch war es ihre wirkliche Empfindung, weil sie die Flucht des Grafen als die Flucht eines Räubers betrachtete, nachdem sie überzeugt worden war, daß er außer einigen wichtigen Verschwendungen auch eine beträchtliche Summe bares Geld entwendet hatte; er hätte jedes größre Verbrechen begehn können, und er würde sie weniger aufgebracht haben, doch dieser Streich war niederträchtig, und Niederträchtigkeit und ihre Seele stunden in natürlicher Antipathie – wenn ihre Empfindung nicht durch fremde Überredungen verdunkelt wurde. Doch bewegte sie ihren Gemahl, keinen gerichtlichen Regreß an den Grafen zu nehmen, sondern ihn seiner Schande zu überlassen, welches er heilig versprach.

Der Graf von Longueville war nunmehr das glücklichste Geschöpf unter der Sonne; die erquickendste Aussicht auf Ehre und Würde, auf eine ruhige und zufriedne Ehe – ein Glück, das ihm wegen seiner langen Unterbrechung doppelt süß schmecken mußte! –, seine Gemahlin wieder zurückgebracht, sein Feind und Friedensstörer verbannt, der Nebenbuhler vertrieben – was konnte er mehr brauchen, um in unaufhörlicher Heiterkeit und Zufriedenheit so vielen Vorteilen entgegenzugehn? – Auch war er itzt ganz neugeschaffen, liebreich, gefällig und an Dienstgeflissenheiten, an Achtsamkeiten gegen seine Gemahlin und an kleinen Erfindungen, sie zu belustigen, unerschöpflich; sie erstaunte über die Veränderung und schien von nun an nie wieder aufhören zu wollen, seine Gemahlin zu sein.

[148] Er reiste auf seine neuen Güter und beging einen Fehler – einen unverzeihlichen Fehler! – Er reiste allein. Freilich war es übertriebne Liebe, alles auf seinen Gütern erst so einrichten zu wollen, daß zu dem Empfange seiner Gemahlin nichts fehle und der erste Anblick sie sogleich für den Aufenthalt einnehme. Der Fehler war unverzeihlich, weil er seinem Nebenbuhler volle Muße verschaffte, das ganze mühsam aufgeführte Gebäude wieder einzureißen und die Schwäche der Gräfin so zu seinem Vorteil anzuwenden, daß sie ihren Gemahl ebensosehr haßte, als er vor seiner Abreise von ihr geliebt zu werden glaubte. Welche Kunst gehörte dazu, den widrigen Eindruck, den seine Flucht auf sie gemacht hatte, erst auszulöschen und einen neuen an seine Stelle zu setzen, der kräftig genug war, alle diejenigen zu verdrängen, die ihr Gemahl in ihr zurückgelassen hatte! – So schwer es war, so brachte er es doch zustande. Kaum war ihr Gemahl fort, als sich der Graf Z. bei ihr einfand. Lange bestürmte er ihre Eigenliebe durch eine Hingeworfenheit, die ihm nur möglich war, dadurch, daß er die ganze Last ihrer Vorwürfe auf sich nahm, denn wußte er ihr Mitleid durch die rührende Vorstellung seiner unglücklichen Situation so für sich in Bewegung zu setzen, daß von Verzeihung nur noch ein Schritt zur Liebe war. – »Madam«, sprach er eines Tages, als sie ihn etwas mit harten Vorwürfen überhäufte – »Madam, hier an diesem Orte habe ich Ihnen die feierliche Zusage getan, Ihr Verfechter wider alle Ungerechtigkeiten Ihres Mannes zu sein. Ich wurde es, und zu meinem Schaden. Um Ihrentwillen wäre ich alles geworden – ein Bösewicht und ein Verbrecher. Bedenken Sie! Wohin würde es mit Ihnen gekommen sein, wenn ich Sie den Mißhandlungen Ihres Barbaren nach seiner Rückkunft von G. überlassen hätte, als er Sie wie die niedrigste Dirne von sich stieß, als er Sie eine Ehebrecherin nannte, als er Ihnen mit der äußersten Niederträchtigkeit das elende [149] Glück vorwarf, Sie zur Frau eines Mannes gemacht zu haben, der sich durch etliche Tonnen Goldes berechtigt glaubt, eine Gemahlin zu quälen, die ihm mehr als alles dieses mitbrachte – Vortrefflichkeit und Liebe? Hat er einen Augenblick nur mit einer Miene Ihnen für die Aufopferung Ihres Standes – was will ich sagen? –, für Ihre Liebe gedankt? Seine Gefälligkeiten waren allzeit Kunstgriffe, Ihre Einwilligung in eine von seinen stolzen Grillen zu erschleichen. Alles, was ich bei solchen Gelegenheiten für Sie tat, soll nichts sein; aber das nenne ich etwas, daß ich um Ihrentwillen den Namen eines niederträchtigen, heimlich entflohnen Räubers auf mich nahm. Was war nach dem Wiederaufkommen Ihres Barbaren von seinem Jachzorne zu vermuten, als daß er die empfindlichste Rache für die Drangsale, womit wir ihn während seiner Krankheit gerecht bestraften, an Ihnen nahm, ohne daß mein Schutz etwas dawider vermochte? Mit ebender Gewissenlosigkeit, womit er mir in seiner Krankheit die Kehle eindrücken wollte, mit der nämlichen Grausamkeit würde er mich ermordet haben, und es war aller Grund zur Furcht da; ich mußte, um mein Leben zu retten, entfliehen. Nach meiner Flucht, schloß ich weiter: Wie will da die unschuldig Leidende seinen Gewalttätigkeiten widerstehen, womit er sie langsam zu Tode quälen wird? – Sie muß fliehen, hülflos fliehen, und um Ihre Flucht nicht hülflos sein zu lassen, darum, darum wurde ich zum Räuber, darum entwendete ich Ihrem Peiniger einen Teil seines Vermögens, lud die ganze Schande der Tat auf mich und hielt meine Arme offen, Sie zu empfangen. Diese einzige Tat, die, solange Sie diese Erklärung nicht machen konnten, Ihren gerechten Unwillen erregen mußte, ist mein Verdienst, soll mein einziges Verdienst um Sie sein. Wollen Sie es auch für keine Wichtigkeit gelten lassen, seine Ehre Ihrem Besten aufopfern? – Mehr kann ich nicht tun; Sie müßten denn von mir gefodert haben, zu erwarten, [150] bis Ihr wilder Gemahl mir das Messer in die Brust gestoßen hätte; aber auch das kann ich, mein Leben kann ich so gut für Sie wagen wie meine Ehre. Vergönnen Sie mir nur unterdessen eine Schutzstätte an Ihrer Seite und in Ihrer Gesellschaft, um mir die Unglückseligkeiten zu erleichtern, denen ich um Ihrentwillen entgegenlief. Ich begleite Sie bis an die Güter Ihres Gemahls und dann –«

Diese Verstummung wurde mit einem Blicke und einer Träne begleitet, die ein Herz wie der Gräfin ihres von Grund aufwiegeln mußte: Sie ging verwirrt hinweg. – So ließ er täglich durch seine listige Beredsamkeit alle Federn ihrer Empfindlichkeit spielen: Mitleid, Eigenliebe, Dankbarkeit – alles mußte für ihn arbeiten, selbst die Untreue der Gräfin mußte sie fester an ihn binden als an ihren Mann, den sie wegen des Bewußtseins ihrer Beleidigung immer noch fürchten mußte; und dann ließ er nicht selten einen kleinen Wink entwischen, daß die versöhnliche Güte ihres Gemahls wider seinen Charakter und also eine List sei, sie endlich desto ungehinderter und auf immer seinen Groll empfinden zu lassen. Diese Warnung erteilte er ihr mit einer so bedenklichen Miene, daß man notwendig ein Geheimnis dahinter vermuten mußte, und wenn sie in ihn setzte, so warf er sie unter dem Scheine der Gewissenhaftigkeit, als wenn er ihrem Gemahle nicht ein Verbrechen als gewiß auflegen wollte, wovon er selbst nur einige Spuren gefunden hätte, durch ein »mit der Zeit sollen Sie mehr erfahren« in noch tödlichere Unruhen; allein die Erfindung, womit er sie hintergehen wollte, lag schon völlig ausgesonnen in seinem Kopfe und wartete nur auf den günstigen Augenblick der Geburt.

Sie unternahm die Reise mit dem Grafen Z. auf die neuangekauften Güter ihres Gemahls, aber ohne sein Vorwissen. Auf diesem Wege war es, wo zwo Vorbereitungen zu der schrecklichsten Katastrophe geschahen; beide waren ein veranstaltetes [151] Werk des Grafen Z. Auf das ernstliche Zudringen in sein Geheimnis entdeckte ihr der Falsche, daß ihr Mann den Plan gemacht habe, sie durch Freundlichkeit auf seine Güter zu locken und sie alsdann zeitlebens in ein Kloster einzuschließen. Er brauchte einen Brief zum Beweise, den der Graf Longueville vor langer Zeit in dem ersten Anfalle der Eifersucht an ihn geschrieben und worinne allerdings eine Zweideutigkeit so erklärt werden konnte; wenn er auch weiter nichts ausrichtete, so befeuchtete er wenigstens den Keim ihrer angefangenen Abneigung gegen ihren Gemahl, daß sie, wenn sie es auch nicht glaubte, doch mißtrauisch gegen ihn wurde.

Der zweite Schritt war eine von ihm veranstaltete Komödie, deren Falschheit sie niemals entdeckt haben muß, wie man aus einer Stelle des vorhin angeführten Briefes schließen kann. Sie trafen unterwegs einen Mann in anständigen Kleidern an, der sich mit dem fürchterlichsten Ausdrucke der Verzweiflung an die Stirn schlug, auf die Erde warf, wütete und raste; die Gräfin erblickte ihn, zitterte vor Schrecken und bat den Grafen auszusteigen, um dem Elenden zu helfen oder zu hören, wie ihm geholfen werden könnte. Der Graf tat es und kam mit der Nachricht zurück, daß es ein unglücklicher Jüngling sei, den eine Partie Spieler in ihr Netz gezogen und gänzlich zugrunde gerichtet hätten. »Er hat einen Wechsel ausgestellt«, sagte er, »dessen Verfallzeit nahe ist; er hat kein Geld. Seine Gläubiger verfolgen ihn, und er kämpft mit dem grausamen Entschlusse, sich selbst umzubringen.«

»Sich selbst umzubringen!« rief die Gräfin bebend. »Wieviel ist er schuldig?« – »Eine Summe von viertausend Dukaten«, sagte der Graf. »O hätte ich sie! – Aber«, fuhr sie nachsinnend fort, »vielleicht können wir doch seine Flucht begünstigen: Wir wollen ihn zu uns nehmen.« – Der Graf stellte ihr vor, wie gefährlich dies sei, machte kalte Zweifel und Einwendungen, [152] daß die Gräfin in ihrem Vorsatze immer wärmer und beharrlicher wurde; man verstattete ihm einen Platz in der Kutsche, und der Graf, weil es die Gräfin als ihre eigne Angelegenheit betrieb, erbot sich, eine Vermittelung zwischen ihm und seinen Gläubigern zu versuchen, wenn sie ihn auf seiner Flucht ausspähen und bei ihnen antreffen sollten. Der Fremde beruhigte sich mit vielen Zeichen der Dankbarkeit, bekam aber noch so viele Rückfälle von Verzweifelung, als nötig waren, das Mitleid der Gräfin beständig wirksam zu erhalten. Er erzählte ihnen seine Geschichte und war nach seiner Aussage von dem ansehnlichsten Herkommen, aber itzt dem Bettlerstande nahe, wo nicht schon darinne.

Sie reisten unter diesen abwechselnden Empfindungen und Bemühungen zusammen bis in ein Wirtshaus, wo sie übernachteten. Des Morgens langten zween Bewaffnete mit großem Tumult an und verlangten ungestüm zu wissen, ob ein junger Mensch, den sie genau beschrieben, hier angelangt sei. Der Wirt, ein feiger Mann, den eine Pistole und ein Degen aus aller Fassung herausschrecken konnten, erinnerte sich mit Zittern, daß er in der Gesellschaft der Gräfin jemanden habe ankommen sehn, der mit der Beschreibung nicht uneben übereinkam; er meldete ihnen dieses. Sogleich rennten die beiden Angekommenen in die Stube der Gräfin, die eben aufgestanden war und drum nicht wenig über einen so unvermuteten Besuch erschrak. Sie taten mit dem nämlichen Ungestüm die nämliche Frage, die sie an den Wirt vorhin getan hatten, wiederholten ihre Beschreibung und verlangten den Menschen in ihre Gewalt, der dieser Beschreibung gliche. Die Gräfin war vor Entsetzen verstummt und hatte kaum Kräfte genug übrig, ihrem Kammermädchen zu rufen, das mit einem lauten Schrei die Blässe in dem Gesichte ihrer Gebieterin und die beiden Bewaffneten erblickte. Ihr Rufen brachte den Grafen herbei, der den Fremden ihre Unhöflichkeit [153] nachdrücklich verwies und, ohne ihr Anbringen anhören zu wollen, ihnen abzutreten befahl. Sie versicherten, daß sie Kavaliere wären und also eine andre Behandlung erwarteten, worauf er ihnen keine Antwort gab und die Tür zuschloß. Indessen beratschlagte man, und die Gräfin war außerordentlich dafür, den Menschen, den sie in ihren Schutz genommen hatten, sorgfältig zu verbergen oder ihm lieber heimlich fortzuhelfen. Der Graf ging selbst, sich mit den Fremden zu unterreden, und brachte die bestätigte Nachricht zurück, daß man denjenigen verlange, dessen sie sich angenommen hatten, und zwar um sich mit ihm zu schlagen. Der Graf redete mit dem Unglücklichen, allein er hatte weder Stärke noch Mut, zween so ausgelernte Gegner auszuhalten; es blieb also bei der Entschließung, ihm – was er selbst verlangte – zu seiner Flucht beförderlich zu sein, mit Unterhandlungen die Fremden so lange aufzuhalten, bis er weit genug entfernt sein könnte, und dann zu sehen, ob man mit einer mäßigen Summe sein Leben auch auf die Zukunft in Sicherheit stellen könne. Wenn der Akkord zustande käme, wollte man sich eine Quittung für ihn geben lassen und riet ihm deswegen, auf die Güter des Grafen von Longueville sich zu retten, gab ihm eine Adresse, ein Pferd und Geld. Der Plan war gemacht und den nämlichen Abend ausgeführt; er entwischte glücklich. Indessen suchte man die Fremden durch alle Arten von Höflichkeit zu gewinnen, ohne jemals zu bestimmen, ob man den jungen Mann, den sie suchten, bei sich habe oder nicht. Endlich erdichtete man, daß er ein Anverwandter von der Gräfin sei, die deswegen einen Akkord mit ihnen einzugehen gedenke. Die Fremden wollten unter der Hälfte durchaus nicht einwilligen, auch die Anweisung der Gräfin gegen die Zurückgabe des Wechsels nicht annehmen, sondern verlangten schlechterdings bares Geld, und zwar ohne alle Einschränkung; gleichwohl hatte die Gräfin nichts mehr als das [154] nötige Reisegeld, war in einem unbekannten Lande, ohne Freunde und ohne Kredit. Aller dieser Vorstellungen ungeachtet, beharrten die Fremden mit dem größten Ungestüm darauf; was sollte man tun? – »Ei«, sprach der Graf, »ich schlage mich für Sie und Ihre Anverwandten; mein Leben ist mir weniger als Ihre Ehre und Ruhe.« – Mit diesen Worten ging er, ohne sich von der Gräfin zurückhalten zu lassen, die Fremden herauszufodern, führte das Duell aus und kam mit einigen leichten Verwundungen zurück. Die Gegner lieferten den Wechsel aus und gingen ihren Weg.

Dieses abgeredete Spiel, die entschloßne Tapferkeit des Grafen, sein lebhaftes Interesse für die Ehre der Gräfin, die Geringschätzung seines Lebens für ihre Ruhe, seine tätige Geschäftigkeit, der glückliche Erfolg seiner Unternehmungen, die Größe seiner Gefahr, der Anblick des herablaufenden Blutes – so eine Menge Umstände, die mit einem Male auf ihre Empfindung zudrängten, mußten gerade das Gefühl hervorbringen, das er zu seinem Endzwecke verlangte – eine aus Mitleid und Bewunderung erzeugte Hochachtung, die bald in Liebe zu verwandeln war – miteinem Worte, der Graf Z. sah sich nunmehr in ihrem Herze befestigt, und nichts war zu seiner Rache übrig, als daß er ihren Gemahl vollends herauswarf.

Auch dieses war leicht. Er wiederholte ihr oft den grausamen Vorsatz ihres Gemahls, sie einzusperren, erhöhte die Wahrscheinlichkeit desselben und ihr Mißtrauen bis zur Furcht. Mit dieser Furcht kam sie an. Ihre Ankunft, weil sie unvermutet und die nötigen Vorbereitungen noch nicht alle zustande waren, gab dem Grafen üble Laune: Sein Stolz fand sich doppelt beleidigt, daß man seine Befehle nicht erwartet hatte und daß er die Bewunderungen nicht alle einsammeln konnte, die er sich von ihr bei Erblickung seiner Veranstaltungen versprach. Seine üble Laune ging in sein Betragen [155] über, er ließ sogar einige unwillige Worte über ihre Überraschung fliegen, die ihr der Graf Z. so auslegte, als wenn sie Wirkungen des Unwillens über einen vereitelten Plan wären; noch unwilliger wurde er, als er den Grafen Z. mit ihr kommen sah, denn auf ihre dringende Bitte hatte er sich, als er sich an der Grenze von ihr scheiden wollte, bereden lassen, sie zu begleiten und sich auf ihre Vermittelung zur Aussöhnung mit ihrem Gemahle zu verlassen. Ihre Vermittelung wollte nichts fruchten; der Graf von Longueville foderte schlechterdings, daß dieser ehrenlose Räuber, wie er ihn nannte, aus dem Hause sollte, und gab zu erkennen, daß er im Falle der Weigerung Gewalt brauchen werde, ihn zu entfernen; die Gräfin war über seine wilde Hitze aufgebracht, noch mehr, daß ihr gegebnes Wort umsonst gegeben sein sollte, sie arbeitete mit vereinten Kräften, es gültig zu machen, empfing darüber etliche höchst empfindliche Sticheleien, die sie zu sehr schmerzten, um den Mann nicht zu hassen, der sie ihr gab, und ihn doppelt zu hassen, weil es sie ärgern mußte, sich bisher durch verstellte Liebe hintergangen zu sehn; der Graf Z. erhöhte ihre Empfindlichkeit darüber, machte es ihr zu einer Pflicht ihrer Ehre, ihn zu schützen, sprach von Wut und versicherte sie, daß sie – nicht um seinetwillen, sondern um ihrer selbst willen – ihn im Hause erhalten müßte, wäre es auch nur, der hartnäckigen Bosheit ihres Gemahls zu trotzen. In wenig Tagen war also das Haus wieder auf dem alten Fuße, in zwo Parteien geteilt, die unaufhörlich widereinander arbeiteten, und dahin gebracht, wohin es der Graf Z. schon längst zu bringen wünschte. Sein Zorn wider den Grafen Longueville war aufs äußerste gestiegen; er suchte einen Zank mit ihm, wozu die Gelegenheit sich sehr bald anbot; doch suchte er es so einzuleiten, daß die Gräfin die Hauptperson dabei sein mußte, für deren Ehre er unternommen wurde. Er wurde bis zum Degenziehen getrieben, [156] und der Graf Z. bekam eine leichte Verwundung. So lebten sie in ewigem Streite; der Herr vom Hause mußte nachgeben, weil er der schwächere Teil war, denn alles im ganzen Hause war wider ihn aufgewiegelt und auf der Seite der Gräfin, die ebenso freigebig als er knickerig war, wenn es auf Geschenke ankam. Man plagte, man verspottete ihn, man suchte ihn mit der ehmaligen Liebe wieder zu kränken, und er mußte geduldig sehen und hören, wenn die beiden Liebenden sich Süßigkeiten sagten und Liebkosungen erwiesen. Sein Zorn, wenn er ausbrach, erweckte Gelächter, und man gab sich gar nicht mehr die Mühe, ihm mit Gewalt zu widerstehen.


