[1] Jules Verne
Das Dampfhaus


[1][3]

1. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Ein Preis auf einen Kopf.

»Zweitausend Pfund Sterling Belohnung werden hiermit Demjenigen zugesichert, der, todt oder lebendig, einen der früheren Führer bei dem Aufruhre der Sipahis einliefert, welcher sich derzeit in der Präsidentschaft Bombay aufhalten soll, nämlich den Nabab Dandu Pant, bekannter unter dem Namen...«

[5] So lautete eine amtliche Bekanntmachung, die am 6. März 1876 gegen Abend in Aurungabad durch öffentlichen Anschlag verbreitet worden war.

Das letzte Wort, ein berüchtigter Name, den die Einen ebenso tief verwünschten, wie ihn Andere heimlich bewunderten, fehlte an dem Plakate, das man vor nur kurzer Zeit an der Mauer eines verfallenen Bungalow am Ufer der Doudhma angeheftet hatte.

Jener Name fehlte aber, weil der untere Theil des Placats, auf dem er mit fetten Lettern gedruckt stand, von der Hand eines Fakirs, den Niemand an dem eben menschenleeren Flußufer bemerkt, abgerissen worden war. Gleichzeitig mit obigem Namen war auch der des General-Gouverneurs der Präsidentschaft Bombay, die Contrasignatur der Unterschrift des Vicekönigs von Indien verschwunden.

Was mochte wohl der Beweggrund jenes Fakirs sein? Hoffte er vielleicht, daß der Empörer von 1857 durch die Zerreißung der Bekanntmachung der gerichtlichen Verfolgung und der ihm drohenden Verurtheilung entgehen könne? Durste er glauben, daß eine so berüchtigte Persönlichkeit mit den verstreuten Fetzen jenes Papierstückes unauffindbar werden könne?

Das wäre thöricht gewesen.

An den Wänden der Häuser, Paläste, Moscheen und Hôtels von Aurungabad fanden sich ja die gleichen Placate in Menge. Außerdem wanderte ein öffentlicher Ausrufer durch die Straßen der Stadt, der die Bekanntmachung des Statthalters mit lauter Stimme vorlas. Die Bewohner der geringsten Flecken der Provinz wußten es schon, daß ein wirkliches Vermögen für die Einlieferung Dandu Pant's versprochen war. Vor Ablauf von zwölf Stunden mußte sein vergeblich vernichteter Name durch die ganze Provinz in aller Leute Munde sein. Waren die Nachrichten zutreffend, hatte der Nabab wirklich in diesem Theile Hindostans Zuflucht gesucht, so fiel er doch ohne Zweifel über lang oder kurz irgend welchen Leuten in die Hände, da ja Alle an seiner Ergreifung ein erklärliches Interesse hatten.

Welchem Gefühle gehorchte also jener Fakir, als er das eine Exemplar der schon tausendfach verbreiteten Bekanntmachung zerriß?

Wahrscheinlich dem des Zornes, vielleicht auch dem einer inneren Verachtung, denn er zuckte dabei mit den Achseln und begab sich nachher sorglos in das volkreichste und ärmlichste Quartier der Stadt.

[6] Man nennt »Dekkan« den größeren Theil der ostindischen Halbinsel zwischen den westlichen und östlichen Ghats. Gewöhnlich bezeichnet man damit auch die ganze Südhälfte Indiens, diesseits des Ganges. Dekkan, dessen Name im Sanskrit »Süden« bedeutet, umfaßt mehrere Provinzen der Präsidentschaften Madras und Bombay. Eine der wichtigsten darunter ist die Provinz Aurungabad, deren Hauptstadt ehemals als die von ganz Dekkan galt.

Im 17. Jahrhundert verlegte der berühmte Mongolenkaiser Aureng-Zeb seine Hofhaltung nach jener Stadt, die schon in der ältesten Geschichte Hindostans unter dem Namen Kirkhi vorkam. Sie zählte damals wohl hunderttausend Einwohner, gegen fünfzigtausend heutzutage unter der Herrschaft der Engländer, welche dieselbe für den Nizam von Haiderabad verwalten. Sie ist jedoch eine der gesündesten Städte der Halbinsel und bisher von der furchtbaren asiatischen Cholera, wie von den in Indien so verheerend auftretenden Fiebern verschont geblieben.

Aurungabad birgt noch ehrwürdige Reste seines früheren Glanzes. Der am rechten Ufer der Doudhma errichtete Palast des Großmoguls, das Mausoleum der Favoritsultanin Schah Jahan's, des Vaters Aureng-Zeb's, die nach dem Muster des schönen Tadsch in Agra erbaute Moschee, welche ihre vier Minarets um eine schlanke Kuppel erheben, und noch andere, architektonisch künstlerische, reich verzierte Monumente bezeugen die Macht und Herrlichkeit des berühmtesten Eroberers von Hindostan, der dieses Reich, dem er noch Kabul und Assam hinzufügte, zu einem unvergleichlichen Grade von Gedeihen erhob.

Trotz der, wie erwähnt, beträchtlichen Verminderung der Bewohnerzahl Aurungabads konnte sich ein Einzelner doch noch leicht genug unter dessen bunt gemischter Bevölkerung verbergen. Der Fakir, mochte es nun ein wirklicher oder falscher sein, fiel unter jener an Typen reichen Menge in keiner Weise auf. Seine Genossen überschwemmen ja ganz Indien.


Es war ein Mann von hohem Wuchse. (S. 7.)

Sie bilden im Verein mit den »Sayeds« einen religiösen Bettelorden, sprechen, zu Pferd oder zu Fuße, um Almosen an und wissen ein solches zu erzwingen, wenn man es nicht gutwillig darreicht. Sie spielen wohl auch die Rolle freiwilliger Märtyrer und genießen ein hohes Ansehen bei den niederen Kasten der Hindus.

Der Fakir, von dem hier die Rede ist, war ein Mann von hohem Wuchse, denn er maß über fünf Fuß neun Zoll englisch. Die Vierzig hatte er kaum mit ein bis zwei Jahren überschritten. Seine Erscheinung erinnerte, vorzüglich durch den Glanz der schwarzen, immer aufmerksamen Augen, an den schönen [7] Maharatten-Typus, doch hätte man die sonst so seinen Züge seiner Race in Folge der tausend Pockengruben auf seinen Wangen an ihm nur schwierig wieder erkannt. Der noch im kräftigsten Alter stehende Mann schien sehr gewandt und stark zu sein. Als besonderes Kennzeichen fehlte ihm ein Finger der linken Hand. Das Haupthaar trug er röthlich gefärbt und ging halb nackt, ohne Fußbekleidung, kaum bedeckt mit einem schlechten, gestreiften Wollenhemd, das um den Leib zusammengehalten war. Auf seiner Brust sah man die Embleme des erhaltenden und des zerstörenden Princips der Hindu-Götterlehre, das [8] Löwenhaupt der vierten Fleischwerdung Wischnu's, und die drei Augen nebst dem symbolischen Dreizack des wilden Siva.

Inzwischen herrschte eine tiefgreifende und leicht erklärliche Erregung in den Straßen Aurungabads, vorzüglich da, wo sich die kosmopolitische Bevölkerung der ärmeren Stadttheile zusammendrängte.


»Erkennst Du mich nun wieder!« (S. 14.)

Hier wimmelte es von Menschen vor den baufälligen Hütten, die ihnen als Wohnung dienten. Männer, Weiber, Kinder, Greise, Europäer und Eingeborne, Soldaten der königlichen und der einheimischen Regimenter, Bettler jeder Art, Landleute aus der Umgegend – [9] Alles schwirrte, sprach und gesticulirte durch einander, erläuterte die Bekanntmachung und erwog die Aussichten zur Gewinnung der ungeheueren, von der Regierung versprochenen Prämie. Selbst vor einem Lotterie-Rade, das einen gleich großen Hauptgewinn von zweitausend Pfund enthielt, hätte die Aufregung der Gemüther nicht größer sein können. In diesem Falle kommt ja noch hinzu, daß es in Jedes Hand gegeben war, ein glückliches Los zu ziehen – dieses Los war der Kopf Dandu Pant's. Freilich gehörte etwas Glück dazu, den Nabab erst aufzufinden, und dann etwas Muth, sich desselben zu bemächtigen.

Der Fakir – offenbar der Einzige, dem die Gewinnung jener Prämie nicht am Herzen zu liegen schien – schlenderte zwischen den Gruppen umher, wobei er manchmal, auf deren Gespräche lauschend, stehen blieb, wie Einer, der sich erlauschte Worte zunutze machen will. Nirgends mischte er sich in die Unterhaltung; doch wenn sein Mund auch stumm blieb, so feierten seine Augen und Ohren dochkeineswegs.

»Zweitausend Pfund für die Auffindung des Nabab! rief da der Eine, die Hände verlangend zum Himmel emporstreckend.

– Nicht für die Auffindung, erwiderte ein Anderer, sondern für dessen Festnahme, und das ist doch ein ganz ander' Ding!

– Wahrlich, das ist nicht der Mann dazu, sich ohne hartnäckige Gegenwehr gefangen nehmen zu lassen.

– Sagte man aber kürzlich nicht, er sei in den Dschungeln von Nepal dem Fieber erlegen?

– Daran ist kein wahres Wort! Der schlaue Dandu Pant ließ sich nur für todt ausgeben, um desto ungestörter leben zu können.

– Ja, es ging sogar das Gerücht, er sei inmitten seines Lagers an der Grenze beerdigt worden.

– Eine falsche Todtenfeier, nur um Andere irre zu führen!«

Der Fakir hatte mit keiner Wimper gezuckt, als er das letzte mit so zweifelloser Sicherheit behaupten hörte. Seine Stirn legte sich jedoch unwillkürlich in Falten, als er einen Hindu – den lebhaftesten der ganzen Gruppe in seiner Nähe – folgende Einzelheiten erzählen hörte, die viel zu genau waren, um erfunden zu sein.

»Es steht fest, begann der Hindu, daß sich der Nabab im Jahre 1859 nebst seinem Bruder Balao Rao und dem Ex-Rajah von Gonda, Debi Bux Singh, nach einem Lager am Fuße der Gebirge von Nepal geflüchtet hatte.

[10] Dort, wo ihnen die englischen Truppen zu nahe an der Ferse saßen, beschlossen alle Drei, über die indo-chinesische Grenze zu treten. Bevor es dazu kam, ließen der Nabab und seine beiden Begleiter, um das entstandene Gerücht ihres Todes zu bekräftigen, ihre eigene Beerdigung in's Werk setzen; begraben wurde von ihnen dabei freilich nur ein Finger der linken Hand, den sie zur Zeit jener Ceremonie abschnitten.

– Doch woher wißt Ihr das? fragte einer der Zuhörer den mit so großer Sicherheit sprechenden Hindu.

– Ich war bei der Leichenfeierlichkeit selbst anwesend, erwiderte derselbe. Dandu Pant's Soldaten hatten mich gefangen, und erst sechs Monate später gelang es mir zu entfliehen.«

Während der Hindu auf so überzeugende Weise sprach, verlor der Fakir ihn nicht aus dem Blicke. In seinen Augen leuchtete ein Blitz auf. Seine verstümmelte Hand hielt er sorglich versteckt unter dem Wollengewebe, das seine Brust verhüllte. Er horchte, ohne ein Wort zu sagen, aber seine Lippen zitterten und zeigten dabei eine Reihe spitzer Zähne.

»Ihr kennt also den Nabab von Person? fragte man den ehemaligen Gefangenen Dandu Pant's.

– Gewiß, versicherte der Hindu.

– Und würdet ihn auch wieder erkennen, wenn er Euch zufällig vor die Augen käme?

– So gut wie mich selbst.

– Nun, da habt Ihr ja einige Aussicht, die Belohnung von zweitausend Pfund zu erlangen! rief einer der Umstehenden mit nur schlecht verhehltem Neide.

– Vielleicht... meinte der Hindu, wenn es sich bestätigt, daß der Nabab die Unklugheit begangen hätte, sich bis in die Präsidentschaft Bombay herunter zu wagen, was mir nicht besonders wahrscheinlich dünkt.

– Was sollte er hier auch vorhaben?

– Jedenfalls sucht er eine neue Empörung anzuzetteln, erklärte Einer aus der Gruppe, wenn nicht unter den Sipahis, so doch unter der Landbevölkerung des Innern.

– Wenn die Regierung behauptet, daß seine Anwesenheit in der Provinz gemeldet worden sei, meinte ein Anderer aus der Kategorie jener Leute, welche überzeugt sind, daß eine Behörde sich niemals täuschen könne, so wird die Regierung auch verläßliche Nachrichten darüber besitzen.

[11] – Mag sein! warf der Hindu ein. Brahma gebe, daß Dandu Pant mir in den Weg kommt und mein Glück ist gemacht!«

Der Fakir wich einige Schritte zurück, verlor aber des Nabab früheren Gefangenen nicht aus den Augen.

Schon ward es allmählich dunkel, doch das Leben und Treiben auf den Straßen von Aurungabad verminderte sich nicht. Der Gespräche bezüglich des Nabab wurden nur noch mehr. Hier sagte man, daß er in der Stadt selbst gesehen worden, dort, daß er schon wieder weit weg sei. Man behauptete auch, ein aus dem Norden abgesendeter Eilbote habe dem Statthalter die Anzeige von der Verhaftung Dandu Pant's überbracht. Um neun Uhr Abends wußten die Bestunterrichteten, er befinde sich schon im Gefängniß der Stadt in Gesellschaft einiger Thugs, welche darin seit über dreißig Jahre schmachteten, und werde am nächsten Morgen mit Tagesanbruch auf dem Sipri-Platze ohne weitere Umstände gehenkt werden, wie seinerzeit Tantia Topi, sein berühmter Genosse im Aufstande. Um zehn Uhr schwirrten wieder ganz anders klingende Nachrichten umher. Es verbreitete sich das Gerücht, der Gefangene sei soeben entwichen, was die Hoffnung aller Derer auf's Neue belebte, welche der Preis von zweitausend Pfund reizte.

In der That waren alle diese verschiedenen Nachrichten falsch. Die am besten Unterrichteten wußten nicht mehr, als alle anderen weniger gut oder schlecht berichteten Leute. Der Kopf des Nabab behielt denselben Werth. Es galt noch, ihn zu bekommen.

Dadurch, daß er Dandu Pant persönlich kannte, hatte jener Hindu mehr Aussicht, den ausgesetzten Preis zu erlangen. Vorzüglich in der Präsidentschaft Bombay mochten nur wenig Leute Gelegenheit gehabt haben, mit dem gefürchteten Anführer in der großen Empörung zusammenzutreffen. Weiter im Norden und tiefer in den Central-Provinzen, in Sindh, Bundelkhünd, Audh, in den Umgebungen von Agra, Delhi, Khanpur oder Laknau, auf dem Hauptschauplatz der unter seinem Befehle begangenen Greuelthaten, hätten sich wohl Alle in hellen Haufen erhoben und ihn an die englischen Gerichte ausgeliefert. Die Eltern, Gatten, Brüder, Kinder und Weiber seiner Opfer beweinten noch die, welche er zu Hunderten hatte hinschlachten lassen. Auch zehn inzwischen verflossene Jahre reichten nicht hin, die vollberechtigte Empfindung von Rache und Haß zu verlöschen. Deshalb konnte man Dandu Pant nicht wohl die Unklugheit zutrauen, daß er sich in jene Gegenden gewagt hätte, wo Alle seinem Namen fluchten.

[12] Hatte er also, wie man sagte, die indo-chinesische Grenze wieder überschritten und trieb ihn irgend ein dunkler Beweggrund, ob die Anstiftung neuen Aufruhrs oder ein anderer, den unauffindbaren Schlupfwinkel zu verlassen, der für die englisch-indische Polizei noch immer ein Geheimniß blieb, so konnten es nur die Provinzen Dekkans sein, die ihm freies Feld und eine gewisse Sicherheit boten.

Wir sahen jedoch, daß der Statthalter von seinem Erscheinen in der Präsidentschaft Wind bekommen und sofort auf seinen Kopf einen Preis gesetzt hatte.

Immerhin ist hierzu die Bemerkung am Platze, daß die höheren Gesellschaftsclassen von Aurungabad, die Magistratsmitglieder, Officiere und Beamten, in die dem Statthalter zugegangenen Nachrichten doch leise Zweifel setzten. Das Gerücht, der unergreifbare Dandu Pant sei gesehen oder gar verhaftet worden, war schon zu häufig aufgetreten. Ueber ihn gingen so viele falsche Nachrichten, daß sich endlich eine Art Legende von seiner Allgegenwärtigkeit und seiner Schlauheit verbreitete, auch die gewandtesten Agenten der Polizei zu überlisten; die große Menge dagegen glaubte die Worte der Regierung.

Unter die Zahl der minder Ungläubigen gehörte natürlich auch der alte Gefangene des Nabab. Der arme Teufel von Hindu dachte, verwirrt durch seine Beutegier und gereizt von dem Drange nach persönlicher Rache, nur daran, in's Feld zu rücken, und sah seinen Erfolg für so gut wie gesichert an. Sein Plan war sehr einfach. Am folgenden Tage wollte er dem Statthalter seine Dienste anbieten; nachdem er sich dann genau über Alles unterrichtet, was man von Dandu Pant wußte, das heißt worauf sich die in der Bekanntmachung mitgetheilten Nachrichten gründeten, gedachte er nach dem Orte selbst zu gehen, von dem jene Meldung eingegangen war.

Gegen elf Uhr Abends wollte der Hindu, nachdem er so vielerlei Aussagen gehört, die, im Kopfe durcheinander wirbelnd, ihn nur noch mehr in seinem Vorhaben bestärkten, endlich einige Ruhe suchen. Als Wohnung diente ihm nur eine am Doudhma-Ufer angelegte Barke, und träumend, mit halb geschlossenen Augen, wandte er die Schritte dahin.

Ohne sich dessen zu versehen, hatte der Fakir ihn nicht verlassen; ohne seine Aufmerksamkeit zu erregen, folgte dieser ihm möglichst im Schatten nach.

Am Ende jenes dichtbevölkerten Theiles von Aurungabad waren die Straßen um jene Stunde weniger belebt. Die Hauptverkehrsader mündete nach einem verödeten Terrain hinaus, dessen Rand eines der Ufer der Doudhma [13] bildete. Es war eine Art Wüste dicht an der Stadt. Wenige verspätete Leute schritten noch gemächlich durch dieselbe den belebteren Straßen zu. Bald erstarb der Schall der letzten Schritte; der Hindu achtete indessen nicht darauf, daß er allein am Ufer des Stromes dahinging.

Der Fakir folgte ihm noch immer und suchte die dunkelsten Stellen des Weges auf, entweder unter dem Schutze der Bäume, oder indem er an den düsteren Mauern der da und dort verstreuten Ruinen von Häusern hinstrich.

