[1] Jules Verne
Die Jangada
Achthundert Meilen auf dem Amazonenstrom


[1][3]

1. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Ein Waldkapitän.

Phyjslyddqfdzxgasgzzqqehxgkfndrxujugiocytdxvks bxhhuypohdvyrymhuhpuydkjoxphetozsletnpmvffov pdpajxhyynojyggaymeqynfuqlnmvlyfgsuzmqiztlbq gyugsqeubvnrcredgruzblrmxyuhqhpzdrrgcrohepqu fivvrplphonthvddqfhqsntzhhhnfepmqkyuuexktogz gkyuumfvijdqpzjqsykrplxhxqrymvklohhhotozvdks ppsuvjhd.


Der Mann, welcher das Schriftstück betrachtete, dessen letzten Absatz diese sonderbare, unverständliche Anhäufung von einzelnen Buchstaben bildete, blieb in Gedanken versunken stehen, nachdem er dasselbe wiederholt aufmerksam durchlesen hatte.

[5] Das ganze Schriftstück umfaßte gegen hundert, nicht einmal in Worte abgetheilte Zeilen. Es schien bereits vor vielen Jahren aufgezeichnet zu sein, denn das starke Papier, welches obige Hieroglyphen bedeckten, war schon von einem gelblichen Hauche überzogen.

Nach welcher Regel jene Buchstaben an einander gereiht waren, konnte nur jener Mann wissen. Solche Chiffreschriften ähneln in gewissem Sinne den modernen Panzer-Geldschränken und verdanken ihre Sicherheit demselben Princip. Die Combinationen, welche sie zulassen, zählen nach Milliarden, und das ganze Leben eines Rechenkünstlers würde nicht hinreichen, dieselben einzeln darzulegen. Man muß das »Wort« kennen, um den diebessicheren Cassaschrank öffnen, und muß von der »Chiffre« unterrichtet sein, um ein derartiges Kryptogramm enträthseln zu können. Das obige hätte, wie sich noch zeigen wird, auch den scharfsinnigsten Lösungsversuchen getrotzt; sein hochwichtiger Inhalt rechtfertigte diese Vorsicht.

Der Mann, welcher das Document aufmerksam entzifferte, war nur ein gewöhnlicher Waldkapitän.

In Brasilien versteht man unter der Bezeichnung »Kapitães do mato« gewisse Beamte, denen die Verfolgung entflohener Negersklaven obliegt, eine Institution, welche noch vom Jahre 1722 her datirt. Jener Zeit dachten höchstens wenige philanthropische Köpfe an die dereinstige Emancipation der unglücklichen Sklaven, und es bedurfte mehr als eines Jahrhunderts, ehe solche Ideen von den hochcivilisirten Völkern aufgenommen und verwirklicht wurden. Jetzt erscheint es uns als ein Recht, als das erste natürliche Recht des Menschen, frei zu sein, sich nur selbst anzugehören, und doch mußten erst Jahrtausende vergehen, bevor einige Nationen diesem edlen Gedanken Ausdruck zu geben wagten.

Im Jahre 1852 – das heißt zur Zeit, da diese Erzählung spielt – gab es in Brasilien noch Sklaven und folglich auch Waldkapitäne, um Flüchtlingen aus deren Reihen nachzuspüren. Verschiedene Rücksichten auf politische Oekonomie hatten hier den Zeitpunkt der allgemeinen Emancipation weiter hinausgeschoben; doch besaß der Neger schon das Recht, sich freizukaufen, und wurden seine Kinder schon als Freie geboren. Fern konnte der Tag also nicht mehr sein, an dem dieses herrliche Land, in dem drei Viertel von ganz Europa bequem Platz fänden, unter seinen zehn Millionen Bewohnern keinen einzigen Sklaven mehr zählte.

Das Amt der Waldkapitäne sollte wirklich in nächster Zeit eingehen, und schon damals lohnte die Wiedereinbringung flüchtiger Sklaven entschieden weniger [6] als früher. Wenn die Waldkapitäne in dem langen Zeitraume, da das Geschäft noch reichere Ernten abwarf, nur eine Gesellschaft von Abenteurern bildeten, meist zusammengewürfelt aus Freigelassenen und Deserteuren, welche niemals in besonderer Achtung standen, so liegt es auf der Hand, daß die Sklavenjäger jener Zeit nur dem Auswurf der Gesellschaft angehörten, und allem Anscheine nach verunzierte auch der Mann mit obigem Schriftstück keineswegs die verächtliche Rotte der »Kapitães do mato«.

Dieser Torres – so lautete sein Name – war weder ein Mestize, noch ein Indianer oder Neger, wie die meisten seiner Kameraden; er war vielmehr ein Weißer von brasilianischer Abstammung, der in der Jugend etwas mehr Bildung genossen hatte, als seine dermalige Beschäftigung erheischte. Alles in Allem durfte er als einer jener Ausgestoßenen gelten, wie man solche in allen entlegenen Gebieten der Neuen Welt antrifft; und zur Zeit, wo das brasilianische Gesetz Mulatten oder Mischlinge als solche von gewissen Aemtern ausschloß, würde Jener, wenn dieses Gesetz bei ihm Anwendung fand, nicht seiner Herkunft, wohl aber seiner persönlichen Unwürdigkeit wegen ausgeschlossen worden sein.

Augenblicklich befand sich Torres übrigens gar nicht in Brasilien. Er hatte dessen Grenze überschritten und streifte seit mehreren Tagen in den Wäldern Perus umher, in welchem sich der Oberlauf des Amazonenstromes sammelt.

Torres war ein Mann von etwa dreißig Jahren, von kräftiger Constitution, auf welche, Dank seinem außergewöhnlichen Temperamente und seiner eisernen Gesundheit, die Strapazen eines so regellosen Lebens keinen Einfluß zu haben schienen.

Er war von mittlerer Größe, breitschulterig, hatte regelmäßige Züge, ein sicheres Auftreten, das Gesicht von der glühenden Atmosphäre der Tropen gebräunt, und trug einen schwarzen Vollbart. Aus den, unter den eng zusammenstehenden Brauen halb versteckten Augen leuchtete ein lebhafter aber frostiger Blick, wie er zügellosen Naturen eigen zu sein pflegt. Selbst zur Zeit, als das heiße Klima ihn noch nicht gebräunt hatte, würde sein Gesicht gewiß niemals roth geworden sein, sondern hätte sich höchstens unter der Einwirkung verderblicher Leidenschaften verzerrt.

Torres trug die sehr primitive Tracht der Waldläufer; Alles verrieth, daß sie lange im Gebrauch gewesen war; den Kopf bedeckte ein quergesetzter, breitkrämpiger Lederhut, an den Lenden hing eine Hofe aus grobem Wollenstoff, [7] welche sich in den Schäften der starken Stiefeln verlor, welch' letztere den solidesten Theil des gesammten Costüms bildeten; das Ganze umschloß ein verschoffener, gelblicher »Poncho«, vor dem weder die Jacke noch die Weste, welche des Mannes Brust bedeckten, zu sehen waren.

Lebte Torres früher als Waldkapitän, so lag es doch auf der Hand, daß er dieses Geschäft jetzt, wenigstens unter den augenblicklichen Umständen, nicht mehr betrieb, dies erkannte man schon an seiner mangelhaften Ausrüstung mit den zur Verfolgung der Neger nöthigen Angriffs- und Vertheidigungswaffen. Er führte keine Feuerwaffen, weder Büchse noch Revolver. Im Gürtel stak nur eine sogenannte. »Manchetta«, welche mehr einem Säbel als einem Jagdmesser ähnelte. Daneben trug Torres noch eine », Enchada«, das ist eine Art Axt, vorzüglich angewendet bei der Jagd auf Nage- und Gürtelthiere, welche in den Wäldern des oberen Amazonenstromes in Ueberfluß vorkommen, während von eigentlich reißenden Thieren fast nichts zu befürchten ist.

Auf jeden Fall war unser Abenteurer an jenem Tage, am 4. Mai 1852, ganz außerordentlich vertieft in die Lectüre des Schriftstückes, auf dem seine Augen hafteten, oder die Urwälder Südamerikas, welche er zu durchstreifen gewohnt war, ließen ihn trotz ihrer Pracht und Herrlichkeit kalt. Nichts vermochte ihn von seiner Beschäftigung abzulenken; weder das langgezogene Geschrei der Brüllaffen, das Saint Hilaire sehr treffend mit dem Dröhnen der Axt des Holzfällers vergleicht, wenn dieser Baumäste ablöst; noch das trockene Rasseln der Ringe einer Klapperschlange, welche allerdings den Menschen kaum angreift, aber freilich sehr giftig ist; weder die schreiende Stimme der gehörnten Kröte, der unter der Classe der Reptilien der Preis der Häßlichkeit zukommt, noch auch das sonore, tiefe Quaken des Ochsenfrosches, welcher, wenn er den Ochsen auch an Größe nicht übertrifft, diesem an Stärke der brüllenden Stimme doch gleichsteht.

Torres hörte nichts von all' diesem Heidenlärmen, gewissermaßen die Gesammtstimme der Urwälder der Neuen Welt. Am Fuße eines prächtigen Baumes hingestreckt, bewunderte er nicht einmal das hohe Astwerk dieses »Pao ferro« oder Eisenbaumes mit dunkler Rinde und einem Holze, so hart wie das Metall, dessen Stelle es an den Waffen und Werkzeugen der wilden Indianer vertritt. Im Gegentheil! Völlig von seinen Gedanken erfüllt, drehte und wendete der Waldkapitän das merkwürdige Document zwischen den Fingern. Mit Hilfe des ihm bekannten Schlüssels wußte er jeden Buchstaben richtig zu deuten; er [8] las, überlegte den Sinn der für jeden Anderen gänzlich unverständlichen Zeilen, und ein böses Lächeln flog über seine Züge. Dann begann er halblaut einige Sätze zu murmeln, welche in der unermeßlichen peruvianischen Waldwüste doch Niemand hören, jedenfalls kein Mensch richtig verstehen konnte.


Torres setzte seine Pfeife in Brand. (S. 13.)

Torres setzte seine Pfeife in Brand. (S. 13.)


»Ja, ja, sagte er, das sind so gegen hundert recht sauber geschriebene Zeilen, die für Einen, den ich kenne, von unzweifelhafter hoher Bedeutung sind. Dieser Jemand ist sehr reich! Für ihn handelt es sich dabei um Tod und Leben – auf alle Fälle muß das etwas Tüchtiges abwerfen!«

[9] Noch einmal betrachtete er das Schriftstück mit gierigem Blicke.

»Ein Conto Reis allein für jedes Wort dieses letzten Satzes gäbe schon eine recht nette Summe!« 1

»O, dieses Sätzchen hat seinen Werth! Es umfaßt den Gesammtinhalt dieses Documents und nennt die betreffenden Personen beim richtigen Namen! Freilich, um jenen Satz richtig zu verstehen, muß man zuerst die Anzahl Worte, die er enthält, zählen, und wenn das Einer gethan hätte, blieb ihm dessen wirklicher Sinn doch noch verborgen!«

Mit diesen Worten begann Torres heimlich zu zählen.

»Achtundfünfzig Worte, sagte er, das macht achtundfünfzig Contos! Hm, ein Sümmchen, mit dem man in Brasilien, in Amerika, überhaupt überall auskommen könnte, selbst ohne etwas dabei zu thun! Aber wenn mir alle Worte dieses Blattes zu demselben Preise bezahlt würden! Ei, das ergäbe Hunderte von Contos! Alle Teufel, hier ist ein hübsches Vermögen einzuheimsen oder ich bin der Dümmste der Dummen!«

Es sah aus, als ob Torres' Hände schon die enorme Summe unter sich hätten und die Goldrollen krampfhaft umschlössen.

Plötzlich nahmen seine Gedanken eine andere Richtung.

»Endlich, sagte er, nähere ich mich dem Ziele und werde sicherlich die Strapazen dieser Reise nicht zu bereuen haben, die mich von der Küste des Atlantischen Oceans bis zum Oberlauf des Amazonenstromes führte. Dieser Mann konnte ja Amerika verlassen haben, sich jenseits der Meere aufhalten, wie hätte ich da seiner habhaft werden können? Doch nein, er ist noch da, wenn ich einen dieser Bäume erkletterte, könnte ich das Dach des Hauses sehen, das er mit seiner ganzen Familie bewohnt!«

Darauf ergriff er wiederum das Papier und bewegte es mit fieberhafter Hast hin und her.

»Noch heute, fuhr er fort, werde ich ihm gegenüber stehen! Noch heute soll er wissen, daß seine Ehre, sein Leben von diesen Zeilen abhängt! Und wenn er den Schlüssel zu haben verlangt, um diese zu entziffern – ei nun, so wird er ihn eben bezahlen – wenn ich will, mit seinem ganzen Vermögen, ja, mit seinem Blute! Alle Wetter! Das ehrenwerthe Mitglied der Miliz, das mir dieses kostbare Document auslieferte, mir dessen Geheimnisse enthüllte und mir sagte, wo ich seinen früheren Collegen finden würde, und unter welchem Namen er

[10] sich schon lange Jahre hindurch verborgen hielt, dieser brave Mann hat sich dabei gewiß nicht gedacht, daß er damit mein Glück begründete!«

Noch ein letztes Mal warf Torres einen Blick auf das vergilbte Papier, dann faltete er es vorsichtig zusammen und steckte es in ein festes kupfernes Etui, das ihm auch als Geldtasche diente.

Wenn Torres' ganzes Vermögen sich in diesem, an Größe etwa einer Cigarrentasche ähnlichen Etui befand, würde er in keinem Lande der Welt für reich gegolten haben. Wohl besaß er eine Kleinigkeit von allen Goldmünzen der Nachbarstaaten, z. B. zwei Doppelcondors der Vereinigten Staaten von Columbia, jeder etwa hundert Francs an Werth, die gleiche Summe in venezuelischen Bolivars, ferner peruanische Sols, einige chilenische Escudos zu höchstens fünfzig Francs und andere kleine Münzen. Alles zusammen erreichte eine runde Summe von etwa fünfhundert Francs, doch wäre Torres gewiß in Verlegenheit gekommen, wenn er über deren Erwerb hätte Aufschluß geben sollen.

Seit wenigen Monaten war er, nach plötzlicher Aufgabe des Amtes als Waldkapitän, dem er in der Provinz Para obgelegen hatte, dem Thale des Amazonenstromes folgend, über die Grenze gegangen und jetzt auf peruanisches Gebiet übergetreten.

Der Abenteurer kannte übrigens nur sehr beschränkte Bedürfnisse und überhaupt kaum nothwendige Ausgaben. Für Wohnung und Kleidung brauchte er nichts. Der Wald lieferte ihm die Nahrung, die er nach Art der Waldläufer ohne Unkosten zurichtete. Im genügten einige Reis für Tabak, den er in den Missionen oder in einem Dorfe kaufte, und ebensoviel für Branntwein, seine Kürbisflasche zu füllen. Er konnte also mit Wenigem weit genug kommen.

Als er das Papier in dem metallenen Etui, dessen Deckel hermetisch schloß, verwahrt hatte, steckte Torres dasselbe nicht in die Tasche des Kittels, den der Poncho bedeckte, sondern glaubte aus übergroßer Vorsicht besser zu thun, wenn er es neben sich in einer hohlen Wurzel des Baumes, an dem er lag, verbarg.

Das war eine Unklugheit, die ihm theuer zu stehen kommen sollte.

Es war sehr heiß, die Luft drückend und schwül. Hätte die Kirche des nächsten kleinen Fleckens eine Schlaguhr besessen, so würde diese jetzt zwei Uhr Nachmittags angezeigt haben, und Torres hätte das bei der eben herrschenden Windrichtung hören müssen, denn er befand sich nur zwei Meilen davon entfernt.

Ihn kümmerte die Zeit aber offenbar blutwenig. Er pflegte sich, so gut es ging, nach der Höhe der Sonne über dem Horizonte zu richten, und bei [11] einem Abenteurer kommt es ja bei den gewöhnlichen Vorkommnissen des Tages auf militärische Pünktlichkeit nicht an. Er frühstückt oder ißt zu Mittag, wenn es ihm beliebt oder wenn es angeht. Er schläft, wo und wann die Müdigkeit ihn überwältigt. Wenn auch der Tisch für ihn nicht jeden Augenblick gedeckt ist, so findet er doch stets ein Bett am Fuße eines Baumes bereit, gleichgiltig ob in einem dichten Gebüsch oder im offenen Walde. Auf Bequemlichkeit machte Torres keine besonderen Ansprüche. Nachdem er den größten Theil des Morgens marschirt war, aß er ein wenig, und jetzt fühlte er auch das Bedürfniß zu schlafen. Zwei bis drei Stunden Ruhe mußten ihn wieder hinreichend kräftigen, seinen Weg fortzusetzen. Er streckte sich also so bequem wie möglich auf dem Grase aus, um zu schlummern.

Torres gehörte jedoch nicht zu den Leuten, welche sich dem Schlafe überlassen, ohne hierzu gewisse Vorkehrungen getroffen zu haben. Er pflegte zunächst einen derben Schluck Branntwein zu nehmen und nachher eine Pfeife zu rauchen. Der Branntwein erregt das Gehirn und der Tabak verträgt sich gut mit dem Dunst des Traumes.

Das war wenigstens seine Ansicht.

Torres setzte zuerst also die Lippen an die Kürbisflasche, die er an der Seite trug. Diese enthielt von dem in Peru unter dem Namen »Chica« und am oberen Amazonenstrome speciell als »Caysuma« bekannten Likör. Es ist das ein Destillationsproduct aus der in Gährung übergegangenen süßen Maniocwurzel, welchem der Waldkapitän mit seinem etwas verwöhnten Gaumen eine tüchtige Menge Tafia beizumischen liebte.

Als Torres einige Schlucke der Flüssigkeit verzehrt hatte, schüttelte er die Kürbisflasche und überzeugte sich mit Bedauern, daß dieselbe bald leer sei. »Werde ich wieder füllen müssen,« sagte er so vor sich hin.

Dann zog er eine kurze hölzerne Pfeife hervor, stopfte sie mit dem scharfen groben Tabak, dessen Blätter von dem alten »Petun« (einer ganz schlechten Tabakssorte) herrühren, den Nicot zuerst nach Frankreich einführte und damit zur Einbürgerung der ertragreichsten und verbreitetsten der Solaneen ungemein viel beitrug.

Dieser Tabak hat freilich nichts gemein mit dem Scaferlati erster Sorte, den die französischen Manufacturen produciren, Torres aber war in dieser Hinsicht ebenso wenig wählerisch wie nach vielen anderen Seiten. Er schlug am Stahl Feuer, entzündete eine Kleinigkeit von jener klebrigen Substanz, die unter[12] dem Namen »Ameisenschwamm« – ein Absonderungsproduct gewisser Hymenopteren – bekannt ist, und setzte seine Pfeife in Brand.

Beim zehnten Zuge schon schlossen sich seine Augen, die Pfeife glitt ihm aus der Hand und er schlief ein oder versank vielmehr in eine Art Halbtraum, der kein wirklicher Schlaf ist.

Fußnoten

1 1000 Reis entsprechen etwa Mk. 2·40 = fl. 1·20; 1 Conto Reis = Mk. 2400 = fl. 1200.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Dieb und Bestohlener.

Torres schlief seit etwa einer halben Stunde, als unter den Bäumen ein Geräusch entstand, so als wenn Jemand mit bloßen Füßen vorsichtig heranschliche, um nicht gehört zu werden. Wäre der Abenteurer in diesem Augenblicke munter gewesen, so hätte er sicherlich auf jede verdächtige Annäherung ein scharfes Auge gehabt. Von jenem leisen Geräusch erwachte er freilich nicht, und der Andere vermochte sich ihm unbemerkt bis auf zehn Schritte vom Baume zu nähern.

Es war dies jedoch kein Mensch, sondern ein »Guariba«. Unter allen Affen mit Greiferschwanz, welche die Urwälder des Amazonenstromes bevölkern, wie die wirklich eleganten Sahuis, die gehörnten Sajus, die grauhaarigen Monos, die Saguins, welche auf ihrem fratzenhaften Gesicht eine Larve zu tragen scheinen – ist der Guariba unzweifelhaft der originellste. Gesellschaftlich und nicht eben bösartig, und in dieser Hinsicht sehr wesentlich verschieden von dem wilden, trägen »Mucura«, sucht er sich gewöhnlich anderen anzuschließen und wandert meist in größeren Trupps. Schon von fern verräth er seine Gegenwart durch den Lärmen monotoner Stimmen, der fast einem unmelodischen Kirchengesang ähnelt. Wenn er von Natur auch mehr gutmüthig ist, so darf man ihn doch nicht ohne gewisse Vorsicht angreifen. Auf jeden Fall ist, wie wir gleich sehen werden, ein eingeschlafener Reisender ernstlichen Gefahren ausgesetzt, wenn ihn ein Guariba in dieser Lage, also vertheidigungslos überrascht.

Dieser Affe, der in Brasilien auch den Namen »Barbado« führt, war von großer Gestalt. Die Geschmeidigkeit und Kraft seiner Gliedmaßen machten[13] ihn zu einem sehr starken Thiere, ebenso geschickt, auf dem Erdboden zu kämpfen, wie von Ast zu Ast in die Gipfel der Waldriesen zu klettern und zu springen.

Der Guariba näherte sich vorsichtig und mit kleinen Schritten. Er sah nach rechts und links umher und wedelte dazu mit dem Schweife. Den Mitgliedern dieser Affenfamilie hat die Natur nicht allein vier Hände gegeben – wodurch sie sich eben als Vierhänder von den zweihändigen Menschen unterscheiden – sie hat sich sogar noch freigebiger bewiesen, indem sie jene eigentlich mit fünf ausstattete, da die Spitze ihres Schwanzes vollkommen zum Greifen und Festhalten geeignet ist.

Der Affe schlich also geräuschlos heran, wobei er einen tüchtigen Knüppel schwang, der in seiner kräftigen Faust zur gefährlichen Waffe werden konnte. Seit einigen Minuten mußte er den am Fuße des Baumes liegenden Menschen gewiß schon gesehen haben, die Unbeweglichkeit des schlafenden Mannes schien ihn aber zu veranlassen, denselben noch mehr aus der Nähe zu betrachten. Er kam also zögernd weiter heran und blieb endlich drei Schritte vor Jenem stehen.

Sein bärtiges Gesicht verzog sich zur Fratze, wobei die scharfen, elfenbeinweißen Zähne sichtbar wurden, und der Knüppel flog in einer, für den Waldkapitän keineswegs glückverheißenden Weise durch die Luft.

Torres' Aussehen weckte in dem Guariba offenbar keine besonders wohlwollenden Gedanken. Ob er etwa besondere Gründe hatte, dem Vertreter des Menschengeschlechtes, welchen ihm der Zufall, außer Stand sich zu vertheidigen, in die Hand lieferte, zu grollen? Vielleicht! Man weiß ja, wie genau sich manche Thiere an erlittene Unbill erinnern, und es war ja leicht möglich, daß dieser schon mit Waldläufern üble Erfahrungen gemacht hatte.

Vorzüglich bei den Indianern steht der Affe als Jagdwild in hohem Werthe, und sie verfolgen ihn, welcher Familie er auch angehört, mit wahrhaftem Nimrodseifer, nicht allein aus Vergnügen an der Jagd, sondern vor Allem, um ihn zu verspeisen.

Wenn der Guariba jetzt auch nicht geneigt schien, die Rollen zu tauschen, und nicht so weit ging, zu vergessen, daß die Natur ihn zum einfachen Pflanzenfresser gebildet hat, er also den Waldkapitän nicht wohl aufzehren konnte, so zeigte er doch offenbar nicht übel Lust, den, welchen er als natürlichen Feind erkannte, wenigstens zu vernichten.

Nachdem er jenen kurze Zeit betrachtet hatte, begann er den Baum zu umkreisen. Er ging nur langsam, hielt den Athem an, näherte sich jenem aber[14] mehr und mehr. Seine Haltung war drohend, sein Gesicht wüthend. Den stillliegenden Mann mit einem Schlage zu tödten, wäre ihm gewiß ein Leichtes gewesen, und allem Anscheine nach hing Torres' Leben jetzt nur an einem Faden.

Wirklich stellte sich der Guariba noch einmal dicht neben den Baum und so an die Seite, daß er den Kopf des Schlummernden treffen konnte, und hob schon den Stock zum Schlage.

Wenn Torres aber eine Unvorsichtigkeit begangen hatte, das Etui, welches jenes Document und seine Baarschaft enthielt, neben sich in einer hohlen Wurzel zu verbergen, so rettete ihm dieser Umstand jetzt doch das Leben.

Ein Sonnenstrahl, der durch die Zweige drang, traf auch das Etui, dessen polirte Metallfläche dabei gleich einem Spiegel erglänzte. Der Affe wurde bei der, seiner Race eigenthümlichen Neugier aufmerksam. Seine Gedanken – wenn man bei einem Thiere von Gedanken sprechen darf – nahmen eine andere Richtung an. Er bückte sich, ergriff das Etui und wich einige Schritte zurück, während er jenes bis zur Höhe seiner Augen emporhob und nicht ohne Verwunderung bemerkte, wie dasselbe spiegelte. Vielleicht frappirte es ihn noch mehr, als er die in dem Etui enthaltenen Goldstücke klirren hörte. Dieses Geräusch entzückte ihn. Es sah aus, als ob ein Kind mit einer Klapper spielte. Dann führte er es zum Munde und seine Zähne erglänzten in dem Metall, ohne daß er es jedoch anzubeißen versuchte.

Offenbar glaubte der Guariba eine neue Frucht gefunden zu haben, vielleicht eine riesige, glänzende Mandel, mit frei in der Schale beweglichem Kerne. Mochte er diesen Irrthum auch bald einsehen, so veranlaßte ihn das doch nicht, das Etui wegzuwerfen. Im Gegentheil faßte er es noch fester mit der linken Vorderhand, ließ aber den Stock fallen, der dabei einen dürren Zweig zerbrach. Bei diesem Geräusch erwachte Torres, und hurtig wie alle Menschen, welche stets auf der Lauer liegen und bei denen der Uebergang vom Schlafen zum Wachen unvermittelt erfolgt, sprang er auf die Füße.

Sofort erkannte Torres auch, um was es sich hier handelte.

»Ein Guariba!« rief er laut.

Schnell ergriff er die neben ihm liegende Manchetta und setzte sich in Vertheidigungszustand.

Erschrocken wich der Affe zurück und flüchtete, da ihm einem wachenden Menschen gegenüber der Muth auszugehen schien, mit raschem Sprunge unter die dichten Bäume.


»Warte nur, Spitzbube, wenn ich dich erwische!...« (S. 18.)

»Das war die höchste Zeit! rief Torres, der Schurke hätte mir ohne großes Federlesen den Garaus gemacht!«

[15]

Plötzlich bemerkte er in der Hand des Affen, der in der Entfernung von zwanzig Schritten stehen geblieben war und ihn angrinste, als wollte er ihn noch zum Narren haben, sein kostbares Etui.


Es waren Brasilianer, nach Jägerart gekleidet. (S. 21.)

»Der Spitzbube! rief er noch einmal. Wenn er mich nicht tödtete, so hat er mir doch weit Schlimmeres an gethan! Er hat mich bestohlen!«

Der Gedanke, daß jenes Etui auch seine Baarschaft enthielt, machte ihm [16] dabei keine so große Sorge; daß sich in dem Etui aber das Document befand, dessen Verlust ihm geradezu unersetzlich war, das brachte ihn ganz außer Fassung.

»Tausend Teufel!« wetterte er wüthend.

Da er nun um jeden Preis sein Etui wieder erlangen wollte, machte er sich auf, den Guariba zu verfolgen.

Er verheimlichte sich dabei nicht, daß es kein leichtes Stück Arbeit sein werde, das gewandte Thier einzuholen. Auf der Erde entfloh der Affe zu schnell, [17] in den Bäumen zu hoch. Nur ein Büchsenschuß hätte seinem Laufe oder seinem Fluge ein Ziel setzen können; Torres besaß jedoch keine Feuerwaffe. Dolchmesser und Axt konnten dem Guariba doch nur etwas anhaben, wenn er ihm ganz nahe zu kommen vermochte. Es lag ihm bald klar vor Augen, daß er den Guariba nur durch List werde fangen können. Torres mußte also versuchen, was auf diese Weise zu erreichen war. Es blieb ihm nichts übrig, als vom Laufen abzustehen, sich hinter einem Baumstamm zu verbergen, in einem Dickicht zu verschwinden und den Guariba zu veranlassen, auch einzuhalten und vielleicht sogar zurückzukehren. Torres fügte sich dieser Ansicht; wenn der Waldkapitän aber verschwand, so wartete der Guariba einfach, bis er wieder erschien, und Torres kam damit zu keinem Ziele.

»Verdammter Guariba! rief er unwillig; so komm' ich nie zu Ende und er könnte mich wieder bis über die brasilianische Grenze wegführen. Wenn er nur das Etui fallen ließe! Aber nein! Der Klang der Goldstücke scheint ihn zu belustigen. Warte nur, Spitzbube, wenn ich dich erwische!...«

Noch einmal begann Torres die Verfolgung und wiederum wich der Affe zurück.

So verging wohl eine Stunde ohne jedes Resultat. Erklärlicher Weise ermüdete Torres nicht. Wie konnte er ohne jenes Document die erhoffte Summe gewinnen?

Endlich ward er wüthend. Er fluchte, stampfte den Boden mit den Füßen und drohte dem Guariba. Das störrische Thier antwortete ihm nur durch weitere Grimassen, die ihn allmählich außer sich brachten.

Torres begann seine Verfolgung von Neuem; er lief, daß ihm der Athem ausging, verwickelte sich in dem hohen Grase, in dem dichten Gebüsch und den verschlungenen Lianen, durch welche der Guariba wie ein Steeple-Chase-Reiter flüchtig dahin eilte. Ueber die Fußwege streckten sich zuweilen dichte Wurzeln. Er strauchelte und sprang wieder auf. Endlich begann er unwillkürlich zu rufen: »Hierher! Hierher! Haltet den Dieb!« als ob Jemand ihn hören könnte.

Bald fühlte er sich am Ende seiner Kräfte, der Athem verließ ihn und er mußte einhalten.

»Alle Teufel, platzte er heraus, wenn ich im Busche flüchtige Neger verfolgte, machten mir die Kerle nicht solche Mühe! Doch, ich werde ihn erwischen, den vermaledeiten Affen, gewiß ihn erwischen und laufen, so weit mich die Füße tragen! Wir wollen doch sehen, wer zum Ziele kommt!«

[18] Als der Affe bemerkte, daß der Mann ihm nicht mehr nachlief, blieb auch er sitzen. Er ruhte aus, obwohl er noch lange nicht so erschöpft war wie Torres, der eben nicht weiter konnte.

So hockte er zehn Minuten da, knabberte an ein paar Wurzeln, die er im Fluge von der Erde aufgerafft hatte, und ließ von Zeit zu Zeit das Etui vor seinen Ohren klingen.

Voller Wuth warf Torres einige Steine nach ihm, die Jenen zwar erreichten, aber bei der weiten Entfernung nicht viel schadeten.

Zu einem Entschlusse mußte er gleichwohl kommen. Einerseits erschien es sinnlos, dem Affen mit so wenig Aussicht auf Erfolg noch weiter nachzulaufen; andererseits brachte es ihn in Harnisch, sich diesem unseligen Zufall, der alle seine Luftschlösser zerstörte, endgiltig zu fügen und nicht allein geschlagen, sondern von einem so albernen Thiere betrogen, überlistet zu sein.

Und doch mußte Torres sich sagen, daß der Dieb mit Einbruch der Nacht ohne Schwierigkeit für immer verschwinden werde, und er, der Bestohlene, würde noch obendrein die größte Mühe haben, aus diesem dichten Walde nur seinen Weg wieder zu finden. Die Verfolgung hatte ihn mehrere Meilen vom Ufer des Stromes hinweggeführt, und er konnte schon jetzt in Verlegenheit kommen, sich auf dem Wege dahin nicht zu verirren.

Torres zauderte; er versuchte seine Gedanken mit Ruhe zu sammeln, und nach einem letzten kräftigen Fluche wollte er schon jede Hoffnung auf die Wiedererlangung seines Etuis aufgeben, als er, mehr gegen seinen Willen, für das Document, von dem er einen so ausgedehnten Gebrauch zu machen gedachte, sich doch zu einer letzten Anstrengung aufraffte.

Er sprang also in die Höhe.

Der Guariba folgte seinem Beispiele.

Er that einige Schritte vorwärts.

Der Affe machte ebenso viele rückwärts; diesesmal aber hielt er, statt noch tiefer in den Wald zu fliehen, am Fuße einer gewaltigen Ficus an, welcher Baum im ganzen Becken des oberen Amazonenstromes überall in den verschiedensten Arten auftritt.

Sich mit den vier Händen an den Stamm zu klammern, mit der Geschicklichkeit eines Clown daran emporzuklettern, mit dem Greiferschwanze einen starken, vierzig Fuß über dem Erdboden horizontal aus gestreckten Ast zu erfassen und sich von da aus nach den höchsten Zweigen des riesigen Baumes, die sich[19] unter der Last herabneigten, zu schwingen, war für den gewandten Guariba ein Spiel und das Werk weniger Augenblicke.

Hier richtete er sich nach Bequemlichkeit ein und setzte seine unterbrochene Mahlzeit fort, indem er von den Früchten pflückte, die er erreichen konnte. Torres hätte gewiß auch gern etwas gegessen und getrunken, das verbot sich aber von selbst, denn seine Tasche war mager und seine Kürbisflasche leer.

Statt nun jedoch zurückzukehren, begab er sich nach dem Baume, obgleich der Affe auf diesem vor ihm noch sicherer war, als vorher. Er konnte natürlich gar nicht daran denken, auch in die Höhe klettern zu wollen, denn sein Dieb hätte die Ficus einfach verlassen und sich nach einer anderen hinübergeschwungen.

Und immer klapperte er mit dem Etui vor seinen Ohren!

In seiner sinnlosen Wuth begann Torres nun auf den Guariba zu schimpfen. Die Titel, die er im anhing, sind gar nicht wiederzugeben. Er ging dabei so weit, Jenen nicht nur einen »Mestizen« zu nennen, was aus dem Munde eines Brasilianers weißer Race schon als grobe Beleidigung gilt, nein, er schimpfte ihn sogar »Curiboca«, das bedeutet einen Mischling von einem Neger und einer Indianerin. Unter allen Insulten, welche ein Mensch dem anderen anthun kann, giebt es aber keinen schlimmeren unter jenen äquatorialen Breiten.

Der Affe freilich als einfacher Vierhänder bekümmerte sich nicht im mindesten um alle die Schimpfworte, welche einen Menschen empört hätten.

Torres begann nun auf's Neue, mit Steinen, Wurzeln und Allem, was ihm in die Hand kam, zu werfen. Er bildete sich gewiß kaum ein, den Affen damit ernstlich etwas anhaben zu können, sondern er wußte einfach nicht mehr, was er that. Die Wuth über seine Ohnmacht dem Thiere gegenüber raubte ihm eben alle Besinnung. Vielleicht hoffte er einen Augenblick, daß der Guariba, wenn er sich von einem Aste zum anderen schwang, das Etui verlieren könne, wenn er es, um gegen seinen Angreifer nicht zurückzubleiben, ihm nicht etwa gar an den Kopf warf. Vergebens! Der Affe bemühte sich sorgsam, das Etui festzuhalten, blieben ihm doch, wenn er es auch mit der einen Hand umspannte, noch drei für allerlei Bewegungen frei.

Voller Verzweiflung wollte Torres schon den ungleichen Wettkampf aufgeben und nach dem Amazonenstrome zurückkehren, als sich ein unerwartetes Geräusch vernehmen ließ, das offenbar von menschlichen Stimmen herrührte.

Etwa zwanzig Schritte von der Stelle, wo der Waldkapitän sich befand, wurde gesprochen.

[20] Torres' erste Sorge war, sich im dichten Gebüsch zu verbergen. Als vorsichtiger Mann wollte er sich nicht eher sehen lassen, als bis er wüßte, mit wem er es zu thun habe. Voller Neugier, klopfenden Herzens und mit gespannten Ohren wartete er, als plötzlich ein Schuß krachte.

Ein Schrei, und tödtlich getroffen stürzte der Affe schwer zur Erde hernieder, noch immer das Etui fest umklammernd.

»Alle Kukuk! rief Torres, das war eine Kugel, die zu gelegener Zeit kam!«

Jetzt sprang er, ohne Scheu gesehen zu werden, aus dem Busch hervor, als eben zwei junge Leute unter den Bäumen erschienen.

Es waren Brasilianer, nach Jägerart gekleidet, mit langen Stiefeln, einen leichten Hut aus Palmenfasern auf dem Kopfe und eine in der Taille zusammengehaltene Jacke oder vielmehr Blouse über dem Körper, welche im Walde natürlich bequemer zu tragen ist als der nationale Poncho. An ihren Zügen und der Farbe ihres Gesichtes erkannte man leicht, daß sie von portugiesischer Abstammung waren.

Jeder führte eine jener langen, spanischen Flinten, welche an die Feuerwaffen der Araber erinnern, die bei großer Treffsicherheit doch sehr weit tragen und welche die Waldläufer am oberen Amazonenstrome fleißig und erfolgreich gebrauchen.

Was eben geschehen war, konnte dafür als Beweis gelten. Aus schräger Entfernung von über achtzig Fuß, saß die Kugel dem Vierhänder doch mitten im Kopfe.

Außer jenem Gewehre trugen die jungen Leute im Gürtel noch eine Art Dolchmesser, in Brasilien »Foca« genannt, dessen sich die Jäger bedienen, wenn sie den Onça oder andere, in diesen Wäldern zwar nicht besonders gefährliche, aber in großer Anzahl vorkommende Raubthiere angreifen.

Offenbar hatte Torres bei diesem Zusammentreffen nichts zu fürchten und lief also eilig zu dem Körper des Affen hin.

Die jungen Leute aber, welche demselben Ziele zusteuerten, hatten nur einen kürzeren Weg zurückzulegen und befanden sich mit wenigen Schritten Torres gegenüber.

Dieser hatte seine volle Geistesgegenwart wieder erlangt.

»Besten Dank, meine Herren, sagte er erfreut, und lüftete ein wenig den Hut. Sie haben mir durch Erlegung dieses abscheulichen Thieres einen großen Dienst erwiesen!«

[21] Die Jäger sahen zuerst einander an, da sie nicht verstanden, was dieser Dank bedeuten sollte.

Torres klärte sie mit einigen Worten über die Sachlage auf.

»Sie glaubten nur einen Affen zu schießen, sagte er, in Wahrheit aber haben Sie einem Diebe den Garaus gemacht!

– Wenn wir Ihnen genützt haben, erwiderte der jüngere der beiden Männer, so hatten wir zwar keine Ahnung davon, schätzen uns darum aber nicht minder glücklich, Ihnen diesen Dienst erwiesen zu haben.«

Er ging einige Schritte zurück, beugte sich über den Guariba und nahm das Etui aus dessen noch immer fest geschlossener Hand.

»Das gehört demnach Ihnen? fragte er.

– Ja freilich!« antwortete Torres, der das Etui rasch ergriff und einen erleichternden Stoßseufzer dabei nicht unterdrücken konnte.

»Und wem, mein Herr, habe ich für den mir erwiesenen Dienst zu danken?

– Meinem Freunde Manoel, Regimentsarzt in der brasilianischen Armee, erwiderte der junge Mann.

– Nun, wenn ich den Affen geschossen habe, warf Manoel ein, so hast Du, lieber Benito, mir ihn doch zuerst gezeigt.

– In diesem Falle, meine Herren, fuhr Torres fort, bin ich Ihnen also Beiden verpflichtet, ebenso Herrn Manoel, wie Herrn...?

– Benito Garral,« ergänzte Manoel.

Der Waldkapitän mußte alle Kräfte zusammenraffen, um bei der Nennung dieses Namens nicht zu er zittern, vorzüglich als der junge Mann höflich hinzusetzte:

»Die Farm meines Vaters Joam Garral liegt kaum drei Meilen von hier entfernt. 1 Wenn es Ihnen beliebt, Herr...

– Torres, sagte der Abenteurer.

– Wenn es Ihnen beliebt, Herr Torres, daselbst vorzusprechen, werden Sie gastfreundlich aufgenommen werden.

– Ich weiß nicht, ob mir das möglich ist! erwiderte Torres, der in Folge dieser unerwarteten Begegnung nicht sofort zu einem Entschlusse kommen konnte. Ich glaube wirklich nicht, Ihr freundliches Anerbieten annehmen zu können!... Der Ihnen erzählte Zwischenfall hat mir zu viel Zeit geraubt...

[22] Ich muß eiligst nach dem Amazonenstrome zurückkehren, dem ich bis nach Para folgen wollte...

– O, dann wäre es möglich, Herr Torres, fuhr Benito fort, daß wir uns auf diesem Wege wiedersehen könnten, denn noch vor Ablauf eines Monates wollte mein Vater mit der ganzen Familie dieselbe Tour machen.

– Ihr Herr Vater, versetzte Torres lebhaft, gedenkt also über die brasilianische Grenze hinaus zu gehen?...

– Ja wohl, das heißt zum Zwecke einer etwa dreimonatlichen Reise, gab Benito zur Antwort. Wir hoffen wenigstens, ihn dazu zu bestimmen, nicht wahr, Manoel?«

Manoel nickte mit dem Kopfe.

»Nun, meine Herren, nahm Torres wieder das Wort, dann könnte es wirklich zutreffen, daß wir uns unterwegs wiederfinden. Für den Augenblick kann ich indeß, zu meinem größten Bedauern, Ihrer Einladung nicht Folge leisten; doch danke ich Ihnen dafür und fühle mich dadurch nur doppelt verpflichtet.«

Mit diesen Worten verabschiedete sich Torres von den jungen Leuten, die seinen Gruß erwiderten und den Weg nach der erwähnten Farm einschlugen.

Jener beobachtete, wie sie sich entfernten.

»Ah, begann er, als Jene verschwunden waren, mit dumpfer Stimme, er wagt sich also über die Grenze! Nun, meinetwegen, so bekomme ich ihn desto sicherer in meine Gewalt! Glückliche Reise, Joam Garral!«

Der Waldkapitän wendete sich nun wieder nach Süden, um das linke Stromufer auf kürzestem Wege zu erreichen, und verschwand bald im dichten Walde.

Fußnoten

1 Wegmaße werden in Brasilien gewöhnlich nach der kleinen Meile von 2060 Meter Länge angegeben; die sogenannte große Meile mißt dagegen 6180 Meter.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Die Familie Garral.

Das Dorf Iquitos liegt nahe dem linken Ufer des Amazonenstromes,


Das Dorf Iquitos liegt nahe dem linken Ufer. (S. 23.)

fast genau unter dem 74. Grade (westlicher Länge von Paris) in jenem Gebiete des großen Stromes, wo dieser noch den Namen Marañon führt und sein Bett[23] Peru von der Republik Ecuador, gegen fünfundfünfzig Meilen westlich der brasilianischen Grenze, scheidet.

Iquitos wurde dereinst von Missionären gegründet, wie alle jene Haufen von Hütten, jene Weiler oder Flecken, die man im Becken des Amazonenstromes antrifft. Bis zum Jahre 1817 hatten sich die Iquitos-Indianer – jener Zeit die einzige Bevölkerung des Ortes – mehr in das Innere der Provinz und weit von dem Flusse zurückgezogen. Plötzlich versiechten aber in Folge vulcanischer Eruptionen die Quellen des Landes, und sie sahen sich genöthigt, ihre Wohnstätten [24] nach dem linken Ufer des Marañon zu verlegen. Durch Vermischung mit den Flußindianern, den Ticunas und Omaguas, veränderte sich bald die Race, und heute beherbergt Iquitos nur eine gemischte Bevölkerung, der noch einige Spanier und zwei oder drei Mestizenfamilien hinzutraten.

Gegen vierzig höchst erbärmliche Hütten mit Strohdecken bilden das ganze regellos gebaute Dorf, das übrigens auf einer Stelle fünfzig Fuß über dem Flusse liegt. Eine aus horizontalen Baumstämmen hergestellte Treppe führt zu demselben hinauf und verbirgt es vor dem Blicke des Reisenden, wenn dieser [25] nicht selbst jene Treppe erklimmt, denn es fehlt in der Nähe an jeder anderen Bodenerhebung.


Vom Stromufer aus sah man nur das erste Haus. (S. 28.)

Auf der oberen Fläche angelangt, erblickt man eine kaum widerstandsfähige Umzäunung aus verschiedenen Büschen und baumartigen Pflanzen, verbunden mit Tauen und Lianen, welche da und dort von den Gipfeln mächtiger Bananen und eleganter Palmen herabhängen.

Jener Zeit – und die Mode wird wohl heute kaum versucht haben, das ursprüngliche Costüm zu verdrängen – gingen die Iquitosindianer fast vollständig nackt. Nur die Spanier und die Mestizen, die mit Verachtung auf die eingebornen Mitbewohner des Ortes zu blicken pflegten, trugen ein einfaches Hemd, leichte baumwollene Beinkleider und einen landesüblichen Strohhut. Alle lebten in dem Dorfe höchst elend und ohne Verkehr mit einander, außer daß sie sich in den Stunden einmal versammelten, wo die Glocke der Mission sie nach der verfallenen Hütte rief, die als Kirche diente. Stand die Lebensweise in dem Dorfe der Iquitos aber auch auf der niedrigsten Stufe, wie das in allen Flecken am oberen Amazonenstrom der Fall ist, so brauchte man nur eine Meile an demselben Ufer des Stromes hinabzugehen, um eine reiche Niederlassung anzutreffen, wo für alle Bedürfnisse einer comfortablen Existenz gesorgt war.

Da lag nämlich die Farm Joam Garral's, wohin die beiden jungen Leute nach ihrer Begegnung mit dem Waldkapitän zurückkehrten.

Diese Farm, Meierei oder, um den landesüblichen Ausdruck zu gebrauchen, diese jetzt in aller Blüthe stehende »Fazenda« war vor langen Jahren schon an einer Biegung des Stromes bei der Einmündung des hier fünfhundert Schritte breiten Rio Nanay begründet worden. Nach Norden zu begrenzte sie dieser Fluß eine kleine Meile weit, und nach Osten erstreckte sie sich etwa eben so weit an dem großen Strome hin. Gegen Westen schieden sie mehrere kleine Wasserläufe, meist Nebenflüsse des Nanay und mehrere mittelgroße Lagunen von der Savanne und den zur Viehweide benutzten Campinen (das sind große, sumpfige Haidestrecken).

Im Jahre 1826 – sechsundzwanzig Jahre vor der Zeit, mit der diese Erzählung beginnt – hatte Joam Garral bei dem Eigenthümer der Fazenda Aufnahme gefunden.

Dieser Portugiese, Namens Magelhaës, trieb keine andere Industrie als die Ausbeutung der Wälder, und sein erst vor kurzer Zeit begründetes Etablissement dehnte sich kaum eine halbe Meile am Ufer des Flusses aus. Hier lebte Magelhaës – gastfreundlich wie alle reichen Portugiesen – mit seiner Tochter [26] Yaquita, welche nach dem Tode der Mutter dem Hauswesen vorstand. Magelhaës war zwar ein tüchtiger Arbeiter, der vor keiner Mühe zurückscheute, doch fehlte es ihm zu sehr an höherer Bildung. Er wußte mit den wenigen Sklaven, die er besaß, und mit einem Dutzend Indianern, die er besoldete, wohl fertig zu werden, vermochte dagegen den Betrieb seines Handels nach außen hin nur sehr mangelhaft zu leiten. Aus Mangel an Kenntniß ging es mit dem Etablissement bei Iquitos auch nicht so recht vorwärts, und die Verhältnisse des portugiesischen Händlers blieben immer ziemlich gedrückte.

Unter solchen Umständen trat Joam Garral, der damals zweiundzwanzig Jahre zählte, Magelhaës zuerst entgegen. Völlig kraftlos und aller Hilfsmittel baar war er in das Land gekommen. Magelhaës hatte ihn halbtodt vor Hunger und Erschöpfung im nahen Walde gefunden. Der Portugiese besaß ein weiches Herz. Er fragte den Unbekannten nicht, woher er kam, sondern bekümmerte sich nur darum, was er bedürfe. Die trotz seiner Erschöpfung vornehme und stolze Erscheinung Joam Garral's machte auf ihn einen gewissen Eindruck. Er nahm sich also seiner an, half ihm weiter und bot ihm, zunächst für einige Tage, Aufenthalt in seinem Hause an, der das ganze Leben hindurch dauern sollte.

Wir geben hier kurz die Umstände wieder, unter denen Joam Garral in die Farm von Iquitos eintrat.

Von Geburt Brasilianer, war er ohne Familie wie ohne Vermögen. Gram und Kummer, sagte er, hatten ihn veranlaßt, auf Nimmerwiederkehr auszuwandern. Er bat seinen Wirth um Erlaubniß, von den ebenso schweren, wie unverschuldeten Unfällen, die ihn betroffen hatten, schweigen zu dürfen. Er suchte, er ersehnte ja nichts als ein neues Leben, ein Leben voller Arbeit. Mit dem Gedanken, in einer Fazenda des inneren Landes Unterkommen zu finden, war er auf gut Glück in die Welt gegangen. Unterrichtet und offenen Kopfes, zeigte seine ganze Erscheinung ein unerklärliches Etwas, woraus man in ihm einen verständigen Mann mit klarem Verstande und bewußtem Willen erkannte. Magelhaës lernte ihn schnell schätzen und bot ihm deshalb an, auf seiner Farm zu bleiben, wo er ganz geeignet schien, da einzuspringen, wo es dem würdigen Farmer an Kenntniß und Ausbildung mangelte.

Joam Garral ging ohne Zögern auf das Angebot ein. Früher hatte er zwar beabsichtigt in einem »Seringal«, das ist eine Kautschukmanufactur, Anstellung zu suchen, wo ein guter Arbeiter jener Zeit fünf bis sechs Piaster 1

[27] täglich verdiente und bei wenigem Glück Aussicht hatte, selbst Eigenthümer zu werden; Magelhaës belehrte ihn aber, daß dieser Lohn nur deshalb so hoch sei, weil es in den Seringals nur zur Erntezeit, das heißt wenige Monate hindurch, Arbeit gäbe und eine dauernde Stellung, wie sie der junge Mann wünschen mußte, da nicht zu erhoffen sei.

Der Portugiese hatte ganz recht. Joam Garral sah das ein und trat entschlossen in die Fazenda mit dem Vorsatze, ihr alle seine Kräfte zu widmen.

Magelhaës hatte seine gute That nicht zu bereuen. Seine Geschäfte gestalteten sich besser. Der Holzhandel, der auf dem Amazonenstrome bis Para betrieben wurde, gewann durch Joam Garral eine beträchtliche Erweiterung. Die Fazenda selbst vergrößerte sich Schritt für Schritt und dehnte sich am Ufer des Stromes bis zur Mündung des Nanay aus. Die Wohnung wurde zu einem stattlichen Hause umgeschaffen, mit einem Stockwerk übersetzt und mit einer Veranda umgeben; so lag sie halb versteckt unter prächtigen Bäumen, Mimosen, Sykomoren, Bauhinias und Paullinias, deren Stämme unter einem dichten Netze von Granaten, Bromelias mit scharlachrothen Blüthen und regellos verschlungenen Lianen ganz verschwanden.

In einiger Entfernung, hinter riesigen Büschen und unter dem Dickicht baumartiger Pflanzen, erhoben sich die Baulichkeiten, in denen das Personal der Fazenda wohnte, das Gesindehaus, die Hütten der Neger und die karaïbischen Wohnzelte der Indianer. Von dem mit Rosen und Wasserpflanzen eingerahmten Stromufer aus sah man also nur das erste Haus.

Eine geräumige, längs der Lagunen gelegene Campine bot treffliches Weideland. Hier tummelten sich zahlreiche Thiere. Diese wurden zu einer neuen Quelle reichen Ertrages in diesen fruchtbaren Landstrichen, wo eine Heerde sich in vier Jahren verdoppelt und dabei doch zehn Procent Ertrag abwirft, nur aus dem Nebenverkaufe des Fleisches und der Häute der für den Bedarf der Züchter geschlachteten Thiere. Auf anderen gerodeten Stellen wurden einige »Sitios« oder Anpflanzungen von Manioc und Kaffee angelegt. Die Zuckerrohrfelder machten bald die Anlage eines Mühlenwerkes zur Zermalmung der Rohrstengel nothwendig, aus denen Melasse, Tafia und Rum gewonnen wurde. Kurz, zehn Jahre nach dem Eintritte Joam Garral's war die Farm bei Iquitos zu einer der reichsten Niederlassungen am oberen Amazonenstrome geworden, und befand sich bei der sicheren Leitung durch den jungen Verwalter, der die Arbeiten im Inneren und die Geschäfte nach außen überwachte, noch immer in fortschreitendem Gedeihen.

[28] Der Portugiese hatte nicht so lange gewartet, sich für Alles, was er Joam Garral verdankte, erkenntlich zu zeigen. Um ihn nach Gebühr zu belohnen, überließ er demselben zunächst einen Antheil an den Einkünften des Geschäftes; vier Jahre später machte er ihn zum wirklichen Theilhaber mit gleichen Rechten und gleichen Antheilen wie er selbst.

Seine Gedanken reichten aber noch weiter. Yaquita, seine Tochter, hatte ebenso wie er an dem schweigsamen, gegen Andere milden, gegen sich selbst strengen jungen Manne die liebenswürdigsten Eigenschaften des Geistes und Herzens bald genug erkannt. Sie liebte ihn; obwohl Joam aber gegenüber den Verdiensten und der Schönheit des munteren, thätigen Mädchens nicht unempfindlich blieb, so schien er doch, aus Stolz oder Schüchternheit, gar nicht daran zu denken, um ihre Hand anzuhalten.

Ein trauriger Unfall beschleunigte die Lösung dieser Frage.

Magelhaës wurde eines Tages beim Fällen eines Baumes von dem umstürzenden Stamme tödtlich verwundet. Fast bewegungslos nach der Farm zurückgebracht und im Vorgefühl seines nahen Endes ergriff er die Hand Yaquitas, die an seiner Seite weinte, legte sie in die Joam Garral's und verlangte von diesem einen Eid, daß er das Mädchen zum Weibe nähme.

»Du hast mein Glück begründet, sagte er, und ich werde nur dann ruhig sterben, wenn ich dieses Band geknüpft und die Zukunft meines Kindes gesichert weiß!

– Ich kann ja ihr ergebener Diener, ihr Bruder, ihr Beschützer bleiben, ohne deshalb ihr Gatte zu werden, hatte Joam Garral zuerst geantwortet. Ich verdanke Euch Alles, Magelhaës, und werde das niemals vergessen, der Preis aber, mit dem Ihr meine Leistungen belohnen wollt, übersteigt deren Werth!«

Der Greis verharrte bei seinem Herzenswunsche. Der Tod gewährte ihm nicht lange Zeit zum Warten, er drängte zu einem Versprechen und erlangte dasselbe.

Yaquita zählte damals zweiundzwanzig Jahre, Joam Garral sechsundzwanzig. Beide liebten sich und vermählten sich einige Stunden vor dem Tode Magelhaës', der noch die Kraft fand, ihren Bund zu segnen.

In Folge dieser Ereignisse wurde Joam Garral im Jahre 1830 der neue Fazender von Iquitos, zur größten Befriedigung Aller, welche zum Personal der Farm gehörten. Die Wohlfahrt der ganzen Niederlassung konnte unter der Vereinigung beider leitenden Kräfte in einem Herzen nur gewinnen.

[29] Ein Jahr nach der Verehelichung schenkte Yaquita dem Gatten einen Sohn, zwei Jahre nachher eine Tochter. Benito und Minha, die Enkel des alten Portugiesen, sollten ihres Großvaters, die Kinder ihrer Eltern würdig werden.

Das junge Mädchen war ein reizendes Geschöpf. Niemals verließ sie die Fazenda. Aufgewachsen in einer reinen und gefunden Umgebung, inmitten der herrlichen Natur der Tropenzone, genügte ihr die Erziehung, welche sie seitens der Mutter genoß, und der Unterricht, den sie vom Vater erhielt. Was hätte sie in einem Kloster von Manao oder Belem weiter lernen können? Wo hätte sie bessere Vorbilder aller weiblichen Tugenden vor Augen gehabt? Würde Geist und Herz sich bei ihr fern vom Vaterhause reifer und zarter entwickelt haben? Auch wenn das Schicksal ihr einst nicht bestimmte, ihrer Mutter in der Bewirthschaftung der Fazenda zu folgen, so fehlte ihr gewiß nichts, um jeder beliebigen Stellung gerecht zu werden.

Mit Benito lag die Sache anders. Sein Vater wünschte, daß er eine so gründliche und vielseitige Ausbildung erlangen sollte, wie sie die großen Städte Brasiliens nur zu bieten vermöchten. Der reiche Fazender brauchte sich für seinen Sohn nichts zu versagen. Benito besaß glückliche Anlagen, einen offenen Kopf und schnelle Auffassungsgabe, neben Eigenschaften des Herzens, welche jenen des Geistes die Waage hielten. Mit dem zwölften Jahre wurde er nach Belem, der Hauptstadt der Provinz Para, gesendet und fand dort bei vortrefflichen Lehrern eine gründliche umfassende Ausbildung, die ihm später eine angesehene Stellung im Leben sichern mußte. In den Wissenschaften, wie in den Künsten blieb ihm nichts fremd. Er lernte, als ob das Vermögen seines Vaters nicht für ihn hingereicht hätte, auch ohne Arbeit zu leben. Er gehörte nicht zu Denen, welche sich einbilden, daß der Reiche müßig leben könne, sondern zu den thatkräftigen Naturen, die sich dieser natürlichsten aller Anforderungen nicht entziehen zu dürfen glauben, da nur die Arbeit den Menschen seines Namens würdig macht.

In den ersten Jahren seines Aufenthaltes in Belem hatte Benito die Bekanntschaft Manoel Valdez' gemacht. Dieser junge Mann, der Sohn eines Kaufmannes in der Provinz Para, lag seinen Studien in derselben Anstalt ob, wie Benito. Die Uebereinstimmung ihrer Charaktere und ihre Neigungen verband sie sehr bald zu inniger Freundschaft und machte sie zu wahrhaft unzertrennlichen Kameraden.

[30] Der im Jahre 1830 geborne Manoel war ein Jahr älter als Benito. Er besaß nur noch seine Mutter, die von einem bescheidenen, von ihrem seligen Manne hinterlassenen Vermögen lebte. Nach Vollendung seiner Vorbereitungsstudien widmete sich Manoel der Arzneiwissenschaft. Er hatte eine leidenschaftliche Liebe für diesen edlen Beruf und beabsichtigte, in Militärdienste zu treten, wozu er sich besonders hingezogen fühlte.

Zur Zeit, wo wir ihm mit seinem Freunde Benito begegneten, hatte er schon eine erste Anstellung und verweilte jetzt während eines Urlaubes in der Fazenda, wo er von jeher seine Ferien zuzubringen pflegte. Dieser junge Mann von hübschem Aeußeren, vornehmer Erscheinung und mit etwas angeborenem Stolze, der ihm recht gut anstand, verkehrte als ein zweiter Sohn, den Joam und Yaquita zur Familie rechneten. Machte ihn diese Eigenschaft als Sohn des Hauses zum Bruder Benitos, so erschien ihm dieser Name gegenüber Minha noch unzureichend, und bald verband er sich mit dem jungen Mädchen durch ein innigeres Band als das der Geschwisterliebe.

Im Jahre 1852 – von dem zu Anfang unserer Erzählung schon vier Monate verflossen waren – zählte Joam Garral achtundvierzig Jahre. Unter einem verzehrenden Klima, das so schnell den Körper abnutzt, hatte er durch seine Enthaltsamkeit in Genüssen jeder Art, durch strenge Lebensordnung und vernünftige Arbeit da Widerstand geleistet, wo Andere vor der Zeit erliegen. Die kurz geschnittenen Haare und der volle Bart färbten sich schon grau und verliehen ihm das Aussehen eines Puritaners. Die sprichwörtliche Ehrlichkeit der brasilianischen Kaufleute und Fazenders spiegelte sich in seiner Erscheinung wieder, deren hervorragendster Zug die Geradheit seines Charakters war. Wenn auch von ruhigem Temperamente, erkannte man in ihm doch ein inneres Feuer, das nur sein fester Wille niederzuhalten vermochte. Die Klarheit seines Blickes verrieth eine bewußte Kraft, an die er gewiß niemals vergeblich appellirte, wenn es galt, mit seiner Person einzutreten.

Und dennoch konnte man an diesem ruhigen Manne, dem Alles im Leben nach Wunsch gegangen zu sein schien, eine gewisse Traurigkeit nicht verkennen, welche selbst Yaquitas Zärtlichkeit nicht zu besiegen im Stande war.

Warum dieser von Allen hochgeachtete Mann, der sich in den glücklichsten Verhältnissen befand, das nicht auch äußerlich zeigte, warum er seine volle Befriedigung nur in dem Glücke Anderer finden konnte, ob vielleicht ein geheimer


Der Greis verharrte bei seinem Herzenswunsche. (S. 29.)

Kummer an seiner Seele nagte – das waren Fragen, die sich seine Gattin oft voller Besorgniß vorlegte.

Yaquita war jener Zeit vierundvierzig Jahre alt. Hier in dem Tropenlande, wo andere Frauen schon mit dreißig Jahren gealtert aussehen, hatte auch sie von Einflüssen des Klimas verhältnißmäßig wenig ge [31] litten. Ihre etwas härter gewordenen, aber doch noch hübschen Züge zeigten den stolzen Typus der portugiesischen Race, in welcher ein schönes Gesicht sich so glücklich mit einer edlen Seele paart.


Minha zählte damals zwanzig Jahre. (S. 34.)

Der einundzwanzigjährige Benito mit seinem lebhaften, zu raschem Handeln geneigten Charakter, unterschied sich darin von seinem ernsteren, mehr über [32] legten Freunde Manoel. Für Benito war es eine große Freude gewesen, nach einjähriger Abwesenheit in Belem, so fern von der Fazenda, mit seinem jungen Freunde in das elterliche Haus zurückgekehrt zu sein, Vater, Mutter und Schwester wiedergesehen zu haben und sich, bei seiner Vorliebe für die Jagd, inmitten der prächtigen Wälder des oberen Amazonenstromes zu befinden, deren Geheimnisse der Mensch noch nach langen Jahren nicht vollständig entschleiert haben wird.

[33] Minha zählte damals zwanzig Jahre und war ein reizendes junges Mädchen, brünett mit großen, blauen Augen, mit Augen, aus denen man in ihrer Seele lesen konnte. Von mittlerer Größe, schöner Figur und voll natürlicher Grazie, erinnerte sie lebhaft an das Bild Yaquitas. Etwas ernster als ihr Bruder, aber gut, mitleidig und wohlwollend, war sie geliebt von Allen, die mit ihr in Berührung kamen, was ohne Zweifel auch die niedrigsten Diener der Fazenda bestätigt hätten. Manoel Valdez, den Freund ihres Bruders, hätte man freilich nicht fragen dürfen, »wie er sie finde.« Dieser war dabei zu sehr interessirt, um eine unparteiische Antwort geben zu können.

Das Bild der Familie Garral wäre noch nicht vollendet und es würden ihm einige nicht unwichtige Züge fehlen, wenn das zahlreiche Personal der Fazenda hier keine Erwähnung fände.

Zuerst ist da eine alte, sechzigjährige Negerin zu nennen, Cybele, welche zwar frei war nach dem Willen ihres Herrn, aus Liebe zu ihm und den Seinigen aber Sklavin blieb. Das war Yaquitas Amme gewesen. Sie gehörte gänzlich zur Familie und duzte Mutter und Tochter. Das ganze Leben des guten Geschöpfes hatte sich in diesen Feldern, in den Wäldern auf diesen Ufern des Stromes, welche den Horizont der Farm begrenzten, abgespielt. Nach Iquitos war sie zur Zeit gekommen, als noch der Handel mit Negern im Schwunge war, hatte das Dorf niemals verlassen, sich daselbst verheiratet und als sie, frühzeitig verwitwet, ihren einzigen Sohn verloren, war sie in Magelhaës' Dienst verblieben. Von dem Amazonenstrome kannte sie nicht mehr, als das Stück, das vor ihren Augen vorüberfloß.

Neben ihr, und vorzüglich zur Pflege Minhas, befand sich eine hübsche, lachlustige Mulattin, in gleichem Alter mit dem jungen Mädchen, welche ihrer Herrin unendlich ergeben war. Diese hieß Lina. Sie gehörte zu den artigen, etwas verwöhnten Naturen, denen man eine gewisse Vertraulichkeit gern nachsieht, weil sie auf der anderen Seite ihre Herrinnen geradezu verehren. Lebhaft, keine Minute ruhig, anhänglich und schmeichlerisch zugleich, war ihr im Hause so gut wie Alles erlaubt.

Von anderen Dienern gab es zweierlei: Indianer, etwa hundert, welche für Lohn zu den Arbeiten in der Fazenda gedungen waren, und Schwarze, ungefähr noch einmal so viel, die zwar noch nicht eigentlich frei waren, deren Kinder aber nicht mehr als Sklaven geboren wurden. Joam Garral ging auf diesem Wege der brasilianischen Regierung voraus. Hier zu Lande wurden [34] übrigens die von Benguela, Congo und der Goldküste herstammenden Neger meist besser behandelt als anderswo, und in der Fazenda von Iquitos hätte man vergeblich nach solch' traurigen Beispielen unmenschlicher Grausamkeit geforscht, wie sie in fremden Niederlassungen so häufig vorkamen.

Fußnoten

1 Etwa 24 Mark; ein Lohn, der zuweilen aber auch bis 80 Mark per Tag stieg.

4. Capitel
Viertes Capitel.
Bedenklichkeiten.

Manoel liebte die Schwester seines Freundes Benito, und das junge Mädchen erwiderte seine Zuneigung. Beide hatten sich schätzen gelernt und waren in der That einander würdig.

Als er über Minhas Gefühle keine Zweifel mehr hegen konnte, hatte Manoel sich zuerst Benito offenbart.

»Liebster Manoel, so lautete darauf die Antwort des leichterregbaren jungen Mannes, das ist ja ein prächtiger Gedanke von Dir, meine Schwester heiraten zu wollen! Laß' mich nur machen! Ich werde zunächst mit unserer Mutter sprechen und glaube Dir vorhersagen zu können, daß deren Zustimmung nicht lange auf sich warten lassen wird!«

Eine halbe Stunde später war das schon geschehen. Benito hatte seiner Mutter ja keine überraschende Neuigkeit mitzutheilen; die gute Yaquita hatte längst in den Herzen der beiden jungen Leute gelesen.

Zehn Minuten später stand Benito seiner Schwester Minha gegenüber. Wir müssen gestehen, daß es auch hier seinerseits keines großen Aufwandes von Beredtsamkeit bedurfte. Bei den ersten Worten schon hatte das liebe Kind das Haupt auf die Schulter des Bruders geneigt und aus innerstem Herzen die Worte hervorgestammelt: »Ach, wie glücklich ich bin!«

Die Antwort überholte fast die Frage, sie sagte Alles. Benito verlangte auch gar nicht mehr.

Ueber die Zustimmung Joam Garral's konnte ein Zweifel wohl nicht aufkommen. Wenn Yaquita und deren Kinder ihm nicht sofort von dieser geplanten[35] Verbindung sprachen, so kam das daher, daß sie bei Gelegenheit dieser Heirat auch eine andere Frage mit lösen wollten, welche eher einige Schwierigkeiten bereiten konnte, die nämlich, wegen des Ortes, wo die Vermählung stattfinden sollte.

Ja, wo sollte diese vor sich gehen? Etwa in der bescheidenen Dorfhütte, welche als Kirche diente? Warum nicht? Joam und Yaquita hatten ja eben da früher den Segen des Padre Passanha, des damaligen Seelsorgers der Parochie von Iquitos, empfangen. Jener Zeit, wie auch noch heute, fiel in Brasilien der civile Trauungsact mit dem kirchlichen zusammen und die Kirchenbücher einer Mission genügten, die Rechtsgiltigkeit einer Ehe zu bekräftigen, welche vor keinem Civilbeamten geschlossen worden war.

Joam Garral's Wunsch wäre jedenfalls dahin gegangen, die Hochzeit im Dorfe Iquitos zu feiern und zu derselben das ganze Personal der Fazenda zu vereinigen; ein solcher Gedanke sollte freilich sehr hartnäckigen Widerspruch erfahren.

»Wenn es nach mir ginge, lieber Manoel, hatte das junge Mädchen zu ihrem Verlobten geäußert, so würde unsere Hochzeit nicht hier, sondern in Para gefeiert werden. Deine Mutter ist leidend und kann nicht nach Iquitos kommen; ich möchte aber nicht ihre Tochter werden, ohne sie zu kennen und von ihr gekannt zu sein. Meine Mutter denkt hierüber ganz so wie ich. Wir werden uns deshalb bemühen, den Vater dazu zu bewegen, daß er uns nach Belem (der andere Name für Para) zu Derjenigen führt, deren Haus bald auch das meine sein soll. Stimmst Du damit überein?«

Manoel antwortete Minha auf diese Frage mit einem herzlichen Druck der Hand. Auch sein sehnlichster Wunsch war es ja, seine geliebte Mutter bei der Feier seiner Vermählung anwesend zu wissen. Benito war mit dem Projecte von vornherein einverstanden, und es handelte sich also nur noch darum, auch Joam Garral dafür zu gewinnen. Eben an jenem Tage, wo wir ihnen begegneten, waren die beiden jungen Leute zur Jagd gegangen, um Yaquita mit ihrem Gatten allein zu lassen.

Joam Garral war gerade in's Haus zurückgekehrt und hatte sich auf einem Sopha aus geflochtenen Bambusstäben ausgestreckt, als Yaquita, offenbar ein wenig erregt, neben ihm Platz nahm.

Joam darüber aufzuklären, welche Gefühle Manoel für ihre Tochter hegte, das machte ihr zwar keine Sorge. Minhas Lebensglück erschien durch diese Verbindung vorzüglich gesichert, und Joam schätzte sich gewiß selbst glücklich, diesen [36] neuen Sohn, dessen ausgezeichnete Eigenschaften er schon längst kannte, in seine Arme zu schließen. Ihren Gatten aber zum Verlassen der Fazenda zu bestimmen, das war – Yaquita wußte es im Voraus – der einzige schwierige Punkt der Frage.

Seit Joam Garral noch jung an Jahren in's Land gekommen war, hatte er sich niemals, auch nicht einen einzigen Tag von hier entfernt. Obwohl der Anblick des Amazonenstromes mit seinen friedlichen, nach Osten dahinziehenden Wogen ihn täglich einzuladen schien, seinem Laufe zu folgen, obwohl Joam Jahr für Jahr ganze Züge Holz nach Manao, Belem und nach dem Küstenlande von Para absendete, und obwohl er jedes Jahr Benito nach Ablauf der Ferien abreisen sah, um zu den Studien zurückzukehren, so schien ihm doch nie der Gedanke gekommen zu sein, diesen einmal zu begleiten.

Die Erzeugnisse der Farm, wie die Producte der Wälder und der Haide lieferte der Fazender an Ort und Stelle. Man hätte sagen können, daß er den Horizont, der dieses Eden, in welchem sich sein Leben concentrirte, abschloß, niemals weder mit dem Gedanken noch mit dem Blicke habe überschreiten wollen.

Hatte Joam Garral nun die brasilianische Grenze seit fünfundzwanzig Jahren nicht überschritten, so folgt fast von selbst daraus, daß auch seine Gattin und seine Tochter den Boden des Nachbarlandes noch niemals betreten hatten, obschon sie mehr als einmal das Verlangen verspürten, dieses schöne Land, von dem ihnen Benito bei seinen Ferienbesuchen so viel erzählte, ein wenig näher kennen zu lernen. Yaquita hatte diesen Wunsch ihrem Gatten gegenüber auch schon zwei- oder dreimal verlauten lassen, dabei aber die Beobachtung gemacht, daß der Gedanke, die Fazenda, und wäre es nur für wenige Wochen, zu verlassen, dessen Stirn stets noch mehr verdüsterte. Seine Augen verschleierten sich dann und er sagte mit dem Tone eines sanften Vorwurfs:

»Warum wollen wir aus unserem Hause gehen? Sind wir hier nicht glücklich genug?«

Yaquita gewann es dann nicht über sich, gegenüber diesem Manne voll sorgender Güte und immer gleich bleibender Zärtlichkeit auf ihrem Wunsche zu bestehen.

Diesesmal hatte sie freilich einen wichtigen Grund dafür beizubringen. Die Verheiratung Minhas bot eine ganz ungezwungene Gelegenheit, das junge Mädchen nach Belem, wo sie mit ihrem Gatten wohnen sollte, zu begleiten.

Dort erst sollte sie ja die Mutter Manoel Valdez' sehen, das heißt diese lieben lernen. Konnte Joam Garral wohl einen so berechtigten Wunsch abschlagen?

[37] Und wenn ihn das nicht bestimmte, sollte er wie sie selbst nicht wenigstens das Verlangen theilen, die Frau kennen zu lernen, welche ihrem Kinde die zweite Mutter sein sollte?

Yaquita hatte die Hand ihres Mannes ergriffen und wendete sich mit jener zärtlichen Stimme, welche ihm die einzige Musik in seinem Leben gewesen war, an den rastlosen Arbeiter.

»Joam, begann sie, ich möchte mit Dir über eine Angelegenheit sprechen, deren Erledigung wir sehnlichst wünschen und welche Dich sicherlich ebenso glücklich machen wird, wie wir, Deine Kinder und ich, es schon sind.

– Was meinst Du, Yaquita? fragte Joam.

– Manoel liebt unsere Tochter, wird von ihr auch wieder geliebt, und in ihrer Vereinigung werden sie das Glück finden...«

Bei Yaquita's ersten Worten hatte sich Joam erhoben und konnte eine tiefgehende Erregung nicht ganz verbergen. Gleich darauf senkten sich seine Augen so, als ob er dem Blicke seiner Frau ausweichen wollte.

»Was ist Dir, Joam? fragte diese.

– Minha?... Sich verheiraten?... murmelte Joam.

– Liebster Mann, fuhr Yaquita ängstlichen Herzens fort, solltest Du gegen diese Verbindung etwas einzuwenden haben? Hast Du nicht schon seit längerer Zeit die Gefühle Manoels für unser Kind errathen?

– Ja freilich... seit einem Jahre!...« Darauf setzte sich Joam wieder nieder, ohne seinen Gedanken ganz auszusprechen. Mit energischer Willensanstrengung war er seiner wieder Herr geworden. Der unerklärliche Eindruck, den die Nachricht zuerst auf ihn gemacht, war verwischt. Langsam suchten seine Augen wieder die Yaquitas und nachdenklich blickte er dieselbe an.

Yaquita ergriff seine Hand.

»Lieber Joam, sagte sie, sollte ich mich doch getäuscht haben? Wäre der Gedanke Dir niemals gekommen, daß diese Heirat einst in Aussicht stand und unserer Tochter alle Bedingungen eines gesicherten Lebensglückes bieten würde?

– O, gewiß... gab Joam zur Antwort... alle, alle!... Ohne Zweifel!.. Indeß, Yaquita, diese Hochzeit, die wir Alle im Geiste voraussehen, ja, wann soll sie stattfinden?... Schon in nächster Zeit?

– Darüber hast Du allein zu entscheiden, Joam.

– Und wo soll sie gefeiert werden... hier in Iquitos?«

[38] Diese Frage bot Yaquita die gewünschte Gelegenheit, den zweiten Punkt, der ihr am Herzen lag, zur Sprache zu bringen. Sie that das immerhin mit einigem Zögern.

»Joam, begann sie nach kurzem Stillschweigen, höre mich einmal recht ruhig an. Gerade bezüglich der Feier dieser Hochzeit möchte ich Dir einen Vorschlag machen, dem Du hoffentlich zustimmst. Zwei bis drei Mal während zwanzig Jahren habe ich Dich gebeten, uns, mich und unsere Tochter, einmal nach den Provinzen des unteren Amazonenstromes und nach Para zu führen, wohin wir noch nicht gekommen sind. Die Verwaltung der Fazenda, die Arbeiten, welche Deine persönliche Anwesenheit hier erheischten, haben Dich bisher verhindert, unseren Wunsch zu erfüllen. Ich gebe zu, es hätte Dir geschäftlich von Schaden sein können, wenn Du Dich auch nur auf wenige Tage von hier entferntest. Jetzt aber, wo Dein Streben mit überraschend reichem Erfolge gekrönt worden ist, könntest Du Dir, wenn auch die Zeit der Ruhe noch nicht gekommen ist, doch einmal einige Wochen Zerstreuung und Erholung von der Arbeit gönnen!«

Joam Garral antwortete nicht; Yaquita fühlte aber, wie seine Hand in der ihrigen zitterte, als quäle ihn ein innerer Schmerz. Trotzdem spielte ein leises Lächeln um die Lippen des Gatten, das sie zu ermuthigen schien, sich vollständig auszusprechen.

»Joam, fuhr sie fort, hier bietet sich eine Gelegen heit, die sich in unserem Leben nicht mehr wiederholt. Minha wird sich weit von hier verheiraten, sie wird uns verlassen! Sieh, das ist der erste Kummer, den das Kind uns bereitet, und es lastet mir schwer genug auf dem Herzen, wenn ich an diese bevorstehende Trennung denke. Wie glücklich würde ich sein, sie bis Belem begleiten zu können! Erscheint es Dir nicht ebenfalls wünschenswerth, daß wir die Mutter ihres zukünftigen Gatten kennen lernen, die Frau, welche später unsere Stelle bei ihr einnehmen soll, der wir unser Herzblatt anvertrauen? Hierzu kommt noch, daß Minha sich nur ungern fern von ihr vermählen möchte. Hätte Deine Mutter zur Zeit unserer Vereinigung noch gelebt, würdest Du nicht gewünscht haben, diesen wichtigen Schritt unter ihren Augen zu thun?«

Bei diesen Worten Yaquitas durchlief Joam noch einmal eine Bewegung, die er nicht zu unterdrücken vermochte.

»Wie würde es mich entzücken, nahm Yaquita wieder das Wort, mit Minha, mit unseren beiden Söhnen, Benito und Manoel, und mit Dir Brasilien [39] zu sehen und den herrlichen Strom hinabzufahren, bis zu den fernsten Küstenprovinzen! Mir scheint, da unten wird die Trennung weniger schmerzlich für uns sein! Nach der Heimkehr könnte ich meine Tochter doch im Geiste walten sehen in dem Heim, wo ihre zweite Mutter sie erwartet; ich würde sie nicht im Ungewissen suchen und an den Vorgängen in ihrem Leben innigeren Antheil nehmen können!«


Joam Garral war wieder aufgestanden. (S. 42.)

Jetzt hatte Joam die Augen fest auf sein Weib gerichtet und sah Yaquita lange Zeit an, ohne ein Wort zu sprechen.

[40] Was mochte da in ihm vorgehen? Warum zögerte er, einem an und für sich so gerechtfertigten Wunsche nachzugeben und ein »Ja!« zu sagen, das allen den Seinen eine so ersehnte Freude bereiten mußte?


Beide saßen an der Südgrenze der Fazenda. (S. 44.)

Die Sorge um seine Geschäftsangelegenheiten konnte dafür nicht als stichhaltiger Grund gelten. Eine Abwesenheit von wenigen Wochen war nach dieser Seite ohne besondere Bedeutung. Sein Oberaufseher war gewiß im Stande, in der Fazenda so lange seine Stelle zu vertreten. Yaquita hatte die Hand ihres Mannes mit beiden Händen umfaßt und drückte sie zärtlich.

[41] »Lieber Joam, begann sie noch einmal, es ist ja keine Laune von mir, der ich Dich zu beugen bitte. Gewiß! Ich habe lange Zeit darüber nachgedacht, bevor ich Dir diesen Vorschlag zu machen unternahm; doch wenn Du zustimmst, wird mir ein lange gehegter sehnlicher Wunsch in Erfüllung gehen! Unsere Kinder wissen von dem Schritte, den ich eben bei Dir thue. Minha, Benito, wie Manoel bitten um das Glück, daß wir sie begleiten! Wir Alle würden die Hochzeit auch lieber in Belem feiern als in Iquitos. Für unsere Tochter, für ihre Einführung und die Stellung, die sie in Belem erwartet, kann es nur von Vortheil sein, wenn man sie dort mit ihren Angehörigen eintreffen sieht, und sie wird sich gewiß weniger fremd fühlen in der Stadt, wo der größte Theil ihres Lebens verfließen soll!«

Joam Garral hatte sich aufgestützt. Er verbarg eine kurze Zeit das Gesicht in den Händen, wie ein Mann, der sich sammeln will, bevor er antwortet. In ihm regte sich offenbar noch ein Zweifel, gegen den er ankämpfte, eine Erregung, welche seine Gattin zwar errieth, aber nicht erklären konnte. Hinter dieser nachdenklichen Stirn wogte gewiß noch ein ganzes Heer von Gedanken hin und her. Yaquita ward fast selbst dabei unruhig und machte sich leise Vorwürfe, diese Frage berührt zu haben. Jedenfalls war sie entschlossen, sich dabei zu bescheiden, was Joam für gut finden würde. Wenn die Abreise ihm so viel kostete, sollten alle ihre Wünsche schweigen und gelobte sie sich, niemals von einem Verlassen der Fazenda zu sprechen. Niemals auch wollte sie ihn über die Ursache dieser unerklärlichen Weigerung befragen.

So verstrichen einige Minuten. Joam Garral war wieder aufgestanden. Ohne sich umzukehren, ging er bis zur Thür. Es schien, als wolle er zum letzten Male einen Blick werfen auf die schöne Natur, auf den Erdwinkel, in dem er seit über zwanzig Jahren sein ganzes Glück gefunden und verborgen hatte.

Dann kam er langsamen Schrittes zu seiner Frau zurück. Sein Gesicht belebte ein anderer Ausdruck; der eines Mannes, der, wenn auch schwer, zu einem Entschlusse gelangt ist und der alles Zweifeln und Zaudern hinter sich hat.

»Du hast Recht! redete er Yaquita mit fester Stimme an. Diese Fahrt ist nothwendig! Wann willst Du, daß wir abreisen?

– Ach Joam, lieber Herzens-Joam, rief Yaquita ganz außer sich vor Freude, nimm meinen Dank, nimm auch den Dank der Kinder!«

Freudenthränen perlten ihr aus den Augen, während ihr Gatte sie zärtlich an's Herz drückte.

[42] Da hörte man von draußen an der Thür der Wohnung lustige Stimmen.

Gleich darauf erschien Manoel und Benito auf der Schwelle, fast gleichzeitig mit Minha, welche eben aus ihrem Zimmer kam.

»Der Vater ist einverstanden, meine Kinder! rief Yaquita. Wir reisen Alle nach Belem!«

Mit ernstem Gesicht und ohne selbst ein Wort zu sagen, nahm Joam Garral den Dank seines Sohnes entgegen und empfing die zärtlichen Küsse seiner Tochter.

»Und wann, lieber Vater, fragte Benito, meinst Du, daß die Hochzeit vor sich gehen soll?

– Wann?... erwiderte Joam,... wann?... Nun, das wird sich finden! Das bestimmen wir in Belem!

– O, wie glücklich, wie selig ich bin! jauchzte Minha, ganz wie an dem Tage, als Manoel um sie warb. Wir werden also den Amazonenstrom sehen in all' seiner Pracht, auf dem ganzen Laufe durch die Gebiete Brasiliens! Ach, Dank, liebster Vater, tausend, tausend Dank!«

Die junge Enthusiastische, deren Einbildung schon die Flügel ausbreitete, lief zu ihrem Bruder und zu Manoel.

»Nun schnell zur Bibliothek! rief sie. Holen wir alle Bücher, alle Karten, die uns über dieses herrliche Strombecken Auskunft geben können. Wir wollen nicht als Blinde reisen! Ich will Alles wissen, Alles sehen über diesen König der Flüsse unserer Erde!«

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Der Amazonenstrom.

»Der größte Fluß der ganzen Welt!« 1 sagte am folgenden Tage Benito zu Manoel Valdez.

[43] Beide saßen eben an der Südgrenze der Fazenda am Uferabhang und betrachteten die aus der Andenkette herkommende Wassermasse, welche sich hier langsam dahinwälzte, um sich nach einem Laufe von achthundert Meilen im Atlantischen Ocean zu verlieren.

»Und derjenige Strom, welcher dem Meere die beträchtlichste Wassermenge zuführt! setzte Manoel jenen Worten hinzu.

– Eine so beträchtliche, fuhr Benito fort, daß jenes noch sehr weit von dessen Mündung keinen Salzgehalt aufweist und Schiffe in der Entfernung von vierundzwanzig Meilen aus ihrem Kurse getrieben werden.

– Ein Fluß, dessen Lauf sich über eine Strecke von dreißig Längengraden ausdehnt.

– Und in einem Becken, das von Norden nach Süden nicht weniger als fünfundzwanzig Grad mißt.

– Ein Becken! rief Benito, ist sie ein Becken zu nennen, diese ungeheure Ebene, durch welche der Riese unter den Flüssen strömt, diese Savanne, wel che sich auf unsichtbare Ferne hinausstreckt, ohne einen Hügel, um von einer Steigung derselben sprechen zu können, ohne einen Berg, der dieselbe am Horizonte begrenzte?

– Und in seiner ganzen Ausdehnung, fuhr Manoel fort, gleich den tausend Fühlfäden eines gigantischen Cephalopoden, zweihundert, von Norden oder Süden herzuströmende Nebenflüsse, jeder derselben gespeist von zahlreichen Armen, neben welchen die Ströme Europas nur wie Bäche erscheinen!

– Eine Wasserader, in der fünfhundertsechzig Inseln – die Eilande ungezählt, welche theils mitten im Flußbette liegen, theils nur durch die Fluthen vom Ufer abgerissen wurden – einen Archipel bilden, aus dem man allein schon ein Königreich machen könnte!

– Und zu seinen Seiten Kanäle, Lagunen und Seen, wie man sie weder in der Schweiz, der Lombardei, noch in Schottland oder Canada wiederfindet!

– Ein Strom, der mit seinen Zuflüssen binnen einer Stunde nicht weniger als zweihundertfünfzig Millionen Kubikmeter Wasser in den Atlantischen Ocean entleert!

– Ein Strom, der die Grenze zweier Republiken bildet und sich majestätisch durch das größte Reich Südamerikas dahinwälzt, als wäre es der Stille Ocean selbst, der sich hier durch einen Kanal in den Atlantischen Ocean ergösse!

[44] – Und durch welche Mündung! Ein Meeresarm, in dem eine Insel, Marajo, einen Umfang von mehr als fünfhundert Meilen aufweist!...

– Und dessen Wassermassen der Ocean nicht anders zurückdrängen kann, als durch einen fürchterlichen Kampf zur Zeit des Neu- und Vollmondes, durch die bekannte »Pororoca«, eine Springfluthwelle, gegenüber der alle ähnlichen Erscheinungen in den anderen Flüssen nur wie kleine Wellen erscheinen, welche sich unter sanfter Brise kräuseln!

– Ein Strom, zu dessen Bezeichnung kaum drei Namen ausreichen und den Schiffe mit dem größten Tonnengehalt von seiner Mündung aus fünftausend Kilometer weit hinaussegeln können, ohne ihre Ladung zu vermindern!

– Ein Strom, der durch sich selbst und durch seine Nebenflüsse und deren Verzweigungen dem Handel eine Wasserstraße durch den ganzen Norden Südamerikas bietet, welche sich vom Magdalena bis zum Ortequaza, von diesem zum Caqueta, vom Caqueta bis zum Putumayo und von letztgenanntem bis zum eigentlichen Amazonenstrom erstreckt! Viertausend Meilen Wasserstraße, welche nur die Anlegung weniger Kanäle erforderte, um durch das ganze ungeheure Netz hin schiffbar zu werden!

– Wahrlich das wunderbarste und ausgedehnteste hydrographische System, welches die Erde bietet!«

Die beiden jungen Leute sprachen in einer Art Verzückung über den unvergleichlichen Strom. Sie waren ja eigentlich Kinder desselben, des Amazonas, dessen Nebenflüsse »Wege darstellen, welche gehen« und sich durch ganz Bolivia, Peru, Ecuador, Neu-Granada, Venezuela und durch das englische, französische, holländische und brasilianische Guyana verbreiten.

Wie viel Völker, wie viel Racen giebt es, deren Ursprung sich in altersgrauen Zeiten verliert! Ganz ähnlich ergeht es den großen Strömen des Erdballes. Ihre wirkliche Quelle entzieht sich zum Theile noch immer jeder Nachforschung. Meist streiten mehrere Staaten um die Ehre, ihre Wiege zu bilden. Der Amazonenstrom macht von diesem Gesetz keine Ausnahme Peru, Ecuador und Columbia haben sich lange Zeit um diese glorreiche Vaterschaft gestritten.

Heute erscheint es ziemlich zweifellos, daß der Amazonenstrom in Peru entspringt, und zwar in dem zur Intendanz von Tarma gehörigen Districte Huanaco, wo er, zwischen dem elften und zwölften Grade südlicher Breite, aus dem Lauricocha-See abfließt. Wer aber behauptet, daß er in Bolivia und zwar aus den Bergen beim Titicaca-See herrühre, der müßte nachweisen, daß der [45] wirkliche Quellstrom des Amazonenstromes der Ucayali wäre, der aus der Vereinigung des Para und des Apurimac entsteht; diese Ansicht kann jedoch nicht mehr als begründet erachtet werden.

Beim Austritt aus dem Lauricocha-See wendet sich der Fluß auf einer Strecke von fünfhundertsechzig Meilen nach Nordosten und nimmt erst nach der Verbindung mit einem mächtigen Zuflusse, dem Panta, eine östliche Richtung an. Auf columbischem und peruanischem Gebiete heißt er bis zur Grenze Brasiliens Marañon oder vielmehr Maranhao, denn Marañon ist nur der gallisirte portugiesische Name. Von der Grenze Brasiliens bis Manao, wo sich der prächtige Rio Negro in denselben ergießt, nimmt er nach den Solimac-Indianern, von denen sich in den Ufergebieten noch einige Ueberreste vorfinden, den Namen Solimaës oder Solimoens an. Von Manao bis zum Meere heißt er dann Amasenas oder Fluß der Amazonen, ein Name, der von Spaniern herrührt, von Nachkömmlingen jenes Abenteurers Orellana, dessen enthusiastische, wenn auch nicht glaubhafte Schilderungen den Gedanken erweckten, es siedle am Rio Nhamunda, einem kleinen Nebenarme des großen Stromes, ein ganzer Stamm kriegerischer Frauen, was er aus der Aehnlichkeit jenes Namens mit unserem Worte »Amazonen« herleitete.