Mitten unter diesen Unruhen erhielt der Graf von Longueville verschiedene Wechsel zu bezahlen, die auf seinen Namen ausgestellt waren, ohne daß er sie ausgestellt hatte. Er hatte einige Gründe des Verdachtes wider den Grafen Z., allein anstatt ihn reif werden zu lassen und alsdann sicher gerichtliche Hülfe wider ihn zu suchen, ließ er sich von seinem Grolle verleiten, ihm zu zeitig eine hitzige Vorhaltung darüber zu tun und die ganze Last der Beschuldigung aufzulegen, ohne etwas anders als Vermutungen zum Beweise zu haben. Der Graf, der seinen Vorteil kannte, tobte, wütete und drohte so fürchterlich, sich wider einen so ehrenrührigen Verdacht Genugtuung zu verschaffen, daß sein Gegner, der seine eigne Übereilung merkte, abermals zum Nachgeben seine Zuflucht nehmen mußte; dadurch wurde die Gegenpartei desto mutiger.

Indessen fand doch der Graf Z. für nötig, sich wider ähnliche Fälle, wo sein Feind mit weniger Übereilung und mit reifern Gründen zu Werke gehen könnte, zu verwahren; denn er war sich bewußt, daß er eine Menge solcher Wechsel im Namen des Grafen ausgestellt hatte, die ihn endlich nötigen könnten, zu fliehen oder mit dem Leibe dafür zu haften; er [157] sann auf Mittel und fand nur eins, das ihm sein Haß wider den Grafen als das einzige beste vorstellte, und zu Erreichung seines Zwecks wurde er wieder verliebt, um sich des Herzens der Gräfin zu bemächtigen. Wie er sein ganzes häßliches Kunststück ausführte, davon erteilen einige Unterredungen Nachricht, die er mit der Gräfin zu verschiedenen Zeiten hielt, nachdem sie Liebe und gemeinschaftliches Interesse wider den Grafen Longueville ganz in seine Gewalt gebracht hatten.

Mit verwilderter entsetzender Miene trat er eines Abends zu ihr ins Zimmer, schlug sich mit geballter Faust an die Stirn und rief: »Daß der Donner den Bösewicht zerschmettre!« – Die Gräfin staunte. – Nach einer kleinen Pause lief er auf sie zu; »Madam«, sagte er, »retten wir uns nicht, so sind wir beide Opfer unsers Tyrannen; aber eher soll mein Haupt kein Kopfküssen berühren, bis ich Sie und mich befreit, gerochen und den Verbrecher gezüchtigt, ganz vernichtet habe.«

»Um des Himmels willen«, rief die Gräfin erschrocken, »was haben Sie? Sie wüten ja.« –

Graf: »Kein Wunder, wenn ich raste! – So weit ist es doch gebracht, daß ich entweder mit Ihnen oder für Sie umkommen muß! – Aber wohlan! das letzte tue ich mutig, wenn ich nur das erste verhüten kann.«

Gräfin: »So reden, reden Sie doch! – Warum erschrecken Sie mich, ohne mir zu sagen, was ich zu fürchten habe? – Graf!« –

Er schwieg; sie setzte noch einmal in ihn. – »Aber, ich Tor!« fuhr er endlich auf, »warum entdecke ich Ihnen erst die Gefahr, da ich sie, ohne daß Sie es gewahr wurden, vertreiben und Ihnen den Schrecken ersparen konnte. Vergeben Sie meiner ersten Aufwallung, Madam; in einem Winke ist das getan, und dann bin ich entweder Ihr Befreier oder Ihr Märtyrer. Nur ein paar Minuten Geduld!« – [158] Er wollte gehn, die Gräfin sprang hinter ihm drein, faßte ihn bei dem Kleide und hielt ihn auf. – »Was wollen Sie, Graf? Nicht von dem Platze laß ich Sie, bis Sie mir Ihre ganze Absicht entdeckt haben. Was wollen Sie mir itzt für Schrecken sparen, nachdem Sie mich durch Ihre abgebrochne Zurückhaltung schon tief genug hineingestürzt haben. Kommen Sie! Erzählen Sie! Oder der wichtigste Dienst wird mir ohne Offenherzigkeit und Zutrauen zum Mißfallen.«

Graf: »Ja, freilich wollte ich Ihnen den wichtigsten tun; ich kann dies ohne Ruhmrätigkeit sagen, denn was wäre dem Menschen wichtiger als sein Leben.«

Gräfin: »Als sein Leben! – Und wer will –«

Graf: »Was würden Sie tun, Madam, wenn ein Räuber Sie auf einem engen Wege überfiele, wo Sie auf keiner Seite ausweichen könnten, Ihren Hals faßte und das Messer auf die Brust setzte; was würden Sie tun?«

Gräfin: »Unerklärliche Frage! – Was –«

Graf: »Was würden Sie tun, wenn der Mörder noch drei Schritte von Ihnen entfernt wäre und Ihnen alles seine blutdürstige Absicht ankündigte, wenn es noch in Ihrer Gewalt stünde, durch einen mutigen Stoß in seine verruchte Brust Ihr Leben zu erhalten? Würden Sie den Stoßwagen?«

Gräfin: »Warum nicht, Graf, wenn –«

»Wohlan!« rief er, faßte ihre Hand und sprang auf – »wohlan! so wollen wir ihn wagen!«

Gräfin: »Graf, ich erstaune über Ihre Wut!«

Graf: »Kommen Sie! Stoßen Sie den Mörder nieder, oder er stößt zu.«

Gräfin. »Phantasieren Sie? – Welchen Mörder?«

Graf: »Ihren Mann – oder vielmehr den Unwürdigen, der sich so nennt! Hurtig! oder –«

Die Gräfin verstummte, voller Entsetzen über die wutvolle Miene des Grafen; sie schwieg lange mit ängstlicher Verwirrung, [159] bis der Graf hastig herausfuhr. – »Zaudern Sie? So geh ich an Ihrer Stelle«, sprach er und wollte gehn. – »Aber wohin?« schrie die Gräfin. »Mein Gemahl ein Mörder! – Wen will er töten?«

Graf: »Sie! – Hier lesen Sie! Und denn lassen Sie mich!«

Er gab ihr einen Brief, den der Graf von Longueville, als er eine geheime Verbindung zwischen seiner Gemahlin und dem Grafen Z. argwohnte, in der ersten Hitze der Eifersucht und des Unwillens an diesen schrieb, worinne er sagte: »Wollte der Himmel, daß ich von meinem häuslichen Elende erlöst wäre, sollte es auch durch den Tod meiner unwürdigen Gemahlin geschehen! Und könnte ich ohne Verbrechen etwas dazu beitragen, so tät ich's in diesem Augenblicke; aber meine Rache gegen sie und ihren schändlichen Verführer soll nur aufgeschoben sein.« –

Die Gräfin ließ den Brief zitternd sinken; in der Gemütsverfassung und so vorbereitet, wie sie ihn las, mußte ihr jedes Wort eine ausdrückliche Androhung des Todes scheinen. Sie zweifelte nicht, daß ihr Gemahl einen so grausamen Plan gemacht haben könne; ihr Widerwille gegen ihn erhöhte die Wahrscheinlichkeit eines solchen Anschlags und die Stärke des Beweises dafür; alles tumultuierte in ihr, jede Idee zog sie auf eine andre Seite, und ihre Mienen waren der völlige Ausdruck ihres innerlichen Kampfs. Kaum hatte der Graf ihre Unruhe bemerkt, als er sie bei der Hand ergriff. »Wohl, so sehen Sie noch einen Beweis!« sprach er. Sie ließ sich in der Verwirrung fast ohne ihr Bewußtsein von ihm führen und wurde erst mit Erschrecken inne, wohin er sie führte, als sie in das Zimmer ihres Gemahls trat. Sie fuhr zurück, allein der Graf riß sie mit sich fort zu dem Schreibeschranke des Grafen von Longueville, den er in der Abwesenheit desselben – denn er war spazierengegangen, seinen Unmut zu zerstreuen – geöffnet hatte. »Sehen Sie! und dann glauben oder zweifeln [160] Sie!« – Mit diesen Worten holte er zwei Pakete Arsenikum heraus, deren Aufschrift mit großen Buchstaben keinen Zweifel übrigließen, daß es Arsenikum war. Die Worte in dem Briefe des Grafen und in seinem Schreibeschranke gefundenes Gift waren zwei Dinge, die ein von Furcht eingenommnes Gemüt, wie der Gräfin ihres gegenwärtig war, nicht anders erklären konnte, als wie sie der Graf Z. erklärt wissen wollte. Nach einiger Überlegung beschloß man das Gift in Verwahrung zu nehmen und genaue Acht auf den Grafen Longueville zu haben, daß er nicht andre Mittel gebrauchen könne, zu seinem schrecklichen Zwecke zu gelangen. Die Überredung, daß dies Gift zu dem Tode der Gräfin habe angewendet werden sollen, nahm bei ihr durch Hülfe des Grafen Z. immer mehr zu und war schon unzweifelhaft, als sie wieder in ihr Zimmer kam. Ihr bisheriger Schrecken verwandelte sich in Zorn; sie verfluchte ihren Gemahl, sie wütete wider ihn, sie wollte – sie wußte selbst nicht was. Der Graf nützte den Augenblick, fachte ihren Zorn vollends an und riet in unversteckten Worten, das gefundne Gift wider den Grafen Longueville anzuwenden, und in dem Zorne ließ sie sich den unbedachtsamen Ausdruck entfahren: »Möchte er es schon zu seinem Verderben verschlungen haben, das Ungeheuer!« – Sogleich flog der Graf Z. mit einem Pakete davon, bemächtigte sich heimlich der Kaffeekanne, die auf die Zurückkunft des Grafen aus dem Garten wartete, und streute eine ansehnliche Dosis hinein. Sodann kehrte er zur Gräfin mit einem freudigen »Es ist geschehn!« – zurück. – »Was?« rief die Dame zitternd, »was ist geschehn?« – »Wir sind gerochen, von unserm Mörder befreit und – ganz unser!« Mit diesen Worten umarmte er sie. Die Gräfin stieß ihn zurück, schmähte ihn, raste, wütete mit allen Ausrufungen des weiblichen Zornes. »Gott!« rief sie endlich, als ihr Zorn ein wenig verdampft war, nachdenkend: »Sie haben einen [161] Mord begangen!« – »Auf Ihren Befehl!« war des Grafen kaltblütige Antwort. Ihre Wut verdoppelte sich, aber er hielt sie gelassen aus; sie sprach vom Entfliehen, aber der Graf widersetzte sich, weil die Flucht den völligen Verdacht auf sie bringen würde, Himmel und Erde waren für die Gräfin zu enge.

Die eigentliche nächste Ursache, die den Grafen Z. zu einer solchen Untat bewog, war ein heftiger Zank zwischen ihm und dem Grafen Longueville, worinne ihm dieser Galgen und Rad prophezeite und deutlich zu erkennen gab, daß es ihm nicht unbekannt sei, wie viele Wechsel von ihm in seinem Namen ausgestellt waren, ohne sich dabei der beleidigendsten Schimpfwörter zu enthalten, die ein solcher Mann verdient, aber nur nicht gern hört. Die Annehmlichkeit, mit vielem Gelde nach Willkür umgehen zu können, war ihm seit der Krankheit des Grafen, wo er sein ganzes Vermögen in seiner Gewalt hatte, beständig in zu süßem Andenken geblieben, um sie sich nicht wieder zu wünschen; solange der Graf von Longueville lebte, war er in unaufhörlicher Gefahr, daß seine Betrügereien entdeckt und er dafür bestraft werden möchte, was ihn die Drohungen seines Feindes in dem letzten Zanke sehr bald befürchten ließen; die Gräfin war liebenswürdig und er dem völligen rechtmäßigen Besitze derselben schon einmal so nahe gewesen, daß er nicht ein kleines Verlangen trug, in diese glückliche Lage wieder versetzt zu werden – alles Gründe, die den Tod des Grafen von Longueville für ihn höchst wünschenswürdig machten! Zorn und Rachsucht, die der letzte Zank bis zur Flamme entzündete, teilten jenen Gründen ihr Feuer mit, und der schreckliche Entschluß, seinen Gegner zu töten, entstand in ihm und wurde ausgeführt. Zu leugnen ist es nicht, daß der Graf Z. aus vielen Anzeigen Anstalten wider sein Leben von seiten seines Feindes argwohnen konnte, doch konnten es auch nur Anstalten zu seiner Wegschaffung sein sollen.

[162] [165]Der Graf von Longueville trank nach seiner Rückkunft seinen Kaffee; kaum hatte er ihn fünf Minuten hinunter, als er klingelte, laut rief: »Ich brenne! Hülfe! Ich verbrenne!« – und sich zu Bette bringen ließ. Das Brennen auf der Brust nahm zu, und des Nachts war er tot. Er hatte einigen Verdacht, daß man ihm Gift beigebracht haben möchte, und starb mit der völligen Wut eines Mannes, der ungern stirbt, ohne sich gerächt zu haben; das letzte Wort war noch eine Verwünschung seiner Feinde.

Die Gräfin rang indessen mit einer wirklichen Todesangst, und als sie seinen Tod vernahm, so sprang sie wie rasend im Bette auf und auf den Grafen zu, der bei ihr wachte; er hielt den Sturm aus und ließ sie toben, ohne sie beruhigen zu wollen, nur daß er ihr die Bedachtsamkeit empfahl, daß sie nicht mit ihm in Gefahr der Untersuchung geriet. Sie verdammte seine Bedachtsamkeit und hieß ihn gehn. Zween Tage lang blieb sie, als dieser verwilderte Zustand vorüber war, in der tiefsten Melancholie, ohne zu essen und zu trinken, mit kurzem unterbrochnen Schlummer, und der ganze Laut ihrer Stimme war ein Seufzer.

Öffentlich wurde die Vergiftung des Grafen als seine eigne Tat ausgegeben, und man fand so viele Beweise, die es glaublich machten, daß man sich wundern muß, wie eine falsche Sache mit so vieler Wahrscheinlichkeit bewiesen werden kann.

Nunmehr spannte der triumphierende Graf Z. alle Kräfte seiner kriechenden Dienstfertigkeit an, die Gräfin zu gewinnen; ihr schwaches Herz konnte nicht widerstehn, und er wurde ihr Gemahl; allein ihre Ehe war die unglücklichste unter der Sonne. Der Graf, als er sich im Besitze aller seiner Wünsche sah, warf die gefällige Maske ab und tyrannisierte in dem Maße, wie er vorher sklavisch gekrochen hatte. Sie schieden sich mit beiderseitiger Einwilligung. – Der Graf[165] schleppte sein Leben in Unruhe und Angst hin; er fiel nach einer schweren Krankheit in eine Schwermut, die ihn Tag und Nacht folterte, daß er zuletzt mit dem nämlichen Gifte sich selbst das Leben raubte, wovon er dem Grafen gegeben hatte.

Die Gräfin lebte in der tiefsten Einsamkeit, und ob sie gleich ihr Gewissen von aller wirklichen Schuld an dem Tode ihres Mannes freisprach, so hörte sie doch nicht auf, sich Vorwürfe über ihre vielfältigen Vergehungen und besonders über ihre Verheiratung mit dem Grafen Z. zu machen. Das Herz des Menschen ist schwach, aber am schwächsten das weibliche – war das Resultat ihrer Erfahrungen, das sie in dem Briefwechsel mit ihren Freundinnen fast immer wiederholte und zur Regel der Aufmerksamkeit empfahl.

[166]

Einige Gedanken und Grundsätze meines Lehrers, des großen Euphrosinopatorius

»Die Leute, die immer an der Welt flicken«, sagte mein verstorbner Lehrer, der große Euphrosinopatorius, eines Abends, als er hungern mußte, weil die schwarze Katze sein philosophisches Abendessen verzehrt hatte, »– die Leute, die immer an der Welt flicken, kommen mir vor wie jener Landmann, der höchst unzufrieden war, daß der liebe Himmel nicht besser für Leute mit kleinen Gütern gesorgt hatte und auf etlichen Ackern Landes nicht alles mögliche wachsen ließ, was zum menschlichen Unterhalte und Vergnügen dienen könnte. Um diesen Fehltritt der Natur zu verbessern, sollte das wenige Feld, das er besaß und das gerade zureichte, sich und seine Familie zu ernähren, ein Lustgarten, ein Obstgarten, ein Weinberg, ein Küchengarten, ein Getreidefeld zugleich werden. Er bestellt also seinen Acker mit Korn, pflanzte zur gehörigen Zeit Obstbäume, Küchenkräuter, Blumen darein, und um die Bäume sollten sich ungarische Weinreben schlingen. Die Anschaffung dessen, was er zu dieser Pflanzung brauchte, kostete ihm die Hälfte seines Einkommens; ›aber‹, sagte er, ›wenn ich gleich itzt ein wenig [167] darben muß, so soll mir das alles reichlich wieder ersetzt werden.‹

Das Getreide schoß an manchen Orten in die Höhe und erstickte Blumen und die übrigen Gartensachen, an andern stand es mit einzelnen Halmen und magern Ähren und ließ den Gartensachen Platz. Diese kamen zum Teil gar nicht fort, weil der Boden nicht für sie dienlich war, und was darunter fortkam, war mager und klein wie der größte Teil des Getreides, weil die Kräfte der Erde sich zu sehr hatten teilen müssen. Er mußte sein Brot die meiste Zeit des Jahres kaufen und gewann kaum den Samen, sein Feld das künftige Jahr auf die nämliche Art zu bestellen. – ›Alles das‹, sagte er, ›wird mir wieder ersetzt werden, wenn meine Obstbäume tragen. Aber gescheiter will ich's diesmal anfangen‹

Er teilte sein Feld, bestellte das in den Gründen mit Getreide, das auf den Höhen bepflanzte er mit Blumen und Küchensachen, wozu er großenteils die Pflanzen kaufen mußte, weil sein Same nicht aufgegangen war. Es kamen starke Regengüsse, Überschwemmungen, und die Nässe verdarb sein Getreide in den Gründen; die Pflanzung auf dem Berge hatte dieses Jahr wenig Sonne gehabt, um dessentwillen allein er sie doch da angelegt hatte, war wegen der Höhe den schädlichen Winden ausgesetzt und verwelkte, erstarb, oder was sich erhielt, wurde höchst elend. Genug, er hatte dieses Jahr weder Brot noch Küchensachen.