Diese Vorsicht erschien nicht unnütz. Eben ging der Mond auf und verbreitete einen ungewissen Schimmer. Der Hindu hätte also sehen können, daß Jemand ihm nachspähte und ihn scharf verfolgte. Des Fakirs Schritte konnte er doch unmöglich vernehmen. Dieser glitt ja mit den bloßen Füßen mehr über den Boden, als daß er ging. Kein leises Geräusch verrieth seine Mitanwesenheit am Ufer der Doudhma.

So verstrichen fünf Minuten. Der Hindu strebte – sozusagen maschinenartig – der elenden Barke zu, in der er die Nacht zu verbringen pflegte; eine andere Er klärung gestattete die von ihm eingehaltene Richtung nicht. Er ging wie Einer, der es gewöhnt ist, allabendlich diese einsame Gegend zu durchwandern, ganz eingenommen von dem Gedanken an den Schritt, den er am nächsten Tage bei dem Statthalter thun wollte. Die Hoffnung, sich rächen zu können an dem Nabab, der mit seinen Gefangenen damals nicht eben glimpflich umging, und die heftige Begierde, jene Belohnung zu gewinnen, machten ihn gleichzeitig taub und blind.

Natürlich hatte er keine Ahnung von der Gefahr, die ihn in Folge seiner unklugen Aeußerungen bedrohte.

Er sah nicht, wie der Fakir sich ihm mehr und mehr näherte.

Aber plötzlich stürzte sich, gleich einem Tiger, ein Mann, mit einem Blitz in der Hand über ihn. Es war ein Mondstrahl, der auf der Klinge eines malayischen Dolches spielte.

In die Brust getroffen, sank der Hindu schwerfällig zur Erde.

Obwohl ein sicherer Arm den Stoß geführt hatte, war der Unglückliche doch nicht sofort getödtet. Mit einem Blutstrome quollen einige halb articulirte Worte aus seinem Munde.

Der Mörder beugte sich nieder, ergriff sein Opfer, hob es hoch auf und fragte, während er jetzt das volle Mondlicht auf sein Gesicht fallen ließ:

»Erkennst Du mich nun wieder?

[14] – Er ist's!« murmelte der Hindu.

Der entsetzliche Name des Fakirs war sein letztes Wort, als er an rascher Erstickung verendete.

Einen Augenblick danach verschwand der Körper des Hindu in den Fluthen der Doudhma, die ihn nicht wieder hergeben sollten.

Der Fakir wartete, bis das Plätschern der Wellen sich legte. – Dann kehrte er um, durchschritt die verlassene Gegend, hierauf die Stadttheile, in denen es allgemach stiller wurde, und begab sich schnellen Schrittes nach einem der Thore der Stadt. Eben dort angelangt, schlossen sich dessen Flügel. Einige Soldaten der königlichen Armee standen an demselben Wache. Der Fakir konnte entgegen seiner Absicht, Aurungabad nicht verlassen.

»Und ich muß doch hinaus, noch diese Nacht... oder niemals!« murmelte er für sich hin.

Er wandte sich zurück, folgte dem Wege längs des Glacis und erkletterte, zweihundert Schritt weiter, die Böschung, um nach dem oberen Theile des Festungswalles zu gelangen.

Dieser ragte nach außen zu um fünfzig Fuß über die Sohle des davor ausgehobenen Grabens empor. Seine Bekleidung bildete eine lothrechte Mauer ohne jeden Vorsprung, der als Stütze hätte dienen können. Es erschien ganz unmöglich, an dieser Wandfläche etwa hinabzugleiten. Mittels eines Strickes ließ sich das Hinabsteigen wohl bewerkstelligen, des Fakirs Lendengürtel maß aber nur wenige Fuß, war also ungeeignet, damit den Boden zu erreichen.

Der Fakir stand einen Augenblick still, forschte mit den Augen rings umher und überlegte, was er nun beginnen sollte.

Auf der Bekrönung des Walles breitete sich da und dort ein dunkles Blätterdach aus, die Wipfel großer Bäume, welche Aurungabad wie ein lebender Rahmen umfassen. Die Baumkronen aber hatten lange, biegsame und zähe Aeste, die ja vielleicht dazu zu benutzen waren, den Grund des Wallgrabens, wenn auch mit großer Gefahr, zu erreichen.

Als dem Fakir dieser Gedanke kam, zögerte er nicht länger. Er verschwand unter einem solchen Blätterdache und erschien bald wieder außerhalb der Mauer, am unteren Drittel eines langen Zweiges hängend, der sich unter seiner Last allmählich senkte. Als derselbe sich soweit gebogen hatte, um den oberen Saum der Mauer zu streifen, glitt der Fakir langsam nach abwärts, so als ob er ein Seil mit Knoten hielte. Bis fast zur Hälfte der Escarpe konnte er auf diese[15] Weise wohl gelangen, noch immer trennten ihn aber gegen dreißig Fuß vom Erdboden, den er erreichen mußte, um entfliehen zu können.

Da hing er nun schwankend zwischen Himmel und Erde und suchte mit dem Fuß nach einem Einschnitt in der Mauer, um sich dagegen zu stemmen.


Der Flüchtling war bemerkt worden.

Plötzlich leuchteten mehrere Blitze durch das Dunkel. Einige Schüsse krachten. Der Flüchtling war von den Wachposten bemerkt worden. Diese gaben Feuer, doch ohne ihn zu treffen. Dagegen schlug zwei Zoll über seinem Kopfe eine Kugel durch den Zweig, der ihn hielt.


Das Gespräch kam wieder auf die Reise. (S. 24)

Zwanzig Secunden später riß der Zweig, und der Fakir fiel in den Wallgraben... Ein Anderer hätte dabei den Tod gefunden, er blieb heil und gesund.

Aufzuspringen, die gegenüber liegende Böschung unter einem Hagel von Kugeln, die ihn alle fehlten, zu [16] erklimmen und in dem Dunkel der Nacht zu verschwinden, das war für den Fliehenden nur ein Spiel.

Zwei Meilen von hier aus eilte er, ohne bemerkt zu werden, am Cantonnement der englischen Truppen vorüber, welche außerhalb Aurungabads lagerten.

[17] Zweihundert Schritte davon hielt er inne, drehte sich um und erhob die verstümmelte Hand drohend gegen die Stadt mit den Worten:

»Weh' Denen, die noch in Dandu Pant's Hände fallen! Engländer, Ihr seid mit Nana Sahib noch nicht zu Ende!«

Nana Sahib! diesen Kriegsnamen, den gefürchtetsten von allen blutigen Andenkens aus dem großen Aufstande von 1857, rief der Nabab noch einmal wie eine letzte Herausforderung den Eroberern Indiens zu.

2. Capitel
Zweites Capitel.
Oberst Munro.

»Aber, lieber Maucler, begann der Ingenieur Banks zu mir, Sie sprechen von Ihrer Reise auch kein Sterbenswörtchen. Man sollte glauben, Sie hätten Paris noch gar nicht verlassen. Wie finden Sie Indien?

– Indien? erwiderte ich, ja, um davon sprechen zu können, müßte ich das Land doch wenigstens gesehen haben.

– Sehr schön! versetzte der Ingenieur. Sind Sie nicht von Bombay nach Calcutta durch die ganze Halbinsel gekommen? Nun, und wenn Sie nicht blind waren...

– Das bin ich nicht, lieber Banks, wohl aber war ich während jener Fahrt geblendet...

– Geblendet?...

– Gewiß! Geblendet durch den Rauch, den Dampf, den Staub, noch mehr aber durch die Schnelligkeit der Fortbewegung. Ich will die Eisenbahnen nicht lästern, es ist ja Ihr Beruf, solche zu bauen, mein bester Banks; aber sich in das Coupé eines Waggons einzupferchen, als Gesichtsfeld nichts als die Scheiben der Wagenthür zu haben, Tag und Nacht mit einer mittleren Geschwindigkeit von zehn Meilen in der Stunde dahin zu jagen, jetzt über hohe Viaducte in Gesellschaft von Adlern und Lämmergeiern, nachher durch Tunnels in Gesellschaft von Ratten und Fledermäusen, nur an den Bahnhöfen anzuhalten, die einer so aussehen wie der andere, von Städten weiter nichts zu sehen als die [18] Außenseite der Mauern und die oberste Spitze der Minarets, und das Alles unter dem unaufhörlichen Lärmen des Pustens der Locomotive, unter dem Pfeifen des Kessels, dem Aechzen der Schienen und dem Knarren der Bremsen – nennen Sie das etwa reisen?

– Sehr richtig! rief der Kapitän Hod. Nun antworten Sie darauf, Banks, wenn Sie es können. Was meinen Sie dazu, Herr Oberst?«

Der Oberst, an den Kapitän Hod seine Worte richtete, neigte den Kopf ein wenig und sagte nur:

»Ich wäre begierig, zu hören, was Banks unserem Gaste, Herrn Maucler, für eine Antwort geben kann.

– O, das setzt mich keineswegs in Verlegenheit, meinte der Ingenieur, ich gebe ja zu, daß Maucler vollkommen Recht hat.

– Nun, fiel Kapitän Hod ein, wenn dem so ist, warum erbauen Sie Eisenbahnen?

– Um es Ihnen, Kapitän, zu ermöglichen, binnen sechzig Stunden von Calcutta nach Bombay gelangen zu können, wenn Sie Eile haben.

– Ich habe niemals Eile.

– Schön, dann wählen Sie die Great Trunk-Straße, antwortete der Ingenieur. Wählen Sie diese, Hod, und reisen Sie zu Fuß!

– Das beabsichtige ich auch zu thun.

– Wann?

– Sobald der Herr Oberst zustimmt, mich bei einem herrlichen Spaziergange von acht- bis neunhundert Meilen quer durch die Halbinsel zu begleiten!«

Der Oberst lächelte still und verfiel in seine gewohnte lange Träumerei, aus der ihn selbst seine besten Freunde, wie der Ingenieur Banks und Kapitän Hod, nur mit Mühe zu erwecken vermochten.

Seit einem Monate war ich in Indien angelangt, hatte aber, da ich von Bombay über Allahabad nach Calcutta die Great Indian Peninsular-Bahnlinie benutzte, von der Halbinsel so gut wie nichts kennen gelernt.

Meine Absicht ging jedoch dahin, zunächst deren nördlichen Theil, jenseit des Ganges, zu durchstreifen, die großen Städte daselbst zu besuchen, die hervorragendsten Denkmäler zu studieren und dieser Untersuchung die erforderliche Zeit zu widmen, um sie gründlich durchzuführen.

Den Ingenieur Banks hatte ich in Paris kennen gelernt. Seit einigen Jahren schon verband uns eine innige Freundschaft, welche der nähere vertraute [19] Umgang nur steigern konnte. Ich versprach ihm seinerzeit nach Indien zu kommen, sobald die Vollendung der Scind Punjab and Delhi-Linie, deren Bau er leitete, ihm einige Muße gönnen würde. Das war nun jetzt der Fall. Banks hatte gerechten Anspruch auf eine mehrmonatliche Erholung, und ich kam nun mit dem Vorschlage, diese Ruhe auf einer anstrengenden Reise durch Indien zu genießen. Es versteht sich von selbst, daß er auf meinen Wunsch mit voller Begeisterung einging. In einigen Wochen schon, wenn die günstigere Jahreszeit eintrat, wollten wir aufbrechen.

Bei meiner Ankunft in Calcutta, im März 1867, hatte Banks mich mit einem seiner ehrenwerthen Kameraden, dem Kapitän Hod, bekannt gemacht, und später mich auch seinem Freunde, dem Oberst Munro vorgestellt, bei dem wir eben die Abendstunden verbracht hatten.

Der damals siebenundvierzigjährige Oberst bewohnte im europäischen Stadtviertel ein etwas vereinsamt liegendes Haus, fern dem Getümmel, das die Handelsstadt und die schwarze Stadt, die beiden Bestandtheile der Hauptstadt Indiens, kennzeichnet. Jenes Quartier wird zuweilen die »Stadt der Paläste« genannt, und wirklich fehlt es demselben an letzteren nicht, wenn man diese Bezeichnung auf Wohnungen anwenden darf, die von Palästen freilich nichts weiter als Hallen, Säulen und Terrassen haben. Calcutta ist der Sammelpunkt aller Baustyle, welche der englische Geschmack in den Städten der Alten und Neuen Welt mit Vorliebe verwendet.

Was die Wohnstätte des Obersten betrifft, so war diese ein sogenannter »Bungalow« in einfachster Form, das heißt ein auf einem Ziegelunterbau errichtetes Haus nur mit Erdgeschoß, dessen Dach pyramidenartig hoch aufstieg. Rings um dasselbe lief eine von leichten Säulen getragene Veranda. An den Seiten bildeten die Küchen, Schuppen und Dienerwohnungen zwei ausspringende Flügel. Das Ganze lag inmitten eines mit schönen Bäumen bestandenen und von niedrigen Mauern umgebenen Gartens.

Das Haus des Obersten verrieth die Wohlhabenheit des Besitzers. Das Dienstpersonal war so zahlreich, wie es die Lebensweise der indo-englischen Familien mit sich bringt. Mobiliar, Stoffe, innere Einrichtung, Alles zeigte in der Auswahl und dem wohl erhaltenen Zustande, daß hier zuerst die Hand einer verständigen Hausfrau gewaltet, aber daneben auch, daß diese Frau hier nicht mehr weilen könne. Bezüglich der Aufsicht der Dienstleute und der allgemeinen Führung des Hauswesens verließ sich der Oberst vollständig auf[20] einen seiner alten Waffengenossen, einen Schotten, früheren »Conductor« der königlichen Armee, den Sergeanten Mac Neil, mit dem er alle Feldzüge in Indien durchgefochten hatte, eines jener braven Herzen, die in der Brust Derjenigen zu schlagen scheinen, denen sie sich einmal ergeben haben. Es war das ein großer, starker Mann von fünfundvierzig Jahren, mit Vollbart wie alle Bergschotten. Seiner Haltung, dem Gesichtsausdrucke, sowie dem althergebrachten Costüm nach war er mit Leib und Seele Highlander geblieben, obwohl er den Militärdienst gleichzeitig mit Oberst Munro quittirte. Beide hatten seit 1860 ihren Abschied genommen. Statt aber zu den »Glens« der Heimat, in die Mitte der alten »Clans« ihrer Vorfahren zurückzukehren, waren Beide in Indien geblieben und lebten in einer Art Zurückgezogenheit und Einsamkeit, welche eine breitere Erklärung erfordern.

Als Banks mich dem Oberst Munro vorstellte, empfahl er mir nur eines:

»Erwähnen Sie mit keiner Silbe des Sipahi-Aufstandes, sagte er, und vorzüglich sprechen Sie niemals den Namen Nana Sahib aus!«

Der Oberst Edward Munro gehörte einer alten schottischen Familie an, deren Vorfahren sich in der Geschichte des Vereinigten Königreiches einen Namen gemacht hatten. Zu seinen Ahnen zählte er jenen Sir Hector Munro, der im Jahre 1760 die Armee von Bengalen befehligte und eine Empörung niederwarf, welche die Sipahis, fast genau ein Jahrhundert später, wieder erneuern sollten. Major Munro erstickte den Aufstand mit unerbittlicher Energie und scheute nicht davor zurück, an einem Tage achtundzwanzig Rebellen vor die Mündung von Kanonen binden und in Stücke schießen zu lassen – eine entsetzliche Hinrichtungsart, welche 1857 wiederholt zur Anwendung kam und deren Erfinder vielleicht der Ahnherr des Obersten war.

Zur Zeit, als die Sipahis sich erhoben, befehligte Oberst Munro das 93. Regiment schottischer Infanterie der königlichen Armee. Er wohnte fast dem ganzen Feldzuge unter dem Oberbefehle Sir James Outram's bei, jenes Helden dieses Krieges, der sich den Namen des »Bayard der indischen Armee« verdiente, wie Sir Charles Napier ihn bezeichnete. Mit diesem befand sich Oberst Munro also in Khanpur; er nahm Theil an dem zweiten Feldzuge Colin Campbell's in Indien, wohnte der Belagerung von Laknau bei und verließ diesen berühmten Soldaten erst, als Outram zum Mitgliede des Rathes von Indien in Calcutta ernannt worden war. Im Jahre 1858 sehen wir den Oberst Sir Edward Munro als Commandeur des Sternes von Indien, »the Star of India (K.C.S.J.)«.

[21] Er war zum Baronet erhoben worden und seine Gattin hätte damit den Titel Lady Munro 1 erhalten, wenn die Unglückliche nicht am 15. Juli 1857 bei dem schauerlichen Gemetzel in Khanpur – eine Blutthat, die sich unter den Augen und auf Befehl Nana Sahib's vollzog – umgekommen wäre.

Lady Munro – des Obersten Freunde nannten sie niemals anders – wurde von ihrem Gatten angebetet. Sie zählte kaum siebenundzwanzig Jahre, als sie, gleichzeitig mit zweihundert anderen Opfern, bei jener abscheulichen Schlächterei spurlos verschwand. Die nach der Einnahme von Laknau wie durch ein Wunder geretteten Mistreß Orr und Miß Jackson hatten die Eine ihren Gatten, die Andere ihren Vater überlebt. Lady Munro sollte dem Oberst Munro nicht zurückgegeben werden. Es war sogar unmöglich, ihre, mit denen der zahlreichen Opfer in dem Schachte von Khanpur vermengten Ueberreste wieder aufzufinden und ihr ein christliches Begräbniß zu bereiten.

In seiner Verzweiflung erfüllte Sir Edward Munro nur noch ein Gedanke, der einzige, Nana Sahib, den die englische Regierung allerwärts suchen ließ, aufzufinden und den ihn verzehrenden, gerechten Durst nach Rache zu löschen. Um in dieser Richtung minder beschränkt zu sein, hatte er den Abschied genommen. Der Sergeant Mac Neil folgte ihm auf Schritt und Tritt. Von demselben Geiste beseelt, von demselben Gedanken getrieben und ein und dasselbe Ziel im Auge, verfolgten die beiden Männer jede Spur und forschten der geringsten Andeutung weiter nach, waren dabei aber nicht glücklicher als die englischindische Polizei. Nana Sahib entging allen ihren Nachforschungen. Nach drei Jahren fruchtlosen Bemühens mußten sich der Oberst und der Sergeant entschließen, vorläufig von weiteren Schritten abzusehen. Uebrigens verbreitete sich zu eben jener Zeit in Indien das Gerücht von Nana Sahib's Tode, und zwar diesmal mit einem solchen Grade von Glaubwürdigkeit, daß man es nicht wohl länger bezweifeln durfte.