Schon in der Nähe seines Ursprunges kann man erkennen, daß sich der Amazonenstrom zu einem bedeutenden Wasserlaufe entwickeln werde. Seinen Lauf hemmen keinerlei Hindernisse von der Quelle ab bis zu jenem Punkte, wo er, etwas eingeengt, zwischen zwei ungleich hohen Felsenketten dahinrauscht. Wasserfälle bildet er erst an der Stelle, wo er direct nach Osten abbiegt, während er die mittlere Bergkette der Anden durchbricht. Hier finden sich mehrere Katarakte, ohne welche er von der Mündung bis zur Quelle schiffbar wäre. Jedenfalls ist er, wie schon Humboldt bemerkte, zu vier Fünftel seines Laufes für den Schiffsverkehr geeignet.

Von Anfang an fehlt es ihm auch nicht an Zuflüssen, welche wiederum durch eine große Anzahl Nebenflüsse gespeist werden. Dazu gehört z. B. auf der linken Seite, der von Norden herströmende Chinchipe; auf der rechten, der von Südosten kommende Chachapuyas, ferner links der Marona und Pastuca, und zur Rechten der Guallaga, der sich in der Nähe der Mission de la Laguna in denselben ergießt. Von links her kommen weiter der Chambyra und der Tigré von Nordosten, von rechts der Huallaga, der zweitausendachthundert Meilen vom Atlantischen Ocean in denselben mündet und auf dem Fahrzeuge noch zweihundert [46] Meilen weiter bis in's Herz von Peru gelangen können. Zur Rechten endlich, nahe den Missionen von San Joachim d'Omaguas, vereinigt sich mit ihm, nachdem er seine majestätischen Wassermassen durch die Pampas von Sacramento dahingewälzt hat, der herrliche Ucayali, an der Stelle, wo das obere Becken des Amazonenstromes endigt, eine gewaltige Wasserader, genährt von den zahllosen Zuflüssen aus dem Chucuito-See im Nordosten von Arica.

Das sind die Hauptflüsse oberhalb des Dorfes Iquitos. Stromabwärts werden diese Nebenarme so mächtig, daß die Betten der europäischen Flüsse viel zu eng wären, um dieselben aufzunehmen. Diese Nebenarme wollte Joam Garral und seine Angehörigen aber bei Gelegenheit ihrer Thalfahrt auf dem Amazonenstrome wenigstens an deren Mündung selbst kennen lernen.

Zu den Reizen jenes Stromes ohne Gleichen, der das schönste Land der Erde bewässert, wobei er sich immer wenige Grade unterhalb des Aequators hält, tritt noch eine Eigenschaft hinzu, deren sich weder der Nil, noch der Mississippi, oder der Livingstone, der frühere Congo-Zaïre-Lualaba, rühmen kann. Man weiß jetzt, trotz der gegentheiligen Behauptung früherer, offenbar schlecht unterrichteter Reisender, daß der Amazonenstrom einen sehr gesunden Theil Südamerikas durchläuft. Der Ostpassat streicht frei durch sein ganzes Becken hin. Letzteres besteht eben nicht aus einem, zwischen hohen Bergen eingezwängten Thale, sondern aus einer weiten Ebene von dreihundertfünfzig Meilen Durchmesser von Norden nach Süden, auf der sich kaum einzelne Hügel erheben und welche den Luftströmungen also keinerlei Hindernisse bietet.

Professor Agassiz erhebt mit vollem Rechte Einspruch gegen die angebliche Insalubrität des Klimas eines Landes, welches voraussichtlich bestimmt ist, der Mittelpunkt einer höchst umfänglichen Handelsbewegung zu werden. Seiner Angabe nach »macht sich hier stets ein leichter, angenehmer Lufthauch bemerkbar, der die Verdunstung wesentlich befördert, wodurch die Temperatur sich ermäßigt und der Erdboden eine zu hohe Wärme nicht annehmen kann. Die Beständigkeit dieses erfrischenden Luftzuges, macht das Klima des Amazonenstromes angenehm und selbst geradezu erquickend.«

Auch Abbé Durand, ein früherer Missionär in Brasilien, bestätigt, daß die Temperatur, wenn sie auch niemals unter 25° Celsius herabgeht, doch auch auf der anderen Seite 34° nicht übersteigt, was für das ganze Jahr eine Mitteltemperatur von 28 bis 29°, mit Schwankungen von 8 bis 9° ergäbe. Mit Zugrundelegung derartiger Zeugnisse darf man also behaupten, daß das [47] Becken des Amazonenstromes sich von den glühend heißen Gebieten Asiens und Afrikas unter gleichen Breiten sehr zu seinem Vortheile unterscheidet.

Die weite Ebene, welche dasselbe bildet, steht überall dem Winde offen, der vom Atlantischen Ocean herüberweht.


Fahrzeuge auf dem Amazonenstrome. (S. 53.)

Fahrzeuge auf dem Amazonenstrome. (S. 53.)


Auch die Provinzen, denen der Strom seinen Namen verlieh, haben unstreitig das Recht, sich als die gesündesten eines Landes zu bezeichnen, welches schon an und für sich eines der schönsten der Erde ist. Man darf auch keineswegs glauben, daß das hydrographische System des Amazonenstromes nicht bekannt wäre. Im sechzehnten Jahrhundert schon fuhr Orellana, Lieutenant bei dem Einen der Gebrüder Pizarro, den Rio Negro hinab, ging im Jahre 1540 auf den großen Strom über,


Die Arbeiterschaar kletterte auf die Bäume. (S. 56.)

drang ohne Führer durch dessen unbekannte Gebiete vor und erreichte die Mündungen desselben nach achtzehnmonatlicher Schifffahrt, welche er in einer köstlichen Schilderung verewigt hat.

In den Jahren 1636 und 1637 segelte der Portugie [48] se Pedro Tejeira mit einer aus siebenundvierzig Piroguen bestehenden Flottille den Amazonenstrom hinauf bis zum Napo.

[49] Im Jahre 1743 trennte sich La Condamine, nach vollendeter Messung eines Meridianbogens am Aequator, von seinen Gefährten Bouguer und Godin des Odonais, schiffte sich auf dem Chinchipe ein, segelte diesen bis zum Zusammenfluß mit dem Marañon hinab, erreichte die Mündung des Napo am 31. Juli, gerade zur Zeit, um den Austritt des ersten Satelliten des Jupiter aus dem Schatten des Planeten zu beobachten – was diesem Humboldt des 18. Jahrhunderts Gelegenheit bot, die geographische Länge und Breite dieses Punktes genau zu eruiren – besuchte dann die Ortschaften auf beiden Ufern und traf am 6. September bei dem Fort Para ein. Diese ungeheure Reise lieferte höchst wichtige Ergebnisse. Es wurde durch dieselbe nicht allein der Lauf des Amazonenstromes wissenschaftlich festgestellt, sondern auch die Vermuthung, daß er mit dem Orinoco in Verbindung stehe, fast zur Gewißheit erhoben.

Fünfzig Jahre später vervollständigten Humboldt und Bonpland die schönen Arbeiten La Condamine's, indem sie eine Karte des Marañon bis zum Rio Napo aufnahmen.

Seit dieser Zeit ist sowohl der Amazonenstrom selbst, wie seine bedeutendsten Nebenflüsse fortwährend besucht und erforscht worden.

Im Jahre 1819 bis 1820 waren es die Deutschen Spix und Martius, 1827 Lister-Maw, 1831 bis 1832 der Leipziger Professor Pöppig, 1840 der Brasilianer Valdez, 1842 der Prinz Adalbert von Preußen, 1844 der französische Lieutenant und Commandant der »Boulonnaise«..., 1846 Graf Castelneau, von 1848 bis 1860 der Franzose Paul Marcroy, 1850 der Engländer Herndon, 1858 der Lübecker Arzt Dr. Avé Lallement, 1859 der gar zu phantasiereiche Maler Biard, 1865 und 1866 der Professor Agassiz, 1867 der brasilianische Ingenieur Franz Keller-Linzenger und endlich 1879 der Dr. Crevaux, also eine große Anzahl gelehrter Männer, welche den Lauf des Flusses erforscht, die verschiedenen Nebenarme desselben untersucht und die Schiffbarkeit vieler der Letzteren nachgewiesen haben.

Von größter Wichtigkeit aber ist folgendes Ereigniß, für dessen Herbeiführung der brasilianischen Regierung die Ehre gebührt.

Am 31. Juli 1857 wurde, nach verschiedenen Streitigkeiten zwischen Frankreich und Brasilien wegen der Grenze Guyanas, der Strom für frei erklärt und den Flaggen aller Nationen eröffnet; um dieser Erklärung aber die weittragendste Folge zu geben, ließ sich Brasilien mit den betheiligten Uferstaaten [50] in Unterhandlungen ein, um alle Wasserwege im Becken des Amazonenstromes dem freien Verkehr zu erschließen.

Jetzt sind auf dem Strome mehrere Linien sehr gut eingerichteter Dampfschiffe in Betrieb, welche einestheils mit Liverpool in directer Verbindung stehen, anderentheils von der Mündung bis Manao hinauffahren; weitere Dampfer gehen bis Iquitos; noch andere dringen endlich auf dem Tapajoz, dem Madeira, Rio Negro und dem Purus bis in's Herz von Peru und Bolivia ein.

Man kann sich wohl leicht vorstellen, welchen Aufschwung der Handel einst noch nehmen wird in diesem unendlichen reichen Becken das in der Welt keinen Nebenbuhler hat.

Dieses Zukunftsbild hat freilich eine Kehrseite. Alle jene Fortschritte vollziehen sich nicht, ohne gleichzeitig die eingebornen Racen zu vernichten.

Am oberen Amazonenstrome sind schon so manche Indianerstämme verschwunden, unter anderen die Curicicurus und die Sorimaos. Findet man am Putumayo auch noch einzelne Yuris, so haben doch die Yahuas diesen verlassen und sind landeinwärts nach entfernteren Nebenflüssen geflüchtet, und die Maoos sind von hier verzogen, um jetzt in kleinen Gesellschaften in den Wäldern des Japura umherzuirren.

Das Ufer der Tunantiner ist nahezu entvölkert, und nur wenigen indianischen Nomadenfamilien begegnet man noch hier und da an der Mündung des Jurua. Der Coaria ist verödet. Einzelne Muras-Indianer sitzen noch an den Ufern des Purus. Von den alten Manaos giebt es nur noch ganz wenige nomadisirende Familien. Längs des Rio Negro siedeln nur Mestizen von Portugiesen und Eingebornen, da wo man früher nicht weniger als vierundzwanzig verschiedene Völkerschaften zählte.

Es scheint das einmal Naturgesetz. Die Indianer verschwinden von der Bildfläche. Vor der angelsächsischen Race sanken die Australier und Tasmanier in's vorzeitige Grab. Die Ansiedler des fernen Westens vernichten wider Willen die Indianer Nordamerikas. Ebenso gehen in Zukunft vielleicht einmal die Araber in der französischen Kolonisation noch vollständig unter.

Doch kehren wir zur Zeit von 1852 zurück. Damals existirten die heute so zahlreichen Verkehrsmittel nicht, und Joam Garral's Reise sollte unter den Umständen, unter denen sie vor sich ging, nicht weniger als vier Monate in Anspruch nehmen.

[51] Das hatte auch Benito im Sinne, als er, mit seinem Freunde die dahinziehenden Wellen des Stromes betrachtend, sagte:

»Da wir uns kurz nach dem Eintreffen in Belem trennen werden, lieber Manoel, wird die Fahrt immerhin kurz genug erscheinen!

– Gewiß, Benito, antwortete Manoel, aber doch auch sehr lang, da Minha erst am Ende derselben mein Weib werden wird!«

Fußnoten

1 Diese für jene Zeit zutreffende Bemerkung Benitos kann heute, nach weiteren Entdeckungen, nicht mehr für richtig anerkannt werden. In der That scheinen der Nil und der Mississippi einen längeren Stromlauf zu haben als der Amazonenstrom.

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Ein niedergelegter Wald.

In Joam Garral's Familie herrschte jetzt große Freude. Die herrliche Thalfahrt auf dem Amazonenstrome versprach unter den günstigsten Verhältnissen zu verlaufen; denn nicht allein der Fazender und die Seinigen unternahmen diese mehrmonatliche Reise, sondern es sollte sie, wie man sogleich sehen wird, auch ein Theil des Personals der Farm dabei begleiten.

Als Joam Garral alle Welt rings um sich so glücklich sah, vergaß er ebenfalls die trüben Gedanken, welche sonst in ihm aufkeimten. Von dem Tage an, da er jenen Entschluß einmal gefaßt hatte, wurde er wirklich ein anderer Mensch, und als er sich mit den Vorbereitungen zu jener Fahrt beschäftigen mußte, gewann er seine ganze frühere That- und Lebenskraft wieder. Seinen Angehörigen gereichte es zur größten Befriedigung, ihn so thätig zu sehen. Der Geist in ihm besiegte den widerstrebenden Leib, und Joam Garral wurde wieder so gesund, so stark, wie in den ersten Jahren seines hiesigen Aufenthaltes. In ihm erwachte wieder der alte Mensch, der immer in freier Luft, in der zuträglichen Atmosphäre der Wälder, der Felder und Ströme gelebt hat.

Uebrigens sollten ja nur wenige Wochen bis zur Abfahrt vergehen.

Wie schon erwähnt, durchfurchten den Amazonenstrom damals noch nicht die zahlreichen Dampfboote, welche verschiedene Gesellschaften allerdings schon auf dem Hauptstrome und mehreren seiner Nebenflüsse einzuführen gedachten. Nur Privatleute besorgten auf eigene Gefahr die Beförderung auf dem Wasser,[52] und meist dienten die Boote auf dem Strome nur einzelnen Niederlassungen am Ufer.

Unter den gebräuchlichen Fahrzeugen gab es zum Beispiel »Ubas«, eine Art Piroguen, hergestellt aus einem durch Feuer und Axt ausgehöhlten Baumstamme, die im Vordertheile leicht und spitz, im Hintertheile schwer und rund gehalten waren, etwa ein Dutzend Ruderer führten und drei bis vier Tonnen Waaren tragen konnten; ferner »Egariteas«, welche roh zusammengezimmert und schlecht gebaut, in der Mitte ein Blätterdach hatten und vorn einen Raum für die Ruderer frei ließen; endlich »Jangadas«, das sind unförmliche Flöße, getrieben durch ein dreieckiges Segel, und mit einer Strohhütte, welche dem betreffenden Indianer und seiner Familie als schwimmende Wohnung dient.

Diese drei Sorten von Fahrzeugen bildeten damals die kleine Flottille des Amazonenstromes und konnten den Transport von Reisenden und Handelsgütern natürlich nur in sehr unvollkommener Weise vermitteln

Es gab zwar auch noch größere Schiffe, die, »Vigilingas« von acht bis zehn Tonnen, mit drei Masten und rothen Segeln daran, welche bei Windstille von vier langen Pagaien gegen den Strom fortbewegt wurden, aber nur sehr schwer zu führen waren; ferner »Cobertas« von zwanzig Tonnen Gehalt, eine Art Dschonken mit Wohnhäuschen auf dem Hinterdeck, einer Cabine im Innern, mit zwei Masten mit ungleich großen, viereckigen Segeln, welche bei ungenügendem Wind durch zehn lange, auf dem Verdeck von Indianern geführte Ruder fortbewegt wurden.

Alle diese Fahrmittel paßten Joam Garral aber nicht. Von dem Augenblicke an, da er sich entschloß, den Amazonenstrom hinabzureisen, dachte er auch daran, diese Fahrt zur Beförderung einer ungeheueren Menge von Erzeugnissen der Farm zu benutzen, die er nach Para liefern sollte. Hierbei kam es nun weniger darauf an, daß die Fahrt besonders schnell ging. Eine Reise unter diesen Verhältnissen mußte den Wünschen aller Betheiligten willkommen sein, höchstens denen Manoels nicht. Der junge Mann hätte wohl einem flüchtigen Dampfer den Vorzug gegeben, und er hatte ja seine Gründe dazu.

So ursprünglich und einfach das von Joam Garral erwählte Beförderungsmittel auch erschien, so sollte es doch zur Aufnahme vieler Personen eingerichtet werden, um stromabwärts unter ganz ausnahmsweise günstigen Bedingungen bezüglich der Bequemlichkeit und Sicherheit zu reisen. Mit demselben löste sich gleich ein Theil der Fazenda von Iquitos vom Ufer des Amazonenstromes los, [53] der das ganze Hauswesen des Fazenders, Herrschaft und Dienstboten in ihren Wohnungen, Zelten und Hütten den Fluß hinabtrug.

Die Farm von Iquitos enthielt ein großes Areal jener herrlichen Wälder, welche in dem centralen Theile Südamerikas geradezu unerschöpflich erscheinen.

Joam Garral verstand sich vortrefflich auf die Bewirthschaftung dieser Urwälder, welche reich an kostbaren Holzarten sind, die sich zur gewöhnlichen, wie zur Kunsttischlerei, zum Schiffsbau wie zu Zimmerarbeiten gleichmäßig gut eignen, und er bezog daraus auch jährlich nicht unbeträchtliche Einkünfte.

Der Strom bot sich ja so zu sagen ganz von selbst als das eigentliche Transportmittel für diese Erzeugnisse der demselben benachbarten Urwälder an und führte sie sicherer und jedenfalls billiger als ein Schienenweg ihrem Bestimmungsorte zu. So ließ Joam Garral jedes Jahr einige hundert Bäume fällen, verband sie zu den dort gebräuchlichsten ungeheueren, aus Pfosten, Planken und roh bearbeiteten Stämmen gezimmerten Flößen, welche er unter Leitung erfahrener, mit der Tiefe des Flußbettes und den verschiedenen Strömungen desselben bekannter Schiffer nach Para hinunter sendete.

Genau dieses Verfahren sollte denn auch jetzt wieder eingehalten werden; nur gedachte er, nach Herrichtung des Flosses, die Durchführung des wichtigen Handelsunternehmens diesesmal Benito anzuvertrauen. Uebrigens war keine Zeit zu verlieren; den Anfang des Juni kannte man als die günstigste Zeit, da die von dem Hochwasser des oberen Beckens geschwollenen Fluthen von da ab bis zum October beständig abnehmen.

Die Vorarbeiten sollten also sofort in Angriff genommen werden, da der Holztrain diesesmal auf außergewöhnliche Dimensionen berechnet wurde. Zu dem Ende sollte eine halbe Quadratmeile Waldung nahe der Vereinigung des Nanay mit dem Hauptstrome, das heißt also an dem nach der Wasserseite vorspringenden Winkel des Gebietes der Fazenda, gefällt werden, um daraus eine jener Jangadas oder Stromflöße zu bilden, welche hier schon mehr die Dimensionen einer kleinen Insel erreichte.

Auf dieser Jangada, welche mehr Sicherheit bot, als irgend ein anderes landesübliches Fahrzeug, und mehr Raum, als hundert verkoppelte Egariteas oder Vigilingas, sollte sich Joam Garral mit seiner Familie, seinen Leuten und der Ladung jeder Art einschiffen.

»Ein prächtiger Gedanke! rief Minha jubelnd und in die Hände klatschend, als sie die Absicht ihres Vaters vernommen hatte.

[54] – Gewiß, sagte auch Yaquita, da wir auf diese Weise Para ohne Gefahr und Ermüdung erreichen werden.

– Und während der Zeit, wo wir unterwegs anhalten, kann ich in den Uferwäldern jagen gehen! meinte Benito.

– Die Sache dürfte nur etwas lange Zeit in Anspruch nehmen, bemerkte Manoel; sollten wir nicht lieber ein anderes Beförderungsmittel wählen, um schneller den Strom hinab zu gelangen?«

Etwas lange mußte die Fahrt zwar währen; der im Grunde doch selbstsüchtige Einwurf des jungen Arztes wurde aber von Niemand gebilligt.

Joam Garral ließ einen Indianer rufen, den ersten Aufseher seiner Fazenda.

»In einem Monate, sagte er, muß die Jangada im Stande und fertig zur Abreise sein.

– Wir gehen noch heute an's Werk, Herr Garral,« antwortete der Aufseher.

Es war eine harte Arbeit. Gegen hundert Indianer und Schwarze verrichteten in der ersten Hälfte des Mai wahrhafte Wunder. Manche, an die Niedermetzlung solcher Massen von Bäumen weniger Gewöhnte würden vielleicht geseufzt haben, wenn sie die stolzen, Jahrhunderte alten Waldriesen binnen wenigen Stunden unter der Axt der Holzfäller dahinsinken sahen; solche Bäume gab es aber flußaufwärts auf den Strominseln, so weit das Auge auf beiden Seiten des Wassers reichte, in so großer Menge, daß die Niederlegung einer halben Quadratmeile Wald kaum eine merkbare Lücke hinterlassen konnte.


Bald war nichts mehr übrig, als die ihres Gipfels beraubten Stämme.

Unter Leitung des Aufsehers hatten die Leute, nach erhaltener Instruction von Joam Garral, zuerst den Erdboden von Lianen, Gestrüpp, Strauchwerk und baumartigen Pflanzen, die denselben gänzlich bedeckten, zu säubern. Bevor sie Säge und Beil zur Hand nehmen konnten, arbeiteten sie mit dem sogenannten »Abatis«, dem für Jeden unentbehrlichen Werkzeuge, der in die Waldmassen des Amazonenstromes eindringen will. Dieser Abatis besteht aus einer langen, leicht gebogenen, breiten, flachen und zwei bis drei Fuß langen Klinge, welche in einem festen Handgriffe steckt und von den Indianern mit merkwürdiger Sicherheit gehandhabt wird. Mit Hilfe derselben legen sie den Erdboden in wenigen Stunden bloß, entfernen das Unterholz und brechen sie weite Gänge durch das verwirrteste Dickicht. So geschah es auch hier. Der Boden ward für die Thätigkeit der Holzfäller von der Farm vorbereitet, die steinalten Stämme [55] legten ihr Gewand aus Lianen, Cacteen, Moosen und Bromelien ab. Die Rinde derselben trat zu Tage, um bald darauf von dem lebenden Schafte abgelöst zu werden.

Darauf kletterte die Arbeiterschaar, vor der unzählige Affengesellschaften entflohen, die jene kaum an Gewandtheit übertrafen, in das Astwerk der Bäume, und sägte dort alle Nebenäste und Zweige zum Verbrauch an Ort und Stelle ab. Bald war von dem betreffenden Walde nichts mehr übrig, als die altersgrauen, ihres Gipfels beraubten Stämme, und mit der Luft drängte sich nun


Das Fahrzeug lief unter einem Bogen prächtiger baumartiger Farren ein. (S. 60.)

auch der Sonnenschein bis zu dem feuchten Boden, den er sonst vielleicht niemals erwärmt hatte.

Unter den Bäumen befand sich keiner, der nicht zu den verschiedensten Holzarbeiten und zur Zimmerei geeignet gewesen wäre. Hier wuchsen, gleich elfen [56] beinernen, braun beringten Säulen, hundertzwanzig Fuß hohe, dicht über der Wurzel vier Fuß dicke Wachspalmen, welche ein sehr haltbares Holz liefern; Kastanienbäume mit sehr zähem Splint und Früchten in Form der dreieckigen Nüsse; ferner, »Murichis«, die als Bauholz geschätzt werden; »Barrigudos« von[57] zwei bis drei Toisen Umfang an der ausgebauchten Stelle des Stammes, die sich wenige Fuß über der Erde befindet, Bäume mit röthlicher, glänzender, mit grauen Knoten bedeckter Rinde, deren Schaftspindel einen wagrechten Sonnenschirm trägt; endlich der Woll- oder Ceibabaum mit weißem Stamme. Außer diesen prächtigen Vertretern der Flora des Amazonengebietes fielen unter den Streichen der Axt auch »Quatibos«, deren rosenrother Wipfel alle umstehenden Bäume überragte, und welche Früchte in Form von Vasen tragen, in denen sich eine Art Kastanien wie aufgereiht vorfinden, während das hellviolette Holz derselben mit Vorliebe zu Schiffsbauzwecken verwendet wird. Ferner fanden sich da und dort einzelne Eiseneichen, vorzüglich die sogenannte »Ibiriratea« mit fast schwarzem Holze und so fest, daß die Indianer daraus ihre Keulen verfertigen; »Jacarandas«, welche noch höher geschätzt werden als Mahagonibäume; »Cäsalpinas«, welche man nur in jungfräulichen Urwäldern antrifft, denen die Axt der Holzfäller noch fern geblieben ist; hundertfünfzig Fuß hohe »Sa pucaias«, welche gleichsam von natürlichen Gewölben gestützt werden, die zwei bis drei Meter über dem Erdboden ausgehen und sich in der Höhe von dreißig Fuß vereinigen, und deren Wipfel in einem Strauße köstlicher Blumen endigt, den Schmarotzerpflanzen gelb, purpurfarbig und weiß ausschmücken.

Drei Wochen nach Beginn der Arbeit stand von den Bäumen, die sonst auf dem Winkel zwischen dem Nanay und dem Amazonenstrome emporstrebten, kein einziger mehr. Alles war niedergeschlagen. Joam Garral brauchte sich um die Bewirthschaftung des Waldstückes, das nach zwanzig bis dreißig Jahren wieder in gutem Bestande sein konnte, nicht mehr zu kümmern. Nichts war verschont, kein Eckbaum übrig gelassen worden, der später hätte als Merkzeichen der Abholzung dienen können. Es war ein vollständiger »Kahlschlag«, wo alle Stämme dicht über dem Erdboden abgesägt waren und auch die Wurzeln später entfernt werden sollten, welche der nächste Frühling jedoch noch einmal mit grünenden Reisern schmücken sollte.

Die Bodenfläche, welche das Ufer beider Wasserläufe bildete, war nämlich bestimmt, urbar gemacht, bearbeitet, bepflanzt und besäet zu werden, und schon zum Herbste des folgenden Jahres wogten hier voraussichtlich Maniocfelder, Kaffeeplantagen, Zuckerrohrdickichte, und bedeckten Arrow-root, Mais und Wassernüsse den Erdboden, den bisher der üppige Wald beschattet hatte.

Noch war die letzte Woche des Mai nicht herangekommen, als alle Stämme, nach ihrer Schwimmfähigkeit gesondert, symmetrisch am Ufer des Amazonenstromes [58] geordnet lagen. Hier sollte die ungeheuere Jangada zusammengestellt werden, die mit den Wohnstätten der Reisenden und den für die Flößer nothwendigen Baracken vollständig ein schwimmendes Dorf bildete. Zur bestimmten Zeit sollten dann die durch das Hochwasser des Hinterlandes geschwellten Fluthen des Stromes den Apparat flott machen und ihn Hunderte von Meilen bis nach der Küste des Atlantischen Oceans tragen.

Während der Bauzeit hatte sich Joam Garral ausschließlich mit dieser Arbeit beschäftigt und dieselbe in eigener Person geleitet, wobei er sich meist an der abgeholzten Stelle und dann an dem flachen geneigten Uferland vor der Fazenda, auf dem die einzelnen Theile des Floßes verbunden wurden, aufhielt.

Yaquita bemühte sich im Vereine mit Cybele die sonstigen Vorbereitungen zur Reise zu beenden, obwohl die alte Negerin niemals begriff, warum man von dem Orte weggehen wolle, an dem sich Alle so wohl befanden.

»Du wirst aber Dinge sehen, redete ihr Yaquita immer zu, die Dir noch niemals vor Augen gekommen sind!

– Schönere und bessere, als wir täglich zu sehen gewöhnt sind, doch nicht!« erwiderte stets Cybele.

Minha und deren Favoritin kümmerten sich nur um das, was sie speciell anging; bei ihnen handelte es sich ja nicht um eine gewöhnliche Reise, sondern um einen Abschied für immer; da kamen tausenderlei Dinge in Frage. Wegen der späteren Einrichtung in fremdem Lande, wo die junge Mulattin auch ferner an der Seite der Herrin bleiben sollte, an die sie sich schon längst so innig angeschlossen hatte. Minha wurde freilich das Herz manchmal schwer, die lustige Lina machte sich aber keine Sorge darum, Iquitos zu verlassen. Sie blieb ja bei Minha Valdez dieselbe, die sie bei Minha Garral gewesen war. Ihr Lachen würde nur dann verstummt sein, wenn man sie von ihrer Herrin getrennt hätte; das fiel aber keinem Menschen ein.

Benito unterstützte seinen Vater nach Kräften in allen vorliegenden Arbeiten. Er machte gleichsam eine Lehrzeit als Fazender durch, um sich zu seinem wahrscheinlichen späteren Berufe vorzubereiten, wie er sich während der Reise auf dem Strome als Kaufmann vorbilden sollte.

Manoel endlich theilte seine Zeit soviel als möglich zwischen dem Wohnhause, wo Yaquita und ihre Tochter walteten, und dem Holzschlage, wohin ihn Benito, mehr als ihm lieb war, zu bringen suchte. Doch diese Theilung der Zeit fiel selbstverständlich ziemlich ungleich aus.

[59]
7. Capitel
Siebentes Capitel.
Einer Liane nach.

Eines Sonntags, es war am 26. Mai, beschlossen die jungen Leute jedoch, sich eine Zerstreuung zu gönnen. Das Wetter ließ sich herrlich an; eine von den Cordilleren her wehende frische Brise mäßigte die Hitze. Alles lud zu einem Ausfluge über Land ein. Benito und Manoel forderten das junge Mädchen auf, sie bei einem Spaziergange durch die großen Wälder am rechten Ufer des Amazonenstromes, gegenüber der Fazenda, zu begleiten.

Man wollte damit von der wirklich reizenden Umgebung von Iquitos Abschied nehmen. Die beiden jungen Männer erschienen als Jäger, aber nicht in der Absicht, ihre Begleiterinnen zu verlassen, um dem Wilde nachzuspüren, dafür sorgte gewiß schon Manoel, und die jungen Mädchen, denn Lina konnte sich von ihrer Herrin doch niemals trennen, als einfache Spaziergängerinnen, welche vor einem Ausfluge von zwei bis drei Stunden nicht zurückschreckten.

Weder Joam Garral noch Yaquita konnten sich der Gesellschaft anschließen. Einerseits war die Jangada noch nicht gänzlich vollendet und es erschien nicht rathsam, das im mindesten zu verzögern; andererseits hatten Yaquita und Cybele, wenn sie auch das ganze weibliche Personal der Fazenda unterstützte, nicht eine Stunde zu verlieren.

Minha nahm das Angebot mit größtem Vergnügen an. Nach dem Frühstück des genannten Tages, gegen elf Uhr, begaben sich die beiden jungen Männer und die zwei jungen Mädchen nach dem Ufer am Zusammenflusse der beiden Wasserläufe. Einer der Schwarzen begleitete sie. In einer »Uba«, wie sie auf der Farm tagtäglich gebraucht wurden, kam die Gesellschaft an den Inseln Iquitos und Parianta vorüber und ging am rechten Ufer des Amazonenstromes wieder an's Land.

Das Fahrzeug lief unter einem Bogen prächtiger baumartiger Farren ein, über dem sich in etwa dreißig Fuß Höhe noch ein Kranz sammtgrüner Zweige mit seinen, mit Pflanzenspitzen besetzten Blättern erhob.

»Von jetzt an, lieber Manoel, begann das junge Mädchen, ist es meine Pflicht, hier im Walde meine Gäste zu begrüßen, denn Du bist doch ein Fremdling[60] in dem Gebiete des oberen Amazonenstromes. Wir dagegen sind hier zu Haus, und Du wirst mich nicht hindern, meine Pflichten als Herrin des Hauses zu erfüllen!

– Liebe Minha, antwortete der junge Mann, Herrin des Hauses wirst Du in unserer späteren Heimat Belem nicht minder sein als in Iquitos und da unten so wie hier...

– Ei was, Manoel, und Du, Schwesterchen, fiel Benito ein, Ihr seid doch wahrlich nicht hierher gekommen, um Euch Zärtlichkeiten zu sagen!... Vergeßt einmal auf ein paar Stunden, daß Ihr verlobt seid!

– Nicht eine Stunde! Nicht einen Augenblick! versetzte Manoel.

– Auch nicht, wenn Minha Dir das befiehlt?

– Minha wird das nicht befehlen!

– Nun, wer weiß? sagte Lina lachend.

– Ja, Lina hat Recht! erklärte Minha, während sie Manoels Hand leise drückte. Versuchen wir, es zu vergessen!... Löschen wir jede Erinnerung an unser Verhältniß aus! Mein Bruder wünscht es!... Alles ist gebrochen Alles. So lange dieser Spaziergang dauert, sind wir nicht mehr verlobt. Ich bin ebensowenig die Schwester Benitos! Du bist nicht ferner dessen Freund...

– Das wäre! rief Benito.

– Herrlich, herrlich! Jetzt sind Fremde hier! jubelte die junge Mulattin in die Hände klatschend.

– Fremde, die sich zum ersten Male sehen, fügte Minha hinzu, sich zufällig begegnen und begrüßen...

– Mein Fräulein... sagte Manoel, sich vor Minha verneigend.

– Mit wem habe ich die Ehre, mein Herr? fragte das junge Mädchen im größten Ernste.

– Manoel Valdez, der sich glücklich schätzen würde, wenn Ihr Herr Bruder ihn vorstellen wollte...

– Ach, zum Kukuk mit diesen Formalitäten! fiel Benito ein; das war eine recht dumme Idee von mir. Spielt nur lieber Brautleute so viel Ihr wollt, jetzt und immer!

– Immer!« sagte Minha, der dieses Wort so unwillkürlich entfuhr, daß Lina nur noch herzlicher lachte.

Ein recht inniger Blick Manoels belohnte das junge Mädchen für diese Unvorsichtigkeit ihrer Zunge.

[61] »Wenn wir weiter gingen, würden wir weniger plaudern! Vorwärts!« meinte Benito, um der Verlegenheit seiner Schwester ein Ende zu machen.

Minha schien aber solche Eile gar nicht zu haben.

»Verzeihe, lieber Bruder, erwiderte sie, Du hast gesehen, daß ich Dir gehorchen wollte. Du wolltest Manoel und mir die Verpflichtung auferlegen, uns zu vergessen, um Deinen Spaziergang nicht zu beeinträchtigen. Nun, ich habe auch eine Gegenforderung an Dich, um dem meinigen nicht zu schaden. Du wirst mir, ob gern oder nicht, das Versprechen geben, Du, Benito, in eigener Person, jetzt ebenfalls zu vergessen...

– Zu vergessen?

– Zu vergessen, daß Du leidenschaftlicher Jäger bist, mein Herr Bruder!

– Wie, Du wolltest mir verwehren...

– Ich verbiete Dir, nach unseren hübschen Vögeln zu schießen, nach den Pagageien, Sittichen, den Caciques, Kurukus und anderen, die so lustig durch die Wälder flattern. Das Verbot gilt ebenso für eßbares Wild, mit dem wir heute doch nichts anfangen könnten. Sollte uns ein Onça, ein Jaguar oder anderes Raubthier zu nahe kommen, hast Du freie Hand!

– Aber ich bitte Dich..., entgegnete Benito.

– Wo nicht, nehme ich Manoels Arm; dann wandeln wir, wie es uns gefällt, weiter, verlieren uns, und Dir wird nichts Anderes übrig bleiben, als uns nachzulaufen!

– Nun, Dir wär's wohl recht, wenn ich meiner Schwester nicht nachgäbe? sagte Benito, seinen Freund Manoel ansehend.

– Warum denn nicht! antwortete der junge Mann.

– Nein, nun erst recht nicht, rief Benito, ich folge dem Gebote, ich gehorche Dir zum Possen! Also vorwärts!«

Von dem Neger begleitet wandelten nun alle Vier unter den herrlichen Bäumen dahin, durch deren dichtes Blätterwerk die Sonne keinen Eingang fand.

Es giebt kaum einen schöneren Anblick, als ihn diese Partie des rechten Ufers am Amazonenstrome bietet. Hier erheben sich bunt durcheinander so viele verschiedene Baumarten, daß man auf einer Quadratmeile wohl hundert Varietäten dieser schönen Pflanzenfamilien finden könnte. Ein Forstmann würde auch leicht erkannt haben, daß hier noch kein Holzfäller mit Beil und Axt gearbeitet hatte, das wäre selbst nach Jahrhunderten bemerkbar gewesen. Jüngere Bäume, selbst solche von hundert Jahren, konnten nicht dasselbe Bild bieten [62] wie die ursprünglichen Stämme, deshalb nämlich, weil ihre Umhüllung mit Lianen und anderen Parasiten einen deutlichen Unterschied gezeigt hätte; ein Eingeborner wenigstens wäre sich auf den ersten Blick darüber klar gewesen.

Scherzend und lachend schlüpfte die lustige Gesellschaft in dem hohen Grase, durch Dickichte und Buschwerk dahin. Mit dem Abatis bahnte der Neger, wo es nöthig wurde, erst den Weg, theilte das zu dicht verworrene Gezweig und scheuchte Tausende von Vögeln dabei auf.

Minha hatte ganz recht daran gethan, für die kleine gefiederte Welt, welche zwischen den hohen Gipfeln flatterte, einzutreten. Hier wimmelte es geradezu von den schönsten Exemplaren der tropischen Fauna. Grüne Papageien, schreiende Sittiche erschienen wie natürliche Früchte der riesigen Bäume. Blaue, rothe glänzende Kolibris aller Art, »Tisauras« mit langen, scheerenförmigen Schwänzen glichen abgerissenen Blüthen, welche der Wind von einem Zweige zum anderen trug. Orangefarbene, an den Flügeln braun geränderte Amseln, goldstreifige Feigendrosseln und rabenschwarze »Sabias« pfiffen und zwitscherten unaufhörlich durcheinander. Der lange Schnabel des Pfefferfressers pickte an den goldigen Trauben der, »Guiriris«. Brasilianische Grünspechte wiegten das kleine purpurgetüpfelte Köpfchen hin und her. Es war eine herrliche Augenweide.

Die ganze Vogelwelt aber schwieg und suchte sich zu verbergen, wenn in den Baumkronen der »Alma de gato« (Katzenseele, ein hellgelber Specht) gleich einer verrosteten Wetterfahne knarrte. Und wenn dieser stolz, mit ausgebreiteten Schwanzfedern umherschwebte, so entfloh er doch, sobald höher oben ein »Gaviao«, ein großer Adler mit schneeweißem Kopfe, der Schrecken der gefiederten Waldbewohner, sichtbar wurde.

Minha machte Manoel aufmerksam auf diese Wunder der Natur, die er in den civilisirteren Provinzen des Ostens in ihrer Ursprünglichkeit nicht wieder finden konnte. Manoel lauschte dem jungen Mädchen mehr mit den Augen als mit dem Ohre. Uebrigens ertönte das Geschrei und der Gesang der unzähligen Vögel oft so laut, daß er sie gar nicht hätte verstehen können. Nur das herzhafte Lachen Linas vermochte zuweilen all' dieses Glucksen, Piepen, Heulen, Pfeifen und Rucksen zu übertönen.

Nach einer Stunde war kaum eine Meile zurückgelegt worden. Mit der weiteren Entfernung vom Ufer veränderte sich auch der Anblick der Bäume. Animalisches Leben herrschte nun weniger in der Nähe des Erdbodens als siebenzig bis achtzig Fuß darüber, wo ganze große Heerden von Affen einander


Zuweilen erschien ein Pärchen Strauße. (S. 66.)

in den Zweigen jagten und verfolgten. Hier drang an einzelnen Stellen wohl auch einmal ein Sonnenstrahl bis zum Unterholz hinab. In den Tropenwäldern scheint das Licht wirklich kaum eine zum Leben [63] nothwendige Rolle zu spielen. Die Luft allein genügt zur Ausbildung der größten wie der kleinsten Gewächse, der Bäume und der niedrigen Pflanzen, welche die zur Bewegung ihrer Säfte nothwendige Wärme nicht aus der umgebenden Luft,


Ohne Zögern eilte die junge Mulattin Benito nach. (S 71.)

sondern aus dem Schoße der Erde beziehen, wo sie sich wie in einer ungeheueren Calorifere ansammelt. Und wie oft war man versucht, von den Bromelias, Serpentinen, Orchideen, [64] den Cacteen und allen den Parasiten, welche unter dem großen einen kleinen Wald für sich bilden, prächtige Insecten abzupflücken, als ob es Blumen wären, blauflügelige, schillernde Nestors, goldglänzende, grüngestreifte Leilusfalter, Aggripinas, Nachtfalter von zehn Zoll Länge mit blätterartigen Flügeln; ferner »Maribundas«-Bienen, eine Art lebender, in Gold gefaßter Smaragden; dazu Legionen von leuchtenden Coleopteren, »Valagumen« mit bronzenem Brustschilde und grünen Flügeldecken, aus deren Augen ein gelblicher Lichtschein hervorstrahlt, und welche mit Einbruch der Nacht den ganzen Wald mit ihrem vielfarbigen Geflimmer erleuchten.

[65] »O wie herrlich, wie wunderbar schön! rief entzückt das junge Mädchen.

– Aber, Minha, erwiderte Benito, Du bist ja hier zu Haus, oder hast das doch gesagt, und nun prahlst Du mit Deinen Schätzen!

– Spotte nur, Brüderchen! antwortete Minha. Es wird mir wohl gestattet sein, die Schönheiten der Heimat zu bewundern, nicht wahr, Manoel? Sie kommen ja aus Gottes Hand und sind Eigenthum eines Jeden!

– Laß nur Benito lachen! sagte Manoel, er verstellt sich jetzt und schwärmt gelegentlich ganz ebenso in Bewunderung der Schönheit der Natur. Freilich, wenn er die Flinte unter dem Arme hat, dann Adieu Poesie!

– So sei doch auch jetzt Poet, lieber Bruder! bemerkte das junge Mädchen.

– Ei gewiß, ich bin also Poet! versetzte Benito. O, du entzückende Natur u. s. w.«

Minha hatte durch ihr Verbot des Gebrauchs der Flinte Benito freilich eine harte Entbehrung auferlegt. An Wild fehlte es in dem Walde nicht, und es wäre genug Gelegenheit zu einem schönen Schusse gewesen.

An minder dichten Stellen, wo der Blick weiterhin reichte, erschien zuweilen ein Pärchen vier bis fünf Fuß hoher Strauße, von der Familie der »Naudus«. Sie trabten dahin in Begleitung der von ihnen unzertrennlichen »Seriemas«, einer Art Truthühner, welche eine weit schmackhaftere Speise abgeben als die großen Vögel, deren Escorte sie bilden.

»Das habe ich nun von meinem voreiligen Versprechen! grollte Benito, während er auf einen Wink seiner Schwester das Gewehr, das er schon angeschlagen hatte, wieder unter den Arm nahm.

Die Seriemas sollten überhaupt geschont werden, sagte Manoel, denn sie vernichten viele Schlangen.

– So wie man die Schlangen schonen sollte, versetzte Benito, weil sie viele schädliche Insecten vertilgen, und diese, weil sie die noch schädlicheren Blattläuse verzehren. Von diesem Standpunkt aus gesehen, würde man Alles schonen müssen!«

Die Selbstüberwindung des jungen Jägers sollte aber auf eine noch weit härtere Probe gestellt werden. Flüchtige Hirsche und graziöse Rehe eilten durch den Wald, denen eine gut gezielte Kugel schnell Halt geboten hätte. Da und dort zeigten sich milchkaffeefarbige Truthühner, Peccaris, eine Art wilder, von Feinschmeckern sehr geschätzter Schweine, Agoutis, ähnlich den Kaninchen und [66] Hafen Mittelamerikas, Gürtelthiere mit mosaikähnlichem Schuppenpanzer, zur Ordnung der Zahnlosen gehörig.

Benito bewies schon mehr als die Tugend des Gehorsams, eher konnte man sagen, einen wirklichen Heroismus, wenn ihm unter Anderem gar ein Tapir, ein »Antas«, wie diese Thiere in Brasilien genannt werden, vor Augen kam, einer jener, an den Ufern des Amazonenstromes und seiner Nebenflüsse fast kaum noch vorkommenden verkleinerten Elephanten, jener Dickhäuter, welchen die Jäger ihrer Seltenheit wegen so eifrig nachstellen und welchen ihr Fleisch, das dasjenige des Ochsen an Güte weit übertrifft und von dem die Nackentheile einen, jeder königlichen Tafel würdigen Braten liefern, so hohen Werth verleiht.

Wahrlich, die Flinte brannte ihm in der Hand; treu seinem Versprechen aber ließ der junge Mann die Waffe in Ruhe.

Inzwischen entschuldigte er sich doch bei seiner Schwester, daß ihm ein Schuß wider seinen Willen abbrennen könnte, wenn ihm ein. »Tamandoa assa« gar zu nahe käme, einer jener merkwürdigen großen Ameisenbären, dessen Erlegung in den cynegetischen Annalen stets als Meisterschuß gepriesen wird.

Glücklicherweise ließ sich aber kein Ameisenbär sehen, so wenig wie Panther, Leoparden, Jaguars, Guepards, Cuguars u. s. w., welche man in Südamerika gewöhnlich unter dem Namen Onças zusammenfaßt und die man sich nicht so nahe auf den Leib kommen lassen darf.

»So spazieren zu gehen, begann da Benito, einen Augenblick stehen bleibend, das ist zwar ganz schön und gut, aber ohne Zweck und Ziel dahinzuschlendern...

– Ohne Zweck und Ziel, unterbrach ihn seine Schwester, unser Zweck ist zu sehen, zu bewundern, zum letzten Male diese Urwälder Centralamerikas, die wir in Para nicht wiederfinden werden, zu besuchen und ihnen Lebewohl zu sagen!

– Da kommt mir ein Gedanke! ließ sich plötzlich Lina vernehmen.

– Ein Gedanke Linas, meinte Benito kopfschüttelnd, kann doch nur auf einen tollen Streich hinauslaufen!

– Es ist nicht recht von Dir, lieber Bruder, warf das junge Mädchen ein, in dieser Weise über Lina abzusprechen, vorzüglich wenn sie einen Zweck unseres Spazierganges angeben will, dessen Mangel Du eben bedauertest.

– Und um so mehr, fügte die junge Mulattin hinzu, als ich überzeugt bin, daß mein Vorschlag Ihnen gefallen wird.

[67] – Und worin besteht dieser? fragte Minha.

– Sie sehen doch Alle dort die Liane?«

Lina wies bei diesen Worten nach einer Liane von der Art der »Cipos«, die eine gewaltige Mimose umschlang, deren federleichte Blätter sich schon bei der leisesten Berührung zusammenfalten.

»Nun, und was ist damit? fragte Benito.

– Ich schlage vor, erklärte Lina, wir versuchen, dieser Liane bis an's Ende nachzugehen!...

– Wahrlich, das ist ein Gedanke, ein Ziel! rief Benito. Dieser Liane zu folgen, welche Hindernisse das auch bieten mag, sich weder durch Dickichte und Buschwerk, noch durch Felsen, Bäche, Wasserfälle, überhaupt durch nichts abhalten zu lassen; wenn es nöthig wäre, selbst...

– Ja, ja, Du hast Recht, lieber Bruder, unterbrach ihn Minha; Lina ist doch immer eine kleine Närrin!

– Ei, ei! antwortete ihr Bruder, Du sagst blos, daß Lina eine Närrin sei, um nicht auszusprechen, daß Benito ein Narr sein müsse, da er jenem Vorschlage zustimmt.

– Nun, meinetwegen, wir wollen einmal närrisch sein, wenn es Allen paßt! erklärte Minha. Wir gehen also dieser Liane nach!

– Du fürchtest dabei nicht... begann Manoel.

– Immer noch Einwendungen! rief Benito. Du würdest nicht so sprechen, und schon längst auf dem Wege sein, wenn Minha Dich am Ziele erwartete.

– Ich schweige, erklärte Manoel, ich sage kein Wort und gehorche. Wir gehen der Liane nach!«

Alle brachen freudig auf, wie Kinder, wenn es in die Ferien geht.

Er konnte sie weit wegführen, dieser Pflanzenfaden, wenn sie dabei verharrten, ihm wie einem Ariadnefaden bis zum Ende zu folgen – abgesehen davon, daß der Faden der Erbin von Minos dazu diente, aus dem Labyrinthe herauszukommen, während dieser hier nur weiter in ein solches verlockte.

Die betreffende Liane, ein Cipo, bekannt unter dem Namen »rothe Japicanga«, gehörte zur Familie Smilax, deren Länge zuweilen mehrere Meilen beträgt. Doch die Ehre war bei diesem Versuche ja nicht verpfändet.

Der Cipo verlief ununterbrochen von einem Baume zum andern, schlang sich hier um einen Stamm und schlängelte sich dort guirlandenartig zwischen den Zweigen hin, ging von einem Drachenblut- auf einen Palisanderbaum, [68] von einem riesigen Kastanienbaume, der »Bertholettia excelsa« auf eine jener Weinpalmen, jener, »Baccabas« über, deren Zweige von Agassiz ganz treffend mit grün gesprenkelten Korallenstäben verglichen worden sind. Weiter lief der Faden über »Tucumas« hin, über eine Feigenbaumart, die sich wie hundertjährige Oelbäume regelmäßig um sich selbst winden und von denen man in Brasilien nicht weniger als dreiundvierzig Arten zählt; über verschiedene Sorten Euphorbiaceen, welche Kautschuk liefern; über »Gualtes«, das sind Palmen mit glattem, feinem eleganten Schafte; über Cacaobäume, welche an den Ufern der Wasserläufe im Becken des Amazonenstromes wild wachsen, sowie über verschiedene Melastomen, von denen einige lebhafte rosenrothe Blüthen zeigen, andere wieder Rispen von weißlichen Beeren tragen.

Wie oft mußte die heitere Gesellschaft aber Halt machen, wenn der leitende Faden verloren schien. Welche Mühe verursachte es manchmal, ihn aus dem Gewirr parasitischer Gewächse wieder herauszufinden!

»Da, da! rief Lina, ich sehe ihn!

– Du irrst, erwiderte Minha, das ist er nicht, das ist eine andere Liane.

– Doch, Lina hat Recht! bestätigte Benito.

– Nein, Lina hat Unrecht!« erwiderte natürlich Manoel.

Da gab es denn sehr ernste, gründliche Debatten, wo Jeder auf seiner Ansicht beharrte.

Zuletzt blieb nichts anderes übrig, als daß Benito von der einen und der Schwarze von der anderen Seite die Bäume erkletterten und nach den von dem Cipo umschlungenen Zweigen zu gelangen suchten, um dessen Verlauf zweifellos nachzuweisen.

Ein Vergnügen war es freilich kaum zu nennen, so unter dem Zweiggewirr der Bäume umherzukriechen, durch das sich die Liane schlängelte, inmitten der »Karatas« (eine Bromelienart) mit langen, scharfen Dornen, der Orchideen mit röthlichen Blüthen und violetten handbreiten Unterlippen, oder der »Onicidien«, welche noch schlimmer verfitzt erscheinen als ein Garnknaul unter den Pfoten einer jungen Katze.

Senkte sich die Liane dagegen zum Erdboden herab, so war es nicht minder schwierig, sie unter den dichtstehenden Lycopoden, den großblättrigen Heliconien, den Calliandras mit rothen Troddeln, den Rhipsalen, welche sich um dieselbe wiederum wie der Draht um eine elektrische Rolle schlingen, zwischen den Knoten der großen, weißen Trichterwinden, unter den fleischigen Stengeln [69] der Vanille, überhaupt unter dem Gemisch von Passionsblumen, Brindillen, wildem Wein und dergleichen festzuhalten und zu verfolgen.

Fand man dann den Cipo richtig wieder, da gab es einen hellen Jubel und schnell wurde die unterbrochene Wanderung wieder aufgenommen.

Seit einer Stunde schon liefen die jungen Leute so weiter und weiter, doch nichts deutete darauf hin, daß sie sich ihrem eigensinnig verfolgten Ziele näherten. Man schüttelte zuweilen tüchtig an der Liane, diese gab aber nicht nach; höchstens flogen dabei Hunderte von Vögeln auf und Affengesellschaften sprangen, wie um den Weg zu zeigen, von einem Baume zum andern.

Sperrte ein Dickicht den Weg, so brach der Abatis Bahn und Alle drängten sich so gut es ging hindurch. Schlängelte sich die Liane gleich einer Schlange über einen grün bewachsenen Felsen, so kletterte man hinauf und über denselben hinweg.

Bald öffnete sich eine Art Lichtung. Hier in der freien Luft, die ihr ebenso nöthig ist wie die Sonnenstrahlen, stand eine Banane, der den Tropen allein eigenthümliche Baum, der, wie Humboldt sagt, »den Menschen in der Kindheit der Civilisation begleitet hat, der Ernährer der Bewohner in den heißen Zonen,« vereinzelt in der Mitte.

»Machen wir nun endlich Halt? fragte Manoel.

– Nein, und tausendmal nein! erwiderte Benito... Nicht eher als bis wir das Ende der Liane in der Hand halten.

– Es scheint mir aber doch Zeit zu sein, bemerkte Minha, auch an den Rückweg zu denken.

– Ach, liebste Herrin, noch ein Stückchen, nur ein Stückchen weiter! bat Lina.

– Immer, immer weiter!« sagte Benito.

Wiederum eilten die Unbesonnenen in den Wald hinein, der hier etwas dünner wurde und das Fortkommen erleichterte.

Der Cipo schlug überdies eine mehr nördliche Richtung ein und schien sich nach dem Strome zurückzuwenden. So konnte man ihm besser folgen, da man sich dem rechten Ufer näherte, an dem der Rückweg bequemer sein mußte. Eine Viertelstunde später standen Alle in einer Schlucht vor einem kleineren Zuflusse des Amazonenstromes still. Ueber den Wasserlauf aber streckte sich eine Brücke aus »Bejucos-Lianen«, verstärkt von netzartig verflochtenen Zweigen. Der Cipo theilte sich hier in zwei Stränge und führte gleichsam als Geländer von dem einen Ufer zum andern.

[70] Benito, der den Uebrigen stets voraus war, hatte schon den schwankenden Boden der natürlichen Brücke betreten.

Manoel wollte das junge Mädchen zurückhalten.

»Bleib' hier, bleib' hier, Minha! bat er. Benito mag weiter gehen, wenn es ihm beliebt, wir erwarten ihn hier zurück.

– O nein, kommen Sie Alle, drängte Lina. Keine Furcht! Die Liane scheint dünner zu werden. Wir siegen noch, wir finden ihr Ende!«

Ohne Zögern eilte die junge Mulattin Benito nach.

»Das sind doch wahre Kinder! meinte Minha. Komm', lieber Manoel, wir müssen doch wohl mitgehen.«

So überschritten denn Alle die Brücke, welche über der Schlucht wie eine Schaukel schwankte, und verschwanden auf's Neue unter dem Blätterdache der riesigen Bäume.

Kaum zehn Minuten mochten sie so dem endlosen Cipo in der Richtung nach dem Strome gefolgt sein, als Alle wiederum – und diesesmal nicht ohne Grund – Halt machten.

– Sind wir endlich am Ende dieser entsetzlichen Liane? fragte das junge Mädchen.

– Das zwar nicht, erwiderte Benito, doch erscheint es mir gerathen, nur vorsichtig weiter zu gehen. Da, seht!...«

Benito wies bei diesen Worten auf den Cipo, der in dem Gezweig eines hohen Feigenbaumes verloren, offenbar heftig hin und her gezerrt wurde.

»Ja, aber was ist das? fragte Manoel.

– Wahrscheinlich zerrt ein Thier daran, dem wir uns nicht unbesonnen nähern dürfen!«.

Benito machte sein Gewehr schußfertig, gab den Anderen durch Zeichen zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollten, und wagte sich, aufmerksam lauschend, zehn Schritte weiter vor.


Manoels Bemühungen gelang es, ihn wieder zum Leben zu bringen. (S. 73.)

Manoel, die beiden jungen Mädchen und der Schwarze blieben unbeweglich auf dem Platze zurück.

Plötzlich hörten sie einen Aufschrei Benitos, den sie auf einen Baum zuspringen sahen. Alle eilten nach derselben Seite hin.

Da bot sich ihnen ein unerwartetes und keineswegs angenehmes Schauspiel.

Die Liane um den Hals geschlungen, hing ein Mann, von dessen letzten Zuckungen im Todeskampfe die Erschütterungen der Liane hergerührt hatten.

[71] Benito aber hatte sich schon auf den Unglücklichen gestürzt und den Cipo mit dem Messer durchschnitten. Der Erhenkte glitt auf die Erde nieder. Manoel beugte sich über denselben, um ihn, wenn es nicht zu spät war, in's Leben zurückzurufen.

»Ach, der arme Mann! murmelte Minha.

– Herr Manoel, Herr Manoel, rief Lina, er athmet noch, sein Herz schlägt noch – Sie müssen ihn retten!

– Das hoffe ich auch, antwortete Manoel, doch ich glaube, es war die höchste Zeit.«

[72] Der Gehenkte war ein Mann von etwa dreißig Jahren, ein sehr ärmlich gekleideter, entsetzlich abgemagerter Weißer, der offenbar sehr viel gelitten hatte.

Ihm zu Füßen lag eine leere Kürbisflasche, ein Kugelsänger aus Palmenholz, an dem an Stelle der Kugel ein Schildkrötenkopf mittelst Faden befestigt war.

– Nein, sich aufzuhängen, sich aufzuhängen, wiederholte Lina, und noch so jung! Was mag ihn dazu getrieben haben?«


Der Bau wurde nun unverzüglich in Angriff genommen. (S. 76.)

Manoels Bemühungen gelang es inzwischen, den armen Teufel wieder zum Leben zu bringen. Er schlug die Augen auf und stieß plötzlich ein so heftiges[73] »Hum« hervor, daß die erschreckte Lina durch einen zweiten Schrei darauf antwortete.

»Wer seid Ihr, lieber Freund? fragte Benito.

– Nun, wie mir scheint, ein Ex-Gehenkter!

– Und Ihr Name?

– Gedulden Sie sich einen Augenblick, ich muß mich erst besinnen, erwiderte der Mann, mit der Hand über die Stirne streichend. Ah, richtig, ich heiße Fragoso und kann Sie, wenn es Ihnen beliebt, noch frisiren, rasiren, überhaupt das Haar nach allen Regeln der Kunst behandeln. Ich bin Barbier oder vielmehr einer der verzweifeltsten aller Figaros!...

– Wie konnten Sie aber auf den Gedanken kommen...?

– Ja, was meinen Sie, entgegnete Fragoso lachend, ein Augenblick der Verzweiflung, den ich gewiß später bedauert hätte, wenn das in der andern Welt möglich ist. Wenn man jedoch achthundert Meilen weit durch das Land laufen soll ohne eine Pataque in der Tasche, das ist auch keine schöne Zuversicht! Ich hatte eben den Muth verloren und einem Anderen wär's vielleicht nicht besser gegangen!«

Fragoso war übrigens eine recht ansprechende Erscheinung. Man sah, je mehr er sich erholte, daß er sonst ein lustiger Patron sein mochte; er gehörte zu den umherziehenden Barbieren, die längs der Ufer des oberen Amazonenstromes ein Nomadenleben führen, von Dorf zu Dorf wandern und ihr Geschäft unter den Negern und Negerinnen, Indianern und Indianerinnen betreiben, bei denen sie in hohem Ansehen stehen.

Der arme verlassene Figaro hatte seit vierzig Stunden keinen Bissen gegessen, sich im Walde verirrt und einen Augenblick den Kopf verloren... Das Uebrige ist bekannt.

»Lieber Mann, sagte Benito, Sie werden mit uns nach der Fazenda von Iquitos gehen.

– Wie Sie befehlen und mit dem größten Vergnügen! antwortete Fragoso. Sie haben mich aus der Schlinge befreit, nun gehöre ich ganz Ihnen. Sie hätten mich nicht abschneiden sollen!

– Nun, liebe Herrin, begann Lina, thaten wir recht daran, unseren Spaziergang so weit auszudehnen?

– Das will ich meinen! bestätigte das junge Mädchen.

[74] – Wahrhaftig, sagte Benito, das hätte ich mir nicht träumen lassen, daß wir am Ende des Cipo einen Menschen finden sollten.

– Und noch dazu einen Barbier in der Noth, der sich eben aufbaumeln wollte!« setzte Fragoso hinzu.

Der arme Teufel wurde, als er sich wieder beruhigt hatte, von dem Vorgefallenen unterrichtet. Er dankte Lina herzlich für den guten Gedanken, dieser Liane nachzugehen, und Alle schlugen den Weg zur Fazenda ein, wo Fragoso so aufgenommen wurde, daß er weder Lust noch Veranlassung hatte, auf sein trauriges Vorhaben zurückzukommen.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Die Jangada.

Die halbe Quadratmeile Wald war niedergelegt. Die Zimmerleute gingen nun an's Werk, die oft mehrhundertjährigen, am Strande liegenden Bäume zu einem Floße zusammenzustellen.

Unter Joam Garral's Leitung entwickelten die auf der Fazenda angestellten Indianer ihre für solche Arbeit wirklich unvergleichliche Geschicklichkeit. Gerade bei Errichtung von Gebäuden oder der Construction von Wasserfahrzeugen kann man sich bessere Arbeiter als diese Eingebornen gar nicht denken. Sie gebrauchen nur Axt und Säge und bearbeiten damit so harte Holzarten, daß die Schneide ihrer Werkzeuge oft genug schartig wird; sie mögen aber Baumstämme vierkantig zurichten, oder Bretter, Planken, Pfosten aus den gewaltigen Stämmen schneiden immer gelingt das ohne Mithilfe mechanischer Einrichtungen ihren geschickten geduldigen und von Natur gewandten Händen überraschend leicht.

Die gefällten Bäume waren nicht gleich in das Bett des Amazonenstromes geschafft worden. Joam Garral pflegte anders zu Werke zu gehen. Man hatte jene vielmehr symmetrisch auf der flachen, etwas geneigten Uferecke des Nanay und des Hauptstromes nieder gelegt, nachdem die Stelle nochmals etwas abgegraben worden war. Hier wurde die Jangada zusammengestellt, und der Amazonenstrom [75] sollte das riesige Fahrzeug selbst flott machen, wenn die Zeit der Abreise herankam.

Wir müssen hier einige Worte über die geographische Anordnung des gewaltigen Stromes einfügen, die ihres Gleichen wohl nicht hat, und über eine eigenthümliche Erscheinung an demselben, welche die Anwohner Alle aus Erfahrung kennen.

Die beiden Ströme, welche vielleicht noch länger sind als die große Wasserader Brasiliens, der Nil und der Missouri-Mississippi, verlaufen, der eine von Süden nach Norden in Afrika, der andere von Norden nach Süden quer durch Nordamerika. Sie berühren dabei selbstverständlich Gebiete von sehr verschiedener Breitenlage und strömen folglich auch durch stark von einander abweichende Klimate.

Der Amazonenstrom dagegen liegt vollständig, wenigstens von der Stelle an, wo er sich nahe an der Grenze von Peru und Ecuador direct nach Osten wendet, zwischen dem zweiten und vierten Grade nördlicher Breite. Demnach herrschen über dessen ausgedehntem Becken überall dieselben klimatischen Verhältnisse.

Diese zeigen deutlich zwei verschiedene Jahreszeiten, während deren, in einem Zwischenraume von sechs Monaten, Regen fällt oder Dürre herrscht. Im nördlichen Brasilien beginnt die Regenzeit mit dem September, im südlichen Theile dagegen mit dem März. Die Folge davon ist, daß die Zuflüsse an dem rechten und dem linken Stromufer mit halbjährigem Intervall ein Steigen des Wassers veranlassen. Das Niveau des Amazonenstromes erreicht dadurch alternirend seine größte Erhebung im Juni und sinkt dann allmählich bis zum October herab.

Auch Joam Garral wußte das und wollte diesen Umstand benutzen, die Jangada, nachdem sie auf dem Lande fertig gezimmert war, ohne eigenes Zuthun vom Wasser aufheben zu lassen. Der Amazonenstrom steigt und fällt nämlich gegenüber dem mittleren Niveau bis um dreißig bis vierzig Fuß; hiermit gewann der Fazender Spielraum genug, um sich die Arbeit so bequem als möglich zu machen.

Der Bau wurde nun unverzüglich in Angriff genommen. Auf dem geräumigen Strande sonderte man die Stämme nach ihrer Größe, mußte aber auch auf deren Schwimmkraft ein Auge haben. Unter den harten und schweren Holzarten fanden sich nämlich auch einzelne, deren specifisches Gewicht dem des Wassers gleichkommt.

[76] Die Grundschicht des Flosses wurde nicht aus nahe nebeneinander liegenden Stämmen gebildet; man ließ zwischen denselben vielmehr einen mäßigen Raum frei, der zur Erhöhung der Haltbarkeit des ganzen Baues mit starken Querplanken verbunden wurde. Daneben waren alle mit »Piaçaba«-Tauen umschlungen, welche ebenso fest halten wie Hanftaue. Das genannte Material gewinnt man aus den Zweigen einer, an den Ufern des Stromes sehr häufig vorkommenden Palmenart, und es wird überall im Lande zu ähnlichen Zwecken verwendet. Die Piaçabafasern schwimmen, leiden nicht durch Nässe und sind leicht zu gewinnen, wodurch sie zu einem sehr gesuchten Artikel wurden, der auch schon in der alten Welt im Handel vorkommt.

Auf die Doppelschicht von Stämmen und Planken wurden dann die Pfosten und Bretter gelegt, welche, dreißig Zoll über dem Wasserspiegel, gewissermaßen das Deck der Jangada zu bilden hatten. Von letzteren wurden sehr viele verwendet, wovon man sich leicht einen Begriff machen kann, wenn man bedenkt, daß dieser Holztrain bei einer Länge von tausend eine Breite von sechzig Fuß, also eine Oberfläche von sechzigtausend Quadratfuß hatte. In der That, hier wurde ein ganzer Wald den Fluthen des Amazonenstromes übergeben.

Die eigentlichen Bauarbeiten leitete Joam Garral zwar selbst; nach deren Beendigung aber, als die Frage der Einrichtung des Fahrzeuges auf die Tagesordnung kam, wurden Alle zu Rathe gezogen und selbst der wackere Fragoso nicht ausgeschlossen.

Wir erwähnen hier nur mit kurzen Worten, wie sich seine Stellung in der Fazenda gestaltet hatte.

Noch niemals mochte sich der Barbier so glücklich gefühlt haben, als seit dem Tage, wo er bei der gastfreundlichen Familie Aufnahme fand. Joam Garral hatte ihm angeboten, ihn nach Para mitzunehmen, wohin er eben wandern wollte, als jene Liane, sagte er, »ihn am Halse packte und auf der Stelle festhielt!«

Fragoso nahm dieses Anerbieten selbstverständlich gern und mit herzlichem Danke an, und suchte sich seitdem, aus Erkenntlichkeit, in jeder Art und Weise nützlich zu machen. Es war übrigens ein recht intelligenter Bursche, »Einer mit zwei rechten Händen«, wie man zu sagen pflegt, das heißt geschickt, Alles auszuführen und es auch gut auszuführen. Ebenso lustig wie Lina, immer ein Liedchen summend und reich an witzigen Einfällen, war er sehr bald bei Allen beliebt geworden.

[77] Immer erinnerte er sich aber, daß er an die junge Mulattin die größte Schuld abzutragen habe.

»Das war doch eine herrliche Idee von Ihnen, Fräulein Lina, wiederholte er Tag für Tag, einmal »Lianen suchen« zu spielen. Wahrhaftig, das ist ein reizendes Spiel, wenn man auch nicht allemal einen armen Teufel von Barbier am Ende findet!

– Der reine Zufall, Herr Fragoso, antwortete dann Lina, und ich versichere Ihnen, daß Sie mir gar keinen Dank schulden.

– Was! Ich verdanke Ihnen heute mein Leben, das ich mir noch hundert Jahre wünsche, um Ihnen zu zeigen, daß meine Erkenntlichkeit eben so lange dauern wird. Ja, sehen Sie, es war nicht meine Bestimmung, mich zu hängen. Wenn ich es versucht habe, so geschah es aus Zwang. Wenn ich mir Alles überlegte, zog ich es vor, auf diese schnelle Weise, als vielleicht durch Hunger zu sterben oder von Raubthieren verzehrt zu werden. O, diese Liane bildet ein gewisses Band zwischen uns, und Sie mögen nun sagen was Sie wollen...«

In solchem mehr scherzenden Tone ging die Unterhaltung gewöhnlich fort. Im Grunde war Fragoso der jungen Mulattin aber wirklich herzlich dankbar dafür, daß sie die Initiative zu seiner Rettung ergriffen hatte, und Lina ihrerseits schien gegen die Aeußerungen des munteren Burschen, der ihr in so vielen Stücken glich, auch nicht ganz unempfindlich zu sein.

Um auf die Jangada zurückzukommen, so wurde nach mannigfacher Verhandlung beschlossen, dieselbe so vollkommen und bequem wie möglich einzurichten, da die Reise ja mehrere Monate in Anspruch nehmen sollte. Die Familie Garral selbst bestand, wie wir wissen, aus dem Vater, der Mutter, dem jungen Mädchen, Benito und Manoel, nebst deren Dienstboten, Cybele und Lina, welche eine Wohnung für sich erhalten sollten. Hierzu kamen noch vierzig Indianer, vierzig Schwarze, Fragoso und der Steuermann, der die Führung der Jangada übernahm.

Dieses zahlreiche Personal reichte für den Dienst an Bord eben nur hin, da man viele Windungen des Stromes und Hunderte von Inseln und Eilanden, die jenen erfüllen, zu passiren hatte. Wenn die Strömung auch das Floß hinabtrug, so gab sie, ihm deshalb noch nicht die gewünschte Richtung. Deshalb bedurfte es jener hundert Arme, um den Holzzug mittelst langer Bootshaken in gleicher Entfernung von beiden Ufern zu halten.

[78] Zuerst wurde die Erbauung des Herrenhauses auf dem Hintertheile der Jangada in Angriff genommen, und dieses mit fünf Zimmern und einem geräumigen Speisesaale ausgestattet. Eines der Zimmer war für Joam Garral und dessen Frau bestimmt, ein zweites für Lina und Cybele, um diese immer in der Nähe zu haben; ein drittes für Benito und Manoel. Minha sollte ein Zimmer, dem es nach keiner Seite an Bequemlichkeit fehlte, für sich allein bewohnen.

Das Hauptwohnhaus wurde aus dachziegelförmig gelegten Planken erbaut und letztere mit siedendem Harz begossen, wodurch sie gänzlich undurchdringlich wurden und unter allen Verhältnissen trocken bleiben mußten. Vorn und an den Seiten angebrachte Fenster gewährten ihm hinlängliche Beleuchtung. An der Vorderseite befand sich die Thür, welche in den gemeinschaftlichen Saal führte. Eine leichte Veranda, zum Schutz vor den directen Sonnenstrahlen, ruhte auf schlanken Bambus. Das ganze war mit heller Ockerfarbe gestrichen, welche die Wärme zurückstrahlt, statt sie aufzusaugen, und dadurch den inneren Räumen eine erträglichere Temperatur sicherte.

Als aber »die grobe Arbeit«, wie man sagte, nach Joam Garral's Plane vollendet war, mischte sich Minha in die Sache ein.

»Da wir nun, lieber Vater, begann sie, Dank Deiner Sorge glücklich unter Dach und Fach sind, wirst Du uns gestatten, Deine Wohnung einzurichten, wie es uns gefällt. Das Aeußere ging Dich an, das Innere gehört in unser Bereich. Die Mutter und ich wünschten es so einzurichten, als ob das ganze Haus von der Fazenda die Reise mitmachte, so daß Du fortwährend noch in Iquitos zu sein glauben sollst.

– Ordne Alles nach Deinem Belieben, antwortete Joam Garral trübe lächelnd, wie man es noch dann und wann an ihm bemerkte.

– O, das wird reizend werden!

– Ich verlasse mich ganz auf Deinen guten Geschmack, mein liebes Kind!

– Und er soll uns Ehre machen, Papa, antwortete Minha, er muß es um des herrlichen Landes willen, durch das unsere Reise führt, um jenes Landes willen, das ja eigentlich unsere Heimat ist und in welches Du nach so langjähriger Abwesenheit zurückkehrst...

– Ja, ja, Minha, sagte Joam Garral etwas nachdenklich. Es sieht fast aus, als ob wir aus der Verbannung zurückkämen... aus freiwilliger Verbannung! Thue also Dein Bestes, liebe Tochter! Meine Zustimmung hast Du im Voraus!«

[79] Dem jungen Mädchen und Lina, denen sich unaufgefordert Manoel auf der einen und Fragoso auf der anderen Seite anschlossen, fiel nun die Sorge zu, die Wohnung im Innern auszuschmücken. Mit ein wenig Einbildungskraft und Kunstsinn war hier sehr viel zu leisten.

Zunächst wurden die hübschesten Möbel aus der Fazenda in den Zimmern aufgestellt, die man nach der Ankunft in Para mit irgend einer Egaritea auf dem Amazonenstrome zurücksenden wollte. Tische, Lehnstühle aus Bambus, Canapees aus Rohrgeflecht, Etagèren aus geschnitztem Holze, kurz Alles, was einer Wohnung in der Tropenzone nur Anmuth und Reiz verleiht, wurde geschmackvoll in dem schwimmenden Hause untergebracht. Man fühlte sehr leicht heraus, daß neben den beiden jungen Männern hier auch sinnige Frauenhände walteten. So darf man nicht etwa glauben, daß die Wände selbst kahl gelassen worden wären. Nein, die Wände verschwanden unter ganz eigenthümlichen, aber einen schönen Anblick bietenden Tapeten; diese bestanden nämlich aus der Baumrinde von »Tuturis«, welche scheinbar schwere Falten bildete, gleich dem kostbarsten Brocat und Damast und ähnlich den reichsten Stoffen, welche man zum modernen Zimmerschmuck verwendet. Den Fußboden bedeckten schön gestreifte Jaguar- oder dichte Affenfelle. Leichte Gardinen aus röthlicher Seide, die man von dem »Suma-Uma« gewinnt, hingen an den Fenstern. Die mit Muskitoschleiern umgebenen Betten und die Kissen und Matratzen darin waren mit der elastischen und kühlen Substanz gefüllt, welche der Bombax (Wollbaum) am oberen Amazonenstrombecken liefert.

Auf den Etagèren und Consolen standen reizende Nippsachen aus Rio de Janeiro oder Belem, welche für das junge Mädchen desto mehr Werth hatten, als sie von Manoel herrührten. Was giebt es Angenehmeres für das Auge als den Anblick solch' kleiner Kunstwerkchen, solcher Gaben von geliebter Hand, welche sprechen, ohne ein Wort zu sagen?

Binnen wenigen Tagen war die innere Einrichtung soweit vollendet, daß man sich in das Haus der Fazenda selbst versetzt glaubte. Unter einer Gruppe schöner hoher Bäume und an lebendigem Wasser hätte man sich auch als immerwährende Wohnung eine bessere kaum wünschen mögen. Wenn diese zwischen den Ufern des gewaltigen Stromes hinabglitt, brauchte man nicht zu befürchten, daß sie die pittoresken Uferlandschaften vielleicht verunzierte.

Es verdient auch Erwähnung, daß dieses Wohnhaus von außen einen nicht minder freundlichen Anblick bot.


»Ich will den passenden Wald suchen«. (S. 83.)

Die jungen Leute hatten nach dieser Seite an Ge [80] schmack und Phantasie gewetteifert.

Das Haus war nämlich von dem untersten Theile bis zu den letzten Dachverzierungen hinauf buchstäblich unter grünen Blättern versteckt. Ein Dickicht von blühenden Orchideen, Bromelias und Schlingpflanzen verschiedener Art, welche in Kästen mit guter Erde wurzelten, umhüllte dasselbe von unten bis oben. Selbst der Stamm einer Mimose oder eines Feigenbaumes hätte keinen glänzenderen tropischen Schmuck tragen können. Ueberall hingen Reben mit[81] goldigen Trauben, rothschimmernde Blüthen, verschlungene Zweige am Dache, an den Fenstersimsen und Thüreinfassungen herab. Die Wälder in der Nachbarschaft der Fazenda boten ja solche Schätze im Ueberflusse dar. Eine lange Liane verband alle diese Pflanzen, schlang sich mehrere Male um das Gebäude herum, klammerte sich an allen Ecken fest, wand sich um jeden Vorsprung, theilte sich wiederum in mehrere Stränge, trieb phantastische Seitenzweige nach allen Seiten hinaus, und das Ganze verbarg das Haus soweit, daß es unter einem ungeheueren Strauße vollkommen vergraben schien.

Aus wohlberechneter Aufmerksamkeit – wer das veranlaßt hatte, ist ja leicht zu errathen – schlängelte sich das Ende dieses Cipo vor dem Fenster der jungen Mulattin herab. Es sah aus, als ob ein langer Arm ihr stets einen frischen Blumenstrauß durch die Jalousien reichen wollte.

Das ganze Arrangement war in der That reizend. Daß Yaquita, ihre Tochter und Lina davon entzückt waren, braucht wohl nicht besonders hervorgehoben zu werden.

»Wenn Ihr es wünscht, sagte Benito, verpflanzen wir auch noch einige Bäume auf die Jangada.

– Oho, gar noch Bäume! rief Minha.

– Warum nicht? mischte sich Manoel ein. Wenn wir ihnen auf dieser festen Plattform gute Erde schaffen, zweifle ich keinen Augenblick, daß sie fortkommen würden, umsomehr, als sie keinem Klimawechsel ausgesetzt wären, da der Amazonenstrom unveränderlich unter denselben Breitengraden verläuft.

– Und wälzt der Strom, fuhr Benito fort, nicht oft genug grünende Eilande mit hinab, die er von Inseln oder an den Ufern abgerissen hat? Schwimmen diese nicht dahin mit ihren Bäumen, Gebüsch und Gesträuch, mit Felsen und Wiesen achthundert Meilen weit, um sich endlich im Atlantischen Ocean zu verlieren? Weshalb sollten wir unsere Jangada nicht in einen schwimmenden Garten verwandeln können?

– Wünschen Sie sich hier einen Wald, Fräulein Lina? fragte Fragoso, dem nichts unmöglich schien.

– Ja, herrlich, einen Wald! erwiderte die junge Mulattin, einen Wald mit seinen Vögeln, seinen Affen...

– Seinen Schlangen und Jaguars!... versetzte Benito.

– Mit seinen Indianern und Nomadenstämmen... fügte Manoel ein.

– Womöglich auch mit Menschenfressern!

[82] – Aber, Fragoso, wo wollen Sie denn hin? rief Minha, als sie den flinken Barbier schon das Ufer hinauf eilen sah.

– Ich will den passenden Wald suchen, antwortete Fragoso.

– Das ist unnöthig, guter Freund, erwiderte Minha lachend. Manoel hat mir hier einen Blumenstrauß bescheert, das genügt schon. – Wahrhaftig, fuhr sie, auf das unter Blüthen versteckte Gebäude zeigend, fort, wahrhaftig, er hat unsere ganze Wohnung unter einem Blumenbouquet verborgen!«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Der Abend des 5. Juni.

Während der Erbauung des Herrenhauses hatte sich Joam Garral auch mit der Herstellung der »Communs« beschäftigt, welche die Küche und sonstigen Räume enthalten und in denen Vorräthe aller Art aufgeschichtet werden sollten.

In erster Linie ist hier eine gewaltige Menge jener sechs bis zehn Fuß langen Wurzeln zu nennen, die der Maniocstrauch treibt und aus denen die Bewohner der Tropenländer ihre hauptsächlichste Nahrung gewinnen. Diese, einem langen, schwarzen Rettig ähnelnde Wurzel wächst in Büscheln, fast wie die Kartoffel. Während sie in Afrika keine giftigen Eigenschaften zeigt, enthält sie in Südamerika dagegen einen, der Gesundheit höchst schädlichen Saft, der erst durch Auspressen entfernt werden muß. Nachher verwandelt man die Wurzeln in ein Mehl, das sehr verschieden, selbst als Stärke, von den Eingebornen verwendet wird.

Auf der Jangada befand sich eine wirkliche »Silo« 1, gefüllt mit diesem nützlichen Naturproducte, das in der Hauptsache zur Nahrung bestimmt war.

Außer einer Heerde Schafe zu erwähnen, welche in einem auf dem Vordertheile erbauten Stalle untergebracht waren, bestanden die Vorräthe an Fleisch aus einer großen Menge jener landesüblichen »Presuntoschinken« von vortrefflicher

[83] Qualität; man rechnete aber auch auf den Ertrag der Gewehre der jungen Leute und einiger Indianer, denen es auf den Inseln und in den Uferwaldungen des Amazonenstromes an Wild nicht fehlen konnte, und die ihrerseits das Wild nicht fehlen würden.

Ueberdies trug der Strom selbst nicht unerheblich zur Deckung des Lebensmittelbedarfs bei; Krabben, die schon eher den Namen Krebse verdienten, »Tambagus«, der schmackhafteste Fisch des ganzen Beckens, der den Lachs, mit dem man ihn wohl verglichen hat, doch noch übertrifft; rothschuppige »Pira-rucus«, so groß wie Störe, welche eingesalzen über ganz Brasilien versendet werden; »Candirus«, welche gefährlich zu fangen, aber gut zu essen sind; »Piranhas« oder Teufelsfische mit rothen Streifen und etwa dreißig Zoll lang; große und kleine Schildkröten, von denen es hier wimmelt und welche ebenfalls eine Hauptnahrung der Eingebornen bilden – Alles das sollte je nach Gelegenheit auf dem Tische der Herrschaft und des übrigen Personals erscheinen.

So gedachte man regelmäßig jeden Tag zu jagen und zu fischen.

Von verschiedenen Getränken waren natürlich die besten, welche das Land nur lieferte, nicht vergessen, z. B. »Caysuma« oder »Machachera« vom oberen und unteren Amazonenstrome, ein angenehmes, säuerliches Getränk, das man durch Destillation der süßen Maniocwurzel gewinnt; brasilianischer »Beiju«, der nationale Branntwein; »Chica« aus Peru; »Mazato« aus Ucayali, von gesottenen, gepreßten und gegohrenen Früchten der Banane herstammend; ferner »Guarana«, eine Art Teig aus den Kernen der Paullinia sorbilis, der Farbe nach einer Chocoladentafel gleichend, der gepulvert wird und mit Wasser angerührt einen erquickenden Labetrunk liefert.

Doch damit nicht genug. In jenen Gegenden erzeugt man auch eine Art blauvioletten Wein aus dem Safte der Assaispalmen, den die Brasilianer seines aromatischen Geschmackes wegen sehr lieben. Von demselben befanden sich an Bord eine ansehnliche Zahl Frasken, 2 welche bei der Ankunft in Para wahrscheinlich geleert waren.

Ueberhaupt machte der eigentliche Keller der Jangada Benito, dessen Obhut er anvertraut war, alle Ehre. Mehrere hundert Flaschen Xeres, Setubal und Portwein erinnerten an verschiedene, den ersten Eroberern Südamerikas theure Namen. Der junge Küfer hatte auch einige Dames jeannes 3 mit ausgezeichnetem

[84] Tafia gefüllt, mitgenommen, jenem Zuckerbranntwein, der etwas schärfer schmeckt als der gewöhnliche Beiju.

Der zum Gebrauche bestimmte Tabak bestand nicht aus jener ordinären, groben Sorte, mit welcher sich die Eingebornen des Landes zu begnügen pflegen. Er war vielmehr direct von Villa Bella da Imperatriz, das heißt aus der Gegend bezogen, welche die geschätztesten Marken in ganz Centralamerika erzeugt.

Das Hintertheil der Jangada nahm also die Hauptwohnung nebst Zubehör, wie Küche, Vorrathskammern und Keller ein; das Ganze bildete einen für die Familie Garral und deren persönliche Dienerschaft reservirten Raum.

Mehr nach der Mitte zu waren die Wohnräume für die Indianer und Schwarzen erbaut. Die Leute lebten hier ganz unter denselben Verhältnissen wie in der Fazenda von Iquitos und konnten bequem ihren Dienst unter Leitung des Piloten verrichten.

Um dieses zahlreiche Personal aber unterzubringen, bedurfte es mancher Baulichkeiten, welche der Jangada mehr das Aussehen eines auf dem Wasser treibenden Dorfes verliehen. In der That war dieses aber auch dichter bebaut und stärker bevölkert als so mancher Flecken am oberen Amazonenstrome.

Für die Indianer hatte Joam Garral wirkliche Wigwams herstellen lassen, Hütten ohne Seitenwände, deren Blätterdach von leichten Säulen getragen wurde. Ungehindert strich die Luft durch diese offenen Räume und schaukelte die darin befindlichen Hängematten hin und her. Hier hausten die Eingebornen, unter denen sich auch drei bis vier Familien mit Weib und Kind befanden, ganz ebenso wie am Lande.

Die Schwarzen dagegen fanden in der schwimmenden Ansiedlung ihre gewohnten Ajoupas. Diese unterschieden sich von den Indianerhütten dadurch, daß sie ringsum vollkommen verschlossen waren und nur eine einzige Thür den Zugang nach dem Innern derselben vermittelte. Die an das zwanglose Leben in freier Luft gewöhnten Indianer hätten sich in einer solchen Ajoupa deshalb für eingesperrt gehalten, während diese den Neigungen der Schwarzen vollkommen entsprach.

Am Vordertheile endlich erhoben sich wirkliche Docks mit den Waaren, welche Joam Garral gleichzeitig mit den Erzeugnissen seiner Wälder nach Belem schaffen wollte. In diesen weiten, der Fürsorge Benitos anvertrauten Magazinen war die reiche Fracht ebenso zweckmäßig aufgestapelt, als wäre sie im Raume eines Seeschiffes verstaut worden.

[85] In erster Reihe bildeten siebentausend Arroben 4 Kautschuk den kostbarsten Theil der Fracht, da ein Pfund dieses Materials damals noch drei bis vier Francs werthete. Die Jangada trug aber auch fünfzig Centner Sarsaparille, eine Semilacee, welche im Exporthandel des Amazonenstrom-Gebietes eine wichtige Stelle einnimmt, leider aber an den Ufern des Flusses immer seltener wird, da die Eingebornen beim Sammeln derselben sehr sorglos verfahren und die Mutterstengel beschädigen. Toncabohnen, die man in Brasilien als »Cumarus« bezeichnet und welche zur Darstellung gewisser ätherischer Oele dienen; Sassafras, aus dem ein vorzüglicher Wundbalsam gewonnen wird; Ballen mit Farbepflanzen, Kisten mit verschiedenen Gummiarten und Quantitäten theuerer Holzarten vervollständigten diese Ladung, welche in den Provinzen von Para leicht gewinnbringend verkauft werden konnte.

Vielleicht wundert sich der Leser darüber, daß von Indianern und Schwarzen nicht mehr mitgenommen wurden, als zur Führung des Riesenfloßes erforderlich waren, während es gerathener erscheinen möchte, eine größere Anzahl zur Abwehr etwaiger räuberischer Angriffe von Seiten der Uferbevölkerung zur Hand zu haben.

Das wäre jedoch nutzlos gewesen. Die Eingebornen Centralamerikas sind nicht zu fürchten und die Zeiten längst vorüber, wo man sich noch gegen Angriffe und Ueberfälle derselben waffnen mußte. Die Indianer des Uferlandes gehören friedlichen Stämmen an, die wilderen haben sich vor der Civilisation, welche am Hauptstrome und dessen Nebenarmen immer weitere Fortschritte macht, mehr und mehr zurückgezogen. Nur entlaufene Neger, Flüchtlinge aus den Strafcolonien Brasiliens, Englands, Hollands und Frankreichs wären hier vielleicht zu fürchten. Solche giebt es aber doch nur in beschränkter Anzahl; sie schweifen in schwachen Trupps durch die Wälder und Savannen; die Jangada war jedoch genügend mit Vertheidigungsmitteln versehen, um jeden Angriff solcher Waldläufer erfolgreich abzuweisen.

Uebrigens befanden sich längs des Amazonenstromes zahlreiche Militärposten, Städte, Dörfer und Missionen in Menge. Der Wasserlauf strömt keineswegs durch eine Wüstenei, sondern durch ein Gebiet, welches sich von Tag zu Tag mehr besiedelt. An eine Gefahr, wie oben angedeutet, war also hier nicht zu denken, denn ein Angriff war kaum zu befürchten.

[86] Zur Vervollständigung des Bildes der Jangada haben wir nun blos noch von zwei sehr verschiedenen Baulichkeiten zu reden, welche dazu beitrugen, ihr einen besonders merkwürdigen Anblick zu verleihen.

Ganz vorn befand sich das Häuschen des Steuermannes. Wir sagen vorn, nicht hinten, wo der Platz des Letzteren doch gewöhnlich ist. Unter vorliegenden Umständen hätte man aber ein gewöhnliches Steuerruder gar nicht gebrauchen können. Auch sehr große Ruder blieben bei der außergewöhnlichen Länge des Trains wirkungslos, selbst wenn diese von hundert kräftigen Armen gehandhabt worden wären. Man hielt die Jangada vielmehr seitlich durch lange Stacken oder Spieren, die gegen den Grund gestemmt wurden, in der Strömung oder führte sie dahin zurück, wenn sie abgewichen war. Auf diese Weise konnte man dieselbe dem einen oder anderen Ufer nähern, wenn aus irgend einem Grunde angehalten werden sollte. Drei bis vier Ubas und zwei vollständig ausgerüstete Piroguen befanden sich an Bord und vermittelten eine bequeme Verbindung mit den Ufern. Die Aufgabe des Steuermannes bestand eigentlich nur darin, das Fahrwasser aufzusuchen, die Abweichungen der Strömung zu erkennen und Wasserwirbel zu vermeiden, sowie die Buchten und anderen Stellen zu bezeichnen, an denen man bequem anlegen konnte; hierzu mußte er seinen Platz bei der gewaltigen Länge des Floßes an dessen Vordertheile einnehmen.

Wenn der Steuermann den materiellen Director der ungeheueren Maschine – ist das nicht die richtige Bezeichnung für unsere Jangada? – vorstellte, so lag die geistliche Oberleitung in der Hand eines anderen Mannes, nämlich des Padre Passanha, der bisher der Mission Iquitos vorstand.

Der jetzt siebzig Jahre zählende Padre Passanha war ein höchst rechtschaffener, für seinen geistlichen Beruf begeisterter Mann, eine ehrwürdige, herzensgute Persönlichkeit, und er erschien hierzulande, wo die Religionsdiener nicht immer lebende Tugendvorbilder sind, als der vollendetste Typus jener hochachtbaren Missionäre, welche in den verwildertsten Ländern der Civilisation so vorzügliche Dienste geleistet haben.