Wie konnte ich nur so einfältig verfahren? dachte er das dritte Jahr. Der Blumengarten und das Küchenland muß in die Tiefe und das Getreide auf die Höhe. Gerät in jenem nichts, so habe ich doch wenigstens hier mein Brot. Er tat es. Eine unglückliche Dürre vernichtete sein Getreide; der Boden im Grunde war durch die Nässe zu seiner diesjährigen Verrichtung untüchtig geworden und überhaupt sehr entkräftet.

[168] Auch dieses Jahr gab kein Brot und keine Küchensachen.

Das vierte Jahr blieb der Küchengarten ganz weg. Die Ränder der Getreidefelder wurden nur mit Blumen eingefaßt Er befand sich besser dabei.

Das fünfte Jahr fielen auch die Blumen weg, weil er keine von denen zu kaufen bekam, die er stecken wollte, und er befand sich noch besser, denn er ersparte das Geld dafür.

Die Obstbäume waren unterdessen herangewachsen. Er fand, daß in dem Schatten unter ihnen alles schlechter wurde; er riß sie heraus – und bestellte im siebenten Jahre sein Feld wie vor sieben Jahren, bestellte es bis an seinen Tod so und litt niemals halb soviel Not als während seiner vorhabenden Verbesserung der Natur. –

So geht es euch«, setzte er mit vielem Feuer hinzu und graute mit der rechten Hand unter der Schlafmütze seinen eisgrauen Kopf, »so geht es euch, die ihr unaufhörlich mit der Welt und allem, was darinne geschieht, unzufrieden seid, die ihr zu einer Zeit, unter jeden Umständen, in einem Menschenalter, unter jedem Himmelsstriche, unter jedem Regimente, bei jeden Einrichtungen alle Tugenden auf einmal verlangt, wider die Natur und die Menschen eifert, daß bei eurem Leben noch Laster in der Welt sind, Irrungen und Fehltritte vorgehen, und genau und sorgfältig Plane entwerft, nach welchem Takte und in welcher Richtung die Begebenheiten und Handlungen der Menschen ihren Marsch nehmen sollten, während daß die alte Welt ihren alten Gang fortgeht und euch zu Gefallen nicht einen Finger breit aus dem Gleise weicht, in das sie geraten ist. – Was hilft euch eure Bemühung?« – hier warf er voller Eifer die Schlafmütze auf den Tisch –, »wenn ihr sieben Jahre geflickt und gebessert und Versuche gemacht habt, alle Tugenden auf einmal in einem Boden zu pflanzen, und nichts fortgekommen ist, so legt ihr [169] endlich das Grabscheit nieder und macht es am Ende gerade wie jener Landmann.«

»Die Welt«, lehrte er mich zu einer andern Zeit, »ist ein System von Handlungen und Begebenheiten, wovon die eine wie ein Kammrad in die andre greift; das Wasser, das diese Räder treibt, ist die Gewohnheit, die bald so unaufhaltsam strömt, daß die Räder mit unglaublicher Geschwindigkeit herumlaufen, bald so langsam fließt, daß diese sich kaum zu bewegen scheinen. Der Strom ändert oft seinen Lauf, läßt in seinem alten Bette wenig und endlich gar kein Wasser zurücke, und wenn er sich an einem neuen Orte durchgearbeitet hat, so wird seine Flut allemal natürlicherweise schneller, und die Räder, die es eben trifft, laufen so hurtig! – Dieser jedesmalige neue Strom ist dieMode, der Zufall oder wie man es in verschiedener Rücksicht noch anders nennen könnte. – Die Bewegung teilt ein Rad dem andern so genau mit, daß oft eins sich darum so und nicht anders umdreht, weil ein durch einen weiten Raum davon entferntes sich so und nicht anders umgedreht hat.

Was muß daraus erfolgen? – Daß alle Räder eine doppelte Bewegung haben müssen: erstlich, die sie durch die Räder mitgeteilt empfangen, welche von dem Strome früher als sie in Gang gesetzt wurden; dann eine andre, die sie erhalten, wenn die Reihe sie trifft, von dem Strome getrieben zu werden; und nun kömmt es außerdem noch darauf an, wie jedes gebaut ist, von schwerem oder leichtem Holze, ob es mehr oder weniger Kraft braucht, um herumgetrieben zu werden.« –

Von diesem ganzen Gebäude hatte er mir unter der wörtlichen Beschreibung, durch Züge mit den Fingern auf dem Tische, einen Abriß gemacht und setzte darauf hinzu: »Siehst du nun wohl, was du bei einem solchen Rädersysteme tun könntest, wenn es nicht nach deinem Kopfe ginge?« –

[170] [173]»Wenn ich Gewalt und Vermögen dazu hätte, so machte ich dem Strome zu jeder Zeit ein solches Bette, wie er nach meinen Einsichten haben müßte, um jedem Rade jedesmal den gehörigen, wohlgeordneten, regelmäßigen Umtrieb zu geben, den die möglich beste Bewegung des Ganzen erfoderte, und machte sorgfältige Anstalt, daß er aus diesem Ufer nicht herauswiche, noch den Boden veränderte, dem ich die wohlabgemeßne Erhöhung geben würde, die ich zu dem nötigen Antriebe des Wassers für dienlich erachtete; ich würde alle Räder in den möglich besten Stand setzen –«

»Und mit vieler Mühe ein sehr einförmiges, langweiliges Werk zustande bringen«, unterbrach er mich mit einem gähnenden Akzente.

»Aber ein desto vollkommneres«, erwiderte ich.

»Ich denke nicht«, war seine Antwort. »Wenn man deiner ewig so taktmäßig fortlaufenden Welt eine Viertelstunde zugesehn hätte, so schliefe man ein und verlangte sie weiter nicht zu sehen, denn wie alles in der ersten Minute ging, so wird es in der letzten gehen. – Gut, daß du unsern Planeten nicht nach einem so ausstudierten Plane, einem so regularly cold, so regelmäßig kaltem Plane, gebaut hast! Ich hätte das süßeste Vergnügen in meinem Leben entbehren müssen, die vergangnen Zeiten zu überschauen und, soviel sich es mit einem menschlichen Gehirne tun ließ, aus den bunten, possierlichen, traurigen, lächerlichen, blutigen, einfältigen, abgeschmackten, rührenden, angenehmen, schrecklichen Auftritten ein Ganzes zusammenzusetzen, das alle Komödien und Trauerspiele, alle Staats- und Liebesaktionen an Feuer, Stärke und Hinreißen zur Empfindung übertrifft. – Nein, dich laß ich nimmermehr eine Welt bauen! – Dein Räderwerk wird gewiß auch sehr langsam, sehr bedächtig gehen sollen?


[173] – ut Attica virgo
Cum sacris Cereris! 6«

»Wenigstens müßte mir der Strom so laufen, daß keine Überschwemmung jemals entstünde oder durch ein zu schnelles Umdrehen Räder zerbrächen.« –

»Ja, ja! – Du bist zu meisterlichen Kunstgriffen nicht gemacht! – Wenn dein Werk einen Schaden nimmt und ins Stecken geraten will, was doch beides unvermeidlich ist, so setztest du dich wie ein elender Flicker hin und bessertest den Schaden schülermäßig wieder aus. – Eine Überschwemmung her! Die reißt die schadhaften Stücke und was dadurch das ganze Werk hätte zum Stocken bringen können ohne Umstände weg und treibt einen noch unmangelhaften Teil herum. – Das wäre ein coup de maître.«

»Das Ausbessern wäre aber doch ökonomischer.«

»Und eben darum klein! – Was ist bei einem, so weitläuftigen Werke wie eine Welt Ökonomie nötig? – Ein Stück Materie enthält viele tausend Elemente, die sich in viele tausend Formen zusammensetzen und verändern können. Ist es kein Mensch, so ist es ein Tier, eine Pflanze, oder es schwimmt in den Vorratskammern der Natur herum und wartet, bis es durch Zusammenstoßen, Gärung oder eine andre Ursache ein Teil von etwas für Menschen Sichtbarem wird. Der ewige Zirkel der materiellen Natur ist – Element; das Element wird zu subtiler Materie, dann zu gröberer, wird zur Pflanze, durch den Genuß der Pflanze zum Tiere, zum vernünftigen und unvernünftigen, und, wenn dieses zerstört wird – zum Elemente; und nun fängt der Kreislauf von neuem an. – Was ist bei einem solchen Überflusse, der wegen der beständigen Verwandlung ein unendlicher Überfluß wird, Ökonomie nötig? [174] Wie wollte ich einen Sparsamen belachen, der einen großen Kasten Metall besäße, das sich auf seinen Willen und durch eine eigne Bewegung immerfort bald in Dukaten, bald in Kupfermünze, bald in Silbergeld verwandelte! Wäre in einem solchen Falle Ökonomie nicht der Fehler und Verschwendung die Tugend?«

»Aber wenn nun diese Verschwendung mit Men schen begangen wird? Wenn Hunger, Krieg, Pest, die Leidenschaften Menschen aufreiben, so ist dies eine Verschwendung mit Seelen und nicht mit bloßen Stücken Materie.«

»Glaubst du denn, daß, da der Vorrat an Körpermaterie so überflüssig da ist, es die Seelenmaterie weniger sein werde? – Entweder wandern die Seelen einen ähnlichen Zirkel der Veränderung durch, wie ihn die Teile des Körpers durchwandern müssen – oder ist und bleibt eine jede für sich in Ewigkeit, was sie ist, und leidet bloß Veränderung in ihren Kräften und Verrichtungen, welches ich nicht ausmachen will – in beiden Fällen, glaube mir, wird für hinlänglichen Vorrat gesorgt sein. – Auch diese müßten dir immer denselben abgemeßnen Gang gehn, immer auf dem geraden Steige der kalten Vernunft, ohne ein einziges Mal in die Schlangenwege der Leidenschaft auszuweichen? Nicht wahr?«

»Gewiß!«

»Ich sehe, du gehörst unter die Klasse Menschen, deren es eine Menge auf unserm Erdenrunde gibt, die aus dem erhabnen großen Schauspiele der Welt ein einschläferndes eiskaltes Drama machen wollen, wo niemand weint noch lacht, das nach allen Regeln der französischen Theaterpraxis abgezirkelt ist, wo alle Schauspieler mit so spruchweiser Weisheit sprechen und mit so spanischer Majestät handeln als Corneilles Helden. – Sobald ich auf dem Theater der Welt nicht weinen oder lachen sehe und selbst nicht mitweinen und mitlachen [175] kann, so trete ich ab und mag weder Mitspieler noch Zuschauer sein. – Das beste ist, daß du in dem großen Maschinenwerke der Welt, von dem wir vorhin sprachen, selbst ein Rad bist, das von dem Triebwerke der vergangnen Zeiten und dem Strome der gegenwärtigen herumgejagt wird, so kannst du uns doch unsre Welt nicht verderben. – Inzwischen wäre es doch einer Frage wert – und das wollte ich eigentlich wissen, als ich dich vorhin fragte –, wenn du als ein Rad in der großen Weltmaschine wahrnähmst, daß deine Nachbarn rund um dich herum schneller, als es dir und dem Ganzen zuträglich wäre, und unordentlich herumgetrieben würden, sich und andre zerstießen oder andre zersplitterten, um selbst bessern Raum zu haben usw., was du alsdann tun würdest und tun zu können glaubst, um dir solche beschwerliche Nachbarn wegzuschaffen und sie zu hindern, daß sie dir, sich und andern keinen Schaden zufügten. – Den Strom der Gewohnheit, der Mode, des Schicksals kannst du, ein schwaches Werkzeug, das selbst unvermeidlich von ihm umgedreht wird, nicht verdämmen, in einen sanftern Fluß bringen oder gar ableiten; du mußt selber der Bewegung folgen, die dir die drei vorhin genannten Ströme geben, und kannst sie wenig ändern, auch die Bewegung deiner Nachbarn nicht verbessern, was sie selbst wenig oder gar nicht können; was ist dir übrig?«

»Nichts, als was ich vor etlichen Tagen aus dem Munde meines Lehrers gehört habe – sorgen, daß ich, so sehr und auf was für Weise es nur möglich ist, keinen Schaden von einem so unruhigen Nebengeschöpfe leide und dann ruhig zusehe und, wie es die Umstände geben, lache oder weine.«

»Du bist ein gescheiter Mann, denn du denkst wie ich – sagte einmal ein Papst, den ich um dieses einzigen Einfalles willen für keinen unrechten Papst halte. – Ja, du hast [176] meine völlige Meinung! – Ich will dich auch unterrichten, wie ich darauf gekommen undwarum ich sie für wahr halte.

Ich fand, daß der Mensch bei seinen Handlungen nichts tut als die augenblickliche Ausführung, daß die Handlung geschieht und daß sie auf diese Art geschieht, dies hängt von seinen Ideen ab.«

»Aber wovon hängen denn diese Ideen ab?« fragte ich weiter.

»Eine reichhaltige Frage! – Ich setzte sie auseinander. – Die Hervorbringung, Erweckung, Belebung meiner Ideen ist eine Wirkung derjenigen, die unmittelbar vorhergingen, eine Wirkung von dem zufälligen Spiele meines Gehirns, eine Wirkung von dem augenblicklichen Zustande meines Körpers, eine Wirkung der äußerlichen gegenwärtigen Dinge. Die Idee selbst oder vielmehr die Fähigkeit, sie zu haben, ist eine Folge meiner natürlichen Anlage, der Gewohnheit, des Schicksales. Daher habe ich meine Denkungsart, das heißt, die Ideen, nach welchen ich unbewußt handle, und die Art, wie sie mich affizieren, lediglich diesen dreien Stücken zu verdanken, unter welchen man so ziemlich alle die Ursachen zusammenfassen kann, die bei der Hervorbringung menschlicher Grundsätze mitwirken.«

»Himmel!« rief ich hier aus und fuhr erschrocken zusammen, »– wo bleibt, wenn dieses wahr ist, die so berühmte Freiheit des Willens? Wenn meine vorhergehenden Beobachtungen dem Menschen diese absprechen, so können sie nicht richtig sein!« –

»Sie sind es gewiß. – Wie kann man aber so wenig Gewalt über seine Ideen, die wirkenden Ursachen seiner Handlungen, haben und doch Herr über seine Handlungen sein?« –

»Ich fühle es unwiderstehlich, daß ich sehr oft den Lauf meiner Gedanken unterbreche, ihn anderswohin lenke, ihn [177] vorsetzlich auf etwas richte. – Das mag also wohl die Freiheit sein?« –

»Ach, was Freiheit! – Freiheit ist ein Wort, das die Sache ausdrücken will, wie sie ist, und der Mensch soll und kann doch das nur ausdrücken, was er in dem Augenblicke denkt!« –

»Ja, die Welt und alle Sachen in der Welt und also auch die menschliche Seele sind Würfel mit einer unendlichen Menge Seiten, worunter auf einer jeden eine andre Vorstellung der Sache abgemalt ist. Die Vorsicht, das Schicksal, oder wie es ein jeder nach seinen Begriffen sonst nennen will, wirft für einen jeden Menschen insbesondre diese Würfel, und von diesem Wurfe hängt es ab, welche Seite er sehn und folglich auch welche Vorstellung der Sache er haben soll. Bei einigen Menschen geschieht dieser Wurf nur einmal, und sie sehn ewig die nämliche Seite davon; bei einigen wird er oft wiederholt, und teils lernen sie verschiedene Seiten auf diese Art kennen, teils sehen sie oft eine andre. Der Weise, das heißt, der Mann von Genie und lebhaften geübten Seelenkräften, hat allein die Vergünstigung, sich diese Würfel oft selbst zu werfen oder verschiedene Seiten auf einmal zu überschauen; aber dieses Vorrecht ist einer großen Einschränkung unterworfen. –

Hieraus folgt natürlich, daß so, wie alle andre Dinge, auch die menschliche Seele ein Würfel ist, von dem, nach der Verschiedenheit des Wurfs, verschiedenen Menschen verschiedene Seiten sich zukehren, und von Stund an will ich mir die härteste Buße auferlegen, wenn ich mich wieder unterstehe, bestimmend zu sagen, daß die Seele frei oder nicht frei ist und auf was für Art sie es ist. Wenn ich das Wort Freiheit brauchte, so möchte ich gern etwas dabei denken; ein andrer würde etwas andres dabei denken, ein dritter noch etwas andres, und so könnten wir uns vielleicht darum zanken wie [178] jene Seefahrer – weißt du das Geschichtchen?« fragte er mich, »– die zugleich miteinander ausfuhren und beide an einen Ort gleiches Namens wollten. Unterwegs wurden sie über den Weg uneinig: Der eine behauptete, daß man nach Süden, und der andre, daß man nach Osten sich wenden müßte. Nach langem Gezänke und vielen Bitterkeiten kam endlich der eine auf den Einfall: So wollen wir es dann versuchen! Ein jeder fahre, wohin er denkt, und am Ende der Reise werden wir sehn, wer dahin gekommen ist, wohin wir wollen. Es geschah. Sie kamen nach der Reise in ihrem Vaterlande wieder zusammen, und ein jeder sagte: ›Nu? Habe ich nicht recht gehabt? Bin ich nicht da gewesen, wohin ich wollte?‹ –Ja, sie hatten beide recht: denn sie hatten beide an zween verschiedene Örter gewollt, die einen Namen rührten. –