Sir Edward Munro und Mac Neil kehrten also nach Calcutta zurück, wo sie sich in dem isolirten Bungalow festsetzten. Hier lasen sie weder Bücher noch Journale, welche an die blutige Zeit des Aufruhrs hätten erinnern können, [22] und verließen niemals die Wohnung, in der der Oberst gleich einem Manne mit einem ziel- und zwecklosen Leben dahin vegetirte.

Die Nachricht von dem Wiedererscheinen Nana's in der Präsidentschaft Bombay – eine Neuigkeit, welche schon mehrere Tage von Mund zu Mund ging – schien nicht zur Kenntniß des Obersten gekommen zu sein. Und das war ein Glück zu nennen, denn er hätte den Bungalow sofort verlassen.

Hierin bestanden etwa Bank's Mittheilungen, bevor er mich in jenes Haus einführte, aus dem die Freude für immer verbannt war. Ebendeshalb sollte jede Andeutung an die Empörung der Sipahis und deren grausamsten Anführer Nana Sahib vermieden werden.

Nur zwei Freunde – zwei allseitig erprobte Freunde – besuchten fleißig das Haus des Obersten, der Ingenieur Banks und der Kapitän Hod.

Banks hatte, wie erwähnt, eben die ihm bei der Erbauung der Great Indian Peninsular-Eisenbahn übertragenen Arbeiten vollendet. Er war ein Mann von fünfundvierzig Jahren, in der ganzen Kraft seines Alters. Zwar sollte er nun auch an der, zur Verbindung des arabischen Golfs mit der Bai von Bengalen zu errichtenden Madras-Bahn thätigen Antheil nehmen, doch konnten diese Arbeiten vor Ablauf eines Jahres schwerlich beginnen. Er genoß diese Muße also in Calcutta, immer beschäftigt mit mechanischen Problemen, denn in ihm wohnte ein rastloser, fruchtbarer Geist, der stets mit irgend einer neuen Erfindung schwanger ging. Außer dieser Thätigkeit widmete er jede Stunde dem Obersten, mit dem ihn eine zwanzigjährige Freundschaft verband. Fast jeden Abend verbrachte er unter der Veranda des Bungalow in Gesellschaft Sir Edward Munro's und des Kapitän Hod, der eben einen zehnmonatlichen Urlaub erhalten hatte.

Hod stand bei der 1. Escadron der Karabiniers der königlichen Armee und hatte den ganzen Feldzug 1857-58 mitgemacht, erst unter Sir Colin Campbell in Audh und Rohilkhande, dann unter Sir H. Rose in den Centralstaaten – ein Kampf, der mit der Einnahme von Gwalior endigte.

Der in der rauhen Schule Indiens erzogene Kapitän Hod, eines der hervorragendsten Mitglieder des Clubs von Madras, rothblond von Bart und Haar, zählte nicht mehr als dreißig Jahre. Obwohl er der königlichen Armee zugehörte, hätte man ihn wohl für einen Officier der eingebornen Truppen halten können. Ihm erschien Indien als das Reich von Gottes Gnaden, das gelobte Land, das einzige, in dem ein Mann leben könnte und sollte. Hier [23] konnte er alle seine Neigungen befriedigen. Soldat von Temperament, bot sich ihm unausgesetzt Gelegenheit, sich zu schlagen. Verweilte er als ausgedienter Jäger nicht in dem Lande, wo die Natur alles Raubgethier der Schöpfung neben allem Pelz- und Federwild der Neuen und Alten Welt vereinigt zu haben schien? Hatte er als leidenschaftlicher Bergsteiger nicht die imposante Kette von Thibet zur Hand, in der die höchsten Gipfel der Erde emporstreben? Was hinderte ihn als unerschrockenen Reisenden den Fuß dahin zu setzen, wohin vor ihm noch Niemand gedrungen war, in jenen unnahbaren Regionen der Himalaya-Grenze? Fehlten ihm als enthusiasmirten Turfisten die Rennbahnen Indiens, die in seinen Augen denen von Marche und Epsom gleichkamen? In letzterer Beziehung gingen seine und Banks' Ansichten allerdings weit auseinander. Als Vollblut-Mechaniker interessirte sich der Ingenieur nur sehr wenig für die Pferde-Heldenthaten eines »Gladiator« oder einer »Tochter der Luft«.

Eines Tages, als ihm Kapitän Hod deshalb besonders zusetzte, erwiderte Banks, daß die Wettrennen eigentlich nur unter einer Bedingung ein höheres Interesse erwecken könnten.

»Und diese wäre? fragte Hod.

– Die Aufstellung der Bedingung, erklärte Banks ganz ernsthaft, daß der zuletzt ankommende Jockey am Pfosten sofort füsilirt würde!

– Das nenne ich eine Idee!...« antwortete einfach Hod.

Er wäre auch der Mann dazu gewesen, persönlich auf das Wagstück einzugehen.

Solcher Art waren die beiden fleißigen Gäste in Sir Edward Munro's Bungalow. Der Oberst hörte sie gern über allerlei plaudern, und ihre zäh fortgesetzten Reden und Gegenreden lockten manchmal sogar ein Lächeln auf seine Lippen.

Die beiden wackeren Leute begegneten sich jedoch in dem einen Wunsche, den Oberst zu einer Reise zu bestimmen, die ihm einige Zerstreuung bieten könnte. Schon wiederholt hatten sie den Vorschlag gemacht, nach dem Norden der Halbinsel zu gehen, um mehrere Monate in der Nähe jener. »Sanitarien« zuzubringen, in welche sich die reiche anglo-indische Gesellschaft während der heißen Jahreszeit freiwillig flüchtet. Der Oberst war nie darauf eingegangen.

Auch bezüglich der von mir und Banks geplanten Reise hatten wir seine Meinung zu erforschen gesucht. Eben an jenem Abend kam das Gespräch wieder auf dieselbe. Der Leser weiß bereits, daß Kapitän Hod von nichts Geringerem


Mac Neil. (S. 30.)

sprach als von einer weitläufigen Fußtour nach dem Norden Indiens. Wenn Banks die Pferde nicht liebte, so war Hod ein Feind der Eisenbahnen. Beide befanden sich also in Widerspruch.

Ein Mittelweg hätte sich damit finden lassen, daß man, wie und wann es eben beliebte, im Wagen oder Palankin reiste, was auf den schönen und wohlerhalte [24] nen Hauptstraßen von Hindostan ohne Schwierigkeit auszuführen ist.

»Reden Sie mir nicht von ihren Geschirren mit Ochsen oder bucklichen Zebus! rief Banks. Ohne uns wären Sie noch heute auf diese primitiven Fuhrwerke[25] beschränkt, von denen man in Europa schon seit fünfhundert Jahren nichts mehr wissen mochte.

– Oho, Banks, erwiderte Kapitän Hod, mit Ihren Waggons und ihren Cramptons können sie sich wohl messen! Solche große Büffel, welche im tüchtigen Galopp gehen und die man an jeder Poststation von zwei zu zwei Stunden wechselt...

– Und die so eine Art vierrädriger Tartanen ziehen, in denen man mehr umhergeworfen wird, als die Fischer in ihren Booten auf bewegtem Wasser!

– Ich sprach nicht von Tartanen, Banks, antwortete Kapitän Hod. Giebt es denn keine Wagen mit zwei, drei oder vier Pferden, die an Schnelligkeit mit Euern. »Convois«, welche diesen traurigen Namen mit Recht führen, 2 wetteifern. Ich würde den einfachen Palankin vorziehen...

– Nun gar Ihre Palankins, Kapitän Hod, wahrhafte Särge von sechs Fuß Länge und vier Fuß Breite, in denen man wie ein Leichnam eingebettet liegt!

– Zugegeben, Banks, aber da giebt es kein Schütteln und kein Stoßen; man kann nach Belieben lesen, schreiben, schlafen, ohne an jeder Station aufgeweckt zu werden. In einem Palankin mit vier bis sechs bengalischen Gamals (Name der Palankinträger in Indien) legt man bequem vier und eine halbe Meile (gegen acht Kilometer) zurück, ohne, wie bei Ihren unbarmherzigen Expreßzügen, Gefahr zu laufen, daß man fast eher am Ziel anlangt, als man abgefahren ist.

– Das Beste, warf ich da ein, wäre doch, gleich sein Haus mitführen zu können!

– Als Schnecke! rief Banks.

– Lieber Freund, antwortete ich, eine Schnecke, die ihr Haus nach Belieben verlassen und auch wieder in dasselbe eintreten könnte, wäre wohl nicht allzu schwer zu beklagen. In seinem Hause zu reisen, das nach Wunsch da oder dorthin rollt, das wäre ja die höchste Potenz des Fortschritts im Reisen!

– Vielleicht, sagte da Oberst Munro; von der Stelle zu kommen, während man immer in seinen vier Pfählen weilt, seine ganze Umgebung und alle Erinnerungen, die daran hängen, mit sich zu nehmen, den Horizont, den Gesichtspunkt, Atmosphäre und Klima mit anderen zu vertauschen, ohne seine gewohnte Lebensweise zu ändern... ja, ja,... vielleicht!

[26] – Da umgeht man die für Reisende bestimmten Bungalows, fuhr Kapitän Hod fort, in denen der Comfort immer zu wünschen übrig läßt, und worin man nur mit Erlaubniß der Ortsbehörden verweilen darf!

– Ebenso wie die abscheulichen Gasthäuser, in denen Einem moralisch und physisch das Fell über die Ohren gezogen wird! bemerkte ich dazu nicht ohne Grund.

– Der Wagen der Quacksalber und Marktschreier! rief Kapitän Hod, aber in modernisirter Façon! Welch' schöner Traum! Anzuhalten, wenn man will, abzufahren, wenn es beliebt, zu Fuß neben her zu gehen, wenn man spazieren will, im Galopp zu fahren, wenn es darauf ankommt, nicht nur ein Schlafzimmer mitzunehmen, sondern auch den Salon, das Speise- und Rauchzimmer und vor Allem Küche und Koch dazu, das wäre ein Fortschritt, Freund Banks! Versuchen Sie, das zu widerlegen, Herr Ingenieur, versuchen Sie es!

– Ei, ei, Freund Hod, antwortete Banks, ich wäre ja vollkommen Ihrer Ansicht, wenn...

– Wenn?... wiederholte der Kapitän achselzuckend.

– Wenn Sie in Ihrem Fortschritts-Schnelllauf nur nicht urplötzlich angehalten hätten.

– Es giebt also noch Besseres?

– Nun, hören Sie. Sie erklären das bewegliche Haus für überlegen dem Waggon, dem Salonwagen, sogar den Sleping-cars der Eisenbahn. Sie haben recht, lieber Kapitän, wenn man Zeit zu verlieren hat, wenn man zum Vergnügen und nicht in Geschäften reist. Ich glaube, hierin stimmen wir Alle überein?

– Alle!« bestätigte man.

Der Oberst Munro nickte mit dem Kopfe als Zeichen seiner Zustimmung.

»Das ist also abgemacht, fuhr Banks fort. Nun weiter. Angenommen, Sie hätten sich an ein Doppelwesen, einen Wagenbauer-Architekten, gewendet und er erbauete Ihnen das gewünschte rollende Haus. Da steht es nun im besten Chic, allen Anforderungen eines Freundes des Comforts entsprechend. Es ist nicht allzu hoch, wodurch ihm das Umfallen erspart bleibt, nicht zu breit, um auf jedem Wege fort zu können, und sinnreich auf Federn befestigt, um leicht und bequem darin zu fahren. Mit einem Worte, es ist vollkommen. Ich nehme an, es wäre für unseren Freund, den Obersten, hergestellt worden. Er ladet uns Alle ein. Wir wollen meinetwegen die nördlichen Theile Indiens besuchen, [27] als Schnecken, aber als solche Schnecken, deren Schwanz nicht untrennbar mit dem Gehäuse verwachsen ist. Alles ist bereit. Man hat nichts vergessen... nicht einmal den Koch und die Küche, die dem Kapitän so sehr am Herzen liegen. Der Tag der Abreise ist gekommen; man schickt sich dazu an. All right!... Ja, wer wird es aber ziehen, Euer rollendes Haus, mein bester Freund?

– Wer? rief Kapitän Hod. Nun, Maulesel, Esel, Pferde, Büffel!

– Gleich zu Dutzenden? fragte Banks.

– Elephanten! versetzte Kapitän Hod, Elephanten! Das wäre herrlich und majestätisch! Ein Haus gezogen von einem Elephantengespann, von wohldressirten, stolzen Thieren, welche davongehen und galoppiren trotz der besten Kutschpferde der Welt!

– Das wäre großartig, Herr Kapitän.

– Ein Rajah-Zug auf dem Lande, Herr Ingenieur.

– Gewiß! Aber...

– Aber... was? Giebt es noch ein Aber? fiel ihm Kapitän Hod in's Wort.

– Ein großes Aber!

– O, über diese Ingenieurs! Sie taugen zu nichts, als überall Schwierigkeiten zu wittern!...

– Und sie zu beseitigen, wenn das überhaupt möglich ist, erwiderte Banks.

– So schaffen Sie sie beiseite!

– Das werde ich, und zwar folgendermaßen. Alle jene bewegenden Kräfte, lieber Munro, welche der Kapitän da aufgezählt hat, sie gehen wohl, sie schleppen, sie ziehen, aber – sie ermüden auch. Sie werden widerspenstig, eigenwillig, vorzüglich aber brauchen alle – Futter. Sobald nun Mangel an Weiden eintritt, da man doch nicht wohl fünfhundert Acres Wiesen mitnehmen kann, so steht das Gespann still, verliert die Kräfte, stürzt, stirbt vor Hunger, das rollende Haus bewegt sich nicht weiter und bleibt ebenso auf demselben Flecke, wie der Bungalow, in dem wir jetzt darüber sprechen. Daraus folgt, daß besagtes Haus nicht eher praktisch brauchbar werden wird, als bis es in der Gestalt eines Dampfhauses auftritt.

– Das natürlich auf Schienen läuft! rief der Kapitän achselzuckend.

– Nein, auf allen Wegen, entgegnete der Ingenieur, indem es von einer verbesserten Straßenlocomotive gezogen wird.

[28] – Bravo! jubelte der Kapitän, bravo! Von der Stunde an, wo Ihr Dampfhaus nicht mehr auf einem Schienenwege rollt und gehen kann, wohin es will, ohne jenem gebieterischen Eisenstrang folgen zu müssen, bin ich gern dabei!

– Aber, warf ich Banks noch ein, wenn Maulesel, Esel, Pferde, Büffel und Elephanten fressen, so braucht eine Maschine auch Nahrung, denn wenn es ihr an Brennmaterial fehlt, wird sie ebenso unterwegs stehen bleiben.

– Ein Dampfroß, antwortete Banks, entwickelt die Kräfte von drei bis vier gewöhnlichen Pferden, und diese Leistung kann im Nothfall auch noch gesteigert werden. Das Dampfroß unterliegt keiner Ermüdung, keiner Krankheit. Jederzeit, unter jeder Breite, jeder Sonne, unter Regen und Schnee geht es ohne Erschöpfung weiter. Es braucht nicht einmal die Angriffe wilder Thiere zu fürchten, nicht den Biß der Schlangen, nicht den Stich der Bremsen oder anderer lästiger Insecten. Es bedarf nicht des Stachels des Büffeltreibers, nicht der Peitsche der Wagenführer. Ihm ist auszuruhen unnöthig, der Schlaf unbekannt. Das aus der Hand des Menschen hervorgegangene Dampfroß ist, wenn man nur dessen Zweck im Auge behält und nicht auch von ihm erwartet, daß es einmal am Spieße gebraten werden könne, allen Zugthieren überlegen, welche die Vorsehung den Menschen gegeben hat. Etwas Oel oder Fett, ein wenig Kohle oder Holz, das ist Alles, was es verzehrt. Sie wissen aber, meine Freunde, daß auf der indischen Halbinsel an Wäldern kein Mangel ist und das Holz Jedem gehört, der es nimmt.

– Sehr schön, rief Kapitän Hod. Ein Hurrah dem Dampfrosse! Ich sehe schon des Ingenieur Banks' rollendes Haus auf den Landstraßen Indiens dahingezogen, wie es durch die Dschungeln dringt, schnaubend tief in die Wälder zieht, sich vorwagt bis zu der Höhle des Löwen, des Panthers, Tigers, des Bären, Leoparden und des Guepards; unter dem Schutze seiner Mauern erlegen wir Hekatomben von Raubthieren und stechen die Anderson, Gérard, Pertuiset, Chassaing und alle Nimrods der Welt aus! O, Banks, mir läuft das Wasser im Munde zusammen, Sie lassen es mich bedauern, nicht fünfzig Jahre später geboren zu sein!

– Und weshalb, Herr Kapitän?

– Weil Ihr Traum in fünfzig Jahren in Erfüllung gehen und das Dampfhaus gebaut sein wird.

– Das ist schon so gut wie geschehen, antwortete einfach der Ingenieur.

– Geschehen und vielleicht durch Sie?

[29] – Durch mich, und ich fürchte dabei nur das Eine, daß es Ihren Traum noch übertreffen dürfte...

– An's Werk, Banks, an's Werk!« rief Kapitän Hod, der wie von einem elektrischen Schlage getroffen aufsprang und zur Abreise schon bereit schien.

Der Ingenieur beruhigte ihn durch eine Handbewegung, dann wendete er sich mit ernster Stimme an Sir Edward Munro.

»Edward, sagte er, wenn ich Dir ein rollendes Haus zur Verfügung stelle, wenn ich nach einem Monat bei Eintritt der besseren Jahreszeit komme und zu Dir sage: Hier ist Dein Zimmer, das sich fortbewegt und geht, wohin Du willst, hier Deine Freunde, Maucler, Kapitän Hod und ich, welche lebhaft wünschen, Dich auf einem Ausfluge nach dem Norden Indiens zu begleiten, wirst Du mir dann antworten: »Brechen wir auf, Banks, brechen wir auf, und möge der Gott der Reisenden uns behüten?«

– Ja, meine Freunde, antwortete Oberst Munro nach kurzer Ueberlegung. Banks, ich stelle Dir die nöthigen Mittel zur Verfügung. Halte Dein Versprechen! Bring' uns das ideale Dampfhaus, das Hod's Träume noch übertrifft, und wir streifen durch ganz Indien!

– Hurrah! Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, und wehe dem Raubzeug an den Grenzen von Nepal!«

Da erschien, herbeigelockt durch die Hurrahs des Kapitäns, der Sergeant Mac Neil in der Thür.

»Mac Neil, redete der Oberst ihn an, wir reisen in einem Monat nach dem Norden von Indien ab. Du bist doch dabei?

– Selbstverständlich, Herr Oberst, da Sie ja dabei sind!« antwortete der Sergeant Mac Neil.

