Der Dirigent Etté
[Fragment]

Georg war mit großer Spannung der Einladung Gustavs gefolgt – er hatte, zum Teil aus Sparsamkeit und zum Teil aus seiner inneren Schwerfälligkeit es unterlassen, sich eine Karte zu verschaffen. Nun war er froh und erleichtert, so gleichsam zwangsläufig diesen Menschen sehen zu können, von dessen Ruhm und Talent seine Bekannten sich hingerissen unterhielten.

Etté war kurz und von gedrungenem Körperbau. Er hatte nichts von dem, was Georg das Musikalische eines Gesichtes oder einer Gestalt zu nennen pflegte. Es gehörte für ihn etwas... dazu. Etté hatte ein breiteres heiteres und sehr klares Gesicht unter einer Bürste blonden, an den Schläfen ein wenig gelockten Haares.

Er wandte sich gegen das Publikum und hieß es mit einer umfassenden Bewegung seiner Rechten, zärtlich verlängert durch den Bogen der Geige, willkommen. Dann wandte er sich, in der Bewegung verbleibend und nur das Gesicht aus der Entspannung des Grußes reißend, seinem Orchester zu. Die Musik setzte ein: heftig, bestimmt, sich durchsetzend. »Wie wenn er mit dem Fuße aufstampfte,« dachte Georg, ohne diese Empfindung weiter verfolgen zu wollen.

Aber dann stutzte er. Etté hatte mit dem Fuß gestampft. Er hatte seinen Musikern einen drohenden, bösartigen Blick zugeworfen. Die Musik war unentschieden. Sie erging sich in einigen tastenden Versuchen. Etté hatte den [160] Arm mit dem Bogen auf den Rücken gelegt. Er sah einen Augenblick ins Publikum, wie es schien mit einer fragenden Miene. Dann ging er an der Rampe auf und ab, mit einem uninteressierten und in sich selbst versunkenen Gesicht; er konnte so irgendwo am Strande spazieren gehen, dachte Georg verwundert.

Dann hatte die Musik sich gefunden. Sie nahm einen kleinen und dünnen Faden Melodie auf, den sie verfolgte. Etté hielt inne in seinem Spaziergang und begann in die Ferne zu hören. Die Melodie verzweigte sich und strebte verästelt einer gemeinsamen Spitze entgegen. Der Dirigent riß die Geige ans Kinn und fiel ein, jauchzend, überwältigt, mitgerissen.

»Wie sonderbar,« sagte Georg zu sich selbst, doch kam er nicht dazu über die Art dieses Sonderbaren sich klar zu werden. Etté hatte die Geige schon wieder zur Seite gelegt. Er dirigierte. Er streckte die Arme aus und drehte die Hände. Georg konnte die Musik nicht verstehen. Aber da sah er, wie Etté seine Handgelenke betrachtete. »Er sieht, ob seine Manschettenknöpfe sitzen,« murmelte er vor sich hin. Gustav betrachtete ihn mißbilligend.

Was ist das nur für eine Musik, dachte Georg. Ich verstehe nichts davon, gut. Aber es ist Musik. Etwas geschieht. Töne, Intervalle geschehen....

[161]

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Weissmann, Maria Luise. Essays. Aufsätze. Der Dirigent Etté. Der Dirigent Etté. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-9BC5-5