Ganz vorn befand sich das Häuschen des Steuermannes. (S. 87.)

In der Mission von Iquitos, deren Vorstand er war, lebte Padre Passanha schon seit fünfzig Jahren. Er hatte die Tochter des Farmers Magelhaës getraut und den jungen Beamten in der Fazenda empfangen, er hatte deren Kinder getauft, unterrichtet und hoffte auch ihrem Ehebunde noch den kirchlichen Segen zu ertheilen. Padre Passanha's Alter gestattete ihm nicht mehr, seinen anstrengenden Verrichtungen vorzustehen. Für ihn war die Zeit herangekommen, zurückzutreten.

[87] In Iquitos hatte auch schon ein jüngerer Missionär seine Stelle eingenommen, und er selbst beabsichtigte nach Para zurückzukehren, um dort seine Tage in einem jener Klöster zu beschließen, welche den ergrauten Dienern des Herrn Aufnahme bieten.

Welch' schönere Gelegenheit konnte er wohl finden, den Strom hinabzureisen, als mit dieser Familie, die er fast als die seinige betrachtete? Einen darauf bezüglichen Vorschlag hatte er mit Freuden aufgenommen, und nach dem Eintreffen in Belem sollte es ihm vorbehalten bleiben, das junge Paar, Minha [88] und Manoel, einzusegnen. Wenn Padre Passanha aber während der Dauer der Fahrt auch mit am Tische der Familie saß, so ließ es sich Joam Garral doch nicht nehmen, ihm noch eine besondere Wohnung zu erbauen, und Gott weiß mit welcher Sorgfalt Yaquita und deren Tochter sich bemühten, diese so anheimelnd und bequem als möglich einzurichten. Gewiß hatte der alte Priester sich in seiner Amtswohnung kaum je so wohl befunden.


Nun glitt die Jangada mit der Strömung dahin. (S. 93.)

Ein Pfarrhaus konnte aber dem Padre Passanha unmöglich genügen, er mußte dann auch eine Kapelle haben. Diese Kapelle wurde denn auch in der [89] Mitte der Jangada errichtet und auf dem Dache derselben ein kleiner Glockenthurm angebracht.

Sie war freilich etwas beschränkt und hätte das ganze Personal an Bord nicht fassen können; dagegen hatte man dieselbe reich geschmückt, und wenn Joam Garral seine nette Wohnung, ganz wie auf der Ansiedlung, besaß, so hatte gewiß Padre Passanha keine Ursache, die ärmliche Kirche von Iquitos zu vermissen.

Das war also das merkwürdige Bauwerk, welches den ganzen Amazonenstrom hinuntergleiten sollte. Da lag es auf dem Strande, in Erwartung, daß es das Wasser selbst flott machen würde. Nach allen Berechnungen und Erfahrungen bezüglich des Hochwassers konnte das nicht lange auf sich warten lassen.

Am 5. Juni war Alles bereit. Der am Tage vorher eingetroffene Steuermann war ein Mann von etwa fünfzig Jahren, sehr geschickt in seinem Berufe, doch daneben ein wenig dem Trunke ergeben. Trotzdem hielt Joam Garral große Stücke auf ihn und hatte denselben schon wiederholt zur Besorgung größerer Holztransporte nach Belem zu seiner Zufriedenheit verwendet.

Es muß übrigens zugestanden werden, daß Araujo – so lautete sein Name – niemals besser sah, als wenn ihm einige Glas des kräftigen Ratafia, der aus dem Safte des Zuckerrohres gewonnen wird, die Augen schärften. Er reiste auch nie ohne Begleitung einer großen, mit diesem Liqueur gefüllten Dame jeanne, der er sehr fleißig den Hof machte.

Seit einigen Tagen schon bemerkte man das Ansteigen des Stromes. Von Stunde zu Stunde hob sich das Niveau desselben, und während der achtundvierzig Stunden, welche dem höchsten Stande vorhergingen, mußte das Wasser genügend anschwellen, um den Strand der Fazenda zu überfluthen, nicht aber, um den Holztrain schon flott zu machen.

Da man sich über die Höhe, welche das Wasser gegenüber dem niedrigsten Stande desselben erreichen mußte, vollkommen im Klaren war, erwarteten alle Betheiligten diese Stunde mit leicht erklärlicher Erregung. Wenn aus unerklärlicher Ursache das Wasser des Amazonenstromes nämlich nicht genug anschwoll, um die Jangada aus dem Sande zu heben, so hätte man ja die ganze gewaltige Arbeit von vorn beginnen müssen. Da die Abnahme der Hochfluth aber sehr schnell vor sich zu gehen pflegt, so hätte man auch lange Monate warten müssen, bevor ähnliche Verhältnisse wieder eintraten.

[90] Am 5. Juni gegen Abend hatten sich die künftigen Passagiere der Jangada nach einer kleinen Anhöhe begeben, welche den Strand um etwa hundert Fuß überragte, wo sie die entscheidende Stunde mit begreiflicher Spannung, fast mit Angst erwarteten.

Hier befanden sich Yaquita, ihre Tochter, Manoel Valdez, der Padre Passanha, Benito, Lina, Fragoso, Cybele und mehrere indianische und schwarze Diener aus der Fazenda.

Fragoso freilich konnte unmöglich Stand halten, lief zum Strande hinab und wieder nach der Höhe hinauf, machte Merkzeichen und stieß ein Hurrah nach dem andern aus, wenn die Wellen dieselben erreichten.

»Er wird schwimmen, er wird schwimmen, rief er, der herrliche Zug, der uns nach Belem befördern soll! Er wird schwimmen und müßten sich alle Katarakte der Welt öffnen, um den Amazonenstrom zu schwellen!«

Joam Garral befand sich mit dem Steuermanne und zahlreicher Mannschaft auf dem Floße. Er mußte bei der Hand sein, um im letzten Augenblicke alle nöthig erscheinenden Maßregeln anzuordnen.

Ein ganzer Stamm von hundertfünfzig bis zweihundert Indianern aus der Nähe von Iquitos, abgesehen von den Bewohnern des Dorfes selbst, war zusammengeströmt, um dem interessanten Schauspiele beizuwohnen.

Alle Augen richteten sich nach einem Punkte, und in der erregten Menge herrschte doch ein tiefes Schweigen.

Um fünf Uhr Abends war das Wasser gegen dieselbe Zeit des vorhergehenden Tages um einen Fuß gestiegen und der ganze Strand verschwand schon unter den wirbelnden Wellen.

In den Planken und Bohlen des gewaltigen Baues begann es leise zu knarren, es fehlten aber noch einige Zoll Wasser, um denselben ganz aufzuheben.

Eine Stunde hindurch nahm das Knarren und Aechzen mehr und mehr zu. Die Planken knackten überall; nach und nach hoben sich die Stämme aus dem Sande. Gegen sechseinhalb Uhr erscholl lautes Freudengeschrei. Die Jangada schwamm endlich und die Strömung suchte sie nach der Mitte des Wassers hin zu ziehen. In Folge der Gegenwirkung der Taue aber, legte sie sich ruhig längs des eigentlichen Ufers an, gerade als der Padre Passanha seinen Segen über sie sprach, wie er ein Seeschiff eingesegnet hätte, dessen Schicksal in der Hand des Herrn ruht.

[91]
Fußnoten

1 »Silos« nennt man in heißen Ländern eigentlich flaschenförmig ausgehobene Gruben, welche durch Feuer ausgetrocknet werden und zur Aufbewahrung von Nahrungsmitteln dienen.

2 Die portugiesische Fraske enthält gegen zwei Liter.

3 Der Inhalt einer solchen großen Flasche schwankt zwischen fünfzehn und fünfundzwanzig Liter.

4 Die spanische Arrobe beträgt ungefähr fünfundzwanzig Pfund, die portugiesische etwas mehr, nämlich gegen zweiunddreißig Pfund.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Von Iquitos nach Pevas.

Am folgenden Tage, am 6. Juni, nahm Joam Garral und seine Familie Abschied von dem Intendanten und dem indianischen und schwarzen Personal, das auf der Fazenda zurückblieb. Um sechs Uhr Morgens nahm die Jangada alle ihre Passagiere – richtiger ihre Bewohner – auf, und jeder bezog seine Cabine oder vielmehr das für ihn bestimmte Haus.

Die Stunde der Abreise war da. Der Steuermann Araujo postirte sich am Vorderende und die Mannschaft mit ihren langen Stangen an der geeigneten Stelle. Joam Garral leitete mit Hilfe Benitos und Manoels das Abstoßen vom Lande.

Auf das Commando des Piloten wurden die Taue gelöst, die Stangen gegen das Ufer eingestemmt, um die Jangada abzudrängen, und sofort erfaßte sie die Strömung, mit der das Floß längs des linken Ufers hinabglitt und die Inseln Iquitos und Parianta rechts liegen ließ.

Begonnen war nun die Fahrt – enden sollte sie in Para und zwar in Belem; achthundert Meilen von dem kleinen peruanischen Dörfchen, wenn kein Zwischenfall den entworfenen Plan zerstörte. Wie sie ausgehen würde, dieses Geheimniß barg die Zukunft noch in ihrem Schoße.

Das Wetter ließ sich prächtig an. Ein mäßiger »Pampero« minderte die Gluth der Sonnenstrahlen. Dieser im Juni und Juli nicht so seltene Wind weht von einigen hundert Meilen weit von den Cordilleren herab und streicht über die unendliche Ebene von Sacramento. Hätte die Jangada Maste und Segel gehabt, so würde sie unter der Wirkung der leichten Brise schneller dahingeglitten sein; bei den vielen Ecken und scharfen Biegungen des Stromes aber mußte man auf die Mithilfe eines solchen Motors von vornherein verzichten.

In einem so flachen Bassin wie das des Amazonenstromes, das eigentlich nur eine endlose Ebene darstellt, kann ein Flußbett selbstverständlich nur geringe Neigung haben. Man hat auch berechnet, daß die Niveaudifferenz zwischen Tabatinga an der brasilianischen Grenze und der Quelle dieses großen Wasserlaufes einen Centimeter per Meile nicht übersteigt. Nirgends in der Welt hat ein großer Strom einen so geringen Fall.

[92] Die Stromschnelligkeit des Amazonenstromes wird denn auch bei mittlerem Wasserstande nur zu zwei Meilen in vierundzwanzig Stunden angenommen und diese zur Zeit des geringsten Wasserstandes noch nicht einmal erreicht. Während des Hochwassers freilich hat man dieselbe bis auf dreißig bis vierzig Kilometer wachsen sehen.

Unter letzteren Verhältnissen sollte die Fahrt der Jangada vor sich gehen; bei ihrer schweren Beweglichkeit nahm sie aber noch nicht einmal die Geschwindigkeit der Strömung, die ihr vorauseilte, an.

Unter Berücksichtigung der zahlreichen Verzögerungen durch die Windungen des Flußbettes, durch die vielen Inseln, welche vorsichtig umschifft werden mußten, ferner die Aufenthalte, welche ja abzurechnen waren, und der zu dunklen Nächte, wo man sich nicht ohne Gefahr weiter wagen konnte, durfte der täglich zurückzulegende Weg auf mehr als fünfundzwanzig Kilometer nicht veranschlagt werden.

Die Oberfläche des Stromes ist übrigens keineswegs rein und frei, vielmehr treiben auf derselben noch grüne Bäume, abgerissene Aeste und ganze Inseln aus Gras und Gesträuch, die vom Ufer abgehoben werden, mit der Strömung hinab und bilden natürlich ebenso viele Hindernisse für eine schnelle Schiffsbewegung.

Bald ließ man die Mündung des Nanay hinter sich, welche ein Vorsprung des linken Ufers verdeckte, auf dem vom Sonnenbrande gebräunte Getreidefelder das Vorland des tiefgrünen, kühleren Waldes bilden.

Nun glitt die Jangada mit der Strömung zwischen den zahlreichen, pittoresken Inseln dahin, deren man von Iquitos bis Pucalppa ein ganzes Dutzend zählt.

Araujo, der es nicht versäumte, Augen und Gedächtniß gelegentlich durch einen tüchtigen Schluck aus seiner Maßkanne zu kräftigen, lenkte das Fahrzeug geschickt inmitten dieses Archipels. Auf seinen Wink hoben und senkten sich auf jeder Seite des Floßes fünfzig lange Stangen in einem Augenblicke, was in der That einen merkwürdigen Anblick bot.

Inzwischen bemühte sich Yaquita mit Hilfe Linas und Cybeles die letzte Hand an die innere Einrichtung des Wohnhauses zu legen, während sich die indianische Köchin schon mit der Vorbereitung zum Frühstück beschäftigte.

Die beiden jungen Männer und Minha lustwandelten in Begleitung des Padre Passanha auf dem Deck hin und her, doch blieb Minha zuweilen stehen, um die rings um das Haus angebrachten Pflanzen zu begießen.

[93] »Nun, ehrwürdiger Vater, begann Benito, kennen Sie eine angenehmere Art des Reisens?

– Nein, liebes Kind, antwortete Padre Passanha, es ist wirklich, als ob man mit seinem ganzen Heim unterwegs wäre!

– Und so bequem dazu, daß man von Hunderten von Meilen keine Anstrengung spürt.

– Sie werden, fiel Minha ein, gewiß nicht bereuen, mit uns gereist zu sein. Erscheint es Ihnen nicht so, als wären wir auf einer Insel, die, vom Bettrand des Stromes abgelöst, mit ihren Wiesen und Bäumen stromabwärts triebe? Nur daß...

– Nun, nur daß?... wiederholte Padre Passanha.

– Daß diese Insel, Padre, das Werk unserer eigenen Hand ist, daß sie uns gehört und ich sie allen übrigen Inseln des Amazonenstromes vorziehe. Ich habe wohl ein Recht, etwas stolz auf sie zu sein!

– Gewiß, liebe Tochter, erwiderte Padre Passanha, ich absolvire Dich auch gern von dieser sonst sündhaften Empfindung des Stolzes. Zudem würde ich mir nicht erlauben, in Gegenwart Manoels auf Dich zu schelten.

– O, erst recht, rief das junge Mädchen heiter. Manoel mag es immer lernen, mich zu schelten, wenn ich es verdiene. Jetzt ist er gegen meine kleine Person, die ja auch ihre Fehler hat, gar zu nachsichtig.

– Nun, liebe Minha, nahm Manoel das Wort, dann werde ich gleich von Deiner Erlaubniß Gebrauch machen, um Dich zu erinnern...

– An was?

– Daß Du die Bibliothek der Fazenda so emsig durchstudirt und mir versprochen hast, mich über Alles, was den oberen Amazonenstrom betrifft, aufzuklären. In Para kennen wir denselben nur sehr mangelhaft; hier zeigen sich nun schon verschiedene Inseln auf dem Wege der Jangada, ohne daß Du daran denkst, mir auch nur deren Namen zu nennen.

– Ja, wer wäre das im Stande? rief das junge Mädchen.

– Nein, das ist zuviel verlangt, bekräftigte Benito seiner Schwester Worte. Wer vermöchte die Hunderte von Namen der »Tupisprache« im Gedächtniß zu behalten, welche alle jene Inseln und Eilande tragen. Damit käme kein Mensch zurecht. Die Amerikaner verfahren bezüglich ihrer Mississippi-Inseln praktischer, sie numeriren dieselben...

[94] – Wie sie die Avenuen und Straßen ihrer Städte numeriren, fuhr Manoel fort. Offen gestanden, liebe ich dieses todte Numerirungssystem nicht besonders. Es giebt doch der Einbildungskraft gar keine Nahrung, wenn man von der vierundsechzigsten Insel, von der fünfundsechzigsten spricht, oder wenn man eine Straße als die sechste in der dritten Avenue bezeichnet. Bist Du nicht auch meiner Meinung, liebe Minha?

– Gewiß, Manoel, mein Bruder hat da seine eigene Ansicht, bestätigte das junge Mädchen. Kennen wir aber auch ihre Namen nicht, so sind die Inseln unseres großen Stromes doch nicht minder schön! Seht, wie sie daliegen unter dem Schatten riesenhafter Palmen mit zurückgebogenen Fächerblättern! Und der Kranz von Rosengebüsch, der sie so dicht umschließt, daß kaum eine schmale Pirogue sich hindurchzwängen könnte! Dazu die Mangobäume, deren merkwürdige Wurzeln sich gleich Klauen eines ungeheueren phantastischen Geschöpfes an den Uferrand klammern! O, diese Inseln sind herrlich und schön – das Eine fehlt ihnen, sie können sich nicht wie die unsrige von der Stelle bewegen!

– Meine kleine Minha läßt ihrer Phantasie heute ein wenig die Zügel schießen, bemerkte Padre Passanha lächelnd.

– Ach, würdiger Vater, antwortete das junge Mädchen, ich fühle mich so glücklich, Alles ringsum so glücklich und zufrieden zu sehen!«

Da erscholl die Stimme Yaquitas, welche Minha nach dem Innern des Hauses rief.

Lachend hüpfte das junge Mädchen von dannen.

»Sie werden an ihr eine liebenswürdige Gefährtin für das spätere Leben haben, sagte Padre Passanha zu dem jungen Manne. Der ganzen Familie Glück und Freude führen Sie hinweg, lieber Freund!

– Mein Herzensschwesterchen! fügte Benito hinzu. Wie werden wir sie vermissen! Ja, der Padre hat Recht. Doch, wenn Du sie nun nicht heiratetest, Manoel!... Jetzt wär's noch Zeit, da bliebe sie bei uns!

– Sie wird auch bei Euch bleiben, Benito, erwiderte Manoel. Glaube mir, ich ahne, daß die Zukunft uns Alle vereinen wird!«

Der erste Reisetag verlief ganz nach Wunsch. Frühstück, Mittagsmahl, Siesta, Promenaden – Alles blieb in seiner Ordnung, ganz wie auf der Fazenda von Iquitos.

Während der ersten vierundzwanzig Stunden fuhr man ohne Zwischenfall an den Mündungen der Rios Bacali, Chochio und Pucalppa am linken,


An der Mündung dieses Flusses zeigten sich einige Indianer. (S. 98.)

an denen der Rios Itinicari, Maniti, Moyoc und Tuyu [95] ca am rechten Ufer, sowie an den gleichnamigen Inseln vorüber. Da die Nacht mondhell war, brauchte man nicht anzuhalten, und das große Floß glitt friedlich auf dem gewaltigen Amazonenstrome weiter.

Am folgenden Tage, am 7. Juni, kam die Jangada nach dem Ufer am Dorfe Pucalppa, das auch Neu-Oran genannt wird. Das fünfzehn Meilen stromabwärts und ebenfalls am linken Ufer gelegene alte Oran ist jetzt verlassen; die Bevölkerung des erstgenannten besteht aus Indianern von dem Mayorunas-, [96] und dem Orejones-Stamme. Kaum vermag man sich einen pittoreskeren Anblick zu denken, als den dieses Dorfes, dessen Vorland mit Röthel gefärbt erscheint, mit seiner unvollendeten Kirche, seinen Hütten, über deren Strohdächer schlanke Palmen ihr Haupt erheben, und mit den wenigen, halb auf dem Strande liegenden Ubas, welche die Bewohner besitzen.

Auch im Laufe des 7. Juni folgte die Jangada immer dem linken Ufer und passirte dabei verschiedene unbekannte und unbedeutende Nebenflüsse. Einmal drohte sie, an der stromaufwärts gerichteten Spitze der Insel Sinicuro [97] aufzulaufen; dem von seinen Leuten kräftig unterstützten Piloten gelang es aber, dieser Gefahr zu entkommen und sich richtig in der Strömung zu erhalten.

Gegen Abend befand man sich einer länger ausgedehnten Insel gegenüber, der Insel Napo, benannt nach dem Flusse, der hier von Nordnordwesten herkommend seine Wassermassen durch eine etwa achthundert Meter breite Mündung mit dem Amazonenstrome vereinigt, nachdem er vorher die Gebiete der Cotos-Indianer vom Orejones-Stamme durchströmt hat.


Man erlangte verschiedene ausgezeichnete Fische. (S. 101.)

Am Morgen des 8. Juni glitt die Jangada an der kleinen Insel Mango vorbei, die den Napo zu einer Theilung in zwei Arme zwingt, bevor er in den Amazonenstrom fällt.

Einige Jahre später suchte ein französischer Reisender, Namens Paul Marcoy, die Farbe des Wassers in diesem Nebenstrome zu bestimmen, die er ganz richtig mit der absynthähnlichen Färbung des grünen Opals vergleicht. Daneben beabsichtigte er auch einige Maßangaben La Condamine's zu berichtigen, traf aber die Mündung des Napo vom Hochwasser geschwellt an, während die Strömung unter dem Drucke der von dem Ostabhange des Cotopaxi herabstürzenden Wassermassen eine sehr heftige war und sich brandend und zischend mit den gelblichen Fluthen des Amazonenstromes vermischte.

An der Mündung dieses Flusses zeigten sich einige Indianer. Sie waren kräftig gebaut, hoch von Wuchs, hatten offene, flatternde Haare und trugen durch die Nasenscheidewand ein Stäbchen von Palmenholz, und im Ohrläppchen, das dadurch bis zur Schulter verlängert wurde, schwere Scheiben aus kostbarem Holze. In ihrer Gesellschaft befanden sich einzelne Frauen. Keiner derselben schien aber an Bord kommen zu wollen.

Man ist der Meinung, daß diese Eingebornen Menschenfresser seien; dieselbe Beschuldigung wird aber in Bezug auf so viele, längs der Stromufer siedelnde Stämme erhoben, daß man, wenn jene Beschuldigung begründet wäre, gewiß schon mehr Beweise dafür in Händen hätte, die noch bis heute gänzlich fehlen. Einige Stunden später erschien an einer ziemlich niedrigen Uferstelle das Dorf Bella Vista mit seinen prächtigen Baumgruppen, die eine Anzahl strohgedeckter Hütten überragten, auf welche mittelhohe Bananen ihre breiten Blätter gleich Wasserstrahlen aus einem überlaufenden Becken herabfallen ließen.

Der Steuermann führte, um besseres Fahrwasser aufzusuchen, den Train nun nach dem rechten Stromufer, dem er sich bisher noch nicht genähert hatte.

[98] Dieses Manöver bot zwar einige Schwierigkeiten, doch wurden dieselben, unter wiederholter Inanspruchnahme der Maßkanne, glücklich überwunden.

Bei dieser Gelegenheit wurden auch einige der zahlreich vorkommenden Lagunen sichtbar, die sich längs des ganzen Amazonenstromes eingestreut finden und oft keinerlei Zusammenhang mit dem Flusse haben. Eine solche von mittlerem Umfange, die Lagune von Oran genannt, erhielt ihren Zufluß durch eine breite Oeffnung. In der Mitte des Flusses liegen mehrere Inseln und eigenthümlich gruppirte Eilande, am rechten Ufer erkannte Benito die Stelle des alten Oran, von dem freilich nur noch unscheinbare Spuren vorhanden waren.

Je nach dem Verlaufe der Strömung hielt sich die Jangada abwechselnd näher dem rechten oder dem linken Ufer und kam davon, ohne irgend anzustoßen oder zu streifen. Die Passagiere hatten sich an die jetzige Lebensweise schon vollständig gewöhnt. Joam Garral, der seinem Sohne die Sorge für die commercielle Seite der Expedition vollkommen überließ, hielt sich meist nachdenkend und mit Schreiben beschäftigt in seinem Zimmer auf. Ueber den Inhalt seiner Arbeit machte er Niemand, nicht einmal Yaquita, eine Mittheilung, und doch schien jene allmählich den Umfang einer wirklichen Abhandlung anzunehmen.

Benito hatte die Augen überall, besprach sich mit dem Steuermanne und bestimmte mit diesem die Fahrtrichtung. Yaquita, ihre Tochter und Manoel blieben gewöhnlich zusammen und unterhielten sich entweder über Zukunftspläne oder spazierten nur umher, als befänden sie sich im Park der Fazenda. Ihre Lebensweise schien gar keine Veränderung erlitten zu haben. Von Benito freilich konnte man nicht dasselbe sagen, denn er hatte noch keine Gelegenheit gefunden, seiner Jagdliebhaberei zu fröhnen. Wenn ihm die Wälder von Iquitos mit ihren Raubthieren, den Agoutis, Peccaris und Wasserschweinen fehlten, so flatterten doch ganze Schwärme von Vögeln umher und scheuten sich auch nicht, zuweilen auf die Jangada selbst herabzukommen. War es eßbares Geflügel, so schoß Benito wohl auf dieselben, und dann erhob auch seine Schwester, da Allen ein Vortheil daraus erwuchs, keinen Widerspruch; kamen aber gelbliche oder graue Reiher, rothe oder weiße Ibisse, welche das Uferland fleißig besuchen, auf das Floß, so blieben diese aus Rücksicht für Minha verschont. Nur eine, wenn auch nicht eßbare Art Silbertaucher fand in den Augen des jungen Kaufmannes keine Gnade, nämlich der »Caiarara«, der ebenso leicht taucht wie er fliegt und schwimmt, und dessen Flaum auf allen Märkten des Amazonenbassins hoch im Preise steht.

[99] Nachdem sie noch bei dem Dorfe Omaguas und an der Mündung des Ambiacu vorüber gekommen, langte die Jangada endlich, am 11. Juni gegen Abend, in Pevas an und wurde daselbst am Ufer verankert.

Da es vor Ablauf einiger Stunden noch nicht Nacht werden konnte, ging Benito, der den allzeit bereiten Fragoso mitnahm, an's Land, wobei die beiden Jäger das Gehölz in der Umgebung des kleinen Fleckens absuchten. Ein Agouti und ein Wasserschwein, nebst einem Dutzend Rebhühner lieferte dieser glückliche Ausflug zur Bereicherung der Speisekammer.

In Pevas, dessen Einwohnerzahl auf zweihundertsechzig angegeben wird, hätte Benito vielleicht einige Geschäfte mit den Laienbrüdern der Mission, welche ebenfalls Großhandel betreiben, machen können; diese hatten aber erst vor Kurzem Ballen mit Sarsaparille und eine Anzahl Arroben Kautschuk nach dem niederen Amazonenstrom abgesendet, so daß ihre Magazine jetzt leer standen.

Die Jangada fuhr also mit Tagesanbruch wieder ab und gelangte in den, von den Inseln Jatio und Cochiquinas gebildeten Archipel, während sie das Dorf gleichen Namens zur Rechten liegen ließ. Durch die Zwischenräume jener Inseln bemerkte man dabei die Mündungen verschiedener unbedeutender und deshalb namenloser Zuflüsse.

Einzelne Eingeborne mit geschorenem Kopfe und Tätowirungen an Stirn und Wangen, welche an den Nasenflügeln und unterhalb der Unterlippe metallene Scheibchen trugen, erschienen vorübergehend an den Ufern. Sie waren mit Pfeilen und Sarbacanen (eine Art Blasrohr) bewaffnet, machten davon jedoch keinen Gebrauch und versuchten überhaupt nicht, sich mit der Jangada in Verbindung zu setzen.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Von Pevas nach der Grenze.

Während der nächstfolgenden Tage ging die Reise ohne bemerkenswerthe Zwischenfälle von statten. Die Nächte waren so schön, daß der lange Holzzug ohne Aufenthalt mit der Strömung weiter trieb. Die beiden reizenden Ufer des [100] Flusses schienen fortzurücken, wie die Panoramen, welche vor den Augen des Zuschauers vorübergezogen werden. In Folge einer optischen Täuschung, an welche die Augen sich unbemerkt gewöhnten, schien die Jangada still zu stehen und das Uferland zu beiden Seiten sich rückwärts zu bewegen.

Benito konnte jetzt natürlich nicht auf die Jagd gehen, da nirgends Halt gemacht wurde; das fehlende Wild wurde dafür aber durch den reichen Ertrag des Fischfangs ersetzt.

Man erlangte dadurch nämlich viele verschiedene und ausgezeichnete Fische, wie »Pacos«, »Surubis«, »Gamitanas« mit vortrefflichem Fleische, und mehrere Exemplare jener großen »Duridaris« genannten Rochen, die am Bauche roth, am Rücken schwarz gefärbt sind und ziemlich giftige Stacheln besitzen. Zu Tausenden fing man auch »Candirus«, eine Art kleiner Welse, von denen eine Abart mikroskopisch klein ist und den Badenden, der unvorsichtiger Weise unter dieselben geräth, scheinbar mit einer weichen Kruste von Schlamm überzieht.

Die Fluthen des Amazonenstromes waren aber auch von anderen Wasserthieren bevölkert, welche die Jangada manchmal stundenlang begleiteten.

Da gab es riesige, zehn bis zwölf Faß lange, »Pirarucus« mit breiten, scharlachroth geränderten Schuppen, deren Fleisch freilich nur von den Eingebornen gegessen wird. Diesen stellte man natürlich nicht nach, so wenig wie den großen zahllosen Delphinen, welche sich zu Hunderten lustig umhertummelten, mit dem Schwanze an die Planken des Floßes schlugen, vor und hinter demselben ihr Spiel trieben und die Wellen des Flusses mit farbigen Reflexen und Wasserstrahlen schmückten, die sich durch Lichtbrechung in ebensoviele Regenbogen verwandelten.

Am 16. Juni traf die Jangada, nachdem sie bei Annäherung an die Ufer mehrere Untiefen glücklich passirt hatte, an der großen Insel San Pablo ein und hielt am nächstfolgenden Abend bei dem am linken Ufer des Amazonenstromes gelegenen Dorfe Moromoros an. Nach weiteren vierundzwanzig Stunden, während der sie an den Mündungen des Atacoari, des Cocha und endlich des »Furo« oder des Kanals vorüberkamen, der mit dem See von Cabello Cocha in Verbindung steht, hielt sie am rechten Ufer in der Höhe der Mission von Cocha an. Hier ist das Land der Mara huas-Indianer, die rings um den Mund eine Art Fächer von sechs Zoll langen Palmendornen tragen, was ihnen eine gewisse Aehnlichkeit mit einer Katze verleiht, eine Sitte, welche, nach Paul Marcroy's Angabe, daher rührt, daß sie sich bemühen, an Aussehen dem Tiger zu gleichen, [101] den sie seiner Kühnheit, Kraft und Schlauheit wegen über Alles hochhalten. Es ließen sich auch einige Marahuasweiber sehen, welche rauchten, das brennende Ende der Cigarre aber zwischen den Zähnen hielten. Wie der König der Amazonenwälder gingen Alle nahezu nackt.

Die Mission von Cocha wurde jener Zeit von einem Franziskanermönch geleitet, der dem Padre Passanha einen Besuch abzustatten wünschte.

Joam Garral nahm den Geistlichen sehr zuvorkommend auf und lud ihn sogar ein, an der Familientafel Platz zu nehmen.

Gerade an diesem Tage machte das Mittagessen der indianischen Köchin alle Ehre.

Die herkömmliche Bouillon mit würzigen Kräutern, Pastete, welche meist als Ersatz des brasilianischen Brotes genossen und aus Maniocmehl mit Fleischbrühe und Tomatensauce hergestellt wurde, Reis mit Geflügel in pikanter Sauce aus Essig und »Malagueta«, ein Gericht aus gewürztem Gemüse, mit Zimmet überstreuter Kuchen, das war schon ein außerordentlicher Speisezettel für den armen Mönch, der sich meist auf die mageren Fastenspeisen des Kirchspiels beschränkt sah. Man suchte ihn also zurückzuhalten. Yaquita und ihre Tochter thaten dazu Alles, was in ihren Kräften stand, der Franziskaner mußte aber noch denselben Abend einen in Cocha krank darniederliegenden Indianer besuchen. Er dankte also für das gastfreundliche Anerbieten und ging wieder weg, nachdem ihm einige Geschenke aufgenöthigt worden waren, die von den Neubekehrten seiner Mission gewiß willkommen geheißen wurden.

Die beiden nächsten Tage hatte der Pilot Araujo viel zu thun. Das Bett des Stromes erweiterte sich zwar mehr und mehr, es lagen aber auch zahlreiche Inseln darin und die Schnelligkeit der durch jene Hindernisse verengerten Strömung nahm merkbar zu. Es bedurfte aller Vorsicht, um zwischen den Inseln Caballo-Cocha, Tarapote und Cacao hindurchzukommen, auch mußte wiederholt Halt gemacht und die Jangada mehrmals von Sandbänken, auf welche sie zu laufen drohte, abgedrängt werden. Dann waren alle Hände bei der Arbeit und unter solchen schwierigen Umständen kam am Abend des 20. Juni Nuestra Senora de Loreto in Sicht.

Loreto ist die letzte peruanische Stadt am linken Stromufer, ehe man an die Grenze von Brasilien gelangt. Eigentlich besteht sie nur aus einem Dorfe mit gegen zwanzig Häusern auf hügeligem Lande, dessen Hervorragungen aus Ockererde und Thon gebildet sind.

[102] Die Mission daselbst wurde von jesuitischen Missionären im Jahre 1770 gegründet. Die Ticumas-Indianer, welche die Gebiete nördlich vom Strome bewohnen, haben röthliche Haut, dichtes Haar und sehen mit ihrem streifig bemalten Gesicht fast wie ein lackirter chinesischer Tisch aus; Männer und Frauen tragen als Kleidung weiter nichts als Baumwollenstücke, die sie um Brust und Lenden winden. Ihre Anzahl an den Ufern des Atacoari wird auf höchstens zweihundert geschätzt, der letzte Rest einer sonst mächtigen Nation, die von vielen Häuptlingen beherrscht wurde.

In Loreto lebten auch einige peruanische Soldaten und zwei oder drei portugiesische Kaufleute, welche mit Baumwollenstoffen, gesalzenen Fischen und Sarsaparille Handel trieben.

Benito ging an's Land, um womöglich einige Ballen dieser, auf allen Märkten am Amazonenstrome sehr gesuchten Smilacee einzukaufen. Joam Garral unterbrach auch hier seine Arbeit nicht, welche überhaupt alle seine disponible Zeit in Anspruch nahm. Yaquita, ihre Tochter und Manoel blieben ebenfalls an Bord der Jangada. Die Muskitos von Loreto sind nämlich so berüchtigt, daß sie Jedermann, der nicht entschlossen ist, den entsetzlichen Dipteren etwas von seinem Blute zum Opfer zu bringen, von einem Besuche der Stadt abhalten.

Manoel hatte darüber einige Worte geäußert, welche Niemand Lust machen konnten, sich den Stichen jener Insecten auszusetzen.

»Man behauptet, fügte er hinzu, daß die neun Arten, welche an den Ufern des Amazonenstromes vorkommen, sich bei dem Dorfe Loreto ein Stelldichein zu geben pflegen. Ich will es glauben, ohne es übrigens beweisen zu können. Du wirst hier, liebe Minha, also die Auswahl haben zwischen den grauen, den behaarten, den weißfüßigen und den Zwergmuskitos, zwischen den Fanfarenbläsern, den kleinen Querpfeifern, den Urtuquis, Harlequins, den großen Negern und den Waldfüchsen, oder sie würden vielmehr über Dich ohne Auswahl herfallen, so daß Du gewiß ganz unkenntlich zurückkämst. Ich habe die Ueberzeugung, daß diese blutdürstigen Dipteren die brasilianische Grenze besser schützen als die elenden, mageren armen Teufel von Soldaten, die wir dort am Strande sehen!

– Wenn aber Alles in der Natur einen Zweck hat, fragte das junge Mädchen, zu was in aller Welt sind die Muskitos da?

– Wahrscheinlich nur zum Ergötzen der Entomologen, antwortete Manoel, ich wäre mindestens außer Stande, Dir eine bessere Aufklärung zu geben.«


Auf der Jangada waren alle Leute auf dem Posten. (S. 106.)

Was Manoel über die Muskitos von Loreto gesagt hatte, war nur allzurichtig. Zum Beweise dafür erschien auch Benito, als er nach Abschluß seiner Einkäufe wieder an Bord kam, im Gesicht und an den Händen von Tausenden rother Punkte tätowirt, ohne die Sandflöhe zu erwähnen, die sich trotz dichter Le [103] derstiefeln unter seinen Zehen eingenistet hatten.

»Fort, fort, so schnell als möglich! rief Benito. Die Legionen verwünschter Insecten könnten uns sonst überfallen und die Jangada wäre gar nicht mehr zu bewohnen.


Wir werden gleich die brasilianische Grenze passiren. (S. 111.)

– Und dazu importirten wir jene auch noch nach [104] Para, setzte Manoel hinzu das für den eigenen Bedarf schon mehr als genug besitzt!«

Um die Nacht nicht an diesem gefährlichen Strande zu verbringen, wurde die Jangada losgemacht und nach der Strömung geschoben.

Von Loreto aus wendete sich der Amazonenstrom zwischen den Inseln Arava, Cuyari und Urucutea etwas nach Südosten. Die Jangada glitt jetzt auf den schwarzen Wellen des Cajaru hin, die sich nach und nach mit dem helleren Wasser des Amazonenstromes vermischen. Nachdem man am Abend des 23. Juni[105] diesen Zufluß des linken Ufers hinter sich gelassen, fuhr dieselbe längs der großen Insel Jahuma friedlich weiter.

Der Sonnenuntergang am reinen Horizont versprach eine jener herrlichen tropischen Nächte, welche man in den gemäßigten Zonen fast gar nicht kennt. Ein leichter Wind kühlte die Luft. Bald stieg der Mond am sternenbeglänzten Himmel empor und ersetzte während einiger Stunden die in jenen niedrigen Breiten fehlende Dämmerung. Dabei leuchteten aber die Sterne in unvergleichlicher Reinheit. Die ungeheuere Fläche des Wasserbeckens schien sich bis ins Unendliche auszudehnen, so daß man sich auf ein Meer versetzt glaubte, und an den Enden dieser, über zweihunderttausend Millionen Meilen langen Achse erschienen im Norden der vereinzelte Diamant des Polarsternes, im Süden die vier Brillanten des südlichen Kreuzes.

Die Bäume des linken Ufers und die der Insel Jahuma wurden nur in ihren schwarzen Umrissen sichtbar. Nur an ihrer Silhouette konnte man die Stämme oder vielmehr die Säulenschäfte der Copahus unterscheiden, die sich schirmartig ausbreiten, die Gruppen von »Sandis«, aus denen ein dicklicher Saft gewonnen wird, der gleich dem Weine berauschen soll, die achtzig Fuß hohen »Vignaticos«, deren Gipfel bei der leichten Luftströmung schwankten.

»Welch' ergreifende Predigt, diese Wälder des Amazonenstromes!« hat man gewiß mit Recht gesagt. Man hätte auch noch hinzusetzen können: »Welch' entzückender Lobgesang, diese tropischen Nächte!«

Die Vögel ließen ihr letztes Abendlied erschallen; »Bentivis«, die in den Rosengebüschen des Ufers nisteten; »Niambus«, eine Art Rebhühner, deren Gesang aus vier vollkommen harmonirenden Tönen besteht und welchen andere Vögel wohl oder übel nachzuahmen suchten; »Kamichis« mit klagenden Tönen; Taucherenten, deren Geschrei gleich einem Signal auf das Geschrei anderer Genossen zu antworten scheint; »Canindes« mit scharfer durchdringender Stimme; und rothe »Aras«, die in den Blätterkronen der »Jaquetibas« umherflattern, deren glänzende Farben bei dem nächtlichen Dunkel verschwanden.

Auf der Jangada waren alle Leute auf dem Posten, aber gemächlich hingestreckt. Nur die hohe Gestalt des Steuermannes war auf dem Vordertheile zu sehen, wenn auch im Schatten der Nacht nur undeutlich zu unterscheiden. Einzelne Wachtposten mit langen Stangen auf der Schulter erinnerten an ein Lager tatarischer Reiter. Am Flaggenstocke hing die brasilianische Fahne am Vordertheile des Trains, der Wind war aber nicht stark genug das Flaggentuch zu entfalten.

[106] Um acht Uhr ertönten die drei ersten Glockenschläge zum Nachtgebete von dem Thürmchen der Kapelle.

Wiederum ertönen die hellen Glocken nach dem zweiten und dritten Verse und zuletzt begleiteten die schnelleren Schläge der kleineren Glocke die Salutation.

Die ganze Familie war nach dem schönen Junitage unter der Veranda sitzen geblieben, um noch eine Zeit lang die frische Luft zu genießen. Bis jetzt hatte man es jeden Abend so gehalten, und während Joam Garral immer stillschweigend sich begnügte, den Anderen zuzuhören, plauderten die jungen Leute bis zur Schlafenszeit.

»O, unser schöner Fluß! Unser prächtiger Amazonenstrom! rief das junge Mädchen, dessen Begeisterung für den großen südamerikanischen Strom überall hindurchbrach.

– Gewiß, ein Strom ohne Gleichen! antwortete Manoel, ich lerne dessen Reize immer mehr und mehr bewundern. Wir fahren jetzt auf demselben hinab wie vor Jahrhunderten Orellana, wie La Condamine, und ich erstaune nicht mehr darüber, daß diese so entzückende Schilderungen von jenem geliefert haben.

– Freilich etwas fabelhafte, bemerkte Benito.

– Aber, liebster Bruder, erwiderte das junge Mädchen in vollem Ernst, sage nichts Schlechtes von unserem Amazonenstrome!

– Es ist doch nicht schlecht von ihm gesprochen, Schwesterchen, wenn ich daran erinnere, daß er auch seine Sagen und Legenden hat!

– Ja, das ist wahr, sagte Minha, und noch dazu reizende Legenden.

– Wirklich? fragte Manoel, ich muß gestehen, daß diese noch nicht bis Para hinabgedrungen oder doch wenigstens mir nicht zu Ohren gekommen sind!

– Ei, was lehrt man denn aber in den Collegien in Belem? warf das junge Mädchen lachend ein.

– Ich sehe allmählich ein, daß man uns dort gar nichts lehrt, antwortete Manoel.

– Wie, mein werther Herr, fuhr Minha in komischem Ernste fort, Sie wissen außer anderen Sagen nichts davon, daß ein ungeheueres Reptil, mit Namen der Minhocao, den Amazonenstrom bisweilen besucht und daß das Wasser desselben steigt oder fällt, je nachdem die gigantische Schlange darin untertaucht oder es wieder verläßt?

– Hast Du diesen phänomenalen Minhocao denn schon einmal gesehen? fragte Manoel.

[107] – Leider nein, gestand Minha.

– Das ist doch schade, glaubte Fragoso bemerken zu müssen.

– Und die »Mae d'Agua«, fuhr das junge Mädchen fort, jene stolze und furchtbare Frau, deren Blick die Vorwitzigen, welche nach ihr schauen, bezaubert und unter das Wasser zieht!

– Ja wohl, eine Mae d'Agua giebt es wahrhaftig, rief die naive Lina. Man erzählt, daß sie zuweilen am Ufer selbst wandelt, aber wie eine Nixe verschwindet, wenn sich ihr Jemand nähert.

– Nun, Lina, begann Benito, Du wirst es mir sagen, wenn Du sie einmal wiedersiehst.

– Wohl damit die Nixe Sie wegfängt und nach dem Grunde des Stromes hinabzieht? Nein, Herr Benito, nimmermehr!

– Sie glaubt wahrlich steif und fest daran, kicherte Minha.

– O, es giebt sehr viele Leute, welche an den Baumstamm von Manao glauben! ließ sich Fragoso vernehmen, der keine Gelegenheit vorübergehen ließ, zu Gunsten Linas zu interveniren.

– An den Baumstamm von Manao? wiederholte Manoel. Welche Bewandtniß hat es mit dem Stamme?

– Herr Manoel, antwortete Fragoso, es scheint als ob es einen »Turumastamm« gäbe oder doch gegeben habe, der Jahr für Jahr zu derselben Zeit den Rio Negro herabkam, einige Tage bei Manao liegen blieb und dann bis Para hinabschwamm, wobei er an jedem Flußhafen kurze Zeit Halt machte und von den Indianern mit kleinen Fähnchen geschmückt wurde. In Belem angelangt, wendete er um, trieb den Amazonenstrom wieder hinauf und kehrte durch den Rio Negro nach dem Walde zurück, aus dem er geheimnißvoll gekommen war. Einmal hat man wohl versucht, ihn an's Land zu ziehen, da soll der Fluß aufgeschäumt und getobt haben, daß man davon abstehen mußte, ihn zu erlangen. Später soll ein Schiffskapitän ihn harpunirt haben, um ihn wegzuschleppen... auch da habe der Strom die Taue zerrissen und der Stamm soll wie ein Wunder verschwunden sein!

– Und was ist zuletzt aus ihm geworden? fragte die junge Mulattin.

– Er scheint sich bei seiner letzten Fahrt verirrt zu haben, und ist wohl statt den Rio Negro, den Amazonenstrom weiter hinauf geschwommen, seitdem aber nicht wieder gesehen worden.

– O, wenn wir den unterwegs fänden! rief Lina.

[108] – Wenn wir ihn finden, da setzen wir Dich darauf, Lina; er trüge Dich dann in seinen geheimnißvollen Wald und Du würdest selbst dabei zur märchenhaften Najade!

– Das wäre herrlich! jubelte das lustige junge Mädchen.

– Das sind ja Sagen in Hülle und Fülle, begann darauf Manoel, und ich gebe zu, daß der Strom ihrer werth ist. Doch es knüpfen sich auch wahre Geschichten an denselben. Ich kenne eine solche, und wenn ich nicht fürchtete, Euch traurig zu stimmen – denn sie ist sehr tragischer Natur – so würde ich sie zum Besten geben.

– Ach bitte, erzählen Sie, Herr Manoel, bat Lina, ich höre Erzählungen, die Einem Thränen auspressen, gar zu gern.

– Was, Du und weinen, Lina? spöttelte Benito.

– Gewiß, Herr Benito, aber ich weine gern lachend.

– Nun wohl, Manoel, so erzähle nur.

– Es handelt sich um das Schicksal einer Französin, welche im achtzehnten Jahrhundert an diesen Ufern das Unglück fürchterlich verfolgte.

– Wir hören gern zu, sagte Minha dazwischen.

– Ich beginne also. Im Jahre 1741, gesellte man zu Bouguer und La Condamine, den zwei französischen Gelehrten, welche ausgesandt waren, um einen Erdengrad unter dem Aequator zu messen, auch einen verdienstvollen Astronomen zu, Namens Godin des Odonais.

»Godin des Odonais reiste also ab, aber er begab sich nicht allein nach der Neuen Welt, sondern er nahm sein junges Weib, seine Kinder, den Schwiegervater und einen Schwager mit.

Alle kamen gesund und munter in Quito an. Hier begann für Madame des Odonais aber schon das Unglück, denn sie verlor binnen wenigen Monaten mehrere Kinder.

Nach Vollendung seiner Aufgabe gegen 1759, mußte Godin des Odonais Quito verlassen und begab sich nach Cayenne. In dieser Stadt angelangt, wollte er seine Familie nachkommen lassen; inzwischen war jedoch Krieg ausgebrochen und er mußte von der portugiesischen Regierung erst einen Erlaubnißschein auswirken, um seine Gattin und die Uebrigen unbehelligt ziehen zu lassen.

Wer hielte es für möglich, daß nun mehrere Monate verstrichen, bevor diese Erlaubniß ertheilt wurde?

[109] Verzweifelt über diese Verzögerung, entschloß sich Godin des Odonais im Jahre 1765 selbst den Amazonenstrom hinaufzureisen, um seine Frau in Quito abzuholen; gerade als er aufbrechen wollte, überfiel ihn plötzlich eine Krankheit, so daß er sein Vorhaben unmöglich ausführen konnte. Endlich hatten seine früheren Schritte doch Erfolg, und Frau des Odonais erhielt die Nachricht, daß der König von Portugal ihr die erforderliche Erlaubniß ertheilt und auch Befehl gegeben habe, ein Fahrzeug in Stand zu setzen, auf dem sie den Strom hinabfahren könne, um sich zu ihrem Manne zu begeben. Gleichzeitig sollte sie eine Escorte an einer der oberen Missionen des Amazonenstromes erwarten.

»Frau des Odonais fehlte es nicht an Muth, wie Ihr gleich sehen werdet. Sie zögerte keinen Augenblick und reiste, trotz der Gefahren einer solchen Fahrt quer durch den ganzen Continent, bald ab.

– Das war ihre Pflicht als Gattin, Manoel, ließ sich Yaquita vernehmen, ich hätte dasselbe gethan.

– Frau des Odonais, fuhr Manoel fort, begab sich zunächst nach Rio Bamba, südlich von Quito, und nahm ihren Stiefbruder, ihre Kinder und einen französischen Arzt mit. Zunächst kam es darauf an, die Mission an der brasilianischen Grenze zu erreichen, wo das Fahrzeug und die Escorte ihrer warten sollten.

Die Reise ließ sich anfänglich recht gut an; die Gesellschaft fuhr in einem Boote auf den Zuflüssen des Amazonenstromes nach diesem hinab. Nach und nach stellten sich aber Schwierigkeiten aller Art ein und dazu herrschten in der Gegend die Blattern. Zwar boten sich mehrere landeskundige Führer an, die meisten liefen aber in wenigen Tagen wieder davon, und der letzte, der einzige, der bei den Reisenden treu aushielt, ertrank im Bobonasa, als er dem französischen Arzte Hilfe bringen wollte.

»Das Boot stieß später gegen Felsen und auf den Fluthen treibende Stämme und wurde bald gänzlich unbrauchbar. Jetzt galt es, zu Lande weiter zu ziehen, immer am Rande undurchdringlicher Wälder hin, an dem man zuweilen mit Mühe einfache Blätterhütten errichtete. Der Arzt erbot sich, mit einem Neger, der Frau des Odonais niemals hatte verlassen wollen, voraus zu gehen, um Hilfe zu bringen. Beide brachen auf. Man erwartete sie mehrere Tage... Vergebens!... Sie kehrten niemals wieder!

»Inzwischen geht der Mundvorrath zu Ende. Die Verlassenen suchen vergebens, auf einem Floße den Bobonasa hinabzufahren. Sie müssen in den Wald [110] zurück und zu Fuße durch unentwirrbare Dickichte langsam weiterziehen. Das war zuviel für die armen Leute! Trotz der liebevollen Sorge der muthigen Französin sinken sie dahin, Einer nach dem Andern, und binnen wenigen Tagen sind Kinder, Aeltern, Diener, alle, alle todt!

– Ach, die arme Frau! rief Lina.

– Frau des Odonais steht nun allein, fuhr Manoel fort. Sie befindet sich noch tausend Meilen von ihrem Ziele, dem Ocean. Die Mutter ist es nicht mehr, die jetzt am Strom hinabwandert – die Mutter hat ja ihre Lieblinge verloren und alle mit eigener Hand in den Schoß der Erde gebettet!... Es ist die Gattin, die ihren Mann wiedersehen will.

»So wandert sie Tag und Nacht und kommt endlich wieder an den Bobonasa; dort findet sie glücklicherweise edelmüthige Indianer, welche sie nach der Mission befördern, wo die Escorte längst ihrer wartet.

»Aber sie kam allein an und hinter ihr ist ihr Weg mit Gräbern bezeichnet.

»Frau von Odonais erreichte Loreto, wo wir vor wenigen Tagen waren. Von diesem peruanischen Dorfe aus fuhr sie den Amazonenstrom ebenso hinab wie wir jetzt, und endlich nach neunzehnjähriger Trennung fand sie ihren Gatten wieder!

– Die arme Frau! sagte das junge Mädchen.

– Vor Allem, die arme Mutter!« setzte Yaquita hinzu.

In diesem Augenblick kam der Pilot nach dem Hintertheile der Jangada.

»Joam Garral, meldete er, wir sind jetzt dicht vor der Insel de la Ronde. Wir werden gleich die brasilianische Grenze passiren.

– Ja, ja, die Grenze!« murmelte Joam Garral.

Er erhob sich, ging nach dem Rande des Floßes und schaute nachdenklich nach der genannten Insel, an der die Strömung brandete. Dann strich er mit der Hand über die Stirn, als wolle er böse Gedanken verscheuchen.

»Die Grenze!« murmelte er, unfreiwillig den Kopf senkend.

Sehr bald darauf aber erhob er ihn wieder und sein Gesicht zeigte den Ausdruck eines Mannes, der entschlossen ist, seine Pflicht zu thun bis an's Ende.

[111]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Fragoso bei der Arbeit.

»Braza«, Feuergluth, ist ein Wort, das sich schon in der spanischen Sprache des zwölften Jahrhunderts findet. Aus ihm entstand das Wort »Brazil« zur Bezeichnung gewisser Holzarten, welche eine rothe Farbe liefern (das ist das sogenannte Brasilien- oder Rothholz). Hiervon übertrug sich der Name Brasilien auf jenen ungeheueren Gebietstheil Südamerikas, durch den der Aequator verläuft und wo jene Holzart sehr häufig vorkommt. Es wurde übrigens sehr zeitig zu einem wichtigen Gegenstande des Handels mit den Normannen, und obwohl dasselbe am Productionsorte selbst, »Ibirapitunga« heißt, so ist ihm doch der Name »Brazil« geblieben und hat sich, wie erwähnt, eingebürgert für das ganze Land, das unter den Strahlen der tropischen Sonne einer Gluthpfanne ähnlich erscheint.

Zuerst eroberten dasselbe die Portugiesen. Gegen Anfang des sechzehnten Jahrhunderts nahm Pedro Alvarez Cabral (Cabrera), der berühmte Seefahrer, von dem Lande Besitz. Gründeten auch Holland und Frankreich im Laufe der Zeit hier beschränktere Niederlassungen, so ist es doch durchweg portugiesisch geblieben und besitzt alle die Eigenschaften, welche jenes thatenlustige kleine Volk auszeichnen. Jetzt bildet es weitaus den größten Staat des südlichen Amerika, mit dem intelligenten, kunstliebenden Kaiser Dom Pedro als Oberhaupt.

»Welches Vorrecht steht Dir bei Deinem Stamme zu? fragte Montaigne einen Indianer, den er in Havre traf.

– Das Recht, als der Erste in den Krieg zu ziehen!« antwortete einfach der Wilde.

Der Krieg bildete lange Zeit bekanntlich das sicherste und schnellste Verbreitungsmittel der Civilisation. Die Brasilianer thaten dasselbe, wie jener Indianer; sie kämpften, vertheidigten ihre Eroberungen, dehnten diese allmählich weiter aus und jetzt marschiren sie, in ihrem Erdtheile, sozusagen an der Spitze der Civilisation.

Es war im Jahre 1824, sechzehn Jahre nach Begründung des portugiesisch-brasilianischen Reiches, als Brasilien durch den Mund Don Juans, den die[112] französischen Waffen aus Portugal vertrieben hatten, seine Unabhängigkeit vom Mutterlande erklärte.

Bei dieser Gelegenheit entstand die Frage wegen Regelung der Grenzen zwischen dem neuen Reiche und dem Nachbarstaate Peru.

Die Sache war nicht so leicht zu ordnen.

Wenn Brasilien sich nach Westen hin bis zum Rio Napo ausdehnen wollte, so strebte Peru danach, seine Grenze bis zum Ega-See, das heißt acht Grade weiter östlich, vorzuschieben.


Es fand sich kein besseres Mittel als die Befestigung der Insel de la Ronde. (S. 114.)

[113] Inzwischen mußte Brasilien mit Waffengewalt gegen einen Aufstand der Indianer am Amazonenstrome einschreiten, die sich zu Gunsten der spanisch-brasilianischen Missionen empörten. Es fand sich kein besseres Mittel, derartigem Landesverrath Einhalt zu thun, als die Befestigung der Insel de la Ronde, etwas oberhalb Tabatinga, und die Etablirung eines Militärpostens daselbst.

Dieser Entschluß führte zur Lösung der brennenden Tagesfrage, und seitdem verläuft die Grenze zwischen beiden Ländern mitten durch genannte Insel.

Oberhalb derselben ist der Strom peruanisch und heißt, wie früher erwähnt, Marañon.

Flußabwärts ist er brasilianisch und nimmt den Namen Amazonenstrom an.

Am Abend des 25. Juni war es, als die Jangada vor Tabatinga anhielt, der ersten brasilianischen Stadt am linken Stromufer und an der Mündung des Flusses, dessen Namen sie trägt, die übrigens zu dem Kirchspiele Saint-Paul, flußabwärts am rechten Ufer, gehört.

Joam Garral hatte sich vorgenommen, hier sechsunddreißig Stunden zu rasten, um seinen Leuten einmal Ruhe zu gönnen. Die Fahrt sollte also erst am Morgen des 27. fortgesetzt werden.

Jetzt gaben Yaquita und seine Kinder, in der Voraussetzung, weniger als in Iquitos von den schrecklichen Muskitos gepeinigt zu werden, den Wunsch zu erkennen, einmal an's Land zu gehen und den Flecken zu besuchen.

Die Bevölkerung desselben schätzt man heutzutage auf vierhundert Seelen, fast lauter Indianer, wobei ohne Zweifel auch jene Nomaden mitgezählt sind, welche an den Ufern des Amazonenstromes und seiner Nebenströme eigentlich nur umherziehen, ohne je feste Wohnsitze zu wählen.

Der Militärposten der Insel de la Ronde war seit einigen Jahren aufgelassen oder vielmehr nach Tabatinga verlegt worden. Man kann letzteres also gewissermaßen eine Garnisonstadt nennen; freilich besteht die ganze bewaffnete Macht daselbst aus – neun Soldaten, fast alle Indianer, und einem Unterofficier, der thatsächlich als Befehlshaber des Platzes zu betrachten ist.

Eine gegen dreißig Fuß messende Anhöhe, in welcher Stufen einer etwas unsicheren Treppe angebracht sind, bildet die Courtine (den Mittelwall) der Esplanade, welche die kleine Festungsanlage trägt. Die Wohnung des Befehlshabers umfaßt zwei viereckig angelegte Hütten, während die Soldaten ein längliches Gebäude bewohnen, das hundert Schritte von hier am Fuße eines mächtigen Baumes errichtet ist.

[114] Das Gesammtbild dieser ärmlichen Bauwerke würde mit dem der Dörfer und Weiler, welche längs des ganzen Stromes verstreut liegen, vollkommen übereinstimmen, wenn sich hier nicht noch ein Flaggenstock mit den brasilianischen Landesfarben über einem Schilderhaus – ohne Wachposten – erhoben hätte, und nicht vier kleine bronzene Mörser zur Beschießung jedes Fahrzeuges, welches ohne Erlaubniß vorübersegelte, vorhanden gewesen wären.

Das eigentliche Dorf liegt übrigens am jenseitigen Abhange des Plateaus. Ein kurzer Weg, im Grunde nur eine von Ficus und Miriten beschattete Schlucht, führt zu demselben in wenigen Minuten. Dort erheben sich auf einer geneigten Fläche von theilweise gerissener Schlammerde etwa ein Dutzend mit Palmenblättern bedeckter und rund um einen freien Platz angelegter Häuser.

Hier ist also nicht viel Merkwürdiges zu sehen; dagegen bietet die Umgebung von Tabatinga einen herrlichen Anblick, vorzüglich an der Mündung des Javary, welche sich hier so stark erweitert, daß sie den ganzen Archipel der Aramasa-Inseln umschließt. Da streben herrliche Bäume empor, unter ihnen zahlreiche Exemplare jener Palmenart, deren geschmeidige, zu Netzen und Angelschnüren verarbeitete Fasern einen nicht unwesentlichen Handelsartikel bilden. Mit einem Worte, man hat hier wohl eine der interessantesten Stellen des oberen Amazonenstromes vor sich.

Tabatinga scheint übrigens berufen, in kurzer Zeit zu einer wichtigen Station zu werden, und dürfte sich ohne Zweifel rasch entwickeln. Hier werden die brasilianischen Dampfer, welche den Strom hinauffahren, ebenso anhalten wie die peruanischen, welche auf demselben hinabfahren. Hier muß die Umladung der Güter und das Umsteigen der Passagiere stattfinden. Weiter bedürfte es für ein englisches oder amerikanisches Dorf nichts, um binnen wenig Jahren zum Centrum einer beträchtlichen Handelsbewegung aufzuwachsen.

Der Strom selbst ist in diesem Theile seines Laufes sehr schön. Natürlich ist die Wirkung der gewöhnlichen Gezeiten bis zu dem sechshundert Meilen vom Atlantischen Ocean gelegenen Tabatinga nicht mehr bemerkbar. Anders verhält es sich mit der sogenannten »Pororoca«, einer Art Springfluth, welche zur Zeit der Sizygien drei Tage lang die Wassermassen des Amazonenstromes aufstaut und mit der Schnelligkeit von siebzehn Kilometern in der Stunde rückwärts drängt. Man behauptet wirklich, daß sich eine solche Hochfluth bis jenseits der Grenze Brasiliens fühlbar mache.

[115] Am folgenden Tage, den 26. Juni, traf die Familie Garral vor dem Frühstück schon Anstalt, an's Land zu gehen und die Ortschaft zu besuchen.

Hatten Joam, Benito und Manoel den Fuß schon in mehr als eine brasilianische Stadt gesetzt, so war das bei Yaquita und deren Tochter nicht der Fall. Für diese bildete der Besuch eine Art neues Ereigniß.

Yaquita und Minha legten dem Vorhaben also eine gewisse Wichtigkeit bei.

Andererseits hatte Fragoso als wandernder Barbier schon verschiedene Bezirke Central-Amerikas kennen gelernt, Lina dagegen, gleich ihrer jungen Herrin, den Boden Brasiliens noch niemals betreten.

Bevor jedoch Alle die Jangada verließen, trat Fragoso noch einmal an Joam Garral heran und begann folgendes Gespräch:

»Herr Garral, sagte er, seit dem Tage, wo Sie mich in der Fazenda von Iquitos aufgenommen, beherbergt, gekleidet, ernährt, überhaupt so ungemein gastfreundlich behandelt haben, schulde ich Ihnen...

– Sie schulden mir gar nichts, lieber Freund, fiel ihm Joam Garral in's Wort. Bestehen Sie also nicht darauf, mir...

– O, darüber beruhigen Sie sich! rief Fragoso, ich bin leider nicht in der Lage, Ihnen das entgelten zu können. Ich erwähne auch noch, daß Sie mich an Bord der Jangada aufgenommen und mir die Möglichkeit gewährt haben, den Strom hinab zu gelangen. Wir befinden uns nun aber auf brasilianischem Boden, den ich aller Wahrscheinlichkeit nach niemals wiedergesehen hätte. Ohne jene Liane...

– Dafür haben Sie Ihren Dank Lina, nur dieser allein, abzustatten, sagte Joam Garral.

– Gewiß, das weiß ich, erwiderte Fragoso, ich werde nie vergessen, was ich ihr, nicht weniger als was ich Ihnen schulde!

– Das sieht ja ganz so aus, Fragoso, nahm Joam wieder das Wort, als wollten Sie sich verabschieden! Gedenken Sie etwa in Tabatinga zu bleiben?

– Keineswegs, Herr Garral, da Sie mir gestattet haben, Sie bis Belem zu begleiten, wo ich hoffentlich meine alte Beschäftigung wieder aufnehmen kann.

– Nun, wenn das Ihre Absicht ist, was wünschen Sie dann jetzt von mir?

– Ich möchte Sie fragen, ob Sie nichts dagegen haben, wenn ich dieses Geschäft einmal unterwegs betreibe. Meine Hand darf nicht rosten, und einige Reïs, vorzüglich selbst verdiente, würden meiner Tasche recht wohl thun. Sie wissen, Herr Garral, ein Barbier, der gleichzeitig etwas Haarkünstler und –[116] aus Respect gegen Herrn Manoel wage ich es kaum auszusprechen – auch so ein Bischen Mediciner ist, der findet in den Ortschaften des oberen Amazonenstromes allemal seine Kunden.

– Wenigstens unter den Brasilianern, meinte Joam Garral, denn was die Indianer betrifft...

– Entschuldigen Sie, unterbrach ihn Fragoso, vorzüglich unter den Indianern! Freilich, mit Bartscheeren giebt's da nicht viel zu thun, da die Natur jenen diesen Mannesschmuck gar zu spärlich zuertheilt hat; dafür ist aber immer der Haarwuchs nach neuester Mode zu ordnen. Das lieben diese Wilden, die Männer wie die Frauen. Ich würde kaum zehn Minuten auf dem Platze in Tabatinga erschienen sein, mit dem Kräuselholz in der Hand – das Kräuselholz lockt sie am sichersten heran, und das verstehe ich meisterhaft zu handhaben – da hätte sich schon ein Kreis von Indianern und Indianerinnen um mich versammelt und stritte sich darum, wer zuerst unter meine Hände kommen sollte! Einen Monat hier, und ich hätte den ganzen Stamm der Ticunas frisch coiffirt! Ueberallhin würde die Kunde dringen, daß »das Eisen, welches frisirt« – so nennen sie mich nämlich – in die Mauern von Tabatinga zurückgekehrt sei. Schon zweimal hielt ich mich hier auf, und Scheere und Kamm haben wirkliche Wunder verrichtet. Freilich darf unsereins nicht zu häufig wiederkommen. Die geehrten Indianerinnen lassen sich nicht tagtäglich frisiren, wie die vornehmen Damen in den Städten Brasiliens. Nein! Wenn das einmal geschehen ist, muß es für ein Jahr aushalten, und ein ganzes Jahr lang sparen sie keine Mühe, das Gebäude zu erhalten, welches ich – das darf ich wohl behaupten – nicht ohne Talent auf ihrem Schädel errichtet habe. Jetzt ist etwa ein Jahr vergangen, seit ich nach Tabatinga kam. Ich würde also alle meine Bauwerke in Trümmern vorfinden und, wenn Sie, Herr Garral, nichts dagegen einzuwenden haben, mir ein zweites Mal die Achtung erwerben, deren ich mich in dieser Gegend schon erfreue. Das Ganze ist übrigens, das glauben Sie mir, mehr eine Reïs-Frage, als daß mich etwa die Eigenliebe dazu triebe.

– So führen Sie es aus, lieber Freund, antwortete Garral lächelnd, aber nur geschwind! Wir können nur einen Tag in Tabatinga rasten und fahren morgen frühzeitig weiter.

– Ich werde keine Minute verlieren, versicherte Fragoso. Ich brauche nur mein Handwerkszeug zu holen und bin damit zum Landen fertig.

[117] – So gehen Sie, Fragoso, empfahl ihm Garral, und möchte es recht viele Reïs in Ihre Tasche regnen!

– Ich danke! O, das ist ein gar zu wohlthätiger Regen, der sich noch niemals stromweise über Ihren ergebenen Diener ergossen hat!«

Mit diesen Worten verschwand Fragoso eiligst.

Kurz darauf ging die ganze Familie, mit Ausnahme Joam Garral's, an's Land. Die Jangada hatte so nahe am Ufer anlegen können, daß das keine Schwierigkeiten machte. Eine schlecht erhaltene, am Uferabhange angebrachte Treppe führte die Besucher nach dem Kamme des Plateaus.

Yaquita und ihre Begleiter wurden von dem Commandanten des Forts empfangen, einem armen Teufel, der jedoch die Pflichten der Gastfreundschaft kannte und den Gästen in seiner Dienstwohnung ein Frühstück anbot. Einige Wachposten marschirten an verschiedenen Stellen langsam auf und ab, während an der Thür der Kaserne mit ihren, dem Stamme der Ticunas angehörenden Müttern mehrere Kinder, und zwar ziemlich mittelmäßige Producte dieser Racenmischung, sichtbar wurden.

Anstatt das Frühstück des Sergeanten anzunehmen, ersuchte Yaquita im Gegentheile den Commandanten und dessen Frau, an dem ihrigen an Bord der Jangada theilzunehmen.

Der Commandant ließ sich das nicht zweimal sagen, und man bestimmte dazu die elfte Stunde.

Inzwischen lustwandelten Yaquita, ihre Tochter und die junge Mulattin in Begleitung Manoels in den Umgebungen des Forts und überließen Benito die Erledigung der Förmlichkeiten zur Erlangung des Durchfahrtsrechtes, denn jener Sergeant war gleichzeitig militärischer Befehlshaber und oberster Beamter der Zollstätte.

Nachdem das geschehen, entfernte sich Benito, um in den benachbarten Dickichten seiner Gewohnheit gemäß zu jagen. Manoel hatte es heute abgelehnt, ihn dabei zu begleiten.

Auch Fragoso hatte die Jangada verlassen; anstatt aber nach dem Militärposten hinauf zu gehen, wandte er sich nach dem Dorfe, wohin ein Hohlweg führte, der sich mehr nach rechts hin in gleicher Höhe mit dem Ufer öffnete. Er rechnete aus Erfahrung mehr auf die Kundschaft der Eingebornen von Tabatinga, als auf die der Garnison. Die Soldatenfrauen wären zwar sicherlich nicht abgeneigt gewesen, sich einmal seinen geschickten Händen anzuvertrauen, [118] deren Ehemänner hüteten sich aber weislich, einige Reïs für die Launen ihrer putzsüchtigen schöneren Hälften zu opfern.

Bei den Eingebornen lag die Sache ganz anders. Der lustige Bartscheerer wußte sehr wohl, daß ihn hier seitens der Männer und der Frauen ein gleich guter Empfang erwartete.

So schritt Fragoso also auf dem von schönen Ficus (Feigenbäumen) beschatteten Wege hin und gelangte nach dem Mittelpunkte von Tabatinga.

Sobald der berühmte Haarkünstler auf dem Platze erschien, wurde die Nachricht davon ruchbar und er von allen Seiten umringt.

Fragoso hatte weder Trommel oder Pauke, noch Klappenhorn, um Neugierige heranzulocken, keinen Wagen mit blendenden Schildern, glänzenden Laternen, großen Spiegelscheibenfenstern oder mit riesigem Sonnenschirme, nichts, was das Interesse der Volksmenge erregen konnte, wie man das auf Jahrmärkten so häufig beobachtet. Nein! Aber Fragoso besaß sein Lockenholz, und wie spielte dieses in seiner Hand! Mit welchem Geschick balancirte er darauf einen Schildkrötenkopf, der die Stelle einer Kugel vertrat, und ließ denselben jene geheimnißvolle Curve beschreiben, deren mathematischen Ausdruck die Gelehrten noch nicht gefunden haben, diese Allerweltserklärer, denen es gelang, die berühmte Curve »des Hundes, der seinem Herrn folgt«, naturgesetzlich zu bestimmen.

Von den Eingebornen waren so gut wie alle zur Stelle; Männer und Frauen, Alte und Junge in den primitivsten Kostümen, sperrten weit die Augen auf und lauschten mit gespannten Ohren. Halb in portugiesischer und halb in der Sprache der Ticunas verkündete der lustige Künstler in verlockendster Weise, was er seinen Kunden zu bieten vermöge.

Was er den Leuten sagte, stimmte ganz mit den Selbstanpreisungen aller Charlatane überein, mögen das nun spanische Figaros oder französische Haarkräusler sein. Auf seiner Seite waren die nämliche Wichtigthuerei, dieselbe gründliche Kenntniß der menschlichen Schwachheiten, der Aufwand abgenutzter Witze und eine amüsante körperliche Gewandtheit, auf der der Eingebornen dieselbe Verwunderung, Neugier und Leichtgläubigkeit, wie bei den Jahrmarkts-Maulaffen der civilisirten Welt.

Die unausbleibliche Folge war, daß die enthusiasmirte Menge sich nach Verlauf von zehn Minuten um Fragoso drängte, der sich in einer »Loja« des Platzes, das ist eine Art Bude, welche als Schänke diente, eingerichtet hatte.

[119] Diese Loja gehörte einem in Tabatinga ansässigen Brasilianer. Hier versorgten sich die Einwohner für wenige Vatems – die gebräuchliche Scheidemünze im Werthe von zwanzig Reïs, etwa sechs Pfennige – mit den landesüblichen Getränken, vorzüglich mit »Assaï«.


Aber Fragoso besaß sein Lockenholz. (S. 119.)

Unter Letzterem ist ein halb fester und halb flüssiger, aus den Früchten einer gewissen Palmenart hergestellter Likör zu verstehen, der aus einen »Couï« oder Flaschenkürbis getrunken wird, welcher im Becken des Amazonenstromes als gebräuchlichstes Gefäß dient.


Auf dem Hauptplatze standen ganze Reihen von ungeduldig Harrenden. (S. 122.)

Nun beeilten sich Männer und Frauen – erstere kaum weniger als die letzteren – auf dem Schemel des Barbiers Platz zu nehmen.

Fragoso's Scheeren blieben freilich unbenutzt, denn [120] hier kam es nicht in Frage, die mächtigen, fast alle durch ihre Feinheit bemerkenswerthen Haarwulste zu verstutzen; dafür hatte der Künstler desto mehr zu thun mit dem Kamme und den Brenneisen, welche auf einer Kohlenpfanne in einer Ecke der Bude erhitzt wurden.

Der Künstler ließ es aber auch am Zureden nicht fehlen!

[121] »Seht, seht nur da, meine Freunde, rief er, wie gut das halten wird, wenn Ihr nicht geradezu darauf schlaft! Das reicht für ein Jahr aus und ist nach den neuesten Moden von Belem und Rio de Janeiro hergestellt! Die Ehrendamen der Kaiserin sind nicht vollkommener und schöner frisirt; auch bemerkt Ihr wohl, daß ich mit der Pomade nicht geize!«

Nein, der brave Mann geizte damit nicht! Freilich bestand dieselbe nur aus ganz gewöhnlichem Talg, dem er etwas wohlriechendes Oel beigemischt hatte, dafür klebte sie aber fest wie Cement.

Den von Fragoso's Hand hervorgezauberten Kunstwerken hätte man mit Recht den Namen von Haargebäuden geben können, welche alle Stylarten der Architektur vertraten. Locken, Löckchen und Ringe, hoch aufgesteckte und geflochtene Zöpfe, krause Wülste, Rollen, lange Schmachtlocken und Haarwickel – Alles wurde dabei angebracht. Von etwas Falschem, von ganzen Touren, Chignons oder fremden Zöpfen war hier natürlich keine Rede. Die Haupthaare der Eingebornen ähnelten nicht einer durch Rodung erzielten oder durch natürlichen Ausfall entstandenen Lichtung, sondern dem Urwalde in all' seiner ursprünglichen Jungfräulichkeit. Trotzdem hielt es Fragoso für angemessen, seinen Werken noch ein paar natürliche Blumen, einige lange Fischgräten oder seine Zierathen aus Knochen oder Kupfer hinzuzufügen, welche die putzsüchtigeren Ortsbewohnerinnen mitbrachten. Sicherlich hätten die Modenärrinnen aus der Zeit des Directoriums die Anordnung dieser hochphantastischen Coiffüren mit drei und vier Stockwerken aufrichtig bewundert, und der große Leonard selbst würde vor seinem transatlantischen Collegen ehrerbietig den Hut gezogen haben.

Da begann es denn bald, Vatems, ganze Hände voll Reïs – die einzige Münze, welche den Eingebornen am Amazonenstrome beim Waarenaustausch dient – in die Taschen Fragoso's zu regnen, der diesen befruchtenden Segen mit sichtbarem Wohlgefallen entgegennahm. Voraussichtlich mußte jedoch der Abend herankommen, bevor er den Wünschen der stetig zunehmenden Kundschaft gerecht werden konnte. Es war nämlich nicht die Einwohnerschaft von Tabatinga allein, die sich vor der Thür der Loja ansammelte; die Nachricht von dem Eintreffen Fragoso's hatte sich vielmehr sofort weiter verbreitet, und daraufhin strömten Eingeborne von allen Seiten hinzu: Ticunas vom linken, Mayorunas vom rechten Stromufer, solche, welche an den Ufern des Cajuru, wie solche, welche in den Dörfern am Javary wohnten. Auf dem Hauptplatze standen ganze Reihen von ungeduldig Harrenden. Die Glücklichen – Männer so gut [122] wie Weiber – die aus Fragoso's Händen hervorgingen, wanderten stolz von Haus zu Haus, brüsteten sich mit dem frischen Schmucke und bekümmerten sich nicht im geringsten darum, daß sie doch eigentlich nur die Rolle – großer Kinder spielten.

So hatte der mit Arbeit überhäufte Haarkräusler, als die Mittagsstunde schlug, natürlich nicht Zeit gefunden, zum Frühstück an Bord zurückzukehren, sondern mußte sich mit einem Schluck Assaï, etwas Maniocmehl und ein paar Schildkröteneiern begnügen, die er mitten unter der Arbeit verzehrte.

Aber auch der Schänkwirth machte sein gutes Geschäft, denn es versteht sich von selbst, das die Gebinde im Keller der Loja wiederholt angezapft werden mußten, um der Nachfrage nach Likör zu genügen. Wahrlich, es bildete ein Ereigniß für die gute Stadt Tabatinga, dieses unverhoffte Eintreffen des berühmten Fragoso, des ordentlichen und außerordentlichen Professors der Haarkräuselkunst bei den Volksstämmen des oberen Amazonenstromes!

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Torres.

Um fünf Uhr Abends befand sich der gänzlich erschöpfte Fragoso noch immer an derselben Stelle und fragte sich schon, ob er hier, um die noch wartende Menge zu befriedigen, nicht werde die Nacht zubringen müssen.

Da erschien ein Fremder auf dem Platze, der beim Anblick der versammelten Eingebornen auf das Wirthshaus zuging.

Kurze Zeit betrachtete der Fremdling aufmerksam und mit einer gewissen Vorsicht Fragoso und dessen Thätigkeit. Offenbar befriedigt von seinen Wahrnehmungen, trat er in die Loja ein.

Es war ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren. Er trug elegante Reisekleidung, welche seine Person in vortheilhaftem Lichte erscheinen ließ.

Sein starker schwarzer Bart, den gewiß seit langer Zeit keine Scheere berührt hatte, und die etwas zu weit herabhängenden Haare aber ließen die Hilfe eines Coiffeurs recht wünschhenswerth erscheinen.

[123] »Guten Tag, Freundchen, guten Tag!« sagte er, leise auf Fragoso's Schulter klopfend.

Letzterer drehte sich verwundert um, als er diese Worte in reinem Brasilianisch und nicht in dem gemischten Idiom der Einwohner vernahm.

»Ein Landsmann? erwiderte er fragend, doch ohne die kräftige Bearbeitung eines rebellischen Mayorunassen-Hauptschmuckes zu unterbrechen.

– Ja, bestätigte der Fremde, ein Landsmann, der Eurer Dienste bedarf.

– Mit Vergnügen; doch bitte ich um eine Minute Geduld, bis ich »Madame vollendet« habe!«

Nach einigen Strichen war das geschehen.

Obwohl der Letztgekommene eigentlich nicht berechtigt war, den frei gewordenen Platz einzunehmen, setzte sich dieser doch auf den Schemel, ohne daß die Eingebornen, welche dadurch in der Reihenfolge gestört wurden, dagegen Einspruch erhoben.

Fragoso legte die Brenneisen bei Seite, ergriff dafür die Scheere und fragte nach gewöhnlichem Geschäftsgebräuche:

»Was befehlen Sie, mein Herr?

– Wollen Sie mir gefälligst Bart und Haare verschneiden, erwiderte der Fremde.

– Ganz wie Sie wünschen!« sagte Fragoso, indem er schon den Kamm in das dichte Haupthaar seines Clienten senkte.

Bald begann nun auch die Scheere ihre Arbeit.

»Sie kommen wohl von weit her? fragte Fragoso, der bei seiner Beschäftigung stets zu plaudern pflegte.

– Ich komme aus der Nähe von Iquitos.

– Was Sie sagen! Ich nämlich auch! rief Fragoso. Ich bin von Iquitos bis Tabatinga auf dem Amazonenstrome heruntergefahren. Darf ich wohl nach Ihrem werthen Namen fragen?

– Warum nicht? erwiderte der Fremdling. Ich heiße Torres.«

Nachdem er das Haar seines Kunden »nach neuester Mode« zurecht geschnitten, begann Fragoso auch dessen Bart zu stutzen; als er jenen dabei aber zuerst genauer von Gesicht sah, hielt er unwillkürlich mit der Arbeit ein.

»Ei, Herr Torres, begann er, wäre es möglich... Ich glaube Sie wiederzuerkennen. Sollten wir uns nicht schon irgendwo gesehen haben?

– Das glaube ich kaum! entgegnete Torres schnell.

[124] – So täusche ich mich also!« antwortete Fragoso.

Er begann seine Arbeit von Neuem.

Torres nahm bald danach das durch Fragoso's Frage unterbrochene Gespräch wieder auf.

»Wie sind Sie von Iquitos hierhergekommen? fragte er.

– Von Iquitos nach Tabatinga?

– Ja.

– An Bord eines Holztransports, wo mich ein wackerer Fazender aufnahm, der mit seiner Familie den Amazonenstrom hinabfährt.

– Ei, sehen Sie, guter Freund, erwiderte Torres, das könnte mir passen, wenn Ihr Fazender auch mich aufnehmen wollte...

– Sie beabsichtigen also gleichfalls, den Strom hinab zu reisen?

– Gewiß.

Bis nach Para?

– Nein, nur bis Manao, dort habe ich Geschäfte.

– Nun, mein Wirth ist ein sehr zuvorkommender Mann; ich glaube sicherlich, daß er Ihnen diesen Dienst erweisen wird.

– Sie glauben das?

– Ich möchte sogar sagen, ich bin davon überzeugt.

– Und wie heißt denn Ihr Fazender? fragte Torres so nebenbei.

– Joam Garral,« belehrte ihn Fragoso.

Dabei murmelte er aber leise für sich hin:

»Dieses Gesicht habe ich schon einmal gesehen!«

Torres pflegte eine Unterhaltung, die ihn interessirte, nicht so leicht fallen zu lassen, und hier hatte er dazu ja seine besonderen Gründe.

»Sie meinen also, begann er noch einmal, daß Joam Garral mir einen Platz einräumen würde?

– Ich wiederhole Ihnen, daß ich daran nicht im mindesten zweifle. Was er einem armen Teufel wie mir gewährt hat, das wird er Ihnen, einem Landsmanne, nicht verweigern.

– Ist er allein an Bord der Jangada?

– Nein, erwiderte Fragoso, ich sagte Ihnen schon, daß er mit seiner ganzen Familie reist – lauter prächtige, liebe Leute, das dürfen Sie mir glauben – außerdem hat er eine aus Indianern und Schwarzen bestehende Mannschaft bei sich, welche dem Personal der Fazenda angehören.

[125] – Ist er wohl reich, jener Fazender?

– Gewiß, antwortete Fragoso, sehr reich. Schon allein das Holz, aus dem die Jangada gezimmert ist, und die Fracht auf letzterer repräsentirt ein Vermögen für sich.

– Joam Garral ist also mit seiner ganzen Familie über die brasilianische Grenze gekommen? fragte Torres noch einmal.

– Ja wohl, bestätigte Fragoso, mit seiner Frau, seinem Sohne, seiner Tochter und mit dem Bräutigam des Fräulein Minha.

– Ah, er hat eine Tochter? sagte Torres.

– Ein reizendes Mädchen!

– Die sich bald verheiraten wird?...

– Ja, antwortete Fragoso, mit einem braven jungen Manne, einem Militärarzt bei der Garnison in Belem, dessen Hochzeit nach unserer Ankunft am Ziele der Reise sogleich gefeiert werden soll.

– Recht hübsch! bemerkte Torres lächelnd, das könnte man demnach im strengsten Sinne des Wortes eine Hochzeitsreise nennen!

– Eine Hochzeits-, Vergnügungs- und Geschäftsreise zugleich, berichtigte Fragoso. Frau Yaquita und ihre Tochter haben noch niemals den Boden Brasiliens betreten, und auch Joam Garral überschreitet, seitdem er in die Farm des alten Magelhaës eintrat, die Grenze zum ersten Male.

– Die Familie hat natürlich auch einige Diener bei sich? forschte Torres.

– Freilich, antwortete Fragoso; da ist zum Beispiel die alte Cybele, welche schon fünfzig Jahre in der Farm gehaust hat, und eine hübsche Mulattin, Fräulein Lina, die bei ihrer jungen Herrin mehr die Stelle einer Gesellschafterin als die einer Dienerin vertritt. O, ein reizendes Geschöpfchen! Ein gutes Herz und ein Augenpaar... und Einfälle hat sie, wie kein Anderer, vorzüglich über Lianen...«

Fragoso, der jetzt Hochwasser auf der Mühle hatte, hätte nicht so bald ein Ende gefunden und von Lina in seiner enthusiastischen Stimmung gewiß noch weiter erzählt, wenn Torres nicht von dem Sessel aufgestanden wäre, um einem Anderen Platz zu machen.

»Was bin ich schuldig? fragte er den Barbier.

– O, gar nichts, antwortete Fragoso; unter Landsleuten, die sich an der Grenze treffen, kann davon keine Rede sein.

– Nein doch, entgegnete Torres, ich möchte lieber...

[126] – Nichts, das bringen wir später, an Bord der Jangada, in Ordnung.

– Ich weiß nur noch nicht, erwiderte Torres, ob ich wagen soll, Joam Garral um die Erlaubniß anzugehen...

– Unbedenklich, fiel Fragoso ein, doch wenn es Ihnen recht ist, werde ich mit ihm darüber sprechen, und er wird sich glücklich schätzen, Ihnen unter den vorliegenden Umständen helfen zu können!«

In diesem Augenblick erschienen Manoel und Benito, die nach ein genommenem Mittagsmahle in das Städtchen gewandert waren, an der Thür der »Loja«, neugierig, Fragoso einmal bei Ausübung seines Geschäftes zu sehen.

Torres hatte sich eben umgedreht.

»Ah, rief er plötzlich, da sind ja zwei junge Herren, die ich kenne oder vielmehr wieder erkenne!

– Sie erkennen jene? fragte Fragoso verwundert.

– Kein Zweifel! Sie haben mich vor etwa einem Monate bei Iquitos im Walde aus peinlicher Verlegenheit befreit.

Aber das ist eben Benito Garral und der Andere Manoel Valdez.

– Das weiß ich. Sie nannten mir damals ihre Namen, ich dachte aber nicht im mindesten daran, sie hier wiederzufinden!«

Torres ging auf die beiden jungen Leute zu, die ihn anblickten, offenbar ohne sich seiner zu erinnern.

»Sie kennen mich wohl nicht wieder, meine Herren? fragte er.

– Ah, verzeihen Sie, erwiderte Benito, wenn ich mich recht entsinne, Herr Torres, der vor Kurzem im Walde von Iquitos das kleine Abenteuer mit dem Guariba erlebte?...

– Ganz richtig, meine Herren! bestätigte Torres. Seit etwa sechs Wochen bin ich nun am Amazonenstrome hinuntergewandert und habe wohl gleichzeitig mit Ihnen die Grenze überschritten.

– Es freut mich herzlich, Sie wiederzusehen, sagte Benito; hatten Sie meine Einladung, in unserer Fazenda vorzusprechen, ganz vergessen?

– O nein, das gewiß nicht, erwiderte Torres.

– Sie würden es nicht bereut haben, derselben nachzukommen; das hätte Ihnen die Möglichkeit gegeben, bis zur Abreise von ihren Strapazen auszuruhen und dann konnten Sie mit uns bis zur Grenze fahren. Wie viele Tage Wanderschaft hätten Sie da erspart!

– Ja freilich! sagte Torres.

[127] – Unser Landsmann will nicht hier an der Grenze bleiben, mischte sich da Fragoso ein. Er beabsichtigt, nach Manao zu gehen.

– Nun, wenn Sie in diesem Falle an Bord der Jangada kommen wollen, bemerkte Benito, so werden Sie gut aufgehoben sein, und ich bin überzeugt, daß mein Vater es als Menschenpflicht betrachten wird, Ihnen Passage zu gewähren.


»Mit Vergnügen! doch bitte ich um eine Minute Geduld.« (S. 124.)

– Recht gern, versetzte Torres, Sie gestatten wohl, daß ich Ihnen meinen Dank dafür im Voraus sage!«


[128]
Gleichzeitig hatten die jungen Leute ein Thier gefangen. (S. 132)

Manoel hatte schweigend dem kurzen Gespräche zugehört. Er überließ es dem höflichen Benito, seine Einladung anzubringen, und faßte Torres scharf in's Auge, da ihn dessen Erscheinung nicht besonders ansprach. Aus den Augen des Mannes leuchtete keine Offenheit, und seine Blicke schweiften unruhig umher, als fürchtete er, sie irgendwo haften zu lassen; Manoel äußerte sich jedoch nicht über den empfangenen Eindruck, da er einem hilfsbedürftigen Landsmanne nicht schaden wollte.

»Wenn es Ihnen beliebt, meine Herren, begann Torres, bin ich bereit, Ihnen zum Hafen hinab zu folgen.

[129] – So kommen Sie!« antwortete Benito.

Eine Viertelstunde später befand sich Torres an Bord der Jangada. Benito stellte ihn seinem Vater vor, erzählte die Umstände, unter denen sie sich schon einmal gesehen hätten, und ersuchte ihn um seine Zustimmung, Torres bis Manao mitzunehmen.

»Ich schätze mich glücklich, mein Herr, Ihnen diesen kleinen Dienst erweisen zu können, antwortete Joam Garral.

– Ich danke Ihnen, sagte Torres, der die Hand zwar bieten wollte, aber in demselben Augenblick unwillkürlich wieder zurückzog.

– Morgen mit Tagesanbruch fahren wir weiter, setzte Joam Garral hinzu. Sie können sich inzwischen an Bord einrichten.

– O, dazu bedarf es nicht vieler Mühe, erklärte Torres. Außer meiner Person habe ich nichts unterzubringen.

– Betrachten Sie sich ganz als zu Hause!« sagte Joam Garral.

Im Laufe des Abends bezog Torres noch seine Cabine neben der des Barbiers.

Gegen acht Uhr kehrte dieser auch selbst nach der Jangada zurück, erzählte der jungen Mulattin, welch' gute Geschäfte er gemacht, und flocht nicht ohne einen gewissen Anflug von Eigenliebe die Bemerkung ein, daß der Ruf des berühmten Figaro im Becken des oberen Amazonenstromes offenbar noch gewachsen sei.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Weiter stromabwärts.

Mit dem ersten Tagesgrauen am 27. Juni wurden die Taue gelöst und die Jangada trieb von Neuem mit der Strömung hinunter.

An Bord befand sich jetzt noch eine Person mehr. Woher dieser Torres eigentlich kam, wußte zunächst Niemand; daß er nach Manao wolle, hatte er geäußert.

[130] Torres hütete sich übrigens, von seinem Vorleben und von dem Handwerk, das er bis vor zwei Monaten getrieben, etwas laut werden zu lassen, so daß keinem Menschen auf der Jangada auch nur der Gedanke kam, daß man in Jenem einen früheren Waldkapitän aufgenommen habe. Joam Garral vermied es aus Zartgefühl, sich für den erwiesenen Dienst durch zudringliche Fragen bezahlt zu machen.