Fußnoten

1 Eine Frau ohne Titel, welche einen Baronet oder Ritter heirathet, erhält den Titel Lady vor dem Namen ihres Mannes. Diese Bezeichnung als Lady darf aber nicht dem Taufnamen vorgesetzt werden, was allein den Töchtern der Peers gestattet ist.

2 Ein unübersetzbares Wortspiel, da »convoi« im Französischen sowohl »Eisenbahnzug«, als auch »Trauergeleite« bezeichnet.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Der Aufstand der Sipahis.

Einige Zeilen werden uns im Allgemeinen darüber belehren, in welchem Zustande sich Indien zur Zeit unserer Erzählung befand, und vorzüglich über jenen gewaltigen Aufstand der Sipahis, dessen Hauptzüge wir im Folgenden vorführen.

Im Jahre 1600 unter der Regierung Elisabeth's entstand auf dem heiligen Boden von Aryawarta, inmitten einer Bevölkerung von zweihundert Millionen Seelen, von der hundertzwölf Millionen der Hindu-Religion angehörten, die ehrenwerthe Indische Compagnie, bekannt unter dem Spitznamen »Old John Company«.

Dieselbe bildete anfangs nur eine »Vereinigung von Kaufleuten, die mit Ostindien in Verkehr standen«, und an deren Spitze der Herzog von Cumberland trat.

Jener Zeit nahm die in Indien früher so ausgedehnte Macht Portugals schon merklich ab. Die Engländer machten sich diese Verhältnisse zunutze und schritten zu dem Versuche, in der Präsidentschaft Bengalen, deren Hauptstadt Calcutta der Mittelpunkt einer neuen Regierung werden sollte, eine politische und militärische Administration einzuführen. Zuerst besetzte die Provinz das von England geschickte 39. Regiment der königlichen Armee. Daher stammt die Inschrift, welche es noch jetzt auf seiner Fahne führt,»Primus in Indiis«.

Inzwischen war, ziemlich zu derselben Zeit und unter der Patronage Colbert's, eine französische Gesellschaft zusammengetreten, welche das nämliche Ziel verfolgte, wie die Vereinigung der Londoner Kaufleute. Aus dieser Rivalität entstanden natürlich manche Reibungen und langdauernde Kämpfe mit wechselndem Erfolge, in welche sich unter Anderen die Dupleix, Labourdonnais und Lally Tollendal auszeichneten. Zuletzt mußten die von der Uebermacht erdrückten Franzosen Karnatik verlassen, jenes Gebiet der Halbinsel, das einen Theil der östlichen Küste umfaßt.

Von den früheren Mitbewerbern befreit und weder von Portugal noch von Frankreich etwas fürchtend, strebte Lord Clyve danach, den Erwerb Bengalens [31] zu sichern, zu dessen General-Gouverneur Lord Hastings ernannt wurde. Zum Zweck einer brauchbaren und dauernden Administration wurden nun verschiedene Reformen durchgesetzt. Als die so mächtige und alles in sich aufnehmende Indische Compagnie aber auf der Höhe ihrer Macht stand, traf sie ein Schlag, der ihre wichtigsten Lebensinteressen verletzte. Einige Jahre später, im Jahre 1784, brachte Pitt


Die Brahmanen entflammten die Gemüther. (S. 35.)

noch mehrere Abänderungen ihrer ursprünglichen Charte in Vorschlag. Die Gewalt sollte danach in die Hand der Räthe der Krone übergehen. Die Folge dieser neuen Ordnung der Dinge war, daß die Compagnie [32] im Jahre 1813 das Monopol des Handels in Indien und 1833 das chinesische Handelsmonopol verlieren sollte.


Sie brauchen mich nicht festbinden zu lassen. (S. 38.)

Hatte England nun auch nicht ferner mit fremden Mächten auf der Halbinsel zu kämpfen, so mußte es doch viele langwierige Kriege führen, theils mit den früheren Besitzern des Landes, theils mit den letzten asiatischen Eroberern dieser Gebiete.

Hierher gehört z.B. unter Lord Cornwallis, 1784, der Kampf gegen Tippo Sahib, der am 4. Mai 1799 beim letzten Angriffe des General Harris auf [33] Seringapatam getödtet wurde. Ferner der Krieg mit den Maharatten, einer im 18. Jahrhundert noch sehr mächtigen Race, sowie der Kampf mit den Pindarris, welche so heldenmüthigen Widerstand leisteten. Ferner der Krieg gegen die Gourgkhas von Nepal, jene kühnen Bergbewohner, die sich bei der harten Probe des Jahres 1857 als treue Verbündete der Engländer bewähren sollten. Endlich der Krieg mit den Birmanen, 1823-1824.

Im Jahre 1828 waren die Engländer, direct oder indirect, die Herren eines großen Theiles des Reiches. Mit Lord William Bentinck begann eine neue administrative Aera.

Seit Regulirung der Wehrkräfte Indiens hatte die Armee von jeher aus zwei völlig verschiedenen Contingenten bestanden, aus dem europäischen Heerestheile und dem der Eingebornen oder Natifs. Der erstere bildete die königliche Armee mit Cavallerie-Regimentern, Infanterie-Bataillonen und mehreren Bataillonen europäischer Infanterie im Dienste der Indischen Compagnie; der zweite bestand aus der Natifs-Armee und enthielt Infanterie- und Cavallerie-Bataillone, doch wurden die Eingebornen von englischen Officieren befehligt. Hierzu trat noch die Artillerie, deren der Compagnie angehörende Mannschaften, mit Ausnahme einiger Batterien, lauter Europäer waren.

Die Kopfzahl dieser Regimenter oder Bataillone, welche in der königlichen Armee ohne Unterschied so bezeichnet werden, erreichte für die Infanterie elfhundert Mann per Bataillon bei der Armee von Bengalen, und acht- bis neunhundert bei den Armeen von Bombay und Madras; bezüglich der Cavallerie rechnete man sechshundert Säbel auf jedes Regiment beider Armeen.

Nach den sehr genauen Angaben de Velbezen's, in seinem höchst beachtenswerthen Buche »Neue Studien über die Engländer und Indien«, 1857, konnte man »die eingebornen Truppen auf zweimalhunderttausend, die europäischen Truppen aus allen drei Präsidentschaften auf fünfundvierzigtausend schätzen.«

Die Sipahis, ein reguläres Corps unter englischen Officieren, waren von jeher nicht abgeneigt, das Joch der europäischen Disciplin abzuschütteln, das ihre Besieger ihnen aufbürdeten. Schon im Jahre 1806 hatte die in Vallore cantonnirende Garnison von Madras, vielleicht auf Anstiften des Sohnes Tippo Sahib's, die Feldwache des 69. Regimentes der königlichen Armee ermordet, die Kaserne in Brand gesteckt, die Officiere und deren Familien umgebracht und selbst in den Lazarethen die kranken Soldaten erschossen. Was war aber die Ursache dieser Empörung, wenigstens die äußerliche? Angeblich eine die Schnurrbärte, [34] die Haartracht und die Ohrringe betreffende Frage, in Wahrheit der Haß der Unterdrückten gegen die Sieger.

Diese erste Erhebung wurde durch die in Ascol garnisonirende königliche Macht schnell niedergeworfen.

Ein ähnlicher Grund – auch nur ein Vorwand – sollte auch 1857 den ersten Anstoß zu der Erhebung geben, zu einem weit furchtbareren Aufstande, der vielleicht die Macht Englands in Indien vernichtet hätte, wenn die eingebornen Truppen der Präsidentschaften Madras und Bombay sich an demselben betheiligten.

Vor Allem muß man aber vor Augen behalten, daß dieser Aufstand des nationalen Charakters entbehrte. Die Hindus des Landes wie der Städte hielten sich demselben vollständig fern. Uebrigens beschränkte er sich auf die halb unabhängigen Staaten Central-Indiens, auf die Nordwest-Provinzen und das Königreich Audh. Das Pendjab mit seinen drei Schwadronen Kaukasus-Indiern blieb den Engländern treu. Treu blieben auch die Shiks, jene Arbeiter der unteren Kaste, die sich bei der Belagerung Delhis besonders auszeichneten; ferner die Gourgkhas, welche der Rajah von Nepal in der Zahl von zwölftausend zur Belagerung Laknaus herbeiführte; endlich die Maharajahs von Gwalior und Pattyala, der Rajah von Rampore, die Rani von Bhopal, welche ihre militärische Ehre bewahrten, oder, um den unter den Natifs von Indien gewöhnlichen Ausdruck zu gebrauchen, »dem Salz treu blieben«.

Zu Anfang der Empörung stand der General-Gouverneur Lord Canning an der Spitze der Verwalkung. Vielleicht täuschte sich dieser Staatsmann über die Tragweite der Bewegung. Schon seit einigen Jahren erblich der Stern des Vereinigten Königreichs sichtlich am Hindu-Himmel. Der Rückzug aus Kabul 1848 verminderte das frühere Ansehen der europäischen Eroberer nur noch mehr. Auch im Krim-Kriege befand sich die englische Armee nach manchen Seiten hin nicht auf der Höhe der Situation. Da dachten die Sipahis, welche von den Vorfällen am Schwarzen Meere eingehende Nachrichten erhielten, schon an die Möglichkeit, daß eine Erhebung der eingebornen Truppen wohl von Erfolg sein könne. Es bedurfte nur noch eines Funkens zur Entflammung der Gemüther, die durch ihre Dichter und Sänger, die Brahmanen und die »Moulvis«, hinlänglich vorbereitet waren.

Diese Gelegenheit bot sich 1857, als der Bestand der königlichen Armee in Folge äußerer Verwickelungen gerade nicht unerheblich geschwächt war.

[35] Zu Anfang genannten Jahres begab sich Nana Sahib, oder Nabab Dandou-Pant, der in der Nähe von Khanpur residirte, erst nach Delhi und dann nach Laknau, offenbar um die von langer Hand her vorbereitete Erhebung in's Leben zu rufen. Wirklich brach kurze Zeit nach der Abreise Nana's die insurrectionelle Bewegung offen aus.

Die englische Regierung hatte in der Natifs-Armee eben die Einfield-Büchse eingeführt, bei deren Gebrauch eingefettete Patronen in Anwendung kommen. Da verbreitete sich plötzlich das Gerücht, dieses Fett rühre theils von Kühen, theils von Schweinen her, je nachdem die Patronen für die Hindus oder Muselmanen der eingebornen Armee bestimmt seien.

In einem Lande nun, in welchem sich die Einwohner sogar der Seife enthalten, weil das Fett eines geheiligten oder verbotenen Thieres in deren Zusammensetzung eingegangen sein könne, konnte die Verwendung solcher mit Fett bestrichenen Patronen, die übrigens mit den Zähnen zerrissen werden mußten, nicht ohne Schwierigkeit durchgeführt werden. Die Regierung trug den ihnen gemachten Vorstellungen theilweise Rechnung; trotzdem aber, daß sie die Handhabung des Gewehrs modificirte und die Versicherung gab, daß zu den Patronen kein solches verpöntes Fett verwendet werde, gelang es ihr damit doch nicht, in der Armee der Sipahis auch nur einen Mann zu überzeugen und zu beruhigen.

Am 24. Februar verweigerte das 34. Regiment in Berampore die Entgegennahme der Patronen. Mitte März wird ein Adjutant ermordet, und trägt das nach Hinrichtung der Mörder entlassene Regiment den Keim der Empörung in die benachbarten Provinzen.

Am 10. Mai erheben sich in Miral, etwas nördlich von Delhi, das 3., 11. und 20. Regiment, die Meuterer ermorden ihre Obersten und einige Stabsofficiere; plündern die Stadt und ziehen sich dann nach Delhi zurück. Dort schließt sich ihnen der Rajah, ein Nachkomme Timur's, an, das Zeughaus fällt in ihre Hand und die Officiere des 54. Regiments werden niedergemetzelt.

Am 11. Mai werden in Delhi der Gouverneur Fraser und seine Officiere, sogar im Palaste des europäischen Commandanten, schonungslos massacrirt, und am 16. Mai fallen neunundvierzig Gefangene, Männer, Frauen und Kinder, unter dem Beile der Mörder.

Am 20. Mai tödtete das nahe bei Lahore cantonnirende Regiment den Hafencommandanten und den europäischen Sergeant-Major.

[36] Nun war die fürchterlichste Metzelei in Gang gebracht.

Am 28. Mai fallen in Nourabad weitere Opfer unter den anglo-indischen Officieren.

Am 30. Mai im Cantonnement von Laknau, Ermordung des Brigade-Commandanten, seines Adjutanten und mehrerer Officiere.

Am 31. Mai zu Bareilli in Rohilkhande, Niedermetzelung einiger überraschter Officiere, die sich nicht zu vertheidigen vermögen.

Am nämlichen Tage, in Shajahanpore, Ermordung des Steuereinnehmers und einer Anzahl Officiere durch Sipahis vom 38. Regiment, und am nächsten Tage, jenseits Bavar, Ueberfall und Abschlachtung vieler Officiere, Frauen und Kinder, auf der Flucht nach der, eine Meile von Aurungabad gelegenen Station Sivapore.

In den ersten Tagen des Juni in Bhopal, Ermordung eines Theiles der europäischen Einwohnerschaft, und in Jansi, unter der Hetzerei der furchtbaren abgesetzten Rani, grausame Abschlachtung vieler in das Fort geflüchteter Frauen und Kinder.

Am 6. Juni erliegen in Allahabad sechs junge Fähnriche den Streichen der Sipahis.

Am 14. Juni Erhebung zweier Natifs-Regimenter in Gwalior und Ermordung der Officiere.

Am 27. Juni, in Khanpur, die erste Hekatombe von Opfern jeden Alters und Geschlechts, welche erschossen oder ertränkt werden, das Vorspiel zu dem furchtbaren Drama, das mehrere Wochen später Schrecken und Entsetzen verbreiten sollte.

In Holkar, am 1. Juli, Ermordung von vierunddreißig Europäern, Officieren, Frauen und Kindern, Plünderung, Brandstiftung, und in Ugow gleichzeitig Ermordung des Obersten und des Adjutanten vom 23. Regiment der königlichen Armee.

Am 15. Juli zweiter Massenmord in Khanpur. An diesem Tage wurden mehrere Kinder und Frauen – unter diesen auch Lady Munro – mit einer Grausamkeit ohne Gleichen auf Befehl Nana Sahib's umgebracht, der die muselmännischen Metzger aus den Schlachthäusern dabei Hilfe leisten ließ. Es gab ein schreckliches Gemetzel, nach dem die Körper der Erschlagenen in einen legendenhaft gewordenen Schacht gestürzt wurden. Am 26. September säbelte man auf einem Platze Laknaus, der seitdem der »Square der Bahren« genannt wird, [37] zahlreiche schon Verwundete nieder und warf sie noch lebend in's Feuer. In den Städten und auf dem Lande kamen daneben noch viele vereinzelte Mordthaten vor, welche dieser Erhebung den Stempel der wildesten Grausamkeit aufdrückten.

Auf diese Schandthaten antworteten die englischen Generale sofort mit entsprechenden Repressalien, welche vielleicht nothwendig sein mochten, um dem englischen Namen unter den Empörern Achtung einzuflößen, die aber an und für sich wirklich furchtbar waren.

Im Anfang der Erhebung hatte der Ober-Auditeur Montgommery und der Brigadier Corbett unter dem Schutze von zwölf Kanonen mit brennender Lunte ohne Blutvergießen das 8., 16., 26. und 49. Regiment der eingebornen Armee zu entwaffnen vermocht. Ebenso hatten das 62. und 29. Regiment in Moultan, ohne ernsthaften Widerstand leisten zu können, die Waffen ablegen müssen. Auch in Peschavar wurden das 24., 27. und 51. Regiment durch den Brigadier S. Colton und den Oberst Nicholson kurz vor Ausbruch eines Aufstandes entwaffnet. Auf die Köpfe der entflohenen Officiere des 51. Regimentes wurden Preise ausgeschrieben und Alle durch die Bewohner der benachbarten Berge bald wieder zugeführt.

Das war der Anfang der Repressalien.

Eine von Oberst Nicholson commandirte Colonne setzte sich gegen ein nach Delhi marschirendes Natifs-Regiment in Bewegung. Letzteres wurde bald erreicht, geschlagen, zerstreut und hundertzwanzig Gefangene kehrten nach Peschavar zurück, die Alle sofort zum Tode verurtheilt, aber nur jeder dritte Mann erschossen wurden. Auf dem Exercierplatz fuhr man zehn Kanonen auf, vor die Mündung einer jeden wurde je ein Gefangener gebunden, und viermal gaben die zehn Kanonen Feuer, wobei sie die Umgebung mit unförmlich zerfetzten Stücken der Todten bedeckten, über denen eine von dem verbrannten Fleisch verpestete Atmosphäre lagerte.

Nach Belbezen starben diese Verurtheilten fast Alle mit jenem heroischen Gleichmuth, den die Indier gegenüber dem Tode so gut zu bewahren wissen.

»Herr Kapitän, sagte zu einem der die Execution leitenden Officiere ein hübscher Sipahi von zwanzig Jahren, während er das furchtbare Todesinstrument mit der Hand streichelte, Herr Kapitän, Sie brauchen mich nicht festbinden zu lassen, ich habe keine Lust zu entfliehen!«

Das war die erste, entsetzliche Hinrichtung, der noch so viele folgen sollten.

[38] Der Tagesbefehl, welchen an jenem Tage der Brigadier Chamberlain in Lahore nach Hinrichtung zweier Sipahis vom 55. Regiment erließ, lautete übrigens wie folgt:

»Ihr habt eben gesehen, wie zwei Eurer Kameraden lebend vor den Lauf der Kanonen gebunden und in Stücke zerrissen wurden; die gleiche Strafe wird jeden Verräther treffen. Euer Bewußtsein wird Euch die Leiden verkünden, welchen jene in der anderen Welt unterliegen. Die beiden Soldaten wurden durch Kanonen und nicht durch den Galgen vom Leben zum Tode befördert, weil ich ihnen die Verunreinigung durch die Berührung des Henkers ersparen und den Beweis liefern wollte, daß die Regierung auch in diesen Tagen der Gefahr nichts thun will, was Euren religiösen und Kasten-Anschauungen zu nahe treten könnte.«

Am 30. Juli fielen nach und nach zwölfhundertsiebenunddreißig Gefangene von den Kugeln und fünfzig Andere entgingen demselben Tode nur dadurch, daß sie in dem Gefängnisse, worin man sie verwahrte, vorher vor Hunger starben oder erstickten.

Am 28. August wurden von achthundertsiebzig Sipahis, die aus Lahore flohen, von den Soldaten der königlichen Armee nicht weniger als sechshundertfünfzig ohne Erbarmen niedergemacht.