Also«, wandte er sich zu mir und klopfte mir auf die Schulter, »merke dir das! Du mußt von der Seele und dem ganzen Menschen nichts mehr sehen wollen als die Seite oder die etlichen Seiten, die sie dir zufälligerweise zukehrt und die du dir selbst zukehren kannst, und deinen lieben Nebenchristen erzählen, was du gesehn hast, in der Hoffnung, daß sie diese Gefälligkeit dienstfertigst erwidern werden. – Auf diese Weise fuhr ich damals in der Betrachtung fort, die ich vorhin dir zu erzählen angefangen habe, auf diese Weise muß ich mir den Menschen so vorstellen 7 – ein andrer stelle sich ihn vor, wie er kann oder muß! – ich stelle mir seinen Kopf als ein Gefäß vor, in das Vorsehung, Schicksal, Zufall eine größre oder kleinere Menge Ideen hineingeworfen hat und noch hineinwirft. Unter diesem Kessel, dieser Pfanne oder[179] was man sonst sich darunter denken will, ist ein Feuer, das bald schwach glimmt, bald helle lodert – dies ist das Blut und die Lebensgeister. Die Ingredienzen des Kessels sind in einer beständigen Bewegung, teils von sich selbst – wie die Teilchen, die in der Luft schwimmen und sich immerfort aneinander reiben, zusammenhängen, trennen, woraus denn verschiedene Folgen entstehn –, teils durch die Wirkung des Feuers und die Zusätze, die täglich noch von außenher hineinfliegen. Hierzu kömmt noch eine dritte Bewegung, die die Seele verursacht; diese steht wie eine Zauberin vor dem angefüllten Gefäße und gibt der ganzen Masse von Zeit zu Zeit eine neue Wendung: Wenn ihr die Dünste, die daraus aufsteigen, mißfallen, so berührt sie mit ihrem Stabe die Teile, von welchen sie ausdünsteten, und zuweilen langsamer, zuweilen schneller, macht eine solche Berührung in diesen Teilen eine solche Veränderung, daß sie entweder von andern ganz unterdrückt werden oder eine ganz verschiedene Gärung und Bewegung entsteht, ohngefähr wie in einer Zusammensetzung von starken geistigen Materien, wenn ein neuer Spiritus hinzugegossen wird. Inzwischen kann diese zauberische Berührung nicht eher ihre Kraft ausüben, als wenn das Feuer, das die Masse in dem Gefäße erhitzt, den gehörigen Grad der Wärme hat; sobald dieses mit seinen Flammen darüber zusammenschlägt und also in dem Ideengefäße alles übereinander hergeht, kocht und sprudelt, dann – gute Nacht, Zauberkraft! – Die Seele kann ihren Stab nicht einmal nähern, so stößt die entgegenschlagende Flamme sie zurück, und die aus dieser kochenden Mixtur häufig auffliegenden Dünste versetzen die Seele in eine so unvermeidliche, unwidertreibliche Empfindung und bringen so unwidertreibliche Entschlüsse in ihr hervor, als die Teile der Atmosphäre um den Körper eine unwidertreibliche Empfindung in den Nerven erwecken; denn jene Ausdünstungen aus der Ideenmasse [180] sind es, die die Seele zwingen, ein saures oder ein freundliches Gesichte zu machen, zu lachen oder zu weinen, melancholisch oder wütend zu sein und also auch unfreundliche oder freundliche, lustige oder traurige, melancholische oder grausame Handlungen zu verrichten.

Also ist nach dieser Allegorie die Seele frei und nicht frei, das heißt, sie ist es zu gewissen Zeiten und ist es zu andern nicht; in manchen Fällen erscheint sie uns als eine Königin, die nur ihren Zepter neigen darf, um ihr Verlangen vom Körper ausgerichtet zu sehn, als eine Selbstherrscherin, deren Wille Gesetz ist, in andern als eine dürftige, blödsinnige Sklavin, die von der Gnade des Körpers lebt, oder gar wie eine Drahtpuppe, die von ihm regiert wird. –

Was kann bei dieser Bewandtnis getan werden, Menschen zu bessern, die einen großen Teil ihrer Torheiten, Laster, Irrungen, Versehen aus unvermeidlichen und ebendaher schwer zu hintertreibenden Ursachen begehn? – Gewöhnlicherweise kann keine Wirkung aufgehoben werden, wenn die Ursache nicht weggeschafft wird! – Diese Ursachen können Menschen weder von sich noch von andern entfernen; man müßte dem Fresser eine weniger reizbare Zunge, einen weniger verdauenden Magen, ein ganz andres sinnliches System und dabei andre Schicksale, andre Lebensumstände, genug, alles Innerliche und Äußerliche geben, was uns nüchternen, mäßigen Menschenkindern allmählich zu dieser Beschaffenheit verholfen hat. Daß dies unmöglich ist, wird ohne Beweis geglaubt; gleichwohl müssen doch Menschen sich bessern und gebessert werden können. – Was denkst du, daß man tun müsse oder könne, um sie zu bessern?« fragte er mich.

»Um sie zu bessern? – Gar nichts!«

»Das wäre schlimm! – Etwas läßt sich doch tun.«

»Man müßte in die Ideenmasse, von welcher wir vorhin gedachten, ein Ingredienz hineinwerfen, das wenigstens die [181] gegenwärtige Gärung unterdrückte und bessere Ausdünstungen in den Luftkreis der Seele brächte; aber wer kann das?«

»Das tun die Gesetzgeber und sollten die Moralisten tun. Jene werfen die Furcht hinein: ein starkwirkendes Spezifikum! Da sie bloß die äußerlichen Effekte der Handlungen ordnen wollen und bloß die äußerliche Ruhe zum Zwecke haben, so müssen sie ohne Ausnahme alle und jede Handlung als eine ganz willkürliche Handlung ansehen und auf die entferntern unwillkürlichen Ursachen, die sie allmählich vorbereiteten, gar keine und auf die näheren nur selten und bei Fällen, deren Verbindung mit der äußerlichen Ruhe weniger stark ist, Rücksicht nehmen. – Diese bessern also wie ein Arzneimittel, das zwar keine gesündern Säfte gibt, aber doch den Ausbruch der bösen mannichmal und unter andern günstigen Umständen verhindert.

Die Moralisten haben eine verzweifelte Rolle, und daher muß man es den guten Leuten unter ihnen vergeben, die sie in der besten Absicht schlecht gespielt haben. Das beste dabei ist: Der schlechteste Spieler hat doch immer das Verdienst, daß er sie wenigstens auf eine für etliche Menschen nützliche Art gespielt hat, und einer für alle! Das ist überhaupt nicht zu verlangen.

Ein solches Spezifikum wie die Gesetzgeber haben sie nicht –«

»Sie müssen also«, unterbrach ich ihn, »immer heimlich ein schwächeres, das in ihrer Gewalt ist, in die Ideenmasse hineinwerfen, das eine augenblickliche Veränderung verursacht; dies oft wiederholt, wird die Veränderung allmählich größer und merklicher –«

»Der Vorschlag ist nicht übel. – Im großen können sie also nach deiner Meinung gar nichts tun?«

»Nicht das geringste! – Sie müssen sich begnügen, bloß im kleinen zu arbeiten.«

[182] »Ich bin deiner Meinung. – Eigentlich können sie zweierlei tun. Sie müssen erstlich dafür sorgen, daß aus dem Vorrate von Kenntnissen, den ihnen ihr Nachdenken und ihre Erfahrung geliefert hat, allmählich bessere, richtigere und für das gemeine und besondre Beste nützlichere Begriffe in die Nationalphilosophie abfließen, die ganz aus solchen Begriffen, Meinungen und Urteilen besteht, welche ohne Unterricht durch den Umgang aus einem Kopfe in den andern übergehen. Ein großer Teil der Menschen und vielleicht der größte, selbst in der vornehmen Welt, lernt seine Begriffe und Urteile mehr durch die Gesellschaft als durch den Unterricht und durch eignes Lesen. Ihre Philosophie ist einzig die Territorialphilosophie, und solange die beste philosophische Meinung nicht die große Reise aus der Studierstube in die philosophischen Bücher, aus diesen nach einer sorgfältigen Reinigung in solche Bücher, die ohne scharfes Nachdenken gelesen werden, von da in die Köpfe des lesenden Teiles der Nation und aus diesen endlich vermittelst des Umgangs in die Köpfe des nichtlesenden Haufens getan hat, so lange ist ihr Nutzen eine schlafende Kraft, die nicht zur Äußerung kömmt. Eine solche Reise ist völlig wie die Reise der Israeliten ins Gelobte Land; Der größte Teil dieser Meinungen und Grundsätze kömmt unterwegs um, und die ja noch anlangen, brauchen eben soviel und noch mehr Zeit als Josua und Kaleb; sie haben sogar diese Unbequemlichkeit mehr, daß sie meistens sehr verunstaltet, voller Kot und Unflat ankommen, und besonders müssen sie auf der letzten Station aus den Köpfen der Lesenden in die Köpfe der Nichtlesenden und dann bei einer jedesmaligen Wanderung das größte Ungemach ausstehen. Gegenwärtig, da die Anzahl der Leser sich vermehrt, wird diese Reise allmählich verkürzt werden, aber noch immer lang genug bleiben, daß die Reisenden unterwegs verunglücken können.

[183] Du wirst dir leicht vorstellen können«, redte er mich an, »was für Kenntnisse ich verstehe, die eine solche Wanderung vornehmen sollen! – Kenntnisse von der menschlichen Natur, von dem, was sie tunkann und was sie also auch tun soll – nicht was sie ist, sondern wie sie uns erscheint – nicht auf einer Seite, wo sie entweder verderbt oder schlecht oder vortrefflich scheinen könnte, sondern auf allen, wo sie sich als keins von beiden allein, nicht völlig gut und nicht völlig böse, sondern besser und schlimmer vorstellt.

Die Philosophen sollten zu dem Endzwecke nichts tun als Tagebücher ihrer Erfahrungen liefern, ihrer Erfahrungen von sich selbst, die doch bei jedem Menschen am leidlichsten richtig sind und sein können, bei den meisten nur die einzigen sind, so wie die Erfahrungen an andern großenteils nichts als Anwendungen desjenigen, was wir an uns selbst bemerkt haben, sein müssen; und bei dieser Mitteilung ihrereignen Erfahrungen sollten sie sich nicht schämen oder an gewisse wunderliche Leute kehren, die lachen oder es gar für einen Stolz auslegen, wenn jemand von sich, seinen Schwachheiten und seinem Guten spricht. Da aber die Philosophen einmal Liebhaber vom Bauen sind, so mögen sie immer Systeme daraus bauen, nur müssen sie ihr Gebäude für nichts weiter als eine Sammlung individueller Erfahrungen halten, von denen folglich andre individuelle Erfahrungen verschieden und ebenso richtig sein können – du weißt schon, was ich bei andern Gelegenheiten hierüber gesagt habe.

Nun muß der Verfasser angenehmer Schriften sich die Mühe nicht verdrießen lassen, in diese Bergwerke hinunterzukriechen, das Erz herauszuholen, alles einzusammeln, was sich nur darbietet und von einigem Gehalte zu sein scheint, dann zu säubern und zu scheiden, so lange bis nichts als gutes, reines Gold übrigbleibt, und dieses feine geläuterte Metall ist es, was er seinen Lesern zuschlagen muß. Hätte die [184] Natur dem lieben Manne selbst ein paar philosophische Adern mehr als gewöhnlich in den Kopf gegeben, daß er wohl selbst kein übler nachdenkender Philosoph geworden wäre, wenn er nicht den Beruf gefühlt hätte, ein lehrender Philosoph zu werden, so wäre dadurch nicht das geringste verdorben – und nun wünsche du mit mir dem Heiligen Römischen Reiche Deutscher Nation noch einen erfoderlichen Zuwachs von Philosophen, wie es ihrer schon viele hat – wie viele es sein sollen, wollen wir nicht vorschreiben –, und dann einen ganzen Schwarm solcher Genies, witziger Köpfe, schöner Geister und wie dergleichen Männerchen weiter heißen, die gerade so sind, wie ich sie vor einigen Augenblicken haben wollte, etwas mehr – das könnte nicht schaden! –, nur nicht ein Haarbreit weniger! – solcher Genies, wie wir ihrer schon etliche wenige haben – und dann so viele Leser, als es Leute gibt, die aus vielerlei Ursachen keine Schriftsteller sein können und so glücklich sind, daß ihnen Erholungsstunden von den Geschäften des Lebens und der bürgerlichen Gesellschaft übriggelassen werden – Leser, die nicht bloß lesen, weil sie gerade nichts anders zu tun wissen, sondern um sich nützlich zu vergnügen, nicht um die Stunden wegzulachen, sondern um zu lachen und zu lernen – Leser von Geschmack und was man weiter noch von einem Leser verlangen könnte – und dann alles voll von lebhaften, muntern Gesellschaftern, die nicht nötig haben, erlernte Komplimente einander vorzustammeln und sich alsdann einander wechselsweise zu bewundern, wie gescheit man ist, oder kleinstädtisch zu verleumden, um sich nicht die Kinnbacken lahm zu gähnen; die nicht nötig haben, die ganze Gravität ihres Standes zusammenzunehmen, um einen geringen Klügern in den Schranken seiner Wenigkeit zu erhalten und sich es nicht fühlen zu lassen, daß jener doch im Grunde besser ist; die nicht nötig haben, alle Zeitvertreibe der Welt sogleich aufzubieten oder [185] über einen Narren zu lachen, um nicht die Kränkung zu erleben und sich an die Dürftigkeit ihres Kopfes notwendig erinnern zu müssen – Gesellschafter, denen man es ohne Mühe anmerkt, daß sie Geist, Leben, Witz, Laune, Kenntnisse besitzen und Zeitvertreibe nur zu Hülfe rufen, wenn die Zunge ermüdet oder um den Körper etwas von dem Vergnügen zugute kommen zu lassen – das wünsche Deutschland mit mir! Und wenn unser Wunsch allmählich in Erfüllung geht, so mag die deutsche Nation mit der Zeit eine vortreffliche Nation sein 8 –«

»Ich dächte«, unterbrach ich ihn, »das wäre sie schon und wir hätten nicht nötig, noch viele Schritte zu diesem Ziele der Vollkommenheit zu tun –«

»Das zweite«, fuhr er, ohne mir zu antworten, fort, »das zweite, was Moralisten tun können, ist, daß sie, wie der Gesetzgeber die Furcht zu der Ideenmasse hinzusetzt, da sie keinen ähnlichen Zusatz haben, in der ganzen Masse einen Aufruhr machen, die Scham auf den Stolz, den Stolz wider den Geiz und so immerfort eine Leidenschaft wider die andre loshetzen; so machen sie ihre Mitbrüder zwar nicht zu weisen und tugendhaften – was gewiß niemand durch einen Moralisten werden wird –, aber doch in einem oder dem andern Stücke zu bessern Menschen, als sie vorher waren, wäre es auch nur auf eine Woche. –

Wer also Beruf fühlt, zu diesem Grade der Besserung, so klein er ist, etwas beizutragen, der spreche frei, wie ich gesprochen hätte, wenn ...«, hier schwieg er. – »Die moralische Welt ist eine Republik, wo jedes Mitglied das Recht hat, sich über geringste Unordnung und Verletzung der Gesetze zu beschweren, jedes das Recht hat, Vorschläge zur Besserung zu tun; aber weil die Bürger dieser Republik, über die [186] große Beschwerden geführt werden könnten, zuweilen in der politischen Einfluß in die Schicksale eines ehrlichen Mannes haben können und sich lieber nach dem Platze behandelt sehn wollen, den sie in dieser einnehmen, so läßt ein weiser Mann einen Teil jenes republikanischen Rechts fahren und haut auf die Torheit und das Laster im allgemeinen los, und wen der Schlag trifft – wohl bekomme er ihm! –

So weit war ich eines Abends in meiner Selbstbetrachtung gekommen, als meine Frau ins Zimmer trat und mein ganzes Gedankengewebe zerriß. Meine Lebensgeister führen aus dem Kopfe ins Herz und spannen da ein neues Gewebe von Empfindungen. Ich umarmte sie und – Ist es schon spät? fragte ich. – ›Sehr spät!‹ sagte sie zärtlich und –

Ich dachte mit keinem Worte an meine Selbstbetrachtung mehr.«

»Sie hatte sich gewiß um eine Stunde verzählt«, setzte ich hinzu. »Wenn sie wenigstens gewartet hätte –«

»Bis meine Betrachtung alle gewesen wäre? – Nein, sie machte es recht. Wenn Empfindung das Nachdenken nicht zuweilen ablöst, so sammelt sich um unsre Gedanken so ein trüber Zirkel wie der Hof um den Mond, der ihre Strahlen auffängt oder ihnen eine ganz falsche Farbe gibt, so wie der Mond oft bloß deswegen blutrot aussieht, weil die vortretenden Dünste seine Strahlen rot färben. Ich bin also den Einladungen zur Empfindung allzeit ohne Anstand gefolgt, und wenn mir auch mein schönstes philosophisches Luftschloß darüber hätte sollen zugrunde gehen. Steine, Kalk und andre Materialien sind ja angeführt, wenn auch ein oder das andre Gebäude einstürzt, weil man von der Empfindung mitten in der Arbeit abgerufen wird – man fängt ein andermal wieder von vorn an.«

»Geschah dies auch in dem vorhabenden Falle?« fragte ich besorgt.