Als er den Mann an Bord nahm, folgte er nur einem Gefühle von Menschlichkeit. Jener Zeit, wo noch keine beflügelten Dampfer den Lauf des Stromes pflügten, war es in den menschenarmen Urwäldern der Umgebung schwierig, sichere und schnelle Transportmittel zu finden. Die vorhandenen Fahrzeuge unterhielten keine geregelten Verbindungen, und meist sah sich der Reisende gezwungen, durch die üppigen Wälder zu Fuße zu gehen.

Durch Benitos Schilderung der Umstände, unter denen er Torres zuerst getroffen, war dieser gleichsam legitimirt und eingeführt und befand sich hier etwa in denselben Verhältnissen, wie ein Passagier an Bord eines transatlantischen Dampfers, dem es völlig frei steht, an dem gemeinschaftlichen Leben theilzunehmen, wenn ihm das zusagt, oder sich zurückzuziehen, wenn das seiner Stimmung entspricht.

Während der ersten Tage vermied es Torres augenscheinlich, mit der Familie Garral vertraulicher zu verkehren. Er hielt sich sehr reservirt, gab zwar Antwort, wenn Jemand auf ihn sprach, knüpfte aber selbst ein Gespräch nicht an.

Wenn er sich überhaupt Jemandem etwas näher anschloß, so war das Fragoso. Dem allzeit lustigen Patron verdankte er ja eigentlich die Gunst, jetzt auf der Jangada eingeschifft zu sein. Ihn fragte er zuweilen über die Verhältnisse der Familie Garral in Iquitos und über Minhas Verlobung mit Manoel Valdez, aber auch das geschah nur mit einer gewissen Zurückhaltung. Meist blieb er jedoch, wenn er nicht auf dem Vordertheile der Jangada umherspazierte, in seiner Cabine.

Das Frühstück und das Mittagsessen nahm er zwar mit Joam Garral und dessen Angehörigen ein, betheiligte sich aber kaum an der Unterhaltung und zog sich nach aufgehobener Tafel sofort zurück.

Im Laufe des Vormittages glitt die Jangada an der romantischen Inselgruppe vorüber, welche der weiten Mündung des Javary eingelagert ist. Dieser wichtige Nebenfluß des Amazonenstromes wird in seinem ganzen Laufe von der Quelle bis zur Ausmündung weder von einer Insel noch von Stromschnellen [131] unterbrochen. Die Breite der Mündung beträgt gegen dreitausend Fuß, und letztere befindet sich einige Meilen oberhalb der Stelle, wo ehedem die gleichnamige Stadt lag, um deren Besitz sich Spanier und Portugiesen sehr lange Zeit stritten.

Bis zum Morgen des 30. Juni fiel auf der Fahrt nichts Bemerkenswerthes vor. Zuweilen begegnete man einigen, hinter einander verbundenen Booten, nahe dem Ufer hinziehend, zu deren Führung ein einziger Eingeborner genügt hätte. »Navigar de bubina«, so bezeichnen die Landesbewohner diese Art des Wassertransports, was etwa mit »Vertrauensfahrt« zu verdeutschen wäre.

Bald kam man ferner an der Insel Araria, dem Archipel der Calderon-Inseln, der Insel Capiatu und vielen anderen vorüber, deren Namen zur Kenntniß der Geographen noch nicht gekommen sind. Am 30. Juni meldete der Steuermann am rechten Ufer das Dörfchen Jurupari-Tapera, wo zwei bis drei Stunden lang gehalten werden sollte.

Mauoel und Benito begaben sich in die Nachbar schaft zur Jagd und brachten als Beute etwas Federwild mit, das in der Speisekammer sehr willkommen war. Gleichzeitig hatten die beiden jungen Leute ein Thier gefangen, auf das jeder Naturforscher freilich mehr Werth gelegt hätte als die Köchin der Jangada.

Es war ein dunkelhaariger Vierfüßler, der etwa einem großen Neufundländer ähnelte.

»Ein Ameisenfuchs! rief Benito, als er das Thier auf das Deck des Floßes warf.

– Und ein prächtiges Exemplar, setzte Manoel hinzu, das keinem Museum zur Schande gereichen würde.

– Ist es Euch leicht geworden, dieses merkwürdige Thier zu erlangen? fragte Minha.

– O nein, Schwesterchen, antwortete Benito, und Du warst auch nicht zur Hand, ihm Gnade auszuwirken. Sie haben ein sehr zähes Leben, diese Hunde da, und es bedurfte nicht weniger als drei Kugeln, um dem Burschen hier den Garaus zu machen!«

Der Ameisenfuchs mit seinem langen buschigen Schweife, dem einzelne graue Haare beigemischt sind, sah wirklich prächtig aus; die lange spitze Schnauze zwängt er in Ameisenbauten hinein, deren Bewohner seine Hauptnahrung bilden; er hat ziemlich lange, dünne Pfoten mit fünf Zoll langen, spitzigen Krallen,[132] die er gleich den Fingern einer Hand schließen kann. Und was für eine Hand besitzt dieser Ameisenfuchs! Was diese gepackt hat, kann man nur daraus befreien, wenn man sie gleich abschneidet. Der Reisende Emile Carrey bemerkt ganz richtig, daß »selbst ein Tiger unter der Umarmung dieser Krallenhand umkommen würde«.

Am 2. Juli des Morgens langte die Jangada bei San Pablo d'Olivenza an, nachdem sie an zahlreichen, zu jeder Jahreszeit mit üppigem Grün bedeckten und von herrlichen Bäumen beschatteten Inseln vorübergekommen war, als deren bedeutendste etwa Jurupari, Rita, Maracanatena und Cururu-Sapo zu nennen wären. Wiederholt passirte sie auch die Mündungen verschiedener Iguarapes oder Nebenflüsse mit sehr dunklem Wasser.

Diese Färbung ist eine sehr merkwürdige Erscheinung und findet sich bei verschiedenen großen und kleinen Zuflüssen des Amazonenstromes.

Manoel machte auf die tiefe Färbung dieser Fluthen aufmerksam, welche man sich sehr deutlich von den weißeren Wellen des Hauptstromes abheben sieht.

»Man hat sich vielfach bemüht, sagte er, diese Färbung auf die eine oder andere Weise zu erklären, doch scheint mir, daß es noch keinem Gelehrten gelungen ist, eine befriedigende Lösung des Räthsels zu finden.

– Diese Gewässer sind wirklich fast schwarz mit prächtigen goldenen Reflexen, bemerkte das junge Mädchen, auf die leichten Wellen zeigend, welche sich an der Jangada brachen.

– Ja wohl, bekräftigte Manoel, schon Humboldt hat seinerzeit dasselbe beobachtet. Sieht man jedoch genauer hin, so findet man, daß die Farbe der Sepia am meisten hervortritt.

– Schön, rief Benito, also wieder eine Erscheinung, über welche die Gelehrten nicht einig sind!

– Vielleicht könnte man darüber von den Kaimans Aufschluß erlangen, warf Fragoso ein, oder von den Delphinen und Lamantins (Seekühen), denn das Gesindel hält sich mit Vorliebe in dem schwärzlichen Wasser auf.

– Es ist ganz richtig, antwortete Manoel, daß dieses jene Thiere besonders anlockt, um eine Erklärung dieser Thatsache würde man aber wieder in Verlegenheit sein. Ob die Färbung von einem reichen Gehalte an Kohlenwasserstoff oder davon herrührt, daß das Wasser über Torf- und Moorboden, oder über Steinkohlen- und Anthracitschichten hinfließt, oder ob sie endlich der ungeheueren Menge kleinster pflanzlicher Organismen, welche im Wasser schweben, [133] zuzuschreiben ist, darüber weiß Niemand etwas Bestimmtes. 1 Jedenfalls liefern jene Zuflüsse ein ausgezeichnetes Trinkwasser von angenehmer, im Tropenklima desto höher geschätzter Frische, ohne jeden Nachgeschmack und sicher ohne Nachtheil für die Gesundheit. Wir wollen ein wenig von diesem Wasser schöpfen, liebe Minha, koste es einmal, Du kannst es ohne Bedenken versuchen.«

Das Wasser war wirklich klar und erquickend frisch. Es hätte in Europa füglich an jeder Tafel gereicht werden können. Man füllte auch hier damit einige Fässer zum Gebrauche in der Küche.

Die Jangada erreichte also, wie oben erwähnt, frühzeitig am 2. Juli San Pablo d'Olivenza, wo eine Art langer, aus den Schalen des »Coco de piassaba« hergestellter Rosenkränze in großen Massen fabricirt werden, die hier einen geschätzten und gesuchten Handelsartikel bilden. Vielleicht wundert sich Jemand darüber, daß die alten Beherrscher des Landes, die Tubinambas und Tupiniquis darauf gekommen sind, als Hauptbeschäftigung die Herstellung solcher Gebrauchsgegenstände des katholischen Cultus zu betreiben. Man darf hierzu jedoch nicht vergessen, daß die heutigen Indianer nicht mehr die Ebenbilder ihrer Vorfahren sind; statt des früheren Nationalcostüms mit dem Stirnbande aus Arasfedern und der gewöhnlichen, aus Bogen und Blasrohr bestehenden Ausrüstung haben sie z. B. auch amerikanische Bekleidung angenommen und gehen jetzt in weißen Beinkleidern und dem landesüblichen Puncho aus Baumwolle einher, den ihre Weiber, welche darin hervorragende Geschicklichkeit erlangt haben, selbst zu weben pflegen.

San Pablo d'Olivenza, eine verhältnißmäßig nicht unbedeutende Stadt, zählt zweitausend, aus allen Stämmen der näheren und entfernteren Umgebung zusammengewürfelte Einwohner. Jetzt die Hauptstadt des oberen Amazonenstromes, bildete sie früher nur eine einfache, von portugiesischen Carmelitern gegründete, später von jesuitischen Missionären verwaltete Station.

Das Land hierselbst gehörte anfangs den Omaguas, ein Name, der so viel wie »Plattköpfe« bedeutet. Diesen Namen verdankten sie der barbarischen Gewohnheit der Mütter, den Kopf der Neugebornen zwischen zwei Brettern zu pressen, um ihrem Schädel die früher sehr beliebte längliche Form zu geben. Wie jede andere Mode, wechselt auch diese; die Köpfe behielten wieder ihre natürliche Gestalt, und an dem Schädel der hiesigen Rosenkranz-Fabrikanten

[134] würde man vergeblich eine Spur der früheren künstlichen Mißbildung aufzufinden suchen.

Mit Ausnahme Joam Garral's ging dessen ganze Familie an's Land. Auch Torres zog es vor, an Bord zu bleiben, gab wenigstens kein Verlangen nach einem Besuche des ihm scheinbar noch unbekannten San Pablo d'Olivenza zu erkennen.

Wenn den Abenteurer eine auffallende Schweigsamkeit auszeichnete, so war er wenigstens auch nicht neugierig.

Benito wickelte bald die nöthigen Geschäfte ab und führte der Jangada weitere Frachtgüter zu. Seine Angehörigen und er selbst fanden bei den ersten Beamten der Stadt, dem Platzcommandanten und dem Vorstande des Zollamtes, eine sehr zuvorkommende Aufnahme. Ihre amtliche Stellung verhinderte die beiden Herren übrigens keineswegs an der Betreibung ergiebiger Handelsgeschäfte. Sie übergaben dem jungen Kaufmanne sogar auf Treu und Glauben verschiedene Landeserzeugnisse, um diese für ihre Rechnung in Manao oder Belem zu veräußern.

Die Stadt selbst bestand aus etwa sechzig Häusern auf einer Ebene über dem abhängigen Stromufer. Einige derselben waren mit Ziegeln abgedeckt, was in diesen Gegenden eine Seltenheit ist. Dagegen schützte die kleine, den Heiligen Peter und Paul geweihte Kirche nur ein dürftiges Strohdach, das besser auf den Stall zu Bethlehem gepaßt hätte als auf ein kirchlichen Zwecken dienendes Gebäude in streng katholischem Lande.

Der Platzcommandant, sein Stellvertreter und der Polizeichef nahmen eine Einladung, mit der reisenden Familie an Bord zu speisen, an und wurden von Joam Garral mit aller ihrem Range schuldigen Aufmerksamkeit empfangen.

Nach der Tafel wurde Torres auch etwas redseliger als gewöhnlich; er erzählte von einigen seiner Ausflüge in das Innere Brasiliens in beredter Weise, die seine genaue Bekanntschaft mit dem Lande verrieth.


»Du kannst es ohne Bedenken versuchen.« (S. 134.)

Mitten unter diesen Schilderungen unterließ es Torres aber nicht, den Commandanten zu fragen, ob er Manao selbst kenne, ob sein College sich jetzt dort befinde, ob der Amtsrichter, der oberste Beamte der Provinz, nicht die Gewohnheit habe, während der heißen Jahreszeit von da wegzugehen. Es schien als ob Torres, als er diese Fragen stellte, immer Joam Garral dabei mit einem Auge beobachtete. Das geschah übrigens auffallend genug, um auch von Benito bemerkt zu werden, dem es überdies vorkam, als lausche sein Vater [135] besonders aufmerksam auf diese etwas gar zu seltsamen Fragen des neuesten Passagiers.

Der Commandant von San Pablo d'Olivenza versicherte dem Abenteurer, daß die Behörden, respective deren Vorstände zu jener Zeit nicht von Manao abwesend seien, und beauftragte sogar Joam Garral, die betreffenden Herren von ihm zu grüßen. Aller Wahrscheinlichkeit nach langte die Jangada binnen höchstens sieben Wochen oder spätestens zwischen dem 20. und 25. August bei jener Stadt an.

[136] Gegen Abend nahmen die Gäste des Fazenders von der Familie Garral Abschied, und am nächsten Morgen, den 3. Juli, setzte die Jangada ihre Fahrt den Strom hinunter wieder fort.

Gegen Mittag ließ man zur Linken die Mündung des Yacurupa liegen. Dieser Nebenfluß ist eigentlich nichts weiter als ein Kanal, denn er ergießt seinen Inhalt in den Iça, der selbst einen linksseitigen Zufluß des Amazonenstromes bildet. Es gehört auch zu den eigenthümlichen Erscheinungen, daß der Strom an manchen Stellen und zu gewissen Zeiten seine eigenen Nebenarme speist.


Leicht wurde eine reichliche Beute eingeheimst. (S. 141.)

[137] Gegen drei Uhr Nachmittags kam die Jangada an der Mündung des Jandiatuba vorüber, der seine gewaltigen dunklen Wassermassen von Südwesten her dem Hauptstrome durch eine vierhundert Meter breite Pforte zuwälzt, nachdem er vorher die Gebiete der Culinos-Indianer bewässert hat.

Daneben passirte man zahlreiche Inseln, wie Pimaticaira, Caturia, Chico, Motachina u. a. m., die einen bevölkert, die anderen öde, aber alle bedeckt mit herrlicher Vegetation, die vom Ursprunge des Amazonenstromes bis zu dem riesigen Delta, durch das er sich mit dem Atlantischen Ocean vermählt, eine lückenlose Guirlande bildet.

Fußnoten

1 Zahlreiche Beobachtungen neuerer Reisender weichen in diesem Punkte von Humboldt's Ansichten wesentlich ab.

15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Noch weiter stromab.

Es war am Abende des 5. Juli. Seit dem vorhergehenden Tage lag eine drückende Schwüle in der Luft, welche auf nahe bevorstehende Gewitter deutete. Ueber der Wasserfläche flatterten große röthliche Fledermäuse schwerfälligen Flügelschlages dahin. Unter denselben erkannte man auch einige dunkler braune, am Bauche heller gefärbte »Perros voladors«, vor denen Minha und vorzüglich die junge Mulattin einen unwiderstehlichen Widerwillen empfanden.

Es sind das jene schrecklichen Vampire, welche den Thieren das Blut aussaugen und sogar über den Menschen herfallen, der sich in den Campinen unklugerweise dem Schlummer überläßt.

»O, diese häßlichen Geschöpfe, rief Lina, sich die Augen bedeckend, ich fürchte mich vor ihnen!

– Sie sind auch wirklich zu fürchten, fügte das junge Mädchen hinzu, nicht wahr, Manoel?

– Gewiß, antwortete der Gefragte. Diese Vampire besitzen einen besonderen Instinct, Blut an solchen Stellen abzusaugen, wo es am leichtesten fließt, und vorzüglich hinter dem Ohre. Während sie das thun, bewegen sie immerfort die Flügel und fächeln ihrem Opfer angenehme Kühlung zu, unter der es desto [138] tiefer schläft. Man berichtet von Leuten, welche solchem Blutverluste stundenlang unbewußt ausgesetzt blieben, dann aber – überhaupt nicht wieder erwachten.

– Halten Sie ein mit solchen Geschichten, Manoel, bat Yaquita, sonst wagt weder Minha noch Lina in dieser Nacht ein Auge zuzuthun.

– O, keine Angst, antwortete Manoel. Wenn es darauf ankommt, werden wir ihren Schlummer bewachen.

– Still, still! rief da Benito.

– Was giebt's? fragte Manoel.

– Hörst Du von dorther nicht ein eigenthümliches Geräusch? erwiderte Benito nach dem rechten Ufer weisend.

– Ja, wirklich! sagte Yaquita.

– Woher mag das rühren? fragte das junge Mädchen. Es klingt, als ob Kieselsteine den Inselstrand hinabrollten.

– Ah, jetzt weiß ich's! sagte Benito. Morgen können Alle, welche auf Schildkröteneier und auf frische junge Schildkröten Appetit haben, befriedigt werden!«

Ein Irrthum war nicht mehr möglich. Jenes Geräusch verursachten unzählige Chelonier (Seeschildkröten), welche, um Eier zu legen, nach den Inseln ziehen.

Dort wählen diese Amphibien im Ufersande geeignete Stellen zum Ablegen der Eier. Sie beginnen ihr Werk mit Sonnenuntergang und sind bei Tagesanbruch damit fertig.

Jetzt hatte die leitende Schildkrötenkönigin schon das Strombett verlassen, um eine passende Stelle zu suchen. Andere waren zu Tausenden beschäftigt, mit den Vorderfüßen einen sechshundert Fuß langen, zwölf Fuß breiten und sechs Fuß tiefen Graben auszuschachten; nach Ablegung ihrer Eier füllen sie die Stelle wieder locker mit Sand zu.

Für die Ufer-Indianer des Amazonenstromes und seiner Nebenflüsse ist diese Zeit des Eierlegens von großer Wichtigkeit. Sie beobachten schon das Eintreffen der Schildkröten und holen unter Trompetenschall deren Eier, welche in drei gleiche Mengen getheilt werden, von denen eine den Wächtern, eine andere den Indianern und eine dritte dem durch die Strandhauptleute vertretenen Staate zufällt; die letztgenannten haben nämlich nicht allein polizeiliche Functionen, sondern nehmen auch die Steuern und Abgaben ein. Manche Stellen, welche bei abnehmender Fluth trocken gelegt und langjähriger Erfahrung nach von den Schildkröten besonders bevorzugt werden, hat man ausschließlich mit dem Namen [139] »Königs-Strand« bezeichnet. Nach eingeheimster Ernte feiern die Indianer frohe Feste, wobei es im Spielen, Tanzen und Trinken hoch hergeht – mit ihnen aber auch die Kaimans im Strome, welche die Ueberbleibsel von den Amphibien verschmausen.

Schildkröten sowohl als die Eier derselben bilden auch einen sehr bedeutenden Handelsgegenstand im ganzen Becken des Amazonenstromes. Man paßt dazu den Thieren, wenn sie vom Eierlegen zurückkehren, auf und wendet sie zunächst mittelst Stangen auf den Rücken, aus welcher Lage sie sich nicht selbst befreien können. Diese werden lebend aufbewahrt, indem man sie entweder in eingehegten, den bekannten Fischparks ähnlichen Behältern unterbringt oder ihnen eine Schnur von hinreichender Länge an einen Fuß knüpft, mit der sie sich beliebig auf dem Lande oder im Wasser bewegen können. Auf diese Weise sichern sich die Bewohner ihren nie ausgehenden Vorrath von frischem Schildkrötenfleisch.

Anders verfährt man mit den kleinen, eben ausgekrochenen Schildkröten, die weder eingeparkt noch angebunden zu werden brauchen. Ihre Schale ist nämlich noch weich, das Fleisch außerordentlich zart, so daß diese ganz wie Austern verspeist, doch vorher gekocht werden. In dieser Form verzehrt man im Lande ganz unglaubliche Mengen.

Dabei wird von den Chelonier-Eiern im Amazonen-Gebiete und in der Provinz Para noch ein anderer ausgedehnter Gebrauch gemacht. Die Herstellung von »Manteigna de tartaruga«, das ist Schildkrötenbutter, ein Product, das sich mit den feinsten Erzeugnissen der Normandie und der Bretagne getrost messen kann, erfordert alljährlich nicht weniger als zweihundertfünfzig bis dreihundert Millionen solcher Eier. Dafür giebt es Schildkröten im ganzen Strombecken aber auch in geradezu zahllosen Schaaren, welche unendliche Mengen von Eiern im Ufersande vergraben.

In Folge der ungeheueren Consumtion seitens der Eingebornen, wie der Vernichtung solcher durch Strandläufer und andere Vögel und nicht minder durch die Kaimans des Stromes ist ihre Anzahl jetzt doch so sehr vermindert worden, daß eine kleine Schildkröte im Durchschnitte mit einer brasilianischen Pataque 1 bezahlt wird.

Am folgenden Tage machten Benito, Fragoso und einige Indianer eine Pirogue klar und begaben sich damit nach einer der in der Nacht passirten [140] Inseln. Die Jangada brauchte deswegen nicht zu halten, denn diese war immer ohne Mühe einzuholen.

Am Strande daselbst fanden sich kleine Sandhäufchen, entsprechend den Stellen, wo in der vergangenen Nacht die Eier zu je hundertsechzig bis hundertachtzig Stück in dem Graben verscharrt worden waren. Um die Gewinnung dieser Eier handelte es sich jedoch nicht. Dagegen erwiesen sich andere, vor etwa zwei Monaten vergrabene Eier jetzt schon zum größten Theile von der Sonnenhitze ausgebrütet, denn schon wimmelte es an dem flachen Ufer von Tausenden kleiner Schildkröten.

Leicht wurde also eine reichliche Beute eingeheimst und die Pirogue mit so vielen der interessanten Amphibien befrachtet, als sie nur tragen konnte, das Ergebniß der Jagd aber gerade zur besten Stunde, kurz vor dem Frühstück, abgeliefert. Die Passagiere und die Mannschaft der Jangada erhielten davon gleiche Antheile, und wenn auch für den Abend noch ein Restchen dieses Leckerbissens übrig blieb, so wurde doch Alles an dem einen Tage verzehrt.

Am 7. Juli des Morgens befand sich das Floß vor San Jose de Matura, einem Flecken in der Nähe eines unbedeutenden, mit hohem Schilf ausgefüllten Flusses, an dessen Ufer der Sage nach die fabelhaften geschwänzten Indianer seßhaft gewesen sein sollen.

Frühzeitig am 9. Juli kam das Dorf San Antonio in Sicht, nur eine Gruppe weniger, unter Bäumen versteckter Hütten, und bald darauf die Mündung des Iça oder Putumayo, welche neunhundert Meter in der Breite mißt.

Der Putumayo gehört zu den bedeutendsten Nebenflüssen des Amazonenstromes. Im 16. Jahrhundert wurden in dessen Nachbarschaft zuerst durch Spanier englische Missionen errichtet, diese aber später durch Portugiesen so gründlich zerstört, daß sich heute davon auch nicht eine Spur mehr nachweisen läßt. Jetzt trifft man hier nur wenige Vertreter mehrerer Indianerstämme, welche durch abweichende Tätowirungen leicht von einander zu unterscheiden sind.

Der Iça ist ein Wasserlauf, der, am Ostabhange der Gebirge von Pasto, nordöstlich von Quito entspringend, zunächst prächtige Wälder von wilden Cacaobäumen durchströmt. Auf einer Strecke von hundertvierzig Meilen für Dampfer von nicht über zehn Fuß Tiefgang schiffbar, dürfte er sich voraussichtlich noch zu einer der wichtigsten Wasserstraßen im westlichen Südamerika entwickeln.

Inzwischen trat schlechtes Wetter ein, zwar kam es noch nicht zu anhaltendem Regnen, dagegen bildeten sich häufige Gewitter. Diese Meteore blieben [141] freilich ohne Einfluß auf die Fahrt der Jangada, welche dem Winde zu wenig Angriffsfläche bot, während ihre große Länge sie auch gegen den höheren Wogenschlag des Stromes unempfindlich machte; natürlich sah sich die Familie Garral dabei mehr als früher auf den Aufenthalt in den Wohnräumen angewiesen, doch ließ man solche gezwungene Mußestunden nicht ungenützt vorüber, sondern plauderte nach Herzenslust und tauschte allerlei Beobachtungen aus, so daß die Zungen immer in flotter Bewegung blieben.

Unter diesen Verhältnissen nahm auch Torres allmählich mehr an den gemeinsamen Gesprächen theil. Erinnerungen aus der Zeit seiner verschiedenen Züge durch das ganze nördliche Brasilien lieferten ihm reichlichen Unterhaltungsstoff. Offenbar hatte dieser Mann sehr viel gesehen; seine Beobachtungen dabei waren jedoch immer die eines Skeptikers, und er verletzte mit seinen Reden nicht selten das Ohr der braven, feinfühlenden Leute, die ihm zuhörten. Es verdient auch hervorgehoben zu werden, daß er Minha mehr und mehr auszeichnete. Mißfielen seine Aufmerksamkeiten Manoel auch von vornherein, so gingen dieselben doch noch nicht so weit, um eine Intervention des jungen Mannes angezeigt erscheinen zu lassen. Uebrigens empfand das junge Mädchen gegen Torres einen unbewußten Widerwillen, aus dem sie sich kein Hehl zu machen bemühte.

Am 9. Juli zeigte sich am linken Stromufer die Mündung des Tunantins, durch welche vierhundert Fuß breite Spalte der genannte Fluß seine von Westnordwesten sich herwälzenden Wassermassen in den großen Strom abgiebt, nachdem diese das Gebiet der Cacenas-Indianer bewässert haben.

An derselben Stelle bot das Bett des Amazonenstromes einen wirklich großartigen Anblick, obwohl es mehr als anderswo von Inseln und Holmen unterbrochen wird. Es bedurfte der gereiften Erfahrung und aller Geschicklichkeit des Mannes am Steuer, um sich durch diesen verworrenen Archipel zu winden, von einem Ufer zum anderen zu laviren, hier Untiefen, dort brodelnde Wasserwirbel zu vermeiden und doch dabei den zweckmäßigsten Weg einzuhalten.

Er hätte sich vielleicht nach dem Ahuaty-Parana, einem natürlichen Kanal, wenden können, der sich unterhalb der Tunantinsmündung abzweigt und hundertzwanzig Meilen weiter durch den Rio Japura wieder mit der Hauptwasserader in Verbindung tritt; doch wenn auch die breiteste Stelle dieses »Furo« hundertfünfzig Fuß maß, so schrumpfte dafür die engste bis auf sechzig Fuß zusammen, was der Durchfahrt der Jangada ernstliche Schwierigkeiten bereiten mußte.

[142] Kurz, nachdem sie am 13. Juli die Insel Capura berührt und am Einflusse des Jutahy vorüber gefahren, der, von Westsüdwesten herkommend, seine dunklen Fluthen durch eine fünfzehnhundert Fuß breite Mündung ergießt, und nachdem sie die zahllosen Schaaren jener hübschen hellschwefelfarbenen Aeffchen mit zinnoberrothem Gesicht bewundert hatten, welche unersättliche Liebhaber der Früchte einer Palmenart sind, von der der Fluß seinen Namen erhielt, kamen die Reisenden am 18. Juli bei der kleinen Stadt Fonteboa an. Hier machte die Jangada zwölf Standen Halt, um die Mannschaft einmal wieder rasten zu lassen.

Fonteboa hat, wie die meisten Missionsdörfer am Amazonenstrome, dem merkwürdigen Gesetze nicht entgehen können, wonach solche kleine Ansiedlungen binnen längeren Zeitperioden von einer Stelle zur anderen verschoben werden. Dem Anscheine nach ist die Nomadenexistenz des Oertchens jetzt aber zu Ende und einer definitiven Seßhaftigkeit gewichen. Es ist das erfreulich, denn das Städtchen bietet mit seinen drei Dutzend, unter üppigem Grün hervorlugenden Häuschen und der Notre Dame von Guadelupe, der schwarzen Heiligen Jungfrau von Mexiko gewidmeten Kirche, ein wirklich liebliches Bild. Fonteboa zählt etwa eintausend Einwohner und wird von Indianern an beiden Stromufern, welche in den benachbarten Campinen große Viehheerden aufziehen, mit Nahrungsmitteln versorgt. Hierin allein besteht jedoch nicht die Beschäftigung der Letztgenannten; sie sind daneben auch unerschrockene Jäger oder, wenn man lieber will, kühne Fischer, welche Seekühen nachstellen.

Noch am Abend ihrer Ankunft fanden die jungen Leute Gelegenheit, einer höchst interessanten Expedition dieser Art beizuwohnen.

Im Cayaratu, der bei Fonteboa mündet, war das Auftauchen zwei solcher pflanzenfressender Cetacier berichtet worden. Auf der Wasserfläche sah man sechs braune Punkte dahintreiben. Das waren die zwei spitzen Schnauzen und die vier gewaltigen Flossen der Seekühe.

Unerfahrene Fischer würden diese sich langsam weiter bewegenden Punkte anfänglich gewiß für irgend welche, von der Strömung mitgeführte todte Gegenstände gehalten haben;


Die Harpunen durchschwirrten die Luft. (S. 145.)

die Eingebornen aus Fonteboa konnten sich darüber jedoch nicht täuschen. Ein geräuschvolles Schnaufen verrieth übrigens bald, daß hier lebende Thiere herabschwammen, welche die zur Athmung unbrauchbar gewordene Luft sehr kräftig ausstießen.

Zwei mit je drei Fischern bemannte Ubas stießen vom Ufer ab, und suchten sich den Seekühen zu nähern, welche indeß eiligst die Flucht ergriffen. Erst [143] erzeugten die dunklen Punkte einen leicht erkenntlichen Streifen wirbelnden Wassers, dann aber verschwanden jene gänzlich.

Die Fischer ruderten vorsichtig weiter. Mit einer höchst primitiven Harpune, einem tüchtigen Nagel an langem Stocke, ausgerüstet, stand je Einer im Vordertheile der kleinen Fahrzeuge, welche die Anderen möglichst geräuschlos fortbewegten. Sie warteten, bis das Athembedürfniß die Thiere wieder nach oben und ihnen sozusagen in Schußweite treiben würde. Zehn Minuten später mußten die Thiere erfahrungsmäßig in mehr oder weniger beschränktem Umkreise der [144] Stelle, wo sie hinabtauchten, gewiß wieder erscheinen. Wirklich dauerte es kaum diese Zeit, bis die dunklen Punkte in einiger Entfernung sichtbar wurden und zwei mit Luft gemischte Dampfstrahlen zischend in die Höhe schossen.

Die Ubas flogen jetzt näher heran, die Harpunen durchschwirrten die Luft; die eine verfehlte ihr Ziel, die andere aber traf den einen Cetacier in der Nähe des Schwanzwirbels.

Mehr brauchte es nicht, um das Thier fast unschädlich zu machen, da sich dasselbe von einem Harpunenstachel getroffen kaum noch zu vertheidigen vermag. [145] Mittelst eines Seiles wurde es hierauf vorsichtig in die Nähe der Uba und dann nach dem Strande vor den Häusern herangeholt.


Die Passagiere gingen an einem sanft abfallenden Ufer an's Land. (S. 150.)

Es war nur eine sehr kleine Seekuh von kaum drei Fuß Länge. Man hat diese armen Cetacier so hitzig verfolgt, daß sie im Amazonenstrome und dessen Seitenflüssen schon recht selten zu werden anfangen, und läßt ihnen so wenig Zeit, ordentlich auszuwachsen, daß jetzt auch die Riesen unter ihnen nicht mehr als sieben Fuß messen. Was sind solche Zwerge aber gegen die zwölf bis fünfzehn Fuß langen Seekühe, welche in den Strömen und Landseen Afrikas noch in Hülle und Fülle vorkommen!

Leider dürfte es große Schwierigkeiten finden, deren allmähliche Ausrottung zu verhüten. Das Fleisch dieser Thiere ist nämlich von vortrefflichem Geschmack übertrifft sogar den des Schweinefleisches, und dazu bildet das, aus der gegen drei Zoll dicken Speckschicht gewonnene Oel einen werthvollen Handelsgegenstand. Geräuchert hält sich das Fleisch überraschend lange und bietet eine recht gesunde Nahrung. Bedenkt man hierzu noch, daß das Thier verhältnißmäßig leicht zu fangen ist, so leuchtet es ein, daß sein Geschlecht von der ihm drohenden Vertilgung kaum zu retten sein dürfte. Heutzutage erzielt man von einer ausgewachsenen Seekuh, welche früher zwei Pots Oel im Gewicht von je hundertachtzig Pfund lieferte, im besten Falle nur vier spanische Arroben, zusammen etwa einen Centner schwer.

Am 19. Juli mit Sonnenaufgang verließ die Jangada Fonteboa wieder und glitt zwischen den beiden, vollkommen menschenleeren Ufern des Stromes an verschiedenen Inseln vorüber. Auf letzteren erhoben sich dichte Wälder der herrlichsten Cacaobäume. Den Himmel bedeckten immer schwere, elektricitätsschwangere Haufenwolken, welche neue Gewitterstürme in baldige Aussicht stellten.

Bald stürzte von dem höheren linken Ufer der Rio Jurua herab. Ein Boot könnte auf dessen klaren Wellen, die ihm zahlreiche Seitenflüsse zweiter Ordnung zuführen, ohne unübersteigliche Hindernisse bis Peru hinaufgelangen.

»Hier dürfte wohl die Gegend sein, bemerkte Manoel, wo man die streitbaren Frauen, welche bei Orellana so viele Verwunderung erweckten, zu suchen hätte. Freilich weiß man jetzt, daß dieselben keine besonderen Stämme bilden. Es sind eben nur die Weiber, welche ihre Gatten auch in den Kampf begleiten und von denen die unter den Juruas den Ruf großer Unerschrockenheit genießen.«

Die Jangada schwamm weiter hinab; aber welches Labyrinth bildete hier der große Amazonenstrom!

[146] Der Rio Japura, dessen eigentliche Mündung sich erst achtzig Meilen stromabwärts befindet und der zu den mächtigsten Nebenströmen zählt, begleitete jenen fast in paralleler Richtung.

Beide aber stehen in häufiger Verbindung durch Kanäle, Iguarapes, Lagunen, zeitweilig vorhandene Seen kurz, sie bilden ein fast unentwirrbares Netz, was die Hydrographie dieser Strecke unendlich erschwert.

Besaß Araujo auch keine Stromkarte als Leitfaden, so vertrat diese Stelle seine gereifte Erfahrung, und es war wirklich wunderbar zu beobachten, wie er sich durch dieses Chaos hindurch fand und niemals den großen Strom selbst verfehlte. Er entledigte sich seiner Aufgabe so gut, daß die Jangada am 25. Juli Nachmittags, nachdem sie bei dem Dorfe Parani-Tapera vorüber gekommen, am Einlaufe zu dem Ega-oder Teffe-See vor Anker gehen konnte, auf welch' letzteren man nicht einzulaufen Ursache hatte, da das Floß aus demselben doch nach dem Strome selbst hätte zurückkehren müssen.

Die Stadt Ega dagegen ist von Bedeutung und verdient wohl einen Besuch. Es wurde deshalb beschlossen, daß die Jangada bis zum 27. Juli hier verankert liegen und die große Pirogue die ganze Familie am nächsten Morgen nach Ega überführen sollte.

Sicherlich hatte die fleißige Mannschaft des großen Holztrains einmal eine gründliche Erholung verdient. Die Nacht verbrachte man nahe dem etwas erhöhten Ufer, und nichts störte deren Ruhe. Am Horizont nur flammte dann und wann ein Wetterleuchten auf, das aber von einem in großer Ferne sich entladenden Gewitter herzurühren schien.

Fußnoten

1 Etwa = 1 Franc.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Ega.

Am 26. Juli schon gegen sechs Uhr Morgens machten sich Yaquita, Minha, Lina und die beiden jungen Männer fertig, die Jangada zu verlassen.

Auch Joam Garral, der vorher nicht hatte an's Land gehen wollen, gab den Bitten seiner Gattin und seiner Tochter nach, sich einmal von seiner tagtäglichen Arbeit loszureißen und sie bei diesem Ausfluge zu begleiten.

[147] Torres schien kein besonderes Interesse daran zu haben, nach Ega zu gehen – zu großer Befriedigung Manoels, der mehr und mehr Abneigung gegen den Fremdling empfand und nur auf die Gelegenheit wartete, ihm diese zu erkennen zu geben.

Auch Fragoso bestimmten nicht die nämlichen Gründe, Ega zu besuchen, wie früher Tabatinga, denn letzteres ist nur ein unbedeutender Flecken im Vergleich zu dieser immerhin kleinen Stadt.

Ega mit seinen fünfzehnhundert Einwohnern steht nämlich in dem Range etwa einer Provinz-Hauptstadt, wo alle Behörden einer solchen ihren ständigen Sitz haben; so befand sich hier z. B. ein Militär-Commando, ein Polizeichef, Friedens- und Criminalrichter, nebst den Lehrern einer Art Volksschule und eine Milizgarnison mit den nothwendigen Officieren.

Wo aber so viele Beamte und Angestellte mit ihren Frauen und Kindern wohnen, darf man wohl voraussetzen, daß es auch an einem Haarkräusler und Barbier nicht fehlen werde. Das war auch wirklich der Fall, und für Fragoso also keine Aussicht auf ein lucratives Geschäft.

Der gute Junge beabsichtigte jedoch, obwohl er in Ega nichts zu schaffen hatte, an dem Ausfluge schon deshalb theilzunehmen, weil Lina ihre Herrin begleitete; er verzichtete aber, schon im Begriffe die Jangada zu verlassen, im letzten Augenblicke noch darauf, weil Lina selbst ihn darum ersuchte.

»Herr Fragoso! begann sie, ihn beiseite führend.

– Was befehlen Sie, Fräulein Lina? antwortete er.

– Mir scheint, Ihr Freund Torres will davon absehen, uns nach Ega zu begleiten.

– Ja wohl, er wird an Bord bleiben, Fräulein Lina; Sie würden mich aber verpflichten, wenn Sie jenen nicht ferner als meinen Freund bezeichneten.

– Gerade Sie aber haben ihm zugeredet, sich um einen Platz auf dem Floße zu bewerben, bevor er selbst daran dachte.

– Ja, damals freilich; doch fürchte ich, um ganz offenherzig zu sein, damit eine große Dummheit begangen zu haben.

– Und wenn ich Ihnen ebenso offen antworten soll, muß ich gestehen, daß mir der Mann ganz und gar nicht gefällt, Herr Fragoso!

– Mir gewiß auch nicht, Fräulein Lina; es kommt mir übrigens stets so vor, als hätte ich ihn schon irgendwo einmal gesehen. Ich erinnere mich dessen[148] zwar nur sehr unbestimmt, das Eine aber weiß ich, daß der Eindruck von seiner Persönlichkeit alles Andere, denn ein guter war.

– Aber wo und wann könnten Sie Torres begegnet sein? Ist Ihnen das ganz und gar entfallen? Es könnte vielleicht von Nutzen sein zu wissen, was er ist, und vorzüglich, was er gewesen ist.

– Nein... soviel ich suche... wie lange Zeit darüber hingegangen ist, in welcher Gegend es war?... Alles ist meinem Gedächtniß entschwunden.

– Herr Fragoso!

– Fräulein Lina wünschen?

– Sie sollten an Bord bleiben, um Torres während unserer Abwesenheit zu überwachen.

– Wie? rief Fragoso, ich soll Sie nicht nach Ega begleiten und den ganzen Tag lang darauf verzichten, Sie zu sehen?

– Ich ersuche Sie darum.

– Ist das ein Befehl?...

– Nein, aber eine Bitte.

– Ich bleibe hier.

– Herr Fragoso!

– Fräulein Lina!

– Ich sage Ihnen meinen Dank.

– O, danken Sie mir lieber mit einem herzlichen Händedruck, antwortete, Fragoso, das ist mein Opfer wohl werth!«

Lina reichte dem wackeren Burschen die Hand hin, welche dieser einige Augenblicke in der seinen hielt und ihr dabei in das hübsche Gesichtchen blickte. So kam es also, daß Fragoso in der Pirogue nicht mit Platz nahm und, ohne sich das merken zu lassen, Torres aufmerksam im Auge behielt. Ob sich dieser des Widerwillens, den er bei allen Anderen erweckte, bewußt war, läßt sich nicht mit Bestimmtheit sagen; jedenfalls aber hatte er seine Gründe, sich das nicht besonders zu Herzen zu nehmen.

Von dem Ankerplatze bis zur Stadt Ega betrug die Entfernung vier Meilen. Acht Meilen, hin und zurück gerechnet, in einer Pirogue mit sechs Personen, und außer diesen mit noch zwei Negern als Ruderer, zurückzulegen, das war eine Fahrt, welche zweifelsohne mehrere Stunden in Anspruch nahm, von der Anstrengung bei der hohen Temperatur zu schweigen, welche jetzt herrschte, wenn den Himmel auch ein leichter Wolkenschleier bedeckte.

[149] Zum Glück wehte eine günstige Brise aus Nordwesten, mit deren Hilfe man, wenn sie anhielt, über den Teffe-See segeln und nach Ega und zurück ziemlich schnell, ohne laviren zu müssen, gelangen konnte.

Am Mast der Pirogue wurde also ein lateinisches Segel gehißt. Benito ergriff die Schoote desselben und das Boot stieß ab, nachdem Lina durch eine bezeichnende Handbewegung Fragoso nochmals an's Herz gelegt hatte, auf der Hut zu sein.

Um nach Ega zu kommen, hatte man dem südlichen Ufer des Sees zu folgen. Zwei Stunden später lief die Pirogue in den Hafen der alten, früher von Carmelitern gegründeten Mission ein, welche 1759 zur Stadt erhoben und von General Gama endgiltig dem Scepter Brasiliens unterworfen wurde.

Die Passagiere gingen an einem sanft abfallenden Ufer an's Land, an welchem neben einander nicht nur die Kähne und Boote der Einwohner, sondern auch einige jener kleinen Goëletten lagen, die an den Küsten des Atlantischen Oceans zu Handelszwecken dienen.

Den beiden jungen Mädchen entlockte schon der erste Schritt nach Ega hinein manchen Ruf der Ueberraschung.

»Ah, diese große Stadt! jubelte Minha.

– Die vielen Häuser – die vielen Menschen! setzte Lina hinzu, deren Augen sich zu erweitern schienen, um besser zu sehen.

– Ei, das will ich meinen, bemerkte Benito lachend, mehr als fünfzehnhundert Menschen und vielleicht ganze zweihundert Häuser, einzelne gar mit einem Stockwerke übersetzt, dazu zwei oder drei Straßen, leibhaftige Straßen, welche die Häusermasse durchschneiden!

– Lieber Manoel, sagte da Minha, bitte, nimm uns gegen meinen Bruder in Schutz! Er macht sich lustig, weil er schon die schönsten Städte der Provinzen des Amazonenstromes und Paras gesehen hat.

– Dann müßte er sich auch über seine eigene Mutter lustig machen, erklärte Yaquita, denn ich gestehe auch, etwas Aehnliches noch niemals gesehen zu haben.

– Nun, nehmt Euch nur in Acht, liebe Mutter und Schwester, denn Ihr werdet in Extase gerathen, wenn wir nach Manao kommen, und vor lauter Verwunderung kein Wort mehr finden können, wenn wir erst in Belem eintreffen.

– O, darüber mache Dir keine Sorgen, entgegnete Manoel lächelnd. Die Damen werden sich durch den Anblick der Städte am oberen Amazonenstrome schon an große Ueberraschungen gewöhnt haben.

[150] – Wie, Manoel, fragte Minha, Du spielst mit meinem Herrn Bruder eine Geige? Du moquirst Dich ebenfalls...

– Nein, beste Minha, ich schwöre Dir...

– Lassen wir den Herren ihr Vergnügen, fiel Lina ein, wir wollen dafür desto mehr sehen, denn hier giebt's Schönes in Hülle und Fülle!«

Schönes? Ein Haufen meist aus Lehm errichteter und höchstens mit Kalt geweißter Häuser, gewöhnlich mit Stroh oder Palmenblättern abgedeckt; einzelne freilich aus Stein oder Holz erbaut, mit Verandas, grün angestrichenen Thüren und Fensterläden, und inmitten eines Gärtchens voll blühender Orangen. Daneben fanden sich auch zwei oder drei öffentliche Gebäude, eine Kaserne und eine, der heiligen Theresa gewidmete Kirche, welche gegenüber der bescheidenen Kapelle von Iquitos freilich ganz gut eine Kathedrale vorstellen konnte.

In der Richtung nach dem See zu bot sich dem Blicke ein reizendes, mit einem Rahmen von Cocosbäumen und Assaïs umschlossenes Panorama, das bis zum Wasser hinabreichte, und drei Meilen, auf der anderen Seite des Sees, lugten die Häuser des pittoresken Dorfes Nogueira aus Olivenhainen am Strande hervor.

Die beiden jungen Mädchen entdeckten aber auch noch andere Gegenstände ihrer Bewunderung, ihres echt weiblichen Interesses, das war die modische Kleidung der eleganten Damen Egas, nicht jener höchst primitive und doch schreiende Staat der Urbewohner vom schwachen Geschlechte, der bekehrten Omaa- und Mura-Weiber, sondern das Kostüm der wirklichen Brasilianerinnen! Die Frauen und Töchter der Beamten und der reichen Handelsherren der Stadt brüsteten sich in der That mit freilich etwas veralteten Pariser Toiletten, hier, fünfhundert Meilen hinter Para, das wiederum selbst einige Tausend Meilen von der Favorit-Residenz des Modeteufels entfernt liegt.


Auf dieser Insel zeigte sich ein Trupp Mura-Indianer. (S. 155.)

»Aber sehen Sie doch – sehen Sie nur da die schönen Damen in ihren reizenden Kleidern! raunte Lina ihrer Herrin zu.

– Lina wird noch rein toll! meinte Benito.

– Wenn jene Toiletten getragen würden, wie es sich gehört, antwortete Minha dem Mädchen, möchten sie so lächerlich nicht aussehen.

– Glaube mir, liebe Minha, wandte sich Manoel zu dieser, Du gehst in Deinem einfachen Baumwollenkleide und dem schützenden Strohhute geschmackvoller als alle jene Brasilianerinnen mit ihren aufgebauschten Hüten und mit [151] Volants überladenen Roben, die für unsere Gegend und Verhältnisse einmal nicht passen.

– Wenn ich nur Dir so gefalle, antwortete das junge Mädchen, beneide ich keine Andere um den Flitter.«

Doch, es galt ja im Grunde, die Stadt in Augenschein zu nehmen. Die Gesellschaft lustwandelte also durch die Straßen, welche mehr Krambuden als eigentliche Läden enthielten, besuchte einen öffentlichen Platz, das Stelldichein der vornehmen Welt, wo die Damen ihre europäischen Toiletten zu Schau [152] trugen, und speiste gar in einem Hotel eigentlich mehr in einer Herberge wo Jedermann die ausgezeichnete Tafel der Jangada schmerzlich vermißte.

Nach dem einzig und allein aus verschieden zubereitetem Schildkrötenfleisch bestehenden Diner bewunderte die Familie Garral noch einmal die schönen Gestade des Sees, welche die niedergehende Sonne mit ihren glänzenden Strahlen vergoldete.


Die Jangada legte am Ufer an, um die Nacht über zu halten. (S. 157.)

Dann begaben sich Alle nach der Pirogue, vielleicht etwas enttäuscht über die Herrlichkeiten einer Stadt, zu deren Besuche eine Stunde schon bequem hinreichte, auch etwas ermüdet durch dies Gehen in den erhitzten Straßen, [153] welche mit den schattigen Wegen von Iquitos keinen Vergleich aushielten. Keinen gab es, bis auf die leichtempfängliche Lina, dessen Enthusiasmus jetzt nicht merklich abgekühlt war.

Jeder nahm seinen Platz in der Pirogue wieder ein. Der Wind kam noch aus Nordwesten und hatte gegen Abend etwas aufgefrischt. Das Segel wurde gehißt und das Fahrzeug glitt denselben Weg wie am Morgen wieder über den, von dem dunklen Gewässer des Rio Teffe gespeisten See, ein Rio, der nach Aussage der Indianer vierzig Tagereisen weit stromaufwärts schiffbar sein soll. Gegen acht Uhr erreichte die Pirogue den Ankerplatz wieder und legte neben der Jangada an.

Sobald es ihr möglich wurde, nahm Lina Fragoso zur Seite.

»Nun, haben Sie etwas Verdächtiges bemerkt, Herr Fragoso? fragte sie.

– Nichts, Fräulein Lina, antwortete Fragoso. Torres hat kaum seine Cabine verlassen, sondern unausgesetzt gelesen und geschrieben.

– Er wäre nicht in das Haus, nicht in den Speisesaal eingetreten, wie ich befürchtete?

– Gewiß nicht. So lange er sich außerhalb seiner Cabine aufhielt, spazierte er auf dem Vordertheile der Jangada einher.

– Und was trieb er dabei?

– Er hielt ein altes Stück Papier in der Hand, das er aufmerksam zu betrachten schien, und murmelte bisweilen einzelne unverständliche Worte.

– Das erscheint mir Alles nicht so unschuldiger Natur zu sein, wie Sie offenbar glauben, Herr Fragoso. Sein Lesen und Schreiben, jenes alte Papier werden schon ihre besondere Bedeutung haben. Ein Professor der Wissenschaften oder ein Mann des Gesetzes ist er doch gewiß nicht. Meinen Sie nicht auch, Herr Fragoso?

– Sie können wohl Recht haben.

– Also halten wir die Augen auf, Herr Fragoso.

– Ja, seien wir auf der Hut, Fräulein Lina.«

Mit Tagesanbruch am 27. Juli gab Benito dem Piloten das Signal zum Aufbruche.

Durch den schmalen Sund zwischen den Inseln, die an der Bucht von Arenapo liegen, wurde für einen Augenblick die sechstausendsechshundert Fuß breite Mündung des Yapura sichtbar. Dieser große Nebenfluß ergießt sich durch acht Oeffnungen in den Amazonenstrom, als verlöre er sich in einem Meere [154] oder großen Golf. Sein Wasser kommt von weit her, denn es entquillt den Gebirgen der Republik Ecuador und sammelt sich in einem Bette, das erst zweihundert Meilen vor seiner Vereinigung mit dem Riesenstrome durch Wasserfälle unterbrochen wird.

Den ganzen Tag beanspruchte die Fahrt zur Insel Yapura, hinter welcher der nun freier werdende Strom die weitere Reise erleichtern mußte. Die Strömung des Wassers war übrigens nur eine mäßige, so daß man einzelne Holme und Eilande ohne Schwierigkeit vermeiden konnte und das Floß nie einen Stoß erlitt oder den Grund streifte.

Am folgenden Tage glitt die Jangada zwischen ausgedehnten, von hohen, ziemlich steilen Dünen gebildeten Uferstrecken hin, die als Deiche für ungeheuere Weideplätze dienen, auf welchen man die Heerden ganz Europas unterbringen und ernähren könnte. Diese Uferstrecken sollen im Becken des oberen Amazonenstromes am reichsten an Schildkröten sein.

Am 29. Juli des Abends legte man das Floß sorgfältig bei der Insel Catua fest, um hier die Nacht, welche sehr finster und unheimlich zu werden drohte, zu verbringen.

Auf dieser Insel zeigte sich, so lange die Sonne über dem Horizonte stand, ein Trupp Mura-Indianer, Reste eines alten, mächtigen Stammes, der zwischen dem Teffe und dem Madeira früher eine Uferstrecke von über hundert Meilen Ausdehnung bevölkerte.

Hin- und hergehend betrachteten die Eingebornen den schwimmenden, jetzt still liegenden Holzzug. Es mochten gegen hundert bewaffnete Männer sein, mit Sarbacanen (das ist eine Art Blasrohr) aus dieser Gegend eigenthümlichem Schilf, das äußerlich durch den vom Marke befreiten Stengel einer Zwergpalme verstärkt wird.

Joam Garral verließ für einen Augenblick die Arbeit, welche sonst seine ganze Zeit in Anspruch nahm, und empfahl Allen, wohl aufzupassen, aber die Eingebornen auf keine Weise zu reizen. Die Partie stand hier in der That nicht gleich. Die Muras besitzen eine bewundernswerthe Geschicklichkeit, kleine, aber fast unheilbar verwundende Pfeile mittelst ihrer Sarbacanen bis auf eine Entfernung von dreihundert Schritt zu entsenden.

Die Gefährlichkeit dieser, aus den Blättern der Coucourite-Palmen hergestellten, mit Baumwolle befiederten, neun bis zehn Zoll langen und gleich [155] einer Nähnadel spitzigen Pfeile rührt daher, daß dieselben mit »Curare« vergiftet sind.

Das Curare oder »Wourah«, die Flüssigkeit, welche, »alles Gemeine tödtet«, wie die Indianer sagen, wird aus dem Safte einer Euphorbiacee und einer knolligen Strychnosart hergestellt, doch verwenden die Eingebornen dazu auch noch einen Teig einer giftigen Ameisenart und die Giftdrüsen mancher Schlangen.

»Es ist wirklich ein entsetzliches Gift, sagte Manoel, denn es wirkt direct auf das Nervensystem und lähmt sofort diejenigen Nerven, welche der willkürlichen Bewegung vorstehen, während das Herz nicht afficirt wird und ungestört weiter schlägt, bis das Leben überhaupt erlischt. Leider kennt man gegen diese Vergiftung, welche sich zuerst durch Lähmung der Glieder kundgiebt, kein wirksames Gegenmittel.«

Die Muras schritten, trotz ihres ausgesprochenen tödtlichen Hasses gegen alle Weißen, glücklicher Weise nicht zu Feindseligkeiten. Sie besitzen heute auch offenbar nicht mehr den Muth ihrer berüchtigten Vorfahren.

Mit sinkender Nacht erklangen hinter den Bäumen der Insel einige Melodien in Moll von einer fünflöcherigen Flöte. Eine andere antwortete der ersten. Dieser Austausch kleiner Musikstücke währte nur wenige Minuten, dann verschwanden die Muras.

In einer Anwandlung fröhlicher Laune wollte ihnen Fragoso schon durch ein Liedchen antworten; aber Lina beeilte sich, ihm noch rechtzeitig den Mund zu schließen und ihn daran zu hindern, sein bescheidenes Sängertalent, mit dem er überhaupt ziemlich freigebig war, auch bei dieser unpassenden Gelegenheit an den Mann zu bringen.

Am 2. August Nachmittags drei Uhr langte die Jangada zwanzig Meilen weiter bei dem Eingange zum Apoara-See an, der den Fluß gleichen Namens mit seinem düsteren Wasser speist; und zwei Tage später hielt sie gegen fünf Uhr an der Einfahrt nach dem Coary-See an.

Es ist das einer der größten unter den vielen, mit dem Amazonenstrome in Verbindung stehenden Landseen und er dient als Sammelbecken für verschiedene Rios. Er nimmt fünf oder sechs Zuflüsse auf, welche sich darin vermischen und durch einen engen »Furo« nach der Hauptader abströmen.

Nachdem noch der Flecken Tahua-Miri in Sicht gekommen, der, um vor Hochwasser geschützt zu bleiben, auf Pfeilern wie auf Stelzen erbaut ist, was [156] bei dem niedrigen Strande gewiß als nothwendige Maßregel anzuerkennen ist, legte die Jangada am Ufer an, um die Nacht über zu halten.

Man befand sich jetzt gegenüber dem Dorfe Coary, mit einem Dutzend ziemlich verfallener, unter dichten Orangen- und Flaschenkürbisbäumen verstreuter Häuser. Es mag kaum einen wechselvolleren Anblick geben als den dieses Weilers, je nachdem der benachbarte See bei hohem und anderentheils bei niedrigem Wasserstande eine große spiegelglänzende Fläche oder nur einen schmalen Kanal bildet, der nicht einmal Tiefe genug hat, um den Verkehr mit dem Amazonenstrome zu ermöglichen.

Am folgenden Tage, dem 5. August, früh Morgens wurde die Reise wieder fortgesetzt. Man passirte da den Kanal von Yucura, ein Glied des so verwickelten Systems der Seen und Furos des Rio Yapura, und am 6. des Morgens langte man bei dem Eingange zum Miana-See an.

An Bord war nichts Besonderes vorgefallen, und das Leben daselbst verlief mit fast methodischer Regelmäßigkeit.

Fragoso, den Lina immer in Athem hielt, ließ Torres niemals aus den Augen. Mehrmals versuchte er auch, jenem Mittheilungen über seine Vergangenheit zu entlocken; der Abenteurer vermied es aber sorgfältig, auf dieses Thema einzugehen, und zog sich endlich mehr denn vorher von dem Barbier zurück.

Seine Beziehungen zu der Familie Garral blieben immer dieselben. Mit Joam selbst sprach er nur wenig, sondern richtete seine Worte lieber an Yaquita und deren Tochter, scheinbar ohne der letzteren frostiges Benehmen gegen ihn zu bemerken. Beide trösteten sich übrigens mit der Aussicht, daß Torres nach Ankunft der Jangada in Manao diese verlassen und man dann nichts weiter von ihm hören werde. Deshalb befolgte auch Yaquita den Rath des Padre Passanha, der sie ermahnte, sich in Geduld zu fassen; mehr Mühe hatte der gute Padre freilich mit Manoel, der große Neigung verrieth, jenen so unglücklicher Weise auf der Jangada mit eingeschifften Eindringling in die gebührenden Schranken zurück zu weisen.

Der einzige erwähnenswerthe Vorfall im Laufe dieses Abends war folgender:

Auf dem Strome trieb eine Pirogue hinab, welche, von Joam Garral angerufen, an die Jangada herankam.

»Du gehst nach Manao? fragte der Fazender den Indianer, welcher das Fahrzeug führte.

[157] – Ja, antwortete der Indianer.

– Und wirst dort eintreffen?...

– Binnen acht Tagen.

– Dann kommst Du weit eher als wir daselbst an. Würdest Du es übernehmen, einen Brief an seine Adresse zu besorgen?

– Recht gern.

– So nimm dieses Schreiben, guter Freund, und bring' es nach Manao!«

Der Indianer nahm den Brief, den ihm Joam Garral hinabhielt, entgegen und eine Handvoll Reis als Belohnung für die zugesicherte Besorgung.

Von den Mitgliedern der Familie, welche sich eben alle in den Wohnräumen befanden, hatte Niemand etwas hiervon bemerkt. Nur Torres war Zeuge des scheinbar bedeutungslosen Zwischenfalles. Er erhaschte sogar einige Worte von der kurzen Verhandlung zwischen Joam Garral und dem Indianer, und sein plötzlich dunkler gefärbtes Gesicht verrieth, daß die Vorwegsendung jenes Briefes ihm mancherlei zu denken gab.

17. Capitel
Siebzehntes Capitel.
Ein Angriff.

Wenn Manoel sich zuletzt noch bemeisterte, um an Bord zu keiner unangenehmen Scene Veranlassung zu geben, so nahm er sich doch vor, am nächsten Tage einmal mit Benito über Torres' Zudringlichkeiten zu sprechen.

»Benito, begann er, nachdem er diesen nach dem Vordertheile der Jangada geführt, ich möchte Dir etwas sagen.«

Benito, um dessen Lippen sonst immer ein freundliches Lächeln spielte, blieb stehen, als er Manoel in's Gesicht sah, und seine Züge verdüsterten sich ein wenig.

»Ich errathe, sagte er, es handelt sich um Torres.

– Ganz richtig.

[158] – Nun, Manoel, über dasselbe Thema wollte ich mich auch schon Dir gegenüber auslassen.

– Dir ist es also ebenfalls aufgefallen, wie er sich immer an Minha heranzudrängen sucht? fragte Manoel erbleichend.

– O, hoffentlich erregt nicht ein Gefühl von Eifersucht Deinen Widerwillen gegen einen solchen – Kerl? gab ihm Benito betroffen zurück.

– Nein, das sicherlich nicht! betheuerte Manoel. Gott behüte mich, das junge Mädchen, welches meine Gattin werden soll, durch eine solche Beleidigung zu erniedrigen! O nein, Benito! Sie selbst verabscheut den Abenteurer. Darum eigentlich handelt es sich also nicht, es widert mich aber an, immer Zeuge zu sein, wie der hergelaufene Unbekannte Deiner Mutter und Schwester seine unerwünschte Gesellschaft aufnöthigt und sich mit Deiner Familie, die ich doch schon die meinige nennen zu dürfen glaube, auf so vertrauten Fuß zu stellen sucht.

– Lieber Manoel, antwortete Benito ernst, ich theile vollständig Deinen Widerwillen gegen diese zweifelhafte Persönlichkeit, und wenn es nach mir ginge, hätte ich Torres längst von der Jangada weggejagt. Noch wagte ich es aber nicht.

– Du wagtest es nicht? versetzte Manoel verwundert. Kann es hierbei in Frage kommen, einen solchen Schritt zu wagen?

– Höre mich an, Manoel, erwiderte Benito. Du hast doch Torres scharf beobachtet, nicht wahr? Du hat seine Annäherungsversuche an meine Schwester bemerkt? Darin täuschtest Du Dich gewiß nicht. Da dieser Umstand aber Deine Aufmerksamkeit fesselte, ist es Dir offenbar entgangen, daß jener uns beunruhigende Mann meinen Vater dabei stets im Auge zu behalten sucht, so daß er mir irgend einen arglistigen Hintergedanken zu verbergen scheint, sonst ließe sich diese Erscheinung kaum erklären.

– Was sagst Du, Benito? Hast Du Gründe zu glauben, daß Torres gegen Deinen Vater etwas im Schilde führt?

– Gründe eigentlich nicht, antwortete Benito. Es ist mehr eine Ahnung, die ich nicht los werden kann. Aber beobachte Torres nur genauer, studiere ein wenig seine Physiognomie, und Du wirst bald herausfinden, daß er beim Anblick meines Vaters immer und immer wieder verstohlen, aber ganz unheimlich lächelt.

– Nun, rief Manoel, das wäre ja noch ein Grund mehr, ihn von uns zu entfernen.

– Ein Grund mehr... vielleicht auch einer weniger! antwortete der junge Mann. Sieh, Manoel, ich fürchte... ja, was denn?... ich weiß es selbst [159] nicht... es scheint mir aber unklug, meinen Vater zur Wegweisung jenes Mannes zu bestimmen. Mich überschleicht, ich wiederhole es Dir, eine gewisse Besorgniß, von der ich mir doch keine klare Rechenschaft zu geben vermag!«

Benito überlief bei diesen Worten ein Zittern, wie von unterdrückter Wuth.

»Also meinst Du, nahm Manoel das Wort, es gelte hier, noch zu warten?

– Ja wohl... zu warten, einen letzten Entschluß nicht vorschnell zu fassen, aber immer auf der Hut zu sein.


Die Indianer räuchern ihn über einem Feuer von Palmenfrüchten. (S. 163.)

– Aller Wahrscheinlichkeit nach treffen wir doch binnen etwa drei Wochen [160] in Manao ein, sagte Manoel darauf, dort sollen wir Torres ja los werden Das befreit uns von seiner widerlichen Gesellschaft. Bis dahin behalten wir ihn im Auge!

– Du verstehst mich, Manoel, bemerkte Benito.

Vollkommen, liebster Freund und Bruder! versicherte Manoel, obgleich ich Deine Befürchtungen vorläufig nicht theile und unmöglich theilen kann. Was könnte Dein Vater mit jenem Herumlungerer gemein haben? Offenbar hat er jenen nie zuvor gesehen!

– Ich sage auch nicht, daß mein Vater Torres kennt, aber... nun ja... aber Torres scheint ihn zu kennen. Was trieb den Mann in die Nachbarschaft der Fazenda, als wir ihn trafen? Was veranlaßte ihn, unsere gastfreundliche Einladung abzuschlagen und es nachher so einzurichten, daß er sich uns als Reisegefährte anschließen konnte? Wir betreten kaum Tabatinga, da taucht er schon auf, als ob er nur auf uns gelauert hätte. Ist Alles das nur ein Spiel merkwürdigen Zufalles oder liegt hier ein durchdachter Plan zugrunde? Der gleichzeitig scheue und doch spähende Blick Torres' erweckt in mir diesen Gedankengang. Ich bin mir unklar... ich verirre mich in unbekannte Gebiete. O, warum mußte ich selbst darauf kommen, ihm einen Platz auf unserer Jangada anzubieten!

– Beruhige Dich, Benito, ich bitte Dich!

– Manoel, rief Benito, der immer erregter zu werden schien, glaubst Du, wenn es nur an mir läge, ich würde einen Augenblick zaudern, den Mann, der in uns soviel Unruhe und Abscheu erweckt, einfach über Bord zu werfen? Ich fürchte nur, damit meinem Vater eher zu schaden, und das veranlaßt mich wider Willen, davon abzustehen. Eine innere Stimme warnt mich noch, daß es Gefahr bringen könnte, Hand an diesen Schleicher zu legen, bevor uns nicht eine Thatsache dazu das Recht giebt... das Recht und die Verpflichtung obendrein!... Auf der Jangada ist er übrigens in unserer Gewalt, und wenn wir Beide meinen Vater sorgsam schützend bewachen, kann es nicht ausbleiben, daß jener, so sicher er auch seines Spieles sein mag, doch die Larve abwerfen und sich verrathen muß. Also fassen wir uns in Geduld!«

Das Erscheinen Torres' auf dem Vordertheile der Jangada unterbrach das Gespräch der jungen Leute. Torres richtete zwar die Augen auf sie, sprach dieselben aber nicht an.

Benito täuschte sich mit der Beobachtung nicht, daß der Abenteurer Joam Garral eine besondere Aufmerksamkeit zuwende, sobald er diesen zu Gesicht bekam.

[161] Nein, er täuschte sich auch darin nicht, daß Torres' Züge sich beim Anblick seines Vaters allemal verfinsterten.

Welch' geheimnißvolles Band konnte, ohne daß es der Eine – die Redlichkeit und Ehrenhaftigkeit selbst – natürlich wußte, zwischen den zwei Männern bestehen?

Unter den obwaltenden Verhältnissen mußte es für den, außer von den beiden jungen Leuten auch noch von Fragoso und Lina überwachten Torres sehr schwierig werden, etwas zu unternehmen, ohne sofort übermächtigen Widerstand zu finden. Vielleicht sagte er sich das schon selbst. Jedenfalls ließ er davon aber nichts merken und keine Aenderung in seinem Benehmen eintreten.

Schon befriedigt, sich gegenseitig ausgesprochen zu haben, nahmen sich Manoel und Benito vor, jenen nur zu beobachten, ohne bei ihm Verdacht zu erregen.

Während der folgenden Tage kam die Jangada am rechten Stromufer am Eingange der Furos des Camara, Aru und Yuripari vorüber, durch welche das Wasser aber nicht in den Amazonenstrom, sondern in südlicher Richtung zur Speisung des Rio Purus abfließt, mit dem es nach dem Mutterbette zurückkehrt. Am 10. August, gegen fünf Uhr Nachmittags, legte man an der Cocosinsel an.

Hier befand sich eine Seringueire-Fabrik. Dieser Name kommt von dem, den Kautschuk liefernden »Seringueira« her, ein Baum, dessen botanische Bezeichnung »Siphonia elastica« lautet.

Man behauptet zwar, daß die Anzahl dieser werthvollen Bäume durch Vernachlässigung und Raubbau erheblich zurückgegangen sei; im Becken des Amazonenstromes finden sich jedoch an den Ufern des Madeira, des Purus und anderer Nebenflüsse noch unübersehbare Seringueira-Wälder.

Hier hielten sich etwa zwanzig mit der Einbringung und rohesten Zubereitung des Kautschuks beschäftigte Indianer auf, welche damit vorzüglich im Mai, Juni und Juli zu thun haben.

Man wartet dazu die Hochfluth ab, welche jene Bäume theilweise unter Wasser setzt, und in denselben Veränderungen erzeugt, welche zur Gewinnung des Saftes als erwünscht betrachtet werden.

Die Indianer machen dann Einschnitte in den Splint der Seringueiras und bringen darunter thönerne Gefäße an, welche sich binnen vierundzwanzig Stunden mit einem milchähnlichen Safte anfüllen, den man auch mittelst eines [162] hohlen Bambusstengels in untergestellten Gefäßen am Fuße des betreffenden Baumes auffangen kann.

Um die Ausscheidung der harzigen Bestandtheile dieses Saftes zu verhindern, räuchern die Indianer denselben über einem Feuer von Assaï-Palmenfrüchten. Durch Ausbreitung des rohen Saftes auf einer, durch den Rauch hin und herbewegten Holzschaufel bringt man denselben fast augenblicklich zum Gerinnen, wobei er eine grau-gelbliche Farbe annimmt. Die auf der Schaufel nach und nach erhärteten Schichten werden dann von dieser abgelöst und den Sonnenstrahlen ausgesetzt, wodurch sie sich noch weiter consolidiren und die allbekannte bräunliche Färbung an nehmen. Benito benutzte die sich darbietende Gelegenheit und kaufte den Indianern den ganzen Vorrath aus ihren, auf Pfählen errichteten Cabanen ab. Er zahlte dafür einen verhältnißmäßig anständigen Preis, so daß die Leute sehr befriedigt erschienen.

Vier Tage später, am 14. August, passirte die Jangada die Mündung des Purus.

Auch dieser gehört zu den rechtsseitigen Nebenflüssen des Amazonenstromes und soll selbst für tiefgehende Schiffe noch auf einer Strecke von fünfhundert Meilen fahrbar sein. Er kommt aus südwestlicher Richtung und mißt an der Vereinigungsstelle in der Breite wenigstens viertausend Fuß. Erst wälzt er sich unter dem Schatten von Ficus, Tahuaris, Nipas-Palmen und Cecropias hin und tritt zuletzt durch ein fünfarmiges Delta in den Hauptstrom ein. 1

In dieser Gegend hatte der Pilot Araujo bequeme Arbeit. Der Strom wird hier weit weniger von Inseln unterbrochen, und seine Breite von einem Ufer zum anderen erreichte schon über zwei Meilen.

Auch die Strömung trieb die Jangada besser vorwärts. Letztere kam damit am 18. August vor dem Dorfe Pesquero an, um daselbst über Nacht still zu liegen.

Die Sonne näherte sich schon dem Horizont und sank mit der, jenen niedrigen Breiten eigenthümlichen Schnelligkeit senkrecht, eine flammende Feuerkugel, herab. Die Nacht sollte dem Tage fast ohne vermittelnde Dämmerung folgen, wie jene Nächte auf der Bühne, welche man durch Abblendung der Rampe hervorbringt.

[163] Joam Garral nebst seiner Gattin, Lina und die alte Cybele befanden sich vor dem Wohnhause.

Torres, der sich eine Zeitlang um Joam Garral zu schaffen machte, so als wollte er ihn speciell ansprechen, hatte sich, wahrscheinlich durch das Dazwischentreten des Padre Passanha, welcher der Familie einen Guten Abend wünschte, nach seiner Cabine zurückgezogen.

Die Indianer und Schwarzen lagen längs des Bordrandes ausgestreckt, aber jedes Winkes gewärtig. Araujo saß ganz vorn und richtete seine Aufmerksamkeit auf die jetzt sehr geradlinig verlaufende Strömung.

Manoel und Benito lustwandelten wachsamen Auges, aber plaudernd und, scheinbar ohne auf etwas zu achten, ihre Cigarretten schmauchend, im mittleren Theile der Jangada umher, und warteten der Stunde, die zur Ruhe winken sollte.

Plötzlich faßte Manoel Benito bei der Hand.

»Was ist das für ein sonderbarer Geruch? sagte er. Sollte ich mich täuschen? Bemerkst Du es nicht selbst? Man möchte behaupten...

– Es röche nach erwärmtem Moschus! vollendete Benito den Satz. Da werden am Strande in der Nähe wohl Kaimans im Schlafe liegen.

– O, die Natur that doch sehr weise daran, jene sich durch solch' eigenartige Ausdünstung verrathen zu lassen.

– Gewiß, bestätigte Benito, das ist ein Glück zu nennen, denn es sind in der That furchtbare Thiere.«

Gegen Abend pflegen diese Saurier meist nach dem Strande zu gehen und es sich daselbst möglichst bequem für die Nacht zu machen. Dort lagern sie sich in Löchern, in welche sie rückwärts kriechen, und schlafen mit offenem Rachen und vertical aufgerichteter Oberkinnlade, wenn sie nicht gerade eine Beute in der Nähe wittern. Diese zu erreichen, ob sie nun dazu in's Wasser eilen und unter der Oberfläche, mit dem Schwanze als Ruder, hinschwimmen, oder ob sie mit einer, die des Menschen weit übertreffenden Schnelligkeit über das Uferland laufen, ist für diese gräulichen Amphibien meist nur ein Spiel.

Hier auf den weit ausgedehnten flachen Vorländern werden die Kaimans geboren, hier leben und sterben sie, erreichen aber nicht selten ein sehr hohes Alter. Die hundertjährigen darunter zeichnen sich dann nicht allein durch das grünliche Moos auf ihrem Schuppenpanzer und die vielen den letzteren bedeckenden Warzen aus, sondern auch durch wilde Gefräßigkeit, welche mit den [164] Jahren nur zuzunehmen scheint. Wie Benito gesagt, können diese Thiere sehr gefährlich wer den, und man hat alle Ursache, sich gegen einen Angriff derselben in Vertheidigungszustand zu setzen.

Plötzlich ertönte ein lautes Geschrei.

»Kaimans! Kaimans!« riefen auf dem Vordertheile mehrere Stimmen durcheinander.

Manoel und Benito erhoben sich, um nach dem Lärme zu sehen.

Drei gewaltigen, fünfzehn bis zwanzig Fuß langen Sauriern war es gelungen, das Deck der Jangada zu erklimmen.

»Schnell die Büchsen her! rief Benito, während er die Indianer und Schwarzen zurückwinkte.

– Zunächst nach dem Hause und unter Dach und Fach, antwortete Manoel, das ist noch nöthiger!«

Er hatte mit dieser Mahnung sicher ganz recht, denn an einen directen Kampf mit den Ungeheuern konnte Niemand denken.

In einem Moment folgte Jeder Manoels Rathe. Die Familie Garral war schon in das Haus geflüchtet, wohin die beiden jungen Männer ebenfalls eilten. Die Indianer und Schwarzen waren in ihren Hütten und Zelten verschwunden.

Manoel wollte eben die Hausthür schließen.

»Wo ist Minha? fragte er.

– Hier sehe ich sie nicht, antwortete Lina, die von dem Zimmer ihrer Herrin herzugelaufen kam.

– Um Gottes Willen, wo ist mein Kind?« rief ihre geängstigte Mutter.

Wie aus einem Munde tönte von Allen sofort der Ruf:

»Minha! Minha!«

Keine Antwort.

»Sie wird doch nicht ganz vorn auf der Jangada sein? sagte Benito.

– Minha!« rief Manoel noch einmal.

Mit den Gewehren in der Hand, stürzten die beiden jungen Männer, aber auch Fragoso und Joam Garral, keiner Gefahr achtend, aus dem Hause.

Kaum hinausgetreten, machten zwei Kaimans eine halbe Wendung und liefen auf sie zu. Benito jagte dem einen eine Ladung Rehposten neben dem Auge in den Kopf und wehrte die Bestie ab, die sich unter heftigen Todeszuckungen umherwälzte.

[165] Der zweite Kaiman kam inzwischen näher heran und auf Joam Garral zu, der ihm nicht zu entfliehen vermochte. Mit einem wuchtigen Schweifschlage warf er ihn zu Boden und drehte sich schon mit weit geöffnetem Rachen nach der Beute um.

In diesem Moment der höchsten Gefahr sprang Torres mit einer Axt in der Hand aus seiner Cabine und hieb damit so glücklich auf das Thier ein, daß die Schneide in der oberen Kinnlade fest sitzen blieb, ohne daß der Kaiman sich davon wieder befreien konnte.

Von dem ihm in die Augen rinnenden Blute geblendet, warf sich das Thier auf die Seite und stürzte in den Strom zurück, wo es unter dem Wasser verschwand.

»Minha! Minha!« rief Manoel noch immer ganz außer sich, während er jene auf dem Vordertheile des Floßes suchte.

Plötzlich ward das junge Mädchen sichtbar. Sie hatte zuerst in Araujo's Cabane Zuflucht gefunden, diese wurde aber durch den gewaltigen Anprall des dritten Kaimans umgestürzt, und jetzt floh Minha nach rückwärts und das Ungeheuer folgte ihr in einer Entfernung von kaum sechs Fuß nach.

Minha strauchelte und fiel zu Boden.

Eine zweite Kugel Benitos konnte den Kaiman nicht aufhalten, sie traf nur den festen Panzer des Thieres, von dem nur einzelne Schuppen absprangen, ohne daß derselbe durchbohrt wurde.

Manoel eilte auf das geliebte Mädchen zu, sie aufzuheben, weg zu tragen, vor dem drohenden Tode zu retten.. Da – ein neuer Schlag mit dem Schweife – und er stürzte selbst mit nieder.

Die ihrer Sinne beraubte Minha schien unrettbar verloren, denn schon gähnte vor ihr der Rachen des Kaimans, um sie zu zermalmen.

Da drang noch im letzten Augenblicke Fragoso auf das Unthier ein und bohrte ihm, auf die Gefahr hin, selbst den Arm einzubüßen, wenn die fürchterlichen Kinnladen zuklappten, ein Messer tief in die Kehle.

Seinen Arm vermochte er wohl noch rechtzeitig zurückzuziehen, der Kaiman versetzte ihm selbst aber einen so gewaltigen Stoß, daß er davon in's Wasser geschleudert wurde, welches sich weithin roth färbte.

»Fragoso! Fragoso!« jammerte Lina, am Bordrand der Jangada knieend.

In wenig Augenblicken erschien Fragoso wieder auf der Oberfläche des Amazonenstromes... er war heil und gesund.

[166] Mit Verachtung der Gefahr für sein Leben hatte er das des jungen Mädchens gerettet, die jetzt wieder zu sich kam, und da er von allen ihm dankend entgegen gestreckten Händen Manoels, Yaquitas, Minhas und Linas nicht wußte, welche er zuerst ergreifen sollte, so fand er sich mit einem warmen Händedruck bei der jungen Mulattin ab.

Hatte Fragoso aber Minha gerettet, so verdankte deren Vater sein Leben offenbar dem Eingreifen Torres'.

Daß er dem Leben des Fazenders wenigstens nicht nachstellte, ging doch offenbar aus seiner Handlungsweise hervor.

Manoel machte diese Bemerkung heimlich gegen Benito.

»Das ist richtig, antwortete Benito etwas verlegen, jener Argwohn muß wohl schwinden, und ich begrüße diese Thatsache mit Freuden, weil sie uns doch eine, vielleicht die schwerste Sorge abnimmt. Mein Verdacht gegen ihn, lieber Manoel, besteht aber noch in Gleichem fort. Man kann wohl der schlimmste Feind eines Menschen sein, ohne es gerade auf seinen Tod abgesehen zu haben.«

Inzwischen hatte Joam Garral sich Torres genähert.

»Ich danke Ihnen, Torres!« begann er, ihm die Hand bietend.

Der Abenteurer wich, ohne ein Wort zu sprechen, einige Schritte zurück.

»Ich bedaure, Torres, fuhr Joam Garral fort, daß Sie nun bald an Ihrem Reiseziele sind und wir uns binnen wenig Tagen trennen werden. Ich schulde Ihnen...

– Joam Garral, fiel da Torres ein, Sie schulden mir gar nichts. Ihr Leben galt mir vor Allem das meiste. Doch, wenn Sie es gestatten... ich habe mir die Sache überlegt... ich möchte, statt in Manao abzusteigen, wohl bis Belem mitfahren. Würden Sie das erlauben?

Joam Garral antwortete durch ein zustimmendes Zeichen.

Als Benito diese letzte Frage hörte, wollte er schon in Uebereilung dazwischen treten, doch Manoel hielt ihn noch zurück und der junge Mann bezwang sich, wenn auch mit großem Widerwillen.

Fußnoten

1 Der Purus ist neuerdings von Mr. Bates, einem gelehrten englischen Geographen, sechshundert Meilen weit erforscht worden

18. Capitel
[167] Achtzehntes Capitel.
Das Diner bei der Ankunft.

Am folgenden Tage, nach einer Nacht, welche kaum hingereicht hatte, die allgemeine Aufregung sich legen zu lassen, stieß man von diesem unheimlichen Kaimanstrande ab und fuhr weiter hinab. Wenn die Jangada durch keine außerordentlichen Zwischenfälle aufgehalten wurde, sollte sie nun binnen fünf Tagen den Hafen von Manao erreichen.

Das junge Mädchen hatte sich von seinem Schreck bald vollständig erholt, gleichmäßig dankten sein Blick und sein wohlwollendes Lächeln Denen, die das Leben für dasselbe gewagt hatten.

Lina schien gegen den unerschrockenen Fragoso fast erkenntlicher zu sein, als wenn er etwa sie selbst dem Rachen des Todes entrissen hätte.

»Das werde ich Ihnen früher oder später vergelten, Herr Fragoso! sagte sie verschmitzt lächelnd.

– Und wie denn, Fräulein Lina?

– Ei, das werden Sie wohl selbst ahnen.

– O, wenn das wahr ist, dann möge es bald und nicht erst später sein!« antwortete der liebenswürdige Bursche.

Von diesem Tage an galt es als ausgemacht, daß die reizende Lina die glückliche Braut Fragoso's sei, daß ihre Hochzeit gleichzeitig mit der Minhas und Manoels gefeiert und daß das junge Ehepaar dann in Belem bei den Neuvermählten bleiben sollte.

»O, das ist ja herrlich, rief Fragoso einmal über das andere, aber ich hätte im ganzen Leben nicht geglaubt, daß es bis Para so verzweifelt weit sei!«

Manoel und Benito tauschten in einem längeren Gespräche ihre Ansichten über das Vorgefallene aus. Von Joam Garral freilich die Verabschiedung seines Lebensretters zu verlangen, davon konnte nicht wohl mehr die Rede sein.

»Ihr Leben galt mir vor Allem das meiste!« hatte Torres geäußert.

Diese ebenso übertreibende wie räthselhafte Erwiderung des Abenteurers hatte Benito wohl gehört und im Gedächtniß behalten.

Vorläufig konnten die beiden jungen Leute natürlich nichts thun. Mehr als je sahen sie sich darauf angewiesen zu warten – aber nicht, wie sie früher [168] gehofft, noch vier bis fünf Tage, sondern sechs oder sieben Wochen, das heißt die ganze Zeit hindurch, welche die Fahrt der Jangada bis Belem noch beanspruchte.

»Hinter der ganzen Geschichte steckt ein, mir noch unerklärbares Geheimniß' meinte Benito.

Zugegeben, erwiderte Manoel, doch über einen Punkt wenigstens können wir beruhigt sein. Es steht doch so viel fest, Benito, daß Torres Deinem Vater nicht nach dem Leben trachtet. Um aber ja nichts zu versäumen, werden wir ihn fort und fort bewachen!«


Der Kaiman versetzte ihm aber einen Stoß. (S. 166.)

[169] Auffälliger Weise gewann es den Anschein, als zöge sich Torres seit jenem wechselvollen Tage eher weiter zurück. Er drängte sich der Familie des Fazenders nicht mehr so störend auf und hielt sich auch von Minha ferner. Die Spannung der Situation, deren Ernst bis auf Joam Garral vielleicht Alle empfanden, ließ also gewissermaßen nach.

Am Abende desselben Tages ließ man zur Rechten des Stromes die durch den gleichnamigen Furo gebildete Insel Baroso liegen, ebenso wie den Manaoari-See, der sein Wasser durch ein weitverschlungenes Netz kleinerer Nebenflüsse erhält.

Die Nacht verlief ohne Unfall, Joam Garral hatte aber gemessenen Befehl gegeben, vorsorglich zu wachen und aufzupassen.

Am nächsten Tage, dem 20. August, steuerte der Pilot, der sich wegen der vielen Windungen des linken Stromufers möglichst scharf am rechten hielt, zwischen das höhere Ufer und verschiedene Strominseln hinein.

Jenseits des Ufers lagen im Lande eine Anzahl größerer und kleinerer Seen verstreut, wie z. B. der Calderon- und der Huarandeïna-See, nebst verschiedenen Lagunen mit sehr dunklem Wasser. Dieses hydrographische System wies auf die Nähe des Rio Negro, des bedeutendsten aller Zuflüsse des Amazonenstromes, hin. Hier führt der große Fluß nämlich noch den Namen Solimoës, nimmt aber nach der Vereinigung mit dem Rio Negro den allbekannten anderen an, der ihn unter allen Wasserläufen der Erde berühmt gemacht hat.

An diesem Tage glitt die Jangada unter ganz besonders merkwürdigen Umständen dahin.

Der Flußarm, dem der Pilot jetzt zwischen dem Lande und der Insel Calderon folgte, war ziemlich schmal, obwohl er dem Uneingeweihten sehr breit erscheinen mußte. Es kam das daher, daß ein großer Theil jener, das mittlere Wasserniveau nur wenig überragenden Insel jetzt noch von der Hochfluth überschwemmt wurde.

An beiden Seiten des Kanals drängten sich Urwälder mit Riesenbäumen hervor, deren Gipfel noch fünfzig Fuß über das Wasser emporragten und, einander berührend, einen ungeheueren grünen Bogengang bildeten.

Einen höchst pittoresken Anblick gewährte vorzüglich die linke Seite mit ihrem überschwemmten Walde, der mitten in einem See aufgewachsen zu sein schien. Die gewaltigen Stämme ragten da aus dem stillen klaren Wasser hervor, das ihr Geäst mit wunderbarer Klarheit wiederspiegelte. Hätten sie sich aus einem Riesenspiegel erhoben, wie man verschiedenes kleine Tafelgeschirr manchmal [170] aufgestellt findet, so hätte der Wiederschein davon kaum vollkommener sein können. Ein Unterschied zwischen der Wirklichkeit und dem Abbilde war kaum zu entdecken. Durch ihre verdoppelte Größe und oben und unten durch den Abschluß mit einer grünen Decke, schienen sie zwei Halbkugeln zu bilden, deren gemeinschaftlicher wagrechter Achse die Jangada folgte.

Der Holztrain hatte nothwendiger Weise unter dieses Gewölbe, an dessen Pfeilern sich die leichte Strömung brach, einfahren müssen. Rückwärts zu gehen, erwies sich ganz unmöglich. Es bedurfte also aller Aufmerksamkeit und Gewandtheit des Lenkers, um ein Anstoßen rechts oder links zu vermeiden.

Unter diesen Umständen trat denn auch die erprobte Geschicklichkeit des von seinen Leuten wirksam unterstützten Piloten Araujo höchst vortheilhaft zu Tage. Die Bäume des Waldes boten übrigens recht geeignete Stützpunkte für die langen Stangen, um die Fahrtrichtung einzuhalten. Der geringste Anprall, der die Jangada nothwendiger Weise quer zur Strömung stellen mußte, hätte ohne Zweifel das ungeheuere Floß zerstört und, wenn auch nicht den Untergang des Personals, doch den Verlust der Ladung zur Folge gehabt.

»Wahrlich, hier ist's doch gar so schön! sagte Minha. Es müßte entzückend sein, immer auf so ruhigem Wasser und geschützt vor den Sonnenstrahlen zu reisen.

– Entzückend und gefährlich zu gleicher Zeit, liebe Minha, erwiderte Manoel. Mit einer Pirogue wäre hier allenfalls nichts zu fürchten, für einen langen Holztrain aber erscheint der offene, freie Strom denn doch als die geeignetere Fahrstraße.

– Vor Ablauf von zwei Stunden werden wir aus dem Walde herauskommen, bemerkte der Pilot.

– O, so wollen wir die Augen offen halten! rief Lina. All' diese Schönheiten gehen gar so schnell vorüber. Sehen Sie da, liebe Herrin, wie die Affenbande sich dort in den hohen Baumästen schaukelt und wie die eitlen Vögel sich stillvergnügt in dem klaren Wasser spiegeln!

– Und die Blumen, die ihr prächtiges Haupt über das Wasser emporstrecken, fuhr Minha fort, und sich von der Strömung wie von schmeichelndem Winde wiegen lassen!

– Und die endlosen Lianen, wie sie sich launisch von einem Baume zum anderen winden, setzte die junge Mulattin hinzu.

[171] – Und doch hängt kein Fragoso an ihrem Ende, mischte sich Linas Verlobter ein. Da im Walde von Iquitos hast Du Dir doch eine schöne Blume gepflückt!

– Betrachten Sie diese Blume, auf Gottes Erdboden das einzige Exemplar ihrer Art! antwortete Lina gutmüthig spöttelnd. Doch nein, hier, die herrlichen Pflanzen!«

Lina wies dabei nach riesenblätterigen Nymphäen, deren Blüthenknospen wohl die Größe von Cocosnüssen erreichen. Ferner grünten nahe dem Rande des überflutheten Inselgebietes dichte Gruppen von, »Mucumus-Rosen« mit breiten Blättern und höchst elastischen Stengeln, welche sich hinreichend auseinanderbiegen lassen, um einer Pirogue Durchgang zu gewähren, und sich dann wieder eng zusammenschließen. Auch ein Jäger hätte hier seine Rechnung gefunden, denn zwischen den hohen, von der Strömung bewegten Gebüschen flatterte eine ganze Welt von Wasservögeln kreischend umher.

Da saßen Ibisse in gravitätischer Haltung auf halb umgestürzten Baumstämmen und graue Reiher, auf einer Pfote balancirend; ernste Flamingos, die aus der Ferne gesehen, rosenrothen Sonnenschirmen unter grünem Laubdache glichen, und noch vielerlei andere Phenicopteren belebten diese zeitweilige Sumpfniederung.

Auf und nahe der Wasseroberfläche glitten hurtige lange aal- und schlangenartige Thiere hin, darunter jedenfalls auch die furchtbaren Gymnoten (Zitteraale), welche mit den wiederholten elektrischen Schlägen, die sie auszutheilen im Stande sind, Menschen und Thiere bald lähmen und zuletzt sogar tödten.