Nach der Einnahme von Delhi, am 23. September, ergaben sich drei Prinzen der königlichen Familie, der präsumtive Thronerbe und seine beiden Vettern, auf Gnade und Ungnade dem General Hudson, der sie mit einer Bedeckung von nur fünf Mann durch eine drohende Menge von wenigstens fünftausend Hindus – 1 gegen 1000 – abführte. Auf halbem Wege ließ Hudson den Wagen mit den Gefangenen anhalten, stieg selbst ein, befahl ihnen, die Brust zu entblößen, und streckte Alle durch drei Revolverschüsse nieder.

»Diese blutige Execution von der Hand eines englischen Officiers, sagt Velbezen, erregte im Pendjab die höchste Bewunderung.«

Nach der Einnahme von Delhi endigten dreihundert Gefangene durch die Kanonen oder den Galgen, unter ihnen neunundzwanzig Angehörige der königlichen Familie. Freilich hatte die Belagerung der Stadt zweitausendeinhunderteinundfünfzig Europäer und sechzehnhundertsechsundachtzig Eingeborne gekostet.

In Allahabad ereigneten sich entsetzliche Menschenschlächtereien, weniger unter den Sipahis, als unter dem anderen Volk, das von Fanatikern fast unbewußt zum Plündern veranlaßt worden war.


General Hudson ließ den Wagen anhalten. (S. 39.)

Am 16. September bedeckten in Laknau die Leichen von zweitausend erschossenen Sipahis einen Raum von hundertfünfzig Meter im Quadrat.

Nach dem Massacre in Khanpur zwang der Oberst Neil die Verurtheilten, bevor er sie dem Galgen überlieferte, je nach ihrer Kaste, jeden Blutfleck, der sich [39] noch in dem Hause vorfand, in dem vormals jene Opfer fielen, zu reinigen und mit der Zunge abzulecken. Vom Standpunkt der Indier aus war das die schimpflichste Entehrung vor dem Tode. Während der Expedition in Central-Indien folgten sich die Hinrichtungen der Gefangenen unaufhörlich und unter


Dieser General erzwang den Durchgang durch die Defilés. (S. 44.)

[40]

dem Knattern der Gewehre »sanken ganze Mauern von Menschenfleisch zur Erde«. Bei Gelegenheit der zweiten Belagerung von Laknau wurde nach dem Angriffe auf das Gelbe Haus am 9. März 1858, nachdem viele Sipahis niedergemetzelt waren, einer der unglücklichen Gefangenen von den Shiks, und noch dazu unter den Augen der englischen Officiere, lebendig geröstet.

Am 11. füllten fünfzig Leiber der Sipahis die Gräben des Palastes der Begum in Laknau, ohne daß auch nur ein Verwundeter von den Soldaten, die sich nicht mehr zu zügeln vermochten, verschont worden wäre.

[41] An zwölf Gefechtstagen kamen dreitausend Natifs durch den Strick oder die Kugel um's Leben, und unter ihnen dreihundertachtzig auf der Insel Hidaspe angesammelte Flüchtlinge, die sich bis nach Kaschmir zu retten vermocht hatten.

Alles in Allem, ohne die Sipahis zu zählen, welche mit den Waffen in der Hand, getödtet wurden, findet man, daß bei diesen unbarmherzigen Repressalien, bei denen von Gefangenen keine Rede sein konnte, nur in dem Pendjab-Feldzuge nicht weniger als sechshundertachtundzwanzig Eingeborne durch die Militärbehörden entweder standrechtlich erschossen oder vor die Mündung der Kanonen gebunden wurden, neben dreizehnhundertsiebzig Mann, welche von den Civilbehörden, und dreihundertsechsundachtzig, die auf Anordnung beider öffentlichen Gewalten gehenkt wurden.

Zu Anfang des Jahres 1859 schätzte man die Zahl der hingeschlachteten eingebornen Officiere und Soldaten auf hundertzwanzigtausend, neben zweimalhunderttausend Civilpersonen, die für ihre, manchmal gewiß zweifelhafte Theilnahme an dem Aufstande mit dem Leben büßen mußten. Eine schreckliche Wiedervergeltung, gegen welche Gladstone im englischen Parlament gewiß mit Recht protestirte. Für die folgende Erzählung erscheint es wichtig, die Bilanz dieses ungeheuren Nekrologs zu ziehen, weil der Leser daraus ersieht, welch' ungelöschter Haß in den Herzen der nach Rache dürstenden Besiegten ebenso zurückbleiben mußte wie in denen der Sieger, die noch zehn Jahre später Trauer trugen um die Opfer von Khanpur und Laknau.

Die eigentlichen militärischen Vorgänge in dem gegen die Rebellen geführten Feldzuge bestehen aus folgenden Expeditionen, die wir hier in Kürze aufzählen.

Den Anfang macht der Feldzug im Pendjab, der Sir John Laurence das Leben kostete.

Dann kommt die Belagerung von Delhi, jenes durch Tausende von Flüchtlingen verstärkten Mittelpunktes der Rebellion, in welchem Mohammed Schah Bahadour zum Kaiser von Hindostan ausgerufen wurde.

»Machen Sie mit Delhi ein Ende!« hatte der General-Gouverneur in seiner letzten Depesche an den commandirenden General gebieterisch verlangt, und die in der Nacht des 13. Juni begonnene Belagerung endigte am 19. September, nachdem die Generale Sir Harry Barnard und John Nicholson dabei gefallen waren. Zur gleichen Zeit begann General Havelock, nachdem Nana Sahib sich hatte zum Peïschwah erklären und in der Citadelle von Bilhour krönen lassen, seinen Marsch auf Khanpur. Er erzwang sich den Eingang am 17. Juli, leider [42] zu spät, um die letzte Metzelei zu verhindern und sich Nana's zu bemächtigen, dem es glückte, mit fünftausend Mann und vierzig Geschützen zu entkommen.

Nachher unternahm Havelock seinen ersten Zug in das Königreich Audh und überschritt mit nur siebzehntausend Mann und zehn Kanonen am 28. Juli den Ganges, auf dem Wege nach Laknau.

Nun traten auch Sir Colin Campbell und Generalmajor Sir James Outram mit in's Feld. Die Belagerung von Laknau nahm siebenundachtzig Tage in Anspruch und kostete Sir Henri Lavrence und dem General Havelock das Leben. Darauf bereitete sich Colin Campbell, nachdem er gezwungen worden war, nach Khanpur zurückzukehren, das er nun dauernd in seine Gewalt brachte, zu einem zweiten Zuge vor.

Inzwischen entsetzten andere Truppen Mohir, eine Stadt Central-Indiens, und machten einen Vorstoß durch Malva, der die englische Autorität in jenem Königreiche wieder herstellte.

Anfangs 1858 begannen Campbell und Outram in Audh einen zweiten Feldzug mit vier Divisionen Infanterie, welche von den Generalmajoren Sir James Outram, Sir Edward Lugar und den Brigadiers Walpole und Franks befehligt wurden. Die Cavallerie stand unter Sir Hope Grant, die Specialwaffen unter Wilson und Robert Napier, – zusammen etwa fünfundzwanzigtausend Combattanten, denen sich noch der Rajah von Nepal mit gegen zwölftausend Gourgkhas anschloß. Die Rebellen-Armee der Begum zählte auch nicht weniger als hundertzwanzigtausend Mann und die Stadt Laknau sieben- bis achthunderttausend Einwohner. Der erste Angriff ging am 6. März vor sich. Am 16. waren die Engländer nach einer Reihe von Gefechten, bei denen der Seekapitän Sir Willian Peel und der Major Hudson fielen, im Besitz des auf der Goumti gelegenen Theiles der Stadt. Trotz dieser errungenen Vortheile leisteten die Begum und ihre Söhne im Palaste des Mousa Bagh, im äußersten Nordwesten von Laknau, hartnäckigen Widerstand, und auch der Moulvi, der mohammedanische Chef des Aufstandes, der in das Centrum der Stadt geflüchtet war, schlug es aus, sich zu ergeben. Ein Angriff Outram's am 19. und ein glücklicher Kampf am 21. brachten den Engländern endlich den vollen Besitz dieses furchtbaren Bollwerkes des Aufstandes der Sipahis.

Mit dem Monat April trat die Erhebung in ihre letzte Phase. Es wurde noch ein Zug nach Rohilkhande unternommen, wohin sich eine große Menge flüchtiger Rebellen zurückgezogen hatte. Zuerst wendeten sich die Anführer der [43] königlichen Armee gegen Bareilli, die Hauptstadt des Königreichs. Zu Anfang ging es dabei nicht besonders glücklich. Bei Judgespore erlitten die Engländer sogar eine Art Niederlage. Der Brigadier Andrien Hope ward getödtet. Gegen Ende des Monats aber kam Campbell an, nahm Schah-Jahanpore wieder ein und griff am 5. Mai Bareilli selbst an, das er in Brand schoß und überwältigte, ohne freilich das Entweichen der Rebellen verhindern zu können.

Inzwischen eröffnete Sir Hugh Rose seinen Feldzug in Central-Indien. In den ersten Tagen des Januar 1858 marschirte dieser General quer durch das Königreich Bhopal nach Saungor, befreite dessen Besatzung am 3. Februar, nahm zehn Tage später das Fort von Gurakota ein, erzwang den Durchgang durch die Defilés der Vindhyas-Kette im Passe von Mandanpore, überschritt die Betiva, gelangte nach Jansi, das von elftausend Aufständischen unter Führung der wilden Rani vertheidigt wurde, cernirte es unter brennender Hitze am 22. März, entsandte dann zweitausend Mann von der Belagerungs-Armee, um zwanzigtausend Mann des Contingents von Gwalior, die der berüchtigte Tantia-Topi befehligte, den Weg zu versperren, warf den genannten Rebellen-Chef über den Haufen, griff die Stadt am 2. April an, erstürmte die Mauern, eroberte die Citadelle, aus der die Rani mit genauer Noth entkam, nahm dann die Operationen gegen das Fort von Calpi auf, in dem die Rani und Tantia-Topi zu sterben entschlossen waren, bemächtigte sich desselben durch einen heldenmüthigen Sturm am 22. Mai, machte sich von hier aus zur Verfolgung der Rani und ihres Begleiters auf, die sich nach Gwalior geworfen hatten, zog daselbst am 16. Juni seine zwei Brigaden zusammen, die durch den Brigadier Napier noch weitere Verstärkungen erhielten, vernichtete die Aufständischen in Morar, unterwarf den Platz selbst am 18. und kehrte nach einem wirklichen Triumphzuge nach Bombay zurück.

Während eines Vorpostengefechtes vor Gwalior fand auch die Rani ihr Ende. Diese dem Nabab völlig ergebene, gefürchtete Königin, seine treueste Bundesgenossin während des ganzen Aufstandes, fiel von Sir Edward Munro's eigener Hand. Nana Sahib über der Leiche der Lady Munro in Khanpur, und der Oberst über der Leiche der Rani in Gwalior, das waren zwei Männer, welche den Aufstand und die Unterdrückung repräsentirten, zwei Feinde, deren Haß schreckliche Folgen haben mußte, wenn sie sich einmal begegneten.

Von nun an kann man den Aufstand als gezügelt ansehen, höchstens mit Ausnahme einzelner Theile des Königreichs Audh. Campbell zog deshalb am [44] 2. November noch einmal in's Feld, bemächtigte sich der letzten Stellungen der Rebellen und nöthigte noch einige hervorragende Führer zur Unterwerfung. Einer derselben, Beni Madho, wurde indeß nicht ergriffen. Im Laufe des Decembers hörte man, daß er sich in einen Grenzdistrict von Nepal zurückgezogen habe. Man behauptete auch, daß sich Nana Sahib, Balao Rao, sein Bruder, und die Begum von Audh, bei ihm befänden. In den letzten Tagen des Jahres tauchte dann das Gerücht auf, die Genannten hätten auf Rapti, nahe der Grenze zwischen Nepal und Audh, Zuflucht gesucht. Campbell bedrängte sie ohne Unterlaß, doch gelang es ihnen, die Grenze zu überschreiten. Erst Anfang Februar 1859 vermochte eine englische Brigade, von der ein Regiment unter dem Befehl des Oberst Munro stand, sie in Nepal weiter zu verfolgen. Beni Madho fand dabei den Tod, die Begum von Audh und ihr Sohn dagegen wurden gefangen und erhielten Erlaubniß, in der Hauptstadt von Nepal zu wohnen. Nana Sahib und Balao Rao hielt man schon lange für todt. Sie waren es nicht.

Jedenfalls durfte man den furchtbaren Aufstand als unterdrückt betrachten. Tantia-Topo wurde durch seinen Lieutenant Man Singh ausgeliefert, zum Tode verurtheilt und am 15. April in Sipei hingerichtet. Der Rebell, »eine wirklich beachtenswerthe Erscheinung in dem Drama des indischen Aufstandes, sagt de Velbezen, der sich als ein politischer Kopf voll der kühnsten Pläne erwies«, starb muthig auf dem Schaffot.

Das Ende der Erhebung der Sipahis, welche den Engländern vielleicht Indien gekostet hätte, wenn sie sich über die ganze Halbinsel verbreitet und vorzüglich, wenn der Aufstand einen nationalen Charakter gehabt hätte, verursachte doch auch die Auflösung der ehrenwerthen Ostindischen Compagnie.

Schon seit Ende des Jahres 1857 bedrohte Lord Palmerston den Hof der Directoren mit deren Absetzung.

Am 1. November 1858 verkündete eine in zwanzig Sprachen veröffentlichte Bekanntmachung, daß Ihre Majestät Victoria Beatrix, Königin von Großbritannien, das Scepter von Indien ergreife, zu dessen Kaiserin sie mehrere Jahre später erhoben werden sollte.

Das war das Werk des Lord Stanley.

Die wichtigste Anordnung der neuen Regierung bestand darin, daß der Titel eines Vicekönigs an Stelle desjenigen eines Gouverneurs trat, ein Staatssecretär und fünfzehn Mitglieder der Centralregierung, wie die Mitglieder des [45] Rathes von Indien aus dem indischen Dienste neu aufgestellt, die Gouverneure der Präsidentschaften Madras und Bombay von der Königin ernannt, die Beamten des indischen Dienstes und die Obercommandanten aber von dem Staatssecretär erwählt wurden.

Die königliche Armee zählt jetzt siebzehntausend Mann mehr als vor dem Sipahi-Aufstande, nämlich zweiundfünfzig Regimenter Infanterie, neun Regimenter Füseliere und eine beträchtliche Artillerie, fünfhundert Säbel für jedes berittene Regiment und siebenhundert Bajonette in jedem Infanterie-Regiment.

Die Natifs-Armee besteht aus hundertsiebenunddreißig Regimentern Infanterie und vierzig Regimentern Cavallerie; ihre Artillerie ist aber fast ohne Ausnahme europäisch.

Das sind die heutigen Verhältnisse der Halbinsel in administrativer und militärischer Hinsicht, das die wirklich vorhandene Wehrkraft, welche ein Gebiet von vierhunderttausend Quadratmeilen bewacht.

»Die Engländer haben das Glück gehabt, sagt Grandidier ganz richtig, in jenem großen und prächtigen Lande ein sanftes, gewerbfleißiges und nicht ungebildetes Volk zu treffen, das seit langer Zeit an fremdes Joch gewöhnt war. Dennoch mögen sie sich hüten; auch die Sanftmuth hat ihre Grenzen, und wenn das Joch zu drückend würde, erheben sich eines Tages die Köpfe und brechen es in Stücke.«

4. Capitel
Viertes Capitel.
Tief in den Höhlen von Ellora.

Es war vollkommen richtig. Der Maharatten-Fürst Dandou Pant, der Adoptivsohn Baji Rao's und Peïschwah von Pounah, mit einem Worte Nana Sahib – jener Zeit vielleicht der einzige Ueberlebende von den Führern im Aufstande der Sipahis, hatte aus seiner unzugänglichen Zufluchtsstätte in Nepal zu entkommen vermocht. Tapfer, kühn wie er war, gewöhnt, jeder Gefahr zu [46] trotzen, gewandt im Irreführen seiner Verfolger, erfahren in der Kunst, seine Spuren zu verwischen, und schlau wie sonst Einer, hatte er sich bis in die Provinzen von Dekkan hinuntergewagt, getrieben von seinem noch immer glühenden Hasse, den die furchtbaren Repressalien nach der Erhebung von 1857 nur noch mehr geschürt hatten.

Ja, es war ein tödtlicher Haß, den Nana den Besitzern Indiens geschworen. Ihm als Erben Baji Rao's hatte die Compagnie nach des Letzteren, im Jahre 1851 erfolgten Tode abgeschlagen, die Pension von acht Lakhs Rupien (etwa einundzweidrittel Millionen Mark), auf die er ein Anrecht hatte, weiterzuzahlen. Hierin ist die eine Ursache dieses Hasses zu suchen, der sich in so schauerlichen Unthaten Luft machen sollte.

Doch, was hoffte Nana Sahib wohl jetzt?

Seit acht Jahren schon war die Erhebung der Sipahis vollkommen unterdrückt. Allmählich war die englische Regierung an Stelle der ehrenwerthen Compagnie getreten und hielt die ganze Halbinsel besser im Zügel als früher die Vereinigung von Kaufleuten. Von der Rebellion sah man keine Spuren mehr, nicht einmal in den Reihen der Natifs-Armee, die auf anderen Grundlagen völlig neu organisirt worden war. Glaubte Nana vielleicht Erfolg zu haben, wenn er einen nationalen Aufstand unter den niedrigsten Volksclassen Hindostans anzuschüren versuchte? Wir werden seine Absichten bald kennen lernen. Jedenfalls, und das wußte er auch selbst, war sein Erscheinen in der Provinz Aurungabad angemeldet worden, der General-Gouverneur hatte den Vicekönig in Calcutta davon benachrichtigt und einen Preis auf seinen Kopf gesetzt. Es blieb ihm also nichts Anderes übrig, als auf der Stelle zu entfliehen und einen verborgenen Zufluchtsort aufzusuchen, der ihn vor den Nachstellungen der anglo-indischen Polizei sicherte.

Nana verlor auch keine Minute. Er kannte das Land vollkommen und beschloß bis nach dem von Aurungabad fünfundzwanzig Meilen entfernten Ellora zu flüchten, wo er einen seiner Genossen zu finden hoffte.

Die Nacht war dunkel. Nachdem der falsche Fakir sich versichert, daß er nicht verfolgt werde, wandte er sich nach jenem, eine Strecke von der Stadt errichteten Mausoleum des Mohammedaners Sha-Sufi, eines Heiligen, dessen Reliquien in dem Rufe wunderthätiger Heilkräfte stehen. In dem Mausoleum schlief schon Alles, Priester sowohl wie Pilger, und Nana kam vorbei, ohne durch eine Frage belästigt zu werden.