[187] »Allerdings! – und gleich den folgenden Abend darauf.«

»Da wurde aber doch etwas frühzeitiger angefangen?« –

»Damit ich fertig werden konnte, ehe es wieder sehr spät wurde? –Ja, frühzeitiger fing ich an. Mit dem Schlage sieben saß ich schon in meinem Lehnstuhle und fing meinen Gedankenbau an. – Ich rekapitulierte meine gestrigen Betrachtungen bei mir. – Wenn also, sagte ich, allgemeine Denkungsart, allgemeine Grundsätze und Sitten die unverhinderlichen Folgen der vorhergehenden Zeiten, der Schicksale, der natürlichen Anlagen eines Volkes sind; wenn Gewohnheit und Mode, die beide ihren Antrieb vom Zufalle bekommen, die zwo Angeln sind, in welchen sich die Menschen herumdrehen; wenn alle Begebenheiten in dem Laufe der Welt so aneinander anschließen, daß eine den Samen um sich wirft, woraus die Gewohnheiten und Sitten der künftigen Jahrhunderte aufwachsen – wobei mir die Kreuzzüge einfielen –, daß jede Gewohnheit, jede Mode von der vorhergehenden erzeugt wird und bei ihrem Absterben allemal eine schon erwachsne Nachkommenschaft und ungekeimten Samen für die entferntern Zeiten zurückläßt; wenn die besondern Grundsätze und Denkungsarten der Menschen aus diesem allgemeinen Meere der jedesmaligen Gewohnheit und Mode abfließen und diejenigen, die einem insbesondre eigen sind, von den Anlagen des Körpers und des Geistes, von den Schicksalen seiner ersten und nachfolgenden Jahre, von der allmählichen Gärung und Wirkung der Ideen und Empfindungen aufeinander abhängen; wenn die einzelnen Handlungen eines jeden unter der Gewalt seiner Ideen stehen und diese meistenteils in der Gewalt des Körpers, der äußerlichen Gegenstände und Empfindungen, der Leidenschaften und Gewohnheiten sind, so daß die Seele nichts tun kann als diesen schnellwirkenden Ursachen zuweilen eine andre Richtung geben; wenn also Menschen an ihrer Besserung so [188] [191]wenig selbst 9 und andre für sie tun können: was bleibt also bei so vielen wenn für einen Menschen übrig, der durch günstige Umstände der Natur und des Schicksals dahingekommen ist, daß er über Gewohnheit und Mode wegsehn und, indem er ihnen folgen muß, sehr wohl empfinden kann, daß er eine Torheit begeht? – kurz, der klug genug ist, um einzusehen, daß vieles in ihm und um ihn nicht zugeht, wie es soll? – was bleibt dem in einem Systeme, wo so viel Notwendigkeit und so wenig Freiheit regiert, übrig? –

Etliche Minuten standen meine Gedanken ganz still. – Endlich sprang plötzlich einer in mir auf: Er muß sich vor allen Dingen an allen vier Seiten seines Leibes Sicherheit machen oder, wenn die nicht zu haben ist, einen guten Harnisch über Leib und Seele anschaffen, teils damit die Pfeile, die andre auf ihn losschießen, nicht durchgehen, teils damit er doch, wenn Selbstverteidigung nötig ist, sich seines Lebens und guten Namens wehren kann 10, und nach diesen Anstalten – seh er sich das Possenspiel der Welt ruhig in seinem Panzer mit an! Lache, wenn es etwas zu lachen gibt! Weine, wenn es nicht anders sein kann! –«

»Großer Euphrosinopatorius!« rief ich unwillig aus, »mache, daß wir aus einer solchen Welt kommen!«–

»Gleich den Augenblick! – Narzisse!« rief er zweimal. –

Narzisse erschien, und ich erschrak. Ich hatte sie noch nie gesehn, wenigstens nie mit Aufmerksamkeit gesehen, [191] und bemerkte daher itzt zum ersten Male, daß sie schön war.

»Narzisse«, sagte mein Lehrer zu ihr, »dieser ehrliche Mann will mit aller Gewalt aus der Welt; berede ihn doch, daß er uns noch länger die Ehre gönnt dazubleiben!«

Mit diesen Worten ging er zur Tür hinaus und ließ mich mit Narzissen allein. Ich tat, als er ging, eine dreifache Anrufung an die Göttin Keuschheit, mir in diesem kritischen Augenblicke aus allen Kräften beizustehn. Sie näherte sich mir, sie redte mich an, ich glühte und –

In einer halben Stunde kam der Vater wieder und überraschte uns, als wir eben im Begriff waren, einander zu sagen, daß wir hübsch wären. Mein Kompliment war im Geschmacke der Lindnerischen Rhetorik abgefaßt, die damals meine Regel und Richtschnur sein sollte, und erstarb in seiner Geburt, denn ich hatte kaum die ersten Worte ausgesprochen, als Euphrosinopatorius bei dem Hereintreten mich fragte: »Nu, willst du noch aus der Welt?« –

»Nein«, sagte ich verschämt, »solange es noch Narzissen darinne gibt, will ich es mit ansehn.«

[192]

Johannes Düc, der Lustige,
oder
Schicksale eines Mannes von guter Laune

Alle Weisheit, mit welcher uns Lehrer und Bücher als einer Universalmedizin versorgen wollen, alle sogenannte Grundsätze, die das Herz wider Kummer und Schmerz waffnen sollen, alle Ingredienzen der Glückseligkeit, die uns moralische Rezeptmacher verschreiben, tun oft – und vielleicht meistens – nicht zur Hälfte die Wirkung, die eine einzige Pflanze der Natur hervorbringt – die gute fröhliche Laune. Wer aus Vorurteil, Melancholie, Milzsucht oder einer andern Krankheit des Körpers und des Geistes dies nicht glauben will, der lese aufmerksam die Geschichte eines Mannes, der es durch sein Beispiel bewies – und Trotz sei ihm geboten, wenn er noch eine Minute zweifelt!

Mein Mann hieß eigentlich Jean le Duc, war der Enkel französischer Vorfahren, die bei ihrem Aufenthalte in Teutschland sich und ihren Familiennamen allmählich nationalisiert hatten, und nennte und schrieb sich daher geradeweg Johann Düc. Schon seine ersten Jahre waren eine Reihe von unglücklichen Zufällen, die jeden andern daniedergeworfen [193] hätten und nur ihn nicht überwältigen konnten. Seine Eltern hielten ihn in einer Zucht, die mehr als Strenge, beinahe Grausamkeit heißen konnte; demungeachtet war er beständig der Lustigste in seiner kleinen Gesellschaft; kaum war ihm die Rute vom Rücken, so waren auch seine Tränen schon vertrocknet, und er lachte und scherzte so munter als der verzärteltste Prinz. Der Tod seines Vaters, der ihn der Dürftigkeit nahe brachte und in einem Alter erfolgte, wo er Unterscheidung genug besaß, die Größe seines Verlustes einzusehn, den er auch wirklich in seinem ganzen Umfange einsah, setzte ihn nur in eine kurze Betrübnis, ohne daß man ihm deswegen einen eigentlichen Leichtsinn beimessen darf, der nicht fühlt, weil er nicht fühlen kann. Die erste Stunde schlug ihn ganz nieder; seine Traurigkeit war fast der Schwermut nahe; die folgenden konnte er schon ohne Unruhe, mit gelaßner Überlegung von dem zugestoßnen Unglücke und den Folgen desselben sprechen, und den Tag darauf heiterte er diejenigen, die ihn trösten wollten, durch launichte Beschreibungen der komischen Szenen auf, die jede, auch die ernsthafteste Begebenheit insgemein begleiten und nur einen komischen Blick bei dem Zuschauer erfodern, um bemerkt zu werden, und diesen hatte ihm die Natur in einem reichlichen Maße mitgeteilt. Er machte Schilderungen von dem Aufzuge, in welchem er, sein ganzes Vermögen auf dem Rücken, das väterliche Haus verlassen würde, verglich sich mit den berühmten Armen, die er aus der Geschichte oder anderswoher kannte, und fand an sich eine Menge seltsamer Vorzüge vor ihnen – kurz, seine Armut wurde der Wetzstein seines Witzes, und er ertrug sie desto leichter, je weniger er sie empfand und empfinden wollte.

Das Vermögen, welches ihm sein Vater hinterließ, war wohl hinreichend, seine Mutter mittelmäßig zu erhalten, aber mit ihm hätte sie schlechterdings ohne Hungerleiden [194] nicht davon leben können; ohne viele Überlegung, aus eigner Bewegung überließ er ihr alles und wanderte aus, seinen Unterhalt zu suchen, wo er ihn finden würde. Sie ließ ihn mit Tränen von sich, allein seine Laune brachte sie so gänzlich von ihrer Betrübnis zurück, daß ihr Weinen sich zuletzt in ein Lachen verwandelte. Mit einem sehr mäßigen Zehrgelde, ohne Aussichten, ohne Bekanntschaften, als ein verlaßner Pilgrim, trat er seine Wanderschaft an, und doch hätte kein General, mit der völligsten Gewißheit des Siegs, seinen Marsch fröhlicher, zufriedner anfangen können.

Hier war er nun in die große, weite Welt hingeworfen! Ein verlaßner Abenteurer, der sich durch die Dornen und Hecken dieses Jammertals selbst Wege öffnen, selbst Hindernisse, Riegel und Mauern durchbrechen, übersteigen mußte, die sich einem armen Sterblichen in zahlloser Menge entgegenstellen, der aus der Dunkelheit, ohne die Empfehlung des Reichtums oder der Gunst, unter die Menschen auswandert! – Obendrein hatten sich Glück und Unglück fest vorgenommen, an ihm zu beweisen, wie viel sie über ein menschliches Leben vermöchten; er hielt ihren kurzweiligen Wetteifer geduldig aus, und wie sich ihr Spiel mit ihm verdoppelte, so verdoppelte sich auch in dem nämlichen Maße seine Fröhlichkeit.

Nicht lange hatte er seine Reise angetreten, als er schon in die Bekanntschaft einer Dame geriet – ein glücklicher Anfang! Er hatte eine starke Neigung zu dem schönen Geschlechte; doch gingen seine Ansprüche nie weiter als auf einen Kuß, eine leichtfertige Schäkerei, höchstens eine zärtliche Umarmung, und oft konnte eine Schöne seine ganzen Wünsche erfüllen, wenn sie ihm ihre Hand überließ, um sich von ihm führen zu lassen. Eines Tages, als sein bewegliches und unbewegliches Vermögen schon in nichts mehr als ein paar Hemden, der Kleidung, die er auf dem Leibe trug, und [195] etlichen Groschen Geldes bestund, ging er auf dem Fußsteige, der nach einem Dorfe führte, pfeifend über eine Wiese hin, mit der festen Entschließung, sich in die Dienste des Schulmeisters in dem Dorfe zu begeben und ihm so lange in einer von den Verrichtungen seines Amtes beizustehn, wenn es auch das Buchstabieren sein sollte, bis ihm das Schicksal eine günstigre Laufbahn eröffnen oder ihm sein Zustand lästig sein würde. Mitten unter der Beschäftigung mit diesen Gedanken, wobei er seine Beratschlagung nach seiner Gewohnheit mit einem lauttönenden Pfeifen begleitete, wurde er in der Ferne ein Mädchen gewahr, das ihm mehr als eine Bauerdirne zu sein schien. – Anlockung genug für ihn, dem Orte zuzugehn! Noch mehr wurde er angespornt, als er bei seiner Annäherung deutlich merkte, daß sie ängstlich etwas suchte; diese Wahrnehmung wirkte so stark auf seine Füße, daß er in halbem Galoppe bei ihr ankam, als er sie grüßte und sie um die Ursache ihrer Ängstlichkeit befragte. Sie erzählte ihm mit weinerlichem Tone, daß der geliebte Brillant, der schöne, niedliche, buntgefleckte, zottichte Hund ihrer gnädigen Frau, entwischt sei und nach aller Wahrscheinlichkeit – ach! auf ewig entwischt sei; daß sie ihn ihrer Gebieterin in das Birkenbüschchen auf das Rasenkanapee habe nachtragen sollen, wo sie sehnsuchtsvoll und schmachtend auf ihn warten – ach! vergebens auf ihn warten würde; daß sie ihn nur zwo Minuten von dem Arme auf die Erde gesetzt habe, um ihrem Strumpfbande ein wenig mehr Festigkeit zu geben, und daß über dieser Operation das naseweise Tier sich entfernt und – ach! ganz aus ihren Augen verloren habe. Das Mitleid wuchs bei dem guten Düc sehr stark an, da er wahrnahm, daß das Mädchen zwo volle rote Backen auf weißem Grunde und unter den schwarzen gewölbten Augenbraunen zwei funkelnde verliebte Augen hatte, aus welchen gerade ein paar Tränen über den unglücklichen Zufall abwandern[196] [199] wollten. So vielen Ansprüchen auf Mitleid und Beistand hätte ein minder empfindliches Herz nicht widerstehn können, am wenigsten war dies in Dücs Gewalt; er erbot sich sogleich zu der tätigsten Hülfe, ließ sich den Namen des Hundes sagen, pfiff, rief, guckte, suchte und – fand. Mit Entzücken sah die Zofe den vermißten Brillant im hohen Grase wollüstig daliegen und mit leichtfertiger Verwundrung das Näschen emporziehn, als sie ihn ausschalt, daß er ihr, seiner sorgfältigsten Versorgerin, so tödliche Unruhe verursacht hatte. Sie nahm ihn triumphierend auf die Arme und glaubte mit einem zierlichen Knickse und einem gehorsamsten Danke bei ihrem irrenden Ritter für den geleisteten Dienst loszukommen; allein das Mädchen war zu schön in seinen Augen, um mit kalter Höflichkeit vorliebzunehmen. – Er foderte schlechterdings einen Kuß; sie schlug verschämt die Augen nieder, verzog die Lippen mit einem sittsamen Ach! in ein sanftes Lächeln und – hielt den Backen hin. Er machte sich mit Überschusse bezahlt, und da Düc ein hübscher, frischer junger Mensch war, besonders eine sehr einnehmende Physiognomie hatte, so lud sie ihn zu sich auf das herrschaftliche Schloß ein, wenn sie ihm ferner irgendwomit in aller Zucht und Ehren die nen könnte. Eine solche Einladung war nach seinem Urteile wohl wert, daß er sie annahm, besonders da sie ihm einen guten Erfolg seiner Absichten versprach; er ging ihrer Anweisung gemäß in das Schloß der gnädigen Herrschaft von dem Dorfe, erfragte die Stube des Kammermädchens und erwartete daselbst unter dem Titel eines weitläuftigen Anverwandten ihre Rückkunft.

Zu Steuer der Wahrheit und die Keuschheit eines so hübschen Mädchens in gutem Kredit zu erhalten, muß ich jedermann höchlich versichern, daß ihre Meinung bei diesem Anerbieten ihrer freundlichen Dienste auf nichts als höchstens eine Mahlzeit gerichtet war, die ihr für einen solchen herumschwärmenden[199] Gesellen ein passendes Geschenk zu sein schien, nach deren Genusse er sich höflichst wieder empfehlen sollte; allein Dücs Absichten erstreckten sich etwas weiter: Denn als er an ihrer Seite sehr vergnügt sich gesättigt hatte und seine Schöne sich in Bereitschaft setzte, das Abschiedskompliment von ihm anzunehmen, auch ihm von Zeit zu Zeit erzählte, daß ihre Gegenwart nunmehr bei dem Ausziehen ihrer gebietenden Frau unentbehrlich nötig sei, so merkte er so wenig auf alle diese bedeutungsvollen Winke, daß er sich sogar ganz freimütig nach der Lagerstätte erkundigte, wo er übernachten sollte. Das arme Mädchen wurde bis in ihr Innerstes bewegt, als sie aus dieser Anfrage schließen konnte, mit was für einem dreisten, unverschämten, begehrlichen Menschen sie zu tun hatte. Sie zitterte für ihren guten Ruf, den sie sich bisher mit saurer Mühe erhalten hatte; sie fühlte bei sich ein gewisses Etwas, so ein Etwas, das dem Wunsch, ihn in dem Hause zu beherbergen, nicht unähnlich war; es schien ihr sogar, daß sie es aus christlicher und menschlicher Pflicht tun müsse; aber der gute Ruf! – der warf gleich ihre Liebe und Barmherzigkeit zu Boden. Ihre Verlegenheit war aufs äußerste gestiegen, sie überlegte mit tiefdenkender Miene und niedergeschlagnen Augen, als sie mit einem ungefähren Blicke, den sie seufzend um sich warf, innewurde, daß Düc bereits sehr merkliche Anstalten zu seiner Entkleidung gemacht hatte. Ah! fuhr sie mit einem lauten Schrei bei diesem Anblicke zusammen, die Schamhaftigkeit setzte ihr den Sporn in die Seite, und mit einem Sprunge war sie zur Tür hinaus.

Ihr keusches Geschrei, das durch alle Winkel des Hauses bis in das Zimmer ihrer Dame gedrungen war und das gleich jedermann für einen Notschuß erkannte, brachte alles in Aufruhr. Die gnädige Dame stopfte dem Mädchen alles, was nur roch und gleich bei der Hand war, in die Nase und brachte [200] sie mit einem äußerst stark müskierten Briefe, den sie eben von ihrem Bruder, dem Kammerjunker, empfangen hatte, glücklich wieder zum Leben. Darauf ging das Verhör an, worinne das Mädchen mit natürlicher Offenherzigkeit den ganzen Vorfall berichtete, und kaum hatte ihre Gebieterin Dücs große Verdienste um ihren Brillant und seine originale Unverschämtheit vernommen, als sie augenblicklich Befehl gab, ihm an einem schicklichen und wohlverwahrten Orte eine Schlafstelle einzuräumen.

Des Morgens darauf mußte er sich vor seine Gönnerin stellen, die ihn bald um seiner Munterkeit und seines heitern Charakters willen mehr als hochschätzte – beinahe liebte, und da sie eine Witwe war und folglich einen zeitverkürzenden Gesellschafter sehr wohl zu brauchen wußte, so nötigte sie ihn, in ihrem Hause so lange zu bleiben, als es ihm gefallen oder die Umstände zulassen würden. So vielen Vorteil ihm diese Gunst verschaffte, so wurde er doch durch den Vorzug, den ihn die Dame auf eine vielleicht zu merkliche Weise genießen ließ, in eine Menge Verdrießlichkeiten mit ihren Anverwandten, besonders mit einem hastigen, plumpen Offiziere verwickelt, der viele Ansprüche auf sie machte und nichts weniger als günstige Hoffnung erhielt. Um diesen lächerlichen Prätendenten zu kränken und ihn womöglich gar wegzuscheuchen, gab sie ihrem Düc ungemeßnen Auftrag, die ganze Artillerie seines Witzes an ihm zu versuchen. Eine solche Auffoderung von einer schönen Dame an einen witzigen Kopf! – das mußte Mut ma chen! – Er unternahm bei dem nächsten Besuche den Angriff, und die günstigen Umstände, unter welchen er ihn wagte, machten seinen Sieg unfehlbar; der ganze lachende Teil der Gesellschaft war auf seiner Seite und lachte ihm Beifall zu, um ihn aufzumuntern, um desto mehr lachen zu können. Sein überwundner Gegner verließ zwar verspottet, beschämt, verachtet den Kampfplatz, [201] allein er nahm Ärger und folglich auch einen Groll mit sich hinweg, der ihn notwendig zur Rache antreiben mußte. Düc wurde mit Lorbeern von seiner Dame gekrönt und war durch diese Heldentat zu dem höchsten Gipfel ihrer Gunst gestiegen; aber die Höhe war zu hoch, um sich lange darauf zu erhalten.