Hiergegen galt es vorsichtig zu sein; noch mehr vielleicht gegen die »Sucurijus« (eine Schlangenart), welche irgendwo an und auf einem Baume zusammengerollt liegen, sich dann plötzlich ausstrecken, ihre Beute umschlingen und diese mit den mächtigen Ringen, welche einen Ochsen zerdrücken können, jämmerlich erwürgen. In den Amazonenwäldern findet man diese Reptilien bis zu dreißig und fünfunddreißig Fuß lang, und es giebt, nach Carrey's Versicherung, sogar einzelne Exemplare von siebenundvierzig Fuß in der Länge und dabei so dick wie ein mäßiges Faß!

Stahl sich eine solche Sucuriju auf das Deck der Jangada, so war sie mindestens ebenso zu fürchten wie ein Kaiman.

Zum Glück blieb den Reisenden ein Kampf sowohl mit Gymnoten wie mit jenen gefährlichen Schlangen erspart, und die, etwas über zwei Stunden in [172] Anspruch nehmende Fahrt durch den überschwemmten Wald ging ohne allen Unfall von statten.

So vergingen auch die drei nächsten Tage. Man näherte sich nun Manao. Noch vierundzwanzig Stunden, und die Jangada sollte an der Mündung des Rio Negro vor jener Hauptstadt der Amazonas-Provinz vor Anker gehen.

Am 23. August gegen fünf Uhr Nachmittags langte sie auch glücklich bei der Nordspitze der Insel Muras am rechten Stromufer an. Jetzt war nur noch die breite Wasserfläche in schräger Richtung zu überschreiten, um den, wenige Meilen südöstlich gelegenen Hafen zu erreichen.

Da die Nacht schon allmählich herabsank, wollte der Pilot Araujo diese kurze Fahrt nicht an dem nämlichen Tage ausführen. Die noch zurückzulegenden drei Meilen erforderten mindestens drei Stunden, und gerade um den Strom zu durchschneiden, war eine hinreichende Beleuchtung nothwendig.

Das Abendbrot dieses Tages, das letzte der ersten Hälfte der Reise, wurde besonders reichlich aufgetischt. Wenn man die Hälfte des Amazonenstromes in dieser Weise befahren hat, ist es wohl der Mühe werth, das glückliche Gelingen durch eine festliche Mahlzeit zu feiern. So wurde denn beschlossen, »auf das Wohlergehen des Amazonenstromes« ein Gläschen jenes edlen Saftes zu leeren, den die Rebenhügel von Porto und Setubal zeitigen.

Damit sollte gleichzeitig der Verlobungsschmaus Fragoso's und der hübschen Lina gefeiert werden, der Manoels und Minhas hatte schon mehrere Wochen vorher noch auf der Fazenda von Iquitos stattgefunden. Nach der zukünftigen jungen Herrschaft verdiente nun auch dieses treue Pärchen an die Reihe zu kommen, welches sich die Erkenntlichkeit der ersteren durch mannigfache Dienste erworben hatte.

Inmitten der braven Familie saßen Lina, welche im Dienste ihrer früheren Herrin verbleiben, und Fragoso, der in den Manoels eintreten sollte, an gemeinschaftlicher Tafel und heute sogar an dem ihnen zukommenden Ehrenplatze.

Auch Torres nahm selbstverständlich an dem, der Speisekammer wie der Küche der Jangada würdigen Festessen theil.

Immer schweigsam saß der Abenteurer Joam Garral gerade gegenüber und lauschte weit mehr auf jedes fallende Wort, als daß er sich selbst in das Gespräch mischte. Benito behielt ihn unbemerkt stets scharf im Auge. Torres' fortwährend auf seinen Vater gerichtete Augen leuchteten in seltsamem Glanze, etwa wie die eines Raubthieres, das seine erhoffte Beute erst verwirrt machen [173] will, bevor es darüber herstürzt. Manoel plauderte meist mit dem jungen Mädchen. Auch seine Blicke suchten zuweilen Torres; er stand den gegebenen Verhältnissen, welche sich, wenn nicht in Manao, doch in Belem ändern mußten, im Allgemeinen doch unbefangener gegenüber als Benito.

Das Abendessen verlief in heiterster Stimmung Lina belebte es durch ihren guten Humor, Fragoso durch seine manchmal zwerchfellerschütternden Schnurren. Der Padre Passanha betrachtete mit Vergnügen die Theilnehmer der Tafelrunde, welche er alle herzlich liebte, und besonders die zwei glücklichen jungen Paare, deren Bund für das Leben seine Hände bald einsegnen sollten.

»Essen Sie tüchtig, Padre, nöthigte ihn Benito, der sich allmählich auch selbst mehr an der allgemeinen Unterhaltung betheiligte, thun Sie dem Verlobungsschmause die gebührende Ehre! Sie werden Kräfte brauchen, so viele Ehen auf einmal zu schließen.

– Oho, mein liebes Kind, erwiderte Padre Passanha, finde auch Du nur ein schönes sittsames Mädchen, die Herz und Hand Dir schenkt, und Du sollst sehen, daß ich auch Euch Beide noch zu trauen im Stande bin.

– Bravo, bravo, Padre! rief Manoel. Trinken wir einmal auf die demnächstige Hochzeit Benitos.

– In Belem suchen wir ihm eine junge schöne Braut, meinte Minha, und er wird dann nicht umhin können, unseren Beispielen zu folgen.

– Auf die Hochzeit des Herrn Benito! rief Fragoso, der gern die ganze Welt mit sich zugleich am Altare gesehen hätte.

– Sie haben Recht, mein Sohn, sagte auch Yaquita. Ich trinke auf Deine Hochzeit mit dem Wunsche, daß Dir das Glück so hold sein möge, wie Manoel und Minha, und wie es mir immer an Deines Vaters Seite gewesen ist.

– Und wie das hoffentlich auch in Zukunft der Fall sein wird, setzte Torres hinzu, während er, ohne vorher mit Jemand anzustoßen, ein Glas Porto leerte. Ein Jeder hier hält ja sein Glück in der Hand!«

Niemand konnte recht sagen warum, aber der Toast des Abenteurers machte auf Alle einen peinlichen Eindruck.

Manoel empfand das und suchte ihn zu verwischen.

»Nun, Padre, begann er, da wir einmal bei diesem Thema sind, gäb' es auf der Jangada nicht noch ein oder das andere Pärchen zusammen zu schmieden?

– Ich glaube kaum, antwortete Padre Passanha..., wenn nicht etwa Herr Torres... Sie waren wohl niemals verheiratet?

[174] – Nein, ich bin und war stets ledig!«

Benito und Manoel glaubten zu bemerken, daß sein Blick bei diesen Worten auf dem jungen Mädchen ruhte.

»Wer hindert Sie aber, eine Ehe einzugehen? fuhr der Padre Passanha fort. In Belem fänden Sie gewiß eine Ihrem Alter entsprechende Frau und könnten sich vielleicht in dieser Stadt häuslich niederlassen. Das scheint mir doch dem unstäten Leben vorzuziehen zu sein, das Ihnen bisher auch keine besonderen Vortheile geboten haben mag.

– Sie haben Recht, Padre, antwortete Torres. Ich sage ja keineswegs Nein. Das Beispiel ist gar zu ansteckend. Wer solche junge Brautleute immer vor Augen hat, bekommt zuletzt selbst Lust zu heiraten. Freilich bin ich in Belem vollkommen fremd, und das dürfte, ohne ganz besonders günstige Umstände, meine Niederlassung daselbst wesentlich erschweren.

– Woher stammen Sie denn eigentlich? fragte Fragoso, der den Gedanken, Torres schon früher begegnet zu sein, nicht los werden konnte.

– Aus der Provinz Minas Geraës.

– Und sind geboren?

– In der Hauptstadt des Diamanten-Districtes, in Tijuco.«

Wer Joam Garral in diesem Augenblicke gesehen hätte, würde erstaunt gewesen sein über dessen starren Blick, der sich mit dem lauernden Blicke Torres' kreuzte.

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Eine alte Geschichte.

Das von Fragoso angeregte Gespräch sollte damit aber noch nicht zu Ende sein, denn dieser nahm den Faden desselben sofort wieder auf.


Riesenblätterige Nymphäen. (S. 172.)

»Wie, Sie sind aus Tijuco, aus der Hauptstadt des Diamanten-Districtes selbst?

– Gewiß, versicherte Torres. Stammen Sie vielleicht aus derselben Provinz?

[175] – O nein, meine Wiege stand in den atlantischen Küstenprovinzen des nördlichen Brasiliens, antwortete Fragoso.

– Sie kennen jenes Gebiet der Diamanten wohl auch nicht, Herr Manoel?« wandte sich Torres an diesen.

Ein verneinendes Kopfschütteln war die ganze Antwort des jungen Mannes.

»Aber Sie vielleicht, Herr Benito? richtete Torres seine Frage an den jungen Garral, den er offenbar in das Gespräch zu ziehen wünschte; hätten Sie niemals Luft verspürt, die berühmten Diamantenfelder zu besuchen?

[176] – Nie, erwiderte Benito trocken.

– O, ich hätte mir das Land gern einmal angesehen, rief Fragoso, der unbewußt Torres' Absichten förderte. Mir ahnt, ich hätte dort gewiß einen kostbaren Diamanten gefunden.

– Und was hättest Du mit dem werthvollen Steine thun wollen, Fragoso? fragte Lina.

– Nun, ich hätte ihn zu Gelde gemacht.

– Dann wärst Du wohl heute ein sehr reicher Mann?


Die Fahrt durch den überschwemmten Wald. (S. 173.)

[177] – Natürlich, ein steinreicher.

– Ja, aber, wenn Du nun vor drei Monaten reich gewesen wärst, dann wär' Dir auch die Sache mit... mit der Liane nicht eingefallen!

– Und in diesem Falle, schmunzelte Fragoso, hätt' ich auch mein liebes reizendes Weibchen nicht gefunden, das... Nein, wahrhaftig, was Gott thut ist doch wohl gethan!

– Das erkennen Sie wohl selbst, bemerkte Minha, da er Ihnen meine kleine Lina zur Frau bescheerte. Ein Diamant für einen anderen, Sie werden bei dem Tausche wohl nichts einbüßen!

– Aber ich bitte Sie, Fräulein Minha, antwortete Fragoso galant wie immer, ich gewinne ja dabei!«

Torres war ohne Zweifel an der Weiterführung dieses Gespräches besonders gelegen, denn er nahm selbst wieder das Wort.

»Gewiß, begann er, findet in Tijuco Mancher zuweilen unverhoffte Schätze, und diese Aussicht hat schon Vielen die Köpfe verdreht. Haben Sie nicht einmal von dem berühmten Diamanten von Abante gehört, dessen Werth auf zwei Millionen Conto Reïs 1 taxirt wurde? Nun, auch diesen, kaum eine Unze schweren Kiesel haben die Bergwerke Brasiliens geliefert. Drei Verurtheilte, drei lebenslänglich Verbannte waren es, welche jenen zufällig im Abanteflusse, etwa neunzig Meilen von Serro do Frio fanden.

– Damit war natürlich sofort ihr Glück gemacht? ließ sich Fragoso vernehmen.

– Das doch nicht, belehrte ihn Torres. Der Diamant wurde zunächst dem Generalgouverneur des Bezirks überliefert. Nachdem der außerordentliche Werth des Steines erkannt war, ließ König Johann VI. von Portugal denselben durchbohren und trug ihn bei feierlichen Gelegenheiten am Halse. Die Verurtheilten wurden zwar begnadigt, das war aber auch Alles. Schlauere Leute hätten daraus gewiß mehr Vortheil zu ziehen verstanden.

– Wie zum Beispiel Sie! warf Benito trocken ein.

– Ich?... Nun ja... warum nicht? antwortete Torres. Haben Sie auch niemals den Diamanten-District besucht? fügte er, jetzt zu Joam Garral sprechend, hinzu.

[178] – Niemals, antwortete Garral mit einem Blicke auf den Fragesteller.

– Das ist wirklich schade, fuhr dieser fort, dahin sollten Sie doch einmal gehen. Ich versichere Ihnen, daß Sie eine solche Reise nicht bereuen würden. Der Diamanten-District stellt gewissermaßen eine Enclave des großen brasilianischen Reiches dar, eine Art Park von zwölf Meilen Umfang, der durch Bodennatur, Vegetation, durch die, von einem Kranze hoher Gebirge umschlossenen Sandstrecken von dem Charakter der benachbarten Landestheile sehr merkwürdig abweicht. Doch darf dies beschränkte Fleckchen Erde vielleicht als die schätzereichste Gegend betrachtet werden, denn von 1807 bis 1817 bezifferte sich der Durchschnittsertrag an Edelsteinen auf jährlich achtzehntausend Karat. 2 O, dort war gelegentlich ein Schlag zu machen, nicht allein für die eigentlichen Diamantensucher, deren Ausgrabungen zuletzt bis an die Berggipfel hinaufreichten, sondern auch für Schleichhändler, welche manchen Edelstein zu entführen wußten. Jetzt ist die Ausbeute freilich geringer geworden, und die von der Regierung in den Bergwerken und Tagesschachtbauten beschäftigten Neger, immerhin noch zweitausend Mann, müssen Wasserläufe ableiten, um den diamanthaltigen Sand derselben auszuheben und zu waschen. Früher bedurfte es nicht so vieler Umstände.

– Da hätte man die schönste Zeit also verpaßt, seufzte Fragoso in komischem Ernste.

– Nun, ein leichteres Verfahren giebt es noch immer, man kann sich Diamanten verschaffen, wie Verbrecher thun, durch einfachen Diebstahl. Halt, da entsinne ich mich – so im Jahre 1826, ich zählte damals acht Jahre – eines entsetzlichen Vorganges in Tijuco, der den Beweis liefert, daß kühne Verbrecher doch vor nichts zurückschrecken, wenn es sich um Erlangung eines Vermögens durch einen verwegenen Streich handelt. Doch heute dürfte das für Sie weniger Interesse haben...

– O, im Gegentheil, Torres, erzählen Sie weiter, ersuchte Joam Garral den Sprecher ruhig.

– Wie Sie wünschen, antwortete Torres. Jener Vorgang betraf also einen Diamantenraub, und eine Handvoll jener hübschen Steine werthet ja leicht eine Million, wenn nicht gar zwei!«

Torres, dessen Züge seine eigene Habgier abzuspiegeln schienen, öffnete dabei unwillkürlich die Hand und krampfte sie wieder zusammen.

[179] »Die Sache ging nun folgendermaßen zu, fuhr er fort. In Tijuco besteht die Gewohnheit, alle im Laufe eines Jahres gewonnenen Diamanten auf einmal fortzusenden. Man theilt dieselben dort nach ihrer Größe in zwei Sorten, nachdem sie vorher schon durch zwölf Siebe mit ungleichen Löchern gegangen sind. Die beiden Packete werden, nur in Säcken verwahrt, nach Rio de Janeiro geschafft. Da diese jedoch einen Werth von so und so vielen Millionen repräsentiren, können Sie sich wohl vorstellen, daß eine solche Sendung unter sicherer Bedeckung befördert wird. Letztere besteht gewöhnlich aus einem, von der Regierung auserwählten Beamten, vier Berittenen aus dem Regimente der Provinz und zehn Mann zu Fuß. Diese begeben sich zunächst nach Villa Rica, wo der commandirende General sein Siegel auf die Säcke drückt, und dann geht der Zug nach Rio de Janeiro ab. Ich bemerke hierzu, daß der Termin der Abreise dahin aus Vorsicht stets geheim gehalten wird. Nun klügelte im Jahre 1826 ein gewisser Dacosta, ein junger, etwa zwei- oder dreiundzwanzigjähriger Beamter, der seit mehreren Jahren in Tijuco im Bureau des General-Gouverneurs arbeitete, folgenden Streich aus: Er setzte sich mit mehreren Schleichhändlern in's Einvernehmen und verrieth ihnen den Tag der Absendung der Diamanten, so daß die wohlbewaffneten Uebelthäter die nöthigen Maßregeln treffen konnten. In der Nacht des 22. Januar fiel die Räuberbande jenseits Villa Rica unversehens über die Soldaten her, welche sich heldenmüthig wehrten, aber niedergemetzelt wurden, bis auf einen, der schwer verwundet entkam und über das schreckliche Attentat Bericht erstattete. Der begleitende Beamte war dabei ebenso wenig geschont worden wie die Soldaten der Escorte. Unter den Streichen der Banditen gefallen, mochte sein Körper wohl in eine unzugängliche Schlucht gestürzt worden sein, denn niemals wurde eine Spur von ihm gefunden.

– Und jener Dacosta? fragte Joam Garral.

– Nun, sein Verbrechen brachte ihm keinen Lohn. Verschiedene Umstände lenkten bald den Verdacht der Urheberschaft auf den jungen Mann, und er wurde deshalb unter Anklage gestellt, wo er vergeblich seine Unschuld betheuerte. In Folge seiner Stellung mußte er den Tag, an dem die Sendung abgehen sollte, vorher kennen; nur er allein konnte die Bande jener Uebelthäter davon benachrichtigt haben. Er wurde also angeklagt, verhaftet und nach längerer Verhandlung zum Tode verurtheilt. Die Execution eines solchen Urtheils pflegte gewöhnlich binnen vierundzwanzig Stunden zu erfolgen.

– Und der Unglückliche erlitt also den Tod? fragte Fragoso.

[180] – Nein, antwortete Torres. Aus dem Gefängniß in Villa Rica, wo er in der Nacht untergebracht war, gelang es ihm entweder allein oder wahrscheinlicher mit Hilfe anderer Spießgesellen zu entfliehen.

– Seit jener Zeit hat man von dem Manne nie wieder etwas gehört? fragte Joam Garral.

– Niemals, versicherte Torres. Er wird Brasilien verlassen haben und lebt vielleicht herrlich und in Freuden in fremdem Lande von dem Ertrage des Raubes, den er gewiß zu verwerthen gewußt hat.

– Möchte er lieber unter dem Fluche seiner That seufzen! bemerkte Joam Garral.

– Und Gott möge sein Gewissen erweckt haben!« fügte der Padre Passanha hinzu.

Hiermit erhoben sich Alle nach beendigtem Essen von der Tafel und begaben sich hinaus, um die erquickende Abendluft zu genießen. Schon neigte sich die Sonne dem Horizonte zu, aber vor Ablauf einer Stunde konnte es noch nicht finster werden.

»Solche Erzählungen hinterlassen einen peinlichen Eindruck, sagte Fragoso, unser Verlobungsfest fing weit hübscher an.

– Daran bist Du aber selbst schuld, lieber Fragoso, meinte Lina.

Ich, in wiefern?

– Du sprachst immer weiter über jenen District und seine Diamanten, eine Sache, mit der wir doch gar nichts zu schaffen haben.

– Das ist freilich wahr, gestand Fragoso, aber ich hatte keine Ahnung davon, wohin jene Unterhaltung führen sollte.

– Du bist also in erster Linie der Schuldige.

– Aber auch der am härtesten Bestrafte, liebste Lina, weil ich Dich beim Dessert nicht ein einziges Mal habe lachen hören!«

Die ganze Familie begab sich nach dem Vordertheile der Jangada. Manoel und Benito gingen schweigsam neben einander. Yaquita und deren Tochter folgten ihnen ebenso stumm, und Alle erfüllte eine gewisse bange Empfindung wie ein Vorgefühl drohenden Unheils.

Torres hielt sich in der Nähe Garral's auf, der, mit gebeugtem Haupte dahinwandelnd, tief in Gedanken versunken schien, und legte ihm plötzlich die Hand auf die Schulter.

»Joam Garral, begann er, könnte ich Sie ein Viertelstündchen sprechen?«

[181] Garral sah ihn groß an.

»Hier? fragte er.

– Nein, unter vier Augen.

– So kommen Sie mit!«

Beide begaben sich nach dem Hause, traten da selbst ein und schlossen hinter sich die Thür.

Es möchte schwer zu sagen sein, was Jeder empfand, als Joam Garral und Torres verschwunden waren. Welche Gemeinschaft konnte zwischen dem Abenteurer und dem ehrbaren Fazender von Iquitos bestehen? Es schien ein furchtbares Unglück über der ganzen Familie zu schweben und Niemand wagte, sich darüber Rechenschaft zu geben.

»Manoel, sagte Benito endlich, den Freund am Arme mit sich fortziehend, geschehe was da wolle, aber jener unheimliche Mann wird in Manao an's Land gesetzt.

– Gewiß... das wird und muß geschehen! stimmte Manoel ein.

– Und wenn meinem Vater durch ihn... ja, durch ihn irgend ein Unglück widerfährt, dann bezahlt er mir's mit dem Leben!«

Fußnoten

1 Sechs Milliarden Mark, nach der ohne Zweifel stark übertriebenen Abschätzung Romé's de l'Isle.

2 Ein brasilianisches Karat = 212 Milligramm.

20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Unter vier Augen.

Allein in dem Zimmer, wo Niemand sie sehen oder hören konnte, sahen Joam Garral und Torres einander kurze Zeit schweigend an. Wagte sich der Abenteurer jetzt nicht mit der Sprache heraus? Setzte er voraus, daß Joam Garral auf seine an ihn zu richtenden Fragen nur mit verächtlichem Schweigen antworten würde?

Ohne Zweifel. Torres verzichtete auch darauf, erst Fragen zu stellen. Seit dem kurz vorausgegangenen Tischgespräch fühlte er sich seiner Sache so sicher, daß er gleich in der Rolle des Anklägers auftrat.

[182] »Joam, begann er, Sie heißen nicht Garral sondern Dacosta!«

Bei der Nennung des Namens jenes Verbrechers konnte sich Joam Garral eines leisen Zitterns nicht erwehren, aber er gab keine Antwort.

»Sie sind Joam Dacosta, wiederholte Torres, vor dreiundzwanzig Jahren Beamter im Bureau des General-Gouverneurs von Tijuco, und Sie sind es auch, der in Folge jener Raub- und Mordgeschichte verurtheilt wurde.«

Keine Erwiderung von der Seite Joam Garral's, dessen merkwürdige Ruhe den Abenteurer doch etwas überraschte. Sollte er sich mit dieser Anklage gegen seinen Wirth doch täuschen? Nein! Schon weil jener auf diese furchtbare Beschuldigung hin nicht entsetzt aufsprang und mit sich zu Rathe zu gehen oder Torres weiter aushorchen zu wollen schien.

»Joam Dacosta, sagte dieser noch einmal. Sie sind es, der wegen jener berüchtigten Diamanten-Affaire verhaftet, des Verbrechens überwiesen und zum Tode verurtheilt wurde, und kein Anderer als Sie, der wenige Stunden vor der Hinrichtung aus der Kerkerzelle von Villa Rica entsprang. Können Sie darauf eine Antwort geben?«

Auf diese unumwundene Frage Torres' erfolgte nur ein langes Schweigen. Joam Garral hatte sich ruhig niedergesetzt. Den Ellenbogen stützte er auf einen kleinen Tisch und sah seinem Ankläger, ohne den Kopf zu senken, gerade in's Gesicht.

»Können Sie darauf eine Antwort geben? wiederholte Torres.

Welche Antwort erwarten Sie von mir? sagte Joam Garral gelassen.

– Eine Antwort, erklärte Torres, die mich der Nothwendigkeit enthebt, in Manao zu dem Chef der Polizei zu gehen und zu melden: Es befindet sich hier ein Mann, dessen Identität leicht festzustellen sein, den man auch nach dreiundzwanzigjähriger Abwesenheit wiedererkennen wird, und dieser Mann ist der Urheber des bekannten Diamantenraubes in Tijuco, der Helfershelfer jener Mörder der Begleitmannschaft, der Verurtheilte, der sich seiner Strafe zu entziehen wußte, Joam Garral ist es, dessen wirklicher Name Joam Dacosta lautet.


Die Soldaten, welche sich heldenmüthig wehrten. (S. 180.)

– Ich würde demnach, äußerte Joam Garral, von Ihnen, Torres, nichts zu fürchten haben, wenn ich die erwünschte Antwort gäbe?

– Nichts, denn dann hätten weder Sie noch ich ein Interesse daran, von jenem Vorfall zu reden.

– Weder Sie noch ich? antwortete Joam Garral. Mit Geld allein könnt' ich Ihr Schweigen also nicht erkaufen?

– Nein, welche Summe Sie mir auch böten!

[183] – Was verlangen Sie aber dann?

– Joam Garral, antwortete Torres, hören Sie meinen Vorschlag. Uebereilen Sie sich nicht, diesen rundweg abzuweisen, und denken Sie daran, daß Sie in meiner Gewalt sind.

– Wie lautet denn Ihr Vorschlag?« fragte Joam Garral.

Torres sammelte sich einen Augenblick. Das Benehmen dieses Schuldigen fiel ihm doch nicht wenig auf. Er hatte auf ein erregtes Wortgefecht, auf Bitten, auf Thränen gerechnet... Vor ihm stand ein der schlimmsten Verbrechen bezichtigter

[184] und deshalb verurtheilter Mann, aber dieser Mann kam nicht im mindesten außer Fassung.

»Sie haben eine Tochter, begann er endlich, die Arme kreuzend. Das Mädchen gefällt mir. Ich will Sie ehelichen.«

Joam Garral versah sich von Seiten eines solchen Menschen wohl schon im voraus alles Möglichen, denn auch diese Forderung raubte ihm die Ruhe nicht.


Die ganze Familie begab sich nach dem Vordertheile. (S. 181.)

»Der ehrenwerthe Torres, erwiderte er, scheut sich also nicht, in die Familie eines Räubers und Mörders einzutreten?

[185] – Ueber meine Handlungsweise hab' ich allein zu richten, antwortete Torres. Ich will Joam Garral's Schwiegersohn werden und das wird auch in Erfüllung gehen.

– Sie scheinen ganz außer Acht zu lassen, Torres, daß meine Tochter im Begriffe steht, Manoel Valdez zu heiraten?

– Sie werden Ihre Manoel Valdez gegebene Zusage einfach zurücknehmen.

– Und wenn meine Tochter sich weigert?

– So werden Sie ihr Alles mittheilen, und sie wird, soweit kenne ich das Mädchen, dann Ja sagen, antwortete Torres unverschämt genug.

– Alles?

– Wenn's sein muß, Alles! Zwischen dem eigenen Gefühle und der Ehre ihrer Familie, dem bedrohten Leben ihres Vaters wird ihr die Wahl des verlangten Opfers nicht schwer werden.

– Sie sind ein erbärmlicher Schurke, Torres! sagte Joam Garral, der immerfort seine Kaltblütigkeit bewahrte, sehr ruhig.

– Ein Schurke und ein Mörder – ja Gleich und Gleich gesellt sich einmal gern!«

Bei diesen Worten erhob sich Joam Garral und trat an den Abenteurer, diesen scharf fixirend, näher heran.

»Torres, sagte er bestimmt, wenn Sie sich der Familie Joam Dacosta's anschließen wollen, dann hängt das so zusammen, daß Sie Kenntniß von Joam Dacos ta's Unschuld an dem ihm zur Last gelegten Verbrechen haben.

– Wirklich?!

– Und daß Sie, füge ich hinzu, auch Beweise dafür besitzen, mit welchen Sie erst am Tage der Hochzeit mit meiner Tochter hervortreten würden.

– Spielen wir mit offener Karte, Joam Garral, antwortete Torres jetzt mit gedämpfter Stimme, wenn Sie mich angehört haben, wird sich's ja zeigen, ob Sie meine Bewerbung um Ihre Tochter ausschlagen.

– Ich höre, Torres.

– Nun... ja! sagte der Abenteurer etwas zögernd, als bereue er schon, mit diesem Worte zu viel zugestanden zu haben, ja... Sie sind unschuldig. Ich weiß es, denn ich kenne den wirklichen Verbrecher und habe auch den Beweis für Ihre Unschuld in den Händen.

– Und der Elende, welcher jenes Verbrechen beging?

– Der ist todt!

[186] – Todt! rief Joam Garral, der bei dieser Nachricht unwillkürlich erbleichte, als sei ihm nun jede Möglichkeit der Wiederherstellung seines ehrlichen Namens abgeschnitten.

– Ja, todt! versicherte Torres. Dieser Mann aber, den ich lange Zeit kannte, ohne in ihm den Verbrecher zu vermuthen, hat eine eigenhändige schriftliche Darstellung der Vorgänge bei dem Diamantendiebstahle hinterlassen, welche bis auf das Einzelnste eingeht. Als er sein Ende herankommen fühlte, marterten ihn die Gewissensbisse. Er hatte Kenntniß davon, wohin Joam Dacosta geflüchtet, unter welchem Namen er ein neues Leben begonnen. Er wußte, daß er reich war, in glücklichen Familienverhältnissen lebte, aber daß ihn doch ein geheimer Stachel peinigen mußte. Er wollte ihn erlösen, den Makel seines Namens tilgen... aber der Tod kam ihm zuvor... er beauftragte mich, seinen vertrauten Gefährten, das auszuführen, was ihm nun unmöglich wurde. Da übergab er mir noch die Beweise der Unschuld Dacosta's, um sie diesem auszuliefern, und – schloß die Augen für immer.

– Der Name, der Name dieses Mannes? rief Joam Garral in höchster Aufregung.

– Den werden Sie erfahren, sobald ich Ihrer Familie angehöre.

– Und jenes Schriftstück?...«

Joam Garral war nahe daran, Torres mit Gewalt zu visitiren, um ihm die Beweise seiner Unschuld zu entreißen.

»Das Schriftstück ist gut aufgehoben, antwortete Torres, und Sie werden es erst erhalten, wenn Ihre Tochter mein Weib geworden ist. Nun, weigern Sie sich noch immer?

– Ja, erwiderte Garral. Für das Schriftstück biete ich Ihnen aber die Hälfte meines Vermögens!

– Die Hälfte Ihres Vermögens, lachte Torres, wenn mir's Minha als Mitgift bringt, dann nehme ich es an!

– Auf diese Weise ehren Sie also den letzten Willen eines Sterbenden, eines Verbrechers, in dessen Brust das Gewissen erwachte und der Ihnen anvertraute, die Wunden zu heilen, die er mir einst geschlagen?

– Ganz wie Sie sagen!

– Noch einmal, Torres, Sie sind ein erbärmlicher Schurke!

– Meinetwegen!

– Und da ich kein Verbrecher bin, so haben wir mit einander nichts gemein!

[187] – Sie weigern sich also?...

– Ganz entschieden!

– So wollen Sie Ihr Verderben, Joam Garral. Alle bekannten Umstände wälzen die Schuld an jenem Verbrechen auf Sie. Sie wurden zum Tode verurtheilt und wissen sicherlich, daß die Regierung sich selbst des Rechtes begeben, an Stelle dieser einmal verhängten Strafe eine andere treten zu lassen. Erfolgt eine Anzeige, so werden Sie verhaftet, einmal verhaftet trifft Sie der Tod... und ich, ich zeige Sie an!«

Trotz seiner sonstigen Selbstbeherrschung konnte Joam Garral sich nicht halten. Er sprang auf Torres zu...

Eine Handbewegung des Elenden mäßigte seinen Zorn.

»Hüten Sie sich, rief er warnend, Ihre Frau weiß nicht, daß sie die Gattin Joam Dacosta's, Ihre Kinder wissen nicht, daß sie dessen Kinder sind; die nächste Zukunft wird jene darüber aufklären!«

Joam Garral hielt inne. Er gewann die frühere Selbstbeherrschung und sein Antlitz die gewöhnliche Ruhe wieder.

»Diese Verhandlung hat schon zu lange gedauert, sagte er, sich nach der Thür wendend, und ich weiß, was ich zu thun habe!

– Nehmen Sie sich in Acht, Joam Garral!« warnte ihn zum letzten Male Torres, der gar nicht an die Ablehnung seines erbärmlichen Anerbietens glauben mochte.

Joam Garral würdigte ihn keiner Antwort. Er stieß vielmehr die nach der Veranda führende Thür auf, winkte Torres, ihm zu folgen, und Beide gingen nach dem mittleren Theile der Veranda, wo die Familie versammelt war.

Von quälendster Besorgniß getrieben, hatten Manoel und Benito sich eben erhoben. Sie bemerkten recht wohl, daß Torres' Haltung noch immer eine drohende war, und das Feuer des Zornes in seinen Augen glühte.

In merkwürdigem Gegensatz zur Erscheinung des Abenteurers kam Joam Garral ganz ruhig, fast lächelnd daher gegangen.

Beide blieben bei Yaquita und deren nächster Umgebung stehen. Niemand wagte sie anzusprechen.

Zuletzt brach Torres mit dumpfer Stimme und der ihm eigenen Unverschämtheit das peinliche Stillschweigen.

»Zum letzten Male, Joam Garral, sagte er, verlange ich hier von Ihnen eine entscheidende Antwort.

[188] – Eine Antwort? – Sofort!«

Er wandte sich hiermit an seine Gattin.

»Yaquita, redete er diese an, eigenthümliche Verhältnisse zwingen mich, unsere früheren Bestimmungen bezüglich der Hochzeit Minhas und Manoels abzuändern!

– Endlich!« stieß Torres hervor.

Joam Garral warf dem erbärmlichen Kerle, ohne ein Wort zu erwidern, nur einen verächtlichen Blick zu.

Manoels Herz aber hämmerte bei jener Anrede in seiner Brust, als sollte es zerspringen. Das junge Mädchen erhob sich todtenbleich, als wollte sie an ihrer Mutter Seite Trost und Hilfe suchen. Yaquita breitete die Arme weit aus, ihr Kind zu schützen, zu vertheidigen.

»Mein Vater! rief Benito, während er sich zwischen Joam Garral und Torres drängte, was wollen Sie sagen?

– Ich wollte sagen, antwortete Joam Garral mit erhobener Stimme, daß wir zu lange warten würden, wenn unsere Minha und Manoel erst in Para getraut werden sollten. Hier am Platze, morgen, auf der Jangada, unter dem Segen des Padre Passanha soll die Vermählung erfolgen, wenn Manoel, mit dem ich über diese Angelegenheit noch einmal sprechen will, nicht gar zu abweichender Ansicht ist.

– O, mein Vater, mein theurer Vater!... rief der junge Mann.

– Gedulde Dich noch, ehe Du mich so nennst,« bedeutete ihn Joam Garral mit eigenthümlich schmerzbewegtem Tone.

Torres, der dieser kurzen Scene mit verschränkten Armen beigewohnt hatte, maß die ganze Familie mit frechsten, unverschämtesten Blicken.

»Das ist also Ihr letztes Wort? preßte er hervor, die Hand gegen Joam Garral ausstreckend.

– Nein, das letzte doch noch nicht.

– Und wie lautet dieses?

– Wie folgt Torres. Hier bin ich der Herr! Sie werden, wenn es Ihnen recht ist, und auch wenn es Ihnen nicht recht ist, die Jangada in dieser Minute verlassen.

– Ja, augenblicklich, mischte sich Benito ein, oder ich werfe ihn über Bord!«

Torres zuckte mit den Achseln.

[189] »Nur keine Drohungen, sagte er, das ist unnütz! Mir paßt es selbst, mich ohne Zögern auszuschiffen. Sie werden noch an mich denken, Joam Garral! Wir werden uns zeitig genug wiedersehen.

– Wenn es nur von mir abhängt, erwiderte dieser, so möchten wir einander wohl eher gegenüberstehen, als Sie das wünschen dürften. Morgen begebe ich mich zu dem Criminalrichter Ribeiro, dem höchsten Beamten der Provinz, den ich von meinem Eintreffen in Manao schon benachrichtigt habe.

– Zu dem Richter Ribeiro!... wiederholte Torres, offenbar betroffen.

– Gewiß, zu diesem!« versicherte Joam Garral.

Darauf wies er Torres mit verächtlicher Geberde nach der einen Pirogue und befahl vier Leuten, jenen am nächsten Punkte der Insel an's Land zu setzen.

Endlich verschwand der Bösewicht von der Bildfläche.

Noch innerlich erregt über das Vorhergegangene verharrten Alle schweigend wie das Haupt der Familie. Nur Fragoso, der den Ernst der Lage kaum zur Hälfte begriff, trat leichtfüßig und leichtmüthig an Joam Garral heran.

»Wenn Fräulein Minhas und Manoels Vermählung aber schon morgen auf der Jangada, stattfindet...

– So wird Ihre Hochzeit, guter Freund, natürlich zu derselben Stunde gefeiert werden,« beruhigte ihn Joam Garral.

Darauf winkte er Manoel und begab sich mit diesem in's Haus.

Joam Garral's und Manoels Gespräch mochte wohl eine halbe Stunde in Anspruch nehmen, welche den Anderen ein Jahrhundert dünkte, bis sich endlich die Thür des Wohnhauses öffnete.

Manoel trat allein heraus.

Seine Augen leuchteten wie von einem hochherzigen Entschlusse.

Er trat zu Yaquita heran. »Meine Mutter!« begrüßte er diese; »Mein Weib!« sagte er zu Minha, und »Mein Bruder!« zu Benito, dann wandte er sich an Lina und Fragoso mit den Worten: »Also morgen!«

Er wußte nun, was zwischen Joam Garral und Torres vorgegangen war und daß es Joam Garral durch einen wohl seit einem Jahre ohne Mitwissenschaft seiner Familie geführten Schriftwechsel gelungen sei, den Richter Ribeiro von seiner Unschuld zu überzeugen. Er hatte vernommen, daß der Fazender sich seiner Zeit zu der gegenwärtigen Reise nur durch die Aussicht bestimmen ließ, eine Revision des wahrhaft schmählichen Processes erlangen zu können, als dessen unschuldiges Opfer er vor langen Jahren fiel, um auf seinem Schwiegersohne [190] und der lieblichen Tochter nicht auch die Bürde der schrecklichen Situation lasten zu lassen, die er so lange Zeit ertragen hatte und ertragen mußte.

Ja, Manoel kannte jetzt Alles, er wußte aber auch, daß Joam Garral, oder vielmehr Joam Dacosta, unschuldig und ihm um seines Unglücks willen nur noch theurer war als je.

Nur von dem einen Umstande hatte er noch keine Kenntniß, daß der handgreifliche Beweis von des Fazenders Unschuld sich in Torres' Händen befand. Joam Garral wollte dem Richter die Geltendmachung dieses Beweises reserviren, der von ihm auch den letzten Verdacht abwenden mußte, wenn der Abenteurer überhaupt die Wahrheit gesprochen hatte.

Manoel beschränkte sich zunächst auf die Mittheilung, daß er zu dem Padre Passanha mit der Bitte gehen wolle, alles zu der Celebrirung der Doppeltrauung Nöthige schleunigst vorzubereiten.

Am Morgen des 24. August, eine Stunde, bevor die Feierlichkeit stattfinden sollte, legte sich eine große, vom linken Ufer hergekommene Pirogue an die Seite der Jangada. Ein Dutzend Ruderer hatten diese schnell von Manao hergeführt. Auf ihr befand sich außer einigen niedrigeren Beamten auch der Chef der Polizei, der sich zu erkennen gab und an Bord kam.

In demselben Augenblicke traten Joam Garral und seine Angehörigen, schon festlich geschmückt, aus dem Wohnhause.

»Joam Garral? fragte der Polizeichef.

– Der bin ich! meldete sich der Fazender.

– Joam Garral, fuhr der Polizeichef fort. Sie waren einstmals auch Joam Dacosta! Diese beiden Namen hat ein und derselbe Mann getragen. Ich verhafte Sie!«

Vor Schreck erstarrt waren Yaquita und Minha bei diesen Worten unbeweglich stehen geblieben.

»Mein Vater – ein Mörder?!« rief Benito, während er auf Joam Garral zueilte.

Mit einer Handbewegung gebot ihm dieser Schweigen.

»Ich erlaube mir nur eine Frage, wandte sich Joam Garral mit fester Stimme an den Polizeichef. Erhielten Sie das Mandat, auf dessen Inhalt hin Sie mich verhaften, von dem Gerichtspräsidenten in Manao, von dem Richter Ribeiro?

– Nein, antwortete der Beamte, es ist mir, mit dem Befehle sofortiger Ausführung von dessen Stellvertreter ausgehändigt worden. Der Richter Ribeiro [191] bekam gestern Abends einen Schlaganfall und ist diese Nacht um zwei Uhr, ohne wieder zum Bewußtsein zu gelangen, gestorben.

– Gestorben? rief Joam Garral, kurze Zeit vor Schreck versteinert, todt!... todt!...«

Bald erhob er aber wieder das Haupt und wendete sich an seine Gattin und die Kinder.

»Der Criminalrichter Ribeiro, erklärte er, wußte allein, daß ich unschuldig war.


»Nehmen Sie sich in Acht!« warnte Torres. (S. 188.)

Sein Tod trifft mich zwar sehr hart, aber es ist kein Grund deshalb zu [192] verzweifeln, und auch Ihr Alle, die meinem Herzen so nahe stehen, Ihr könnt ruhig in die Zukunft blicken.«

Dann wandte er sich an Manoel.

»Ich vertraue der Barmherzigkeit Gottes, sagte er zu ihm. Jetzt wird sich's zeigen, ob die Gerechtigkeit des Himmels auch auf Erden eine Stätte findet.«


Laßt der menschlichen Gerechtigkeit ihren Lauf. (S. 104)

Der Polizeichef gab seinen Leuten ein Zeichen, welche darauf näher traten, um sich Joam Garral's zu bemächtigen.

[193] »Aber, Vater, so sprechen Sie doch ein Wort! rief Benito, vor Verzweiflung halb von Sinnen. Sagen Sie ein Wort und wir werden, wenn nicht anders, durch Gewaltmaßregeln das unselige Mißverständniß aufklären, dem Sie zum Opfer fallen.

– Hier waltet kein Mißverständniß, mein Sohn, antwortete der Fazender. Joam Dacosta und Joam Garral sind wirklich ein und dieselbe Person. Ich, ich bin Joam Dacosta – aber ein ehrlicher Mann, der nur durch richterlichen Irrthum einst zum Tode verurtheilt wurde – dreiundzwanzig Jahre sind darüber hingegangen und der wirkliche Schuldige blieb unentdeckt. Meine vollkommene Unschuld, Ihr geliebten Kinder, beschwöre ich hiermit ein für alle Mal beim allwissenden Gotte, bei meiner Liebe zu Euch und Eurer Mutter!«

– Von jetzt an hat jede weitere Communication zwischen Ihnen und Ihren Angehörigen zu unterbleiben. Sie sind mein Gefangener, Joam Garral, und ich werde meinem Mandate gemäß mit aller Strenge verfahren.«

Joam Garral beruhigte seine Kinder und die betroffenen Diener durch eine Handbewegung.

»Laßt der menschlichen Gerechtigkeit Ihren Lauf, sagte er, die göttliche muß doch noch siegen!«

Mit ungebeugtem Muthe und stolzer Haltung bestieg er die Pirogue.

Es hatte wirklich den Anschein, als ob von allen bei dieser unerwarteten Katastrophe Betheiligten Joam Garral, auf dessen Haupt sich diese doch entlud, am wenigsten getroffen worden sei.


Ende des ersten Bandes. [194]

2. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Manao.

Die Stadt Manao liegt genau unter 3° 8' 4'' südlicher Breite und 67° 27' westlicher Länge von Paris. Vierhundertzwanzig kilometrische Meilen (à 10 Kilometer), dem Stromlaufe nach gemessen, trennen sie von Belem, aber nur zehn Kilometer von der Mündung des Rio Negro.

Manao ist nicht am Ufer des Amazonenstromes erbaut; am linken Ufer des Rio Negro vielmehr, jenes größten und wichtigsten Nebenflusses der gewaltigen brasilianischen Wasserader, erhebt sich die Hauptstadt der Provinz und beherrscht die benachbarten Campinen mit dem pittoresken Bilde ihrer Privathäuser und öffentlichen Gebäude.

Der im Jahre 1645 von dem Spanier Favella entdeckte Rio Negro entspringt am Abhange der im Nordwesten zwischen Brasilien und Neu-Granada gelegenen Gebirge, tief in der Provinz Popayan, und steht mit dem Orinoco durch zwei Seitenarme, den Pimichim und den Cassiquiare, in unmittelbarer Verbindung.

Nach tausendsiebenhundert Kilometer langem Laufe durch wunderschöne Gegenden ergießt der Rio Negro seine schwarzen Wassermassen durch eine elfhundert Toisen breite Mündung in den Amazonenstrom, mit dessen Fluthen sie sich jedoch, in Folge ihrer rascheren Bewegung, noch auf mehrere Meilen hin nicht vermischen. Diese Verschmelzung findet erst an einem Punkte statt, wo die Ufer zurücktreten und eine Art geräumiger Bucht bilden, welche etwa fünfzehn Meilen lang ist und bis nach den Anavilhanas-Inseln hinreicht.

In einer scharfen Einbiegung des Flusses nun befindet sich der Hafen von Manao. Hier treffen immer viele Fahrzeuge zusammen, die einen verankert [195] in der Strömung selbst, die anderen in der Reparatur begriffen in den zahlreichen Iguarapes oder Kanälen, welche die Stadt in jeder Richtung durchziehen und ihr fast einen holländischen Typus verleihen.

Laufen hier erst Dampfschiffe an, und das kann bei der glücklichen Vereinigung der beiden großen Ströme nicht lange mehr auf sich warten lassen, so muß der Handel Manaos offenbar mächtig emporblühen. Hier bieten sich für Bau- und Tischlerhölzer, für Cacao, Kautschuk, Kaffee, Sarsaparille, Zuckerrohr, Indigo, Muskatnüsse, eingesalzene Fische, Schildkrötenbutter und hunderterlei andere Waaren schiffbare Flüsse genug dar, um dieselben nach allen Richtungen hin zu verfrachten: der Rio Negro nach Norden und Westen, der Madeira nach Süden und Westen und dazu der Amazonenstrom selbst, der nach Osten bis zum Gestade des Atlantischen Oceans verläuft. Die Lage dieser Stadt darf also gewiß als eine sehr günstige bezeichnet werden und muß schon an sich mächtig zum Aufschwunge derselben beitragen.

Manao – oder Manaos – hieß früher Moura und später, sowie zum Theile noch heute, Barra de Rio Negro. Von 1757 bis 1804 gehörte sie zu der Kapitanerie gleichen Namens mit dem großen Nebenstrome, an dessen Mündung sie gegründet wurde. Etwa 1826 wurde sie dagegen die Hauptstadt der großen Provinz Amazones und entlehnte ihren jetzigen Namen von einem Indianerstamme, der vordem in den Gebieten Central-Amerikas siedelte.

Wiederholt haben schlecht informirte Reisende diese Stadt mit dem sagenhaften Manao verwechselt, das alten Ueberlieferungen nach nahe dem ebenso fabelhaften Parima-See liegen sollte, unter welch' letzterem wahrscheinlich nichts anderes als der obere Branco, das heißt ein Nebenfluß des Rio Negro, zu verstehen sein dürfte. Hierher verlegte man das Königreich El Dorado, dessen Herrscher sich jeden Morgen, den Sagen des Landes nach, mit Goldstaub überpudern ließ, den man mit Schaufeln sammelte, denn in so großer Menge soll jenes werthvolle Metall in diesen schätzereichen Gebieten vorgekommen sein. Eine nüchterne Untersuchung freilich zerstörte solche glänzende Trugbilder, und der vermuthete Goldüberfluß schrumpfte auf das Vorkommen vieler glimmerartigen Gesteine zusammen, deren Aussehen die Augen beutegieriger Goldsucher getäuscht hatte.

Manao selbst verräth nicht das Mindeste von den fabelhaften Schätzen der mythenhaften Hauptstadt des einstigen El Dorado. Es ist eine schlichte Stadt von kaum fünftausend Einwohnern, darunter nicht weniger als dreitausend [196] Beamte. Eine nothwendige Folge davon ist, daß selbst viele Privatgebäude öffentliche Behörden beherbergen, so z. B. das Gerichtsgebäude, das Präsidentschaftshaus, das Schatzamt, die Post, die Zolleinnahme, ohne eine höhere im Jahre 1848 gegründete Schule zu erwähnen, und ein Hospital, das erst aus dem Jahre 1851 herrührt. Rechnet man hierzu noch den Kirchhof am Ostabhange eines Hügels, auf dem im Jahre 1669 ein jetzt abgetragenes Festungswerk zur Abwehr der Flußpiraten des Amazonenstromes errichtet worden war, so hat man damit Alles kennen gelernt, was die Stadt an Profangebäuden bietet.

Kirchliche Gebäude giebt es eigentlich nicht mehr als zwei, die kleine Kirche de la Conception und die Kapelle Notre Dame des Remèdes, letztere draußen, ziemlich im freien Felde, auf einer Bodenerhebung erbaut, welche Manao dominirt.

Das ist für eine Stadt spanischen Ursprungs gewiß nur wenig. Außer jenen Gebäuden gab es nur noch ein Karmeliterkloster, das 1850 in Asche gelegt wurde, und seitdem Ruine geblieben ist.

Die Bevölkerung Manaos erreicht nur die vorher angegebene geringe Zahl und besteht, außer den Beamten, angestellten Personen und Soldaten vorzüglich aus portugiesischen Kaufleuten und Indianern aus den verschiedenen am Rio Negro wohnenden Stämmen.

Drei immerhin ziemlich unregelmäßige Straßen durchschneiden die Stadt; diese führen sehr charakteristische Namen, welche auf die ganze Denk- und Handlungsweise im Lande ein helles Schlaglicht werfen, nämlich die Straße Gottes des Vaters, die Straße Gottes des Sohnes und die Straße Gottes des heiligen Geistes. Nach Westen hin erstreckt sich außerdem eine prächtige Allee von hundertjährigen Orangenbäumen, welche die Architekten pietätvoll verschonten, als sie aus der alten Stadt die jetzige neue schufen.

Zwischen den genannten Hauptstraßen breitete sich dann ein Netz von ungepflasterten Gassen aus, durchschnitten von vier Kanälen, über welche hölzerne Stege führen. An einzelnen Stellen verlaufen diese Iguarapes mitten durch große, freie Plätze mit üppigem Rasen und buntschillernden Blumen, eine Art natürlicher Squares mit einem Rahmen herrlicher Bäume, unter welchen der »Sumaumeira« am häufigsten vorkommt, jener Riese des Pflanzenreiches, dessen Rinde sich durch ihr blendendes Weiß und dessen Krone sich durch den weitverzweigten, schirmähnlichen Wipfel auszeichnet, den ein auffallend knorriges Astwerk stützt.

[197] Die verschiedenen Privathäuser muß man mühsam aus einigen Hundert halb verfallenen Gebäuden heraussuchen; einzelne derselben sind mit Ziegeln abgedeckt, andere tragen nur eine Bedachung aus nebeneinander gelegten Palmenblättern, alle aber haben sie weit vorspringende Sonnenschutzdächer und etwas herausgebaute Läden, welche meist von portugiesischen Händlern gehalten werden.

Die Leute, die zur Promenadezeit aus den öffentlichen wie aus den Privathäusern herausströmen, sind theils Männer mit hochwichtiger Amtsmiene, schwarzem Rocke, Seidenhut, Lackstiefeln und hellfarbigen Handschuhen, mit Diamanten in der Cravattenschleife, theils Frauen in großer, aber schreiender Toilette mit falbelreichen Kleidern und möglichst modernen Hüten; endlich auch Indianer, die sich zu europäisiren streben und damit die letzte locale Färbung hier im mittleren Theile des Amazonenbeckens vernichten.

Das ist Manao, welches der Leser zum weiteren Verständniß dieser Erzählung einigermaßen kennen lernen mußte. Hier also wurde die so tragisch unter brochene Reise der Jangada mitten in der langen Strecke, die sie noch zurücklegen sollte, abgeschnitten; hier sollte das Geheimniß Joam Garral's, das er so lange bewahrt, an den Tag kommen.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Die ersten Stunden.

Kaum verschwand den Zurückbleibenden die Pirogue, welche Joam Garral oder vielmehr Joam Dacosta – denn diesen Namen müssen wir ihm wohl wieder beilegen – forttrug, aus den Blicken, als Benito auf Manoel zuging.

»Was weißt Du? fragte er.

– Ich weiß, daß Dein Vater unschuldig ist! Ja, unschuldig, wiederholte Manoel, und daß vor dreiundzwanzig Jahren über ihn ein Todesurtheil gefällt worden war wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hatte.

– Er hat Dir das Alles mitgetheilt, Manoel?

– Alles, lieber Benito, erwiderte der junge Mann. Der ehrenhafte [198] Fazender wollte nicht, daß seine Vergangenheit für Den ein Räthsel sein sollte, der durch die Vermählung mit seiner Tochter als zweiter Sohn in seine Familie einzutreten wünschte.

– Und die Beweise für seine Unschuld? Wird mein Vater im Stande sein, solche beizubringen?

– Diesen Beweis, Benito, liefert schon genügend ein dreiundzwanzigjähriges ehrliches und geehrtes Leben, schon der Entschluß Joam Dacosta's, selbst vor den Richter zu treten und zu sagen: »Hier bin ich! Ich ertrag' es nicht mehr, solche falsche Rolle zu spielen, und mag mich nicht mehr unter einem Namen verbergen, der nicht der meinige ist. Ihr hattet einen Unschuldigen verurtheilt, jetzt gebt ihm seine Ehre wieder!«

– Und Du hast, als mein Vater so zu Dir sprach, an der Wahrheit seiner Worte niemals gezweifelt?

– Keinen Augenblick, mein Bruder!« antwortete Manoel.

Die beiden jungen Männer reichten einander die Hände und besiegelten ihre Uebereinstimmung durch einen herzlichen Druck.

Benito begab sich hierauf zu dem Padre Passanha.

»Padre, begann er, geleiten Sie meine Mutter und Schwester nach ihren Zimmern – verlassen Sie dieselben heute nicht! Hier – das wissen Sie – zweifelt Niemand an der Unschuld meines Vaters, Niemand!... Morgen werden wir den Chef der Polizei aufsuchen. Er wird uns den Eintritt in das Gefängniß nicht verwehren. Nein, das wäre zu grausam! Dort sehen wir unseren Vater und werden mit ihm überlegen, welche Schritte zu thun seien, um seine Befreiung von so schwerer Anklage zu erwirken!«

Yaquita war zuerst einer Ohnmacht nahe gewesen; wenn der unerwartete Schlag die muthige Frau aber auch fast niederschmetterte, so gewann sie doch bald wieder die Herrschaft über sich; als Yaquita Dacosta mußte sie ja dieselbe bleiben, wie früher als Yaquita Garral.


Manao (S. 195.)

Sie zweifelte nicht im Geringsten an der Schuldlosigkeit ihres Gatten, ja, es kam ihr nicht einmal der Gedanke, Joam Garral deshalb zu tadeln, weil er sie unter fremdem Namen geheiratet hatte. Vor ihrer Erinnerung stand nur das lange Leben voll reinen Glückes, das ihr dieser ehrenwerthe, unrechter Weise verdächtigte Mann bescheert hatte. Ja, am nächsten Tage wollte sie an die Thür seines Kerkers eilen und diese nicht eher verlassen, als bis sie sich vor ihr geöffnet hätte.

[199] Der Padre Passanha führte sie und ihre Tochter, welche sich der Thränen nicht erwehren konnte, hinweg, und alle Drei zogen sich in das Wohnhaus zurück.

Die beiden jungen Männer blieben allein.

»Und jetzt, lieber Manoel, nahm Benito wieder das Wort, jetzt mußt Du mir Alles mittheilen, was mein Vater Dir anvertraut hat.

– Ich habe keine Ursache, Dir etwas zu verhehlen, Benito.

– So sage, was hatte Torres an Bord der Jangada überhaupt für einen Zweck?

[200] – Er wollte Joam Dacosta die Lösung des Räthsels aus seinem früheren Leben verkaufen.

– Demnach hatte Torres, als wir ihn in den Wäldern von Iquitos trafen, schon damals die Absicht gehabt, sich mit meinem Vater in nähere Verbindung zu setzen?

– Daran ist kaum zu zweifeln, bestätigte Manoel. Der Schurke befand sich eben auf dem Wege nach der Fazenda, um dort ein von langer Hand vorbereitetes, schmähliches Tauschgeschäft abzuschließen.


Der »Sumaumeira«, jener Riese des Pflanzenreiches. (S. 197.)

[201] – Und als wir gegen ihn äußerten, sagte Benito, daß mein Vater nebst der ganzen Familie im Begriff sei, über die Grenze zu gehen, hat er seinen Plan plötzlich geändert?...

– Gewiß, Benito. Schon weil Joam Dacosta, wenn er auf brasilianisches Gebiet übertrat, mehr in seiner Gewalt war, als auf dem Boden Perus. Das erklärt hinlänglich, warum wir Torres in Tabatinga wieder trafen, wo er unsere Ankunft erwartete, wo er uns auflauerte.

– Und ich Unglückseliger, rief Benito, sich selbst anklagend, ich mußte so unvorsichtig sein, ihm einen Platz auf der Jangada anzubieten!

– Liebster Bruder, redete Manoel ihm zu, mach' Dir darüber keine Vorwürfe. Torres würde eher oder später sich an uns anzuschließen gewußt haben. Er war nicht der Mann dazu, die einmal gefundene Fährte aus den Augen zu verlieren. Entgingen wir ihm in Tabatinga, so hätte er in Manao unseren Weg gekreuzt.

– Gewiß, Manoel, damit hast Du wohl Recht! Doch jetzt handelt es sich nicht mehr um das Vorhergegangene, sondern um die Gegenwart... fort mit nutzlosen Selbstvorwürfen! Halten wir die Augen offen für das Nothwendigste!«...

Benito strich sich bei diesen Worten mit der Hand über die Stirn, so als suchte er sich alle Einzelheiten dieser traurigen Angelegenheit wieder vor Augen zu führen.

»Wie in aller Welt, fragte er, konnte Torres davon Kenntniß erlangt haben, daß mein Vater vor dreiundzwanzig Jahren wegen jenes abscheulichen Verbrechens in Tijuco verurtheilt worden war?

– Das weiß ich nicht, erwiderte Manoel, und Alles bestärkt mich in dem Glauben, daß das auch Deinem Vater selbst unbekannt ist.

– Und dennoch wußte Torres von dem Namen Garral, unter dem Joam Dacosta sich verbarg?

– Offenbar.

– Er wußte auch, daß mein Vater in Peru, in Iquitos, seit so langen Jahren Zuflucht gesucht und gefunden hatte?

– Ohne Zweifel, versicherte Manoel; wie er das jedoch erfahren haben mag, kann ich nicht begreifen.

– Noch eine Frage, sagte Benito. Welchen Vorschlag hat Torres wohl meinem Vater während der kurzen Verhandlung gemacht, nach welcher wir ihn an's Land setzten?

[202] – Er hatte gedroht, bei der Behörde Anzeige zu machen, daß Joam Garral jener vermißte Joam Dacosta sei, im Fall er sich weigerte, seine Verschwiegenheit zu erkaufen.

– Und um welchen Preis?

– Um den Preis der Hand seiner Tochter! antwortete Manoel ohne Zögern, aber bleich vor Zorn.

– Der Unselige hätte es gewagt... rief Benito.

– Du weißt selbst, lieber Benito, welche Antwort Dein Vater auf dieses schmähliche Ansinnen ertheilte.

– Gewiß, Manoel, gewiß! Die einem Ehrenmanne einzige mögliche Antwort er gab Torres den Laufpaß! Damit ist die Sache aber leider nicht abgethan; ist mein Vater nicht auf Torres' Denunciation hin verhaftet worden?

– Ja wohl.

– Nun, bei Gott, rief Benito, den Arm drohend gegen das linke Ufer erhebend, ich muß Torres auffinden, ich muß erfahren, wie er in den Besitz dieses Geheimnisses gelangt ist. Er muß mir sagen, ob er es von dem wirklichen Urheber jenes Verbrechens erhalten hat – er wird sich nicht weigern, mir Rede zu stehen – und wenn er das doch wagte, so weiß ich, was mir zu thun übrig bleibt.

– Was zu thun übrig bleibt, aber Dir nicht mehr als mir! fügte Manoel zwar etwas kälter, aber nicht minder entschlossen hinzu.

– Nein, Manoel, nein!... nur mir allein!

– Wir sind jetzt Brüder, Benito, entgegnete Manoel, die Rache gehört uns Beiden!«

Benito erwiderte nichts. Offenbar war sein Entschluß in dieser Frage schon gefaßt.

Da trat der Steuermann Araujo, der den Strom in der Nähe betrachtet hatte, an die beiden jungen Männer heran.

»Haben Sie sich entschieden, fragte er, ob die Jangada bei der Insel Muras verankert bleiben oder in den Hafen von Manao geführt werden soll?«

Hierüber mußte man jedenfalls vor Anbruch der Nacht schlüssig werden und das Für und Wider also sofort erwägen.

Die Neuigkeit von der Verhaftung Joam Dacosta's mußte sich in der Stadt wohl bereits verbreitet haben Unzweifelhaft reizte sie die Neugier der Bewohner Manaos. Konnte sie aber nicht auch noch mehr erregen als bloße [203] Neugier wegen des Verurtheilten, wegen des Urhebers des schmachvollen Verbrechens in Tijuco, das seiner Zeit in Aller Munde gewesen war? Wenn das Volk nun gar unruhig wurde und seinem Abscheu gegen jene Unthat, welche noch nicht einmal gesühnt schien, Ausdruck gab? Wenn das zu befürchten war, so schien es doch rathsamer, die Jangada bei der Insel Muras, am rechten Stromufer und einige Meilen von Manao entfernt, liegen zu lassen.

Die Entscheidung schwankte mehrfach nach der einen und anderen Seite.

»Nein, rief endlich Benito, wenn wir hier bleiben, so hieße das, meinen Vater verlassen und an seiner Unschuld zweifeln; es erschiene, als fürchteten wir, mit ihm gemeinschaftliche Sache zu machen. Wir müssen nach Manao gehen und das ohne Zögern!

– Du hast Recht, Benito, antwortete Manoel, laß uns dahin aufbrechen!«

Araujo nickte ebenfalls beistimmend mit dem Kopfe und traf die nothwendigen Maßregeln, um von der Insel abzustoßen. Dieses Manöver erheischte einige Vorsicht. Es galt ja, in schräger Linie durch den Amazonenstrom und auch noch gegen die Wassermassen des Rio Negro anzufahren, welche sich zwölf Meilen weiter flußabwärts durch dessen weite Einmündung wälzten.

Die an der Insel befestigten Taue wurden gelöst. In die Strömung zurückgeschoben, begann die Jangada langsam in schräger Richtung weiter zu treiben. Araujo benutzte verständig die natürlichen Bogen der sich an Landvorsprüngen brechenden Strömung, um das ungeheuere Floß in gewünschtem Kurse zu erhalten, wozu die langen Bootshaken noch weiter beitrugen.

Zwei Stunden später schwamm die Jangada am anderen Ufer des Amazonenstromes, etwas oberhalb der Mündung des Rio Negro, wo die einen Strudel bildende Strömung sie nach dem unteren Ufer der weiten Bucht an der linken Seite jenes Nebenstromes hintrieb.

Um fünf Uhr endlich lag die Jangada fest vertaut längs dieses Uferlandes, nicht im Hafen von Manao selbst, den sie nur durch mühsames Ankämpfen gegen das schnell dahineilende Wasser hätte erreichen können, aber doch auch nur eine kleine Meile unterhalb desselben.

Der Holztrain ruhte jetzt auf den schwarzen Fluthen des Rio Negro, dicht an einer erhöhten Uferwand mit braunroth knospenden Cecropias und einer Art Schutzwand aus jenen geradstengligen, »Froxas« genannten Rosenbüschen, aus denen die Indianer sich Schußwaffen herzustellen pflegen.

[204] Einzelne Bewohner der Stadt lustwandelten am Strande. Allem Anscheine nach mochte sie die Neugier bis nach dem Ankerplatze der Jangada verlockt haben. Die Nachricht von der Verhaftung Joam Dacosta's verbreitete sich gewiß schnell in der Ortschaft; die Neugier der Manaoenser verleitete diese jedoch nicht bis zur Indiscretion, sie hielten sich wenigstens in anständiger Entfernung.

Benito gedachte eigentlich noch denselben Abend an's Land zu gehen; Manoel rieth ihm aber davon ab.

»Warte bis morgen, sagte er, schon kommt die Nacht, und es scheint mir besser, wir verlassen die Jangada während derselben nicht.

– Du hast Recht, also morgen!« antwortete Benito.

Eben trat Yaquita, gefolgt von ihrer Tochter und dem Padre Passanha, aus dem Wohnhause. Wenn Minha noch in Thränen schwamm, so waren die Augen ihrer Mutter trocken, und Energie und Entschlossenheit sprach aus deren ganzer Erscheinung. Man fühlte es heraus, daß diese Frau jetzt zu Allem bereit war, ebenso ihre Pflicht zu thun, wie ihr Recht zu beanspruchen.

Yaquita ging langsam auf Manoel zu.

»Manoel, hören Sie, was ich Ihnen zu sagen habe, denn ich darf nicht zögern, dem Drange meines Gewissens Genüge zu thun.

– Ich höre!« antwortete Manoel.

Yaquita sah ihm voll und frei in's Angesicht.

»Als Sie gestern, fuhr sie fort, ein Gespräch mit Joam Dacosta, meinem Manne, hatten, kamen Sie darauf zu mir und nannten mich: Meine Mutter! Sie ergriffen die Hand Minhas und sagten zu ihr: Mein Weib! Sie wußten da schon Alles; die Vergangenheit Joam Dacosta's lag klar vor Ihren Augen.

– Gewiß, gab Manoel zur Antwort, und Gott soll mich strafen, wenn ich deshalb einen Augenblick....

– Halt, halt, Manoel, ich glaube Ihnen, unterbrach ihn Yaquita, gestern war Joam Dacosta jedoch noch nicht verhaftet. Jetzt hat sich die Lage sehr wesentlich verändert. Wie schuldlos er auch sein mag, mein Gatte befindet sich in den Händen des Gerichtes; seine Vergangenheit wird öffentlich bekannt; Minha ist die Tochter eines zum Tode Verurtheilten...

– Minha Dacosta oder Minha Garral – ist darin ein Unterschied? rief Manoel leidenschaftlich; bleibt meine Minha nicht dieselbe?

– Manoel!« schluchzte das junge Mädchen.

[205] Sie wäre sicher umgesunken vor Erregung, wenn Linas Arme sie nicht gehalten hätten.

»Mutter, sagte Manoel, wenn Sie sie nicht tödten wollen, so nennen Sie mich Ihren Sohn!

– Mein Sohn, mein Kind!«

Das war Alles, was Yaquita antworten konnte, und wieder stürzten die mühsam zurückgehaltenen Thränen ihr aus den Augen.

Alle kehrten nach dem Wohnhause zurück. Langsam schlich die lange, lange Nacht den schwer Geprüften hin, und keine Stunde Schlaf ließ sie den Gram und Schmerz des letzten Tages vergessen.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Ein Rückblick.

Das Ableben des Oberrichters Ribeiro, auf den Joam Dacosta mit Sicherheit zählen konnte, kam jetzt gewiß recht ungelegen.

Bevor er als Gerichtspräsident, das heißt als erster Beamter der Provinz, nach Manao versetzt wurde, hatte Ribeiro Joam Dacosta schon gekannt, zur Zeit, als der junge Beamte wegen jenes grausigen Raubmordes und Diamanten-Diebstahles verfolgt wurde.

Ribeiro lebte damals als Advocat in Villa Rica. Ihm wurde der Auftrag zutheil, den Angeklagten vor den Geschworenen zu vertheidigen. Er nahm sich dieser Sache mit Liebe an, er machte sie zu der seinigen. Durch Prüfung der Acten wie der Einzelergebnisse der Untersuchung gewann er nicht nur eine gewisse Ueberzeugung, welche ein Vertheidiger so zu sagen a priori haben muß, sondern wirklich die Gewißheit, daß sein Client fälschlicher Weise angeklagt sei, daß er keinen Antheil, weder an der Ermordung der Begleitmannschaften, noch an dem Diamantenraube gehabt habe, daß die ganze Untersuchung einer falschen Fährte folge – mit einem Worte, daß Joam Dacosta vollständig unschuldig sei.

Trotz seiner Redegabe, trotz seiner Hingebung gelang es dem Advocaten Ribeiro jedoch nicht, auch die Jury für seine Ueberzeugung zu gewinnen. Freilich[206] vermochte er auch niemand Anderen der Urheberschaft jenes Verbrechens zu beschuldigen.

Wenn es Joam Dacosta, der sich doch am ehesten dazu in der Lage befand, nicht gewesen war, der den Raubmördern die geheim gehaltene Zeit des Aufbruchs jener Mannschaft mit dem Diamantentransport verrathen hatte, wer sollte es dann gewesen sein? Der Beamte, welcher die Escorte begleitete, war mit dem größten Theile der Soldaten umgekommen; auf ihn konnte der Verdacht sich also nicht wohl lenken. Alles deutete vielmehr darauf hin, Joam Dacosta als den einzigen und thatsächlichen Urheber jenes Verbrechens zu bezeichnen.

Ribeiro vertheidigte ihn mit Wärme, er that was ihm zu thun möglich war – umsonst, er vermochte ihn nicht zu retten. Die Geschworenen bejahten alle Schuldfragen des Procurators. Joam Dacosta wurde wegen überlegten Mordes für überführt erachtet und, da ihm keinerlei mildernde Umstände zugute kamen, selbstverständlich zum Tode verurtheilt.

Jetzt war für den Aermsten jede Hoffnung geschwunden. Eine Umänderung der Strafe schien in diesem Falle, wo das Verbrechen das Diamantenregal des Staates betraf, unmöglich. Der Verurtheilte war verloren... Während der letzten, seiner Hinrichtung vorhergehenden Nacht, als der Galgen für ihn schon errichtet war, gelang es Joam Garral, aus dem Gefängnisse von Villa Rica zu entfliehen. Das Uebrige ist bekannt.

Zwanzig Jahre später wurde der Advocat Ribeiro zum Oberrichter in Manao ernannt. In dem Schlupfwinkel, wohin er sich geflüchtet, hörte der Fazender von Iquitos von dieser Veränderung und erkannte dieselbe als einen glücklichen Umstand, um eine Revision seines Processes mit einiger Aussicht auf Erfolg einleiten zu lassen. Er setzte dabei mit Recht voraus, daß der Advocat heute noch wie früher von seiner Unschuld überzeugt sein werde, und beschloß. Alles zu versuchen, um jetzt wenigstens seine Rehabilitation zu erlangen. Ohne jene Ernennung Ribeiro's zum Oberrichter in der Provinz Amazonas hätte er, bei dem Mangel jedes weiteren Beweises seiner Unschuld, einen solchen Schritt vielleicht kaum gewagt. Obwohl er als Ehrenmann gewiß furchtbar davon leiden mußte, sich in freiwilliger Verbannung in Iquitos zu verbergen, so hätte er doch vielleicht noch länger gewartet, um die Erinnerung an jene Blutthat weiter erbleichen zu lassen, wenn ihn nicht manche andere Gründe veranlaßt hätten, mit Erledigung der auch ihm am Herzen liegenden Angelegenheit nicht länger zu säumen.

[207] Schon lange, ehe Yaquita ihm davon sprach, hatte er einmal bemerkt, daß Manoel seine Tochter liebe.


Einzelne Bewohner lustwandelten am Strande. (S 205.)

Die einstige Verbindung des jungen Militärarztes mit dem jungen Mädchen erschien ihm nach allen Seiten passend und wünschenswerth. Er sah es voraus, wie es nicht lange dauern könne, bis Jener um seiner Tochter Hand anhalten werde, und er wollte sich davon nicht überraschen lassen.

Gerade deshalb aber quälte ihn der Gedanke mehr als je, daß er hier unter falschem Namen lebte, und daß Manoel Valdez, wenn er in die Familie


Yaquita trat aus dem Wohnhause. (S. 205.)

Garral einzutreten glaubte, in Wahrheit in die Joam Dacosta's eintrat, deren Haupt ein Flüchtling war, über dem das Todesurtheil aus früherer Zeit noch [208] immer gleich einem Damoklesschwerte hing. Nein! Unter denselben Umständen, wie seine eigene Heirat, sollte diese Vermählung einmal nicht stattfinden – nein, nimmermehr!

Der Leser erinnert sich der Vorgänge aus jener Zeit. Vier Jahre nach dem Eintritte des jungen Mannes in die Fazenda von Iquitos, und als derselbe schon der Theilhaber Magelhaës' war, wurde der alte Portugiese durch [209] einen Unfall tödlich verletzt. Nur wenige Tage Leben waren ihm noch übrig. Mehr als Alles bekümmerte ihn der Gedanke, daß seine Tochter allein, ohne Schutz und Stütze bleiben sollte; da er jedoch wußte, daß Joam und Yaquita einander liebten, so lag es ihm am Herzen, dieselben ohne Zögern für immer vereinigt zu sehen.

Joam wollte Anfangs auf seinen Wunsch nicht eingehen. Er erbot sich, der Beschützer, der Diener Yaquitas bleiben zu wollen, nicht aber deren Gatte zu werden... Magelhaës' dringenden Bitten konnte er jedoch nicht widerstehen. Yaquita legte ihre Hand in die Joams, und dieser zog die seinige nicht zurück.

Es mochten für ihn schwere Stunden sein. Entweder mußte Joam Dacosta Alles gestehen, oder für immer dieses Haus fliehen, in dem er so gastfreundlich Aufnahme gefunden und zu dessen Aufblühen er so wesentlich beigetragen hatte. Gewiß wollte er lieber Alles zugestehen, als der Tochter seines Wohlthäters einen Namen geben, der nicht der seinige war, den Namen eines wegen Mordes, wenn auch unschuldig, zum Tode Verurtheilten!

Doch die Umstände drängten; der alte Fazender war dem Tode nahe, er streckte zitternd die Hände gegen die jungen Leute aus. Joam Dacosta schwieg, die Ehe wurde geschlossen und der junge Farmer widmete sein ganzes Leben dem Glücke und Wohlergehen Yaquitas, die sein Weib geworden war.

»Wenn ich ihr einst ein Geständniß ablege, sagte sich Joam, wird Yaquita mir verzeihen. Sie wird keinen Augenblick an meiner Unschuld zweifeln. Wenn ich sie aber hintergehen mußte, so werde ich doch den jungen Mann, der sich durch seine Verbindung mit Minha unserer Familie anschließt, nicht täuschen. Nein! Eher laufe ich selbst der Gerechtigkeit in die Arme und endige ein Leben, das mir stets zur Last war!«

Gewiß dachte Joam Dacosta hundertmal daran, seiner Gattin von der Vergangenheit zu sprechen. Das Geständniß schwebte schon auf seinen Lippen, als sie mit der Bitte an ihn herantrat, sie nach Brasilien zu führen, ihr und seiner Tochter die Freude zu bereiten, den schönen Amazonenstrom kennen zu lernen. Er kannte Yaquita genügend, um zu wissen, daß jene Aufklärung die Liebe, die sie zu ihm hegte, nicht vermindern werde... und doch, doch fehlte ihm der Muth.

Wer könnte sich nicht in seine Lage versetzen, wenn er bedenkt, wie glücklich seine ganze Familie lebte durch seine Mühe, durch die Arbeit seines Lebens, wenn vielleicht ein Wort von ihm das Alles für immer vernichten konnte?

[210] Mit solchen Zweifeln quälte er sich lange Jahre hindurch, hier war die Quelle seiner Leiden, die er vor jedem Auge zu verhüllen suchte, das war das Leben dieses Mannes, der keine Handlung seines Lebens zu verbergen Ursache hatte und sich jetzt doch eines ungerechten Richterspruches wegen selbst verborgen halten mußte.

Als er aber an Manoels herzlicher Zuneigung für Minha nicht mehr zweifeln konnte, als er sich sagte, daß wahrscheinlich kaum ein Jahr vergehen werde, bis er in die Lage kommen mußte, seine väterliche Zustimmung zu der Verbindung der beiden jungen Leute zu geben, da litt es ihn nicht mehr, da mußte er Alles versuchen, diesem qualvollen Zustande ein Ende zu machen.

In einem Briefe an den Richter Ribeiro machte er diesen nicht nur mit dem Geheimnisse des Lebens Joam Dacosta's bekannt, nannte diesem den Namen, unter dem er verborgen war, den Ort, wo er mit seiner Familie lebte, sondern gab auch seinen festen Entschluß zu erkennen, sich den Gerichten seines Vaterlandes selbst zu stellen und eine Revision seines Processes zu veranlassen, aus dem er entweder schuldlos und frei hervorgehen mußte, oder der im anderen Falle mit der Vollziehung des in Villa Rica gefällten Urtheils endigen sollte. Es ist leicht zu errathen, welche Gefühle diese Eröffnung in dem Herzen des hochachtbaren Beamten erregen mochten. Jetzt wendete sich nicht ein Angeklagter an den geschickten Advocaten, sondern ein Verurtheilter an den höchsten Beamten der Provinz. Joam Dacosta vertraute sich ihm nicht allein gänzlich an, sondern bestand auch nicht einmal auf der Bewahrung seines Geheimnisses.

Der Richter Ribeiro war über das unerwartete Auftauchen eines längst Verschollenen zuerst erstaunt, dachte über die ganze Sache aber doch reiflich nach und suchte sich klar zu machen, welche Pflichten seine jetzige Stellung ihm auferlegte. Ihm kam es ja vor Allem zu, Verbrecher zu verfolgen, und hier überlieferte sich ein solcher freiwillig seinen Händen. Freilich hatte er gerade diesen ehemals selbst vertheidigt und nicht im mindesten daran gezweifelt, daß Jener damals ungerechter Weise verurtheilt wurde; ebenso gewährte ihm die glückliche Flucht desselben vor Vollstreckung des Urtheils eine wirkliche Freude; ja er wäre im Stande gewesen, seine Entweichung selbst zu begünstigen... aber was der Rechtsanwalt von früher gethan, durfte das auch der Beamte von heute?

»Ja, ohne Zweifel, sprach der Richter für sich, mein Gewissen befiehlt mir, diesen Gerechten nicht zu verlassen! Gerade der Schritt, den er heute thut, ist ein neuer Beweis für seine Schuldlosigkeit, freilich nur ein moralischer Beweis, [211] da er einen anderen nicht vorzubringen vermag, aber vielleicht gerade der überzeugendste. Nein, nein, ich werde ihn nicht im Stiche lassen!«

Von jenem Tage ab bestand ein geheimer Schriftwechsel zwischen dem Gerichtsbeamten und Joam Dacosta. Ribeiro warnte seinen Clienten zunächst, sich nicht durch einen vorschnellen Schritt zu compromittiren. Er versprach, die Sache wieder aufzunehmen, die früheren Acten zu prüfen und deren Unterlagen einzusehen. Gleichzeitig kam es ihm darauf an, zu erfahren, ob im Diamantengebiete bezüglich jenes schrecklichen Vorfalles gar nichts an's Licht gekommen sei. Vielleicht war von den Theilnehmern an dem Verbrechen doch Einer oder der Andere später der Justiz in die Hände gefallen und hatte ein vollkommenes oder doch ein halbes Geständniß abgelegt. Joam Dacosta galt freilich noch immer als der Hauptschuldige und mußte sich darauf beschränken, seine Unschuld zu betheuern. Dem Gesetze genügte das freilich nicht, und deshalb bemühte sich der Richter Ribeiro aus allem ihm zugänglichen Material herauszufinden, wem die Schuld für das Verbrechen wohl beizumessen sein mochte.

Joam Dacosta sollte also vorsichtig sein. Er versprach es. Immerhin fühlte er es im Innern als einen großen Trost, bei seinem früheren Vertheidiger und dem jetzigen Oberrichter die Ueberzeugung von seiner Unschuld wiederzufinden. Trotz seiner Vertheidigung war und blieb Joam Dacosta doch ein Opfer, ein Märtyrer, ein Ehrenmann, dem das Gesetz eine glänzende Genugthuung schuldig war. Und als der Beamte den Lebenslauf des Fazenders von Iquitos seit der Zeit seiner Verurtheilung zum Tode kennen gelernt hatte, als er sich über dessen Familienverhältnisse unterrichtet, von seinem Leben voller Arbeit und Mühe und dem Streben gehört, nur das Glück der Seinigen zu begründen, so überzeugte ihn das zwar nicht mehr, aber es rührte ihn, und er schwur sich heimlich, Alles daran zu setzen, um dem ehemaligen Verurtheilten von Tijuco wieder zu seinem ehrlichen Namen und zu der ihm gebührenden Stellung im menschlichen Leben zu verhelfen.

So währte der Briefwechsel zwischen beiden Männern schon gegen sechs Monate.

Als die Bitte der Seinigen ihn dann besiegt und er zu der Fahrt auf dem Amazonenstrome zugestimmt hatte, meldete er das dem Richter Ribeiro.

»Binnen zwei Monaten, so lauteten seine Worte, werde ich mich bei Ihnen einfinden und dem ersten Beamten der Provinz bedingungslos zur Verfügung stellen.

[212] – So kommen Sie!« antwortete Ribeiro.

Die Jangada lag jener Zeit schon bereit, die Reise anzutreten. Joam Garral schiffte sich darauf mit seinen Angehörigen, mit Dienern, Bootsleuten und deren Frauen ein. Im Verlaufe der Fahrt ging er zur Verwunderung seiner Gattin und seines Sohnes nur sehr selten an's Land. Meist verschloß er sich in sein Zimmer, schrieb und arbeitete, nicht in Handlungsbüchern oder Rechnungen, sondern an dem von ihm bisher vor jedem Auge verborgen gehaltenen Memoire, das er die »Geschichte meines Lebens« nannte, und welche er bei Aufnahme seines Processes eingeben wollte.

Acht Tage vor seiner zweiten, auf Torres' Denunciation hin erfolgten Verhaftung hatte er, aus Besorgniß, Jener könnte ihm zuvorkommen und seine Absichten vereiteln, einem Indianer ein Schreiben an Ribeiro anvertraut, in welchem er dem Oberrichter der Provinz seine binnen acht Tagen bevorstehende Ankunft anmeldete.

Der Brief ging ab, erreichte auch glücklich seine Adresse, und der Beamte wartete nur noch auf Joam Dacosta selbst, um die Untersuchung des schwierigen, Falles, die er jetzt doch zu glücklichem Ausgange zu führen hoffte, wieder aufzunehmen.

Die letzte Nacht vor der Landung der Jangada bei Manao traf den Richter Ribeiro ein Schlaganfall. Die Denunciation Torres' aber, dessen Tauschgeschäft an der ehrenhaften Weigerung seines Opfers scheiterte, hatte zunächst den erwünschten Erfolg. Joam Dacosta wurde mitten aus dem Schoße seiner Familie weg verhaftet und hatte nun nicht einmal mehr seinen alten Advocaten, um von diesem vertheidigt zu werden.

O, das war freilich ein entsetzlicher Schlag! Doch, der Würfel war einmal gefallen, an Rückzug war nicht mehr zu denken.

Joam Dacosta beugte sich also unter dem Schlage, der ihn so unerwartet traf. Jetzt stand nicht allein mehr seine Ehre, sondern auch die aller seiner Angehörigen auf dem Spiele.

[213]
4. Capitel
Viertes Capitel.
Moralische Beweise.

Der gegen Joam Dacosta, genannt Joam Garral, erlassene Haftbefehl war von dem Vertreter des Richters Ribeiro ausgefertigt, der die Function dieses Beamten in der Provinz Amazonas bis zur Ernennung eines Nachfolgers zu versehen hatte.

Dieser Stellvertreter hieß Vicente Jarriquez. Er war ein kleiner barscher Mann, den vierzig Jahre richterlicher Thätigkeit nicht eben wohlwollend gegen Angeklagte gestimmt hatten. Nachdem er so viele Criminalfälle unter den Händen gehabt, so viele Verbrecher verhört und verurtheilt, erschien ihm die Annahme, daß ein Angeklagte, wer das auch wäre, unschuldig sein könne, a priori unzulässig. Er verurtheilte zwar gewiß nicht gegen seine Ueberzeugung, aber diese im Voraus feststehende Ueberzeugung ließ sich nicht so leicht durch die Ergebnisse des Verhörs oder die Beweisgründe der Vertheidigung erschüttern. Wie so viele Vorsitzende von Assisenhöfen, widersetzte auch er sich gern der oft beobachteten Milde der Jury, und wenn ein Angeklagter, nachdem er glücklich dem Fegefeuer der Kreuzverhöre, der unerwarteten Fragestellung u. s. w. entgangen war, vor ihm erschien, so betrachtete er ihn anfänglich gewiß eher für zehnfach schuldig als für schuldlos.

Ein böser Mensch war dieser Jarriquez indeß nicht, aber nervös, unruhig, wortreich, listig und scharfsinnig, überhaupt sonderbar anzusehen mit seinem großen Kopfe auf dem kleinen Körper, dem wildzerzausten Haare, den wie mit einem Bohrer ausgehöhlten Augen, aus denen die Blicke wie spitzige Pfeile hervorschossen, mit der weitvorragenden Nase, mit der er gewiß gesticulirt hätte, wenn sie sonst beweglich gewesen wäre, mit seinen zwei abstehenden Ohren, welche geschaffen schienen, sogar das aufzufangen, was außer der gewöhnlichen Tragweite menschlicher Hörwerkzeuge vorging, mit den unausgesetzt auf die Tafel trommelnden Fingern – so als wenn ein Pianist sich auf dem stummen Clavier übte – mit dem für die kurzen Beine viel zu langgemessenen Oberkörper, und den Füßen, die er einmal um das andere kreuzweise übereinanderschlug und wieder lang ausstreckte, wenn er auf dem Richterstuhle saß.

[214] In seinem Privatleben ein verhärteter Hagestolz, verließ der Richter Jarriquez seine juristischen, Folianten niemals, als wenn er zur Tafel ging, die er nicht verachtete, oder zum Whistspiel, dem er mit Leib und Seele ergeben war, wenn er gerade nicht Schach spielte, worin er als Meister gelten konnte, oder wenn er sich endlich mit chinesischen Kopfzerbrechereien, mit Räthseln, Charaden, Rebus, Anagramms, Logogryphen und dergleichen die Zeit vertrieb, was, ganz so wie bei manchem europäischen Beamten – eine wahre Sphinx aus Neigung und Profession – nicht so gar selten der Fall war.

Auf den ersten Blick erschien er als ein Original, und man sieht unschwer ein, wie viel ungünstiger Joam Dacosta's Sache durch den plötzlichen Tod Ribeiro's lag, da sie nun in die Hände dieses wenig zugänglichen Beamten kam.

Iarriquez' ganze Aufgabe war übrigens eine ziemlich einfache. Er entging der Verpflichtung, erst eine ausgedehnte Voruntersuchung zu führen, er brauchte keine Debatte zu leiten, keinen Urtheilsspruch zu fällen, er hatte nicht nöthig, sich um diese oder jene Paragraphen des Strafgesetzbuches zu kümmern, um ein Strafmaß festzusetzen. Alle diese Formalitäten waren zum Unglück für den Fazender von Iquitos hier überflüssig. Joam Dacosta war schon verhaftet gewesen, abgeurtheilt, vor dreiundzwanzig Jahren in Tijuco mit der Todesstrafe belegt, welche auch durch Verjährung noch nicht aufgehoben war; von einer Strafumwandlung konnte ebenso wenig die Rede sein, wie an eine etwaige Begnadigung zu denken war. Für ihn handelte es sich also nur darum, die Identität der Person festzustellen, damit die Gerechtigkeit, nachdem die Bestätigung von Rio de Janeiro eingetroffen, ihren Lauf haben konnte.

Joam Dacosta würde natürlich nicht unterlassen, seine Unschuld zu betheuern und zu behaupten, daß er ungerechter Weise verurtheilt worden sei.


Der Richter Jarriquez. (S. 214.

Der Richter Jarriquez. (S. 214.


Welche Ansicht das Gericht und dessen Vorsitzender auch haben mochten, jedenfalls blieb Letzterer verpflichtet, seinen Einspruch anzuhören. Dann kam es vorzüglich darauf an, mit welchen Beweisen der Verurtheilte seine Aussagen zu bestärken im Stande war. Wenn er solche aber früher den ersten Richtern nicht beibringen konnte, so erschien es doch fraglich, ob er das jetzt vermöge.

In der Entscheidung dieses Punktes gipfelte also füglich das ganze vorzunehmende Verhör.

Immerhin erschien die Thatsache, daß ein zum Tode Verurtheilter, der in fremdem Lande sicher und noch dazu unter glücklichen Verhältnissen lebte, Alles freiwillig verließ, um sich der Justiz zu stellen, von der er allem Anscheine [215] nach doch nicht viel Gutes zu erwarten hatte, auffällig und mußte selbst einen hartgesottenen Criminalbeamten, der schon eine lange Erfahrung hinter sich hatte, mindestens stutzen machen. Ob der Verurtheilte lebensmüde war, ob ihm nur das Gewissen keine Ruhe ließ, so daß er sich selbst stellte, weil er eine Stimme in seinem Inneren auch nach so langer Zeit nicht zum Schweigen bringen konnte, das verlieh der Angelegenheit doch ein mehr als gewöhnliches Interesse. Am Morgen nach der Verhaftung Joam Dacosta's begab sich der Richter Jarriquez also nach dem Arresthause in der Straße Gottes des Sohnes, [216] in welchem der Gefangene sich befand. Das Haus war ein ehemaliges Missionärkloster, erbaut an einem der Hauptkanäle der Stadt. An Stelle der freiwillig Detinirten wohnten jetzt unfreiwillige Gefangene in dem, seinem Zwecke nur nothdürftig entsprechenden Gebäude. Das Zimmer, in welchem Joam Dacosta eingeschlossen war, ähnelte auch keineswegs einer jener traurigen Zellen, welche das moderne Strafsystem eingeführt hat.


»Ich bin Joam Dacosta!« (S. 219.)

Es bestand aus einer alten Mönchsklause mit einem Fenster ohne Laden, aber vergittert, und mit der Aussicht nach einer wüsten Gegend; in der einen Ecke eine Bank, eine Art Pritsche in [217] der andern, nebst einigen wenigen rohen Utensilien, das war die ganze Ausstattung.

Am 25. August wurde Joam Dacosta gegen elf Uhr aus diesem Zimmer geholt und zum Verhör geführt, das in dem früheren Speisesaale des Klosters stattfand.

Hier saß der Richter Jarriquez auf hohem Stuhle vor seinem Schreibtisch, mit dem Rücken nach dem Fenster gewendet, so daß sein Gesicht immer im Schatten blieb, während dasjenige des Inculpaten voll beleuchtet wurde. An einem Ende des Tisches hatte der Actuar, die Feder hinter dem Ohre, Platz genommen, und erschien so gleichgiltig, wie man diese Leute, welche Fragen und Antworten mit gleichem Mangel an Interesse niederschreiben, meist zu sehen gewöhnt ist.

Joam Dacosta wurde in den Saal eingeführt, und die Wärter, welche ihn begleitet hatten, zogen sich auf einen Wink des Gerichtsvorsitzenden lautlos zurück.

Der Richter Jarriquez, faßte den Angeklagten längere Zeit scharf in's Auge. Dieser hatte sich vor ihm verneigt und stand nun in ungezwungener, weder herausfordernder noch kriechender Haltung da in Erwartung der Fragen, die man an ihn richten würde.