»Kein Licht!« rief Nana. (S. 51.)

[47]

Es lagerte jedoch keine so tiefe Finsterniß über der Landschaft, daß jener ungeheure Granitblock, der vier Meilen weiter nördlich das uneinnehmbare Fort von Daoulutabad trägt und sich inmitten einer weiten Ebene gegen zweihundertvierzig Fuß hoch erhebt, den Blicken hätte verborgen bleiben können. Der Nabab erinnerte sich dabei, daß einer seiner Ahnen, ein Kaiser von Dekkan, einst beabsichtigte, die früher den Fuß des Forts umgebende geräumige Stadt zu seiner Residenz zu erheben. Wirklich wäre das eine unbezwingliche Stellung, ein geeigneter Mittelpunkt für eine insurrectionelle Bewegung in diesem Theile [48] Indiens gewesen. Der Nabab wandte aber den Kopf weg und hatte nur einen Blick voll Haß für die, jetzt in den Händen seiner Todfeinde befindliche Veste.

Nach der Ebene hier kam eine mehr hügelige Gegend, mit den ersten Bodenwellen, die nach und nach zu Bergen anwachsen sollten. Nana, ein Mann im kräftigsten Alter, verlangsamte nicht im mindesten seine Schritte, als er die steilen Abhänge hinaufstieg. Er wollte in dieser Nacht fünfundzwanzig Meilen, das heißt die Entfernung zurücklegen, welche Ellora von Aurungabad trennt. Dort hoffte er in voller Sicherheit rasten zu können. Er hielt sich also nirgends [49] auf, weder in einer Karawanserei, wie sie für Jeden, der des Weges daher kommt, offen stehen, noch in einem halbverfallenen Bungalow, wo er, schon in entlegenerem Theile des Gebirges, einige Stunden hätte schlummern können.


Er blickte im Dunkeln. (S. 54.)

Mit Sonnenaufgang eilte der Flüchtling um das Dorf Raupah herum, welches das einfache Grab des größten der mongolischen Kaiser, Aureng Zeb's, enthält. Dann gelangte er nach jener berühmten Höhlengruppe, die ihren Namen von dem benachbarten Dorfe Ellora entlehnt hat.

Der Hügel, aus welchem man jene Höhlen herausgearbeitet hat, zeigt etwa die Gestalt des Halbmondes. Die wunderbaren Bauwerke desselben bilden vier Tempel, vierundzwanzig buddhistische Klöster und einige minder beträchtliche Grotten. Der Basaltbruch ist von der Hand des Menschen umfänglich ausgenutzt worden. Die Hindubaumeister entnahmen aus demselben das Gestein während der ersten Jahrhunderte der christlichen Aera aber nicht zur Errichtung der auf der ungeheuren Halbinsel da und dort verstreuten Meisterwerke der Baukunst, nein, dasselbe wurde nur gebrochen, um in der Felsenmasse selbst Hohlräume zu gewinnen, und diese Räume sind je nach ihrer Bestimmung »Chaityas« oder »Viharas« geworden.

Der außerordentlichste jener Tempel ist der sogenannte Kaïlasa. Man stelle sich einen Steinblock von hundertzwanzig Fuß Höhe und sechshundert Fuß Umfang vor. Diese Masse hat man mit unglaublicher Kühnheit aus dem Berge selbst ausgeschnitten, inmitten eines dreihundertsechzig Fuß langen und hundertsechsundachtzig Fuß breiten Hofes isolirt – ein Hof, den man mittelst Werkzeuge dem Basaltberge abgewann. Nach Herstellung dieses Einzelblocks haben die Baumeister ihn bearbeitet, wie der Bildschnitzer ein Stück Elfenbein. Aeußerlich formten sie aus demselben Säulen, meißelten kleine Pyramiden und runde Kuppeln, ließen dabei genug Steinmassen für die Herstellung von Basreliefs stehen, von denen über lebensgroße Elephanten das ganze Gebäude zu tragen scheinen; im Innern arbeiteten sie einen geräumigen Saal mit Kapellen an den Seiten aus, dessen Wölbung auf vielen, von der Felsenmasse ausgesparten Säulen ruht. Sie stellten aus dem Monolithen mit einem Worte einen Tempel her, der im eigentlichen Sinne des Wortes nicht »gebaut« wurde, einen in der ganzen Welt einzig dastehenden Tempel, der sich kühn mit den wunderbarsten Bauwerken Indiens messen kann und selbst den Vergleich mit den Hypogäen des alten Egyptens aushält.

[50] Schon sieht man, daß der Zahn der Zeit an diesem jetzt gänzlich verlassenen Tempel genagt. Er zerfällt an einzelnen Theilen. Seine Basreliefs verwittern, wie die Felswand, aus der sie geschaffen wurden. Er hat vielleicht noch tausend Jahre Leben zu erwarten. Was aber das erste Kindesalter der Werke der Natur zu nennen ist, das ist bei Menschenwerken schon das der Hinfälligkeit. Im linken unteren Theile waren mehrere breite Sprünge entstanden, und durch eine dieser Oeffnungen, die der Rücken eines Elephanten zur Hälfte verdeckte, glitt Nana Sahib hinein, ohne daß ihn Jemand wahrnahm.

Der Sprung führte im Inneren nach einem langen engen Gange, der quer unter dem Grunde hinlief, und sich unter der »Cella« des Tempels tiefer hinabwendete. Hier erweiterte er sich zu einer Art Krypte, oder richtiger zu einer, jetzt übrigens trockenen Cisterne, in der sich sonst Regenwasser ansammelte.

Als Nana in den Gang gelangt war, ließ er einen gewissen Pfiff ertönen, dem ein ganz ähnliches Pfeifen antwortete. Es war das kein Echo. In der Dunkelheit glänzte ein einzelnes Licht auf.

Gleichzeitig erschien ein Hindu mit einer kleinen Laterne in der Hand.

»Kein Licht! rief Nana.

– Bist Du es, Dandou Pant?

– Ja, Bruder!

– Nun, und...?

– Erst schaffe mir zu essen, antwortete Nana, wir plaudern später. Doch zum Reden wie zum Essen brauche ich keine Beleuchtung. Fasse meine Hand und führe mich!«

Der Hindu ergriff Nana's Hand, leitete ihn nach dem Hintergrunde der Höhle und half ihm, sich auf einem Lager von trockenen Gräsern auszustrecken, das er eben verlassen hatte. Das Pfeifen des Fakirs mochte seinen letzten Schlummer unterbrochen haben.

Dieser Mann, der es offenbar sehr gewöhnt war, sich im Finstern zu bewegen, hatte bald etwas Mundvorrath an Brot nebst einer Art Pastete von, »Mourghis« mit dem in Indien so gewöhnlichen Hühnerfleisch, nebst einer Kürbisflasche, die eine halbe Pinte jenes starken, unter dem Namen »Arak« bekannten Getränkes enthielt, gefunden, das man durch Destillation des Saftes der Cocospalme gewinnt.

Nana aß und trank, ohne ein Wort zu reden. Er starb vor Hunger und Erschöpfung. Seine ganze Lebenskraft lag jetzt in den Augen, die im Dunkeln [51] wie die des Tigers leuchteten. Regungslos harrte der Hindu, bis es dem Nabab belieben würde, zu sprechen.

Dieser Mann war Balao Rao, der eigene Bruder Nana Sahib's.

Balao Rao, um kaum ein Jahr älter als Dandou Pant, glich diesem körperlich bis zum Verwechseln. Moralisch war er der ganze Nana Sahib, mit demselben Hasse gegen die Engländer, derselben Arglist seiner Anschläge, derselben Wildheit in der Ausführung, eine Seele in zwei Leibern. Während des ganzen Aufstandes waren die Beiden unzertrennlich gewesen; nach dessen Niederwerfung hatte dasselbe Lager an der Grenze von Nepal ihnen Zuflucht gewährt. Jetzt verband sie der nämliche Gedanke, den Kampf wieder aufzunehmen, zu dem sie gleichmäßig bereit waren.

Als Nana sich durch die hastig verzehrte Mahlzeit erquickt und wieder Kräfte gesammelt hatte, blieb er noch eine Zeit lang mit auf die Hand gestütztem Kopf sitzen. In der Meinung, daß er einige Stunden werde der Ruhe pflegen wollen, verhielt sich Balao Rao noch immer schweigend.

Da erhob Dandou Pant das Haupt, ergriff des Bruders Hand und begann mit dumpfer Stimme:

»Mein Erscheinen in der Präsidentschaft Bombay ist dorthin gemeldet worden. Der Gouverneur der Präsidentschaft hat einen Preis auf meinen Kopf gesetzt. Zweitausend Pfund sind Demjenigen zugesichert, der Nana Sahib der Behörde ausliefert!

– Dandou Pant! rief Balao Rao, Dein Kopf ist mehr werth! Das wäre ja kaum ein Preis für den meinigen, und vor Ablauf dreier Monate würden sie sich glücklich schätzen, Beide für zwanzigtausend Pfund in ihrer Gewalt zu haben.

– Ja wohl, antwortete Nana, in drei Monaten, am 23. Juni, ist der Jahrestag jener Schlacht von Plassey, deren hundertster Jahrestag, im Jahre 1857, das Ende der englischen Zwingherrschaft und die Befreiung der Kinder der Sonne erblicken sollte!

– Was 1857 nicht glückte, Dandou Pant, kann und muß zehn Jahre später glücken. In den Jahren 1827, 1837, 1847 gab es Aufstände in Indien. Alle zehn Jahre erfaßt die Hindus das Fieber der Rebellion. Wohlan, dieses Jahr sollen sie sich durch ein Bad in Strömen europäischen Blutes heilen!

– Brahma sei mit uns, murmelte Nana, und dann Verderben für Verderben! Wehe den Führern der königlichen Armee, die nicht den Streichen [52] unserer Sipahis erlagen! Lawrence ist todt, Barnard ist todt, Napier ist todt, Hobso sowie Havelock! Einige leben aber noch, wie Campbell, Rose und Andere, unter ihnen der, den ich vor Allen hasse, Oberst Munro, der Abkömmling jenes Henkers, welcher zuerst Hindus vor den Schlund der Kanonen binden ließ, der Mann, von dessen eigener Hand meine Gefährtin, die Rani von Jansi, den Tod erlitt! Wenn er in meine Hand fällt, mag er sehen, ob ich die Schandthaten des Oberst Neil, die Metzeleien des Sekander Bogh, die Verwüstungen des Palastes der Begum, der von Bareilli, Jansi, Morar, der Insel Hidaspe und von Delhi vergessen habe! Ob ich es vergessen, daß er mir den Tod geschworen hat, wie ich ihm!

– Ist er nicht aus der Armee getreten? fragte Balao Rao.

– O, bei der ersten Bewegung wird er wieder Dienste nehmen, versicherte Nana Sahib. Doch wenn der Aufstand fehlschlägt, ihn werde ich erdolchen, und wäre es in seinem Bungalow in Calcutta!

– Gut, aber jetzt?...

– Jetzt gilt es, das begonnene Werk weiter zu führen. Diesmal muß die Erhebung eine nationale wer den! Die Hindus der Städte und der Dörfer mögen sich nur erheben, bald werden die Sipahis mit ihnen gemeinschaftliche Sache machen. Ich habe den mittleren und nördlichen Theil von Dekkan durchstreift; überall fand ich die Geister reif zur Empörung. In allen Städten, allen Flecken warten unsere Führer darauf, zu handeln. Die Brahmanen werden die Menge fanatisiren. Die Religion wird diesmal die Anhänger Shiva's und Wischnu's mit fortreißen. Zur bestimmten Zeit und auf ein gegebenes Zeichen werden Millionen von Hindus aufstehen und die königlichen Heere vernichtet sein!

– Und Dandou Pant?... fragte Balao Rao, die Hand des Bruders ergreifend.

– Dandou Pant, erwiderte Nana, wird nicht allein als Païschwah auf dem Castell von Bilhur gekrönt, sondern der Herrscher über das heilige Land von Indien werden!«

Nach diesen Worten verfiel Nana Sahib, die Arme kreuzend und mit dem unbestimmten Ausdruck des Blickes Derjenigen, die weniger auf die Vergangenheit oder Gegenwart als in die Zukunft schauen, in stilles Sinnen...

Balao Rao hütete sich wohl ihn zu stören. Es gefiel ihm, diese wilde Seele sich an sich selbst entflammen zu lassen, im Nothfall war er ja bei der [53] Hand, das in Jenem schlummernde Feuer zu schüren. Nana Sahib konnte einen inniger an seine Person geknüpften Genossen gar nicht finden, keinen eifrigeren Rathgeber, der ihn seinem Ziel entgegen trieb. Er war wie gesagt sein zweites Ich.

Nach wenigen Minuten des Schweigens erhob er seinen Kopf wieder.

»Wo sind unsere Leute?

– In den Höhlen von Adjuntah, wo sie uns verabredetermaßen erwarten sollten.

– Und unsere Pferde?

– Die habe ich in Büchsenschußweite von hier auf der Straße von Ellora nach Boregami zurückgelassen.

– Wohl unter Obhut Kâlagani's?

– Ja, Bruder. Sie sind gut bewacht, durch Futter und Ruhe gestärkt, und erwarten uns nur noch, um aufzubrechen.

– Also vorwärts, mahnte Nana. Wir müssen vor Tagesanbruch in Adjuntah sein.

– Und wohin wenden wir uns von da aus? fragte Balao Rao. Hat diese übereilte Flucht Deine Pläne nicht gestört?

– Nicht im mindesten, antwortete Nana Sahib. Wir werfen uns in die Sautpourra-Berge, in denen ich alle Schliche und Wege kenne und alle Nachstellungen der englischen Polizei zu vereiteln vermag. Dort befinden wir uns übrigens in dem Gebiete der Bilhs und Gounds, die unserer Sache stets treu geblieben sind. Da, in der Gebirgsregion der Vindhyas, wo der Zündstoff der Empörung immer aufzuflammen bereit ist, kann ich den günstigen Augenblick abpassen.

– Vorwärts denn, mahnte Balao Rao, o, sie haben dem zweitausend Pfund versprochen, der Dich singe! Doch es ist nicht genug, einen Preis auf Deinen Kopf zu setzen, man muß ihn auch haben!

– Es wird ihn Keiner bekommen, antwortete Nana Sahib. Komm schnell, Bruder, keinen Augenblick verloren, komm!«

Sicheren Schrittes ging Balao Rao durch den engen Gang, der zu diesem dunklen Zufluchtsorte unter dem Grunde des Tempels führte. An dem von dem Rücken des Elephanten verdeckten Ausgange angelangt, steckte er vorsichtig nur den Kopf heraus, blickte im Dunklen rechts und links umher, überzeugte sich, daß die nächsten Umgebungen verlassen waren, und wagte sich dann erst nach [54] außen. Um ganz sicher zu gehen, lief er etwa zwanzig Schritte auf der in der verlängerten Achse des Tempels liegenden Straße hin; da er auch hier nichts Verdächtiges wahrnahm, meldete er Nana durch einen Pfiff, daß der Weg frei sei.

Bald darauf verließen die beiden Brüder das künstliche, eine halbe Meile lange Thal, das vollständig von Galerien, Gewölben und Höhlungen erfüllt ist, die sich manchmal zu beträchtlicher Höhe erheben. Sie vermieden das mohammedanische Mausoleum zu berühren, das als Bungalow dient für Pilger und Neugierige aller Nationen, welche die Wunderwerke Elloras herbeiziehen; endlich, nachdem sie noch um das Dorf Raupah herumgeschlichen, befanden sie sich auf der Straße, die Adjuntah und Boregami verbindet.

Die Entfernung zwischen Ellora und Adjuntah beträgt gegen fünfzig Meilen (etwa achtzig Kilometer); jetzt lagen indeß die Verhältnisse anders, als da Nana zu Fuß und ohne jedes Transportmittel aus Aurungabad entwich. Wie Balao Rao gesagt, erwarteten ihn drei Pferde auf der Landstraße, die der Hindu Kâlagani, ein treuer Diener Dandou Pant's, bewachte. Eine Meile vom Dorfe standen diese Pferde in einem dichten Gebüsch versteckt. Das eine war für Nana, das zweite für Balao Rao, das dritte für Kâlagani bestimmt, und bald galoppirten alle Drei in der Richtung auf Adjuntah fort. Es würde übrigens Niemand erstaunt gewesen sein, einen Fakir beritten zu erblicken, denn diese unverschämten Bettler sprechen nicht selten vom Pferde herab um Almosen an.

Zu dieser für Pilgerfahrten minder günstigen Jahreszeit war die Straße sehr wenig belebt. Nana und seine beiden Gefährten eilten also rasch vorwärts, ohne etwas zu fürchten zu haben, das sie belästigen oder aufhalten könnte. Sie nahmen sich nur Zeit, ihre Thiere etwas verschnaufen zu lassen, und während dieser kurzen Aufenthalte sprachen sie dem Mundvorrath zu, den Kâlagani in seiner Satteltasche mitführte. Auf diese Weise gingen sie den belebteren Theilen der Provinz,


Das Thal von Adjuntah. (S. 55.)

den Bungalows und Dörfern aus dem Wege, unter anderen dem Flecken Roja, einem traurigen Haufen schwarzer Häuser, welche die Zeit wie die düsteren Wohnungen von Cornwallis eingeräuchert hat, und Pulwary, einem kleinen, in den Anpflanzungen einer schon halb wilden Gegend verlorenen Orte.

Das Land war hier gleichmäßig eben. Nach allen Seiten hin erstreckten sich Haidekrautfelder, da und dort von dichten Dschungeln durchsetzt. Mit der Annäherung an Adjuntah wurde die Gegend jedoch hügeliger.

Die prächtigen Grotten, welche diesen Namen führen, ebenbürtige Rivalen der Wunderhöhlen von Ellora und im Ganzen vielleicht schöner als diese, [55] nahmen den unteren Theil eines kleinen Thales, etwa eine halbe Meile von der Stadt ein.

Nana Sahib brauchte also nicht durch Adjuntah zu gehen, wo die Bekanntmachung des Gouverneurs gewiß schon veröffentlicht war, und folglich auch nicht zu fürchten, erkannt zu werden.