Sein Feind war nicht imstande, auf eine feinere Rache zu verfallen, als die der Zorn einem jeden Korporal eingegeben hätte; er ließ ihm von zween Grenadieren aufpassen, die ihn mit vereinten Fäusten und Knitteln so tapfer durchprügelten, daß die Hirnschale verletzt wurde, daß ihm Ströme Blut aus der Nase hervorquollen, daß ihm der linke Arm zerbrach und fast kein Glied ohne Wunde blieb. Seine Gönnerin hatte in der ersten Hitze das zärtlichste Mitleid mit ihm, sie weinte, sie besorgte selbst seine Verpflegung, machte selbst Anstalten zu seiner Verbindung und war so geschäftig, daß sie als Mutter oder Gemahlin ihre Sorgfalt nicht hätte verstärken können. Während daß seine Wunden heilten, konnte er tausend lustige Einfälle über seinen Zustand ausschütten und Materie zum Lachen finden, wo andre geweint hätten; deswegen verließ seine Dame ihn fast keine Stunde diese ganze Zeit über und zog die Unterhaltung des Patienten der Gesellschaft aller Gesunden vor, weil sie in keiner soviel zu lachen fand. Kaum war sein Körper wieder ausgebessert, als sich, um ihn ganz zugrunde zu richten, ein hitziges Fieber bei ihm einfand; das böse Fieber warf seine Kräfte völlig danieder, zehrte seinen Körper aus, und nun – gute Nacht, Witz und Laune! Er konnte nicht mehr lachen, ebensowenig andre zu lachen machen; sein Verdienst war erloschen und folglich auch – seine Achtung, Liebe, Freundschaft oder wie man es sonst nennen will; die höchste lodernde Flamme der Liebe war itzt ein elendes, schwaches Nachtlämpchen, das nur zuweilen aufblinkt, um bald ganz zu sterben. So eigennützig ist [202] oft die Liebe der Schönen, daß sie nichts gibt, ohne zu empfangen, kein Konto duldet und zuweilen bei der ersten bösen Bezahlung den Handel gar schließt! Der herabgesetzte Düc wurde zwar im Hause gelitten, aber als ein Emeritus, den man nicht aus Dankbarkeit, sondern aus Wohltätigkeit unterhielt! Und wehe dem Manne, der in einem solchen Verhältnisse glücklich sein will! – Auch war es Düc nicht im mindesten.

Endlich wurde zwar mit seinen Kräften auch seine Munterkeit wiederhergestellt, doch er war einmal bei seiner Gönnerin gesunken; sie hatte ihn zu lange als einen verdienstlosen Sterblichen und sich als seine Wohltäterin betrachtet, als daß seinen Einfällen nicht die Hälfte ihrer Wirkung benommen sein sollte; sie lächelte kaum, wo sie sonst lachte, und vieles, was sie sonst bewundert hätte, schien ihr itzt kaum mittelmäßig. – O ihr Sterblichen, was für Macht doch eine einzige Idee, ein gewisses Licht, in welchem ihr lange etwas gesehn habt, über euern Kopf und euer Herz hat! Euer Gefallen und Mißfallen ändert seine ganze Richtung oft auf den Zug eines Gedankenblickes, und wenn euch einmal zwo Wochen lang eine Sache schief erschienen ist, so schwört ihr gewiß ein ganzes Jahr darauf, daß sie nie gerade gewesen und nie gerade sein könne. – Diese Beobachtung konnte Düc ohne sonderliche Anstrengung machen; er machte sie und wünschte sehnlich eine Veränderung seiner Umstände – ein Wunsch, den er nur zu verstehen geben durfte, um ihn erfüllt zu sehn!

Auf die Empfehlung seiner gewesenen Gönnerin und etlicher andrer, deren Freundschaft ihm sein Witz bei seinem Aufenthalte in ihrem Hause erworben hatte, wurde er der Sekretär eines Mannes von angesehnem Stande und vorzüglicher Würde, mit welchem er kurz nach seinem Eintritte in seine Dienste an einen Hof abging. Auch in dieser Stelle gewann [203] ihm seine Munterkeit bald die Gunst desjenigen, unter dem er stand; doch unglücklicherweise war er bei seinem vorigen Aufenthalt mit einem Bedürfnisse bekannt geworden, ohne das ihn viele widrige Zufälle verschont hätten. Wer riet hier nicht gleich auf die – Liebe? Vormals war sie bei ihm zärtliches Naturgefühl des Herzens, das sich nur furchtsam höchstens bis zu einer verliebten Schäkerei hervorwagte; doch itzt hatte der Genuß ihn Süßigkeiten kennengelehrt, die ihm unentbehrlicher wurden, je länger er sie entbehren mußte; ohne sie fühlte er ein langweiliges Leere in allen seinen Ergötzlichkeiten, er empfand ein gewisses unbestimmtes Verlangen nach einem Etwas, das er sich selbst nicht nennen wollte noch konnte, seine Beschäftigungen, so gering sie waren, wurden ihm lästig, seine Gedanken liefen so unordentlich durcheinander als seine Empfindungen; er war das Spiel der tödlichsten Unruhe.

Nichts kann auf unserm Planeten leichter befriedigt werden als das Verlangen zu lieben; tausend artige und häßliche Geschöpfchen hat die Natur auf ihm hingesetzt, die nur darauf zu warten scheinen, daß jemand ein solches Verlangen empfinden möge. Auch lag wirklich wenig Wochen nach seiner Ankunft an dem Hofe sein armes Herz schon fest in Ketten und Banden: Er war der Günstling einer von den Mätressen des Fürsten.

Zwischen diesem Hofe und dem Hofe des Ministers, bei welchem er war, wurden damals Traktaten gepflogen, die ohne Intrigen auf keiner Seite zustande kommen konnten. Dem armen Düc widerfuhr ohne sein Wissen und Willen die Ehre, daß er zum Werkzeuge gewählt wurde, das jene Sirene nach ihrem listigen Plane regierte, und er folgte blindlings ihrem Zuge, wohin sie ihn nur lenkte. Er liebte sie so eifrig, so zärtlich, so feurig als ein Schäfer, in dessen Busen die ersten keuschen Flammen für eine Chloe auflodern; sie schien vollends [204] ganz eine helle große Feuersbrunst zu sein, daß er selbst mitleidig besorgte, sie möchte mit Leib und Seele verzehrt werden; aber du armer, betrogner Knabe! – Es war nur ein Blendfeuer, ihre ganze Liebe – List, Verstellung, Täuschung.

Sie schien sich an seiner Aufgeräumtheit ungemein zu ergötzen, und jedesmal, wenn der Fluß seines Witzes am stärksten strömte und seine Vorsichtigkeit am wenigsten auf der Hut sein konnte, setzte sie an, ihm durch versteckte Wendungen das Geheimnis seines Herrn abzulocken; allein sie erfuhr nichts, weil er nichts davon wußte. Der Minister, sosehr er ihn um seiner guten Laune willen liebte, setzte eben um ihrentwillen ein Mißtrauen in seine Behutsamkeit und verhehlte ihm die wichtigsten Angelegenheiten sorgfältig, um ihn nicht der Gefahr einer Verschwiegenheit auszusetzen, die ihm in vielen Fällen, besonders bei dem Frauenzimmer, hätte schwer werden können. Doch seine Göttin, die sich diese äußerste Vorsichtigkeit von seiten des Ministers nicht vorstellen konnte, erklärte seine anscheinende Rückhaltung für Verstellung und fand sich doppelt durch sie beleidigt; er mußte nach ihrer Voraussetzung ihre Liebe, mit welcher sie ihm zuvorgekommen war, zu wenig schätzen und sie weniger lieben, als sie nach ihrer Meinung verdiente. Was für mächtige Ursachen zum Zorne! Ihre Ehre war auf allen Seiten gekränkt; sie mußte aufgebracht sein, daß sie ihre Herablassung an einen Unerkenntlichen verschwendet hatte; sie mußte aufgebracht sein, daß ihr das ganze wohlausgesonnene Stratagem vereitelt wurde, daß sie ihr Wort, ihn zu hintergehn, umsonst gegeben hatte; der Ruhm ihres Verstandes, ihrer Feinheit, ihrer List, der Ruhm der weiblichen Gewalt über das männliche Geschlecht geriet in Gefahr; sie schien sich selbst ein betrognes, verachtetes, blödsinniges, überlistetes Weib – ein Weib, von einem Manne überlistet! Himmel! Das sind ja Auffoderungen, um vor Wut zu rasen!

[205] So viele Beleidigungen foderten schlechterdings Rache: Ihr Ehrgeiz trat mit der Liebe in ein Bündnis – und beide brüteten ein gar herrliches Projektchen zu Dücs Untergange aus. Er wurde wegen einer andern Sache, um welche er notwendig wissen mußte, noch einmal von ihr auf die Folter gebracht, und in dem vollen Laufe seiner Lustigkeit ließ sich der gute Narr fangen; er wurde offenherzig, und zwar so sehr, daß er sich einige seiner eignen Urteile und zuletzt sogar bittre Spöttereien darüber entwischen ließ, die eine schwache Seite des Hofs empfindlich angreifen mußten. Kaum hatte sie ihn im Netze, als sie triumphierend forteilte, seine Übereilung zu seinem Schaden zu nützen; sie entdeckte alles – versteht sich, mit wohlangebrachten Zusätzen und Verschönerungen! –, und in wenig Tagen war der ehrliche Johannes Düc von seiner Geliebten, von dem Minister verabschiedet und obendrein im Gefängnisse.

Viel auf einmal! Aber doch nicht genug, seine gewöhnliche Gleichmütigkeit zu überwältigen! – Seine Situation selbst gab ihm in den ersten Tagen seiner Gefangenschaft Stoff zum Lachen; der Kerkermeister, die andern Gefangnen kamen, sich von ihm belustigen zu lassen, und da dieser Zeitvertreib erschöpft war, verliebte er sich in die Tochter des Kerkermeisters.

Sie war oft mit ihrem Vater und der übrigen werten Familie seine Zuhörerin gewesen und wünschte bald, es öfter ohne eine so ansehnliche Begleitung sein zu können. Die Gelegenheit zeigte sich, wo sie ihm ganz allein einen Besuch abstatten konnte, und bei diesem ersten Besuche kam es schon so weit, daß sie ihn schlechterdings wiederholen mußte, wenn sich auch ihre ganze Anverwandtschaft vom ersten Urgroßvater an in corpore dawidergesetzt hätte. Er scherzte, tändelte, schäkerte, küßte die Zeit mit ihr hinweg, bis sich endlich die väterliche Autorität wegen verschiedener Bedenklichkeiten [206] ins Mittel schlug, das Mädchen aus dem Hause zu einer alten Muhme tat und also den Knoten des Romans mitten entzweischnitt. Wirklich war auch der rechte Punkt getroffen, denn noch eine Zusammenkunft! – und die Liebe hätte ihnen einen Streich gespielt, den Düc gewiß hinterdrein bei gesunder Überlegung gern verbeten haben würde.

Sein Herz war also wieder müßig; wo sollte es sich nun hinwenden? – Sein Witz half ihm. Er verfertigte sich aus der Wäsche, die man ihm mitgegeben hatte, eine Puppe, ein Ungeheuer, das kaum einem Wesen in der ganzen Schöpfung und noch viel weniger einem Mädchen ähnlich sah. Die Puppe wurde seine Geliebte, er küßte, er wiegte sie auf dem Schoße, er sagte ihr die schmeichelndsten Süßigkeiten – kurz, tat wie alle Sterblichen, wenn sie nichts zu tun haben – spielte mit der Puppe.

Seine Sache war indessen entschieden, und er sollte wieder auf freien Fuß gestellt werden; doch um zu sehn, wie weit seine Erfindung steigen würde, ließ man ihn noch einige Zeit im Gefängnisse und befahl, ihm seine Puppe heimlich wegzunehmen. Sie hatte wahrhaftig durch die Gewohnheit, sie als seine Geliebte zu betrachten, unschuldigerweise Anteil an seinem Herze bekommen, und ihr Verlust war ihm fast so schmerzlich als der Verlust einer Geliebten mit fleischernen Rosenwangen und fleischernen Lilienhänden. Er machte Elegien auf ihre Trennung, ließ sich eine alte Zither bringen und sang seine Trauerlieder mit einem karikaturmäßigen Schmerze darein. Auch dieser Zeitvertreib war bald abgenutzt. Endlich kam er auf den Einfall, seinen Aufseher im Tanzen zu unterrichten; der steife Alte mußte jede Stunde, die er missen konnte, seine ungelenken Füße zu Dücs Vergnügen hergeben. Das Lernen ging sehr langsam vonstatten, und die Ungeschicklichkeit des Lehrlings, der mit aller Mühe nicht ein rechtschaffnes Pas herausbrachte und die seltsamsten [207] Bocksprünge machte, diente dem Meister zum beständigen Gegenstande des Lachens, und selbst in den Stunden, wo seine Unterweisung nicht stattfand, unterhielt ihn das Andenken daran.

Endlich wurde er befreit, und seine Gefangenschaft hatte ihm wenigstens dazu genützt, daß ihn seine Aufführung während derselben verschiedenen Personen von Stande merkwürdig gemacht hatte, worunter ihm einige ihr Haus anboten.

Allen andern Anerbietungen zog er das Haus einer Dame vor, einer reichen Witwe, vielleicht mehr aus Phantasie als aus überlegten Gründen, wenigstens hätte er sich in seiner Wahl außerordentlich betrogen, wenn er mit Überlegung zu Werke gegangen wäre. Sie war nichts weniger als geschickt, einen Mann gehörig zu behandeln, den das Schicksal einige Stufen unter sie und die Natur ungleich mehrere über sie gesetzt hatte. Sie war zwar beständig in der großen Welt gewesen und kannte sie, allein sie war ein deutlicher Beweis, daß es ein mächtiger Unterschied ist, die Zeremonien der großen Welt und die Sitten der großen Welt gelernt haben. In jenen war sie ein Muster; aber diese, die sanfte nachgebende Politesse, hinter welcher sich die Größe gleichsam, wie hinter einem Schleier verbirgt, um nicht durch ihren Glanz zurückzuschrecken, um andre ihre Niedrigkeit weniger fühlen zu lassen und die Ehrerbietigkeit weniger schwer zu machen – diese Fertigkeit wirklich großer Personen kannte sie ganz und gar nicht, sie hatte vielmehr das völlige Steife und auffallende Stolze einer Dorfmonarchin, die sich nicht größer dünkt, als wenn sie andre empfinden läßt, wie hoch sie sich selbst schätzt.

Armer Düc! Nun wird's um deine Laune geschehn sein! – sollte man denken, aber nein! auch diesen Sturz hielt sie glücklich aus; nichts litt sie dabei, als daß sein Witz, statt [208] munter zu sein wie vorher, itzt allmählich beißend wurde. Das demütigende, niederschlagende Betragen seiner Gebieterin mischte eine Bitterkeit darunter, die ihn aus dem aufheiternden, lebhaften Gesellschafter zum pikanten Satiriker machte. Diese einzige Schadloshaltung verstatteten ihm seine Umstände, daß er sich aus der Tiefe, in welche er von dem Stolze jener Übermütigen niedergedrückt wurde, gleichsam zu seiner natürlichen Höhe wieder erhub, wenn er bei sich in der Einsamkeit oder unter Freunden ihn mit der unbarmherzigsten Satire durchzog; er lachte mit ihnen über seine komischen Beschreibungen davon und konnte außer der Gegenwart seiner Dame so froh sein, als wenn er nicht das schwerste Joch trüge – das Joch des Stolzes. Mit der Zeit nahm aber doch die Bitterkeit seiner Empfindung zu und verwandelte sich allmählich mehr und mehr in Ärger; sein Stolz bekam mehr die Miene des Unwillens, und da zween Stolze unmöglich nebeneinander Platz haben, ohne sich die Köpfe zu zerstoßen, so nahm er, weil er kein Liebhaber von Kopfstößen war, die klügste Entschließung und wich.

Freilich war er nach Verlassung dieses Hauses in nicht viel bessern Umständen, als wie ihn die Kindmutter auf die Welt setzte; aber Freiheit! –. Diese süße Idee und noch süßere Empfindung gab ihm einen genugsamen Teil seiner guten Laune wieder, um bei dem Mangel glücklicher zu sein als bei dem verlaßnen Überflusse, den ihn Zwang und Überdruß nur halb genießen ließ. Er wanderte in der festen Entschließung aus, seinen guten Mut auf die Probe zu stellen, ob er auf dem Meere so gut aushalten könne, als er bisher auf dem festen Lande getan hatte. Er fand zu seinem Glücke auf dieser Pilgrimschaft einen alten Freund, der ihn mit einem Zehrgelde versorgte, ohne das er nicht anders als durch Betteln nach Amsterdam hätte kommen können, wo er eine Stelle auf [209] einem Schiffe suchen wollte. Eines Abends, als er singend und pfeifend seinen Weg daherging, um in dem nächsten Dorfe zu übernachten, wurde er mitten in seiner Lustigkeit von Räubern überfallen. Er warnte sie mit aufgeräumtem Tone, als sie ihm eine Pistole auf die Brust hielten, ihr Pulver nicht an seinem Leben zu verschwenden, weil es ihnen die bei ihm zu hoffende Beute unmöglich wieder ersetzen würde. – »Ich will euch Ökonomie lehren«, setzte er hinzu. »Ohne zu schießen, ohne Zorn, Zank und Hader wollen wir in Ruh und Frieden miteinander teilen. Hier ist mein ganzes Vermögen« – wobei er seinen Geldbeutel in den Hut ausschüttete –, »ihr bleibt vermutlich hier auf dem Flecke und lauert auf jemanden, der euch eure Mühe reichlicher bezahlen kann, aber ich muß noch bis nach Amsterdam. Wenn ihr's nicht sonderlich nötig habt – wir wollen zur Hälfte teilen.« – Die Diebe lachten und willigten in den Vertrag; allein sie betrogen ihn, denn gleich darauf fielen sie ihn noch zu verschiedenen Malen an und teilten so oft mit ihm, bis ihm nichts mehr zu teilen übrigblieb. – »Nu gut!« sagte er bei der letzten Teilung, »wenigstens wollen wir diesen Rest im nächsten Wirtshause zusammen vertrinken, damit ich doch etwas von meinem Gelde genieße, nicht wahr, so gutherzig seid ihr?« – Sie gingen miteinander, führten seinen Vorschlag aus, und die Räuber waren von seinem guten Mute und seiner fröhlichen Laune so bezaubert, daß sie ihm das Geraubte bis auf den Pfennig wiedergaben. Er dankte ihnen freundlich und setzte seinen Weg glücklich bis Amsterdam fort.

Er tat eine Reise nach Ostindien; alle traurige Zufälle der Schiffahrt vereinigten sich auf dieser ersten Seereise, und doch war er beständig der Heiterste, der Fröhlichste und mußte oft den Tadel des Kapitäns darüber erdulden, dessen Ernsthaftigkeit sich mit seiner Aufgeräumtheit nicht vertragen wollte. Er spottete über die Wellen, scherzte mit ihnen, [210] foderte sie heraus, lachte des Sturms, wenn andre auf ihn fluchten oder über ihn winselten.

Obgleich Dücs Geschichte buchstäblich wahr ist, so wird er doch, so gut als in dem besten Romane, auf einer so kurzen Fahrt verschlagen, und zwar an eine Insel, die damals mit den Holländern noch in keiner Verbindung stand. Die Einwohner foderten sie mit den lächerlichsten Zerimonien durch einen Gesandten, der vom Kopf bis auf die Füße mit bunten Federn geschmückt war und tanzend die Kriegserklärung absang, förmlich zum Treffen auf. Der Kapitän, ein, jachzorniger Mann, war gleich bereit, den Gesandten und die kleine Armee, die sich von fern blicken ließ, daniederzuschießen; doch Düc rettete sie durch seine Vorbitte, erbot sich zum Abgeordneten an sie und besänftigte durch sein friedliches Betragen ihren Zorn.