»Ihr Name, begann der Richter Jarriquez.

– Joam Dacosta.

– Ihr Alter?

– Zweiundfünfzig Jahre.

– Sie wohnten?

– In Peru, im Dorfe Iquitos.

– Unter welchem Namen?

– Unter dem Namen Garral, dem Namen meiner Mutter.

– Und weshalb legten Sie sich diesen bei?

– Um mich, vor nun dreiundzwanzig Jahren, der Verfolgung der brasilianischen Behörden zu entziehen.«

Diese Antworten klangen so bestimmt, sie schienen darauf hinzudeuten, daß Joam Dacosta entschlossen sei, über seine Vergangenheit und Gegenwart ein unumwundenes Geständniß abzulegen, daß der Richter Jarriquez, dem das in seiner Praxis weniger oft vorkam, die Nase verticaler stellte als gewöhnlich.

»Und warum, fuhr er fort, hatten die brasilianischen Behörden Ursache, Sie zu verfolgen?

[218] – Weil ich im Jahre 1826, wegen der bekannten Diamanten-Angelegenheit, in Tijuco zum Tode verurtheilt war.

– Sie gestehen also zu, daß Sie Joam Dacosta sind?

– Ich bin Joam Dacosta.«

Der Angeklagte sagte das Alles mit größter Ruhe, als handle es sich um die gleichgiltigsten Dinge von der Welt. Selbst die kleinen Augen des Richters wurden hinter den Lidern etwas heller, so als wollten sie sagen: »Nun, die Geschichte geht ja ihren Weg ganz allein!«

Bald sollte jedoch der Moment kommen, wo an den Inculpaten die stets gleichmäßige Frage gerichtet wurde, auf welche von Allen stets ein und dieselbe Antwort, die Versicherung ihrer Unschuld, zu erfolgen pflegt.

Die Finger des Richters Jarriquez begannen auf dem Tische einen leichten Triller zu trommeln.

»Was treiben Sie in Iquitos, Joam Dacosta? fragte er.

– Ich bin Fazender und leite ein umfängliches, wirthschaftliches Etablissement!

– Gedeiht dasselbe gut?

– Es befindet sich in bestem Zustand.

– Seit wann haben Sie Ihre Fazenda verlassen?

– Etwa seit neun Wochen.

– Weshalb?

– Was diese Frage betrifft, mein Herr, erwiderte Joam Dacosta, so habe ich mich dabei eines Vorwandes bedient, obgleich ich einen wichtigen Grund hatte.

– Und worin bestand dieser Vorwand?

– Ich erklärte, einen großen Holztrain und eine Ladung verschiedener Waaren auf dem Amazonenstrome nach Para hinunterschaffen zu wollen.

– Ah so, bemerkte der Richter Jarriquez, und der wirkliche Grund Ihrer Reise?«

Als er diese Frage stellte, sagte er für sich:, »Nun wären wir ja dahin, wie gewöhnlich leugnen und lügen zu hören!«

»Der wirkliche Grund, antwortete Joam Dacosta mit fester Stimme, war der, daß ich mich entschlossen hatte, mich der Justiz meines Vaterlandes zu stellen.

– Sich selbst zu stellen! rief der Richter, der sich in seinem Lehnstuhl etwas erhob. Sich selbst... freiwillig zu stellen?

[219] – Freiwillig.

– Und warum?

– Weil ich diese Existenz, unter falschem Namen zu leben, nicht mehr ertragen konnte, weil ich das meiner Gattin und meinen Kindern gegenüber nicht länger verantworten zu können glaubte, und endlich, mein Herr, weil...

– Nun, weil?

– Ich unschuldig bin!

– Das wußte ich vorher,« murmelte der Richter Jarriquez für sich hin.

Und während er mit den Fingern einen Marsch in schnellerem Tempo anfing, machte er Joam Dacosta ein Zeichen mit dem Kopfe, welches deutlich sagte: »Nun vorwärts! Erzählen Sie Ihre Geschichte! Ich kenne sie schon, aber ich will Sie nicht hindern, dieselbe nach Ihrer Weise vorzutragen!«

Obwohl Joam Dacosta die wenig ermuthigende Stimmung des Beamten vollkommen erkannte, so schien er dieselbe doch nicht zu beachten. Er entrollte also ein Bild seines ganzen Lebens, sprach ruhig und gelassen, wie vorher, und überging keinen Umstand, der aus der Zeit vor oder nach seiner Verurtheilung von einiger Bedeutung erscheinen mochte. Dabei hob er keineswegs das ehrenhafte und allgemein anerkannte Leben, das er seit seiner Flucht geführt, besonders hervor, so wenig wie seine Pflichten als Haupt der Familie, als Gatte und Vater, die er so würdig erfüllt hatte. Er betonte nur eines, den Entschluß, der ihn nach Manao geführt hatte, um eine Revision seines Processes und seine Rehabilitation zu erlangen, wozu ihn doch eigentlich nichts gedrängt hatte.

Der gegen jeden Angeklagten von vornherein eingenommene Richter Jarriquez unterbrach ihn mit keinem Worte. Er begnügte sich, die Augen abwechselnd zu schließen und wieder zu öffnen, wie ein Mensch, der dieselbe Geschichte zum hundertsten Male erzählen hört; und als Joam Dacosta auf den Tisch sein Memoire niederlegte, rührte er sich nicht im mindesten, um dasselbe entgegen zu nehmen.

»Sind Sie fertig? fragte er.

– Ja, mein Herr!

– Und Sie bleiben bei der Aussage, daß Sie Iquitos nur verlassen haben, um eine Revision Ihres Processes zu erstreben?

– Das war mein einziger Grund.

– Womit wollen Sie das beweisen? Wer sagt uns, daß Sie sich ohne die Denunciation, welche zu Ihrer Verhaftung führte, freiwillig bei Gericht gestellt hätten?

[220] – Zunächst dieses Schriftstück, antwortete Joam Garral, auf seine Arbeit weisend.

– Recht schön; doch eben das befand sich bis jetzt in Ihrer Hand, und nichts beweist, daß Sie, wenn Sie nicht gefänglich eingezogen wurden, davon den vorgegebenen Gebrauch gemacht hätten.

– Es giebt noch ein anderes Beweisstück, welches nicht mehr in meinem Besitz ist und dessen Authenticität nicht wohl in Zweifel gezogen werden dürfte.

– Und das wäre?

– Ein Brief, den ich an Ihren Vorgänger, den Richter Ribeiro, geschrieben und in dem ich diesem meine nahe bevorstehende Ankunft angezeigt habe.

– Ah, Sie hatten geschrieben?

– Ja, und dieser Brief muß wohl an seine Adresse gelangt sein und wird jedenfalls bald nun auch in Ihre Hände kommen.

– Wirklich? versetzte der Richter Jarriquez mit etwas ungläubigem Tone. Sie hatten an den Oberrichter Ribeiro geschrieben?

– Bevor er zu dieser von Ihnen genannten Stellung in dieser Provinz berufen wurde, antwortete Joam Dacosta, war der Oberrichter Ribeiro Advocat in Villa Rica. Er hat mich seiner Zeit in dem Criminalprocesse in Tijuco vertheidigt, und zweifelte gewiß nicht an der Rechtmäßigkeit meiner Sache. Er hat Alles versucht, mich zu retten. Zwanzig Jahre später, als er hier in Manao seine hohe Stellung inne hatte, habe ich ihm mitgetheilt, wer und wo ich war, sowie was ich vor hatte. Seine Ansicht bezüglich meines Falles erlitt bis zuletzt keine Aenderung, und auf seinen Rath hin bin ich jetzt aus meiner Fazenda aufgebrochen, um hier persönlich meine Rehabilitation zu betreiben. Leider mußte ihn ein plötzlicher Tod überraschen und ich bin vielleicht verloren, wenn ich in dem Richter Jarriquez nicht einen zweiten Ribeiro wiederfinde«

Der Beamte wollte, als er seine Person in's Spiel gezogen sah, ganz gegen die Gewohnheit ehrbarer Gerichtspersonen, fast in die Höhe springen; er gewann jedoch noch die nöthige Herrschaft über sich und murmelte nur:

»Das ist stark, in der That sehr stark!«

Der Richter Jarriquez hatte offenbar Knorpel im Herzen und war gegen jede Ueberraschung gefeit. Eben trat ein Wächter ein und lieferte ein versiegeltes Couvert auf den Tisch des Vorsitzenden ab. Dieser erbrach das Siegel und zog einen Brief daraus hervor. Er entfaltete diesen, durchlas ihn, wobei sich seine Augenbrauen merkwürdig zusammenzogen, und sagte endlich:

[221] »Ich habe keine Ursache, Joam Dacosta, Ihnen zu verheimlichen, daß mir hier eben jener Brief zur Hand gekommen ist, von dem Sie sprachen, und der wirklich an den Richter Ribeiro adressirt war. Was Ihre diesbezüglichen Aussagen betrifft, so fällt damit für mich jeder Grund weg, an deren Richtigkeit zu zweifeln.

– Ebenso wenig bezüglich dieser Thatsachen, fiel Joam Dacosta ein, wie bezüglich aller anderen Umstände und Vorgänge aus meinem Leben, die ich Ihnen mitgetheilt habe.

– Oho, nicht so schnell, Joam Dacosta, unterbrach ihn der Richter lebhafter, Sie betheuern natürlich Ihre Unschuld, das thun aber auch alle Angeklagten. Alles in Allem bringen Sie dafür jedoch nur moralische Beweise bei. Besitzen Sie keine greifbaren Beweise?

– Vielleicht doch, mein Herr, antwortete Joam Dacosta.«

Auf dieses Wort hin verließ der Richter Jarriquez seinen Sitz. Das war zu stark für ihn, und er mußte mehrere Male im Zimmer auf und abgehen, um sich genügend zu sammeln.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Materielle Beweise.

Als der selbstbewußte Beamte, gleich einem Manne, der über sich Herr geworden ist, seinen Platz wieder einnahm, lehnte er sich in dem Armsessel weit zurück, heftete die Augen an die Decke und sprach im Tone vollster Gleichgiltigkeit, ohne den Angeklagten nur dabei anzusehen:

»So reden Sie!«

Joam Dacosta schwieg noch einen Augenblick, als zögerte er auf diesen Gedankengang einzugehen, entschloß sich aber doch zu folgender Antwort:

»Bisher, Herr Richter, brachte ich Ihnen für meine Unschuld nur moralische Beweise bei, welche sich auf die Art und Weise meines Lebens, dessen [222] ich mich nicht schämen zu brauchen glaube, gründeten. Ich nahm an, solche Beweise hätten auch vor Gericht den durchschlagendsten Werth...«

Der Richter Jarriquez konnte sich nicht enthalten, mit den Achseln zu zucken, als wollte er damit sagen, daß das seine Ansicht nicht sei.

»Da dieselben nicht hinzureichen scheinen, so vernehmen Sie die materiellen Beweise, welche ich vielleicht anzuführen im Stande bin, fuhr Joam Dacosta fort. Ich sage absichtlich »vielleicht«, denn es ist mir unbekannt, wie viel Werth ihnen beizumessen sein dürfte. Meiner Frau und meinen Kindern gegenüber habe ich davon nichts erwähnt, um in diesen nicht eine am Ende doch ungerechtfertigte Hoffnung zu erwecken.

– Zur Sache, murmelte der Richter Jarriquez.

– Ich habe Ursache anzunehmen, daß meine Verhaftung am Tage vor dem Eintreffen der Jangada in Manao auf Grund einer an den Chef der Polizei gerichteten Denunciation erfolgte.

– Es ist, wie Sie sagen, Joam Dacosta, ich muß Ihnen freilich bemerken, daß diese Denunciation eine anonyme war.

– Das thut nichts, denn ich weiß, daß sie nur von einem elenden Schurken Namens Torres ausgehen konnte.

– Mit welchem Rechte, fragte der Richter Jarriquez, wagen Sie jenen Denuncianten in dieser Weise zu beschimpfen?

– Ja, ich wiederhole, in meinen Augen ist er ein erbärmlicher Schurke, Herr Richter, antwortete Joam Dacosta schnell. Dieser Mann, den ich gastfreundlich aufgenommen, hatte sich nur an mich gedrängt, um sich sein Stillschweigen abkaufen zu lassen; er versuchte, mich zu einem verabscheuungswürdigen Handel zu drängen, den abgelehnt zu haben, ich niemals bereuen werde, mögen die Folgen seiner Denunciation auch sein, welche sie wollen.

– S'ist doch immer die alte Geschichte, dachte der Richter Jarriquez, man klagt Andere an, um sich selbst rein zu waschen!«


»So reden Sie!« (S. 222.)

Nichtsdestoweniger lauschte er mit ungewöhnlicher Aufmerksamkeit der Schilderung Joam Dacosta's über dessen Beziehungen zu dem Abenteurer bis zu dem Augenblicke, wo Torres Jenem mittheilt, daß er den wirklichen Urheber jenes verrätherischen Ueberfalles bei Tijuco kenne und denselben auch mit Namen zu bezeichnen wisse.

»Und wie hieß der Schuldige? fragte der Richter Jarriquez, der allmählich aus seiner Indifferenz aufgerüttelt wurde.

[223] – Das weiß ich nicht, antwortete Joam Dacosta, Torres hütete sich wohl, mir dessen Namen zu nennen.

– Ist er noch am Leben?

– So viel ich weiß, nein.«

Die Finger des Richters Jarriquez trommelten »allegro«.

»Derjenige, der den Beweis für die Unschuld eines Angeklagten liefern soll, ist gewöhnlich todt, das ist mir nichts Neues!

– Wenn der wirklich Schuldige todt ist, Herr Richter, fuhr Joam Dacosta [224] fort, so lebt doch der genannte Torres noch und hat mir versichert, den schriftlichen Beweis in Händen zu haben, wer der Urheber jenes Verbrechens gewesen sei. Er bot mir diesen Beweis zum Kauf an.

– Ei, Joam Dacosta, ein solches Beweismittel hätten Sie mit Ihrem ganzen Vermögen nicht zu theuer bezahlt.


Sie fragten selbst die ihnen Begegnenden. (S. 230.)

– Hätte Torres nichts Anderes dafür verlangt, als mein Hab und Gut, so würde ich es ohne Zögern hingegeben haben, und gewiß hätte Niemand von den Meinigen dagegen Einspruch erhoben. Gewiß, Sie haben völlig recht, daß [225] man seine Ehre nicht theuer genug erkaufen kann. Der Elende, der mich in seiner Gewalt zu haben glaubte, forderte aber mehr als mein Vermögen.

– Was denn?...

– Er wollte als Preis für den Handel die Hand meiner Tochter haben; das schlug ich ihm ab, er denuncirte mich, und so kam es, daß Sie mich hier vor sich sehen.

– Und wenn Torres Sie nicht angezeigt hätte, fragte der Richter Jarriquez, wenn er Ihnen auf der Reise hierher überhaupt nicht begegnet wäre, was würden Sie gethan haben, wenn Sie hier von dem Ableben des Oberrichters Ribeiro hörten? Hätten Sie sich auch dann dem Gerichte gestellt?

– Das unterliegt keinem Zweifel, versicherte Joam Dacosta mit fester Stimme, da ich, wie ich hiermit wiederhole, schon bei der Abfahrt von Iquitos nach Manao keine andere Absicht hatte.«

Der Fazender sprach diese Worte in so überzeugender Weise, daß der Richter im Herzen doch eine gewisse Erregung empfand; er widerstand jedoch noch derselben nachzugeben.

Man darf sich darüber wohl nicht wundern. Dem Beamten waren, als er dieses Verhör vornahm, ja alle Nebenumstände nicht so bekannt, wie Denen, welche Torres seit Anfang unserer Erzählung folgten. Diese konnten nicht daran zweifeln, daß Torres den schriftlichen unumstößlichen Beweis der Unschuld Joam Dacosta's in den Händen hatte. Sie haben die feste Ueberzeugung, daß jenes Document vorhanden ist und vielleicht neigen sie zu dem Glauben, daß der Richter Jarriquez eine unverantwortliche Ungläubigkeit beweise. Freilich sollten sie nicht vergessen, daß der Justizbeamte sich mit ihnen nicht in gleicher Lage befindet und gewöhnt ist, von allen Angeschuldigten ähnliche Ausreden, welche meist grundlos sind, mit anhören zu müssen; das Document, auf welches Joam Dacosta sich berief, liegt ihm zur Ansicht nicht vor; er weiß nicht einmal mit Sicherheit, ob es überhaupt vorhanden ist, und endlich steht er einem Manne gegenüber, dessen Schuld durch eine frühere Untersuchung dargethan und durch schwere Verurtheilung besiegelt ist. Immerhin bemühte er sich, vielleicht aus reiner Neugier, Joam Dacosta in die Enge zu treiben.

»Ihre ganze Hoffnung, begann er auf's Neue, beruht also auf den Erklärungen, welche Ihnen Torres abgegeben hat.

– Ja freilich, Herr Richter, antwortete Joam Dacosta, wenn mein bisher geführtes Leben gar nicht in Anschlag kommt.

[226] – Wo glauben Sie, daß jener Torres sich jetzt aufhalten möge.

– So weit ich das wissen kann, hier in Manao.

– Und Sie hoffen, daß er auch vor Gericht eine solche Erklärung abgeben und Ihnen freiwillig jenes Document überlassen werde, das Sie mit dem von ihm geforderten Preise nicht einlösen wollten?

– Das hoffe ich, Herr Richter, erwiderte Joam Dacosta. Die Sachlage hat sich jetzt, für Torres wenigstens, geändert. Er hat mich angezeigt und kann in Folge dessen keinen Schimmer von Hoffnung hegen, daß aus dem Handel in der von ihm vorgeschlagenen Weise je etwas werden könne. Das Document könnte für ihn aber doch noch einen großen Kaufwerth haben, der ihm, ob ich nun freigesprochen oder verurtheilt werde, auf jeden Fall entgeht. Da es nun in seinem Interesse liegt, mir jenes Schriftstück zu verkaufen, ohne daß ihm das doch in irgend einer Weise Schaden bringen kann, so denke ich, er wird sich durch sein Interesse bestimmen lassen.«

Gegen Joam Dacosta's Darstellung war nicht wohl etwas einzuwenden, das fühlte der Richter Jarriquez recht gut. Er machte dagegen nur noch eine Bemerkung.

»Zugegeben, sagte er, daß es in Torres' Interesse liegt, Ihnen jenes Document zu verkaufen... vorausgesetzt, daß dasselbe überhaupt existirt!

– Wenn das nicht der Fall wäre, Herr Richter, antwortete Joam Dacosta mit eindringlicher Stimme, so bleibt mir nichts übrig, als der menschlichen Gerechtigkeit ihren Lauf zu lassen, um vor dem Throne Gottes freigesprochen zu werden!«

Auf diese Worte erhob sich der Richter Jarriquez.

»Joam Dacosta, fuhr er in weniger indifferentem Tone als bisher fort, wenn ich Sie in der Weise fragte, wie das eben geschehen ist, Sie alle Einzelheiten aus Ihrem Leben erzählen ließ und die Betheuerungen Ihrer Schuldlosigkeit mit anhörte, so bin ich eigentlich weiter gegangen, als mein Mandat das vorschreibt. In Ihrer Angelegenheit ist ja schon ein Wahrspruch abgegeben worden. Wegen Anstiftung und Theilnahme an der Ermordung der Soldaten und wegen des Diamantenraubes ist gegen Sie das Todesurtheil ja schon ausgesprochen, und nur Ihrer Flucht aus dem Gefängniß verdanken Sie es, der Hinrichtung bisher entgangen zu sein. Jetzt nach dreiundzwanzig Jahren sind Sie, ob es nun in Ihrer Absicht lag, sich den Gerichten zu stellen oder nicht, jedenfalls wieder in Hast gekommen. Ich frage Sie also zum letzten Male, sind [227] Sie jener Joam Dacosta, der wegen Raubmordes im Diamantendistricte verurtheilt worden war?

Ich bin Joam Dacosta.

– Sind Sie auch bereit, diese Aussage schriftlich zu bezeugen?

– Auf der Stelle!«

Mit vollkommen ruhiger Hand setzte Joam Dacosta seinen Namen unter das Protokoll und unter den Bericht, welchen der Richter Jarriquez durch seinen Actuar aufsetzen ließ.

»Dieser, an den Justizminister adressirte Bericht wird nach Rio de Janeiro abgesendet werden, sagte der Beamte. Es wird immerhin einige Zeit vergehen, bevor wir die Ordre erhalten, das Urtheil, welches über Sie gefällt wurde, auszuführen. Wenn jener Torres, wie Sie angeben, das wichtige Document besitzt, das Ihre Unschuld beweist, so bemühen Sie sich selbst, durch Ihre Familie und durch Vermittlung jedes Anderen darum, daß dasselbe rechtzeitig bei Gerichtsstelle eingeliefert werde. Trifft die Ordre einmal ein, so kann von weiterem Aufschube keine Rede sein, und die Gerechtigkeit muß ihren Lauf haben!«

Joam Dacosta verneigte sich.

»Wird es mir nun gestattet sein, mein Weib und meine Kinder zu sehen? fragte er.

– Von jetzt ab, wann Sie wollen, antwortete der Richter Jarriquez; Sie kommen nicht wieder in so strenge Hast, und man wird Jene zu Ihnen führen, sobald sie sich anmelden lassen.«

Der Beamte klingelte. Einige Wärter traten in den Saal und führten Joam Dacosta ab.

Als Jarriquez ihn zur Thür gehen sah, schüttelte er den Kopf.

»Hm, hm, murmelte er, die Sache scheint mir doch eigenthümlicher, als ich zu Anfang geglaubt hätte!«

[228]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Der letzte Schicksalsschlag.

Während Joam Dacosta dieses Verhör bestand, erhielt Yaquita in Folge einer Anfrage Manoels Nachricht, daß sie und ihre Kinder noch an demselben Tage Nachmittags vier Uhr zu dem Gefangenen Zutritt haben sollten. Seit dem vorigen Tage hatte Yaquita ihr Zimmer nicht verlassen. Minha und Lina blieben bei ihr bis zu der Stunde, wo es ihr gestattet sein würde, den unglücklichen Gatten wieder zu sehen. Ob Yaquita Garral oder Yaquita Dacosta – jedenfalls sollte er in ihr das treuliebende Weib, die unerschrockene Genossin seines ganzen Lebens wiederfinden.

Gegen elf Uhr desselben Tages trat Benito an Manoel und Fragoso, welche auf dem Vordertheil der Jangada plauderten, heran.

»Manoel, begann er, ich hätte eine Bitte an Dich.

– Und welche?

– Auch an Sie, Fragoso.

– Ich stehe Ihnen zu Befehl, Herr Benito, antwortete der Barbier.

– Was meinst Du? fragte Manoel mit aufmerksamem Blicke auf seinen Freund, der durch seine Haltung verrieth, daß in seinem Innern ein unerschütterlicher Entschluß gereist sei.

– Ihr glaubt doch noch immer an die Unschuld meines Vaters, nicht wahr? fragte Benito.

– O, rief Fragoso, so fest, daß ich mich eher selbst jenes Verbrechens für schuldig halten könnte.

– Nun denn, heute gilt es das Vorhaben auszuführen, das ich gestern schon andeutete.

– Torres aufzusuchen?

– Ja, und von ihm zu erfahren, wie er den Zufluchtsort meines Vaters entdeckt haben kann. Hier liegen noch irgend welche Geheimnisse verborgen. Sollte er ihn schon früher gekannt haben? Das ist nicht möglich, denn mein armer Vater hat Iquitos seit mehr als zwanzig Jahren niemals verlassen, und [229] jener Schurke zählt selbst kaum dreißig. Dieser Tag geht aber nicht zu Ende, ohne daß ich darüber Aufklärung habe, oder wehe dem schändlichen Torres!«

Ueber Benitos Entschluß ließ sich nicht rechten, auch versuchten weder Manoel noch Fragoso, ihn von seinem Vorhaben abzubringen.

»Ich ersuche Euch Beide also, fuhr Benito fort, mich zu begleiten. Wir brechen sofort auf, denn wir dürfen Torres nicht erst Zeit lassen, aus Manao zu entweichen. Sein Stillschweigen zu verkaufen hat er keine Aussicht mehr, so dürfte ihm dieser Gedanke doch bald kommen. Vorwärts also!«

Alle Drei gingen am Ufer des Rio Negro an's Land und schlugen den Weg nach der Stadt ein.

Manao war nicht so groß, als daß man es nicht binnen wenigen Stunden hätte durchsuchen können. Wenn es nicht anders ging, sollte Haus für Haus nach Torres geforscht werden; vorerst erschien es jedoch rathsam, sich an die Wirthe der Gasthäuser oder Lojas zu wenden, wo der Abenteurer vielleicht Unterkommen gesucht hatte. Wahrscheinlich mochte der vormalige Waldkapitän einen wahren Namen verheimlicht haben, aus wohlbegründeter Vorsicht, mit der Polizei nicht selbst in Berührung zu kommen. Befand er sich aber überhaupt noch in Manao, so konnte er den Nachforschungen der jungen Leute doch unmöglich entgehen. An die Polizei brauchte man sich deshalb offenbar nicht zu wenden, denn es war anzunehmen – wir wissen, daß diese Annahme völlig richtig war – daß die Denunciation des Schurken anonym erfolgt sei.

Eine Stunde lang liefen Benito, Manoel und Fragoso durch die Hauptstraßen der Stadt, fragten alle Kaufleute in ihren Läden, die Wirthe in den Lojas, selbst die ihnen Begegnenden, ohne daß jemand derselben sich erinnern konnte, eine Persönlichkeit, wie die von ihnen genau beschriebene, gesehen zu haben.

Sollte Torres Manao schon verlassen haben? Mußte man alle Hoffnung aufgeben, ihn wiederzufinden?

Vergebens sachte Manoel Benito, der in höchster Aufregung war, zu beruhigen. Dieser hatte nur den einen Gedanken, er mußte Torres haben!

Der Zufall begünstigte ihn, und Fragoso war es, der endlich die richtige Fährte entdeckte.

In einem Wirthshause der Straße Gottes des heiligen Geistes erfuhr er, auf seine Beschreibung des Abenteurers, daß ein Individuum, welches diesem Signalement entsprach, Tages vorher in der Loja eingekehrt sei.

»Hat er hier übernachtet? fragte Fragoso.

[230] – Ja, antwortete der Wirth des Hauses.

– Und befindet er sich auch jetzt noch hier?

– Nein, er ist ausgegangen.

– Hat er seine Rechnung abgemacht, als ob er abreisen wollte?

– Nein, nein, er verließ sein Zimmer vor etwa einer Stunde und wird jedenfalls zum Nachtessen wieder zurückkehren.

– Wissen Sie vielleicht, welchen Weg er eingeschlagen hat?

– Er soll durch die untere Stadt nach dem Amazonenstrome zu gegangen sein; dort könnten Sie ihn wohl antreffen.«

Fragoso wußte genug; bald nachher gesellte er sich wieder zu den beiden jungen Männern.

»Ich bin Torres auf der Spur! rief er.

– Er steckt in diesem Hause?

– Nein, er ist ausgegangen; man hat ihn nach dem Amazonenstrome zu wandeln sehen.

– So eilen wir ihm nach!« sagte Benito.

Die kleine Gesellschaft schlug also wieder den Weg nach dem Strome ein, den nächsten, der am Rio Negro hinführte.

Bald hatten Benito und seine Begleiter die letzten Häuser der Stadt hinter sich gelassen und folgten dem Ufergelände, wobei sie nur einen kleinen Umweg machten, um nicht in der Nähe der Jangada vorüberzukommen.

Die Landschaft war zu dieser Stunde menschenleer. Rings bot sich durch die Campine, wo angebaute Felder die Stelle früherer Urwälder eingenommen hatten, eine weitgestreckte Aussicht.

Benito sprach nicht – er hätte kein Wort hervorbringen können. Manoel und Fragoso ehrten sein Schweigen. So gingen sie alle Drei scharf dahin, spähten rings umher und gelangten so längs des Rio Negro-Ufers bis zum großen Strome. Dreiviertelstunden, nachdem sie Manao verlassen, konnten sie noch nichts sehen.

Mehrere Male trafen sie wohl Indianer, welche auf den Feldern arbeiteten; Manoel fragte auch diese und erfuhr von einem derselben, daß ein, dem Beschriebenen ähnlicher Mann vor Kurzem vorübergekommen sei, der sich nach dem Winkel, beim Zusammenflusse beider Ströme, begeben habe.

Ohne auf weitere Erklärungen zu warten, stürmte Benito, von unwiderstehlichem Drange getrieben, voraus, und seine Begleiter hatten alle Mühe, ihn nur nicht aus den Augen zu verlieren.


Torres war es und Benito. (S. 233.)

Da ward das linke Ufer des Amazonenstromes in [231] der Entfernung einer Viertelmeile sichtbar. Dort erhob sich eine höhere Uferwand, welche den Horizont theilweise verbarg und die Aussicht auf den Raum von wenigen hundert Schritten beschränkte.

Benito eilte vorwärts und verschwand bald hinter einem jener Sandhügel.

»Schneller! Schneller! sagte Manoel zu Fragoso, wir dürfen ihn nicht einen Augenblick allein lassen!«

Beide folgten derselben Richtung so schnell sie konnten, als sie plötzlich einen Ausruf hörten.

[232] Hatte Benito den Gesuchten gefunden? Hatte Torres auch ihn gesehen? Standen die beiden Feinde einander schon gegenüber?

Fünfzig Schritte weiter hin bemerkten Manoel und Fragoso, als sie um eine Ecke jener Strandhügel kamen, wie zwei Männer sich mit starren Blicken maßen. Torres war es und Benito. Einen Augenblick später standen Manoel und Fragoso an ihrer Seite. Bei dem hocherregten Zustande Benitos hätte man fürchten können, daß er nicht im Stande sein werde, sich zu beherrschen, wenn er sich dem Abenteurer Auge in Auge gegenüber sah.

[233] Doch nein, er ließ sich nicht übermannen.

Als der junge Mann einmal Torres' soweit habhaft geworden, daß er die Gewißheit hatte, das Entweichen desselben verhindern zu können, änderte sich sein ganzes Auftreten, seine fieberhaft schnellen Athemzüge wurden langsamer, er gewann die gewohnte Kaltblütigkeit und Herrschaft über sich selbst vollständig wieder.


»Elender Bube!« rief Benito. (S 235.)

Seit einigen Augenblicken sahen sich die Männer, ohne ein Wort zu sprechen, an.

Torres brach zuerst das Schweigen.

»Ah, Sie hier, Herr Benito Garral! begann er mit dem gewöhnlichen, unverschämten Ausdruck.

– Nein, Benito Dacosta! gab ihm der junge Mann zur Antwort.

– Ja freilich, fuhr Torres fort, Herr Benito Dacosta, in Begleitung des Herrn Manoel Valdez und meines Freundes Fragoso!«

Empört über diese unverschämte Bezeichnung, wollte sich Fragoso schon über den Abenteurer stürzen, um ihm eine handgreifliche Antwort zu ertheilen, als Benito ihn mit aller Gemüthsruhe zurückhielt.

»Was fällt Ihnen denn ein? rief Torres, einige Schritte zurückweichend. Es scheint mir gerathen, hier etwas auf seiner Hut zu sein!«

Bei diesen Worten zog er eine Manchetta aus seinem Poncho, jene zum Angriff wie zur Vertheidigung gleich dienliche Waffe, welche jeder Brasilianer stets bei sich führt. Halb zusammengebückt, legte er sich wie zum Kampfe aus.

»Ich kam allerdings nur, um Sie aufzusuchen, Torres, erklärte Benito vollkommen ruhig, ohne sich durch diese ungemein herausfordernde Stellung beirren zu lassen.

– Mich aufzusuchen? erwiderte der Abenteurer, nun, ich bin ja nicht so schwer zu finden. Was veranlaßte Sie aber dazu?

– Ich muß aus Ihrem Munde hören, was Sie von der Vergangenheit meines Vaters wissen.

– Wirklich?

– Gewiß! Mich verlangt es, zu wissen, wie Sie ihn wieder erkennen konnten, warum Sie in den Wäldern von Iquitos umherschweiften und weshalb Sie ihm in Tabatinga auflauerten...

– Nun, das liegt doch offenbar klar vor Augen, antwortete Torres höhnisch lächelnd. Ich wartete ihn ab, um mit an Bord der Jangada zu gehen, [234] und that das wiederum in der Absicht, um einen sehr einfachen Vorschlag zu machen... den er vielleicht Unrecht that, abzuweisen!«

In Manoel kochte es bei diesen Worten. Mit erbleichtem Gesicht und glühenden Augen trat er an Torres heran

Benito, der kein Mittel einer gütlichen Auseinandersetzung unversucht lassen wollte, stellte sich zwischen den Abenteurer und seinen Freund.

»Beruhige Dich, Manoel, bat er, ich muß mich ja auch beherrschen können!«

Dann fuhr er fort:

»So hören Sie, Torres, daß mir recht wohl bekannt ist, was Sie veranlaßte, auf der Jangada Unterkunft zu suchen. Als Besitzer eines Geheimnisses, welches Ihnen ohne Zweifel von anderer Seite anvertraut worden ist, wollten Sie einen Tauschhandel abschließen! Doch darum handelt es sich jetzt weniger.

– Und um was denn?

– Ich wünsche zu erfahren, wie Sie in dem Fazender von Iquitos den Joam Dacosta wiedererkennen konnten.

– Wie ich ihn wiedererkannte? antwortete Torres, ich dächte, das ginge mich allein an, und ich verspüre auch verteufelt wenig Lust, Ihnen darüber Rechenschaft zu geben. Die Hauptsache bleibt immer, daß ich mich nicht getäuscht habe, als ich in seiner Person den thatsächlichen Urheber jenes abscheulichen Verbrechens in Tijuco zur Anzeige brachte.

– Sie werden mir Rechenschaft geben, schrie Benito auf, dem allmählich die Galle überlief.

– Ich? Niemals! versetzte Torres. Joam Dacosta hat meine Vorschläge zurückgewiesen, hat es verweigert, mich in seine Familie aufzunehmen... Nun wohl! Jetzt, da sein Geheimniß offenbart und er in den Händen der Behörde ist, jetzt würde ich es abschlagen, in seine Familie, in die Familie eines Diebes, eines Mörders und eines zum Tode Verurtheilten, dessen der Galgen harrt, einzutreten!

– Elender Bube!« rief Benito, der jetzt auch eine Manchetta aus dem Gürtel zog und sich zum Angriff bereitete.

Gleichzeitig hatten auch Manoel und Fragoso die Waffen ergriffen.

»Drei gegen Einen, Schmach Euch! sagte Torres.

– Nein, Einer gegen Einen! gab Benito zurück.

– Wahrhaftig! Ich hätte mich von dem Sohne eines Mörders allerdings eher eines gemeinen Mordes versehen.

[235] – Torres! rief Benito, wehre Dich, oder ich schlage Dich nieder wie einen tollen Hund!

– Einen tollen Hund, meinetwegen! erwiderte Torres, aber ich beiße, hüte Dich vor meinen Zähnen!«

Er nahm die Manchetta näher an sich heran und setzte sich in Bereitschaft, auf seinen Gegner loszudringen.

Benito war einige Schritte zurückgewichen.

»Torres, begann er noch einmal, ruhiger als in der letzten Minute, Ihr wart der Gast meines Vaters, Ihr habt ihn bedrängt, verrathen, habt ihn denuncirt, einen Unschuldigen angeklagt – mit Gottes Hilfe werde ich das durch Euer Blut nun sühnen!«

Auf Torres' Lippen schwebte dabei ein teuflisches Lächeln. Vielleicht kam dem Schurken jetzt der Gedanke, einem Kampfe mit Benito womöglich auszuweichen, und er hätte einen solchen ja verhindern können. Er hörte ja aus Allem heraus, daß Joam Dacosta von dem Document mit dem materiellen Beweise seiner Unschuld nichts gesagt haben konnte.

Gestand er Benito, daß er, Torres, in Besitz desselben sei, so hätte er den Gegner gewiß augenblicklich entwaffnet. Abgesehen davon aber, daß er den letzten Moment abwarten wollte, jedenfalls um aus dem Handel den größtmöglichen Vortheil zu ziehen, so ließen ihn doch die beleidigenden Worte des jungen Mannes und der Haß, den er gegen alle Angehörigen desselben empfand, zuletzt selbst das eigene Interesse aus den Augen setzen.

Sehr gewöhnt an die Handhabung der Manchetta, deren er sich schon bei mehr als einer Gelegenheit bedient, glaubte sich der starke und gewandte Abenteurer gegen einen jungen Mann von kaum zwanzig Jahren, der weder seine Kraft, noch seine Geschicklichkeit besitzen konnte, in offenbarem Vortheil.

Noch einmal trat Manoel vor, um sich an Benitos Stelle mit dem frechen Burschen zu schlagen.

»Nein, lieber Manoel, antwortete der junge Mann kalt, nur mir kommt es zu, meinen Vater zu rächen, und da wir auch die gewohnten Kampfregeln nicht verletzen wollen, so wirst Du mir als Secundant dienen.

– Benito!...

– Und Sie, Fragoso, werden mir in diesem Augenblicke die Bitte nicht abschlagen, der Secundant dieses Mannes zu sein!

[236] – Es sei, antwortete Fragoso, wenn dabei auch keine Ehre zu holen ist. Wäre ich an Ihrer Stelle, setzte er hinzu, ich hätte ihn wie ein wildes Thier niedergemacht!«

Der Ort, wo der Zweikampf vor sich gehen sollte, war ein flaches Stück Uferland von etwa vierzig Schritt Breite, gegen fünfzig Fuß über der Wasserfläche des Amazonenstromes, nach dem hin es schroff abfiel. Am Fuße des Abhanges strömte das Wasser nur ganz langsam und benetzte die Wurzeln der wilden Rosen, welche den Strand umsäumten.

In der Breite bot diese Stelle also sehr beschränkten Spielraum, und wer von den Kämpfern nach dieser Seite nur wenig zurückgedrängt wurde, der mußte unwillkürlich in die Tiefe hinabstürzen.

Manoel gab das Zeichen zum Beginn des Kampfes, und Torres und Benito drangen auf einander ein.

Benito beherrschte sich jetzt vollständig. Als Verfechter einer guten Sache gewährte ihm seine Kaltblütigkeit einen wesentlichen Vortheil gegenüber Torres, dem das böse Gewissen, wenn er sonst darauf auch noch so wenig achtete, in diesem Augenblicke doch das Herz schneller schlagen ließ.

Als Beide nahe genug waren, fiel von Benito der erste Schlag. Torres parirte denselben. Die beiden Gegner traten einen Schritt zurück, stürmten aber sofort wieder aufeinander zu und packten sich mit der linken Hand an der Schulter... Sie wollten einander nicht wieder loslassen.

Der an Kraft überlegene Torres hieb mit seiner Manchetta von seitwärts, ein Schlag, dem Benito nicht ganz ausweichen konnte, er traf vielmehr seine rechte Hüfte – der Poncho darüber färbte sich roth. Er ergab sich deshalb natürlich nicht, im Gegentheile gelang es ihm, Torres an der Hand leicht zu verwunden.

Noch mehrere Schläge wurden gewechselt, ohne zu einer Entscheidung zu führen. Benitos Blick bohrte sich in Torres' Augen wie eine Klinge in des Feindes Herz. Offenbar erlahmte der Schurke. Er wich allmählich zurück, gedrängt von dem unversöhnlichen Richter, dem es mehr am Herzen lag, den herzlosen Denuncianten seines Vaters in die Hölle zu schicken, als sein eigenes Leben zu vertheidigen. Nur schlagen, schlagen wollte Benito, während der Andere kaum Zeit gewann, des Gegners wuchtige Hiebe zu pariren.

Bald sah Torres sich nach dem Rande des Abhanges gedrängt, und zwar an eine Stelle, wo derselbe etwas vorsprang und bis über das Ufer hinaushing. [237] Er durchschaute die drohende Gefahr und versuchte noch einmal, die Offensive zu ergreifen und das verlorene Terrain wieder zu gewinnen... Seine Verwirrung steigerte sich – sein Blick erlosch fast unter den Augenlidern... Er mußte sich endlich beugen vor der Faust, die ihn bedrohte.

»So stirb Elender!« rief Benito.

Er stieß die Manchetta direct gegen des Feindes Brust, aber die Spitze der Waffe traf auf einen harten Körper, den Torres' Poncho überdeckte.

Benito drang mit verdoppelter Wuth auf den Schurken ein. Torres, dessen nächster Stoß den Gegner verfehlt hatte, fühlte sich verloren. Er mußte wieder zurückweichen. Da wollte er rufen – rufen, daß das Leben Joam Dacosta's an dem seinigen hänge... er gewann nicht mehr die Zeit dazu.

Ein zweiter Stoß der Manchetta traf das Herz des Abenteurers. Er sank rückwärts nieder – unter den Füßen fehlte ihm der Boden und mit ersticktem Schrei stürzte er den Abhang hinab. Mit den letzten Kräften versuchte er sich noch an den Rosenbüschen des Wasserrandes anzuklammern, vergebens – er verschwand in den Wellen des Stromes.

Benito hatte sich auf Manoels Schulter gestützt; Fragoso drückte ihm die Hand. Er ließ seinen Freunden kaum Zeit, seine Wunde, die er nur für leicht erklärte, zu verbinden.

»Nach der Jangada, rief er, nach der Jangada!«

Auf's Tiefste erregt folgten ihm Manoel und Fragoso nach.

Eine Viertelstunde später trafen Alle an der Stelle, wo die Jangada verankert lag, ein. Benito und Manoel eilten in das Zimmer Yaquitas und Minhas und theilten ihnen mit, was geschehen war.

»Mein Sohn! Mein Bruder!«

In demselben Augenblicke wurden diese Rufe laut.

»Jetzt nach dem Gefängniß! drängte Benito.

– Ja! Ja! Komm! Komm!« sagte Yaquita.

Gefolgt von Manoel, führte Benito seine Mutter fort.

Sie gingen an's Land, schlugen die Richtung nach Manao ein und standen eine halbe Stunde später vor dem Gefängnisse der Stadt.

Auf die von dem Richter Jarriquez ergangene Verfügung fanden sie sofort Einlaß und wurden nach der Zelle des Verhafteten geführt.

Die schwere Thür öffnete sich.

Joam Dacosta sah seine Gattin, seinen Sohn und Manoel eintreten.

[238] »Ach, Joam, mein Joam! schluchzte Yaquita.

– Yaquita, mein Weib, meine Kinder! rief der Gefangene, der die Arme ausbreitete und Alle an die Brust drückte.

– Mein Joam ist unschuldig!

– Unschuldig und gerächt!... setzte Benito hinzu.

– Gerächt? Was willst Du damit sagen?

–Torres ist todt, mein Vater, er fiel durch meine Hand!

– Todt!... Torres!... Todt!... rief Joam Dacosta. Ach, mein Sohn... Du hast mich in's Verderben gestürzt!«

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Entschlüsse.

Wenige Stunden später war die ganze Familie wieder in dem großen Saale der Jangada versammelt. Alle befanden sich daselbst – bis auf den Gerechten, den eben der letzte schwere Schicksalsschlag getroffen. Benito stand zerknirscht da und klagte sich an, seinem Vater die letzte Aussicht auf Rettung geraubt zu haben. Ohne das Flehen Yaquitas, seiner Schwester, und ohne die ernsten Ermahnungen Padre Passanha's und Manoels wäre der junge Mann in den ersten Stunden seiner Verzweiflung wohl jeder unüberlegten That fähig gewesen. Man hatte ihn aber stets im Auge behalten und keine Minute allein gelassen. Und doch hatte nur der Edelmuth seine Schritte geleitet, für seinen armen Vater Rache zu nehmen an dem elenden Denuncianten.

Ach, warum hatte Joam Dacosta nicht Alles gesagt, bevor er von der Jangada geführt wurde! Warum hatte er sich vorbehalten, erst vor dem Richter jenes materiellen Beweises seiner Schuldlosigkeit zu erwähnen! Weshalb hatte er selbst nach der Aussetzung Torres' bei seiner Unterredung mit Manoel nicht von jenem Documente gesprochen, das der Abenteurer im Besitz zu haben behauptete! Freilich konnte oder mochte er den Versuchungen des erbärmlichen


Mit den letzten Kräften versuchte er sich anzuklammern. (S. 238.)

Wichtes nicht allzuviel Glauben beimessen, und ganz sicher konnte er ja unmöglich sein, daß Torres jenes wichtige Schriftstück wirklich auch in Händen habe.

Doch, wie dem auch sei, jetzt wußte die trauernde Familie Alles aus Joam Dacosta's eigenem Munde. [239] Alle hatten erfahren, daß nach Torres' Aussagen ein Beweis für die Unschuld des Verurtheilten von Tijuco wirklich vorhanden, daß dieses Document von der Hand des wirklichen Urhebers des Ueberfalles niedergeschrieben sei, und daß der von Gewissensbissen gefolterte Verbrecher dasselbe im Angesichte des Todes seinem Gefährten Torres übergeben habe, der


Die Fahrzeuge stießen von der Jangada ab. (S. 245.)

[240]

niedrig genug gesinnt war, mit demselben, statt dem Wunsche des nun Verstorbenen nachzukommen, ein vortheilhaftes Geschäft verbinden zu wollen. Sie wußten freilich auch, daß Torres nun im Zweikampfe gefallen, daß sein Körper von den Wogen des Amazonenstromes verschlungen und er dahin gegangen sei, ohne nur den Namen des wirklich Schuldigen zu nennen!

Ohne ein Wunder schien Joam Dacosta jetzt unwiderruflich verloren. Der Tod des Oberrichters Ribeiro einerseits und der gewaltsame Tod Torres' andererseits – von diesen zwei unerwarteten Schlägen schien er sich nicht mehr erheben [241] zu können. Wir müssen hier einfügen, daß die, wie gewöhnlich leicht erregte öffentliche Meinung sich in Manao ganz gegen den Gefangenen kehrte. Die so unerwartete Verhaftung Joam Dacosta's frischte die Erinnerung an das seit dreiundzwanzig Jahren fast vergessene Verbrechen von Tijuco von neuem auf. Die Gerichtsverhandlungen über den jungen Bergbeamten aus dem Diamantenbezirke, seine Verurtheilung zum Tode und seine Flucht kurz vor der Hinrichtung, Alles wurde wieder besprochen, beurtheilt und womöglich noch ausgeschmückt. Auch ein in dem Diario do Grand Para, der verbreitetsten Zeitung dieser Gegend, erschienener Artikel schilderte ausführlich alle Einzelheiten des grausigen Ereignisses, aber immer voller Gehässigkeit gegen den Gefangenen. Wie sollte auch Jemand ohne Kenntniß der näheren, nur den Angehörigen Joam Dacosta's klar vor Augen liegenden Umstände an die Unschuld des Angeklagten glauben können?

In der ganzen Bevölkerung von Manao herrschte eine Gährung schlimmster Art. Ein Hause von verblendeten Indianern und Schwarzen umschwärmte das Gefängniß und stieß drohende Rufe aus.

In diesem Lande Amerikas, in dem das schreckliche Lynchgesetz so oft zur Anwendung kommt, verfällt auch das Volk selbstverständlich leicht grausamen Gewohnheiten, und bei der gegebenen Gelegenheit konnte man wohl fürchten, daß die tolle Menge auch hier am liebsten mit eigener Hand Justiz geübt hätte.

Welch' traurige Nacht für die Passagiere der Jangada! Herrschaft und Diener fühlen sich gleichmäßig von dem Unglücke des Hauptes ihrer Gemeinschaft getroffen, denn auch das Personal der Fazenda gehörte ja gewissermaßen zur Familie. Alle waren bereit, für die Sicherheit Yaquitas und der Ihrigen zu wachen. Am Ufer des Rio Negro strömten unaufhörlich Eingeborne hin und her, erhitzt von der Neuigkeit der Verhaftung Joam Dacosta's, und wer weiß, zu welcher Ausschreitung sich diese Halbwilden hinreißen lassen konnten.

Indeß verging die Nacht, ohne daß es zu einer Demonstration gegen die Jangada kam.

Am nächsten Tage, als kaum die Sonne ihre Strahlen spendete, versuchten Manoel und Fragoso, welche Benito während dieser Nacht der Angst und des Schreckens nicht einen Augenblick verlassen hatten, diesen seiner verzweifelten Stimmung zu entreißen. Sie führten ihn in's Freie und bemühten sich, ihn zu überzeugen, daß jetzt keine Minute zu verlieren sei, daß sie sich entschließen müßten, zu handeln.

[242] »Benito, begann Manoel, bemeistere Dich, werde wieder ein Mann, werde wieder der Sohn Deiner Eltern!

– Ach, mein armer Vater, rief Benito, und ich, ich habe ihn dem Tode überliefert...

– Nein, nein, fiel Manoel ein, mit Gottes Hilfe ist noch nicht Alles verloren!

– Hören Sie uns an, Herr Benito!« sagte Fragoso.

Der junge Mann strich sich mit der Hand über die Stirn und bemühte sich, seine Fassung wieder zu gewinnen.

»Benito, fuhr Manoel fort, Torres hat niemals ein Wort fallen lassen, das uns über seine Vergangenheit nur die geringste Aufklärung gab. Wir konnten also nicht wissen, wer der Urheber des Verbrechens in Tijuco ist, noch unter welchen Umständen es begangen wurde. Mit Nachforschungen nach dieser Seite würden wir also nur die Zeit vergeuden.

– Und die Stunden sind uns kostbar, meinte Fragoso.

– Und selbst wenn es uns gelänge, zu erfahren, wer jener Gefährte gewesen ist, so weilt dieser doch nicht mehr unter den Lebenden und könnte für die Unschuld Joam Dacosta's kein Zeugniß ablegen. Nicht minder gewiß ist aber, daß ein Beweis dieser Unschuld existirt, und auch an dem Vorhandensein des betreffenden Schriftstückes dürfte nicht zu zweifeln sein, weil Torres sich dadurch Vortheile zu sichern versuchte. Das hat er selbst eingestanden. Dieses Document enthielt ein umfassendes, von der eigenen Hand des Schuldigen niedergeschriebenes Geständniß, und rehabilitirt, neben der ausführlichen Schilderung aller Einzelheiten jenes Verbrechens, unseren Vater vollständig. Ja, tausendmal ja, jenes Document ist vorhanden!

– Aber Torres nicht mehr, rief Benito, und das Document ist mit dem Schurken zu Grunde gegangen!...

– Gemach, gemach, und verzweifle nicht vorzeitig! antwortete Manoel. Du entsinnst Dich gewiß, unter welchen Umständen wir Torres kennen lernten. Das war in den Wäldern von Iquitos. Er verfolgte einen Affen, der ihm eine Metallkapsel geraubt hatte, auf welche er besonders Werth zu legen schien, denn er bemühte sich deshalb schon mehrere Stunden, als jener Affe unter unseren Kugeln fiel. Glaubst Du nun etwa, daß Torres wegen einiger darin enthaltener Goldstücke so darauf versessen gewesen wäre, jenes Etui wieder zu erlangen, und steht Dir nicht noch immer die hohe Befriedigung vor Augen, welche er[243] offenbar nicht heuchelte, als Du ihm die aus den Klauen des Affen gerissene Kapsel zurückgabst?

– Ja... Ja! antwortete Benito. Jenes Etui, das ich in der Hand hielt und wieder auslieferte... vielleicht enthielt es wirklich...

– O, nicht nur vielleicht, nein, gewiß! versicherte Manoel.

– Da fällt auch mir etwas ein, bemerkte Fragoso. Während Sie Ega besuchten und ich auf Linas Rath zur Ueberwachung Torres' an Bord zurückgeblieben war, sah ich ihn... ja, ja, ich sah ihn ein altes, vergilbtes Papier lesen und wieder lesen, wozu er Worte murmelte, welche ich nicht verstehen konnte.

– Das war das Document! rief Benito, der sich an diesen Hoffnungsanker, den einzigen, der ihm blieb, anklammerte. Sollte er es aber nicht aus Vorsicht an einem sicheren Orte verborgen haben?

– Nein, entgegnete Manoel, nein!... Es war Torres viel zu werthvoll, als daß er sich je davon hätte trennen können. Er trug es Tag und Nacht bei sich, und offenbar in jenem Etui!

– Warte, warte, Manoel, rief Benito, jetzt erinnere ich mich... ja, richtig... jetzt wird's mir klar... Bei dem Duell, als ich den ersten Stoß nach Torres' Brust führte, traf meine Manchetta auf einen harten Gegenstand unter seinem Poncho, wie auf eine Metallplatte...

– Das war das Etui! rief Fragoso.

– Gewiß, bestätigte Manoel, da ist kein Zweifel mehr! Das Etui befindet sich in einer Tasche seines Kittels!

– Aber wo finden wir Torres' Leichnam?

– O, den müssen wir wieder entdecken!

– Ja, aber das Papier, erwiderte Benito, das Wasser wird es zerweicht zerstört, unleserlich gemacht haben!

– Warum das, antwortete Manoel, wenn das Etui, welches dasselbe enthält, hermetisch verschlossen war?

– Manoel, rief Benito, dem ein freundlicher Hoffnungsstern aufging, ja, Du hast recht. Wir müssen Torres' Leichnam wiederfinden. Wir durchsuchen den ganzen Theil des Flusses, wenn es sein muß, aber wir finden ihn wieder!«

Der Pilot Araujo wurde herbeigerufen und von dem Vorhaben unterrichtet.

»Schön! sagte Araujo. Ich kenne die Wirbel und Strömungen am Zusammenflusse des Rio Negro mit dem Amazonenstrome ganz genau, und wir könnten wohl Erfolg haben und Torres' Körper wieder auffischen. Nehmen [244] wir zwei Piroguen, die beiden Ubas, ein Dutzend unserer Indianer und fahren schleunigst ab.«

Da trat der Padre Passanha aus dem Zimmer Yaquitas. Benito theilte auch ihm mit kurzen Worten mit, was sie unternehmen wollten, um in den Besitz des so wichtigen Documents zu gelangen.

»Erwähnen Sie meiner Mutter und Schwester davon noch nichts, fügte er hinzu. Wenn diese letzte Hoffnung fehlschlüge, wäre es ihr Tod!

– Geh', mein Sohn, gehe, antwortete Padre Passanha, und Gott stehe Dir bei Deinem Unternehmen bei!«

Fünf Minuten später stießen die vier Fahrzeuge von der Jangada ab, glitten den Rio Negro hinunter und gelangten nach dem Uferabhange des Amazonenstromes an jene Stelle, an der Torres, zu Tode getroffen, in den Wogen des Flusses verschwunden war.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Erste Versuche.

Die Nachsuchungen sollten ohne Zögern vorgenommen werden, und das aus zwei gleich wichtigen Gründen.

Der erste, an dem das Leben oder der Tod des geliebten Vaters hing, war der, daß jener Beweis für die Unschuld Joam Dacosta's eher herbeigeschafft werden mußte, als die Bestätigung des Urtheils von Rio de Janeiro eintraf. Die aus der Hauptstadt erwartete Antwort konnte ja, wenn die Identität des Angeklagten anerkannt wurde, nur den Befehl zur Vornahme der Hinrichtung enthalten. Der zweite lag darin, daß man Torres' Körper sobald als möglich aus dem Wasser holen mußte, um das Etui und dessen Inhalt unversehrt wiederzufinden.

Araujo legte unter diesen Umständen nicht nur für seinen Eifer und seine Intelligenz, sondern auch von seiner gründlichen Kenntniß des Stromes an dessen Zusammenfluß mit dem Rio Negro die vollgiltigsten Proben ab.

[245] »Wenn Torres, sagte er zu den jungen Leuten, von der Strömung überhaupt ergriffen worden ist, so werden wir das Bett des Flusses auf eine große Strecke hin absuchen müssen, denn es dürfte mehrere Tage er fordern, wenn wir abwarten wollten, bis der Leichnam desselben in Folge beginnender Zersetzung selbst wieder nach der Oberfläche käme.

– Das können wir nicht, sagte Manoel, wenn möglich, müssen wir noch heute zum Ziele gelangen.

– Wenn der todte Körper dagegen, fuhr der Pilot fort, in dem Gezweig oder den Rosenbüschen unten am Ufer hängen geblieben wäre, so würden wir denselben wahrscheinlich schon binnen einer Stunde entdeckt haben.

– An's Werk also!« mahnte Benito.

Es gab in der That keinen anderen Weg. Die Fahrzeuge näherten sich dem Ufer, und die mit langen Bootshaken versehenen Indianer begannen die Stelle des Flusses zu untersuchen, welche nahe der steilen Wand lag, über der vorher der Zweikampf auf dem beschränkten Plateau stattgefunden hatte.

Der Ort selbst war leicht wiederzuerkennen. Längs der Kreidewand des Uferabhanges zog sich ein blutiger Streifen herab bis zur Oberfläche des Wassers; auch verriethen noch viele einzelne Blutstropfen auf den Blättern die Stelle, wo der Leichnam verschwunden war.

Eine etwa fünfzig Fuß stromabwärts vorspringende Landspitze verursachte hier eine Art Wirbel und hielt das Wasser wie in einem geschlossenen Gefäße zurück. Am Strande selbst zeigte sich nicht die geringste Strömung, und die Stengel der Rosenbüsche ragten völlig unbewegt in die Höhe. Dieser Umstand ließ wohl darauf hoffen, daß auch Torres' Körper nicht in das bewegtere Wasser hinausgezogen worden sein werde. Neigte sich selbst der Grund des Flusses nach der Mitte zu ziemlich stark, so konnte er doch nur wenige Meter vom Ufer weggeglitten sein, und auch da war eine regelmäßige Bewegung des Wassers noch nicht zu bemerken.

Die Ubas und die Piroguen theilten unter einander die Arbeit, begaben sich nach den äußersten Grenzen des Wasserwirbels und begannen vom Umkreise nach dem Mittelpunkte zu jeden Fuß breit dieses Terrains genau abzusuchen.

Trotz aufmerksamsten Sondirens aber wurde der Körper des Abenteurers hierbei nicht gefunden, weder in dem verworrenen Rosengebüsch, noch auf dem Grunde des Flußbettes, dessen Neigungsverhältnisse bei dieser Gelegenheit sorgfältig festgestellt wurden.

[246] Zwei Stunden nach Beginn der Arbeit gelangte man zu der Ueberzeugung, daß der Leichnam jedenfalls in schräger Richtung in's Wasser gelangt und so weiter hinaus geglitten sei, wo jenseits der Grenze des Wasserwirbels die gewöhnliche Strömung hinabtrieb.

»Deshalb haben wir noch nicht zu verzweifeln, sagte Manoel, und vor allen Dingen ist das keine Ursache, unsere Nachforschung etwa gar aufzugeben.

– Müssen wir vielleicht, rief Benito, den Fluß in seiner ganzen Breite und in seiner ganzen Länge durchsuchen?

– In seiner ganzen Breite, das könnte sein, antwortete Araujo, in seiner ganzen Länge glücklicher Weise nicht.

– Und warum das nicht? fragte Manoel.

– Weil der Amazonenstrom eine Meile stromaufwärts von seiner Vereinigung mit dem Rio Negro einen sehr scharfen Winkel bildet und sein Bett sich gleichzeitig ziemlich steil erhebt. Dort befindet sich also sozusagen ein natürlicher Damm, den die Schiffer unter dem Namen der Barre von Frias hinlänglich kennen, und den nur auf der Oberfläche des Wassers schwimmende Gegenstände passiren können. Diejenigen aber, welche die Strömung am Boden mit dorthin führt, bleiben unbedingt an dieser unsichtbaren steilen Wand hängen!«

Wenn Araujo sich nicht täuschte, so bot dieser Umstand eine unerwartet glückliche Chance, und auf den alten Prakticus, der halb auf dem Amazonenstrome lebte, durfte man sich wohl einigermaßen verlassen. Seit dreißig Jahren schon diente er hier als Steuermann, und der Uebergang über die Barre von Frias, wo die Strömung des Wassers sich in Folge einer gleichzeitigen Einengung des Bettes nicht unerheblich steigerte, hatte ihm schon manche Stunde Arbeit und manchen Schweißtropfen gekostet. Die geringe Breite des schiffbaren Kanals, neben dem das Wasser nur sehr flach war, machte diese Passage außerordentlich schwierig, so daß hier schon mehr als ein Holztrain aus Rand und Band gegangen war.

Araujo hatte also ganz recht, zu sagen, daß Torres' Leichnam, wenn ihn das specifische Gewicht noch auf dem Sandboden des Strombettes festhielt, über diese Barre nicht hinausgeschwemmt sein konnte.

Freilich später, wenn der Körper durch die Ausdehnung der Gase wieder auf die Oberfläche kam, unterlag es keinem Zweifel, daß derselbe, leichter als vorher, über die ihn jetzt festhaltende Barre hinausgetrieben werden mußte und [247] dann als verloren zu betrachten war. Dieser rein physische Effect konnte jedoch vor Ablauf mehrerer Tage nicht wohl eintreten.

Kaum mochte es einen Mann geben, der die Stromverhältnisse der großen Wasserader Brasiliens besser gekannt hätte, als der Pilot Araujo.

Da er nun versicherte, daß der Leichnam nicht weiter als höchstens eine Meile bis nach jenem engen Kanal habe geschwemmt worden sein können, so mußte man ihn, wenn dieser Theil des Flusses sorgfältig untersucht wurde, offenbar wieder auffinden.

Keine Insel, kein Eiland unterbrach übrigens in dieser Gegend das Bett des Amazonenstromes. Hieraus folgte, daß man, wenn die beiden Ufer bis nach jener Barre hin abgesucht waren, das nicht über fünfhundert Fuß breite Bett des Stromes selbst auf das Genaueste durchsuchen mußte.

So ging man denn auch zu Werke. Die Fahrzeuge folgten dem rechten und dem linken Ufer; alle Rosenbüsche, alles andere Strauchwerk wurde mit den Bootshaken visitirt. Selbst von den kleinsten Vorsprüngen des Landes, an denen nur ein Körper hätte haften können, entging keiner der peinlichsten Nachforschung Araujo's und seiner Indianer.

Leider erwies sich Alles vergebens, und schon war der halbe Tag verstrichen, ohne daß der unauffindbare Körper auf die Oberfläche befördert worden wäre.

Jetzt wurde den Indianern eine Stunde Rast gegönnt. Während derselben stärkten sie sich durch einige Nahrung und gingen dann von neuem an die Arbeit.

Nun vertheilten sich die vier, von dem Piloten, von Benito, Manoel und Fragoso geführten Boote auf die ganze Strecke bis zur Barre von Frias in vier Zonen, denn jetzt galt es, das Bett des Stromes selbst abzusuchen. An einigen Stellen reichten freilich die Bootshaken nicht zu, um den Boden selbst zu betasten, man stellte also eine Art Schleppanker oder vielmehr Rechen her, indem man starke Netze theilweise mit Steinen und Eisenstücken füllte, diese an den Booten befestigte und langsam mit nachzog, so daß sie über den Grund hinstreifen mußten.

Mit dieser etwas mühseligen Arbeit beschäftigten sich Benito und seine Begleiter bis zum einbrechenden Abend. Die mit Rudern fortgetriebenen Ubas und die Piroguen strichen langsam über die Wasserfläche bis zur Barre von Frias hin.


Man zog sie vorsichtig herauf.

Dabei gab es manche erwartungsvolle Minute, [248] wenn diese improvisirten Schleppnetze an irgend einem Gegenstande hängen blieben. Man zog sie dann vorsichtig herauf, aber statt des so begierig gesuchten Leichnams brachte man damit nur einige schwere Steine oder Packete von Wasserpflanzen an's Licht, welche von dem sandigen Grunde abgestreift worden waren.

Niemand dachte jedoch daran, die einmal angefangene Untersuchung aufzugeben. Wo es der Rettung des geliebten Herrn galt, vergaßen die Leute alles Andere. Benito, Manoel und Araujo hatten es gar nicht nöthig, die Indianer [249] zum Fleiße anzuhalten. Die braven Leute wußten, daß sie für den Fazender von Iquitos arbeiteten, für den Mann, dem sie in treuer Dankbarkeit ergeben waren, für das Haupt der großen Familie, zu welcher Alle fast ohne Unterschied gehörten.

Wenn es nöthig gewesen wäre, würden sie gewiß die ganze Nacht über das weite Bassin sondirt haben, denn Alle waren sich bewußt, wie viel der Verlust jeder Minute bedeuten könne.

Kurz vor Sonnenuntergang gab Araujo, der die Fortsetzung der Arbeit in dieser Weise für nutzlos hielt, den Booten ein Zeichen, zusammen zu kommen, und Alle vereinigten sich wieder am Ausflusse des Rio Negro, um nach der Jangada zurückzukehren.

Trotz aller Anstrengung, trotz aller Sorgsamkeit hatte man kein greifbares Resultat erzielt!

Als Manoel und Fragoso eintrafen, wagten sie in Gegenwart Benitos über diesen Mißerfolg kaum ein Wort zu äußern, da sie fürchteten, daß ihn die Entmuthigung zu irgend einem verzweifelten Schritte treiben könnte.

Jetzt verließ den jungen Mann aber weder der Muth, noch die kühle Ueberlegung auch nur einen Augenblick. In seinem Herzen stand der Entschluß fest, diesen letzten Kampf um das Leben, um die Ehre seines Vaters bis zum Ende auszufechten.

»Morgen weiter! rief er den Anderen zu. Wir beginnen unser Werk auf's Neue und wenn möglich unter günstigeren Verhältnissen.

– Ja, antwortete Manoel, Du hast recht, Benito. Wir dürfen doch kaum annehmen, das ganze Strombecken schon gründlich genug untersucht zu haben.

– Nein, gewiß nicht, fiel Araujo ein, und ich wiederhole, was ich schon früher behauptete, daß der Leichnam Torres' hier liegen muß, daß er über die Barre von Frias nicht hinausgekommen sein kann, daß er vor Ablauf mehrerer Tage nicht mit der Strömung weggeführt werden könne. Wahrhaftig, hier liegt er noch am Grunde, und meine Lippen sollen keinen Tropfen Tafia wieder kosten, wenn ich ihn nicht wiederfinde!«

Diese Versicherung aus dem Munde des Piloten erweckte neue und gegründete Hoffnung.

Dennoch glaubte Benito, der sich nicht mit Worten allein begnügen, sondern die Umstände so nüchtern als möglich geprüft wissen wollte, einen Einwurf machen zu müssen.

[250] »Gewiß, Araujo, sagte er, Torres' Körper wird noch in diesem Bassin sein und wir finden ihn wieder, wenn...

– Nun wenn? fragte der Pilot.

Wenn er nicht eine Beute der Kaimans geworden ist!«

Manoel und Fragoso erwarteten gespannt die Antwort Araujo's.

Der Pilot schwieg einige Minuten. Es schien, als müsse er sich auf eine Antwort besinnen.

»Herr Benito, begann er dann, es ist nicht meine Gewohnheit so leichtsinnig in's Blaue zu reden. Auch mir kam derselbe Gedanke; doch merken Sie wohl: Ist Ihnen während der zehn Stunden, die wir in dem Strome umherfischten, auch nur ein einziger Kaiman zu Gesicht gekommen?

– Nicht ein einziger, versicherte Fragoso.

– Und wenn Sie keinen sahen, fuhr der Pilot fort, so kommt das einfach daher, daß sich hier keine solchen Bestien aufhalten, und das wiederum erklärt sich durch den Umstand, daß jene gar keine Veranlassung haben, sich in das klare Wasser zu wagen, wenn sich eine Viertelmeile von hier dunkles Wasser findet, das sie von Natur vorziehen. Als die Jangada einmal von diesen Thieren überfallen wurde, kam es daher, daß in der Nähe kein Nebenfluß in den Amazonenstrom einmündete, in dem sie hätten Zuflucht finden können. Gehen Sie nach dem Rio Negro, und Sie werden Kaimaus zu Dutzenden sehen. Wäre Torres' Leichnam in jenen Nebenarm gestürzt, so müßten wir wohl alle Hoffnung aufgeben, ihn seinem nassen Grabe wieder zu entreißen. Er versank aber im Amazonenstrome und dieser wird ihn uns wieder ausliefern!«

Benito fiel ein Stein vom Herzen, er ergriff die Hand des Piloten, drückte diese voll Erkenntlichkeit und sagte:

»Also morgen, meine Freunde!«

Zehn Minuten später befanden sich Alle an Bord der Jangada.

Im Laufe des Tages hatte Yaquita einige Standen bei ihrem Gatten zugebracht. Als sie sich jedoch auf den Weg machte, merkte sie aus der Nichtanwesenheit des Piloten, Manoels und Benitos, und aus dem Fehlen jener Boote, was diese wohl vorzunehmen willens seien. Nichtsdestoweniger hütete sie sich, Joam Dacosta schon davon zu sprechen, in der Hoffnung, ihm am nächsten Tage von einem günstigen Erfolge Mittheilung machen zu können.

Sobald aber Benito nur einen Fuß auf die Jangada setzte, erkannte sie auch, daß er von keinem er wünschten Resultate zu berichten habe.

[251] Sie trat einige Schritte auf ihn zu.

»Nichts? fragte sie.

– Nichts, antwortete Benito, noch ist aber der morgende Tag unser!«

Jeder zog sich in trüber Stimmung nach seinem eigenen Zimmer zurück, und von dem Vorgefallenen war nicht mehr die Rede.

Manoel wollte Benito bestimmen sich niederzulegen, um wenigstens eine Stunde Ruhe zu genießen.

»Wozu? entgegnete Benito, glaubst Du, ich würde schlafen können?«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Weitere Versuche.

Am nächsten Tage, am 27. August, vor Aufgang der Sonne, nahm Benito Manoel bei Seite und sagte:

»Unsere gestrigen Versuche erwiesen sich leider als erfolglos. Wenn wir sie heute in derselben Weise wiederholen, dürften wir vielleicht nicht glücklicher sein.

– Es wird aber nichts Anderes übrig bleiben, erwiderte Manoel.

– Freilich, antwortete Benito, im Falle wir Torres' Leiche aber nicht wiederfinden, kannst Du mir doch wohl sagen, wie lange es dauern möchte, bis er von selbst wieder nach der Oberfläche kommt.

– Wenn Torres, erklärte Manoel, lebend in's Wasser gefallen wäre und nicht erst nach gewaltsamem Tode, würde es wohl fünf bis sechs Tage dauern können. Da er offenbar erst versunken ist, als er schon todt, oder doch schon besinnungslos war, dürften zwei bis drei Tage genügen, bis der Körper wieder sichtbar wird.«

Diese, in der That ganz richtige Antwort Manoels erheischt eine kurze Erklärung.

Jeder menschliche Körper, der in's Wasser fällt, schwimmt eigentlich, wenn er nur in die Verhältnisse kommt, wo sich das Gleichgewicht zwischen der Dichtigkeit desselben und der des Wassers herstellen kann. Wohl zu merken, handelt [252] es sich um eine Person, welche nicht zu schwimmen versteht. Wenn eine solche mit dem ganzen Körper untertaucht und nur Nase und Mund über dem Wasser hält, so wird sie allemal schwimmen. Meist verhalten sich Menschen, welche unversehens in's Wasser geriethen, aber anders. Sie bemühen sich in jeder Art und Weise, möglichst weit daraus hervorzuragen, erheben den Kopf und die Arme, und sowie diese Theile nicht mehr vom Wasser getragen werden und dadurch ihr Gewicht ausgeglichen wird, sinkt dann der Körper, wenigstens vorübergehend, vollständig unter. Gelangt dann erst Wasser in den Mund und von da aus, unter Verdrängung der Luft, gar in die Lungen, so vermehrt sich das specifische Gewicht so sehr, daß der Körper auf den Grund hinabsinkt.

Wenn ein Mensch dagegen schon todt in's Wasser geräth, so befindet er sich in wesentlich anderen und zum Schwimmen weit günstigeren Bedingungen, da von den oben erwähnten Bewegungen natürlich keine Rede sein kann, und wenn er auch untersinkt, weil allmählich Wasser in die Lungen dringt, so ist das doch, nur in geringem Maße der Fall, da jede Athembewegung fehlt, und so erscheint der Körper auch schneller wieder auf der Oberfläche.

Manoel hatte also ganz recht, als er den Unter schied zwischen einem lebenden und einem todten in's Wasser fallenden Menschen betonte. Im ersteren Falle vergeht bis zum Wiedererscheinen auf der Oberfläche entschieden mehr Zeit als im zweiten.

Hat ein Körper nun mehr oder weniger lange Zeit völlig unter Wasser gelegen, so taucht er allein wieder auf durch die beginnende Zersetzung, in Folge welcher sich in ihm Gase entwickeln, die das Zellgewebe der Organe anschwellen machen; so wächst das Volumen desselben, ohne daß sein Gewicht zunimmt, und da er nun leichter wird, als die von ihm verdrängte Wassermasse, muß er natürlich nicht nur schwimmen, sondern auch in die Höhe steigen.

»Obwohl also alle Bedingungen günstig sind, fuhr Manoel fort, da Torres nicht mehr lebte, als er in den Fluß fiel, so kann er doch, selbst wenn die Zersetzung des Leichnams nicht durch irgend welche unbekannte Ursache verzögert wird, vor Ablauf dreier Tage nicht wieder sichtbar werden.

– Drei Tage sind aber nicht unser, antwortete Benito, Du weißt, daß wir nicht warten können. Wir müssen also neue Nachsuchungen beginnen, aber dabei anders zu Werke gehen.

– Was willst Du damit sagen? fragte Manoel.

[253] – Ich denke selbst auf den Grund des Flusses hinabzutauchen, erwiderte Benito, mit eigenen Augen, mit eigenen Händen zu suchen...

– Ja, ja, hundertmal, tausendmal hinabtauchen! rief Manoel; ich bin zwar ganz Deiner Meinung, daß wir directe Nachforschungen anstellen müssen und nicht mehr gleich Blinden mit Schleppnetzen und Bootshaken suchen dürfen; doch wenn wir tauchen, emporkommen und wieder hinuntergehen, so bleibt dabei nur sehr kurze Zeit für die eigentliche Nachsuchung übrig. Nein, das ist unzureichend, nutzlos, wir liefen dabei ein zweites Mal Gefahr, uns vergeblich zu bemühen, und müssen doch noch vor Verlauf dreier Tage ein positives Resultat erreicht haben.

– Bist Du im Stande ein wirksameres Mittel vorzuschlagen, Manoel? fragte Benito, der den Freund mit ängstlicher Erwartung anblickte.

– Nun, höre mich. Ein ganz zufälliger Umstand könnte uns sehr zu statten kommen.

– So sprich doch! Sprich!

– Als ich gestern durch Manao ging, bemerkte ich, daß man mit der Reparatur eines der Quais am Ufer des Rio Negro beschäftigt war. Die Arbeiten unter dem Wasser wurden da mit Hilfe eines Skaphanders ausgeführt. Nehmen, leihen, kaufen wir diesen Apparat um jeden Preis, so werden wir im Stande sein, unsere Nachforschungen unter den günstigsten Bedingungen wieder aufzunehmen.

– Rufe Araujo, Fragoso, die anderen Leute, und wir brechen unverzüglich auf!« gab Benito zur Antwort.

Der Pilot und der Barbier wurden von dem gefaßten Entschlusse und von Manoels Vorschlag in Kenntniß gesetzt. Man kam darin überein, daß Beide sich mit den Indianern und vier Booten nach dem Bassin von Frias begeben und dort die beiden jungen Männer erwarten sollten.

Manoel und Benito gingen sofort an's Land und begaben sich nach dem Quai von Manao. Daselbst boten sie dem Unternehmer der Uferarbeiten eine solche Summe, daß dieser ihnen seinen Taucherapparat ohne Zögern für den ganzen Tag zur Verfügung stellte.

»Wünschen Sie, daß Sie einer meiner Leute begleitet, fragte er der Ihnen helfen könnte?

– Geben Sie uns einen Werkführer und einige Mann zur Bedienung der Luftpumpe mit, antwortete Manoel.

[254] – Wer wird aber den Skaphander anziehen?

– Ich, erklärte Benito.

– Du, Benito! rief Manoel.

– Ich will es!«

Jeder Widerspruch schien hier überflüssig.

Eine Stunde später glitt das Floß mit der Pumpe und den nothwendigen Nebenapparaten längs des Ufers hinab nach der Stelle, wo die Boote der Jangada schon warteten.

Bekanntlich gestattet ein solcher Skaphander unter das Wasser hinabzutauchen und daselbst fast beliebig lange zu verweilen, ohne daß die Function der Lungen irgendwie gestört wird. Der Taucher bekleidet sich nämlich mit einer wasserdichten Kautschukhülle; unter den, mit den Beinkleidern gleich zusammenhängenden Stiefeln, wenn man so sagen darf, sind dicke Bleisohlen befestigt, welche inmitten der Flüssigkeit die verticale Körperstellung sichern. Am Halstheile dieses Universalrockes befindet sich ein Ring aus Kupfer, an dem eine metallene Kugel befestigt wird, deren Vorderseite eine Glasscheibe enthält. Diese Kugel umfaßt also des Tauchers Kopf, der sich darin unbehindert bewegen kann. Von letzterer aus gehen zwei Schläuche, deren einer zum Austritt der ausgeathmeten, für die Lungen also unbrauchbar gewordenen Luft dient, während der andere mit einer auf einem Floße angebrachten Pumpe in Verbindung steht, welche fortwährend neue, zur Athmung taugliche Luft in die Kugel hinabpreßt. Hat der Taucher nur an einer Stelle zu arbeiten, so bleibt das Floß natürlich stets über ihm; soll er auf dem Grunde aber hin und her gehen, so folgt das Floß seinen Bewegungen oder er denen des Floßes, je nachdem das vorher verabredet wurde.

Die jetzt mehrfach verbesserten Skaphander bieten nun auch weit weniger Gefahr als früher. Der im Wasser befindliche Mensch gewöhnt sich sehr leicht an den ungewohnten Druck der Flüssigkeit. Wenn in dem gegebenen Falle an irgend eine Gefahr zu denken war, so beschränkte sich diese höchstens auf das Zusammentreffen mit einem Kaiman in der Tiefe des Flusses.


Man ließ ihn hinabgleiten.

Wie Araujo jedoch am vorhergehenden Tage bemerkt hatte, schienen sich hier ja keine jener schreck lichen Amphibien umherzutummeln, da diese, wie man weiß, die dunkleren Fluthen der Nebenflüsse des Amazonenstromes bevorzugen. Um auch gegen unerwartete Zwischenfälle gesichert zu sein, kann der Taucher an einem nach einer Klingel auf dem Floße führenden Seile ziehen, worauf er sofort emporgewunden wird.

[255] Benito bewahrte, nachdem der Beschluß einmal gefaßt war, seine gewohnte Ruhe, und bekleidete sich mit dem Skaphander; sein Kopf verschwand in der metallenen Hülle; in der Hand führte er eine Art Spieß, um die Gewächse und Alles, was sich etwa auf dem Grunde abgelagert haben konnte, durchsuchen zu können, und auf ein von ihm gegebenes Zeichen ließ man ihn langsam hinabgleiten.

Die an diese Arbeit gewöhnten Leute auf dem Floße setzten die Lustpumpe sofort in Gang, während vier Indianer von der Jangada den ganzen [256] Apparat unter Leitung Araujo's mit langen Stangen in der vorherbestimmten Richtung weiter schoben.

Die beiden Piroguen, in der einen Fragoso, in der anderen Manoel mit einigen Leuten, begleiteten das Floß und hielten sich jeden Augenblick bereit, schnell nach vorn oder nach rückwärts zu gleiten, sowie Benito, wenn er Torres' Leichnam wiederfand, diesen an die Oberfläche des Amazonenstromes brachte.


[257]
Ganze Schwärme von Fischen. (S. 259.)
10. Capitel
Zehntes Capitel.
Ein Kanonenschuß.

Benito war also unter die breite Wasserfläche, die ihm den Körper des Abenteurers noch verbarg, hinabgegangen. O, wenn er im Stande gewesen wäre, diese Wogen abzuleiten, das Wasser zu verdunsten, das Bett des gewaltigen Stromes auszutrocknen, das Becken von Frias, von der Barre im Strome an bis zur Einmündung des Rio Negro frei zu legen, gewiß wäre das in der Kleidung von Torres verborgene Etui schon längst in seiner Hand gewesen. Die Unschuld seines Vaters hätte nicht länger bezweifelt werden können. Der Freiheit zurückgegeben hätte Joam Dacosta mit den Seinigen die Reise auf dem Strome fortsetzen können, und wie vielem Ungemach, wie großer Angst und Pein wären Alle entgangen!

Benito stand jetzt auf dem Grunde des Flußbettes. Unter seinen schweren Sohlen knirschten die Kiesel. Er befand sich gegen zehn bis fünfzehn Fuß unter Wasser, an der übrigens ziemlich steilen, abschüssigen Uferstelle, wo Torres verschwunden war.

Hier erhob sich ein fast undurchdringliches Gewirr von Rosenbuschwurzeln, einzelnen Stämmen und Wasserpflanzen, welche die Bootshaken bei der gestrigen Nachsuchung unmöglich hatten vollständig durchdringen können. Es war also immerhin möglich, daß der von dem Gezweig unter dem Wasser zurückgehaltene Körper sich doch noch an derselben Stelle befand, wo er herabgestürzt war.

Da, wie erwähnt, eine unweit von hier vorspringende Landspitze eine Art Wirbel erzeugte, machte sich die Strömung glücklicher Weise fast gar nicht bemerkbar. Benito folgte also allen den langsamen Bewegungen des Floßes, das die Stangen der Indianer über seinem Haupte wegtrieben.

In das klare Wasser drang Licht genug herab, denn eben brannte die Sonne am wolkenlosen Himmel und sendete ihre Strahlen fast senkrecht zur Erde. Unter gewöhnlichen Verhältnissen kann man unter Wasser bei einer Tiefe von zwanzig Fuß kaum noch deutlich sehen; hier schien aber das ganze Fluidum von einem glänzenden Lichtschein imprägnirt zu sein, und Benito konnte bequem [258] noch weiter hinabsteigen, ohne daß es auf dem Boden des Flusses für ihn zu dunkel geworden wäre.

Langsam ging der junge Mann längs des Uferrandes hin. Mit dem Eisenstocke durchwühlte er die Pflanzenmassen zu seinen Füßen. Ganze Schwärme von Fischen, wenn man so sagen darf, entflohen vor ihm, wie Vögel, wenn sie aus dichtem Buschwerk aufgejagt werden. Es glitzerte wie von tausend Stückchen eines zerbrochenen Spiegels, welche durch das Wasser glitten. Gleichzeitig krochen Hunderte von Schalthieren über den gelblichen Sand, gleich riesigen Ameisen, die aus ihrem Bau vertrieben wurden.

Obwohl Benito nicht die kleinste Stelle des Grundes am Ufer ununtersucht ließ, glückte es ihm doch nicht, das zu finden, was er so emsig suchte. Er beobachtete zuletzt, daß der Grund sich immer steiler und steiler hinabsenkte, und schloß daraus, daß Torres' Leichnam wohl über den Wasserwirbel hinaus und nach der Mitte des Stromes zu gerollt sein möchte. Wenn sich diese Annahme bestätigte, so durfte er sich dort wahrscheinlich noch befinden, da ihn die Strömung in so großer und noch stetig zunehmender Tiefe schwerlich mit hinwegführen konnte.

Benito entschied sich also dafür, nach beendigter Durchsuchung des Pflanzengewirres im Grunde längs des Ufers, seine Nachforschungen nach jener Seite hin fortzusetzen. Vorläufig schritt er in der nämlichen, früher verabredeten Richtung, der auch das Floß noch eine Viertelstunde lang folgen sollte, weiter.

Auch nach Verlauf dieser Zeit hatte Benito noch nichts entdeckt. Dagegen fühlte er nun das Bedürfniß, wieder an die Oberfläche hinauf zu gelangen, um unter normale physiologische Verhältnisse zu kommen und neue Kräfte zu sammeln. An manchen Stellen, wo das Flußbett sich plötzlich senkte, hatte er bis auf dreißig Fuß Tiefe hinabsteigen müssen; dann lastete also beinahe der Druck einer vollen Atmosphäre auf ihm – was jeden mit Taucherarbeiten minder Vertrauten nothwendiger Weise körperlich ungemein erschöpft und dessen geistige Fähigkeiten zu lähmen pflegt.

Benito zog also an der Glockenleine, und die Leute auf dem Floße begannen ihn emporzuwinden; sie verfuhren damit aber sehr langsam, indem sie ihn binnen einer Minute nicht um mehr als zwei bis drei Fuß hoben, um seine inneren Organe nicht durch zu schnell abnehmenden Druck zu schädigen.

Sobald der junge Mann auf dem Floße Fuß gefaßt hatte, wurde ihm der metallene Skaphanderhelm abgenommen; er holte tief Athem und setzte sich nieder, um ein wenig auszuruhen.

[259] Die Piroguen glitten alsbald heran. Manoel, Fragoso und Araujo kamen herbei, um sich nach den Resultaten seines kühnen Versuches zu erkundigen.

»Nun, wie steht's? fragte Manoel.

– Noch nichts... nichts!

– Du hast keine Spur gefunden?

– Keine.

– Soll ich nun an Deiner Stelle suchen?

– Nein, nein, lieber Manoel, erwiderte Benito, ich habe das einmal angefangen und weiß, wohin ich mich da unten zu wenden habe... überlass' das mir!«

Benito setzte darauf dem Steuermanne auseinander, daß und warum es seine Absicht sei, den weiter nach der Mitte zu liegenden Theil des abschüssigen Strombettes bis zu der Barre von Frias hin abzusuchen, wo die Bodenerhebung Torres' Körper aufgehalten haben mußte, wenn dieser, in der Grenze zwischen dem stilleren Grundwasser und der Strömung schwimmend, von letzterer auch mit fortgetrieben worden war. Zuerst gedachte er jedoch, weiter nach der Mitte des Strombettes hinzugehen und die dortigen tieferen, für die Bootshaken unerreichbaren Stellen abzusuchen.

Araujo billigte dieses Vorhaben und beeilte sich, die nöthigen Vorbereitungen zu treffen und die Leute zu instruiren.

Manoel hielt es für angezeigt, Benito einige gute Rathschläge zu ertheilen.

»Da Du die nächsten Nachforschungen nach jener Seite hin unternehmen willst, sagte er, wird Dir das Floß nachfolgen; sei dabei aber nicht unvorsichtig, Benito. Du wirst tiefer hinabgelassen als vorher, vielleicht fünfzig bis sechzig Fuß tief, was Dich dem Drucke von fast zwei Atmosphären aussetzt. Gehe also nur sehr langsam vorwärts, denn Du läufst sonst Gefahr, die Besinnung zu verlieren. Glaube mir, Du weißt dann vielleicht gar nicht mehr, wo Du bist oder was Du vorhattest. Wenn Dir der Kopf, wie zwischen den Backen eines Schraubstockes, zusammengepreßt wird, wenn Dir's ohne Unterlaß in den Ohren summt, so gieb sofort das gewöhnliche Zeichen, damit wir Dich emporhissen. Du magst später, wenn das nothwendig wäre, wieder hinunter gehen; dann bist Du es doch ein wenig gewöhnt, Dich in den tieferen Wasserschichten des Stromes zu bewegen.«

Benito versprach Manoel, seine Rathschläge, deren Bedeutung er wohl begriff, stets im Auge zu behalten. Freilich belästigte ihn der Gedanke, daß er [260] gerade dann der nöthigen geistigen Klarheit ermangeln könnte, wo diese vielleicht am nothwendigsten war.

Benito drückte innig Manoels Hand; wieder wurde die Skaphanderglocke luftdicht um seinen Hals befestigt, dann begann die Pumpe ihre Thätigkeit und der Taucher verschwand zum zweiten Male unter dem Wasser.

Das Floß hatte sich jetzt gegen vierzig Fuß vom linken Ufer entfernt; als es nun, mit dem Fortschreiten nach der Mitte des Flusses zu, mehr und mehr von der Strömung erfaßt wurde, vertaute man die Ubas mit demselben und die Ruderer hielten es zurück, so daß es nur außerordentlich langsam vorwärts trieb.

Benito wurde mit größter Vorsicht hinabgelassen und erreichte glücklich den Grund. Als seine schweren Sohlen in den Sand des Flußbettes einsanken, zeigte die Länge des Taues, welches er mit sich zog, daß das Wasser fünfundsechzig bis siebenzig Fuß Tiefe hatte. Hier befand sich also eine, weit über das Durchschnittsniveau des Flußbettes hinabreichende Einsenkung.

Wenn es da unten auch etwas dunkler war, so drang bei der Klarheit des Wassers doch noch genug Licht hinab, welches Benito gestattete, die auf dem Grunde des Flußbettes verstreuten Gegenstände zu unterscheiden und mit einiger Sicherheit vorwärts zu schreiten. Der mit Glimmerblättchen gemischte Sand bildete übrigens eine Art Reflector, und man hätte dessen einzelne Körnchen zählen können, welche gleich leuchtendem Staube erglänzten.

Benitos Augen suchten bei jedem Schritte, und er sondirte mit seinem Stocke auch die geringsten Vertiefungen, wobei er allmählich weiter in die Tiefe kam. Das Seil wurde ihm nach Bedarf nachgelassen, und da auch die zur Ein- und Ausathmung dienenden Schläuche niemals durch Zerrung verengert wurden so ging die Functionirung der Pumpe ohne Störung vor sich.

Benito gelangte also nach und nach weiter nach der Mitte des Amazonenstrombettes zu, wo sich die tiefste Bodensenkung befand.

Zuweilen herrschte rings um ihn, aber nur in beschränktem Umkreise, so tiefe Finsterniß, daß er ganz und gar nichts zu erkennen vermochte; das währte aber niemals lange Zeit; diese Erscheinung rührte nur von dem Floße her, welches, wenn es über seinem Kopfe hinglitt, natürlich die Sonnenstrahlen auffing und, so lange es in dieser Lage verweilte, rings um ihn das Bett des Stromes in Dunkel hüllte. Meist verschwand der tiefe Schatten sehr bald und der Sand warf das Licht zurück wie vorher.

[261] Noch immer stieg Benito nach abwärts. Er empfand das auch aus der Zunahme des Druckes, den die Wassermasse auf seinen Körper ausübte. Das Athmen wurde etwas beschwerlicher und seine Gliedmaßen gehorchten dem Impuls des Willens nicht mit derselben Leichtigkeit, wie inmitten einer innerhalb und außerhalb des Körpers gleich stark drückenden Atmosphäre. Er befand sich jetzt unter dem Einflusse veränderter physiologischer Bedingungen, an welche der Organismus bisher nicht gewöhnt war. In seinen Ohren begann es zu summen und zu brummen, da er sich aber geistig vollkommen frei fühlte und sein Gehirn ungestört, vielleicht gar etwas energischer als sonst functionirte, so stand er davon ab, das Zeichen zum Emporwinden zu geben und schritt vielmehr immer weiter in die Tiefe.