Nach fünfzehnstündigem Ritte von Ellora aus betrat er mit seinen zwei Begleitern einen Engpaß, der nach dem berühmten Thale führte, dessen siebenundzwanzig, gleich aus dem Felsberg gemeißelte Tempel sich über schwindelnde [56] Abgründe erheben. Die Nacht war herrlich, der Himmel voller flimmernder Sterne, aber mondlos. Verschiedene hohe Bäume, Banianen (indische Feigen) und einige jener. »Bars«, welche zu den Riesen der indischen Flora zählen, hoben sich in dunklen Umrissen von dem sternbedeckten Hintergrunde des Himmels ab. Kein Lufthauch durchzitterte die Atmosphäre,


Dann zehn, später zwanzig andere. (S. 58.)

kein Blättchen regte sich und kein Geräusch ließ sich vernehmen, außer dem dumpfen Murmeln eines Bergstromes, der in der Entfernung von einigen hundert Fuß in der Tiefe des Hohlweges hinlief. Dieses Murmeln nahm aber nach und nach zu und wurde zum wirklichen [57] Brausen, als die Rosse den Wasserfall von Sakkhound erreicht hatten, der aus einer Höhe von fünfzig Toisen herabstürzt und sich an den Vorsprüngen der Quarz- und Basaltfelsen bricht. In dem Engpasse wogte ein feuchter Nebel hin, der die sieben Regenbogenfarben gezeigt hätte, wenn der Mond in dieser herrlichen Frühlingsnacht über den Horizont gekommen wäre.

Nana Sahib, Balao Rao und Kâlagani waren am Ziele. Nach einer scharfen Wendung des Engpasses, der hier einen spitzen Winkel bildet, lag vor ihnen das durch die Meisterwerke buddhistischer Bauwerke geschmückte Thal. An den Mauern jener Tempel, welche mit Säulen, Rosetten, Arabesken und Verandas reich verziert, durch Kolossalfiguren phantastischer Thiergestalten belebt und von dunklen Zellen durchbrochen sind, in denen früher die Priester als Wächter der geheiligten Räume wohnten, kann der Künstler noch heute einzelne Fresken bewundern, die noch ganz wie frisch gemalt erscheinen und königliche Ceremonien, religiöse Aufzüge und Schlachten, oder alle Waffen jener Periode darstellen, wie sie in dem reichen Indien während der ersten Zeit der christlichen Zeitrechnung gebräuchlich waren.

Nana Sahib kannte alle Geheimnisse dieser mysteriösen Hypogäen. Mehr als einmal hatte er sich mit seinen Gefährten, wenn ihm die königlichen Truppen zu dicht auf der Ferse waren, während der Unglückstage des Aufstandes dahin geflüchtet. Die unterirdischen Gänge, welche jene verbanden, die engen, aus der Quarzmasse des Berges gehauenen Tunnels, die winkeligen Wege, welche sich in allen Richtungen kreuzten, die tausend Verzweigungen dieses Labyrinths, deren Entwirrung auch die Geduldigsten ermüden mußte – er war mit Allem vertraut. Er konnte sich darin nicht verirren, selbst wenn keine Fackel die dunkle Tiefe erleuchtete.

Nana ging trotz der schwarzen Nacht mit voller Sicherheit gerade auf eine der minder bedeutenden Höhlen der Gruppe zu. Den Eingang zu derselben verdeckte ein Vorhang von dichtem Gezweig und ein Haufen großer Steine, den früher eine Erderschütterung hierhergeworfen zu haben schien zwischen das Gesträuch des Bodens und die in Stein gehauenen Pflanzenformen des Felsens.

Ein leises Scharren mit dem Fingernagel an der Wand genügte, um die Gegenwart des Nabab an der Oeffnung der Höhle anzumelden. Einige Hinduköpfe erschienen sofort zwischen den Zweigen, dann zehn, später zwanzig andere und bald bildeten die Leute, welche schlangengleich durch und über das Gestein krochen, eine Truppe von etwa vierzig wohlbewaffneten Männern.

[58] »Vorwärts!« befahl Nana Sahib.

Ohne eine Erklärung zu verlangen und ohne zu wissen, wohin er sie führte, folgten die treuen Kampfgenossen dem Nabab, bereit, jeden Augenblick für ihn in den Tod zu gehen. Sie waren zwar zu Fuß, ihre Beine schienen jedoch an Schnelligkeit mit denen der Pferde wetteifern zu können.

Die kleine Truppe wandte sich der schmalen Straße zu, die neben dem Thale hinlief, folgte derselben nach Norden und überstieg den Kamm der Berge. Eine Stunde später hatten sie die Straße von Kandeisch erreicht, die sich in den Schluchten der Sautpourra-Berge verliert.

Die nach Nagpore führende Zweigstrecke der Eisenbahn von Bombay nach Allahabad und die Hauptstrecke selbst, die nach Nordosten verläuft, wurden mit Tagesanbruch überschritten.

Eben sauste der Zug von Calcutta in größter Schnelligkeit dahin, entsandte weiße Dampfwirbel in die prächtigen Banianen der Straße und erschreckte durch sein Gerassel die wilden Thiere in den Dschungeln.

Der Nabab hatte sein Pferd angehalten und rief mit lauter Stimme, die Hand gegen den davoneilenden Zug ausstreckend:

»Geh' und sage dem Vicekönig von Indien, daß Nana Sahib noch immer unter den Lebenden wandelt, und daß er diese Bahn, das verfluchte Werk ihrer Hand, noch mit dem Blute der Eroberer überschwemmen wird!«

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Der Stahlriese.

Ich habe nie ein größeres Erstaunen gesehen, als das der auf der Landstraße von Calcutta nach Chandernagor am Morgen des 6. Mai befindlichen Leute, die, Männer, Frauen und Kinder. Hindus so gut wie Engländer, demselben den zweifellosesten Ausdruck gaben. In der That schien diese starre Verwunderung nicht mehr als natürlich. Mit Sonnenaufgang verließ nämlich eine [59] der letzten Vorstädte der Hauptstadt Indiens ein fremdartiges Fuhrwerk, wenn dieser Name überhaupt noch für den sonderbaren Apparat, der sich längs des Hougly-Ufers hin bewegte, zulässig ist. An der Spitze und dem Anscheine nach als einzig bewegende Kraft des kleinen Zuges schritt ruhig und geheimnißvoll ein riesiger, etwa zwanzig Fuß hoher, dreißig Fuß langer und entsprechend breiter Elephant. Sein Rüssel war halb zurückgebogen, wie ein ungeheures Füllhorn, mit dem spitzen Ende in der Luft. Die über und über vergoldeten Zähne ragten, zwei drohenden Sicheln gleich, aus der gewaltigen Kinnlade hervor. Ueber dem dunkelgrünen, unregelmäßig gefleckten Körper hing eine reiche, farbenprächtige Decke mit Silber- und Gold-Filigranschmuck und umsäumt mit großen Troddeln und gewundenen Fransen. Auf dem Rücken trug das Ungeheuer eine Art verzierten Thurm mit rundem, nach indischer Mode geformtem Dache, und in dessen Wänden große Linsengläser, ähnlich den Lichtpforten in den Schiffscabinen.

Dieser Elephant schleppte einen Zug aus zwei enormen Wagen oder vielmehr aus zwei wirklichen Häusern, eine Art rollender Bungalows bestehend, welcher jeder auf vier, an der Nabe, dem Kranze und den Felgen mit Sculpturen versehenen Rädern ruhte. Von den Rädern sah man übrigens nur das untere Segment, während den übrigen Theil der Unterbau jener ungeheuren Locomotions-Apparate verdeckte. Eine schmale gegliederte Brücke, die sich jeder Wendung anpaßte, verband den ersten Wagen mit dem zweiten.

Konnte denn aber ein einziger, wenn auch noch so starker Elephant die beiden massiven Bauwerke scheinbar ohne Anstrengung wegziehen? Und doch that es das wunderbare Thier. Seine breiten Füße hoben und senkten sich mit ganz mechanischer Regelmäßigkeit und er ging sofort vom Schritt in Trab über, ohne daß sich die Stimme oder Hand eines »Mahout« sehen oder hören ließ.

Hierüber mußten ja wohl alle Neugierigen erstaunen, so lange sie in einiger Entfernung blieben. Bei Annäherung an den Koloß nahmen sie aber, während ihr Erstaunen in Bewunderung überging, Folgendes wahr:

Zunächst traf das Ohr eine Art abgemessenes Sausen und Brausen, sehr ähnlich dem eigenthümlichen Schrei dieser Riesen der indischen Fauna. Weiter drang aus dem aufwärts gerichteten Rüssel kurz nach einander eine wirbelnde Dampfwolke hervor.

Und doch schien das Ganze ein Elephant zu sein. Seine runzliche, schwärzlich grünliche Haut bedeckte zweifelsohne einen so mächtigen Knochenbau, [60] wie ihn die Natur jenem Könige der Pachydermen verliehen hat! Seine Augen glänzten wie lebend! Seine Glieder waren ja beweglich!

Gewiß! Doch, wenn ein Neugieriger gewagt hätte, die Hand an das gewaltige Thier zu legen, so hätte Alles seine Erklärung gefunden. Das Ganze war eine höchst gelungene Augentäuschung, eine überraschende Nachbildung, die selbst in der Nähe gesehen, anscheinend Leben besaß.

In der That bestand dieser Elephant aus Stahlblech und verbarg eine vollständige Straßenlocomotive in seinen Weichen.

Der Train, oder »das Steam-House«, um die ihm geziemende Bezeich- zu gebrauchen, war die von dem Ingenieur versprochene fortrollende Wohnung.

Der erste Wagen, oder richtiger das erste Haus, diente dem Oberst Munro, Kapitän Hod, Banks und mir als Wohnstätte.

In dem zweiten hauste der Sergeant Mac Neil nebst den zum Personal der Expedition gehörigen Leuten.

Banks hatte sein Versprechen gehalten, Oberst Munro das seinige, und so kam es, daß wir am Morgen des 6. Mai in dieser außergewöhnlichen Weise aufbrachen, um die nördlichen Theile der Indischen Halbinsel zu besuchen.

Wozu aber dieser künstliche Elephant? Warum dieses Aufgebot von Phantasie, die dem so praktischen Sinne der Engländer sonst doch so fern liegt? Bisher war es noch Niemand in den Sinn gekommen, einer Locomotive, ob diese nun auf dem Macadam der Landstraße oder auf den Schienen der Eisenwege dienen sollte, die Gestalt eines Vierfüßlers zu geben!

Ich gestehe, daß sich unserer beim ersten Anblick dieser überraschenden Maschine ein nicht geringes Erstaunen bemächtigte. Anfragen nach dem Warum und Wie regneten förmlich auf Freund Banks hernieder. Nach seinen Plänen und unter seiner Leitung war diese Straßenlocomotive hergestellt worden. Wer in aller Welt konnte ihn auf den bizarren Einfall gebracht haben, sie unter den Stahlwänden eines mechanischen Elephanten zu verbergen?

»Liebe Freunde, antwortete Banks gelassen und ernsthaft, kennen Sie den Rajah von Bouthan?

– Ich kenne ihn, antwortete Kapitän Hod, oder vielmehr ich kannte ihn, denn er ist seit drei Monaten todt.

– Richtig, bestätigte der Ingenieur; bevor er aber starb, lebte der Rajah von Bouthan nicht allein, sondern auch auf andere Weise als andere Menschenkinder. Vor Allem liebte er den Prunk auf jede Art und Weise. Er versagte [61] sich nichts – ich sage nichts von Allem, was ihm einmal in den Kopf gekommen war. Sein Gehirn arbeitete stets, das Unmögliche zu erdenken, und wenn dieses Organ auch unerschöpft geblieben wäre, so wäre doch seine Börse erschöpft worden, um alle seine Hirngespinnste in's Werk zu setzen. Er war ja reich, wie die Nababs der früheren Zeit. Seine Cassen strotzten von Gold. Er hatte nur die Leidenschaft, seine Thaler auf etwas weniger banale Weise wegzuwerfen, als seine Millionär-Brüder. Da kam ihm denn eines Tages ein Gedanke, der sich seiner bald so sehr bemächtigte, daß er ihm den Schlaf raubte, ein Gedanke, auf den auch Salomo stolz gewesen wäre und den er unzweifelhaft verwirklicht hätte, wenn er schon den Dampf kannte, es war der, auf eine vollkommen neue Art zu reisen und ein Fuhrwerk zu besitzen, wie es Niemand vor ihm geträumt hatte. Er kannte mich, ließ mich an seinen Hof kommen und entwickelte mir selbst den Plan zu seinem Locomotions-Apparat. Wenn Sie etwa glauben, ich hätte bei diesem Vorschlage des Rajah hell aufgelacht, so irren Sie sich stark. Ich begriff sehr wohl, wie diese großartige Idee in dem Gehirn des indischen Rajah entstehen konnte, und hatte nur den einen Wunsch, sie sobald als möglich so zu verwirklichen, daß sie meinen poetischen Clienten und mich befriedigte. Ein beschäftigter Ingenieur hat nicht alle Tage Gelegenheit, sich im Gebiete der Phantasie zu bewegen und die Fauna der Apokalypse oder die Wesen aus Tausend und einer Nacht durch ein Geschöpf seiner Laune zu bereichern. Alles in Allem schien die Idee des Rajah realisirbar. Sie wissen, daß man durch die Mechanik so gut wie Alles leistet! Ich ging also an's Werk, und es gelang mir, in dieser Hülle von Stahlblech, die einen Elephanten vorstellt, den Dampfkessel, die Maschine und den Tender einer Straßenlocomotive nebst allem Zubehör unterzubringen. Der bewegliche Rüssel, der nach Bedarf gehoben und gesenkt werden kann, diente mir als Rauchfang; ein Excenter vermittelt die Verbindung der Beine meines Thieres mit den Rädern des Apparates; die Augen desselben richtete ich gleich den Linsen eines Leuchtthurmes ein, um zwei elektrische Lichtbündel daraus hervorstrahlen zu lassen, und so wurde der künstliche Elephant vollendet. Die Sache ging aber nicht so glatt vorwärts. Ich hatte so manche Schwierigkeit zu überwinden, die nicht im Handumdrehen zu lösen war. Dieser Motor – ein großes Spielzeug, wenn Sie wollen – kostete mir manche Nachtwache, so daß mein Rajah, der seine Ungeduld gar nicht zu zügeln vermochte, und der den größten Theil seiner Zeit in meiner Werkstätte zubrachte, mit Tode abging, bevor der letzte Hammerschlag des Monteurs seinen Elephanten in den [62] Stand gesetzt hatte, seinen Gang über Land zu beginnen. Der Arme kam nicht mehr dazu, sein bewegliches Haus zu erproben. Die Erben aber, übrigens nüchternere Leute als er, betrachteten den Apparat mit Entsetzen und Aberglauben als das Werk eines Thoren. Sie hatten nichts Eiligeres zu thun, als sich dessen zu jedem annehmbaren Preise zu entledigen, und so kaufte ich das Ganze für Rechnung des Obersten zurück. Sie begreifen nun, meine Freunde, warum und auf welche Weise wir allein in der ganzen Welt, wofür ich einstehe, jetzt einen Dampf-Elephanten zur Verfügung haben mit achtzig Pferdekräften, um nicht zu sagen von achtzig Elephantenkräften zu dreihundert Meter-Kilogramm!

– Bravo, Banks, bravo! rief Kapitän Hod. Ein Meister von Ingenieur, der noch dazu Künstler ist, ein Dichter in Stahl und Eisen, daß ist ein weißer Sperling heutzutage!

– Nach des Rajah Tode und dem Kaufe seines Elephanten, fuhr Banks fort, konnte ich es nicht über mich gewinnen, meinen Elephanten zu zerstören und der Locomotive ihre gewöhnliche Gestalt wiederzugeben.

– Und daran haben Sie sehr wohlgethan! rief der Kapitän. O unser Elephant ist prächtig, ist herrlich! Und welches Aufsehen werden wir erregen mit diesem gewaltigen Thiere, wenn es uns durch die weiten Ebenen und die Dschungeln von Hindostan befördert! Das ist ein Rajah-Gedanke! Und diesen Gedanken werden wir uns zunutze machen, nicht wahr, Herr Oberst?«

Oberst Munro hatte dazu fast gelächelt. Das war bei ihm gleichbedeutend mit der vollkommensten Billigung der Worte des Kapitäns. Die Reise wurde also endgiltig beschlossen und so war denn ein Elephant von Stahl, ein ganz eigenes Geschöpf seiner Art, ein künstlicher Leviathan, dazu ausersehen, die bewegliche Wohnung von vier Engländern fortzuschleppen, statt einen der reichsten Rajahs der Indischen Halbinsel in all' seinem Pomp spazieren zu fahren.

Die Straßenlocomotive, bei welcher Banks alle Errungenschaften der modernen Wissenschaft verwerthet hatte, war folgendermaßen construirt:

Zwischen den vier Rädern befand sich der ganze Mechanismus, mit Cylindern, Treibstangen, Steuerung, Speisepumpe, Excentern, worüber der Kessel angebracht war. Dieser Röhrenkessel, ohne rücklaufende Flammenzüge, bot sechzig Quadratmeter Feuerfläche. Er nahm den vorderen Theil des Raumes in dem stählernen Elephanten ein, während dessen Rücken nach hinten zu den für den Wasser- und Kohlenvorrath bestimmten Tender bedeckte. Zwischen Kessel und [63] Tender, die beide auf einem Gestelle montirt waren, blieb ein Raum für den Heizer frei. Der Maschinist hielt sich in dem kugelfesten Thürmchen auf dem Rücken des Thieres auf, in welchem für den Fall eines ernstlichen Angriffes Alle Platz finden konnten. Der Maschinist hatte die Sicherheitsventile und den Manometer zur Angabe der Dampfspannung vor Augen und den Regulator sowie den Hebel zur Steuerung bequem zur Hand, so daß er letzteren von hier aus beliebig umlegen und den ganzen Apparat folglich nach Belieben vor- oder rückwärts gehen lassen konnte.

Von dem Thürmchen aus vermochte er auch durch die dicken Linsengläser, die in enge Fensteröffnungen eingesetzt waren, die Straße nach vorwärts zu beobachten und mittelst eines Pedals die Stellung der Vorderräder zu verändern und damit jeder beliebigen Curve zu folgen.

An den Achsen befestigte Federn aus bestem Stahl trugen Kessel und Tender, um bei Unebenheiten des Bodens die Stöße zu mildern. Die Räder selbst, welche mehr als die nöthige Tragkraft hatten, waren an ihrem Umfange gerieft, so daß sie in den Boden eingreifen und nicht »gleiten« konnten.