Bald darauf kamen sie zu einer andern Insel, die leer von Bewohnern zu sein schien und wo sie Wasser einnahmen. Düc ging mit denen, die das Wasser holten, ans Land; sie mußten tief in die Insel hineinwandern, um einen Quell zu finden, und unterdessen riß eine schnelleinbrechende Flut ihr Boot los, trieb es in das Meer zurück, und das Schiff, das sie schon längst aus dem Gesichte verloren hatten, wurde von dem nämlichen Strome, ohne daß sie es wußten, weit von ihnen entfernt Einige von ihnen folgten trostlos den Krümmungen des Flusses, auf welchem sie hereingefahren waren, um so vielleicht zu dem Meeresufer ohne Verirrung zu gelangen und dem Schiffe zuzurufen, das sie nichts weniger als so weit von ihnen weggetrieben glaubten. Sie kamen wohl nach unendlichen Beschwerlichkeiten, durch Sümpfe und über Felsen dahin, aber – da war kein Schiff! Sogar ihr letzter Trost war nun erschöpft; sie vermuteten die Ursache von der Verschwindung des Schiffes und gaben sich, dieser aus Verzweiflung, jener aus mutloser Gelassenheit, willig darein, [211] auf diesem öden Flecke Erdreich zu verhungern. Schrecklich war es allerdings, sich auf ein Stück Fels mitten in unermeßlichen Wassern hingesetzt zu sehen, auf einem Platze, den wahrscheinlicherweise niemand befuhr, wenn ihn nicht der Sturm oder ein andrer Unfall hinschleuderte, ohne Anschein von Rettung, in der gewissen Erwartung eines quälenden Todes; denn der Boden brachte kaum etliche Halmen Gras hervor und schien eßbare Früchte gar nicht zu kennen; die Wasserfässer und ihre Kleider waren alles, was sie besaßen, ihre Bequemlichkeiten und ihre Reichtümer. Sie beratschlagten lange, ob sie auf der Stelle sterben oder den höchst mühsamen Weg noch einmal daran wagen sollten, um ihren zurückgelaßnen Gefährten die Nachricht von der Gewißheit eines Schicksales zu überbringen, das sie bald fühlen mußten; Düc, der unter diesen Abgeordneten war und dessen Hoffnung nur mit seinem Atem ausging, riet zu dem letztern und riß seine Kameraden mit einer Art von freundschaftlicher Gewalttätigkeit fort. Die Zusammenkunft war, wie leicht zu erachten, höchst traurig, und Düc wurde sehr gehaßt, daß er das Traurige davon weniger empfand und die andern weniger empfinden lassen wollte. Der Hunger nahm mit jedem. Tage zu, und die Vermutung, ihn zu stillen, nahm mit jedem Tage ab; denn bei fernerer Untersuchung fanden sie auf ihrem Wohnorte mehr Felsen und weniger Boden und außer einigen sparsamen Kräutern, die am Rande eines Baches wuchsen, nicht das mindeste Gewächs, keinen Baum, kein Tier, außer einigen kurzen Gesträuchen, die zerstreut an der einen Meerseite stunden, die sie am schicklichsten für ihre Wohnung fanden. Dücs Gefährten, sonst mutige Flucher, verzweifelten und faßten den schrecklichen Entschluß, sich ins Meer zu stürzen, um einen unvermeidlichen Tod zu beschleunigen. – »Narren«, rief Düc bei einer solchen Beratschlagung, »was soll ich allein hier anfangen? Die Zeit wird [212] mir lang. Wir wollen das Gras der ganzen Insel erst einernten, und wenn unsre ganze Ernte aufgezehrt ist, denn steht es uns ja immer frei, ob wir eines nassen oder trocknen Todes sterben wollen.« – Er stellte ihnen seine Abneigung, sich selbst den Fischen und Ungeheuern des Meeres zu servieren, und seine Furcht, von ihnen verschlungen zu werden, so komisch vor, malte ihnen den kleinen, armseligen Rest von Hoffnung und die Art ihrer Erhaltung und künftigen Lebensart so lebhaft, so munter ab, daß er sie, bis auf einen, von ihrer Verzweiflung zurückbrachte, der unter allen der Mutloseste war und in dem Taumel der Verzagtheit sich geradezu in die Wellen warf, ohne ein Wort hören zu wollen.

Die übrigen sammelten auf Dücs Rat und unter seiner Anführung jeden lebendigen Halm ein, dessen sie nur habhaft werden konnten, und machten eine Höhle zum Magazin, wo sie den getrockneten Vorrat sicher vor Regen und andern Zufällen aufbewahrten. So unangenehm auch der Geschmack dieser Nahrung und so kümmerlich überhaupt dieser Unterhalt war, so erhielt sie doch Dücs Heiterkeit unbeschädigt und teilte sich auch seinen Gefährten so weit mit, daß sie wenigstens nicht über ihr Schicksal murrten, wenn sie sich gleich nicht darüber erheben konnten. Das Bedürfnis machte sie so sinnreich, daß sie mit den zerschlagnen Dauben eines Wasserfasses, die sie an einem Ende mit Messern, ihrem einzigen Handwerkszeuge, zuspitzten, Fische ungemein fertig aufspießten, wenn sie sich am Rande des Wassers blicken ließen. Im kurzen erhöhte die Übung ihre Fertigkeit zu einem Grade von Unfehlbarkeit, die ihnen fast niemals ihre Beute entwischen ließ; doch was nützte ihnen eine Speise, die sogleich von der Fäulnis verdorben wurde und die sie gleichwohl aus Mangel des Feuers und Brennholzes nicht zum Genusse zubereiten konnten? – Der Zufall kam ihnen zu Hülfe: Sie entdeckten eine salzige Quelle, in welcher sie die getöteten [213] Fische einlegten, um sie, wenn sich nach ihrer Meinung Salz genug hineingezogen hatte, von den Winden, die bisweilen sehr heftig und scharf bliesen, trocknen zu lassen.

Dücs wohlgenährter, ausgestopfter Körper, den er auf die Insel in dem blühendsten Zustande mitbrachte, litt durch diese nicht sonderlich nahrhafte Kost keine merkliche Veränderung, seine Gesundheit ebensowenig und folglich auch seine Laune nicht, die mit jener bekanntermaßen immer in gleichem Schritte geht. Desto schlimmer waren seine Gefährten daran; einer starb, die andern waren insgesamt krank und rückten täglich dem Tode näher; die Munterkeit ihres Kameraden vermochte über ihre abgemergelten Gerippe und vertrockneten Nerven nichts, sie wurde ihnen gar zur Last. Sie bedauerten es insgesamt sehr vielfältig und machten ihrem Ratgeber bittre Vorwürfe darüber, daß er sie von ihrem Vorsatze, sich ins Meer zu stürzen, zurückgebracht hatte, und ob es gleich noch immer in ihrem Belieben stund, ihn auszuführen, so hatten sie doch weder Kräfte, Feuer noch Mut genug, ihn nur zu fassen, und konnten nichts als weichmütig klagen. Düc wies ihre Beschwerden mit einem lustigen Einfalle ab und ermahnte sie, seinem Beispiele zu folgen, ihre Betrübnis, die sie sonst im Branntewein ersäuft hätten, itzt im Wasser ertrinken zu lassen, wobei er ihnen aus dem Bache auf die Gesundheit seines dicken Bauchs zutrank. Er versicherte, daß er bei Gras und halbverfaulten Fischen mit seinem Bauche der holländischen Nation mehr Ehre mache als der Statthalter zu Batavia, der dem Gerüchte nach so mager als eine vertrocknete Sardelle sei, ob er gleich in einer Mahlzeit mehr zu sich nähme, als sein Magen auf dieser Insel wahrscheinlicherweise niemals zu sehen bekommen würde, und wenn er ein ganzes Jahrhundert hier zubrächte! »Dafür hat er nicht, was ich habe«, setzte er hinzu, »– fröhlichen Mut! Er soll so sauertöpfisch und mürrisch sein als ein indianischer[214] Affe.« – In einer solchen Laune schwatzte er die Zeit, Kummer und Hunger hinweg; doch seine Aufgeräumtheit tat bei seinen Gefährten eine widrige Wirkung; wie allen Menschenkindern diejenigen unter ihren Brüdern zur Last sind, zu deren Fröhlichkeit sie sich nicht erheben können, so wurde er ihnen unleidlich und endlich gar verhaßt; sie hießen ihn schweigen, sie jagten ihn unwillig von sich.

Noch mehr! Als er einst schlief, faßten sie gar den grausamen Entschluß, sich mit seinem noch ziemlich fleischigen Körper bessere Nahrung und bessere Kräfte zu verschaffen: Sie wollten ihn umbringen, und einer, der jederzeit das menschenfeindlichste, mürrischste Tier des Erdbodens gewesen war, zog schon sein Messer hervor. Die Verzweiflung hatte alle Federn seiner Seele angespannt, um diesen Vorsatz hervorzubringen; doch da er zu abgemergelt war und sein träges, faulendes Blut seine Grausamkeit nicht unterstützte, so entsank ihm Mut und Messer, und er unterließ eine schreckliche Handlung, die er bei mehr körperlicher Stärke zu Anfange dieses traurigen Aufenthaltes gewiß begangen hätte, wenn ihm Düc schon damals so verhaßt gewesen wäre als itzt. Inzwischen waren sie einmal auf den blutdürstigen Gedanken gekommen, ihren Hunger mit dem Fleische ihres Kameraden zu stillen, und einer unter ihnen tat den Vorschlag, ökonomisch dabei zu verfahren und sich indessen mit den Waden zu begnügen; man billigte seinen Rat und rüstete sich zur Ausführung. Sie fielen insgesamt plötzlich über ihn her, hielten ihn fest, und einer schritt zur Operation. Kaum hatten sie ihn angegriffen, als er auffuhr. – »Was soll das?« fragte er verwundert. – »Halt still, oder du kömmst um dein Leben!« war die Antwort, wobei ihm der Exekutor, um ihn zu schrecken, das Messer an die Kehle setzte. – »Lieben Kinder!« sagte Düc, der seine Fassung nur auf einige Augenblicke verloren hatte, »habt ihr auf einmal so viele Lust zum [215] Spaßen bekommen?« – So wand er sich los, was ihm bei so schwachen Gegnern ungemein leicht wurde, und stellte sich mit seinem eignen Messer unter possierlichen Gebärden zur Gegenwehr. Seine Feinde hungerte im Ernst, weswegen sie am Spaßen keinen Geschmack fanden, sondern ihn überwältigten, daß ihm also nichts übrigblieb als – kapitulieren.

»Sagt mir nur«, fing er an, »warum? was? wie?« und dergleichen mehr! »Erstlich, was wollt ihr!« – »Deine Waden!« schrie man, setzte sogleich dasWarum und statt des Schlusses eine abermalige Drohung mit Lebensgefahr hinzu. –

»Meine Waden! Wenn's weiter nichts ist! – Warum habt ihr nun nicht das Vertrauen zu euerm Kameraden und sagt so etwas geradeheraus? Lieber hättet ihr den dummen Streich begangen, mir beide Waden abgesäbelt und mich auf Lebenszeit gelähmt; ich will euch einen viel vernünftigern Rat geben. Meine Hinterbacken sind ein viel größerer und herrlicherer Bissen, von dem ihr euch lange ohne meinen Schaden nähren könnt; nur das bedinge ich mir aus, daß ich den Vorgriff habe; denn eigentlich ist es doch mein Eigentum. Wohlan! Ich will euch bewirten, so kostbar als kein König traktiert. Schneide zu, Mann!« –

In dem Augenblicke wollte er sich in die zur Operation bequeme Lage versetzen, der Vorschneider machte sein Instrument zum Schnitte fertig – pump! gab ihm Düc einen fühlbaren Stoß mit dem Fuße ins Gesicht, daß er rücklings niederstürzte, schrie aus vollem Halse: »Schiffe! Schiffe!« – Die ihm den Oberleib hielten, sahen sich nach einer Sache, die sie so sehnlich wünschten, begierig um, ließen darüber ihre Hände erschlaffen, er sprang auf, rennte nach dem Ufer zu, gerade ins Wasser hinein, so tief er konnte, und entwischte glücklich in eine nahe Felsenkluft an der linken Seite der Insel, wo er sich vor der Wut seiner Gefährten verbarg.

Was hatte er aber nun gewonnen? – Sein Zustand war itzt [216] [219]unendlich trostloser; den Tag über schlief er, und des Nachts schlich er herum, die Magazine seiner Gefährten zu plündern und die Salzquelle zu berauben. – O Himmel! Wenn doch nur vier oder fünf Menschen auf einem Flecke dieser Erdkugel zusammen leben könnten, ohne zu streiten und zu kriegen! Hier sitzt ein Trupp von sechs Personen auf einem öden Stücke Fels in der dürftigsten Verfassung, ohne alle die gewöhnlichen Reize der Leidenschaft und der Habsucht, und doch ist schon innerlicher Krieg! Da sie nicht um Geld und Länder kämpfen können, so kämpfen sie um ihre – Waden; schon vertreibt eins das andre, schon will eins das andere verhungern lassen! – Und der Krieg war gewiß äußerst ernsthaft; denn nicht viel fehlte, so rieb er beide Parteien auf; auch starb wirklich einer von Dücs Feinden in wenig Tagen. Wer sollte es vermuten? Das Schiff, das von seiner Bahn unendlich weit weggetrieben worden war und sie so lange ihrem traurigen Schicksale hatte überlassen müssen, kam auf seinem Rückwege – in der Absicht, die Zurückgelaßnen aufzusuchen, oder durch einen günstigen Zufall – wieder nach dieser Insel zu. Ohne daß man erwarten konnte, noch jemanden lebendig anzutreffen, schickte man ein Boot dahin ab, welches außer unserm Düc nur noch einen am Leben fand; diese beiden wurden itzt, da sich einer so gut als der andre füttern konnte und keiner etwas zum voraus hatte, wieder herzensgute Freunde und Düc, dessen Munterkeit in der letzten einsamen Periode einen großen Stoß erlitten hatte, wieder der vorige Düc, sobald sein Bauch und seine Waden wieder rekrutiert waren. Er tat die Reise nach Ostindien noch zu verschiedenen Malen, gelangte zu einigem Vermögen, fing einen eignen Handel an und handelte sich reich.

Da er Reichtum bekam, so war für einen Menschen von Dücs Zusammensetzung nichts natürlicher als der Gedanke, ihn mit einem Mitgeschöpfe zu teilen, das ihm durch ihre Gemeinschaft [219] den Genuß desselben erhöhte, das heißt in gewöhnlichem Teutsch – sich eine Frau zu suchen, und da der Geruch des Reichtums sehr bald Mitesser herbeilockt, sobald man nur die mindeste Miene macht, dergleichen zu verlangen, so war er ohne Schwierigkeit verlobt, verheiratet und in der gehörigen Ordnung Mann und Vater; allein die Prüfungen seiner guten Laune waren noch nicht vorüber; denn der Himmel gab ihm eine weise Frau – eine Frau, die mit tausend guten Eigenschaften geschmückt war, die jeden andern Mann überglücklich hätten machen können und unter welchen eine einzige und die vorzüglichste Dücs Unglück war: Sie hatte geradesoviel Verstand als ihr Mann Witz und beinahe soviel Ernsthaftigkeit als ihr Mann Aufgeräumtheit. Durch welche Bezauberung der gute Knabe dazu kam, daß er gerade eine Frau wählte, die dem ersten Anscheine nach für ihn gar nichts Anziehendes hätte haben sollen, die so völlig sein Antipode war, daß noch nie zwei so ungleichartige Dinge zusammen gepaart worden sind – und wie er bei völliger Freiheit, ohne gezwungne Rücksicht auf Geld, ohne Verblendung von Schönheit eine solche mißhellige Wahl tun konnte, das weiß allein der Himmel, der Herzen und Hände auf dieser Erde miteinander vereinigt; ich meines Orts kann nach meinem schriftstellerischen Gewissen weiter nichts mit Gewißheit berichten, als daß er auf das Kommando des Pfarrs den Ring mit ihr wechselte und daß sie ihm zu gehöriger Zeit einen Sohn lieferte, der Andreas getauft wurde und eine so verkehrte, wunderseltsame Kreatur war, als man von einer Zusammensetzung aus so widerstreitenden Elementen erwarten konnte.

Düc hatte im Grunde nicht mehr Verstand, als man braucht, um Witz haben zu können; er war daher häufigen Übereilungen im Urteilen ausgesetzt, und seine Schlüsse waren oft so unzusammenhängend, daß jeder, der auch niemals [220] [223]nach barbara celarent geschlossen hatte, ihre Unrichtigkeit sehr deutlich fühlte; da der Gang seiner Ideen überhaupt nur sprungweise geschah, oft mit so weiten, meilenlangen Schritten, daß Leute, deren Kopf höchstens nur in einem stillen, sittsamen Trabe fortschritt, den armen Düc mit seinen weiten Gedankensprüngen bona fide für verrückt hielten, so war nichts leichter, als ihn mitten in seinem Hüpfen und Herumtummeln aus dem Sattel zu heben, wenn man mit gesetztem, kaltem Verstande auf ihn losging; ohne daß er bei einem solchen Sturze eigentlich aus der Fassung geriet, trieb ihn seine Lebhaftigkeit meistenteils so hastig wieder fort, daß er oft schon vom neuen stürzte, wenn er kaum aufgestanden war. Dabei hatte er das Unglück, daß er nie zürnen konnte; seine gute Laune und seine natürliche Gutherzigkeit ließen ihn gar nichts Schmerzhaftes dabei empfinden, unrecht zu behalten, und sein Gegner genoß seinen Triumph, ohne daß Düc es merkte, daß man über ihn triumphierte; kurz, er war vortrefflich zum Angriffe, aber ungemein schlecht zur Verteidigung. Eine so friedfertige Eigenliebe, so vielfältige Übereilungen, Bocksprünge und so wenige Verteidigungskunst – welche Einladungen für eine Frau, die Verstand hat, ihren Verstand fühlt, dabei Eitelkeit genug besitzt, ihn andre fühlen zu lassen, und zu viel Stolz, um es nicht mit Schwert und Feuer zu ahnden, wenn jemand mehr Verstand haben will als sie! Welche Anlockungen, ihren guten Mann mit ihrem Verstande so wacker zu quälen, daß er um sein eignes bißchen darüber kommen möchte! – Sie mochte wohl mehrenteils die Sachen besser einsehen, reiflicher überlegen, richtiger beurteilen und also wohl in den meisten Fällen recht haben; aber es ist doch eine wahre Grausamkeit, immer recht zu behalten und dem andern gar niemals das süße Vergnügen zu gewähren, daß er die Wahrheit gefunden hat. Von einer solchen Verfeinerung war ihre Menschenliebe weit entfernt; ohne ihrem [223] Manne unhöflich oder hitzig zu begegnen, schwatzte sie ihn mit der besten Art so danieder, daß er allemal das Unrecht auf seiner Seite hatte, ohne daß ihm Unrecht geschehen zu sein schien. Was mußte erfolgen? – Er fühlte in der Länge eine starke Unbehaglichkeit in ihrer Gegenwart und besonders in ihrem Gespräche; er konnte sie nicht hassen – denn sie beleidigte ihn nie durch Grobheit oder Ungestüm –, aber er konnte sie auch nicht lieben, er hätte denn gar kein Fünkchen Eigenliebe haben müssen; die Neigung, sich zu belustigen, war bei ihm die herrschende, bei seiner Frau wurde sie nicht sonderlich befriedigt; die natürliche Folge war also, daß er Örter und Gesellschaften suchte, wo sie besser befriedigt werden konnte.