Einmal erregte in dem Halbdunkel, das ihn umgab, eine unförmige Masse seine besondere Aufmerksamkeit. Sie schien ihm einem, unter verworrenen Wasserpflanzen vergrabenen Körper zu ähneln.

Da klopfte sein Herz unruhiger. Er schritt darauf zu und suchte die leblose Masse mit seinem Stocke auf zuheben.

Es war nur der, schon bis zum Skelet reducirte Cadaver eines gewaltigen Kaimans, welchen die scharfe Strömung des Rio Negro bis in's Bett des Amazonenstromes geschwemmt haben mochte.

Benito wich entsetzt zurück, und trotz der entgegenstehenden Versicherungen des Steuermannes kam ihm doch der Gedanke, daß sich auch ein lebender Kaiman bis in die tieferen Wasserschichten des Beckens von Frias verirrt haben könne!...

Er erwehrte sich jedoch jeder Furcht und setzte seinen Weg fort, um auch den Grund der Bodensenkung zu erreichen.

Jetzt mochte er bis zur Tiefe von neunzig oder hundert Fuß vorgedrungen sein und also den Druck von ungefähr drei Atmosphären auf sich tragen. Wenn jene Bodensenkung noch weiter hinabreichte, so mußte er bald zur Einstellung seiner Nachforschungen genöthigt sein.

Die Erfahrung hat nämlich gelehrt, daß eine Tiefe von hundertzwanzig bis hundertdreißig Fuß die äußerste Grenze darstellt, deren Ueberschreitung bei submarinen Untersuchungen mit ernstlicher Gefahr verknüpft ist, nicht allein weil der menschliche Organismus unter dem über ihm lastenden Drucke nicht mehr ausreichend functionirt, sondern weil auch schon die Hilfsmaschinen athembare Luft nicht mehr mit der nöthigen Regelmäßigkeit liefern.

[262] Benito war jedoch entschlossen, so weit vorzudringen, bis ihm die körperlichen Kräfte und die geistige Energie den Dienst versagten. Er fühlte sich durch eine Art unerklärlicher Ahnung nach jenem Abgrunde hingezogen; es schien ihm, als habe der todte Körper auf den Boden dieser Aushöhlung hinabrollen müssen, als werde sich Torres, beladen mit schwerwiegenden Gegenständen, wie etwa mit einem Gürtel mit Silber- oder Goldmünzen oder mit Waffen darin, in der bedeutenden Tiefe gehalten haben.

Plötzlich bemerkte er in einer dunkleren Vertiefung einen Leichnam, ja, einen noch angekleideten Leichnam in der Lage eines Schlafenden, der den Kopf mit den Armen unterstützte!

War das wohl Torres? Bei dem düsteren Lichte konnte er das nur schwierig unterscheiden; jedenfalls war es der Körper eines Menschen, der kaum zehn Schritte von ihm entfernt unbeweglich ausgestreckt lag.

Eine qualvolle Erregung übermannte Benito. Sein Herz stand einen Augenblick still – er glaubte, die Besinnung zu verlieren. Noch einmal gewann sein fester Wille die Oberhand. Er schritt auf den Cadaver zu. Da, ganz unerwartet durchzuckte ein heftiger Schlag seinen bebenden Körper. Gleich einem langen Riemen wand sich ihm Etwas um den Leib, und trotz der dicken Taucherkleidung fühlte er sich wie von wuchtigen Peitschenhieben getroffen.

»Ein Zitteraal!« sagte er.

Es war ihm unmöglich, noch ein Wort über die Lippen zu bringen.

In der That hatte ihn ein »Puraqué« – der Name, mit dem die Brasilianer die Gymnoten mit elektricitäterzeugenden Organen nennen – überfallen. Bekanntlich sind das eine Art Aale mit schwärzlicher, schleimig-klebriger Haut, welche längst des Rückens und Schwanzes einen, aus großen, der Länge nach, und kleinen, quer verlaufenden Lamellen gebildeten Apparat besitzen, der durch das Nervensystem des Thieres erregt werden kann und dadurch, in eigenthümliche elektrische Spannung versetzt, wirklich furchtbar erschütternde Schläge abzugeben vermag. Einzelne Abarten dieser Gymnoten erreichen kaum die Länge der gewöhnlichen Natter, andere werden bis zehn Fuß lang; zuweilen, jedoch nur selten, findet man Exemplare von fünfzehn bis zwanzig Fuß Länge bei einem Durchmesser von acht bis zehn Zoll.

Die Zitteraale kommen ebenso im Amazonenstrome wie in dessen Zuflüssen sehr häufig vor, und eine dieser »lebendigen Batterien« von fast zehn Fuß Länge war es, die, sich zuerst lang ausstreckend, auf den Taucher zuschnellte.

[263] Benito wußte recht wohl, was er von dem Angriffe dieses schrecklichen Geschöpfes zu fürchten hatte.


Benito wich entsetzt zurück. (S. 262.)

Seine Kleidung erwies sich als unzulänglich, ihn zu schützen. Die anfänglich schwachen elektrischen Schläge des Zitteraales wurden allmählich heftiger und mußten weiter und weiter bis zu dem Moment zunehmen, wo jener sich durch Abgabe des elektrischen Fluidums selbst erschöpfte.

Außer Stande, so gewaltige Erschütterungen zu ertragen, sank Benito langsam zu Boden. Die Ausströmungen des Zitteraales, der langsam an ihm hinstrich und dann seinen Körper umringelte, lähmten dem jungen Manne alle


Er schwebte kerzengerade hinaus. (S. 266.)

Glieder. Bald vermochte er nicht einmal mehr die Arme zu erheben. Der Stock entfiel ihm und seine [264] Hände besaßen nicht mehr Kraft genug, die Glockenleine zu erfassen, um ein Signal zu geben.

Benito betrachtete sich als verloren. Weder Manoel noch die Anderen konnten eine Vorstellung davon haben, welch' entsetzlicher Kampf jetzt tief unter ihnen stattfand zwischen dem fürchterlichen Puraqué und dem unglücklichen jungen Taucher, der sich vor Schmerzen wand, aber nicht mehr wirksam vertheidigen konnte.

[265] Und das mußte sich gerade in dem Augenblicke zutragen, wo ihm ein menschlicher Körper – ohne allen Zweifel die Leiche des gesuchten Torres – vor Augen kam! Noch einmal raffte Benito alle ihm gebliebene Geistesgegenwart zusammen – er wollte um Hilfe rufen – vergebliches Bemühen! Seine Stimme erstickte in der metallenen Kugel, welche keinen Laut hindurchdringen ließ.

Jetzt verdoppelte der Puraqué noch die Wuth seines Angriffes und traf den jungen Mann mit den heftigsten Schlägen, unter deren Wucht sich dieser wie ein zerschnittener Wurm auf dem sandigen Strombette krümmte, während seine Muskeln in Folge der elektrischen Entladungen krampfhaft erzitterten.

Benito entschwanden alle Gedanken; vor seinen Augen ward es allmählich dunkel, seine Glieder erstarrten. Bevor er jedoch das Sehvermögen vollständig verloren und seine Geistesfähigkeiten gänzlich erlahmten, ereignete sich ein unerwarteter, unerklärlicher und eigenartiger Zwischenfall, den er wenigstens noch bemerkte. Durch die mächtigen Wassermassen verbreitete sich plötzlich der Nachhall einer dumpfen Detonation, ähnlich einem Donnerschlage, dessen Rollen durch die tiefen, von den Bewegungen des Gymnoten erregten Schichten hinlief. Benito umsummte es wie ein höllisches Getöse, welches das Echo aus der Tiefe des Stromes verdoppelt wiedergab.

Da entrang sich seinen Lippen noch ein unwillkürlicher Schrei – er wußte nicht, ob er seinen Augen trauen durfte, was sie ihm da zeigten.

Der bisher ausgestreckt am Boden liegende Körper des Ertrunkenen begann sich emporzurichten!... Die Wellenbewegung des Wassers machte seine Arme schaukeln, als ob sie ein bewußtloser Lebender bewege... ein entsetzlich anzusehendes Zucken rüttelte den todten Körper!

Es war wirklich der Leichnam Torres'. Ein Sonnenstrahl drang eben in die dämmerige Tiefe hinab, und Benito erkannte dabei das etwas gedunsene, grünliche Gesicht des Schurken, dem seine Hand den Todesstoß gegeben, dessen letztes Röcheln das Wasser des Stromes erstickt hatte.

Und während Benito jetzt unfähig war, seine gelähmten Glieder zu rühren, während die schweren Sohlen ihn zurückhielten, als wäre er auf das sandige Bett festgenagelt, erhob sich vor ihm die Leiche, deren Kopf auf- und abschwankte, und aus der Vertiefung, in welcher sie einzelne Wasserpflanzen zurückgehalten haben mochten, schwebte der Körper – ein entsetzlicher Anblick – kerzengerade hinauf bis zur Oberfläche des Amazonenstromes.

[266]
11. Capitel
Elftes Capitel.
Was sich in dem Etui befand.

Die ganze, so wunderbare Erscheinung hatte eine rein physikalische Ursache, und zwar folgende:

Das Kanonenboot »Santa Ana«, das auf der Fahrt nach Manao den Amazonenstrom hinaufsegelte, hatte eben das Fahrwasser von Frias passirt. Kurz vor dem Einlaufen in die Mündung des Rio Negro hißte es seine Flagge und begrüßte das grün und gelbe Banner Brasiliens durch einen Kanonenschuß. Durch den Knall kam zunächst die Oberfläche des Wassers in eine zitternde Bewegung, welche sich weiter und weiter durch die Wasserschichten fortpflanzte und eben hinreichte, den durch beginnende Zersetzung schon specifisch etwas leichteren Körper Torres' aufzuheben, indem sie die Ausdehnung seines Zellgewebesystems begünstigte. Der Leichnam des Versunkenen stieg also aus sehr natürlichen Ursachen nach der Oberfläche des Wassers empor.

Diese sehr bekannte Erscheinung erklärte wohl das Wiederauftauchen des Leichnams, aber man wird zugeben, daß die »Santa Ana« gerade im rechten Augenblicke an der Stelle, wo die Nachsuchung vor sich ging, eingetroffen war.

Auf einen Ausruf Manoels hin, den dessen Begleiter wiederholten, steuerte die eine Pirogue sofort auf den Körper zu, während der Taucher wieder nach dem Floße emporgewunden wurde.

Wie schmerzlich erschrak aber Manoel da, als Benito bis zur Plattform herausgeholt, daselbst vollkommen bewußtlos niedergelegt wurde, ohne daß nur eine sichtbare Bewegung desselben verrathen hätte, daß er überhaupt noch lebte.

Sollten die Wellen des Amazonenstromes, statt des einen gesuchten Leichnams, jetzt deren zwei zurückgegeben haben?

Der Taucher wurde so schnell als thunlich von der beengenden schweren Rüstung befreit.

Benito hatte unter den wiederholten elektrischen Schlägen des riesigen Zitteraales alle Besinnung verloren. Voller Verzweiflung rief ihn Manoel beim Namen, suchte von Mund zu Mund seine Athmung zu unterstützen und sich zu überzeugen, ob das Herz des Freundes noch klopfe.

[267] »Es schlägt, es schlägt noch!« rief er erleichtert.

Benitos Herz stand wirklich noch nicht still, und Manoels geschickte Sorgfalt rief den jungen Mann nach wenigen Minuten wieder in's Leben zurück.

»Der Leichnam! der Leichnam!«

Das waren die ersten Worte, welche aus Benitos Munde kamen.

»Er ist gefunden! antwortete Fragoso, nach der Pirogue zeigend, die sich mit Torres' Körper dem Floße näherte.

– Aber Du, Benito, was ist Dir widerfahren? fragte Manoel. Fehlte es Dir an Luft?...

– Nein! erwiderte Benito. Ein Puraqué hat mich da unten überfallen.. Aber jener Lärmen, jener Knall...

– Rührte von einem Kanonenschuß her, belehrte ihn Manoel. Ein Kanonenschuß ist es gewesen, der den Cadaver wieder nach oben beförderte!«

Da legte die Pirogue an dem Floße an. Auf dem Boden desselben lag Torres' Körper, den die Indianer aus dem Wasser gezogen hatten. Noch zeigte er sich äußerlich nicht auffallend verändert, so daß ihn die Betheiligten leicht wieder erkannten. Nach dieser Seite konnte ein Zweifel also nicht aufkommen.

In der Pirogue knieend, hatte Fragoso sich schon darüber hergemacht, dem Ertrunkenen die Kleider vom Leibe zu reißen, welche sich in Fetzen loslösten.

Da erregte der entblößte rechte Arm Torres' seine besondere Aufmerksamkeit. Es zeigte sich darauf nämlich die Narbe von einer früheren, offenbar durch ein Messer hervorgebrachten Verwundung.

»Seht, diese Narbe! rief Fragoso. Aber... mein Gott... ja, richtig, jetzt erinnere ich mich...

– An was denn? fragte Manoel.

– An einen Streithandel... ja, an einen Kampf, in der Provinz Madeira, dessen Zeuge ich wurde... es mag so gegen drei Jahre her sein. Wie konnte mir das nur entfallen! Dieser Torres gehörte damals zur Miliz der Waldkapitäne. Ich wußte es doch, daß ich den elenden Schurken schon früher einmal gesehen hatte!

– Was kümmert das uns heute? sagte Benito. Das Etui, das Etui!... Trägt er es noch bei sich?«.

Benito wollte schon die letzten Hüllen von dem Leichnam wegreißen, um diese zu durchsuchen.

Da that ihm Manoel Einhalt.

[268] »Verzeihe, Benito, einen Augenblick!« rief er.

Dann wandte er sich an die, nicht zum Personal der Jangada gehörigen Leute auf dem Floße, deren Zeugniß später nicht wohl angefochten werden konnte.

»Ich bitte, beachtet Alle genau, was wir vornehmen, um nöthigenfalls an Gerichtsstätte aussagen zu können, was hier vorgegangen ist.«

Die Leute kamen näher an die Pirogue heran.

Fragoso löste nun den Gürtel, der unter dem zerrissenen Poncho um Torres Körper geschnallt war, und suchte nach den Taschen seiner Jacke.

»Das Etui!« rief er.

Benito entrang sich ein Freudenschrei. Er beeilte sich schon, die sehnlichst gesuchte Metallkapsel hervorzuholen, um sie zu öffnen und ihren Inhalt kennen zu lernen...

»Nein, gemach, ließ sich Manoel, bei dem die kühle Ueberlegung stets die Oberhand behielt, vernehmen. Wir müssen vor Allem danach trachten, jedem uns etwa von Seiten der Behörden zu machenden Einwurf im Voraus zu begegnen. So erscheint es mir rathsam, zunächst uninteressirte Zeugen dafür zu gewinnen, daß dieses Etui sich wirklich an Torres' Körper vorfand.

– Du hast Recht, stimmte ihm Benito bei.

– Lieber Freund, richtete Manoel das Wort an den Vormann der Floßmannschaft, greifen Sie einmal selbst in die Tasche dieser Jacke.«

Der Vormann willfahrte ihm. Er brachte eine Metallkapsel zum Vorschein, deren Deckel sich hermetisch verschloß und die durch das Liegen im Wasser nicht beschädigt zu sein schien.

»Das Papier... ist das Papier noch darin? rief Benito, der seine Ungeduld kaum zu zügeln vermochte.

– Es wird Sache des Gerichtes sein, dieses Etui zu öffnen, erwiderte Manoel. Dem Richter allein kommt es zu, zu constatiren, ob sich ein Document darin befindet oder nicht.

– Ja... freilich... da hast Du wiederum Recht, antwortete Benito. Auf nach Manao also, liebe Freunde, nach Manao!«

Benito, Manoel, Fragoso und der Vormann vom Floße, der das Etui bei sich behielt, bestiegen also die eine Pirogue und wollten schon abfahren, als Fragoso sagte:

»Und was wird aus Torres' Leichnam?«

Die Pirogue hielt an.

[269] Die Indianer hatten den Körper des Abenteurers nämlich schon wieder in's Wasser geworfen, und dieser trieb mit der Strömung hinab.

»Torres war nur ein erbärmlicher Bösewicht, begann Benito. Ich habe mein Leben offen und ehrlich gegen das seine gewagt – Gott hat ihn durch meine Hand mit seinem Richterspruche ereilt, aber die entseelte Hülle soll wenigstens nicht unbeerdigt bleiben.«

Die zweite Pirogue wurde demnach beordert, Torres' Cadaver wieder aufzufischen, nach dem Ufer zu schaffen und dort zu begraben.

In demselben Augenblicke stürzte sich aber ein Schwarm von Raubvögeln, der über dem Strome schwebte, auf den schwimmenden Leichnam herab. Es waren Urubus, eine Art kleiner, nackthalsiger Geier mit langen Krallen und schwarz wie Raben, welche in Südamerika gewöhnlich »Gallinazos« genannt werden und die sich durch beispiellose Gefräßigkeit auszeichnen. Aus dem, durch ihre Schnabelhiebe zerhackten Körper entwichen die Gase, welche ihn bisher anschwellten; das specifische Gewicht der Leiche nahm in Folge dessen wieder zu, sie versank allmählich, und zum letzten Male verschwand, was von Torres noch übrig war, unter den Wellen des Amazonenstromes.

Zehn Minuten später traf die schnell dahingleitende Pirogue im Hafen von Manao ein. Benito und seine Begleiter gingen an's Land und eilten durch die Straßen der Stadt.

Bald trafen sie an der Wohnung des Richters Jarriquez ein und ließen diesem durch einen seiner Diener melden, daß sie ihn unverzüglich zu sprechen wünschten.

Der Beamte ließ sie in sein Privatzimmer führen.

Hier erstattete Manoel Bericht über Alles, was vorgegangen war seit der Stunde, wo Torres in regelrechtem Zweikampfe von Benito den Todesstoß erhalten hatte, bis zu dem Augenblicke, wo das Etui am Cadaver des Erschlagenen wiedergefunden und durch den Obmann des Floßes aus der Jackentasche hervorgezogen worden war.

Obgleich diese Darstellung Joam Dacosta's Aussagen über Torres und den ihm von diesem angebotenen Handel allseitig bekräftigte, konnte der Richter Jarriquez ein ungläubiges Lächeln doch nicht ganz unterdrücken.

»Hier ist das Etui, Herr Richter, fuhr Manoel fort. In unseren Händen befand es sich noch keinen Augenblick, und der Mann, welcher es Ihnen ausliefert, hat es an Torres' Körper selbst gefunden!«

[270] Der Beamte ergriff die messingene Kapsel, prüfte sie sorgfältig und wendete sie nach allen Seiten, wie einen Gegenstand von höchstem Werthe. Dann schüttelte er dieselbe und einige darin befindliche Stücke gaben dabei einen hellen metallischen Klang.

Sollte das Etui wirklich das mit solchem Opfermuthe gesuchte Document, das von der eigenen Hand des Urhebers jenes halbverjährten Verbrechens beschriebene Papier nicht enthalten, welches Torres gegen den Preis eines unwürdigen Tausches an Joam Dacosta verschachern wollte? Sollte der materielle Beweis für die Unschuld des Verurtheilten unwiederbringlich verloren sein?

Die unbeschreibliche Erregtheit der Zuschauer dieser Scene wird sich der Leser leicht vorstellen können. Benito war keines Wortes mächtig; er fühlte, daß sein Herz zu springen drohte.

»Oeffnen Sie, Herr Richter, öffnen Sie nur das Etui!« bat er mit halb gebrochener Stimme.

Jarriquez bemühte sich, den Deckel abzuziehen; als ihm das gelungen, wendete er die offene Seite des Etuis nach unten, aus dem einige Goldstücke auf den Tisch rollten.

»Aber das Papier... das Papier!« rief Benito noch einmal, während er sich an den Tisch anklammerte, um nicht zu Boden zu sinken.

Der Beamte fuhr mit den Fingern in die Kapsel und zog daraus mit einiger Schwierigkeit ein schon vergilbtes, aber sorgsam zusammengefaltetes Papier hervor, welches vom Wasser verschont zu sein schien.


Benito hatte alle Besinnung verloren. (S. 267.)

»Das Document! Das ist das Document! rief Fragoso erfreut, ja, ja, das ist das nämliche Papier, welches ich in Torres' Händen gesehen habe!«

Der Richter Jarriquez schlug das Papier auseinander, betrachtete es prüfend und sah die Vorder- und die Rückseite an, welche mit ziemlich großen Schriftzügen bedeckt waren.

»Ein Document, sagte er, freilich, daran ist kaum zu zweifeln. Ein Document ist das sicherlich!


Es waren Urubus. (S. 270.)

– Gewiß, setzte Benito hinzu, und zwar ein Document, welches die Unschuld meines Vaters nachweist.

– Das weiß ich noch nicht, meinte der Richter Jarriquez, und ich fürchte sogar, es wird seine Schwierigkeiten haben, das zu erfahren.

– Warum?... rief Benito, bleich wie der Tod.

[271] – Weil dieses Document in einer Geheimschrift abgefaßt ist, antwortete der Richter Jarriquez, und weil...

– Nun was?

... uns der Schlüssel dazu fehlt!«

[272]
12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Das Document.

Das war freilich ein sehr mißlicher Umstand, den weder Joam Dacosta noch die Seinigen vorhersehen konnten. In der That – diejenigen unserer Leser, welche den Anfang dieser Erzählung nicht vergessen haben, wissen es – erwies [273] sich das Document abgefaßt nach der schwierig zu enträthselnden Methode eines der zahlreichen, in der Kryptologie gebräuchlichen Systeme.

Aber nach welchem?

Das herauszufinden erheischte allen Scharfsinn eines schon geübten Menschengehirnes.

Der Richter Jarriquez ließ, bevor er Benito und dessen Begleiter verabschiedete, eine genaue Copie des Documents anfertigen, da er das Original selbst zurückbehalten wollte, und lieferte jene nach sorgfältiger Collationirung den beiden jungen Männern aus, damit diese sie dem Verhafteten zukommen lassen könnten.

Nachdem sie versprochen, sich am folgenden Tage wieder einzufinden, zogen sie sich zurück und begaben sich, um keinen Augenblick zu zögern und voll Verlangen, Joam Dacosta wiederzusehen, sofort nach dessen Gefängnisse.

Dort theilten sie dem Verhafteten in kurzen Worten Alles mit, was inzwischen vorgefallen war.

Joam Dacosta ergriff erregt das für ihn so wichtige Schriftstück und betrachtete es aufmerksam. Dann gab er es kopfschüttelnd seinem Sohne zurück.

»Vielleicht, sagte er gefaßt, enthalten diese Zeilen den Beweis, den ich bisher nicht beizubringen vermochte. Doch wenn es nicht der Fall wäre und ein ganzes ehrenhaftes Leben keinen Ausschlag zu meinen Gunsten giebt, so habe ich von der menschlichen Gerechtigkeit nichts mehr zu erwarten und mein Schicksal liegt allein noch in Gottes Hand.«

Alle empfanden die Wahrheit dieser Worte. Wenn das Document ungelöst blieb, so gestaltete sich die Lage des Verurtheilten zum schlimmsten.

»Wir werden das Räthsel lösen, liebster Vater! rief Benito vertrauensvoll. Es giebt keine Geheimschrift dieser Art, zu der sich nicht der Schlüssel finden ließe. O, fasse Muth... habe Vertrauen! Der Himmel hat uns, ich möchte sagen durch ein Wunder, das Schriftstück mit dem Beweise Deiner Unschuld wieder finden lassen, und nachdem er unsere Hand so gnädig geleitet, kann es nicht sein Wille sein, unseren Geist nicht zu erleuchten, um dessen Sinn zu fassen!«

Joam Dacosta drückte Benitos und Manoels Hand; darauf entfernten sich die beiden jungen Leute, um schleunigst nach der Jangada zurückzukehren, wo Yaquita ihrer Ankunft entgegenharrte.

Joam Dacosta's Gattin wurde sofort von allen Vorfällen seit dem gestrigen Tage unterrichtet, von dem Auftauchen des Leichnams Torres', wie von der [274] Wiederauffindung des Documents und der ungewöhnlichen Form, in welcher der wirkliche Urheber des Attentats dasselbe abfassen zu müssen geglaubt hatte – wahrscheinlich, um sich selbst nicht zu compromittiren, wenn jenes zufällig in fremde Hände käme.

Natürlich erfuhr auch Lina von jener unerwarteten Erschwerung und von Fragoso's Entdeckung, daß Torres ein früherer Waldkapitän und Mitglied jener etwas zweifelhaften Miliz gewesen sei, die an den Mündungen des Madeira ihr Wesen trieb.

»Wie bist Du aber mit ihm zusammengetroffen? fragte die junge Mulattin.

– Das war gelegentlich einer meiner Wanderungen durch die Amazonas-Provinz, antwortete Fragoso, als ich in Ausübung meines Geschäftes von Dorf zu Dorf pilgerte.

– Nun, und jene Narbe?

– Ja, das ging folgendermaßen zu: Ich langte eines schönen Tages in der Gegend von Aranas gerade in dem Augenblicke an, als Torres, den ich niemals vorher gesehen hatte, mit einem seiner Kameraden – lauter schuftige Kerle das – in Streit gekommen war, der damit endigte, daß der Waldkapitän einen Messerhieb in den Arm erhielt. Weil kein Arzt zur Hand war, mußte ich die Wunde einstweilen verbinden, und so habe ich seine Bekanntschaft gemacht.

– Ja, was nützt es aber, erwiderte das junge Mädchen, zu wissen, was Torres früher gewesen ist. Er war der Urheber jenes Verbrechens offenbar nicht, und folglich wird Deine Entdeckung der Klarlegung der Verhältnisse auch nicht besonders förderlich sein.

– Freilich nicht, antwortete Fragoso, aber, zum Teufel, es wird doch gelingen, das verwünschte Document zu entziffern, und dann muß Joam Dacosta's Unschuld ja Allen klar vor Augen treten!«

Yaquita, Benito, Manoel und Minha hegten dieselbe Hoffnung. Alle verbrachten in dem allgemeinen Wohnzimmer lange Stunden, um der Geheimschrift auf den Grund zu kommen.

Wenn sie aber darauf rechneten, so hoffte – und das verdient wohl hervorgehoben zu werden – der Richter Jarriquez ganz dasselbe.

Nachdem er einen Bericht aufgesetzt, der auf Grundlage des stattgehabten Verhörs die Identität Joam Dacosta's außer Zweifel stellte, hatte der Beamte denselben an die Kanzlei abgeliefert in der Meinung, diese Angelegenheit, soweit er dabei in Betracht kam, zum Abschluß gebracht zu haben. Es sollte [275] anders kommen. Mit der Auffindung des fraglichen Documents sah sich der Richter Jarriquez nämlich plötzlich in sein Lieblings-Fahrwasser versetzt. Er, der geübte Löser arithmetischer Aufgaben, amüsanter Probleme, der Entzifferer von Logogryphen, Rebus, Charaden und dergleichen, er befand sich damit in seinem Element.

Bedachte er nun überdies, daß jenes Document die Rechtfertigung des verurtheilten Joam Dacosta enthalten konnte, so regte sich sein analytischer Instinct nur mit doppelter Lebhaftigkeit. Er hatte ja einmal ein Kryptogramm von reeller Bedeutung vor Augen! Da lag ihm denn nichts mehr am Herzen als der Wunsch, hinter dessen Sinn zu kommen. Nur wer ihn nicht kannte, hätte daran zweifeln können, daß er Essen und Trinken wegen einer solchen Aufgabe zu vergessen im Stande war.

Nach der Entfernung der jungen Leute verschloß sich der Richter Jarriquez in seinem Privatcabinet. Der Eintritt dahin wurde Jedermann verwehrt, so daß er mehrere Stunden über ungestört nachsinnen und suchen konnte. Die Brille setzte er sorglich auf die Nase, die Tabaksdose neben sich auf den Tisch Er nahm eine tüchtige Prise, um seine geistigen Fähigkeiten zu schärfen, ergriff das räthselhafte Schriftstück und verlor sich in so tiefes Nachsinnen, daß sich seine Gedanken unwillkürlich in die Form eines Monologs einkleideten. Der ehrenwerthe Beamte gehörte überhaupt zu den Leuten, welche lieber laut als heimlich denken.

»Nur Alles mit Methode angefaßt, sprach er so für sich. Ohne Methode keine Logik. Ohne Logik kein Gedanke an erwünschten Erfolg.«

Darauf brachte er das Document in bequemere Sehweite und durchflog es, ohne ein Jota davon zu verstehen, von Anfang bis zu Ende.

Das Document enthielt hundert, in sechs Absätze getrennte Linien.

»Hm, murmelte der Richter Jarriquez nach reiflicher Erwägung, jeden Absatz einzeln zu studiren, wäre unnütze Zeitvergeudung. Es dürfte ja hinreichend sein, einen dieser Absätze vorzunehmen und dazu denjenigen auszuwählen, der aller Wahrscheinlichkeit nach das größte Interesse bietet. Das kann aber kein anderer sein als der letzte, welcher nothwendiger Weise ein Resumé des ganzen Inhalts oder doch die wichtigsten Aufschlüsse enthalten dürfte. Eigennamen möchten am geeignetsten sein, mich auf die rechte Spur zu leiten, zum Beispiel der Name Joam Dacosta selbst, und wenn derselbe in irgend einem Theile des Documents vorkommt, wird er in dem letzten Absatze kaum fehlen können.«

[276] Diese Schlußfolgerung des Beamten erschien logisch gerechtfertigt. Jedenfalls that er recht daran, seinen Scharfsinn und seine Erfahrung in diesem Fache zuerst an dem letzten Absatze zu erproben.

Wir setzen denselben nochmals hierher, da es geboten erscheint, ihn dem Leser vor Augen zu führen, um daran zu zeigen, wie ein ergrauter Analytiker zuwege ging, um den Schleier zu lüften und die Geheimschrift in verständliche Worte zu übersetzen.


Phyjslyddqfdzxgasgzzqqehxgkfndrxujugiocytdxvks bxhhuypohdvyrymhuhpuydkjoxphetozsletnpmvffov pdpajxhyynojyggaymeqynfuqlnmvlyfgsuzmqiztlbg qyugsqeubvnrcredgruzblrmxyuhqhpzdrrgcrohepqx ufivvrplphonthvddqfhqsntzhhhnfepmqkyuuexktog zgkyuumfvijdqdpzjqsykrplxhxqrymvklohhhotozvd ksppsuvjhd.


Zunächst fiel dem Richter Jarriquez auf, daß die Zeilen des Documents weder in Worte noch in Sätze abgetheilt waren, und daß ihnen jede Interpunktion fehlte. Dieser Umstand mußte die Lesbarkeit desselben wesentlich erschweren.

»Ich will aber doch nachsehen, sprach er für sich, ob nicht nebeneinanderstehende Buchstaben schon verständliche Wörter bilden, zunächst solche Wörter, deren Consonanten-Anzahl das Aussprechen von Silben überhaupt gestattet. Da sehe ich gleich zu Anfang die Silbe phy... weiterhin das Wort gas... Halt... da kommt ujugi... sollte man das nicht für den Namen jener bekannten afrikanischen Stadt am Ufer des Tanganyika ansehen? Was könnte aber diese Stadt mit der ganzen Sache zu thun haben?... Da steht ferner das Wort ypo... soll das griechisch sein? Endlichrym... puy... jox... phetoz... jvggay... suz... gruz... und vorher red... let... aha, das sind zwei englische Wörter! Weiter ohe... syk... Sieh' da, noch einmal die Silbe rym und hier das Wort oto

Der Richter Jarriquez ließ das Blatt sinken und begann über seine Wahrnehmungen nachzudenken.

»Alle die Wörter, murmelte er für sich, die ich bei dieser summarischen Uebersicht entdecke, geben keinerlei Aufschluß. Nichts deutet auf ihre Abstammung. Die einen sehen wie griechisch aus, andere wie holländisch, wieder andere erscheinen englisch, etliche haben gar keinen bestimmten Charakter, ganz davon abgesehen, daß dazwischen völlig unaussprechbare Consonantenreihen vorkommen. Offenbar wird es nicht so leicht sein, den Schlüssel zu diesem Kryptogramm zu finden!«

[277] Die Finger des Beamten begannen auf dem Schreibtisch eine Art Reveille zu trommeln, als wollte er seine schlummernde Geistesthätigkeit dadurch erwecken.

»Zunächst will ich doch nachsehen, wie viele Buchstaben dieser Absatz enthält.«

Er zählte mit dem Bleistift in der Hand.

»Zweihundertsechsundsiebenzig, sagte er. Schön! Nun wird es darauf ankommen, zu untersuchen, in welcher Anzahl die einzelnen Buchstaben vorkommen.«

Das machte eine längere Auszählung nöthig. Der Richter Jarriquez hatte das Document wieder zur Hand genommen; darauf notirte er mit dem Bleistift jeden Buchstaben in alphabetischer Ordnung. Nach einer Viertelstunde hatte er folgende Tabelle erhalten:


a = 3 MalTransport. 120
b = 4 Maln = 9 Mal
c = 3 Malo = 12 Mal
d = 16 Malp = 16 Mal
e = 9 Malq = 16 Mal
f = 10 Malr = 12 Mal
g = 13 Mals = 10 Mal
h = 23 Malt = 8 Mal
i = 4 Malu = 17 Mal
j = 8 Malv = 13 Mal
k = 9 Malx = 12 Mal
l = 9 Maly = 19 Mal
m = 9 Malz = 12 Mal
Summe. 120Totale. 276

»Aha, fuhr der Richter in seinem Selbstgespräch fort, da fällt mir gleich etwas auf, nämlich, daß schon in diesem Satze allein alle Buchstaben des Alphabets vorkommen. Das ist merkwürdig! Man nehme ein beliebiges Buch zur Hand; da wird man in so vielen Zeilen, welche zweihundertsechsundsiebenzig Buchstaben enthalten, sehr selten darin alle Buchstaben des Alphabets vorfinden. Doch das könnte ja ein bloßer Zufall sein!«

Dann schlugen seine Gedanken eine andere Richtung ein.

[278] »Hm... wichtiger erscheint es zu wissen, brummte er weiter, ob die Vocale zu den Consonanten in richtigem Zahlenverhältniß stehen.«

Der Beamte nahm wieder den Bleistift zur Hand und erhielt, als er die Vocale zusammenzählte, folgendes Resultat:


a = 3 Mal
e = 9 Mal
i = 4 Mal
o = 12 Mal
u = 17 Mal
y = 19 Mal
Totale. 64 Vocale

»In diesem Absatze befinden sich demnach, fuhr er fort, vierundsechzig Vocale gegen zweihundertzwölf Consonanten! Nun, das ist ja das normale Verhältniß, das heißt etwa ein Fünftel, annähernd wie im Alphabet selbst, welches sechs Vocale auf fünfhundzwanzig Buchstaben enthält. Das ließe vermuthen, daß das Document in unserer Landessparche abgefaßt, aber für jeden Buchstaben irgend ein anderer gesetzt wäre. Ist diese Veränderung nun einfach durchgeführt, steht zum Beispiel an Stelle eines b allemal ein l, für ein o ein v, für g ein k, für u ein r und so weiter, so will ich meine Stellung als Richter in Manao dagegen einsetzen, daß es mir gelingt, das Document zu lesen. Ich habe ja einfach nach der Methode zu verfahren, welche das große analytische Genie, das sich Edgar allen Poë nennt, angegeben hat!«

Der Richter Jarriquez spielte mit diesen Worten auf eine Novelle des berühmten amerikanischen Schriftstellers an, der in seinem »The gold bug« ein vielgelesenes Meisterwerk geliefert hat.

In dieser Novelle wird eine aus Ziffern, Buchstaben, algebraïschen Zeichen, Sternchen, Punkten und Kommas zusammengestzte Geheimschrift einer höchst sinnreichen mathematischen Untersuchungs-Methode unterworfen und auf wirklich überraschende Weise entziffert, was die Verehrer dieses scharfsinnigen Autors nicht vergessen haben dürften.

Von der Entzifferung jenes amerikanischen Documents hing freilich nur die Auffindung eines Schatzes ab, während es sich hier um Leben und Ehre eines Menschen handelte. Die Entdeckung des Schlüssels bot also in unserem Falle entschieden mehr Interesse.


Er befand sich damit in seinem Elemente. (S. 276.)

Der Beamte, der »seinen« Gold bug (Goldkäfer) wiederholt gelesen hatte, war mit dem sorgsam befolgten analytischen Verfahren Edgar Poë's hinreichend bekannt und beschloß, sich desselben bei dieser Gelegenheit zu bedienen. Durch Anwendung desselben mußte es, wie er geäußert, wenn die Buchstaben [279] eine gleichbleibende Bedeutung hatten, über kurz oder lang gelingen das auf Joam Dacosta bezügliche Document zu lesen.

»Wie ging Edgar Poë denn zuwege? fragte er sich. Zunächst überzeugte er sich, welches Zeichen – hier giebt es keine anderen als Buchstaben – sagen


Sein Special-Alphabet in der Hand neben dem Document. (S. 283.)

[280] Sein Special-Alphabet in der Hand neben dem Document. (S. 283.)


wir also gleich, welcher Buchstabe am häufigsten in dem Kryptogramm wiederkehrt. Hier ergiebt sich als solcher der Buchstabe h, welcher dreiundzwanzigmal vorkommt. Schon dieses auffällige Ueberwiegen beweist a priori, daß dieses h nicht dem gewöhnlichenh der Schrift, sondern daß es demjenigen Buchstaben entspricht, der in unserer Sprache am häufigsten vorkommt, da ich doch wohl voraussetzen darf, daß das Document in portugiesischer Sprache abgefaßt ist. Im Englischen und Französischen wäre das zweifellos e, im Italienischen i oder a, im Portugiesischen müßte es a oder o sein. Nehmen wir also an, daß h hier a odero bedeute.«

[281] Nun machte sich der Beamte daran, festzustellen, welcher Buchstabe nach dem h am häufigsten vorkam, und erhielt, indem er das ganze Alphabet in diesem Sinne ordnete, folgende Tabelle:


h = 23 Mal
y = 19 Mal
u = 17 Mal
d p q = 16 Mal
g v = 13 Mal
o r x z = 12 Mal
f s = 10 Mal
e k l m n = 9 Mal
j t = 8 Mal
b i = 4 Mal
a c = 3 Mal

»Aha, der Buchstabe a, rief der Richter, der am häufigsten auftreten sollte, findet sich nur dreimal vor. Das beweist zum Ueberfluß noch einmal, daß die Bedeutung der Buchstaben verändert ist. Doch nun, welche sind nach a und o diejenigen Buchstaben, die in unserer Sprache am häufigsten vorkommen? Wollen doch nachsehen!«

Mit wirklich bewundernswerthem Scharfsinn, der seiner Beobachtungsgabe ein vorzügliches Zeugniß ausstellte, vertiefte sich der Richter Jarriquez in diese neue Untersuchung. Er ahmte damit den berühmten amerikanischen Schriftsteller nach, der – ein geborner Analytiker – durch einfache Induction und Wahrscheinlichkeits-Rechnung dahin gelangte, sich ein Alphabet zu reconstruiren, das den Zeichen der Geheimschrift entsprach und es ihm ermöglichte, dieselbe ohne Anstoß zu lesen.

Ganz ähnlich verfuhr der Beamte, und man muß ihm das Zeugniß geben, daß er hinter seinem berühmten Vorbilde keineswegs zurückblieb. Da er sich mit Logogryphen, Quadrat- und anderen Räthseln, welche auf eine willkürliche Verstellung von Buchstaben hinauslaufen, vielfach beschäftigt und sich gewöhnt hatte, deren Lösung aus dem Kopfe oder mit der Feder in der Hand zu finden, so brachte er für diese Arbeit eine mehr als gewöhnliche Vorübung mit.

Es ward ihm also auch jetzt nicht mehr schwer, festzustellen, welche Reihenfolge die einzelnen Buchstaben, erst die Vocale, dann die Consonanten, der[282] Häufigkeit ihres Vorkommens nach einnahmen. Nach Verlauf von drei Stunden hatte er ein Schema vor Augen, das ihm, die Richtigkeit seines Verfahrens vorausgesetzt, die wirkliche Bedeutung der in dem Document vorkommenden Buchstaben angeben mußte. Es blieb ihm jetzt nur übrig, unter die letzteren die Buchstaben nach seinem Schema zu setzen.

Als er jedoch daran ging, das zu thun, hinderte ihn eine gewisse Erregung an der Ausführung. Den Richter Jarriquez durchschauerte eine Art wohlverdienter Freude, wie Jeden, der nach mehreren Stunden mühevoller Arbeit den sehnlichst gesuchten Sinn eines Logogryphs vor seinem geistigen Auge allmählich aufdämmern sieht.

»Nun denn, legen wir die letzte Hand an, ermahnte er sich selbst. Es wäre doch wunderbar, wenn ich die richtige Lösung nicht gefunden hätte!«

Der Richter Jarriquez nahm die Brille ab, putzte sorgfältig die Gläser und setzte jene wieder auf der Nase zurecht; dann beugte er sich von neuem über den Schreibtisch.

Sein Special-Alphabet in der Hand neben dem Document, begann er zu schreiben und setzte die, seiner Meinung nach richtigen Buchstaben unter die der ersten Zeilen der Geheimschrift. Nach der ersten Linie verfuhr er in gleicher Weise mit der zweiten, dann ebenso mit der dritten, mit der vierten und gelangte so bis zum Ende des Absatzes.

Während des Schreibens vermied er es absichtlich, zu prüfen, ob diese Vereinigung von Buchstaben verständliche Worte ergab. Er hätte ja ein Stümper in seinem Fache sein müssen, wenn das zuletzt nicht der Fall wäre. Nein – er geizte nach dem Vergnügen, den ganzen Absatz flottweg und in einem Athemzuge zu lesen. Er war fertig.

»Nun wollen wir lesen!« rief er.

Er las.

Großer Gott, welche Mißlaute! Die von ihm mit Hilfe seines Alphabetes gebildeten Zeilen hatten gerade so wenig Sinn und Verstand, wie jene des Documentes. Sie bildeten eine andere Reihe von Buchstaben, weiter nichts, jedenfalls keine Wörter, keinen verständlichen Satz. Kurz, seine Niederschrift erschien nicht minder hieroglyphisch als das ursprüngliche Kryptogramm.

»Alle Wetter und Teufel!« brummte der Richter Jarriquez bei dieser beschämenden Enttäuschung vor sich hin.

[283]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Worin von Chiffren und Ziffern die Rede ist.

Es war jetzt um sieben Uhr Abends. Noch immer in seine Kopszerbrechereien vertieft, hatte der Richter Jarriquez, ohne doch einen Schritt vorwärts gekommen zu sein, zu essen, zu trinken und auszuruhen vergessen, als er an die Thür seines Zimmers klopfen hörte.

Wahrlich die höchste Zeit! Noch eine Stunde, und die ganze Gehirnsubstanz des hochweisen Beamten wäre unter der, seinen Kopf jetzt durchglühenden Hitze elendiglich geschmolzen.

Als er mit mürrischer Stimme ein, Herein!« gerufen, erschien Manoel auf der Schwelle.

Der junge Arzt hatte seine, mit Versuchen zur Entzifferung des wichtigen Documentes beschäftigten Freunde an Bord der Jangada zurückgelassen und sich davongeschlichen, um den Richter Jarriquez aufzusuchen. Es verlangte ihn zu erfahren, ob dieser in seinen Bemühungen erfolgreicher gewesen sei. So stellte er sich bei ihm mit der Frage ein, ob er endlich die Methode, nach der das Document abgefaßt war, ausgegrübelt habe. Der Beamte war nicht gerade bös darüber, Manoel zu sehen. Er befand sich eben in jenem Zustande nervöser Ueberreiztheit, den die Einsamkeit so leicht erzeugt. Er mußte Jemand haben, gegen den er sich aussprechen konnte, vorzüglich wenn der Andere sein Interesse an der Lösung des schwierigen Räthsels theilte. Manoel war also ganz und gar sein Mann.

»Herr Richter, begann Manoel im Eintreten, eine Frage: haben Sie mehr Erfolg gehabt als wir?...

– Setzen Sie sich zunächst nieder, rief der Richter Jarriquez, der sich selbst erhob und durch das Zimmer hinschritt. Setzen Sie sich, ich bitte! Befinden wir uns Beide auf den Füßen, so wären Sie verleitet, nach der einen Seite zu gehen und ich vielleicht nach der anderen, dazu wäre der Raum zu klein.«

Manoel setzte sich und wiederholte seine Frage.

»Nein... ich bin leider auch nicht glücklicher gewesen! antwortete jetzt der Beamte. Ich weiß noch nicht mehr als früher und kann Ihnen weiter keine [284] Mittheilungen machen, als daß ich ganz im Allgemeinen zu einer gewissen Ansicht gekommen bin.

– Und diese wäre, Herr Richter? Sprechen Sie!

– Daß das Document nicht auf conventionellen Zeichen basirt, sondern auf einer Chiffre, wie man in der Kryptologie zu sagen pflegt, oder, um es genauer auszudrücken, auf einer Zahl.

– Nun, und ist es denn nicht stets möglich, eine Geheimschrift dieser Art zu lesen?

– O ja, erwiderte der Richter Jarriquez, gewiß, wenn ein Buchstabe stets an Stelle eines bestimmten anderen gesetzt, wenn z. B. a immer durch ein p dargestellt ist, ein p durch ein x... u. s. w. Wenn das nicht der Fall ist, so spottet es jeder Mühe.

– Und in unserem Document?...

– In dieser Schrift wechselt die Bedeutung jedes Buchstaben je nach der willkürlich angenommenen Chiffre. So wird etwa ein b, welches zuerst durch eink dargestellt war, später ein z, weiterhin vielleicht einm, ein n, ein f oder ein beliebiger anderer Buchstabe.

– Und in diesem Falle?...

– In diesem Falle bedauere ich, Ihnen eröffnen zu müssen, daß das Kryptogramm gar nicht zu entziffern ist.

– Nicht zu entziffern! rief Manoel, nein, Herr Richter, wir müssen nothwendig dazu gelangen, den Schlüssel zu diesem Document zu finden, von dem das Leben eines Ehrenmannes abhängt!«

Manoel hatte sich in plötzlicher Erregung erhoben; er konnte sich nicht mehr bemeistern. Die erhaltene Antwort erschien ihm so niederschmetternd, daß er sie nicht als die letzte ansehen mochte.

Auf einen Wink des Beamten setzte er sich noch einmal nieder und nahm das Gespräch mit ruhigerer Stimme wieder auf.

»Sagen Sie mir, Herr Richter, was veranlaßt Sie zu glauben, daß das Document nach einer untergelegten Chiffre, oder wie Sie sagten, nach einer Zahl abgefaßt ist?

– Hören Sie mich an, junger Mann, erwiderte der Richter, und Sie werden bald selbst zu dieser Ueberzeugung kommen.«

Der Beamte ergriff das Document und hielt es Manoel vor Augen, um diesem das Nähere mitzutheilen.

[285] »Ich begann meine Bearbeitung des Documentes, sagte er, so wie es geschehen muß, das heißt logisch, und überließ nichts dem Zufalle, das heißt ich bemühte mich zunächst mit Unterlegung eines Alphabets, um auf Grund des mehr oder weniger häufigen Vorkommens der gewöhnlichen Buchstaben in unserer Sprache das Document zu lesen, indem ich gänzlich den von unserem unsterblichen Analytiker Edgar Poë aufgestellten Regeln folgte... Wodurch er jedoch zum Ziele gelangte, das schlug in meinem Falle fehl...

– Es mißglückte! rief Manoel.

– Ja freilich, junger Mann, und ich hätte es sogar vorher sehen können, daß auf diese Weise nichts auszurichten war. In der That, ein Geübterer würde sich die vergebliche Mühe gespart haben.

– Aber, mein Gott, sagte Manoel, ich begreife leider nicht recht...

– Nehmen Sie das Schriftstück zur Hand, fiel ihm der Richter Jarriquez in's Wort, achten Sie auf die Aneinanderreihung der Buchstaben und sehen Sie das Ganze noch einmal durch.«

Manoel that, wie ihm geheißen.

»Finden Sie in der Stellung gewisser Buchstaben nichts Auffälliges?

– Ich sehe nichts, antwortete Manoel, nachdem er die Zeilen des Documents vielleicht zum hundertsten Male durchflogen hatte.

– Nun, beschränken Sie sich darauf, den letzten Absatz genau in's Auge zu fassen. Sie werden zugeben, daß sich darin, aller Wahrscheinlichkeit nach, eine Art Auszug der ganzen Niederschrift vorfinden dürfte. – Sehen Sie darin wirklich gar nichts Abnormes?

– Nichts.

– Und doch kommt darin Etwas vor, was unzweifelhaft beweist, daß das Document nach einer untergelegten Zahl abgefaßt ist.

– Das wäre? fragte Manoel.

– Das ist, oder vielmehr das sind drei h, welche wir an zwei verschiedenen Stellen direct neben einander stehend finden!«

Was hier der Richter Jarriquez erwähnte, mußte in der That die Aufmerksamkeit eines scharfen Beobachters erregen. Einerseits bestanden der zweihundertvierte, zweihundertfünfte und zweihundertsechste Buchstabe des Absatzes, andererseits der zweihundertachtundfünfzigste, zweihundertneunundfünfzigste und zweihundertsechzigste Buchstabe aus direct aufeinander folgenden h. Diese Eigenthümlichkeit war freilich vorher auch dem Beamten selbst nicht aufgefallen.

[286] Und das beweist?.... sagte Manoel, ohne zu errathen, welchen Schluß er aus dieser Anhäufung von Lettern ziehen sollte.

– Das beweist ganz einfach, junger Mann, daß das Document auf einer Zahl basirt. Das beweist a priori, daß jeder Buchstabe, entsprechend den verschiedenen Ziffern dieser Zahl und je nach der Stelle, die sie einnehmen, verändert ist.

– Warum aber?

– Weil es überhaupt in keiner Sprache ein Wort giebt, in dem drei h neben einander vorkommen könnten.«

Manoel stutzte über dieses Argument, dachte über die Worte nach, fand aber nichts darauf zu erwidern.

»Und wenn ich das gleich Anfangs bemerkt hätte, fuhr der Beamte fort, so würde ich mir viel Quälerei und die Vorzeichen einer Migräne erspart haben, die sich schon von meiner Stirn bis zum Hinterhaupte ausbreitet.

– Aber sagen Sie mir, Herr Richter, fragte Manoel, der die letzte Hoffnung, an welche er sich noch klammerte, verschwinden sah, was verstehen Sie hier unter einer Chiffre?

– Sagen wir unter einer Zahl.

– Also einer Zahl, wie es Ihnen beliebt.

– O, das wird Ihnen ein einziges Beispiel klarer machen, als jede theoretische Darlegung.«

Der Richter Jarriquez ließ sich an dem Schreibtische nieder, ergriff ein Stück Papier, einen Bleistift und sagte:

»Herr Manoel, nehmen wir einen ganz beliebigen Satz an, den ersten, der uns in den Sinn kommt, z. B.

»Der Richter Jarriquez ist ein sehr scharfsinniger Kopf.«

»Ich schreibe diesen Satz nieder, lasse zwischen jeden Buchstaben ein wenig Raum und erhalte so folgende Zeile:

Der Richter Jarriquez ist ein sehr scharfsinniger Kopf.«

Nachdem er damit fertig – in den Augen des Beamten schien das ein Axiom zu sein, an welchem überhaupt Niemand zu zweifeln wagen durfte – sah er Manoel scharf an und sagte:

»Denken wir uns jetzt eine uns ganz zufällig in den Sinn kommende Zahl, um die natürliche Folge dieser Buchstaben kryptologisch umzugestalten.

[287] Nehmen wir z. B. an, diese Zahl bestehe aus drei Ziffern und diese seien 4, 2, 3, ich setze genannte Zahl vierhundertdreiundzwanzig unter jene Linie und wiederhole sie so oft, als es bis zum Ende des Satzes nöthig ist, so daß unter jeden Buchstaben eine Ziffer zu stehen kommt. Das ergäbe Folgendes:

DerRichterJarriquezisteinsehrscharfsinnigerKopf

423423423423423423423423423 42342342342342342342

»Setzen wir nun an Stelle jedes Buchstaben den anderen, der sich, im Alphabet weiter gerechnet, durch die untergeschriebene Ziffer ergiebt, so erhalten wir Folgendes:


D und 4 weiter = H
e und 2 weiter = g
r und 3 weiter = u
R und 4 weiter = w
i und 2 weiter = k 1
c und 3 weiter = f
h und 4 weiter = l
t und 2 weiter = v
e und 3 weiter = h
r und 4 weiter = v

und so weiter.

»Wenn ich in Folge des Werthes einer Ziffer und der angenommenen Zahl bis zum Ende des Alphabets komme, ohne den vorgeschriebenen zweiten, dritten oder vierten Buchstaben zu erreichen, so gehe ich auf den Anfang desselben zurück. Das kommt z. B. bei dem letzten Buchstaben meines eigenen Namens vor, mit dem z, unter dem eine vier steht. Da das Alphabet keine weiteren Buchstaben hat, zähle ich von dem z wieder von a an, und in diesem Falle tritt an die Stelle des z ein d.

»Bin ich nun mit der Veränderung der Buchstaben nach meinem kryptographischen Schema, hier nach der, vergessen Sie nicht, ganz willkürlich gewählten Zahl 423, zu Ende, so habe ich für den Ihnen bekannten Satz folgendes Bild erhalten:

Hguvkflvhvldvtluwhdkvyglruhltvgjdvhvmpqmihvm rth.

»Nun, junger Mann, betrachten Sie diese Zeilen; sind sie denen des Documents nicht ungemein ähnlich? Was geht also daraus hervor? Das Eine, [288] daß jeder Buchstabe nach der zufällig unter demselben stehenden Ziffer verändert ist, daß also der kryptographische Buchstabe nicht immer denselben wirklichen Buchstaben vertritt, sondern eine wechselnde Bedeutung hat. So steht in unserem Satze an Stelle des ersten e ein g, das zweite aber ist durch ein h wiedergegeben; die beiden r in meinem Namen erscheinen alsv und t. Das t in dem Worte »Richter« ist durch v, in dem Worte »ist« durch ein y dargestellt, das i erscheint als k, l und m u. s. w. u. s. w. Sie sehen also, daß es Ihnen ohne Kenntniß jener Zahl 423 absolut unmöglich wäre, diese Zeilen zu lesen, [289] und daß folglich auch das Document, da uns dessen zu Grunde gelegte Zahl unbekannt ist, unentziffert bleiben wird.«


Versuche zur Entzifferung des wichtigen Documentes. (S. 284.)

Diese Darlegungen des Beamten machten Manoel zuerst verstummen; dennoch wollte er sich nicht ergeben.

»Nein, Herr Richter, rief er, ich gebe noch nicht alle Hoffnung auf, diese Zahl heraus zu finden.

– Es wäre das noch eher möglich, wenn die Linien des Documents wenigstens in Wörter abgetheilt wären.

– Warum dann?

– Ich will's Ihnen erklären, junger Mann. Auf jeden Fall ist doch anzunehmen, daß dieser letzte Absatz des Schriftstückes gewissermaßen eine Zusammenfassung des Inhalts der ihm vorausgehenden Zeilen enthalten dürfte und daß auch der Name Joam Dacosta darin vorkommen werde. Wären nun die Zeilen in Wörter abgetheilt, so könnte man wohl hoffen, durch Prüfung der einzelnen Wörter – ich habe vorzüglich dabei diejenigen mit sieben Buchstaben im Auge, da der Name Dacosta diese Zahl enthält – auf die Zahl zu kommen, welche den Schlüssel zu dem Ganzen bildet.

– O, belehren Sie mich auch, wie zu diesem Ende zu verfahren ist, Herr Richter, bat Manoel, dem hier ein letzter Hoffnungsschimmer zu leuchten schien.

– O, das ist an und für sich sehr einfach, erwiderte der Richter Jarriquez. Nehmen wir z. B. gleich meinen Namen und denken uns, es hätten unter Jarr. u. s. w. die Ziffern 4, 2, 3, 4, 2, 3 u. s. w. gestanden. Das ergäbe folgende sonderbare Buchstabenreihe: n c u v k t z g e; in einem wirklichen Satze könnte dieser Name natürlich in Folge der Stellung, welche er gegenüber den immer wiederholten Ziffern einnimmt, sehr verschieden ausfallen. Stellen wir jedoch diese Buchstaben beispielsweise in eine senkrechte Reihe und schreiben daneben einzeln die Zeichen meines Namens, so würden wir, wenn wir von den letzteren in alphabetischer Ordnung zurückrechnen, folgende Tabelle erhalten:

Von n bis j zähle ich 4 Buchstaben
Von c bis a zähle ich 2 Buchstaben
Von u bis r zähle ich 3 Buchstaben
Von v bis r zähle ich 4 Buchstaben
Von k bis i zähle ich 2 Buchstaben
Von t bis q zähle ich 3 Buchstaben
[290] Von z bis u zähle ich 4 Buchstaben
Von g bis e zähle ich 2 Buchstaben
Von c bis z zähle ich 3 Buchstaben

»Wie ist also die Zifferreihe beschaffen, welche wir durch diese sehr einfache Operation erlangt haben? Sie erkennen es selbst; es sind die Ziffern 423423423 u. s. w., das heißt, es ist die mehrfache Wiederholung der Zahl 423.

– Ja, so ist es! bestätigte Manoel.

– Sie begreifen also, daß ich auf diesem Wege, das heißt durch Zurückzählung vom falschen Buchstaben zu dem richtigen, leicht dazu kam, die Zahl wiederzufinden, welche ich ganz willkürlich als Schlüssel für meine Geheimschrift gewählt hatte.

– Sehr schön, Herr Richter, rief Manoel, wenn sich, wie es fast der Fall sein muß, in diesem letzten Absatze also der Name Dacosta vorfindet, so muß ich, wenn ich nach und nach jeden Buchstaben dieser Zeilen für den ersten der sieben Buchstaben jenes Namens einsetze, doch dahin gelangen...

– Das wäre möglich, fiel der Richter ein, aber freilich nur unter einer Bedingung.

– Und diese wäre?

– Daß die erste Ziffer der gesuchten Zahl zufällig auf den ersten Buchstaben des Namens Dacosta fiele, und Sie werden mir zugeben, daß das nicht so wahrscheinlich ist.

– Leider! entgegnete Manoel, dem gegenüber dieser unglücklichen Chance der Muth zu sinken drohte.

– Man würde sich also nur auf den Zufall verlassen können, fuhr der Richter Jarriquez kopfschüttelnd fort, und den Zufall hat man bei Untersuchungen dieser Art von vornherein möglichst auszuschließen.

– Zugegeben, antwortete Manoel, aber könnte uns der Zufall nicht gerade die gesuchte Zahl eingeben?

– Diese Zahl, rief der Beamte, die gesuchte Zahl! Sagen Sie mir zuerst, aus wie viel Ziffern besteht dieselbe? Aus zwei, drei, vier, neun oder gar aus zehn? Enthält sie lauter verschiedene Ziffern oder kommen einzelne Ziffern wiederholt darin vor? Wissen Sie denn, junger Mann, daß man aus den zehn Ziffern des Zahlensystems, wenn sie Alle verwendet, aber noch keine wiederholt würde, nicht weniger als drei Millionen zweihundertachtundsechzigtausendachthundert verschiedene Zahlen bilden kann, und daß, wenn nur einzelne Ziffern wiederholt [291] verwendet werden, diese Millionen gleich ganz unglaublich anwachsen? Und wissen Sie auch, daß, wenn man von den fünfhundertfünfundzwanzigtausendsechshundert Minuten, welche das Jahr zählt, nur je eine einzige nöthig hätte, um jede einzelne jener Zahlen durchzuprobiren, man zu einem solchen Versuche über sechs volle Jahre Zeit brauchte, und daß Sie mehr als drei Jahrhunderte gebrauchten, wenn jede solche Operation eine Stunde in Anspruch nehme? Nein, Sie verlangen eine Unmöglichkeit!

– Eine Unmöglichkeit, mein Herr, erwiderte Manoel, ist es, daß ein Unschuldiger verurtheilt werden sollte, daß Joam Dacosta Ehre und Leben verliert, wenn Sie den materiellen Beweis seiner Schuldlosigkeit in Händen haben.

– Oho, junger Mann, versetzte der Richter Jarriquez, wer sagt Ihnen denn so bestimmt, daß jener Torres nicht gelogen, daß er wirklich das von dem Urheber des fraglichen Verbrechens selbst geschriebene Document in den Händen gehabt hat, daß dieses Papier hier auch das gesuchte Document ist, und daß es sich überhaupt auf Joam Dacosta bezieht?

– Ja, wer sagt uns das!« wiederholte Manoel.

Der Kopf sank ihm in die Hand nieder.

In der That lag ja dafür nicht der geringste Beweis vor, daß das Document die Affaire in dem Diamantendistrict angehe. Es konnte ja vielleicht ganz sinnlos und von Torres nur erfunden sein, da ihm wohl zuzutrauen war, daß er an Stelle des richtigen auch ein falsches Schriftstück verkauft hätte.

»Doch von dem Allen abgesehen, Herr Manoel, fuhr der Richter sich erhebend fort. Auf was dieses Document sich auch beziehen möge, ich werde es nicht aufgeben, den Schlüssel zu entdecken. Alles in Allem ist diese Aufgabe doch ebensoviel, wenn nicht mehr werth, als die Lösung eines Logogryphs oder eines Rebus!«

Manoel stand ebenfalls auf, verneigte sich vor dem Beamten und kehrte nach der Jangada zurück, freilich mit weit weniger froher Hoffnung, als bei seinem Fortgang von derselben.

Fußnoten

1 J als besonderen Buchstaben gerechnet.

14. Capitel
[292] Vierzehntes Capitel
Ganz nach Belieben!

Inzwischen hatte sich in der öffentlichen Meinung bezüglich des verurtheilten Joam Dacosta ein völliger Umschwung vollzogen. An Stelle der Erbitterung war das Mitleid getreten. Jetzt strömte die Bevölkerung Manaos nicht mehr vor dem Gefängnisse zusammen, um den Tod des Fazenders zu verlangen. Im Gegentheil erklärten nun Diejenigen, welche ihn früher am lautesten verdammten und von seiner Schuld bezüglich des Verbrechens in Tijuco überzeugt waren, mit demselben Ungestüm, daß er sofort auf freien Fuß gesetzt werden sollte – wie die große Menge ja gewöhnlich von einem Extrem zum anderen überzuspringen pflegt.

An Gründen für diese Meinungsveränderung fehlte es freilich nicht.

Die Ereignisse der letzten beiden Tage, der Zweikampf zwischen Benito und Torres, die Aufsuchung des unter so merkwürdigen Umständen wieder an's Licht gekommenen Leichnams, die Auffindung des, wenn man so sagen darf »undechiffrirbaren« Documentes, der Zeilen, von denen man überzeugt war oder sich doch die Ueberzeugung einredete, daß sie den materiellen Beweis der Schuldlosigkeit Joam Da costa's enthielten, da das Schriftstück von dem wahren Schuldigen ausging – Alles hatte dazu beigetragen, diesen Umschwung der öffentlichen Meinung herbeizuführen. Was man noch vor achtundvierzig Stunden wünschte und mit Ungeduld erwartete, nämlich das Eintreffen der Instructionen von Rio de Janeiro, das fürchtete man jetzt eben so ängstlich.

Lange konnte es ja bis dahin nicht dauern.

Joam Dacosta war am 24. August verhaftet und am nächsten Tage verhört worden. Der Bericht des Beamten wurde am 26. abgesendet. Binnen drei bis höchstens vier Tagen mußte der Minister ein Entscheidung bezüglich des Verurtheilten fällen, und es erschien nur zu gewiß, daß »die Gerechtigkeit ihren Lauf haben werde«.

In der That zweifelte daran Niemand. Daß der Nachweis der Unschuld Joam Dacosta's sich aus dem Document ergeben werde, daran zweifelte auch andererseits Niemand, weder seine Familie noch die Einwohnerschaft Manaos, [293] welche allen Phasen dieses Dramas mit größter Spannung folgte. Und doch konnte jenes Document in den Augen nichtinteressirter und unparteiischer Beurtheiler, welche nicht unter dem Eindrucke der Ereignisse standen, eigentlich gar keinen Werth beanspruchen, vorzüglich da ja nicht einmal der Beweis erbracht war, daß es sich überhaupt auf den Ueberfall im Diamantendistrict beziehe. Daß es existirte, war freilich unzweifelhaft, ebenso, daß man es an Torres' Leichnam gefunden hatte. Weiter ließ sich durch Vergleichung des Briefes, in dem Torres Joam Dacosta denuncirt hatte, nachweisen, daß jenes nicht von der Hand des Abenteurers abgefaßt sein könne. Dagegen warf der Richter Jarriquez freilich mit Recht ein, wie damit keineswegs die Annahme ausgeschlossen sei, daß der Elende es habe zu betrügerischen Zwecken von einem Anderen anfertigen lassen. Das wurde noch mehr dadurch bekräftigt, daß er dasselbe erst nach der Vermählung mit der Tochter des Fazenders hatte ausliefern wollen, das heißt erst dann, wenn an dem Geschehenen nichts mehr zu ändern wäre.

Auf jeden Fall konnte man über den Werth des Documentes sehr abweichende Anschauungen haben, ein Umstand, welcher die Erhitzung der Gemüther nur noch begünstigte. Die Lage Joam Dacosta's war und blieb ohne Zweifel eine sehr gefährliche. Wurde das Document nicht enträthselt, so war es so gut wie nicht vorhanden, und gelang die Lösung dieser außerordentlichen kryptographischen Aufgabe nicht binnen drei Tagen, so schien die Hinrichtung des in Tijuco Verurtheilten unausweichlich.

Die Wunderthat der Lösung wollte ein Mann vollbringen; dieser Mann war kein Anderer als der Richter Jarriquez, und jetzt arbeitete er mehr im Interesse Joam Dacosta's als zur Befriedigung seiner eigenen Liebhaberei. Auch seine Ansicht von der Sache hatte sich vollständig geändert. Bot jener Mann, der sein Versteck in Iquitos freiwillig verließ, der sich selbst auf die Gefahr seines Lebens hin stellte, um von einem Gerichtshofe Brasiliens seine Rehabilitation zu verlangen, nicht ein moralisches Räthsel, welches für seine Unschuld mehr sprach als manche andere Beweise?

Das Document wollte der Beamte jedenfalls nicht aus der Hand legen, bis er den Schlüssel dazu gefunden hatte; er ging in diesem Streben vollständig auf; er aß nicht mehr, er schlief nicht mehr – jede Minute seiner Zeit verwandte er dazu, Zahlen zu combiniren und auf Grund derselben den Schlüssel zu diesem Schlosse zu finden.

[294] Am Ende des ersten Tages war dieser Gedanke im Gehirn des Richters Jarriquez schon zur fixen Idee geworden. In seinem Inneren kochte eine nur schlecht verhehlte Wuth, vor welcher sein ganzes Haus zitterte. Seine weißen oder schwarzen Diener wagten gar nicht mehr, ihm näher zu kommen. Zum Glück war er ein alter Hagestolz, sonst hätte Frau Jarriquez jetzt gewiß bitterböse Stunden gehabt. Noch niemals hatte ein Problem dieses Original von einem Richter so lebhaft interessirt, und er war entschlossen, nicht eher nachzulassen, als bis ihm die Lösung gelungen war, vorausgesetzt, daß sein Kopf nicht sprang wie ein Kessel unter dem Drucke des zu hoch gespannten Dampfes.

Bei dem würdigen Beamten stand es jetzt unerschütterlich fest, daß der Schlüssel eine zwei- oder mehrzifferige Zahl bilde, daß aber diese Zahl auf keine Weise durch Deduction zu finden sei.

Gerade das versuchte der Richter Jarriquez aber mit einer wirklichen Wuth, und an diese übermenschliche Arbeit verschwendete er am 28. August alle seine Erfahrung und Fähigkeiten.

Jene Zahl durch Probiren zu finden, das hieß, wie er gesagt hatte, sich in Millionen Combinationen verlieren, welche mehr als die Lebenszeit eines Rechners ersten Ranges in Anspruch genommen hätten. Wenn man auf die Hilfe des Zufalls aber kaum zählen durfte, konnte man nicht durch Raisonnement auf die richtige Fährte gelangen? Nein, aller Wahrscheinlichkeit nach auch das nicht, obwohl der Richter Jarriquez, nachdem er sich wenige Stunden Schlaf gegönnt, bis zur Unvernunft raisonnirte und Möglichkeiten erwog.

Wer ihn jetzt, unter Hintansetzung seines strengen Verbotes, ihn ungestört zu lassen, gesehen hätte, würde ihn noch immer vor seinem Schreibtische mit den Augen auf dem Document gefunden haben, während ganze Tausende von Zahlen ihm um den Kopf zu schwirren schienen.

»Zum Teufel, rief er, warum hat der Schurke, der diese Zeilen schrieb, nicht wenigstens die Wörter seiner Linien abgegrenzt, dann könnte man doch... ja, ja, dann wär's möglich... aber nein!


Wissen Sie denn, junger Mann... (S. 291.)

Und dann, wenn in diesem Schriftstücke wirklich von dem Diamantendiebstahle die Rede ist, erscheint es ganz unmöglich, daß sich gewisse Wörter nicht darin vorfinden sollten, wie z. B. Arryal, Diamanten, Tijuco, Dacosta und andere, was weiß ich! Und wenn man unter diese ihre kryptologischen Stellvertreter setzte, müßte es gelingen, die untergelegte Zahl zu reconstruiren. Aber nein, nicht eine einzige Trennung! Ein Wort, hätte ich nur ein einziges Wort, nur eines aus diesen zweihundertsechsundsiebzig [295] Buchstaben! Zweihundertsechsundsiebzig Mal soll ihn der Teufel holen, diesen Wicht, der sein System so spitzbübisch zu compliciren wußte! Schon für diesen einen Schurkenstreich verdiente er zweihundertsechsundsiebzigmal den Kopf zu verlieren!«

Ein kräftiger Faustschlag auf das Document bekräftigte diesen menschenfreundlichen Wunsch.

»Und doch, fuhr der Beamte fort, wenn ich kaum erwarten darf, mit einem Worte mitten aus dem Texte des Schriftstückes etwas zu erreichen, könnte [296] sich nicht ein geeignetes am Anfange oder am Ende jedes Absatzes finden? Vielleicht ist das ein Ausweg!«

Der Richter Jarriquez machte sich sofort an diesen Versuch und prüfte die Buchstaben zu Anfang und zu Ende jedes Satzes im Verhältniß zu dem wichtigsten Worte des ganzen Documentes, nämlich zu dem Namen Dacosta.

Auch das führte ihn aber nicht näher zum Ziele.

Um nur von dem letzten Absatze und den sieben ersten Buchstaben desselben zu sprechen, so ergab sich folgende Tabelle:


Seine Diener wagten nicht, ihm näher zu kommen. (S. 295.)

P = D
h = a
y = c
j = o
s = s
[297]
l = t
y = a

Schon das allererste Schriftzeichen paßte nicht in des Richters Berechnungssystem, denn der Unterschied zwischen p und d im Alphabet ergab nicht eine Ziffer, sondern zwei, nämlich 12, und bei dieser Art von Geheimschrift konnte jeder Buchstabe natürlich nur durch einen einzigen anderen ersetzt sein.

Das Gleiche ergaben die sieben letzten Buchstaben des Absatzes p s u v j h d, deren Reihe ebenfalls mit einem p anfing, welches auf keinen Fall dem D des Namens Dacosta substituirt sein konnte, weil es ja denselben Abstand von zwölf Buchstaben hatte.

Dieser Name konnte sich an beiden Stellen unmöglich vorfinden.

Mit den Wörtern Arrayal und Tijuco, welche er nach und nach probirte und deren Zusammensetzung wiederum nicht der überhaupt möglichen Reihe kryptographischer Buchstaben entsprach, kam er ebenfalls nicht weiter.

Nach dieser fruchtlosen Mühe erhob sich der Richter Jarriquez; ihm schwirrte es im Kopfe, so daß er im Zimmer auf und ab ging. Dann öffnete er das Fenster, um frische Luft zu schöpfen, und stöhnte hinaus in's Freie mit einer Gewalt, daß eine ganze Schaar Kolibris aus der Mimose, in der sie rasteten, erschreckt entfloh; hierauf kehrte er wieder zu dem verwünschten Document zurück.

Er nahm es in die Hand und drehte und wendete es nach allen Seiten.

»Der Spitzbube, der Schurke! brummte er für sich, er wird mich noch rein verrückt machen! Aber halt, halt! Ruhe im Gliede! Nicht die Besonnenheit verloren, das wäre jetzt das Schlimmste!«

Um weiter sinnen zu können, wusch er sich den Kopf tüchtig mit kaltem Wasser.

»Nun werde ich die Sache vom anderen Ende anfangen, sagte er; da ich nicht im Stande bin, eine Zahl aus diesen verdammten Buchstaben abzuleiten, so will ich doch nachdenken, welche Zahl der Verfasser des Documentes, wenn er wirklich der Urheber des Verbrechens von Tijuco ist, wohl hätte wählen können.«

[298] Das war eine andere Methode, auf welche der Beamte kam, und vielleicht keine so unrechte, denn eine gewisse Logik war ihr nicht abzusprechen.

»Zuerst, fuhr er fort, wollen wir's mit einer Zahl in den einfachen Tausenden probiren. Warum sollte der Uebelthäter z. B. nicht die Zahl des Geburtsjahres Joam Dacosta's, jenes Unschuldigen, den er an seiner Statt verurtheilen ließ, als Unterlage gewählt haben? Nun, Joam Dacosta ist im Jahre 1804 geboren. Sehen wir zu, was diese 1804 ergiebt, wenn ich sie der Schrift unterlege.«

Der Richter Jarriquez schrieb die ersten Buchstaben des Absatzes nieder, darüber entsprechend die Zahl 1804, welche er dreimal wiederholte, und erhielt dadurch Folgendes:


1 8 0 4 1 8 0 4 1 8 0 4

p h y j s l y d d q f d


Zählte er dann so viel Buchstaben zurück, wie jede Ziffer bedingte, so ergab das folgende Reihe:

O. y f r d y. c i f.


welches wiederum nichts bedeutete.

Und dazu fehlten ihm gar noch drei Buchstaben, die er hatte durch Punkte andeuten müssen, weil die Ziffern 8, 4 und 4, welche über den Buchstaben h, d und d standen, im Alphabet nach rückwärts gezählt keinen Buchstaben ergaben.

»Das war also auch nichts! rief der Richter Jarriquez. Versuchen wir's also mit einer anderen Zahl!«

Er kam auf den Einfall, daß der Verfasser des Documentes ja vielleicht die Zahl des Jahres hätte nehmen können, in welchem das Verbrechen begangen wurde. Das war 1826.

Das nämliche Verfahren wie oben ergab nun Folgendes:


1 8 2 6 1 8 2 6 1 8 2 6

p h g j s l v d d q f d


Und daraus wurde durch Rechnung:

o. v d r d v. c i d.


Also nochmals eine sinnlose Reihe, in der ebenfalls einzelne Buchstaben, wie in der früheren und aus derselben Ursache, fehlten.

»Verwünschte Zahl! schrie der Beamte wüthend. Mit dieser ist also auch nichts anzufangen. Nun, so gehen wir an eine andere! Sollte der Wicht vielleicht die Anzahl der gestohlenen Contos gewählt haben?«

[299] Der Werth der geraubten Diamanten war auf 834 Contos 1 geschätzt worden.

Die Aufstellung nach dieser Formel ergab nun folgende Reihe:


8 3 4 8 3 4 8 3 4 8 3 4

p h y j s l y d d q f d


und als gleich unsinniges Resultat wie die vorigen Versuche:

h e t l p h p a. i c.


»Zum Teufel mit dem Document und mit dem Verfasser desselben! rief der Richter und warf das Papier zur Erde, daß es bis in die andere Ecke des Zimmers flog. Da verlöre ja ein Heiliger die Geduld und lernte schimpfen und wettern dabei!«

Diese Aufwallung von Zorn ging jedoch vorüber und der unermüdliche Beamte nahm das Papier auf's neue zur Hand. Was er mit den ersten Buchstaben jedes Absatzes versucht hatte, das probirte er nun mit den letzten – vergebens! Alles was ihm in den Sinn kam, wurde versucht. So kamen nacheinander an die Reihe die Zahl der Lebensjahre Joam Dacosta's, welche der Urheber des Verbrechens wohl kennen mußte, das Datum seiner ersten Verhaftung, das seiner Verurtheilung in Villa Rica, der Monatstag, der zu seiner Hinrichtung bestimmt war u. s. w. u. s. w., bis auf die Zahl der Opfer jenes Ueberfalles bei Tijuco.

Nichts, immer noch nichts!

Der Richter Jarriquez befand sich jetzt in einer Aufregung, welche wirklich für seine geistigen Fähigkeiten fürchten ließ. Er arbeitete mit Händen und Füßen, als hätte er einen Gegner vor sich, dem er den Garaus machen wollte.

»Nun, so überlass' ich's dem Zufall und der Himmel mag helfen, da mich die Logik im Stiche läßt!«

Schnell riß er an einer Klingelschnur, die über dem Schreibtisch hing. Die Klingel ertönte laut; der Beamte ging zur Thür und öffnete diese.

»Bobo!« rief er hinaus.

Einige Augenblicke vergingen

Bobo, ein freigelassener Schwarzer und Leibdiener des Richters, erschien aber nicht. Offenbar wagte Bobo jetzt nicht, das Zimmer seines Herrn zu betreten.

[300] Ein neuer Zug mit der Klingel. Wieder tönte Bobo's Name durch das Haus, aber der Diener glaubte in seinem Interesse zu handeln, wenn er jetzt den Tauben spielte.

Jetzt riß der Beamte noch ein drittes Mal an der Schnur, aber so heftig, daß dieselbe in Stücke ging. Nun erschien Bobo.

»Was wünscht mein Herr? fragte er, vorsichtig auf der Thürschwelle stehen bleibend.

– Vorwärts, hereintreten, nicht gemuckst!« antwortete der Beamte, dessen Flammenblicke den armen Kerl erzittern machten.

Bobo schritt in's Zimmer.

»Bobo, begann der Richter, pass' wohl auf, was ich Dir sage, und antworte augenblicklich, ohne einen Augenblick zu überlegen, oder ich...«

Bobo riß die Augen und sperrte den Mund auf, stand aber stramm da, wie ein Soldat ohne Waffen, und wartete der Dinge, die da kommen sollten.

»Bist Du bei der Sache? fragte sein Herr.

– Vollkommen!

– Nun pass' auf! Sage mir, ohne zu wählen, – verstehst Du mich? – die erste beste Zahl, die Dir der Zufall eingiebt.

– Sechsundsiebenzigtausendzweihundertdreiundzwanzig!« antwortete Bobo in einem Athemzuge.

Bobo mochte glauben, seinem Herrn einen Gefallen zu erweisen, wenn er eine recht hohe Zahl nannte.

Der Richter Jarriquez war inzwischen zum Schreibtisch gelaufen, hatte den Bleistift ergriffen und versuchte es nun mit der Zahl, welche Bobo auf gut Glück ausgesprochen hatte.

Der Leser sagt sich gewiß selbst, wie wenig Wahrscheinlichkeit dafür vorlag, daß gerade diese Zahl 76223 den richtigen Schlüssel des Documentes ergeben werde.

Es kam auch kein anderes Resultat heraus, als daß Jarriquez' Lippen einen furchtbaren Fluch herausstießen, der Bobo veranlaßte, über Hals und Kopf Fersengeld zu zahlen.

Fußnoten

1 1,250.000 Mark.

15. Capitel
[301] Fünfzehntes Capitel.
Letzte Bemühungen.

Der Beamte war übrigens nicht der Einzige, der sich mit fruchtlosen Versuchen quälte. Benito, Manoel und Minha bemühten sich nicht minder mit der Lösung des Räthsels dieses Documents, von dem das Leben und die Ehre ihres Vaters abhing. Auch Fragoso, dem Lina getreulich zur Seite stand, wollte bei dem edlen Wettstreite nicht zurückbleiben – doch Alles, Alles erwies sich vergeblich, Keinem gelang es, die richtige Zahl zu finden.

»Du mußt dahinter kommen, Fragoso, wiederholte die junge Mulattin, Du mußt!

– Ich werde es auch!« versicherte Fragoso.

Leider sollte diese Hoffnung nicht in Erfüllung gehen.

Fragoso beschäftigte sich freilich schon mit dem Gedanken an ein anderes Vorhaben, von dem er gegen Niemand, nicht einmal gegen Lina, etwas erwähnte, und das ihm gar nicht mehr aus dem Sinn kommen wollte. Er beabsichtigte nämlich, sich auf den Weg zu machen, um womöglich noch vorhandene Mitglieder jener Miliz zu finden, welcher der ehemalige Waldkapitän angehörte, und vielleicht zu erfahren, wer der Verfasser des unverständlichen Documentes habe sein können, der sich als Urheber des Attentats von Tijuco bekannt hatte. Der betreffende Theil der Provinz Amazonas, in welcher jene Miliz operirte, der Ort, wo Fragoso eine Abtheilung derselben vor einigen Jahren getroffen hatte, und die Grenze, bis zu welcher hin sich deren Thätigkeit erstreckte, waren nicht sehr weit von Manao entfernt. Es bedurfte nur einer Fahrt von etwa fünfzig Meilen auf dem Strome bis zur Mündung des Madeira, eines rechtsseitigen Nebenflusses, und er mußte den Befehlshaber jener »Capitaës do mato« auffinden, unter dem auch Torres gedient hatte. Binnen zwei, höchstens drei Tagen konnte Fragoso sich mit den früheren Kameraden des Abenteurers in's Einvernehmen gesetzt haben.

»Ja, ja, sagte er für sich, das ließe sich wohl ausführen – aber was dann? Welches Resultat kann mein Ausflug, wenn ich überhaupt dessen nächstes Ziel erreiche, eigentlich haben? Sollte ich auch in Erfahrung bringen, daß einer [302] von Torres' Kameraden unlängst mit Tode abgegangen ist, liefert das den Beweis, daß er der Urheber des Verbrechens war? Läßt es wenigstens voraussetzen, daß er gerade Torres ein Schriftstück übergeben habe, in welchem er seine Schuld eingesteht und Joam Dacosta von jedem Verdachte reinigt? Bietet sich mir die Aussicht, den Schlüssel zu jener geheimen Schrift in die Hand zu bekommen? Nein! Nur zwei Menschen kannten denselben – der Schuldige selbst und Torres. – Aber diese Beiden sind nicht mehr!«

Solche Gedanken gingen Fragoso durch den Kopf. Er gewann selbst die Ueberzeugung, daß sein Versuch zu nichts führen könne, und doch vermochte er sich desselben auf keine Weise zu entschlagen. Mit unwiderstehlicher Gewalt drängte es ihn, aufzubrechen, obgleich er nicht einmal voraus wissen konnte, ob er die Miliz am Madeira antreffen würde. Die Mannschaft konnte ja auf der Jagd in irgend einem anderen Theile der Provinz sein, und um sie da aufzusuchen, das erforderte mehr Zeit, als Fragoso daran zu wenden im Stande war. Was hatte dann seine ganze Bemühung genützt?

Trotz aller Einreden, die er sich selbst machte, verließ Fragoso dennoch am 29. August die Jangada, ohne Jemand ein Wort zu sagen, gelangte unbemerkt nach Manao und schiffte sich dort auf einer der vielen Egariteas ein, welche tagtäglich den Amazonenstrom hinabsegeln.

Es erregte nicht wenig Erstaunen, als ihn Niemand an Bord sah und er auch den ganzen Tag nicht wiederkehrte. Keiner, nicht einmal die junge Mulattin, konnte sich das Verschwinden des so ergebenen Dieners gerade unter den jetzigen mißlichen Umständen erklären.

Man fragte sich nicht ohne Grund, ob der arme Bursche, aus Verzweiflung darüber, daß er selbst durch seine Begegnung mit Torres die unschuldige Ursache geworden war, diesen auf die Jangada zu bringen, sich nicht ein Leid zugefügt habe.


Eine ganze Schaar Kolibris entfloh erschreckt. (S. 298.)

Doch, wenn Fragoso sich einen derartigen Vorwurf machte, was hätte erst Benito sagen sollen? Zuerst hatte dieser in Iquitos schon Torres zum Besuche der Fazenda eingeladen; später führte er ihn in Tabatinga selbst nach der Jangada, um mit dem Floße weiter zu reisen; zuletzt hatte er ihn gar noch zum Zweikampf herausgefordert und dadurch, daß er ihn tödtete, den einzigen Zeugen aus der Welt geschafft, dessen Aussage die Lage des Verurtheilten gewiß mit einem Schlage verbessert hätte!

[303] Benito fühlte sich also an Allem Schuld, ebenso an der Verhaftung seines Vaters, wie an den schrecklichen Folgen, welche diese unabwendbar mitzuführen schienen.

Wenn Torres jetzt noch lebte, konnte Benito ja wohl annehmen, daß der Abenteurer, aus Mitleid oder aus Interesse, zuletzt das auf den Vorgang in Tijuco bezügliche Document herausgegeben hätte. Torres mußte sich wohl, wenn man ihm Geld bot, dazu bewegen lassen, da er ja in keiner Weise bei der Angelegenheit betheiligt war. Gewiß wäre dann der so sehnlich gesuchte Beweis [304] der Unschuld des Fazenders dem Richter geliefert worden. Der einzige Mensch aber, der ein solches Zeugniß hätte ablegen können, gerade dieser mußte durch Benitos eigne Hand fallen!

Wie oft überschüttete sich der junge Mann gegenüber seiner Mutter und Manoel mit Selbstvorwürfen dieser Art! Wie entsetzlich mochten ihn Gewissensbisse über seine schnelle Handlungsweise quälen!


Fragoso verließ die Jangada. (S. 303.)

Nichtsdestoweniger verlor die muthige Yaquita weder gegenüber ihrem Gatten, bei dem sie jede Stunde zubrachte, so lange ihr das gestattet wurde, [305] noch gegenüber ihrem verzweifelten und sich selbst bitter anklagenden Sohne, jemals alle Hoffnung.

Gerade in diesen kritischen Augenblicken erwies sie sich als die echte, muthige Tochter Magelhaës', als würdige Gefährtin des Fazenders von Iquitos.

Die Haltung Joam Dacosta's war übrigens dazu angethan, ihr in dieser Prüfungszeit eine Stütze zu bieten. Dieser herzhafte Mann, dieser strenge Puritaner, dieser niemals rastende Arbeiter, dessen Leben nur Streben und Thätigkeit gewesen war, zeigte auch jetzt keine Spur von Schwäche oder Verzagtheit.

Der schrecklichste Schlag, der ihn getroffen, ohne seine Standhaftigkeit zu erschüttern, war der unerwartete Tod des Richters Ribeiro, von dem er überzeugt sein konnte, daß er an seiner Unschuld nicht zweifelte. Gerade mit Unterstützung seines früheren Vertheidigers hatte er ja gehofft, den Streit um seine Rehabilitation siegreich durchzuführen. Das Dazwischentreten Torres' betrachtete er selbst nur als Nebensache. Von dem Vorhandensein jenes Documentes wußte er ja nichts, als er die Heimat verließ, um sich den Gerichten des alten Vaterlandes zu stellen. Was er als Waffen zu seiner Vertheidigung bei sich führte, bestand nur in moralischen Beweisen. Wenn den Behörden vor oder nach seiner Verhaftung auch ein materieller Beweis geliefert werden konnte, so hätte er diesen gewiß gern für sich in Anspruch genommen; im Falle dieser Beweis aber in Folge bedauerlicher Umstände abhanden kam, so erschien ja seine Lage noch um nichts verschlimmert gegenüber derjenigen, in der er sich beim Ueberschreiten der Grenze Brasiliens befand, als er sich freiwillig stellen wollte mit den Worten: »Da habt Ihr meine Vergangenheit, hier mein gegenwärtiges Leben, ein ganzes Menschenalter treu erfüllter Pflicht, das ich opfere, um endlich das Geheimniß zu lüften, das mich bedrückt. Ihr habt früher ein ungerechtes Urtheil über mich gefällt! Nach dreiundzwanzig Jahren komme ich und stelle mich selbst. Hier bin ich! Nun gebt noch einmal Euer Urtheil ab!«

Torres' plötzlicher Tod und die Unmöglichkeit, das bei ihm vorgefundene Document zu lesen, hatten auf Joam Dacosta also keineswegs einen so niederschlagenden Eindruck gemacht, wie auf seine Kinder, seine Freunde und Diener, wie auf alle Uebrigen, welche für ihn Interesse empfanden.

»Ich vertraue auf meine Unschuld, tröstete er Yaquita, und setze meine Hoffnung auf Gott. Wenn er glaubt, daß mein Leben noch Werth für die Meinigen habe, und es bedürfte eines Wunders, um dasselbe zu retten, so wird [306] er auch dieses Wunder thun – wenn nicht, so werde ich sterben. Er allein, er ist der Richter!«

Je länger, je mehr verursachte die ganze Angelegenheit eine gewisse Erregung in Manao und wurde mit einer Lebhaftigkeit ohne Gleichen besprochen. Inmitten dieser Erhitzung der öffentlichen Meinung, welche so leicht gegenüber jeder, durch ihre geheimnißvolle Natur doppelt interessanten Angelegenheit eintritt, bildete das Document fast den einzigen Gegenstand der Unterhaltung. Zu Ende des vierten Tages schon zweifelte Niemand mehr daran, daß dasselbe die Rechtfertigung des Verurtheilten enthalte.

Uebrigens war jetzt Jedermann Gelegenheit geboten, seinen Witz an der Entzifferung der so wichtigen Geheimschrift zu üben. »Das Diario d'o Grand Para« hatte nämlich ein Facsimile derselben veröffentlicht. Autographirte Exemplare wurden in großer Anzahl verbreitet, und zwar auf Veranlassung Manoels, der nichts verabsäumen wollte, was zur Entschleierung des Geheimnisses irgend beitragen zu können versprach, nicht einmal den Zufall, den »Kriegsnamen«, wie man gesagt hat, den die Vorsehung zuweilen annimmt.

Ueberdies winkte Demjenigen, der die richtige Ziffer fand, welche das Verständniß des Documentes ermöglichte, eine Belohnung von hundert Contos. 1 Das war schon ein Vermögen zu nennen. Und wie viel Leute aus allen Gesellschaftsclassen vergaßen auch darüber Essen und Trinken und den Schlaf dazu, nur um das allen Bemühungen trotzende Kryptogramm in verständliche Worte zu übersetzen!

Bisher erwies sich jedoch Alles als vergeblich und wahrscheinlich hätten auch die gewandtesten Analytiker der Welt ihren Scharfsinn damit erfolglos angestrengt.

Es war daneben auch zur allgemeinen Kenntniß gebracht worden, daß die etwaige gefundene Lösung ohne Verzug dem Richter Jarriquez, in dessen Wohnung in der Straße Gottes des Sohnes, mitzutheilen sei; auch am Abend des 29. August war noch keine Meldung eingelaufen, und aller Wahrscheinlichkeit nach auf eine solche auch nicht zu rechnen.

Von Allen, die sich mit dem Studium dieser schwierigen Aufgabe beschäftigten, verdiente gewiß der Richter Jarriquez das größte Mitleid. In Folge einer ganz natürlichen Ideenassociation theilte auch er die allgemeine Ansicht, [307] daß das Document mit der Affaire von Tijuco zusammenhänge, daß es von der Hand des Schuldigen selbst aufgesetzt sei und die Rechtfertigung Joam Dacosta's enthalten werde. Das trieb ihn nur um so mehr, den Schlüssel zu finden. Es leitete ihn nicht allein »die Liebe zur Kunst«, sondern auch ein gewisses Gefühl der Gerechtigkeit und des Mitleids für einen Mann, der fälschlicher Weise verurtheilt worden war.

Wenn es wahr ist, daß durch die Thätigkeit des Gehirns eine gewisse Menge Phosphor aus dem Gewebe desselben verbrannt wird, so möchte es schwierig sein, anzugeben, wie viel Milligramm der Beamte daran setzte, um sein »Sensorium« zu erwärmen und am letzten Ende doch nichts, nichts zu finden!

Der Richter Jarriquez dachte deswegen jedoch nicht etwa daran, von ferneren Versuchen abzustehen. Wenn er jetzt nur noch auf den Zufall rechnete, so sollte, so mußte dieser Zufall ihm zu Hilfe kommen. Er suchte durch alle mögliche und unmögliche Mittel sein Ziel zu erreichen. Bei ihm war die Sache zur Phrenesie, zur Wuth, und was das Schlimmste ist, zur ohnmächtigen Wuth geworden.

Niemand möchte glauben, wie viel verschiedene, immer ganz willkürlich herausgegriffene Ziffern er noch am Abend dieses Tages durchprobirte. Hätte ihm die Zeit dazu nicht gefehlt, er würde es mit allen den Millionen von Combinationen versucht haben, welche die zehn Ziffern des Zahlensystems zuließen. Er hätte dieser Aufgabe gern sein ganzes Leben gewidmet, selbst auf die Gefahr hin, darüber zum Narren zu werden, und, wenn man es recht betrachtet, war er das nicht schon?

Da kam ihm auch der Gedanke, das Document müsse vielleicht von rechts nach links gelesen werden; wieder begann er zu probiren, wieder kam er zu demselben nichtigen Resultate, denn mit allen den schon untergelegten Ziffern gelang es ihm auch auf diese Weise nicht, nur ein Wort davon zu verstehen.

Vielleicht auch hatte man das ganze Document von rückwärts zu lesen und den letzten Buchstaben als den ersten zu betrachten, was der Schreiber desselben ja ersonnen haben mochte, um die Enträthselung noch mehr zu erschweren.

Vergeblich! Auch diese neue Combination ergab nichts weiter als eine Reihe sinnloser Buchstaben.

Um Acht Uhr Abends hatte der Richter Jarriquez, dem der Kopf in die Hand gesunken war, bei seiner geistigen und körperlichen Erschöpfung nicht mehr[308] die Kraft, sich zu bewegen, zu sprechen, zu denken, oder wenigstens einen Gedanken an den anderen zu reihen.

Plötzlich entstand vor seiner Thüre Lärm. Fast gleichzeitig wurde die Thür seines Cabinets trotz seines gemessenen Befehls rasch geöffnet.

Benito und Manoel standen vor ihm. Benito entsetzlich anzusehen, Manoel diesen unterstützend, denn der unglückliche junge Mann vermochte sich kaum noch auf den Füßen zu erhalten.

Der Beamte stand schnell auf.

»Was giebt es, meine Herren, was wünschen Sie? fragte er.

– Den Schlüssel... den Schlüssel! rief Benito wahnsinnig vor Schmerz, den Schlüssel zu dem Document!...

– Kennen Sie denselben? fragte der Richter Jarriquez.

– Nein, Herr Richter, aber vielleicht Sie?...

– Ich weiß nichts... nichts.

– Nichts!« schrie Benito auf.

In seiner Verzweiflung zog er einen Dolch aus seinem Rocke und wollte sich denselben in's Herz stoßen.

Der Beamte und Manoel fielen ihm in die Arme und hatten große Mühe, ihn zu entwaffnen.

»Benito, begann der Richter und zwang sich, so ruhig als möglich zu erscheinen, da Ihr Vater jetzt für ein Verbrechen büßen soll, das er nicht begangen hat, haben Sie wahrlich Besseres zu thun, als sich selbst umzubringen.

– Aber was... was?... schluchzte Benito.

– Sie müssen danach trachten, ihm das Leben zu retten!

– O, wie gern, aber wie?

– Das müssen Sie selbst errathen, erwiderte der Beamte, es ist nicht meine Sache, Ihnen das zu sagen!«

Fußnoten

1 400.000 Mark.

16. Capitel
[309] Sechzehntes Capitel.
Vorbereitungen.

Am folgenden Tage, am 30. August gingen Benito und Manoel miteinander zu Rathe. Sie glaubten den Gedanken des Richters, den dieser in ihrer Gegenwart nicht laut werden lassen wollte, verstanden zu haben, und überlegten nun, wie es möglich sei, dem Verurtheilten, welcher der Hinrichtung nicht entgehen zu können schien, bald zur Flucht zu verhelfen.

Einen andern Weg zur Rettung sahen sie nicht mehr offen.

Es war ja allem Anscheine nach vorauszusagen, daß jenes unlesbare Document für die Oberbehörden von Rio de Janeiro keinerlei Werth haben und als todter Buchstabe betrachtet werden würde; dann konnte das erst ergangene Urtheil, welches Joam Dacosta für den Urheber des Attentats erklärte, natürlich auch keine Aenderung erfahren, und der Befehl zur Hinrichtung mußte unvermeidlich eintreffen, weil gerade in diesem Falle eine Strafumwandlung vom Gesetz ausgeschlossen war.

Noch einmal mußte Joam Dacosta also sein Heil in schleuniger Flucht suchen, um sich der unverdienten Gefangenschaft und allen weiteren Eventualitäten zu entziehen.

Die beiden jungen Männer verabredeten zunächst, über ihre zu unternehmenden Schritte unbedingt Stillschweigen zu bewahren; weder Yaquita noch Minha sollten von ihrem Vorhaben unterrichtet werden. Sie fürchteten bei diesen damit vielleicht Hoffnungen zu erregen, welche zuletzt unerfüllt bleiben konnten. Denn wer konnte vorher wissen, ob dieser Versuch zur Befreiung des Verhafteten nicht in Folge mißlicher Umstände kläglich scheiterte?

Fragoso's Mithilfe wäre bei dieser Gelegenheit gewiß sehr wünschenswerth gewesen. Der gewandte und zu Allem bereite Bursche hätte ihnen sicherlich nützliche Dienste leisten können; Fragoso aber war noch nicht wieder erschienen. Auch Lina, welche man nach ihm fragte, vermochte nicht anzugeben, was aus ihm geworden sei, noch warum er die Jangada, ohne ihr ein Wort zu sagen, verlassen habe.

[310] Hätte Fragoso freilich vorausgesehen, daß die Sachen auf den Punkt kommen konnten, auf welchem sie jetzt standen, so würde er die Familie Dacosta jedenfalls nicht verlassen haben, um einen Ausflug zu unternehmen, der aller Wahrscheinlichkeit nach doch zu nichts führte. Ja, gewiß wäre es besser gewesen, bei der Befreiung des Verurtheilten hilfreiche Hand zu leisten, als auf gut Glück die alten Kameraden des Abenteurers aufzusuchen.

Fragoso war aber nun einmal nicht zur Hand und man mußte wohl oder übel von seiner Mitwirkung absehen.

Benito und Manoel verließen die Jangada schon früh am Morgen und begaben sich nach Manao. Sie gelangten bald nach der Stadt und betraten die engen, zu dieser Stunde noch menschenleeren Straßen. Binnen wenig Minuten befanden sie sich vor dem Gefängnisse und durchstreiften nach allen Richtungen das öde Terrain, in dessen Mitte sich das als Arresthaus dienende alte Kloster ehrwürdig erhob.

Es lag ihnen selbstverständlich viel daran, sich zunächst über die Oertlichkeit sorgsam zu orientiren.

An einer Ecke des Gebäudes befand sich, fünfundzwanzig Fuß über dem Erdboden, das Fenster der Zelle, welche Joam Dacosta inne hatte. Es war mit einem eisernen Gitter in ziemlich schlechtem Zustande verwahrt, so daß man diese offenbar leicht herausreißen oder durchsägen konnte, wenn es nur gelang, bis an dasselbe hinaufzukommen. Die schlecht verbundenen Steine der Mauer, zwischen denen der Mörtel an manchen Stellen herausgebröckelt war, boten zahlreiche Vorsprünge, die dem Fuße genügenden Halt bieten mußten, wenn es möglich wurde, sich mittelst eines Seiles emporzuhissen. Ein solches Seil konnte vielleicht, wenn es geschickt geworfen wurde, um einen der Stäbe des Gitters geschlungen werden, der aus seiner Höhlung gehoben und nach außen gebogen war und so eine Art Haken bildete. Darauf galt es nur zwei oder drei Stäbe herauszuheben, so daß ein Mensch sich hindurchzwängen konnte,


Der Richter, geistig und körperlich erschöpft. (S. 309.)

und dann konnte eine Entführung mit Hilfe jenes an dem Fenstergitter befestigten Seiles keine weiteren Schwierigkeiten darbieten. Während der Nacht, wel che dem Aussehen des Himmels nach sehr dunkel zu werden versprach, durfte man wohl annehmen, daß alle diese Vorbereitungen unbemerkt von statten gehen würden und Joam Dacosta vor Anbruch des Morgens befreit und in Sicherheit sein werde.

Wohl eine Stunde lang wandelten Benito und Manoel hin und her, um die Aufmerksamkeit Anderer nicht zu sehr auf sich zu lenken, und merkten sich[311] Alles genau, sowohl die Lage des Fensters und den Zustand der Vergitterung desselben, wie auch die Stelle, von welcher aus ein Seil am bequemsten geworfen werden konnte.

»Das wäre also abgemacht, sagte darauf Manoel, aber meinst Du, daß wir Deinen Vater vorher benachrichtigen?

– Nein, Manoel! antwortete Benito mit einer gewissen Besorgniß. Ich denke, wir verheimlichen unser Vorhaben, das ja mißglücken könnte, ihm ebenso wie unserer Mutter.

[312] – Wir führen es durch, Benito! antwortete Manoel voll Zuversicht. Und doch will Alles bedacht sein, z. B. wenn der Gefängnißaufseher gerade zur Zeit der Entweichung aufmerksam würde?...

– So werden wir Gold genug haben, uns das Schweigen des Mannes zu erkaufen, erwiderte Benito.

– Ganz gut, sagte Manoel. Doch wenn unser Vater aus dem Kerker befreit ist, kann er weder in der Stadt noch auf der Jangada verborgen bleiben. Wo soll er dann Schutz suchen?«


An einer Ecke des Gebäudes. (S. 311.)

Diese zweite und sehr wichtige Frage verlangte gebieterisch eine Lösung, und fand sie in folgender Weise:

Etwa hundert Schritte von dem Gefängnisse durchschnitt die unbebaute Nachbarschaft einer jener Kanä [313] le, welche unterhalb der Stadt in den Rio Negro ausmünden. Dieser Kanal bot einen bequemen Weg, den Fluß zu erreichen, wenn den Flüchtling hier eine Pirogue erwartete. Vom Fuße der Mauer bis zum Kanal war kaum ein Weg von hundert Schritten zurückzulegen.

Benito und Manoel beschlossen also, daß eine der Piroguen der Jangada gegen acht Uhr Abends von derselben unter Leitung des Piloten Araujo und bemannt mit zwei kräftigen Ruderern abstoßen sollte. Diese hätte dann den Rio Negro hinauszufahren, in den betreffenden Kanal einzubiegen, sich nach der ziemlich öden Umgebung des Gefängnisses zu begeben, und sollte dort, unter dem hohen Gebüsch am Ufer verborgen, die ganze Nacht zur Verfügung des Gefangenen bereit liegen.

Wenn Joam Dacosta auch das Fahrzeug glücklich erreichte, so entstand doch noch die Frage, wohin er sich begeben sollte.

Die beiden jungen Männer einigten sich auch über diesen Punkt, nachdem sie das Für und Wider reichlich erwogen hatten.

Nach Iquitos zurückzukehren, dazu war der Weg zu schwierig und gefahrvoll. Jedenfalls erschien er auch zu weit, ob der Flüchtling nun zu Lande dahin zu gelangen suchte, oder auch den Amazonenstrom wieder aufwärts segelte. Weder Pferd noch Pirogue mochten im Stande sein, ihn schnell genug in Sicherheit zu bringen. Auch die Fazenda selbst bot ihm in Zukunft nicht hinreichenden Schutz. Dort angekommen, war er später doch nicht mehr der Fazender Joam Garral, sondern der verurtheilte Joam Dacosta, immer davon bedroht, auf Verlangen ausgeliefert zu werden, und niemals in der Lage, das frühere Leben in Ruhe fortzuführen.

Auf dem Rio Negro nach dem Norden der Provinz oder vielleicht bis jenseits des brasilianischen Gebietes zu entfliehen, dieser Plan hätte mehr Zeit beansprucht, als Joam Dacosta zu verwenden hatte, dessen erste Sorge es ja sein mußte, sich vor unmittelbarer Verfolgung zu sichern.

Sollte er den Amazonenstrom hinabfahren? Da begegnete er am Ufer zu vielen Militärposten, Dörfern und Städten, wohin das Signalement des Flüchtlings gewiß schnell verbreitet wurde. Er lief also Gefahr, den Behörden vor Erreichung des Atlantischen Oceans wieder in die Hände zu fallen. Doch wenn [314] es ihm auch glückte, bis dahin zu gelangen, wo hätte er sich versteckt halten können, während er eine Schiffsgelegenheit abwartete, welche ein Weltmeer zwischen das Schwert der Gerechtigkeit und ihn selbst legte?

Alle diese Auswege, von Benito und Manoel erörtert, wurden als unzweckmäßig verworfen. Nur nach einer Seite schien ihnen ein Rettungsstern zu winken.

Das Project, welches die beste Aussicht bot, war Folgendes: Gelang es überhaupt Joam Dacosta aus dem Kerker zu befreien, so sollte er die Pirogue besteigen, dem Kanal bis zum Rio Negro folgen, diesen Nebenfluß unter Leitung des Piloten bis zur Vereinigung mit dem großen Strome hinabfahren, und dann auf letzterem, immer nahe dem rechten Ufer, etwa sechzig Meilen weit hinuntersegeln, um die Mündung des Madeira zu erreichen. Dabei sollte das Boot immer nur während der Nacht weiter gehen und am Tage sich so gut es anging verbergen.

Der Madeira, der von den Cordilleren herabströmt und durch sehr viele Seitenarme starken Zufluß erhält, bildet eine wirkliche Wasserstraße bis in's Herz von Bolivia hinein. Einer Pirogue stand dieser Weg offen; hier hinterließ der Flüchtling keine Spuren, und jenseits der Grenze Brasiliens konnte er sich dann zunächst in einem Dorfe oder Flecken verborgen halten.

In Bolivia befand sich Joam Dacosta verhältnißmäßig in Sicherheit; daselbst konnte er, wenn es nöthig wurde, mehrere Monate lang, auf eine Gelegenheit warten, um die Küste des Stillen Oceans zu erreichen und sich auf irgend einem, von dort ausgehenden Fahrzeuge einzuschiffen. Gelangte er auf diese Weise nur nach irgend einem Staate der Nordamerikanischen Union, so war er schon gerettet. Hier blieb ihm Zeit, zu erwägen, ob er sein ganzes Besitzthum veräußern, das Vaterland für immer verlassen und jenseits des Meeres, in der Alten Welt eine neue Heimat suchen sollte für das Ende seines, so grausam und rechtswidrig zerstörten Lebens.

Wo er auch hinging, seine Familie würde ihm gewiß ohne Zögern nachfolgen, und zu dieser Familie rechnete sich auch Manoel, den ja so bald unlösliche Bande an dieselbe knüpfen sollten. Das erschien übrigens so selbstverständlich daß Niemand ein Wort darüber verloren hätte.

»So komm' nun, sagte Benito, zur Nacht muß Alles bereit sein, und wir haben keinen Augenblick zu verlieren.«

Die beiden jungen Männer kehrten längs des Kanals bis zum Rio Negro an Bord zurück. Sie überzeugten sich, ob die Pirogue in demselben auch keine[315] Hindernisse finde und vielleicht durch Schleusen oder ein in Reparatur befindliches Schiff aufgehalten werden könne.

Weiterhin gingen sie am linken Ufer des Nebenstromes, um die belebteren Straßen der Stadt zu vermeiden, und gelangten bald nach dem Ankerplatz der Jangada.

Benito suchte zunächst seine Mutter auf. Er hatte jetzt so viel Herrschaft über sich erlangt, daß es ihm gelang, die Erregung seines Innern vor ihr zu verbergen. Er wollte sie trösten, ihr sagen, daß noch nicht alle Hoffnung verloren sei, daß die Geheimschrift nicht ungelöst bleiben werde, daß in jedem Falle die öffentliche Meinung jetzt sehr zu Gunsten Joam Dacosta's umgeschlagen sei und daß auch die Behörden, dem immer lauter werdenden Drängen derselben nachgebend, gewiß eine möglichst lange Frist bewilligen würden, um den materiellen Beweis seiner Unschuld beizubringen.

»Ja sicher, beste Mutter, fügte er hinzu, noch ehe der morgende Tag anbricht, werden wir für unseren Vater nichts mehr zu fürchten haben.

– Das gebe Gott, mein Sohn!« erwiderte Yaquita, aber ihre Augen ruhten dabei so forschend auf ihm, daß Benito den Blick derselben kaum zu ertragen vermochte.

Manoel seinerseits hatte inzwischen Minha aufgesucht und versicherte dieser, daß der von Joam Dacosta's Unschuld überzeugte Richter Jarriquez gewiß alle ihm zu Gebote stehenden Mittel aufbieten werde, um den Gefangenen zu retten.

»Ich will Dir glauben, lieber Manoel,« sagte das junge Mädchen seufzend, während ihr die Thränen aus den Augen perlten.

Manoel mußte sich auch selbst schnell von Minha entfernen, denn auch seine Augen füllten sich mit Thränen und straften die zuversichtlichen Worte Lügen, mit welchen er das geliebte Mädchen hatte trösten wollen.

Inzwischen war die Stunde herangekommen, wo es den Angehörigen Dacosta's gestattet war, ihn zu besuchen, und Yaquita begab sich in Begleitung ihrer Tochter schnell nach Manao hinein.

Eine Stunde lang verhandelten die beiden jungen Leute mit dem Piloten Araujo. Sie unterrichteten ihn von dem entworfenen Plane zur Entführung des Gefangenen und erbaten sich ebensowohl hierüber seinen Rath, wie auch über die Maßregeln, welche ergriffen werden sollten, um den Flüchtling nachher in Sicherheit zu bringen.

[316] Araujo billigte Alles. Er übernahm es, mit hereinbrechender Nacht eine Pirogue, ohne Aufsehen zu erregen, in den Kanal zu schaffen, dessen Verlauf er bis zu der Stelle, wo Joam Dacosta ihn finden sollte, ganz genau kannte. Von da aus zurück nach der Mündung des Rio Negro zu gelangen, das konnte keine Schwierigkeiten bieten, denn die Pirogue glitt auf dessen Wasser unter vielerlei Gestrüpp und anderen Trümmern fort, welche unaufhörlich die Oberfläche bedeckten.

Auch gegen den Plan, den Amazonenstrom bis zu dem Madeira hinabzufahren, erhob Araujo keinen Einspruch, sondern stimmte vielmehr damit überein, daß das der beste Weg zur Rettung sei. Den Lauf des Madeira kannte er ebenfalls in einer Strecke von hundert Meilen. Sollte eine Verfolgung, was kaum anzunehmen war, auch auf diese dünn bevölkerten Gebietstheile ausgedehnt werden, so konnte man derselben hier am besten entgehen und bis mitten nach Bolivia hineinsegeln. Entschloß sich Joam Dacosta dann, das Vaterland für immer zu verlassen, so drohte auch seiner Einschiffung am Strande des Stillen Oceans offenbar weniger Gefahr, als an dem des Atlantischen Weltmeeres.

Daß Araujo ihren Plan guthieß, verlieh den jungen Leuten doppelten Muth, denn sie hielten große Stücke auf die langjährige praktische Erfahrung des Piloten, auf dessen treue Ergebenheit sie felsenfest bauen konnten. Er hätte gewiß seine Freiheit, ja sein Leben daran gewagt, um den Fazender von Iquitos zu retten.

Araujo traf sofort, aber unter strengster Bewahrung seines Geheimnisses, die nöthigen Vorbereitungen zur Ausführung der Flucht. Benito händigte ihm eine bedeutende Geldsumme ein, um während der Reise auf dem Madeira nicht in Verlegenheit zu kommen. Dann ließ Jener eine Pirogue flott machen, indem er als Grund angab, er wolle den noch immer verschwundenen Fragoso aufzufinden suchen, über dessen Ausbleiben Alle auf der Jangada nach und nach unruhig wurden. In das Fahrzeug verlud er dann Nahrungsmittel für mehrere Tage und außerdem auch die Seile und Werkzeuge, welche die jungen Leute sich daraus holen sollten, wenn er zur verabredeten Stunde an der bestimmten Stelle des Kanals angelangt wäre.

Seine Vorbereitungen erschienen so natürlich, daß sie bei Niemand auf der Jangada besondere Aufmerksamkeit erregten. Selbst die beiden kräftigen Neger, welche der Pilot als Ruderer auswählte, wurden noch nicht in das Geheimniß eingeweiht. Auf die beiden Männer, das unterlag keinem Zweifel, konnte er [317] jedoch in jedem Falle rechnen. Wenn sie es erfuhren, zu welchem Rettungswerke sie mitwirken sollten, wenn der endlich wieder befreite Joam Dacosta sich ihrem Schutze anvertraute, so wußte Araujo vorher, daß sie Alles daran setzen, ja daß sie ihr Leben daran wagen würden, um das Leben ihres Herrn zu retten.

Schon am Nachmittage war Alles zur Abfahrt fertig. Nun sollte nur noch die Dunkelheit abgewartet werden.

Bevor sie aber an die Ausführung ihres Vorhabens gingen, wollte Manoel noch einmal den Richter Jarriquez aufsuchen. Vielleicht war der Beamte doch noch im Stande, ihm bezüglich des Documentes etwas Weiteres mitzutheilen.

Benito zog es vor, auf der Jangada zu bleiben, um daselbst seine Mutter und Schwester abzuwarten.

Manoel begab sich also allein nach dem Hause des Richters Jarriquez und wurde von diesem auch sofort empfangen.

Der noch immer in sein Arbeitszimmer gebannte Beamte befand sich in höchster Aufregung. Von seinen ungeduldigen Händen zerknittert, lag das Document vor ihm auf dem Tische.

»Herr Richter, begann Manoel mit zitternder Stimme, erhielten Sie schon von Rio de Janeiro...?

– Nein, antwortete Jarriquez, noch traf keine Entscheidung ein... doch wir müssen jeden Augenblick gewärtig sein...

– Wie steht's aber mit dem Document? unterbrach Manoel seine Worte.

– Leider wie früher! erwiderte der Richter Jarriquez; ich habe alles nur irgend Erdenkliche versucht... vergebens!

– Vergebens!

– Doch, daß ich nicht zu viel sage, ein Wort habe ich aus den geheimnißvollen Zeilen herauszulesen vermocht, aber nur ein einziges.

– Und dieses Wort, rief Manoel gespannt, dieses einzige Wort lautete?

– Entfliehen!«

Manoel drückte dem Richter Jarriquez stumm die Hände und begab sich nach der Jangada zurück, um daselbst den Augenblick zum Handeln abzuwarten.

[318]
17. Capitel
Siebzehntes Capitel.
Die letzte Nacht.

Der Besuch Yaquitas nebst ihrer Tochter verlief ganz so wie immer während der wenigen Stunden, welche die beiden Gatten mit einander zubringen durften. Wenn er sich mit den beiden zärtlich geliebten Wesen zusammen befand, drohte ihm freilich das Herz zu zerspringen. Aber der Gatte, der Vater wußte sich zu beherrschen, so daß er mit seinem Zuspruche die beiden unglücklichen Frauen aufrichtete und ihnen noch einige Hoffnung einzuflößen wußte, obwohl er selbst kaum noch welche hatte. Wenn jene eigentlich kamen, um den armen Gefangenen zu trösten, so waren sie es doch vielmehr, welche des Trostes wirklich bedurften, und nur dadurch, daß sie ihn so fest, trotz aller Prüfungen so unerschüttert sahen, schöpften sie selbst in der That einige Hoffnung.

Auch heute hatte Joam Dacosta ihnen neuen Muth einzureden gesucht. Er selbst gewann diese ungebrochene Energie nicht allein aus dem Bewußtsein seiner Unschuld, sondern auch aus dem frommen Glauben an den Herrn über uns, der in seiner Gerechtigkeit auch das Herz der Menschen zu rühren vermochte. Nein, Joam Dacosta konnte nicht für das Verbrechen in Tijuco büßen sollen!

Von dem Document sprach er übrigens fast niemals. Ob dasselbe gefälscht war oder nicht, ob es von Torres' Hand oder von dem wirklichen Urheber des Ueberfalles herrührte, ob es endlich seine so eifrig gesuchte Rechtfertigung enthielt oder nicht, auf solch' zweifelhafte Stützen wollte Joam Dacosta sich nicht verlassen. Er betrachtete sich selbst als den besten Beweis in seiner Sache, nur sein Leben voller Arbeit und ehrlichen Strebens sollte hier der Vertheidiger für ihn sein.

Gerade diesen Abend hatten Mutter und Tochter, von seinen männlichen Worten, die ihnen tief zu Herzen gingen, wunderbar gestärkt, ihm hoffnungsfreudiger Lebewohl gesagt, als je seit seiner Verhaftung. Mit doppelter Zärtlichkeit hatte der Gefangene sie zum letzten Male an sein Herz gedrückt. Es schien, als habe er ein Vorgefühl, daß die Lösung des Knotens auf die eine oder die andere Weise nun ganz nahe bevorstehe.

[319] Als Joam Dacosta wieder allein war, blieb er lange regungslos sitzen und stützte den Kopf in die Arme auf dem kleinen Tisch der Zelle.

Was mochte jetzt in seiner Seele vorgehen? Hatte er die Ueberzeugung gewonnen und konnte er hoffen, daß die menschliche Gerechtigkeit, nachdem sie schon einmal in ihrem Urtheile gefehlt, jetzt seine Unschuld anerkennen und ihn rehabilitiren werde?


Araujo traf die nöthigsten Vorbereitungen. (S. 317.)

Ja, das hoffte er. Er wußte, daß sein Rechtfertigungsschreiben gleichzeitig mit dem Berichte des Richters Jarriquez, der seine Identität feststellte, in Rio [320] de Janeiro eingetroffen sein müsse und seine Wirkung auf den Chef der Justiz des Landes nicht verfehlen könne.

Jene Denkschrift enthielt, wie der Leser weiß, die Geschichte seines Lebens von dem Eintritte in die Bureaux des Diamantenbezirkes an bis zu der Stunde, da die Jangada vor den Thoren Manaos eintraf.


Sie schöpften einige Hoffnung. (S. 319.)

Noch einmal vergegenwärtigte Joam Dacosta sich sein ganzes früheres Leben. In seiner Erinnerung tauchten die Bilder aus jener Zeit auf, wo er als Waise nach Tijuco kam. Noch jung an Jahren, erwarb ihm sein Pflichteifer [321] eine Stelle in den Bureaux des Generalgouverneurs, die Zukunft lächelte ihm freundlich entgegen und der Pfad nach den höchsten Stellungen lag vor ihm offen!... Da traf ihn, wie ein Donnerschlag aus heiterem Himmel, jene schreckliche Katastrophe, die Beraubung des Diamantentransports, die Niedermetzelung der Begleitmannschaft, während sich der Verdacht der Urheberschaft der abscheulichen That auf ihn als den einzigen Beamten lenkte, den man in der Lage glaubte, die stets geheim gehaltene Zeit eines derartigen Transports zu verrathen; dann erinnerte er sich seiner Verhaftung, seiner Vorführung vor die Jury, des verdammenden Urtheilsspruches trotz aller Bemühungen seines Rechtsanwaltes, der letzten schweren Stunden, welche er in der Zelle der zum Tode Verurtheilten im Kerker von Villa Rica zugebracht hatte, seiner Entweichung, die er mit wirklich übermenschlichem Muthe ausführte, ferner seiner Flucht durch die Provinzen des Nordens, seiner Ankunft an der Grenze von Peru, des freundlichen Empfanges seitens des hochherzigen Fazenders Magelhaës, der den mittellosen und dem Hungertode nahen Flüchtling aufnahm.

Der Gefangene sah alle diese Ereignisse, welche sein Leben so unerwartet und gewaltsam unterbrachen, an seinem geistigen Auge vorüberziehen. Er war so sehr in seine Gedanken versunken, daß er nicht einmal ein eigenthümliches Geräusch an der äußeren Mauer des alten Klosters wahrnahm, weder das Rütteln und Zerren eines Seiles an den Eisenstangen vor seinem Fenster, noch das Arbeiten eines Meißels, was die Aufmerksamkeit jedes Anderen unzweifelhaft erregt hätte.

Joam Dacosta träumte weiter von den schönen Jahren seiner Jugend, von der ersten Zeit seines Aufenthaltes in Peru. Er sah sich in der Fazenda, erst als Beamten, dann als Genossenschafter des alten Portugiesen, wie er für das Gedeihen des Etablissements in Iquitos die besten Kräfte einsetzte.

Ach, warum hatte er seinem Wohlthäter nicht gleich vom Anfange Alles gestanden! Dieser hätte gewiß niemals an ihm gezweifelt. Das war der einzige Fehler, den er sich vorzuwerfen hatte. Warum hatte er nicht gesagt, woher er kam, wer er sei, wenigstens damals, als Magelhaës seiner Tochter Hände in die seinigen legte, die Hand Yaquitas, welche ihn gewiß nicht für den Urheber jenes grauenhaften Verbrechens angesehen hätte.

Jetzt wurde das Geräusch von außen so stark, daß es dem Gefangenen nicht mehr entgehen konnte. Für einen Augenblick erhob Joam Dacosta den Kopf. Seine Augen richteten sich auf das Fenster, aber nur so flüchtig, daß [322] er kaum etwas sah, und gleich darauf sank ihm der Kopf schon wieder in die Hand. Seine Gedanken hatten ihn noch einmal nach Iquitos versetzt.

Da sah er den Fazender auf dem Sterbebette. Bevor er die Augen schloß, wollte er das Schicksal seiner Tochter gesichert, seinen Compagnon als einzigen Besitzer der Niederlassung wissen, die unter dessen Leitung so glücklich emporgediehen war. Hätte Joam Dacosta da noch sprechen sollen? Vielleicht!... Er wagte es nicht!... Noch einmal trat ihm das glückliche Leben an der Seite Yaquitas vor Augen, die Geburt seiner Kinder, die ganze gesegnete Existenz, welche nur die Erinnerung an seine Erlebnisse in Tijuco und die Gewissensbisse trübten, sein schreckliches Geheimniß nicht von sich gewälzt zu haben.

Alles, Alles zog vor seinem geistigen Auge in überraschender Klarheit und Lebhaftigkeit vorüber.

Jetzt sah er wieder die Stunde vor sich, wo die Vermählung Minhas und Manoels bevorstand. Konnte er auch diese Verbindung unter einem falschen Namen geschehen lassen, und ohne den jungen Mann in die Geheimnisse seines Lebens einzuweihen? Nein! Das hatte den Ausschlag gegeben, den Rath des Richters Ribeiro zu befolgen und eine Wiederaufnahme seines Processes zu beantragen, um endlich seine Rehabilitation zu erlangen. So war er mit allen Angehörigen abgereist; da trat ihm Torres in den Weg, da bot ihm dieser den schmählichen Handel an, seine Tochter zu verkaufen, um sich Ehre und Leben zu retten, ein Handel, der, als er denselben entrüstet ablehnte, seine Denunciation und Verhaftung zur Folge hatte...

In diesem Augenblicke wurde das Fenster von außen mit Gewalt aufgestoßen.

Joam Dacosta erhob sich; die Bilder seiner Vergangenheit verschwanden wie ein wesenloser Schatten. Durch das Fenster war Benito in's Zimmer gesprungen und stand kaum vor seinem Vater, als Manoel, der sich ebenfalls durch die Lücke im Eisengitter zwängte, neben dem Freunde erschien.

Joam Dacosta wollte erschreckt einen Schrei ausstoßen, doch Benito ließ ihm gar nicht die Zeit dazu.

»Mein Vater, begann er, sieh dort das Fenster, dessen Gitterstäbe ausgebrochen sind... Ein Tau hängt von da hinab bis zur Erde! Hundert Schritte von hier wartet im Kanal eine Pirogue. Araujo befindet sich da, um Dich fern von Manao nach der anderen Seite des Amazonenstromes zu bringen, wo Niemand Eure Spuren finden kann!... Mein bester Vater, Du mußt, Du mußt [323] augenblicklich entfliehen. Der Richter Jarriquez selbst hat mir diesen einzigen Rath gegeben.

– Es muß sein! fügte auch Manoel hinzu.

– Fliehen! Ich!... Ein zweites Mal fliehen!...«

Mit gekreuzten Armen und stolz erhobenem Kopfe trat Joam Dacosta in den Hintergrund des Zimmers zurück.

»Niemals!« rief er mit fester Stimme, so daß die beiden jungen Männer ihn sprachlos anstarrten.

Benito und Manoel hatten diese Weigerung nicht erwartet. Wenn sie Alles fürchteten, das Eine war ihnen nie in den Sinn gekommen, daß die geplante Entweichung an dem Widerstande des Gefangenen selbst scheitern sollte.

Benito ging auf seinen Vater zu, sah ihm voll in's Gesicht und ergriff dessen Hand, nicht um ihn fortzuziehen, aber damit er ihn anhörte und sich überreden ließe.

»Du sagst niemals, mein Vater?

– Niemals!

– Mein Vater, begann da Manoel – denn ich glaube auch das Recht zu haben, dieses Wort zu gebrauchen – mein Vater, hören Sie uns an! Wenn wir Ihnen sagten, daß Sie entfliehen müssen, ohne eine Secunde zu verlieren, so geschah es, weil Sie sich sonst gegen die Ihrigen, gegen sich selbst versündigen!

– Hier zu bleiben, Vater, fuhr Benito fort, heißt nur warten auf den Tod! Der Befehl zur Hinrichtung kann jeden Augenblick eintreffen. Du irrst Dich, zu glauben, daß die Gerechtigkeit der Menschen hinreichen müsse, ein früheres falsches Urtheil jetzt zu berichtigen und Den wieder in Ehren anzuerkennen, dem vor zwanzig Jahren das Schwert des Henkers drohte. Es ist nichts mehr zu hoffen! Du mußt fliehen... schleunigst entfliehen!«

Unwillkürlich hatte Benito seinen Vater ergriffen und suchte ihn nach dem Fenster hin zu ziehen.

Joam Dacosta entwand sich seinem Sohne und trat noch einmal weiter zurück.

»Entfliehen, sagte er mit dem Tone eines Mannes, dessen Entschluß unerschütterlich feststeht, aber wenn ich fliehe, entehre ich mich und mit mir auch Euch. Damit gestände ich meine Schuld nur zu; da ich freiwillig gekommen bin, mich den Behörden meines Vaterlandes zu stellen, so muß ich deren Entscheidung abwarten, diese mag nun ausfallen wie sie will, und ich werde es thun!

[324] – Die Unterlagen, auf welche Sie sich stützen, erwiderte Manoel, sind dem Gesetze nicht genügend, und der greifbare Beweis Ihrer Unschuld ist nicht vorhanden. Wenn wir Sie anflehen, zu entfliehen, so geschieht es auf des Richters Jarriquez Rathschlag selbst. Jetzt haben Sie nur noch den einen Ausweg, dem Tode zu entrinnen!

– So werde ich also sterben, sagte Joam Dacosta ruhig. Ich werde den Tod erleiden mit dem Widerspruch gegen das Urtheil, das mich trifft, auf den Lippen. Einmal schon bin ich kurz vor der Stunde der Hinrichtung entflohen. Gewiß! Aber damals war ich jung, ich hatte ein ganzes Leben vor mir, um gegen die Ungerechtigkeit der Menschen anzukämpfen. Aber mich jetzt zu retten, die traurige Existenz eines Schuldigen, der sich unter falschem Namen verbirgt, noch einmal zu beginnen, dessen einzige Bemühungen darauf gerichtet sind, den Nachforschungen der Polizei zu entgehen; dieses Leben voll Angst, das ich dreiundzwanzig Jahre lang geführt habe, wieder anzufangen und Euch zu zwingen, es mit mir zu theilen; jeden Tag eine neue Denunciation zu erwarten, welche früher oder später erfolgen muß, und zuletzt selbst aus fremdem Lande doch ausgeliefert zu werden – kann man das noch Leben nennen? Nein, niemals!

– Vater, mein Vater, drängte Benito, dem fast der Kopf zerspringen wollte, Du wirst entfliehen, ich will es...!«

Noch einmal ergriff er Joam Dacosta und suchte ihn nach dem Fenster zu ziehen.

»Nein! Laß mich... Nein, sage ich Dir!

– Du willst mir also den Verstand rauben!

– Laß mich, sage ich Dir, rief Joam Dacosta, laß ab von mir!... Einmal schon bin ich aus dem Kerker von Villa Rica entwichen, wo Jedermann glauben mußte, daß ich nur der verdienten Todesstrafe entgehen wolle... Ja, ja, das hat man annehmen müssen! Jetzt thu' ich's um der Ehre des Namens willen, den Ihr tragt, nicht ein zweites Mal!«

Benito war vor seinem Vater auf die Knie gefallen – er streckte ihm die Hand entgegen... er flehte ihn an...

»Die Ordre, mein geliebter Vater, wiederholte er ihm, kann täglich, kann jede Minute eintreffen... sie enthält den Spruch, der Dich dem Tode weiht!

– Und wenn sie angelangt wäre, würde sie an meinem Entschlusse nichts zu ändern vermögen. Als Schuldbewußter könnte Joam Dacosta fliehen, als Unschuldiger harrt er hier aus!«

[325] Die Scene, welche dieser Erklärung folgte, war herzzerreißend. Benito rang mit seinem Vater; Manoel stand ganz außer sich nahe dem Fenster, um den Gefangenen hinauszuheben, als sich plötzlich die Thür der Zelle öffnete.

Auf der Schwelle erschien der Polizeivorsteher, gefolgt von dem Wachtmeister des Gefängnisses und einigen Soldaten.

Der Beamte erkannte sofort, daß hier ein Fluchtversuch vorbereitet gewesen sei, sah aber aus der Haltung des Gefangenen, daß dieser selbst nicht darauf eingegangen war. Er sagte nichts. Auch in seiner Brust regte sich das Gefühl des Mitleids. Wahrscheinlich hätte er ebenso wie der Richter Jarriquez gewünscht, daß Joam Dacosta aus seiner Zelle entflohen wäre.

Jetzt war es zu spät!

Der Polizeivorsteher, der ein Schriftstück in der Hand hielt, schritt auf den Gefangenen zu.

»Vor allen Dingen, redete Joam Dacosta ihn an, erlauben Sie mir die Versicherung, daß es nur von mir abgehangen hätte, zu entweichen, daß ich das aber abgelehnt habe!«

Der Beamte neigte ein wenig den Kopf, dann sagte er beinahe mit zitternder Stimme:

»Joam Dacosta, die Entscheidung vom Justizminister in Rio de Janeiro ist hier eingetroffen.

– O Gott, mein Vater! riefen Benito und Manoel.

– Und sie lautet, fragte Joam, voraussichtlich dahin, das Todesurtheil zu vollziehen?

– Ja!

– Und wann soll das stattfinden?

– Morgen!«

Benito hatte sich auf seinen Vater gestützt; er versuchte noch einmal, ihn aus der Zelle zu drängen, so daß die Soldaten sich einmengen mußten, um ihn aus den Händen des Sohnes zu befreien.

Auf ein Zeichen des Beamten wurden Benito und Manoel aus der Zelle entfernt. Dem traurigen Auftritte, der schon zu lange gewährt hatte, mußte ein Ende gemacht werden.

»Mein Herr, fragte nun der Verurtheilte, werde ich morgen vor der Hinrichtung noch einige Augenblicke mit dem Padre Passanha, den ich benachrichtigen zu lassen bitte, sprechen können?

[326] – Er wird geholt werden.

– Wird es mir gestattet sein, mein Weib, meine Kinder noch einmal zu umarmen?

– Man wird sie zu Ihnen führen.

– Ich danke Ihnen! sagte Joam Dacosta. Und jetzt lassen Sie dieses Fenster bewachen, damit ich nicht wider Willen von hier entführt werde!«

Der Polizeivorsteher verneigte sich leicht und zog sich mit dem Wächter und den Soldaten zurück.

Der Verurtheilte, der nun blos wenige Stunden zu leben hatte, blieb allein zurück.

18. Capitel
Achtzehntes Capitel.
Fragoso.

Die Entscheidung war also eingetroffen und enthielt, wie der Richter Jarriquez vorausgesehen hatte, den Befehl zur sofortigen Vollziehung des Todesurtheils an Joam Dacosta. Niemand hatte einen wirklichen Beweis seiner Unschuld beizubringen vermocht – die Gerechtigkeit sollte ihren Lauf haben.

Am folgenden Tage, am 31. August, Morgens neun Uhr, sollte der Gefangene am Galgen sterben.

Die Todesstrafe wird gerade in Brasilien meist umgewandelt, außer wenn es sich um verurtheilte Schwarze handelt; diesmal sollte sie jedoch einen Weißen treffen.

Für Verbrechen, welche sich auf das Diamantenregal der Regierung beziehen, schloß das Gesetz von vornherein jedes Gnadenmittel aus.

Joam Dacosta konnte nichts mehr retten. Er sollte nicht allein das Leben, sondern auch die Ehre verlieren.

An jenem Morgen des 31. August stürmte jedoch ein Mann, so schnell das Pferd ihn tragen konnte, auf Manao zu; eine halbe Meile vor der Stadt brach das Thier erschöpft zusammen.


[327]
»Niemals!« rief er. (S. 324.)

Der Reiter machte gar keinen Versuch, es wieder auf die Beine zu bringen. Er hatte es offenbar über die Maßen angestrengt und ließ es liegen, während er selbst, trotz seiner Erschöpfung, weiter nach der Stadt hin eilte.

Dieser Mann kam auf dem linken Ufer des Stromes aus den Provinzen des Ostens. Alles was er besaß, hatte er auf den Ankauf des Pferdes verwendet, das ihn schneller als ein Boot, welches die Strömung des Amazonenstromes gegen sich gehabt hätte, nach Manao bringen mußte.

Das war Fragoso.


Ein Mann stürmte auf Manao zu. (S. 327.)

Hatte der muthige Bursche etwa Erfolg gehabt von seinem, gegen Alle geheim gehaltenen Unternehmen, und die Miliz gefunden, der Torres früher einmal an [328] gehörte? Hatte er das Geheimniß entdeckt, das Joam Dacosta vielleicht noch retten konnte?

Er vermochte sich zwar selbst keine Rechenschaft zu geben, doch eilte er so schnell als möglich, dem Richter Jarriquez von dem Mittheilung zu machen, was er durch seinen Ausflug erfahren hatte.

Wir theilen mit kurzen Worten das Nothwendigste hiervon mit.

[329] Fragoso hatte sich nicht getäuscht, als er in Torres ein Mitglied jener Miliz erkannte, welche in den Uferländern am Madeira operirte.

Er brach dahin auf und vernahm, als er an die Mündung jenes Nebenflusses kam, daß der Chef jener Capitaës do mato sich in der Nähe aufhalte.

Unverzüglich ging Fragoso daran, diesen aufzusuchen, und es gelang ihm, nicht ohne Mühe, denselben zu entdecken.

Der Anführer der Waldkapitäne zögerte nicht, die Fragen zu beantworten, welche Fragoso an ihn richtete; er hatte ja nicht das geringste Interesse daran, die verlangte Aufklärung zu verweigern.

Fragoso stellte nämlich folgende drei Fragen an ihn:

»Gehörte der Waldkapitän Torres noch vor einigen Monaten zu Ihrer Miliz?

– Ja.

– Pflegte er damals nicht vertrauten Umgang mit einem Kameraden, der inzwischen verstorben ist?

– Ganz richtig.

– Und wie hieß dieser?

– Ortega.«

Das war Alles, was Fragoso erfuhr. Konnten diese Nachrichten geeignet sein, die schlimme Lage Joam Dacosta's zu bessern? Diese Frage wäre wohl Jeder geneigt zu verneinen.

Fragoso fühlte das auch selbst und bemühte sich, von dem Chef der Miliz noch zu erfahren, ob er jenen Ortega näher gekannt, ob er gewußt habe, woher Jener kam und ob er ihm vielleicht Ausführlicheres über dessen Vergangenheit mittheilen könnte. Es erschien ihm das von Wichtigkeit, weil dieser Ortega nach Torres' Aussagen wahrscheinlich der wirkliche Urheber des Verbrechens von Tijuco war.

Leider sah sich der Befehlshaber außer Stande, ihm weitere Aufklärung zu geben.

Unzweifelhaft war nur, daß jener Ortega der Miliz schon seit einer langen Reihe von Jahren angehörte, daß zwischen ihm und Torres ein besonders vertrautes Verhältniß herrschte, und daß Letzterer an seinem Lager stand, als er den letzten Seufzer aushauchte.

Mehr konnte der Chef der Miliz nicht aussagen.

Fragoso mußte sich mit diesen unzulänglichen Mittheilungen begnügen und begab sich sofort auf den Rückweg.

[330] Brachte er auch nicht den Beweis mit, daß jener Ortega der Urheber des Diamantenraubes war, so ergab sich aus seinen Erkundigungen doch, daß Torres die Wahrheit gesagt hatte, als er behauptete, daß einer seiner Kameraden gestorben und er Zeuge seiner letzten Augenblicke gewesen sei.

Auch die Annahme, daß Ortega ihm das fragliche Document übergeben habe, gewann hierdurch an Wahrscheinlichkeit, ebensowie, daß dasselbe sich auf den Ueberfall bei Tijuco beziehe, und daß es das Geständniß der Schuld jenes Ortega enthalte, mit Angabe von Umständen, welche jeden Zweifel daran auslöschten.

Es lag also auf der Hand, daß die Wahrheit endlich an den Tag kommen mußte, wenn jenes Document gelesen werden konnte, wenn der Schlüssel dazu gefunden wurde, wenn die Chiffre, auf der es beruhte, bekannt war.

Diese Chiffre kannte Fragoso freilich nicht. Einige Wahrscheinlichkeiten mehr, die halbe Gewißheit, daß der Abenteurer nicht erfunden hatte, gewisse Andeutungen dafür, daß das so lange über der ganzen Affaire ruhende Geheimniß durch das Schriftstück entschleiert werden könne, das war Alles, was der wackere Bursche von seinem Besuche bei dem Anführer der Miliz, der Torres angehört hatte, mit heimbrachte.

So wenig das auch war, es ließ ihm doch keine Ruhe, bis er es dem Richter Jarriquez mitgetheilt hatte. Er wußte, daß jetzt keine Stunde zu verlieren sei, und so kam er an jenem Morgen um acht Uhr, von Anstrengung ganz außer Kräften, eine halbe Meile vor Manao an.

Den kurzen Weg bis nach der Stadt legte er in wenig Minuten zurück. Eine Art Vorgefühl trieb ihn weiter, und er hatte sich fast eingeredet, daß die Rettung Joam Dacosta's in seinen Händen liege.

Plötzlich hielt Fragoso an, als ob seine Füße in der Erde wurzelten.

Er befand sich vor einem kleinen Platze, nach dem hin eines der Stadtthore mündete.

Hier erhob sich, zwanzig Fuß höher als die dichtgedrängte Volksmenge auf dem Platze, ein Galgen, von dem der Strick herabhing.

Fragoso fühlte, wie seine letzten Kräfte schwanden. Er brach zusammen. Unwillkürlich hatten seine Augen sich geschlossen. Er wollte nichts sehen und über seine Lippen drangen nur die Worte:

»Zu spät! Zu spät!«

[331] Mit übermenschlicher Kraft erhob er sich noch einmal. Nein, es schien doch nicht zu spät. Der Körper Joam Dacosta's hing noch nicht an jenem Stricke.

»Wo ist der Richter Jarriquez? Der Richter Jarriquez!« rief Fragoso, so laut er konnte.

Athemlos stürmte er auf das Stadtthor zu, lief gleich einem Wahnsinnigen durch die Straßen von Manao und fiel halbtodt vor dem Hause des Beamten zur Erde nieder.

Die Thür war geschlossen. Fragoso gewann noch die Kraft zu klopfen.

Ein Diener öffnete. Sein Herr wollte Niemand sehen, Niemand sprechen.

Trotz dieser bestimmten Aussage stieß Fragoso den Mann zurück, der ihm den Eingang wehrte, und eilte nach dem Privatcabinet des Richters.

»Ich kehre eben aus der Gegend zurück, wo Torres als Waldkapitän gedient hat, rief er. Torres hat die Wahrheit gesagt, Herr Richter – verschieben Sie die Hinrichtung um Gotteswillen!

– Sie haben Mitglieder jener Miliz gefunden?

– Ja.

– Und bringen mir die Chiffre zu jenem Document?...«

Fragoso gab keine Antwort.

»Nein? – So lassen Sie mich in Ruhe, weichen Sie von hier!« rief der Richter Jarriquez, der in einem Anfalle von Wuth das Document ergriff, um es zu zerreißen.

Fragoso faßte seine Hand und hinderte ihn daran.

»Es enthält die Wahrheit! sagte er.

– Ich weiß es, erwiderte der Beamte, aber was nützt eine Wahrheit, wenn sie nicht an den Tag kommt!

– Sie wird... sie muß an den Tag kommen!

– Noch einmal, besitzen Sie den Schlüssel?

– Nein, antwortete Fragoso, doch ich wiederhole Ihnen, Torres hat nicht gelogen!... Einer seiner Kameraden, mit dem er sehr befreundet war, ist vor wenigen Monaten gestorben, und es unterliegt keinem Zweifel, daß dieser ihm das Document ausgehändigt hat, das er an Joam Dacosta verhandeln wollte.

– Gewiß, sagte auch Jarriquez, für uns unterliegt das keinem Zweifel, aber leider urtheilen Diejenigen, welche über das Leben Joam Dacosta's zu entscheiden haben, nicht ebenso!... Lassen Sie mich!«

[332] Obwohl er Fragoso zurückdrängte, wollte dieser das Feld noch nicht räumen. Er umklammerte die Füße des Beamten.

»Joam Dacosta ist unschuldig! rief er. Sie können ihn nicht sterben lassen! Er war es nicht, der das Verbrechen von Tijuco beging. Es war der Waffengefährte Torres', der Verfasser des Documentes, Ortega war es!...«

Bei Nennung dieses Namens sprang der Richter in die Höhe. Als er nach der ersten Aufwallung seine Ruhe wieder gewann, nahm er das schon zerknitterte Document noch einmal zur Hand, breitete es auf dem Tische aus, setzte sich nieder und strich mit der Hand über die Stirn.

»Halt, dieser Name! sagte er... Ortega!... Versuchen wir es mit diesem!«

Wieder verfuhr er nun mit dem von Fragoso vernommenen Namen ebenso, wie mit allen früher probirten. Nachdem er denselben unter die ersten sechs Buchstaben des letzten Absatzes geschrieben, erhielt er folgende Formel:


O r t e g a

P h y j s l


»Nichts! rief er, das ergiebt auch nichts!«

In der That ließ sich das h unter dem r nicht durch eine Ziffer ausdrücken, da ersteres dem letzteren vorausgeht. Das p, das y und das j unter die Buchstabeno, t und e gesetzt, hätten die Ziffer 1, 4 und 5 ergeben.

Das s und l am Ende obiger Reihe wären vom g und a um zwölf Stellen entfernt gewesen, die durch eine einzige Ziffer nicht ausdrückbar waren. Sie konnten also dem g und a unmöglich entsprechen.

Da erschollen von der Straße laute Rufe hinauf.

Fragoso stürzte, bevor der Beamte ihn daran hindern konnte, an eines der Fenster und riß dasselbe auf. Vor dem Hause wogte eine unübersehbare Menschenmenge. Es war die Stunde herangekommen, wo der Gefangene den Kerker verlassen sollte, und die erhitzten Massen strömten jetzt von dem Platze herbei, wo der Galgen schon errichtet war.

Der Richter Jarriquez verzehrte die Zeilen des Documentes noch immer mit den Augen.

»Die letzten Buchstaben, murmelte er, versuchen wir es noch mit diesen!«

Hieran knüpfte er seine letzte Hoffnung.

Mit zitternder Hand, so daß er kaum zu schreiben vermochte, setzte er den Namen Ortega über die letzten sechs Buchstaben des Absatzes, wie er es eben mit den ersten ausgeführt hatte.

[333] Da entfuhr ihm ein Schrei. Er hatte sich gleich von vornherein überzeugt, daß diese letzten sechs Buchstaben im Alphabet alle hinter denen folgten, welche jenen Namen bildeten, daß man für die Differenz der Stellung also gewisse Ziffern finden und daraus eine Zahl bilden konnte.

Als er auf diese Weise verfuhr, erhielt er Folgendes:


O r t e g a

4 3 2 5 1 3

S u v j h d


Die gefundene Zahl war also 4 3 2 5 1 3.

Sollte das wirklich diejenige sein, welche der Umgestaltung der gewöhnlichen Schrift in Geheimschrift untergelegt worden war? Oder erwies sie sich ebenso falsch, wie alle bisher geprüften?

Da wurde es noch lauter vor der Wohnung; aus der Menge rief man um Gnade für den Verurtheilten, und doch hatte dieser jetzt nur noch wenige Minuten zu leben.

In seiner Verzweiflung eilte Fragoso aus dem Zimmer – er wollte, er mußte seinen Wohlthäter noch einmal sehen, bevor dieser zum Tode ging. Er wollte sich dem Zuge entgegenwerfen und rufen: »Tödtet ihn nicht! Ermordet nicht einen Gerechten!«...

Schon hatte der Richter Jarriquez indeß die erhaltene Zahl über die ersten Buchstaben des letzten Absatzes geschrieben, indem er sie so oft als nöthig wiederholte, wie folgt:


4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3 4 3 2 5 1 3

P h y j s l y d d q f d z x g a s g z z q q e h


Dann suchte er die betreffenden Buchstaben, indem er in der alphabetischen Reihe nach abwärts zählte, und las:


Le véritable auteur du vol de...


Da entrang sich ihm ein Jubelruf! Diese Zahl, Vierhundertzweiunddreißigtausendfünfhundertdreizehn, war die so lange mühsam und vergeblich gesuchte Chiffre! Der Name Ortega hatte endlich zu ihrer Auffindung geführt. Jetzt besaß er den Schlüssel zu dem Document, das ohne Zweifel den Nachweis der Unschuld Joam Dacosta's enthielt, und ohne jenes vorläufig weiter zu lesen, stürzte er aus dem Zimmer hinaus auf die Straße und rief, was er rufen konnte:

»Halt! Haltet ein!«

[334] Die Menge zu theilen, die sich vor seinen Schritten öffnete, nach dem Gefängnisse zu laufen, das der Verurtheilte eben verließ, während dessen Frau und Kinder sich verzweiflungsvoll an ihn anklammerten, das war für den Richter Jarriquez nur das Werk eines Augenblicks.

Vor Joam Dacosta stehend, vermochte er nicht zu sprechen, er schwang aber das Document in der Hand, und endlich drängten sich über seine Lippen die Worte:

»Unschuldig! Unschuldig!«

19. Capitel
Neunzehntes Capitel.
Das Verbrechen von Tijuco.

Beim Erscheinen des Richters erstarrte plötzlich die Bewegung der Menschenmenge. Ein Echo ohne Ende wiederholte noch immer den von allen Seiten erschallenden Jubelruf:

»Unschuldig! Unschuldig!«

Dann ward es ringsumher still. Niemand wollte eine Silbe von dem überhören, was der Richter weiter sagen würde.

Dieser hatte sich auf eine Steinbank niedergelassen; ihn umstanden Minha, Benito, Manoel und Fragoso, während Joam Dacosta Yaquita an die Brust gepreßt hielt. Jarriquez beschäftigte sich zunächst nur mit der Entzifferung des letzten Absatzes, und je nachdem ihm durch die darunter gesetzten Ziffern die Worte klar wurden, theilte er diese ab, interpunktirte die Sätze und las nach Vollendung der Arbeit und nach einigen einleitenden Worten Folgendes vor:

»Dieses merkwürdige Schriftstück, sagte er, berufen, im letzten Augenblicke das Leben eines braven, hochgeachteten Mannes zu retten, ihm seine angezweifelte Ehre wiederzugeben, ist wunderbarer Weise, und ohne daß mir bisher ein Grund dafür ersichtlich wurde, nicht in unserer Landessprache, sondern französisch abgefaßt. Vielleicht hat der Urheber desselben damit weiter nichts als eine weitere Erschwerung der Entzifferung beabsichtigt. Französisch sieht die Uebersetzung nun so aus, wie dieses Blatt, welches ich hier in der Hand habe, und das folgendermaßen lautet:


»Ja«, antwortete der Chef. (S. 330.)

Le véritable auteur du vol des diamants et de [335] l'assas-

43 251343251 343251 34 325 134 32513432 51 34 325134

Ph yjslyddqf dzxgas gz zqq ehx gkfndrxu ju gi octdx


sinat des soldates qui escortaient le convoi, commis dans la

32513 432 5134325 134 32513432513 43 251343 251343 2513 43

vksbx hhu ypohdvy rym huhpuydkojox ph etozsl etnpmv ffov pd


nuit du vingt-deux janvier mil huit cent vingt-six, n'est

2513 43 25134 3251 3432513 432 5134 3251 34325 134 3251

pajx hy ynojy ggay meqynfu qln mvly fqsu zmqiz tlb qgyu


donc pas Joam Dacosta, injustement condamné à mort; c'es

3432 513 4325 1343251 34325134325 13432513 4 3251 3432

gsqe ubv nrcr edgruzb lrmxyuhqhpz drrgcroh e pqxu fivv


moi, le misérable employé de l'administration du district

513 43 251343251 3432513 43 251343251343251 34 32513432

rpl ph onthvddqf hqsntzh hh nfepmqkyuuexkto gz gkyuumfv


[336]
»Unschuldig! Unschuldig!« (S. 335.)

diamantin; oui, moi seul, qui signe de mon vrai nom, Ortega.

513432513 432 513 4325 134 32513 43 251 3432 513 432513

ijdqdpzjq syk rpl xhxq rym vkloh hh oto zvdk spp suvjhd.


[337] »In unsere Sprache übersetzt, heißt das aber: »Der wirkliche Urheber des Diamantendiebstahls und der Niedermetzelung der Soldaten, welche den Transport begleiteten, geschehen in der Nacht des zweiundzwanzigsten Januar eintausendachthundertsechsundzwanzig, ist also nicht der unrechter Weise zum Tode verurtheilte Joam Dacosta, sondern ich, der ruchlose Verwaltungsbeamte im Diamanten-District, ja, allein ich, der sich hier mit seinem richtigen Namen unterzeichnende... Ortega.«

Kaum verhallten diese Worte, als stürmische, nie enden wollende Hurrahs die Lüfte erschütterten.

Was brauchte man auch mehr, als diesen letzten Absatz des Documentes, der die Unschuld des Fazenders von Iquitos unzweifelhaft nachwies und dem Galgen dieses Opfer eines schrecklichen Justizfehlers entriß?

Im Kreise seiner Gattin, seiner Kinder und Freunde konnte Joam Dacosta gar nicht genug Hände drücken, die sich ihm entgegenstreckten. Trotz der Energie seines Charakters übermannte ihn doch die Rührung, und thränenfeuchten Auges blickte er hinauf zum Himmel und pries dankbaren Herzens den Herrn der Welt, dessen Hand im letzten, schwersten Augenblicke auf so wunderbare Weise sein Schicksal gelenkt und ihn dem Leben wiedergeschenkt hatte.

Die Schuldlosigkeit Joam Dacosta's konnte ja nun in der That kaum noch einem Zweifel unterliegen. Der wirkliche Urheber des Ueberfalles von Tijuco hatte sein Verbrechen selbst eingestanden und schilderte treffend alle Nebenumstände bei dessen Ausführung. Mit Hilfe jener Zahl enträthselte der Richter Jarriquez das ganze geheimnißvolle Schriftstück, worin Ortega das Folgende erzählte und gestand:

Der Elende war ein College Joam Dacosta's und wie dieser Beamter in dem Bureau des Gouverneurs im Diamanten-Arrayal zu Tijuco. Ihn hatte man damit betraut, den Edelstein-Transport nach Rio de Janeiro zu begleiten. Nicht zurückschreckend vor dem verbrecherischen Gedanken einer Bereicherung durch Raub und Mord, hatte er den Schleichhändlern den Tag, an dem der Zug von Tijuco abgehen sollte, genau mitgetheilt.

Bei dem Ueberfalle der Räuber, welche dem Transport jenseits der Stadt Villa Rica auflauerten, kämpfte er scheinbar auf Seite der Begleitmannschaften mit, fiel verabredetermaßen von einem auf ihn abgefeuerten blinden Schusse und wurde zu den Todten geworfen. So konnte der einzige, mit dem Leben davongekommene [338] Soldat allerdings aussagen, daß Ortega bei dem Gefechte mit umgekommen sei.

Der Verbrecher sollte aber seinen Raub nicht genießen, denn bald nachher wurde er von denen, die ihn bei Ausführung desselben unterstützt hatten, selbst total ausgeplündert.

Aller Mittel bar und ohne die Möglichkeit, nach Tijuco zurückzukehren, entflieht Ortega nach den nördlichen Provinzen Brasiliens, nach jenen Gebieten am oberen Amazonenstrome, wo die Miliz der »Capitaës do mato« ihr Wesen trieb. Er mußte doch leben; so trat Ortega in jene, nicht besonders gut beleumundete Truppe ein. Hier fragte ihn Niemand, wer er sei oder woher er komme. Ortega wurde also Waldkapitän und betrieb lange Jahre hindurch das Geschäft eines Menschenjägers.

Inzwischen wurde der, ebenfalls aller Existenzmittel beraubte Abenteurer Torres sein Kamerad. Ortega und er traten sehr bald in nähere Beziehung zu einander. Wie Torres gesagt hatte, quälten den Uebelthäter aber bald genug Gewissensbisse. Die Erinnerung an seine Frevelthat erfüllte ihn mit Schrecken. Er hatte erfahren, daß ein Anderer an seiner Statt verurtheilt worden war, er kannte auch diesen Anderen, seinen gänzlich unschuldigen Collegen Joam Dacosta. Erfuhr er endlich auch, daß es Jenem gelungen sei, sich der ihm drohenden schimpflichen Hinrichtung zu entziehen, so schwebte doch noch immer das Schwert über seinem Haupte.

Als nun die genannte Miliz vor nicht allzu langer Zeit einmal bis über die peruanische Grenze hinüber schweifte, kam Ortega zufällig in die Nähe von Iquitos, und da fand er unter Joam Garral, der ihn selbst nicht erkannte, den früheren Joam Dacosta wieder.

Damals beschloß er, so weit ihm das möglich wäre, das dem ehemaligen Collegen angethane Unrecht wieder gut zu machen und setzte ein Document auf, in dem er alles, auf den Ueberfall bei Villa Rica Bezügliche niederschrieb; aber er that es in der, dem Leser bekannten geheimnißvollen Form, in der Absicht, es dem Fazender von Iquitos sammt der zur Enträthselung der Schrift nöthigen Zahl zu übersenden.

Der Tod verhinderte ihn an der völligen Durchführung dieses Planes. In einem Scharmützel mit Negern am Madeira-Flusse schwer verwundet, erkannte Ortega, daß sein Ende nahe sei. Sein Kamerad Torres befand sich an seiner Seite; diesem Freunde glaubte er das Geheimniß anvertrauen zu dürfen, das [339] schon so lange und so schwer auf ihm gelastet hatte. Jenem überlieferte er das eigenhändig geschriebene Document und nahm ihm einen Eid ab, dasselbe Joam Dacosta zu überliefern, dessen jetzigen Namen und Aufenthaltsort er ihm mittheilte, und mit dem letzten Seufzer flüsterte er noch die Zahl vierhundertzweiunddreißigtausendfünfhundertdreizehn, ohne deren Kenntniß das Schriftstück völlig unverständlich bleiben mußte.

Der Leser weiß, wie Torres nach Ortega's Ableben sich seines Auftrages entledigte, wie er aus dem, in seinen Händen befindlichen Geheimniß Nutzen zu ziehen beschloß, wie er dasselbe zum Gegenstande eines schamlosen Tauschhandels zu machen versuchte.

Torres mußte vor gänzlicher Durchführung seiner bübischen Absichten gewaltsamen Todes sterben und nahm sein Geheimniß mit in das Wassergrab. Der von Fragoso zuerst erwähnte Name Ortega aber, gleichsam die Signatur des Schriftstückes, dieser Name führte endlich, Dank dem Scharfsinne des Richters Jarriquez, dazu, das Kryptogramm in allgemein verständliche Schrift zu übersetzen.

Ja, hiermit lag der so lange gesuchte materielle Beweis vor Augen, das unwiderlegbare Zeugniß der Unschuld des, dem Leben und der Ehre wiedergegebenen Joam Dacosta.

Die Hurrahs erschallten mit verdoppelter Lebhaftigkeit, als der würdige Beamte mit lauter Stimme zur Erbauung Aller diese spannende Geschichte vorgetragen hatte.

Von dieser Stunde ab ließ der Richter Jarriquez, der Besitzer des unbestreitbaren Beweises, in Uebereinstimmung mit dem Chef der Polizei, es sich nicht nehmen, Joam Dacosta, den er vor Eintreffen weiterer Instructionen von Rio de Janeiro doch nicht völlig auf freien Faß setzen durfte, einstweilen in seinem eigenen Hause unterzubringen.

Das konnte er sich jedenfalls, ohne Ueberschreitung seiner Machtbefugnisse, erlauben, und unter dem Zusammenlauf der ganzen Einwohnerschaft Manaos sah sich Joam Dacosta gleich einem Triumphator mehr nach der Dienstwohnung des hohen Beamten getragen, als daß er, begleitet von allen seinen Angehörigen, dahin ging.

Diese Stunde belohnte den ehrenwerthen Fazender von Iquitos reichlich für alle Leiden einer langjährigen Verbannung, und wenn er sich jetzt, mehr um seiner Familie als um seiner selbst willen, glücklich fühlte, so regte sich in ihm auch ein gewisser vaterländischer Stolz, daß die Heimat sich nicht durch einen schrecklichen Justizmord besudelt hatte.

[340] Was wurde inzwischen aber mit Fragoso?

Nun, der Liebenswürdige wurde von Zärtlichkeiten fast erdrückt. Benito, Manoel und Minha überhäuften ihn damit, und Lina ersparte ihm dieselben nicht. Er wußte kaum, woran er war, und wehrte sich, so gut es anging. So viel des Dankes verdiente er ja gar nicht! Der Zufall allein hatte Alles gethan! War es denn ein so besonderes Verdienst von ihm, daß er in Torres einen früheren Waldkapitän wieder erkannt hatte? Gewiß nicht. Auch sein Einfall, die Miliz, der Torres früher angehört hatte, aufzusuchen, schien doch von vornherein die schlimme Lage des Fazenders kaum bessern zu können, und was endlich den Namen Ortega anging, so hatte er ja dessen entscheidenden Werth nicht im mindesten geahnt.

Braver Fragoso! Ob er es nun zugeben wollte oder nicht, er hatte doch zuletzt Joam Dacosta gerettet.

Doch wie viele merkwürdige Ereignisse in glücklicher Aufeinanderfolge gehörten dazu, dieses Ziel zu erreichen! Die Rettung Fragoso's, gerade als er sich im Walde von Iquitos aus Lebensüberdruß den Tod geben wollte; der freundliche Empfang, der ihm in der Fazenda zutheil wurde; die Begegnung mit Torres an der Grenze Brasiliens, seine Einschiffung auf der Jangada und endlich der Umstand, daß er den Abenteurer schon früher einmal gesehen hatte.

»Nun, ja doch, rief Fragoso zuletzt, aber ohne Lina wäre doch Alles unmöglich gewesen.

– Ohne mich! bemerkte die junge Mulattin.

– Gewiß! Ohne jene Liane, ohne Deinen famosen Einfall hätte ich nimmer so viel Glück stiften können.«

Wir brauchen wohl kaum hervorzuheben, daß Fragoso und Lina geradezu gefeiert und von der ganzen ehrbaren Familie, wie von deren vielen, in Manao gewonnenen neuen Freunden fast auf den Händen getragen wurden.

Hatte der Richter Jarriquez aber nicht auch seinen Antheil an der Ehrenrettung des Unschuldigen? Wenn es ihm trotz seiner hoch entwickelten analytischen Talente auch nicht gelang, das für Jedermann, der nicht im Besitze des Schlüssels war, unenträthselbare Document zu lesen, so hatte er doch zeitig genug erkannt, welches kryptologische System demselben zugrunde gelegt war. Wer hätte außer ihm mit Hilfe des einzigen Namens Ortega die versteckte Zahl herauszufinden vermocht, welche nur der Urheber des Verbrechens und Torres, als sie noch lebten, gekannt hatten?

[341] Auch ihm wurde selbstverständlich der wohlverdiente Dank zutheil.

Noch am nämlichen Tage ging nach Rio de Janeiro ein ausführlicher Bericht über die letzten Vorkommnisse ab, dem das Original-Document nebst dem zugehörigen Schlüssel beigefügt war. Jetzt mußte erst ein weiterer Erlaß des Ministers an den Richter abgewartet werden, aber Niemand zweifelte daran, daß Jener die sofortige Freigebung des Gefangenen verfügen werde.

Es galt also noch einige Tage in Manao auszuharren; dann sollten Joam Dacosta und die Seinigen, frei und unbeschränkt, von keiner weiteren Besorgniß bedrückt, von ihrem Wirthe Abschied nehmen, sich wieder einschiffen und den Amazonenstrom weiter hinab bis nach Para segeln, wo die Reise durch die Doppelhochzeit Minhas und Manoels, sowie Linas und Fragoso's, entsprechend dem vorher entworfenen Plane, ihr Ende finden sollte.

Vier Tage später, am 4. September, traf der Befehl zur Freigabe des Gefangenen ein. Das Document war als authentisch anerkannt worden, sowie die Handschrift als diejenige Ortega's, des ehemaligen Beamten im Diamantenbezirke, und es unterlag keinem Zweifel, daß das Geständniß des Verbrechens, mit allen Einzelheiten, die er beifügte, allein von seiner Hand geschrieben war.

Endlich war also die Unschuld des Verurtheilten von Villa Rica anerkannt und Joam Dacosta wieder ehrlich erklärt worden.

An diesem Tage speiste der Richter Jarriquez mit der glücklichen Familie an Bord der Jangada, und als er gegen Abend aufbrach, drückten ihm Alle warm die Hände. Es war ein überaus rührender Abschied, aber man versprach dabei, sich auf der Rückreise nach der Heimat in Manao und später in Iquitos gegenseitig zu besuchen.

Am folgenden Morgen mit Tagesaubruch erschallte das Signal zur Weiterfahrt. Alle Insassen der Jangada standen auf dem ungeheueren Floße. Die Jangada trieb langsam nach der Strömung, und als sie an der Biegung des Rio Negro verschwand, donnerte noch ein tausendstimmiges Hurrah der Bewohner von Manao durch die warme Luft.

[342]
20. Capitel
Zwanzigstes Capitel.
Der untere Amazonenstrom.

Was sollen wir nun noch berichten von diesem zweiten Theile der Reise auf dem großen Strome? Er verlief unter einer Reihe glücklicher Tage für die brave Familie. Joam Dacosta lebte von neuem auf und mit ihm Alle, die seinem Herzen theuer waren.

Die Jangada glitt jetzt schneller auf dem noch von der Hochfluth geschwellten Wasser hinab. Zur Linken ließ sie das kleine Dorf Don Jose de Maturi, und zur Rechten die Mündung des Madeira, welcher seinen Namen der dichten Pflanzentrift, den nackten und belaubten Stämmen verdankt, die er aus dem Herzen Bolivias hinabführt. Sie wand sich durch den Archipel Caniny, dessen Inseln und Holme wahre Palmentreibhäuser darstellen, kam an dem Weiler Serpa vorüber, der, nach und nach von einem Ufer zum andern versetzt, endlich am linken Stromufer einen festen Stand gefunden hatte, mit seinen freundlichen Häuschen, deren Grundschwellen auf dem gelben Teppich des Strandes ruhen.

Das Dorf Silves, am linken Ufer des Amazonenstromes, der Flecken Villa Bella, der Hauptmarkt der Provinz für die Guarana, lagen bald hinter dem großen Holzzuge. Ebenso das Dorf Faro mit dem berühmten Flusse Nhamundas, auf welchem Orellana im Jahre 1539 von kriegerischen Weibern überfallen worden zu sein behauptete, die man seitdem doch nie wieder gesehen hat –


Mitten durch prächtige Wälder. (S. 346)

eine Sage, welche nichtsdestoweniger hinreichte, dem Strome für ewige Zeiten seinen Namen zu geben.

Hier endet die ausgedehnte Provinz Rio Negro und beginnt der Bezirk Para; an diesem Tage, am 22. September, gelangte die Familie durch ein entzückendes Thal in den Theil des brasilianischen Reiches, der nach Osten zu nur den Atlantischen Ocean als Grenze hat.

»Wie herrlich das ist! rief das junge Mädchen einmal über das andere.

– Wie lange das dauert! murmelte Manoel.

– Wie schön das ist! jubelte Lina.

[343] – Wann werden wir endlich ankommen!« brummte Fragoso leise.

Nun soll sich Einer bei so weit auseinandergehenden Anschauungen auch noch unterhalten! Doch die Stunden verstrichen fröhlich, denn Benito, der weder geduldig noch ungeduldig war, hatte seine frühere frohe Laune vollkommen wieder erlangt.

Bald glitt die Jangada zwischen unabsehbaren Anpflanzungen dunkelgrüner Cacaobäume hin, von welchen sich das gelbe Stroh oder die rothen Ziegel, welche die Wohnungen der Farmer auf beiden Seiten des Stromes bedeckten, scharf abhob; so ging die Fahrt von Obidos bis zum Flecken Monte Alegre hin.

[344] Hier öffnet sich die Mündung des Rio Trombetas, dessen schwarze Fluthen den Grund der Häuser von Obidos netzten, einer kleinen Stadt, einer wirklichen »Citade« mit breiten, von hübschen Wohnhäusern eingefaßten Straßen, einem wichtigen Lagerplatz der Früchte des Cacaobaumes, und nur hundertachtzig große Meilen von Belem entfernt.


Der Padre erwartete die beiden Brautpaare. (S. 350.)

Ferner erblickt man den Nebenfluß Tapajoz, mit grünlich-grauen Wellen, der von Südwesten herabkommt; weiterhin Santarem, einen reichen Flecken von nicht weniger als fünftausend Einwohnern, zum größten Theile Indianern, [345] dessen vorderste Häuser direct auf dem weißen Sande des Stromufers stehen.

Seit der Abfahrt von Manao hielt die Jangada gar nicht mehr an, da das Fahrwasser in diesem unteren Theile des Stromes weit freier ist. Tag und Nacht glitt sie, bewacht von dem scharfen Auge des Piloten, weiter hinab. Nirgends machte man mehr, weder zur Zerstreuung der Passagiere, noch um Handelsgeschäfte abzuschließen, Halt. Ununterbrochen ging es vorwärts, und schnell kam das ersehnte Ziel näher.

Von Alemquer, am linken Ufer, an veränderte sich der Charakter der Umgebung. Statt des Saumes von dichten Wäldern, der bisher die Aussicht beschränkte, erhoben sich nicht weit vom Strome mäßige Hügel, deren weichen Wellenformen das Auge folgen konnte, und im Hintergrunde die Gipfel wirklicher Berge, die hoch nach dem Himmel emporstrebten.

Weder Yaquita noch ihre Tochter, weder Lina noch Cybele hatten jemals etwas Aehnliches gesehen.

Hier im Bezirke von Para fühlte sich nun Manoel zu Hause und konnte die doppelte Hügelkette, welche das Stromthal nach und nach mehr einengte, überall genau bezeichnen.

»Hier zur Rechten, sagte er, das ist die Sierra de Paruacarta, welche halbkreisförmig nach Süden zu verläuft. Links erhebt sich die Sierra de Curuva, an deren letzten Ausläufern wir bald vorüber sein werden.

– So kommen wir also bald an? fragte Fragoso.

– Ja, bald!« antwortete Manoel.

Die beiden Bräutigams verstanden offenbar einander, denn eine leise, aber genügend bezeichnende Bewegung mit dem Kopfe begleitete die Frage wie die Antwort.

Trotz der Fluth, welche sich von Obidos aus bemerkbar machte und die Fortbewegung der Jangada ein wenig verzögerte, kam man bald an dem Flecken Monte Alegre vorüber, darauf bei Praynha de Onteiro und ferner an der Mündung des Xingu, den die Yuruma-Indianer häufig besuchen, deren Hauptbeschäftigung darin besteht, die Köpfe erschlagener Feinde für die naturhistorischen Sammlungen zu präpariren.

Schon erweiterte sich der Amazonenstrom bedeutend und ließ ahnen, daß er bald ein wirkliches Meer darstellen werde. Acht bis zehn Fuß hohes Gesträuch am Strande rahmte ihn mit einem wirklichen Walde von Rosen ein. Porto de [346] Mos, Boa Vista und Gurupa, dessen frühere Blüthe mehr und mehr erlischt, blieben bald hinter dem Floße zurück.

Hier theilt sich der Strom in zwei mächtige Arme, welche er nach dem Atlantischen Ocean ausstreckt; der eine verläuft nach Nordosten, der andere direct nach Osten, und beide umfassen die große Insel Marajo, welche eine wirkliche Provinz bildet. Sie mißt nicht weniger als hundertachtzig Meilen im Umfang. Vielfach durchsetzt von Sümpfen und kleinen Flüssen mit Savannen im Osten und großen Wäldern im Westen, eignet sie sich vorzüglich zur Viehzucht, welche hier in großartigem Maßstabe betrieben wird.

Diese ungeheuere Barre von Marajo ist das natürliche Hinderniß, das den Amazonenstrom zwingt, sich zu theilen und seine Wassermassen durch zwei Arme in's Meer zu ergießen. Folgte die Jangada dem oberen Arme, so würde sie, nach Passirung der Inseln Caviana und Mexiana, eine fünfzig Seemeilen breite Mündung gefunden haben, aber sie wäre auch der Pororoca ausgesetzt gewesen, jener schrecklichen Springfluth, welche in den drei, dem Neumond vorhergehenden Tagen und beim Vollmond binnen zwei Minuten, statt in sechs Stunden, den Strom zwölf bis fünfzehn Fuß über seinen niedrigsten Wasserstand aufzustauen vermag.

Diese stürmische Fluthwelle richtet nicht selten großen Schaden an. Glücklicher Weise ist der untere, unter dem Namen des Kanals von Breves benannte Arm, der natürliche Ausfluß des Para, dieser furchtbaren Naturerscheinung nicht ausgesetzt, sondern zeigt nur die gewöhnlichen Phänomene der regelmäßigen Meeresfluth. Der Pilot Araujo kannte diese Arme ganz genau. Er steuerte also hinein mitten in prächtige Wälder, da und dort an kleineren Inseln mit Muritipalmen vorüber, und dazu war das Wetter so herrlich, daß man nicht einmal jene plötzlichen Stürme zu fürchten brauchte, welche sonst zuweilen durch den ganzen Kanal von Breves rasen. Einige Tage später kam die Jangada nach dem früheren Dorfe dieses Namens, das, obwohl es auf einem, mehrere Monate im Jahre überschwemmten Terrain steht, doch seit 1845 zu einer Stadt mit hundert Häusern emporgewachsen ist. Hier siedeln noch die Tapuyas, die Urbewohner des unteren Amazonenstromes, welche mehr und mehr in der weißen Race aufgehen und offenbar bald ganz verschwinden werden.

Inzwischen glitt die Jangada weiter und weiter hinab. Hier streifte sie, auf die Gefahr hin, aufzulaufen, die Wurzeln gigantischer Mangobäume, welche sich wie riesige Krallen eines phantastischen Geschöpfes weit in's Wasser hinaus [347] erstrecken, dort die schlanken Stämme von Wurzelträgern mit blaßgrünem Laub, an welche man die langen Bootshaken anstemmte, um das Floß in die Strömung zurückzudrängen.

Weiter gelangte man nach der Mündung des Toncatins, der seine, aus verschiedenen Rios der Provinz Goyaz gesammelten Fluthen dem Amazonenstrome durch eine weite Mündung zuführt; hinter diesem nach Moju und dann nach dem Flecken Santa Ana.

Majestätisch entrollte sich das herrliche Panorama an beiden Ufern ohne Aufenthalt, als ob es ein unsichtbarer Mechanismus stromaufwärts verschöbe.

Schon begleiteten zahllose Fahrzeuge, welche den Fluß hinabfuhren, Ubas, Egariteas, Vigilindas, Piroguen jeder Art, kleinere und mittlere Küstenfahrer aus den unteren Theilen des Amazonenstromes und von dem Strande des Atlantischen Oceans die riesige Jangada wie Schaluppen eines ungeheueren Kriegsschiffes.

Endlich erschien zur Linken Santa Maria de Belem do Para, die »Stadt« wie man hier zu Lande sagt, mit ihren pittoresken, weißen, mehrere Stockwerke hohen Häuserreihen, ihren unter Palmen versteckten Klöstern, den Glockenthürmen der Kathedrale und der Kirche Nostra-Señora de Merced, ihrer Flottille von Goëletten, Briggs und Dreimastern, welche sie in rege Handelsverbindung mit der alten Welt setzt.

Wie stürmisch klopfte den Passagieren der Jangada das Herz. Endlich sahen sie das Ziel der Reise vor Augen, welches sie nie zu erreichen geglaubt hätten. Konnten sie bei der Verhaftung Joam Dacosta's, welche sie in Manao in der Mitte ihrer Reise zurückhielt, jemals hoffen, die Hauptstadt der Provinz Para zu erblicken?

Am 15. October, vierundeinhalb Monat, seit sie die Fazenda von Iquitos verlassen, tauchte Belem hinter einer scharfen Biegung des Flusses zuerst vor ihnen auf.

Seit mehreren Tagen schon war das bevorstehende Eintreffen der Jangada bekannt geworden. Die ganze Stadt kannte die Geschichte Joam Dacosta's. Man erwartete diesen braven Mann. Alle bestrebten sich, ihm und den Seinigen den herzlichsten Empfang zu bereiten.

Hunderte von Fahrzeugen segelten dem Fazender entgegen, und bald war die Jangada überschwemmt von allen Denen, welche die Ankunft ihres so lange verbannt gewesenen Landsmannes zu feiern wünschten. Tausende von Neugierigen, richtiger Tausende von Freunden, drängten sich in dem schwimmenden Dorfe [348] zusammen, lange bevor es seinen Landungsplatz erreicht hatte. Es war aber groß und fest genug, um eine ganze Bevölkerung aufzunehmen.

Und unter Denen, welche sich so beeilten, brachte auch eine der ersten Piroguen Frau Valdez herbei.

Die Mutter Manoels konnte endlich die von ihrem Sohne neuerwählte Tochter in die Arme drücken. Wenn sich die gute Dame nicht nach Iquitos hatte begeben können, brachte ihr der Amazonenstrom nicht ein ganzes Stück Fazenda mit ihrer neuen Familie?

Noch vor Anbruch des Abends hatte der Pilot Araujo die Jangada im Grunde einer Bucht hinter dem Arsenale fest vertäut. Das sollte ihr letzter Ankerplatz, ihr letzter Ruhepunkt nach einer Fahrt von achthundert Meilen auf der großen brasilianischen Wasserader sein. Hier sollten die Indianerzelte, die Negerhütten und die mit kostbarer Ladung gefüllten Magazine abgebrochen werden; dann kam an das, unter grünem Blätterschmucke versteckte Wohnhaus die Reihe, für immer zu verschwinden; endlich auch die kleine Kapelle, deren bescheidene Glocke jetzt noch ihre Töne mit dem feierlichen Geläut der Kirchen von Belem mischte.

Vorher aber sollte eine Feierlichkeit noch auf der Jangada selbst vor sich gehen: die Trauung Manoels und Minhas, so wie die Linas und Fragosos, und der Padre Passanha hätte es sich um keinen Preis nehmen lassen, die so glückverheißende Doppelverbindung zu segnen. In der kleinen Kapelle wollte er die Hände der beiden Brautpaare für immer zusammenlegen.

Wenn diese wegen ihres beschränkten Raumes zwar nur die eigentlichen Familienmitglieder Joam Dacosta's aufnehmen konnte, so bot doch die ungeheuere Jangada Platz genug für Alle, welche dieser frohen Feier beiwohnen wollten, und wenn sie für den Zulauf von Theilnehmern wirklich nicht genügte, so waren ja die Rasenstufen des ausgedehnten Uferabhanges da für die Menge aller Derer, welche den Mann, der auf so ungewöhnliche Weise zum Helden des Tages geworden war, zu ehren wünschten.

Schon am folgenden Tage, dem 16. October, wurde die Doppelhochzeit mit großem Pomp gefeiert.

Von zehn Uhr Morgens an strömte eine Unzahl von Gästen bei herrlichstem Wetter auf das Deck der Jangada. Am Ufer erblickte man fast die ganze Bevölkerung von Belem, welche sich in Feierkleidern herandrängte. Auf dem Flusse selbst wimmelte es von Booten mit Besuchern, welche an dem Rande [349] des großen Holzzuges anlegten, so daß der Amazonenstrom bis zum jenseitigen Ufer unter dieser Flottille buchstäblich versteckt war.

Als die Glocke der Kapelle zum ersten Male ertönte, war es gleichsam ein Freudensignal für Aller Augen und Ohren. Sofort antworteten die Kirchen der Stadt dem Glockenthürmchen der Jangada. Die Boote im Hafen flaggten bis zur Mastspitze, und die Farben Brasiliens wurden von den Nationalflaggen der anderen Länder begrüßt. Von allen Seiten knatterten Flintenschüsse, aber kaum vermochten die Ehrensalven mit den lauten Jubelrufen von abertausend Lippen zu wetteifern.

Die Familie Dacosta trat aus dem Wohnhause und schritt durch die Menschenmenge nach der kleinen Kapelle.

Joam Dacosta wurde mit frenetischem Jubel empfangen. Er führte Frau Valdez am Arme. Yaquita erschien in Begleitung des Gouverneurs von Belem, der im Vereine mit den Kameraden des jungen Militärarztes die Hochzeit durch seine Gegenwart verherrlichen helfen wollte. Manoel ging an der Seite Minhas, welche wahrhaft reizend aussah; dann kam Fragoso, der die glückstrahlende Lina an der Hand hielt; endlich folgten Benito, die alte Cybele und die Hausdiener der Familie, durch die von dem Personal der Jangada gebildete Doppelreihe schreitend.

Der Padre Passanha erwartete die beiden Brautpaare am Eingange zur Kapelle. Die Ceremonie wurde in würdiger Einfachheit celebrirt, und dieselben Hände, welche einst Joam und Yaquita eingesegnet hatten, streckten sich jetzt aus, um auch über deren Kinder den Segen des Himmels zu erflehen.

So viel Glück durfte nicht durch den Schmerz längeren Getrenntseins getrübt werden. Manoel reichte bald seinen Abschied ein, um bei der ganzen Familie in Iquitos zu bleiben, wo ihm auch als Civilarzt ein weites Feld nützlicher Thätigkeit offen stand.

Natürlich zögerte auch das neuvermählte andere Paar keinen Augenblick, bei denen zu bleiben, die ihnen mehr Freunde als Herren waren.

Madame Valdez erhob keinen Einspruch, daß ihr Sohn mit der neugewonnenen Tochter fortzog, aber sie knüpfte daran die eine Bedingung, daß die jungen Leute sie in Belem öfter besuchten.

Das war in Zukunft leicht genug. Bildete der große Strom nicht schon zwischen Belem und Iquitos ein Band das niemals zerreißen konnte? Dazu begann in einigen Tagen das erste Dampfboot seine regelmäßigen schnellen [350] Fahrten, bei denen es nur acht Tage brauchte, um den Amazonenstrom hinauf zu segeln, während die Thalfahrt der Jangada so viele Monate in Anspruch genommen hatte.

Die von Benito besorgten umfänglichen Handelsgeschäfte fanden einen sehr günstigen Abschluß, und bald war von der Jangada, das heißt von einem, einen ganzen Wald von Iquitos umfassenden Holzfloße – nichts mehr übrig.

Einen Monat später reisten der Fazender, seine Gattin, Manoel und Minha Valdez, Lina und Fragoso auf einem der Dampfboote des Amazonenstromes zurück nach der ausgedehnten Ansiedlung in Iquitos, deren Leitung Benito übernahm.

Diesmal trat Joam Dacosta frei erhobenen Hauptes in seine Besitzung ein und führte eine ganze glückliche Familie über die brasilianische Grenze zurück.

Fragoso aber hörte man wohl zwanzigmal des Tages rufen:

»Ja – aber ohne die Liane!«

Zuletzt gab er diesen hübschen Namen sogar der jungen Mulattin, die ihn durch ihre treue Anhänglichkeit an den wackeren Mann rechtfertigte.

»Bis auf einen einzigen winzigen Buchstaben, sagte er, ist ja Lina und Liane so wie so gleich!«

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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Die Jangada. Die Jangada. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-875B-3