Gleichwohl riß ihn diese Partie, ob es schon die einzige und natürlichste war, die er fassen konnte, in einen Wirbel von Zerstreuungen, Lustbarkeiten und Ergötzlichkeiten hin, die ihn allmählich von der Aufmerksamkeit auf seine Geschäfte ganz abzogen, die seinen Aufwand vergrößerten, indem sie die Quellen seiner Einnahme verringerten, ihn unfähig machten, neue aufzusuchen, und die alten denen preisgaben, denen er seine Angelegenheiten zu besorgen überließ. Sein Leben war eine Reihe von Lustreisen, von Picknicks und andern gesellschaftlichen Partien; keine Koterie, kein Kränzchen, kein Klub, wovon er nicht ein Mitglied war! Er wußte sich das harte Schicksal, eine Frau mit zu vielem Verstande zu haben, so leicht, so erträglich zu machen, daß er sie zuletzt Monate lang nicht zu sehen bekam, und ließ ihr ungestört die Freude, das Ansehn ihrer Einsichten unter ihren Domestiken zu behaupten und das ganze Jahr hindurch im ganzen Hause recht zu haben. Beide Teile waren zufrieden und vergnügt, die Glückseligkeit ihrer Ehe nahm mit jedem Tage zu, nachdem sie hinter das Geheimnis gekommen waren, sich so trefflich ineinander zu schicken, und das Glück [224] dauerte ungehindert fort – bis die verdammten Freudenstörer, die Gläubiger, auf den unseligen Einfall gerieten, ihm ihr Verlangen nach Befriedigung gerichtlich melden zu lassen. Der Streich traf ihn unvorbereitet, der Bankerutt ließ ihm nicht mehr übrig, als nötig war, um mit der äußersten Sparsamkeit und einer noch größern Genügsamkeit hinzuleben. Die Widerwärtigkeit war ihm zwar itzt empfindlicher als jemals eine, allein sein Schmerz setzte sich bald wieder, und er fühlte nichts so stark, als daß er den ganzen Tag zu Hause bleiben und mit seiner Frau in einer Stube Tag und Nacht leben mußte, die ihn dann mit ihrem Verstande und besonders mit vernünftigen Vorstellungen, wie er's hätte machen müssen, wenn er nicht hätte bankerutt werden wollen, so unbarmherzig quälte, daß er es sehr oft beklagte, daß seine Frau nicht auch zum Konkurse gezogen worden war. – Ich werde noch einmal bankerutt machen und mit meiner Frau bezahlen; sie ist so verständig, daß sie alle meine Gläubiger mit ihrem Verstande ums Leben bringen kann – auf diesen Schlag waren die Einfälle, womit er sich für seine Martern an ihr rächte.

Not und Mangel sind zween so harte und so mächtige Gegner, daß die gute Laune und ihre Sekundantin, die Philosophie, selten den Kampf mit ihr aushalten und noch niemals Meister vom Schlachtfelde geworden sind; jene beiden Feinde der menschlichen Zufriedenheit besitzen eine besondre Kunst, diese letzten so allmählich und unbemerkt von unsrer Partie abzuziehn, daß wir uns von ihrer Hülfe verlassen sehn, ohne zu wissen, wo sie hingekommen sind. Bei dem armen Düc wurden die lustigen Einfälle täglich seltner; das Gefühl seiner mehr als eingeschränkten Glücksumstände, die Eingezogenheit, zu welcher sie ihn zwangen, die Einförmigkeit seiner Lebensart und der ernste Ton des Umgangs mit seiner Frau, die traurige Langeweile, die bei einem so lebhaften [225] Charakter unausbleiblich sein mußte, da seine innre und äußre Geschäftigkeit auf einmal in die stärkste Ebbe geriet, der unbefriedigte Hang zum Vergnügen und zu Zerstreuungen, der gänzliche Mangel an Erwartung einer günstigern Verfassung und – was noch schlimmer als alles war – die gänzliche Unfähigkeit, neue Wege zu neuen Erwartungen sich zu öffnen, in welche ihn die bisherige Bequemlichkeit und die gehäuften Ergötzlichkeiten eingewiegt hatten – alle diese schweren Lasten drückten auf die Nerven seines Kopfs und seiner Leidenschaften so stark, daß sie ganz erschlafften: Er war ein toter Mann, weil seine Leidenschaften tot waren. Es ist unstreitig die schrecklichste, obgleich vielleicht von wenigen nur bemerkte Lage, in welche das Schicksal einen Menschen hinabstoßen kann, wenn seine äußre Verfassung sich mit seinem Gemütszustande vereinigt, eine völlige Anarchie unter seinen Leidenschaften hervorzubringen, wenn unsre Begierden und Wünsche so ganz am Ende ihrer Wirksamkeit sind, daß wir auf der einen Seite uns scheuen, einen herrschend werden zu lassen, weil uns wahrscheinlicherweise alle Mittel genommen sind, einen zu erreichen, und auf der andern uns fürchten, einen Plan zu machen, weil wir uns zu bequem, kraftlos und untätig fühlen, Hindernisse und Schwierigkeiten zu übersteigen; gern kehren wir alsdann den Blick von allem Glücke weg, das durch Aussinnung und Ausführung eines Plans möglich wäre, um nur nicht zu gleich an Hindernisse und Bemühungen erinnert zu werden, wovon uns der Gedanke schon erschreckt. Wir werden gute, ehrliche, vegetierende Wesen, die den gewöhnlichen Zirkel der körperlichen Bedürfnisse durchlaufen, ohne mit einem Gedanken oder einer Handlung zu verraten, daß wir mehr können als essen, trinken, schlafen. Ein solcher Seelentod ist nur im äußersten Glücke und im äußersten Unglücke möglich und am empfindlichsten, wenn wir zu ihm übergehen; in der [226] Folge macht uns zwar die Gewohnheit verträglich mit ihm, allein für ein Geschöpf von Dücs Lebhaftigkeit bleibt ungleich länger eine gewisse Unbehaglichkeit dabei übrig. Der Fall seiner Leidenschaften zog notwendig den Fall seines Witzes nach sich, der von jenen lebte, und das schlimmste dabei war, daß der Verstand seiner Frau wuchs, wie sein Witz abnahm. Die eingeschränkte Lebensart, die sie gegenwärtig führten, war für sie nichts Neues, weil sie beständig die ihrige gewesen war; sie vermißte keine Ergötzlichkeiten, kein Vergnügen, weil sie nie eins genossen hatte, und fühlte die Beschwerlichkeit der Sparsamkeit und des verminderten Aufwandes weniger hart als ihr Mann, weil sie auch im Glücke beinahe geizig, wenigstens äußerst haushältrisch gewesen war; sie hatte also im Grunde keinen sonderlichen Zusatz von Unglück, sondern sogar eine Vermehrung ihrer Glückseligkeit erhalten – denn ihrem Ehrgeize und ihrem Verstande ward nun erst die Laufbahn recht geöffnet, da Düc beständig zu Hause bei ihr bleiben und das Ziel abgeben mußte, nach welchem ihr Verstand schoß, und mit jedem Gewinst, den er erlangte, ihrem Ehrgeize schmeichelte, und das Gewinnen wurde ihr um soviel weniger schwer, weil der arme Düc, wie schon gesagt worden ist, ein herumschleichendes, niedergedrücktes Ding ohne Witz und Laune und folglich ohne Widerstehungskraft, zum Tun ungeschickt und nur zum Leiden und zur Geduld fähig war.

In dieser rühmlichen Tugend der Gelassenheit und Geduld brachte er es so ärgerlich weit, daß er sich von seiner Frau wie ein Kind gebieten, verweisen, strafen und lehren ließ; sein Herz war eine Wand, wo das bißchen Tünche von Witz und Leidenschaft heruntergewaschen war und der Grund, seine natürliche Gutherzigkeit, bloß und frei dalag, welche bekanntermaßen wider fremde Gewalttätigkeit ein schlechter Schutz ist. Zum Glück geriet seine Frau auf den [227] Einfall, aufs Land zu ziehn und mit Hülfe eines aufgenommnen kleinen Kapitals eine förmliche Bauerwirtschaft anzufangen, die ihr anfangs nicht übel vonstatten ging; sie mußte sich auf diese Weise in die Sorgen der Ökonomie zerstreuen, ohne daß ihr viel Zeit übrigblieb, ihren Mann mit ihrem Verstande zu quälen; Düc, so sauer es ihm fiel, mußte seinerseits ein Gleiches tun, und seine Wohnung ward allmählich der wahrhafte Aufenthalt eines unabhängigen Philosophen, der die möglich wenigsten Bedürfnisse und fast gar keine Wünsche hat als fruchtbares Wetter und Gesundheit, der nicht zufrieden – weil sich dies vermutlich auf unserm Planeten nie völlig sein läßt –, aber auch nicht unzufrieden ist, ohne starke angenehme oder unangenehme Empfindungen in einem gemäßigten Mittelzustande dahinwandelt, nüchtern lebt, ohne zu fühlen, daß es Notwendigkeit ist, wenig ißt, gut verdaut, gut schläft – kurz, so sehr Tier ist, als es der Mensch sein kann, das heißt, sich sein Futter verschafft, es genießt und sich um kein Haarbreit Gegenwärtiges oder Zukünftiges weiter bekümmert als um den Fleck, wo er eins von beiden tut, und an keinen Menschen denkt als an sich, seine Frau und Kinder.

So leidlich und fast behaglich ihm auch dieses stille dörfische Leben durch die Länge der Zeit wurde, so fand sich doch in der Länge seine Frau, obgleich die Wahl desselben ihr eigner Einfall gewesen war, ungleich schwerer in die damit verknüpften Beschwerlichkeiten der Wirtschaft, wovon sie freilich einen größern Teil zu tragen bekam als der Mann, und wurde völlig überzeugt, daß das Landleben nur im Theokrit und Geßner beneidenswürdig und bei einem reichlichen Einkommen reizend ist und daß auf niemandem so sehr der Fluch des Mannes liegt als auf dem armen Landmann; ihre Verdrossenheit nahm also beinahe in dem Maße zu, wie ihres Mannes Philosophie, Gelassenheit, Unempfindlichkeit, [228] Erstorbenheit des Herzens – oder wie man es nennen will – mit jedem Tage wuchs. Er hatte es glücklicherweise ohne sein Verschulden zu einer solchen Windstille unter seinen Leidenschaften gebracht, daß ein alter Überrock, den er täglich trug, aller seiner Gebrechen, Risse und ausgebesserten Löcher ungeachtet, beinahe das einzige Gut der Erde war, das seine Neigung fesselte, das er wirklich liebte, wovon folgende Anekdote einen Beweis gibt.

Er bekam plötzlich Nachricht, daß ein reicher Vetter von ihm in Holland gestorben sei, der ihn zum Universalerben eingesetzt habe; die Nachricht war gerichtlich und so bestätigt und zuverlässig, als sie es sein konnte. Wir sind nun einmal insgesamt solche Thermometer des Glücks, daß es uns viele Affektation oder Mühe kostet, wenn wir nur scheinen wollen, es nicht zu sein, und da Düc keinen Beruf oder Ursache fand, diese Mühe anzuwenden, so gestand er ganz ungeheuchelt in Reden und Betragen, daß ihm dieser Zufall willkommen war, wiewohl er seinerseits nicht halb soviel Freude darüber empfand als seine Frau, die in der Minute nach Holland in eigner Person geflogen wäre, wenn ihr der Himmel sogleich hätte Federn wollen wachsen lassen; mit Mühe ließ sie sich bereden, die vorläufigen Umstände bis zur Auszahlung durch einen sichern Bevollmächtigten berichtigen zu lassen, wozu ihr ein Prediger seinen Bruder vorschlug, der in Amsterdam in Diensten der Admiralität stand. Indessen konnte sie vor Ungeduld den Anfang ihres veränderten Glücks nicht erwarten; ihr Verstand, der sonst bei den gemeinsten Vorfällen sich hervorzutun pflegte, erlag unter dieser günstigen Aussicht, da sie hingegen auf ihren Mann keine andre Wirkung tat, als daß sie seinen Witz wieder ein wenig aufweckte und ihm täglich ein paar muntre Einfälle mehr eingab. Sie lag ihm unaufhörlich an, Geld auf eine nach allem Anschein unstreitige Erbschaft aufzunehmen, in die Stadt zu [229] ziehen, eine bequeme Wohnung zu mieten, für sich und ihre Familie gute Kleider, gute Möbeln anzuschaffen – mit einem Worte, alles auf einen Fuß zu setzen, wie es nach dem zu erwartenden Vermögen eingerichtet werden konnte. Er widerstund ihr aus allen Kräften und mit vielen sehr vernünftigen Gründen; doch sie wußte beständig ungleich vernünftigere für ihre Meinung aufzutreiben, bis endlich die Stärke ihrer Vorstellungen oder vielmehr die Indolenz des Mannes und ihre Macht über ihn alle mögliche Widersprüche besiegten; sie fanden Kredit, und der Plan der Frau wurde ausgeführt, so gut es Kredit und Borgen erlaubten; Düc schenkte seinen geliebten Überrock einem armen Nachbar und trennte sich mit so vieler Wehmut von ihm als von seinem getreusten Freunde.

Alles war in Ordnung und erwartete ihre Ankunft in der Stadt – welch ein Donnerschlag! Plötzlich erwies sich's, daß die Erbschaft nicht diesem Düc, sondern seinem jüngern Bruder zugehörte und daß dieser schon persönlich an Ort und Stelle war, die Verlassenschaft seines Vetters zu heben. Seine Frau war, trotz alles ihres Verstandes, untröstlich über ihre betrogne Erwartung; sie schrie laut bei der ersten Nachricht davon und ging ohne Essen und Trinken wie eine Blödsinnige tagelang herum. – »Siehst du?« sprach ihr Mann mit gelaßnem Tone, »ich habe dir's wohl gesagt, daß du mich um meinen alten Überrock bringen würdest.«

Wirklich war seine Lage itzt ungleich trauriger als jemals: eine Menge Schulden, die er nicht bezahlen konnte, eine vernachlässigte Wirtschaft auf seinem Bauergütchen, das zum großen Glücke keinen Käufer noch gefunden hatte, der Spott des Publikums, vielleicht auch die Schadenfreude einiger Neidischen – wahrhaftig eine Menge Widrigkeiten, den standhaftesten Mut niederzudrücken! Allein Düc war mit dem Unglücke vertraut und wurde von seinen Pfeilen nur gestreift, [230] wenn sich seine Frau beinahe verblutete; er meldete seinem Bruder, von dem er seit seiner Auswanderung aus seiner Mutter Hause nichts gehört hatte, seine Umstände und überließ es seiner eignen Güte und Liebe, was er tun wollte, sie zu verbessern. Der Bruder übernahm die Schulden, die Dücs Frau wegen ihrer bessern Einrichtung gemacht hatte, und bezog bei seiner Rückkunft aus Holland das Quartier, das sie hatte bewohnen wollen, gab eine kleine Summe her, ihre Wirtschaft auf bessern Fuß wieder zu setzen, und versprach, Dücs Kindern beizustehen, soviel sein Vermögen erlaubte, und den unerwachsnen männlichen Teil etwas lernen zu lassen oder den weiblichen auszustatten. »Bruder«, sprach Düc, »wenn du noch etwas für mich tun willst, so kaufe dem Manne, dem ich meinen Überrock geschenkt habe, ein neues Kleid und schaffe mir meinen Überrock wieder!«

Ruhig lebte er noch einige Zeit auf seinem Bauergütchen und starb, ehe er seinen Überrock ganz zerrissen hatte.

Fußnoten

1 Und in Ewigkeit, bald mehr, bald weniger, in der Religion und den Wissenschaften, Künsten und Handwerkern geschehen wird, auch dies ist eine Folge der menschlichen Natur. Anmerk. des Herausgeb.

2 Diese Erklärung ist wenigstens nicht schlechter ausgedacht als die von den beiden Nachtstühlen, die noch in Rom gezeigt werden und nach der eh-maligen wunderlichen Meinung gebraucht worden sind, die Männlichkeit der Päpste zu untersuchen, und itzt jedermann für redende Sinnbilder der Demut hält, wodurch man die Heiligen Väter bei ihrer Krönung an ihre menschlichen Bedürfnisse erinnern wollte.

3 Doch mit Vorbehaltung des dominii directi, wie unsre Juristen sich ausdrücken würden.

4 Sueton im Aug.

5 Hier irrt sich die Gräfin: Seine bösen Launen waren allem Anschein nach allemal Wirkungen eines innerlichen Sturms, den der Stolz in ihm erregt hatte.

6 »Wie eine attische Jungfrau, die die heiligen Körbe der Ceres trägt« – und nicht gern wider den jungfräulichen Anstand etwas verschütten möchte.

7 So sonderbar auch die Vorstellung des unsterblichen Euphrosinopatorius ist, so ist sie, deucht mich, doch sehr passend, wenn ich nicht aus Vorurteil für ihn so denke.

8 Dies sagte er im Jahr 1766.

9 Manche sagen: Sie können wohl, aber sie wollen nicht. – Ebendieses Unvermögen zu wollen ist die vorzüglichste Ursache, warum sie nicht können. Wenn Neigung und Leidenschaft mit einer solchen Stärke wirken, daß die Seele nicht anders wollen kann, als sie muß – welches jedem Menschen mit seiner Lieblingsleidenschaft widerfährt –, so geschieht dies wider sein Wissen und Willen; er muß also wollen, wie er soll, und kann nicht wollen, wie er will.

10 Man darf wohl nicht erinnern, daß dies alles bloß im metaphorischen Verstande gesagt ist.


Notes
Erstdruck: Leipzig (Siegfried Leberecht Crusius) 1777/1778 (anonym).
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TextGrid Repository (2012). Wezel, Johann Karl. Satirische Erzählungen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-A530-2