Die Maschine leistete, wie Banks gesagt, achtzig nominelle Pferdekräfte, man konnte sie aber auf hundertfünfzig effective Pferdekräfte steigern, ohne die Gefahr einer Explosion befürchten zu müssen. Die nach dem System Field construirte Maschine hatte doppelte Cylinder mit verstellbarer Expansion. Ein hermetisch geschlossener Kasten umschloß den ganzen Mechanismus, um diesen vor dem Straßenstaube zu schützen, der ihn sonst bald beschädigt haben würde. Der größte Vorzug desselben lag aber darin, daß er wenig consumirte und viel leistete. Im Vergleiche zu dem Nutzeffect war der mittlere Verbrauch der Maschine ein unerhört geringer, ob man nun mit Kohle oder mit Holz heizte, denn der Rost des Feuerherdes war zur Verwendung jedes Brennmaterials gleich geeignet. Die Normalgeschwindigkeit dieser Straßenlocomotive schätzte der Ingenieur auf fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde, bei günstigem Terrain könne sie wohl auch vierzig erreichen. Die Räder konnten, wie gesagt, nicht gleiten, und zwar nicht allein, weil sie ein wenig in den Boden eingriffen, sondern auch weil die Aufhängung des Apparates in Federn erster Sorte eine höchst vollkommene war und das durch die Stöße sich verschiebende Gewicht sehr gleichmäßig vertheilte. Die Räder hatte man übrigens durch Luftbremsen gänzlich in der Gewalt, wodurch sie nach Belieben langsam angehalten oder sofort unbeweglich festgestellt werden konnten.


[64]
So war dieser Train beschaffen. (S. 66.)

Auch die Leichtigkeit, mit der die Maschine Steigungen überwand, war wirklich bemerkenswerth. Banks erreichte diese Resultate durch die sorgsame Berücksichtigung des Gewichts und der auf jeden Kolben wirkenden Triebkraft seiner Locomotive, so daß sie Steigungen von zehn bis zwölf Procent bequem emporlief.

Uebrigens sind die von den Engländern in Indien angelegten Straßen, deren Netz eine Gesammtlänge von mehreren tausend Meilen hat, wirklich ausgezeichnet. Sie mußten sich zu dieser Art der Fortbewegung von Lasten besonders [65] gut eignen. Erwähnt sei hier nur die Great Trunk Road, welche die Halbinsel durchschneidet und sich über eine Strecke von zwölfhundert Meilen, das heißt nahe zweitausend Kilometer erstreckt.

Gehen wir nun zu dem Steam-House über, das der künstliche Elephant nachzog.

Banks hatte von den Erben des Nabab für Rechnung des Oberst Munro nicht nur die Straßenlocomotive, sondern auch den Train, welchen diese schleppte, zurückgekauft. Man wird nicht darüber erstaunen, daß der Rajah von Bouthan diesen nach seinem Geschmacke und nach indischer Mode hatte herrichten lassen. Ich nannte ihn einen rollenden Bungalow; er verdient diesen Namen in der That, und die beiden Wagen, aus denen er besteht, repräsentiren ein wahres Wunder der einheimischen Architektur.

Stelle man sich etwa zwei Pagoden ohne Minarets vor mit ihrer Bedeckung durch einen doppelten Dachstuhl, der einen ausgebauchten Dom bildet, mit den Fenstervorbauen, die auf schön bearbeiteten Pilastern ruhen, mit ihrem Schmucke aus farbigen, zierlich geschnitzten Holzarten, den Contouren, welche in eleganten Bogen verlaufen, und mit den reichen Verandas an der Vorder- und Rückseite. Ja! Zwei Pagoden, die man für aus dem geheiligten Hügel Sonnaghur entnommen ansehen möchte, und welche, die eine verbunden mit der anderen, im Schlepptau des stählernen Elephanten die Landstraße hinziehen sollten!

Hier ist auch noch eine Eigenschaft dieses wunderbaren Elephanten zu erwähnen, die ihn sehr bemerkenswerth vervollständigt, nämlich seine Fähigkeit, auch schwimmen zu können. Die untere Partie des Elephantenkörpers, oder dessen Bauch, der die Maschine enthält, und der Unterbau der beiden beweglichen Häuser bilden nämlich wirkliche Schiffsrumpfe aus leichtem Blech. Sperrt nun ein Wasserlauf den Weg, so geht der Elephant hinein, der Train folgt ihm, und die durch Treibstangen gleich Radschaufeln bewegten Tatzen des Thieres ziehen das ganze Steam-House über die Oberfläche der Flüsse und Ströme hin. Hierin liegt ein unschätzbarer Vortheil, vorzüglich in dem ausgedehnten Gebiete Indiens, wo es sehr viel Wasserläufe giebt, denen es noch gänzlich an Brücken fehlt.

So war also dieser einzig dastehende Train beschaffen und so hatte ihn der launenhafte Rajah von Bouthan haben wollen. Wenn Banks aber auch jener ausschweifenden Phantasie insoweit gefolgt war, dem Motor die Gestalt eines Elephanten und den Wagen die äußere Form von Pagoden zu geben, so [66] hatte er das Innere doch nach englischem Geschmack eingerichtet und für eine lang dauernde Reise berechnet. Dieser Zweck schien auch vollkommen erreicht.

Steam-House bestand, wie gesagt, aus zwei Wagen, welche im Innern eine Breite von nicht weniger als sechs Meter hatten. Sie übertraf damit die der Radachsen, welche nur fünf Meter lang waren. Durch die Aufhängung der Wagen in sehr langen und außerordentlich biegsamen Federn glichen sich die Stöße beim Fahren ebenso vollkommen aus, wie die geringsten Erschütterungen auf gut angelegten Eisenbahnen.

Der vordere Wagen maß fünfzehn Meter in der Länge. Am Vordertheile bedeckte eine auf leichten Säulen ruhende Veranda einen geräumigen Balkon, auf dem sich wohl zehn Personen bequem ergehen konnten. Nach dem Salon hin öffneten sich zwei Fenster und eine Thür, übrigens erhielt jener noch weiteres Licht durch zwei Fenster an den Seiten. Der mit einem Tische und einer Bibliothek möblirte Salon, um den sich ringsum schwellende Divans hinzogen, war kunstreich geschmückt und mit prächtigen Stoffen ausgeschlagen. Ein dicker Smyrna-Teppich bedeckte seinen Boden.

»Tattis«, das sind eine Art Matten, vor den Fenstern, welche immer mit wohlriechendem Wasser befeuchtet wurden, erhielten stets eine wohlthuende Kühle ebenso im Salon, wie in den als Schlafräume dienenden Nebenzimmern. Von der Decke herab hing eine, »Punka«, die ein Transmissionsriemen in Bewegung setzte, so lange der Train in Gang war, und die ein Diener bewegte, wenn man Halt machte. Es erschien ja unumgänglich nothwendig, alle Hilfsmittel gegen die übermäßige Temperatur in Anspruch zu nehmen, die sich in einigen Monaten selbst im Schatten manchmal bis 45° Celsius steigert. An der Rückseite des Salons und der Verandathür gegenüber befand sich eine zweite, aus kostbarem Holz gefertigte Thür, die nach dem Speisesaal führte, der nicht nur durch Seitenfenster, sondern auch durch ein Oberlicht aus mattem Glase erhellt wurde. Der in der Mitte befestigte Tisch bot für acht Personen hinlänglich Platz; da wir nur Vier waren, konnten wir es uns mehr als bequem machen. Buffets und Schenktische, ausgestattet mit all' dem Luxus an Silbergeschirr, Glas und Porzellan, den der englische Comfort verlangt, bildeten das weitere Meublement des Speisezimmers. Es versteht sich von selbst, daß alle zerbrechlichen Gegenstände zur Hälfte in besonderen Einschnitten standen, wie es auf Schiffen gebräuchlich ist, und so gegen jede Art Stöße geschützt waren, selbst auf den schlechtesten Wegen, wenn unser Train jemals genöthigt war; solche [67] einzuschlagen. Die Thür am Ende des Speisesaales stellte die Verbindung mit einem Gang her, der nach einem zweiten Balkon auslief, über welchem sich wieder eine Veranda ausbreitete. Längs des Ganges lagen vier Zimmerchen mit Seitenlicht, darin je ein Bett, eine Toilette und ein kleines Sofa, ganz so eingerichtet wie in den Cabinen der großen transatlantischen Dampfboote. Das erste dieser Zimmerchen war für Oberst Munro bestimmt, das zweite rechts für den Ingenieur Banks, letzterem folgte zur rechten Hand das des Kapitän Hod, das meinige lag wiederum links neben dem des Obersten.

Der zweite, zwölf Meter lange Wagen hatte so wie der erste eine Balkon-Veranda, die mit einer geräumigen Küche in Verbindung stand, an deren Seiten zwei, reich mit allem Nothwendigen versehene Speise- und Vorrathskammern lagen. Diese Küche communicirte ebenfalls mit einem Gange, der sich zu einem viereckigen Mittelraume, dem durch Deckenfenster erleuchteten Speisezimmer der Bedienung, erweiterte. An dessen Seiten lagen vier Cabinen für den Sergeant Mac Neil, den Maschinisten, den Heizer und für die Ordonnanz des Oberst Munro; ferner an der Rückenwand zwei weitere Cabinen, die eine für den Koch die andere für den Diener des Kapitän Hod; noch andere Räumlichkeiten dienten als Waffenkammer, als Eisbehälter, Gepäckraum u. s. w., und öffneten sich nach dem Balkon auf der Rückseite.

Wie man sieht, hatte Banks die beiden rollenden Wohnungen des Steam-Houses ebenso praktisch als bequem eingerichtet. Im Winter konnten dieselben durch eine von der Maschine ausgehende Luftheizung erwärmt werden, welche alle Räume versorgte, während im Salon und im Speisesaale noch überdies zwei kleine Oefen aufgestellt waren. Wir konnten also auch jeder Unbill der kalten Jahreszeit, selbst an den Abhängen der Berge von Tibet, ruhig entgegen sehen.

Natürlich war auch die hochwichtige Frage bezüglich der Nahrungsmittel nicht vernachlässigt worden, denn wir führten in ausgewählten Conserven so viel mit, um die ganze Expedition ein Jahr lang davon zu ernähren. Den größten Vorrath hatten wir an conservirtem Fleisch der besten Marken; vorzüglich gekochtes und gedämpftes Rindfleisch, und an jenen »Mourghis« oder Hühnerpasteten, die auf der ganzen indischen Halbinsel in so ausgedehntem Maße consumirt werden.

In Folge der neuen Zubereitungsmethoden, welche es gestatten, flüssige Nahrungsmittel in concentrirtem Zustande weithin zu transportiren, sollte uns [68] auch die Milch nicht bei dem ersten Morgenimbiß fehlen, der dem eigentlichen Frühstück vorausgeht, noch die Bouillon für den »Tiffin«, den gewöhnlichen Vorläufer der Abendmahlzeit.

Nach vorausgegangener Verdampfung nämlich, die sie in teigartigem Zustande zurückläßt, wird die Milch in hermetisch verschlossenen Büchsen von etwa vierhundertfünfzig Gramm Inhalt gebracht, welche, durch Vermengung mit dem fünffachen Gewichte Wasser, gegen drei Liter Flüssigkeit ergeben. Die Mischung hat dann dieselbe Zusammensetzung wie frische gute Milch. Ungefähr ebenso ist es mit der Bouillon, welche auf ähnliche Weise erst eingedickt, dann in Tafelform gebracht wird und durch einfache Auflösung eine ausgezeichnete Suppe liefert.

Das in warmen Ländern besonders wichtige und angenehme Eis konnten wir uns in kurzer Zeit mittelst der bekannten Carré'schen Apparate, die durch Verdunstung von verflüssigtem Ammoniakgas eine schnelle Temperatur-Erniedrigung hervorbringen, herstellen. Einer der erwähnten Räume im Hintertheile des zweiten Wagens diente als Eisschrank, und unsere Jagdbeute konnte auf diese Weise beliebig lange aufbewahrt werden. Wir besaßen darin, wie Jeder leicht begreift, ein sehr schätzbares Hilfsmittel, das uns unter allen Verhältnissen ausgezeichnet erhaltene Nahrung sicherte.

Auch der Keller barg einen reichlichen Vorrath an Getränken. Französische Weine, verschiedene deutsche Biere, Branntwein, Arrak hatten darin ihren Platz in einer für die ersten Bedürfnisse mehr als hinreichenden Menge.

Ich bemerke hierbei, daß unser Weg niemals weit von den bewohnten Gebieten der Halbinsel abwich. Indien ist ja keineswegs eine Wüste. Wer nur die Rupien nicht spart, kann sich daselbst bequem nicht nur das Nöthigste, sondern auch noch viel darüber verschaffen. Höchstens während einer Ueberwinterung im nördlichen Theile, am Fuße des Himalaya, konnten wir vielleicht auf unsere eigenen Hilfsquellen angewiesen sein. Der praktische Geist unseres Banks hatte eben Alles vorgesehen und wir durften die Sorgen für unseren Lebensunterhalt getrost ihm überlassen.

Unsere Reiseroute – die übrigens nur im Princip aufgestellt wurde, um je nach unvorhergesehenen Umständen abgeändert werden zu können – war die folgende:

Von Calcutta ausgehend, wollten wir dem Gangesthale bis Allahabad folgen und das Königreich Audh hinaufziehen bis zu den ersten Bodenerhebungen [69] von Tibet, daselbst einige Monate an dem einen oder anderen Orte verweilen, um Kapitän Hod Gelegenheit zu geben, seiner Jagdlust zu fröhnen, und dann bis Bombay zurückkehren.

Die zurückzulegende Strecke maß gegen neunhundert Meilen, wobei freilich das ganze Haus mit all' seinen Insassen mitreiste. Wer würde unter solchen Verhältnissen einen Augenblick zögern, nöthigenfalls mehrmals eine Reise um die Welt zu machen?

6. Capitel
Sechstes Capitel.
Erste Etappen.

Am 6. Mai mit Tagesanbruch hatte ich das Hôtel Spencer, eines der besten in Calcutta, in dem ich seit meiner Ankunft in Indien wohnte, verlassen; die große Stadt hatte mir jetzt nichts mehr zu bieten. Morgenpromenaden zu Fuß, während der ersten Tagesstunden, Abendspaziergänge zu Wagen, am »Strand« bis zur Esplanade des Fort William mitten unter den glänzenden Equipagen der Europäer, welche mit stolzer Verachtung die nicht minder glänzenden Wagen der großen und dicken eingebornen Babous kreuzen; Besuche jener wunderbaren Geschäftsstraßen, die mit Recht den Namen Bazars führen; Ausflüge nach den Verbrennungsstätten der Todten am Ufer des Ganges, nach den botanischen Gärten des Naturforschers Hooker, zur »Madame Kâli«, dem schrecklichen Weibe mit vier Armen, der wilden Todesgöttin, die sich in einem kleinen Tempel einer jener Vorstädte verbirgt, wo die moderne Civilisation und die einheimische Barbarei einander berühren – das war gethan und geschehen. Den Palast des Vicekönigs zu betrachten, der sich dem Hôtel Spencer gegenüber erhebt; den merkwürdigen Palast des Chowringhi Road und die Town-Hall, die dem Andenken der großen Männer unserer Zeit gewidmet ist, zu bewundern; die interessante Moschee von Hougly eingehend zu studiren; am Hafen zu flaniren, der von den schönsten Kauffahrteischiffen der englischen Marine strotzt; Abschied zu nehmen von den Arghiclas, Adjutanten oder Philosophen – [70] diese Vögel haben gar zu viele Namen – denen es sozusagen obliegt, die Straßen zu reinigen und die Stadt in gutem Gesundheitszustande zu erhalten, das war auch geschehen, und es blieb mir nun nichts Anderes übrig, als abzureisen.

Am erwähnten Morgen nahm mich also ein Palkighari, eine Art schlechter vierrädriger, zweispänniger Wagen – der sich zwischen den bequemen Erzeugnissen der englischen Wagenbaukunst freilich nicht sehen lassen darf – am Gouvernementsplatze auf und hatte mich bald nach dem Bungalow des Oberst Munro befördert.

Hundert Schritte vor der Vorstadt wartete unser Train. Wir brauchten uns nur darin »häuslich einzurichten« – das ist die richtige Bezeichnung.

Selbstverständlich war unser Gepäck schon vorher in dem dafür bestimmten Raume untergebracht worden. Wir nahmen übrigens nichts als das Nothwendigste mit. Nur bezüglich der Waffen verblieb Kapitän Hod bei der Anschauung, daß das unbedingt Nöthige mindestens aus vier Enfields-Büchsen mit explodirenden Kugeln, vier Jagdgewehren, zwei Entenflinten und noch einer Anzahl anderer Flinten und Revolver zu bestehen habe, womit wir Alle überreichlich bewaffnet werden konnten. Dieses große Kriegsgeräth war gewiß mehr zur Erlegung von Bestien ausgewählt, als zur Jagd auf eßbares Wild, doch der Nimrod der Expedition ließ sich in dieser Beziehung nichts d'reinreden.

Kapitän Hod schwelgte übrigens vor Entzücken! Das Vergnügen, den Obersten der Einsamkeit seiner Klause zu entreißen, die Freude, die nördlichen Provinzen Indiens in einem Fuhrwerk ohne Gleichen zu durchstreichen, die Aussicht auf ganz außergewöhnliche Jagdzüge und Ausflüge in die Himalaya-Berge, Alles das belebte und reizte ihn mehr als gewöhnlich und machte sich in unendlichen Ausrufen und Händedrücken Luft, bei denen er den Anderen fast die Knochen zerbrach.

Die Stunde der Abfahrt kam heran. Der Kessel hatte Dampf, die Maschine war bereit zu arbeiten. Der Maschinist stand auf seinem Posten, die Hand am Regulator. Der gewöhnliche schrille Pfiff erschallte.

»Vorwärts, rief Kapitän Hod, den Hut schwenkend, Stahlriese, vorwärts!«

Der Name Stahlriese, den unser enthusiastischer Freund dem wunderbaren Motor unseres Train gegeben, war gewiß ein berechtigter und blieb ihm auch für immer.

Hier noch ein Wort über das Personal der Expedition, das im zweiten beweglichen Hause wohnte.


Hougly zu Calcutta. (S. 75.)

Der Maschinist Storr, ein Engländer von Geburt, gehörte früher zur Compagnie der. »Great-Southern of India«, von der er erst vor wenig Monaten ausgeschieden war. Banks, der ihn kannte, wußte, daß er sehr tüchtig sei und hatte ihn veranlaßt, in Oberst [71] Munro's Dienste zu treten. Es war ein Mann von vierzig Jahren, ein geschickter Arbeiter und in seinem Fache gründlich erfahren, der uns sehr wichtige Dienste leisten sollte.

Der Heizer hieß Kâlouth. Er stammte aus jener Classe von Hindus, die von den Eisenbahn-Gesellschaften deshalb so hoch geschätzt werden, weil sie die


»Herr Kapitän?« (S. 77.)

[72]

Tropenhitze Indiens neben der eines Dampfkessels ungestraft auszuhalten vermögen. Dasselbe gilt von den Arabern, denen die Seetransport-Gesellschaften die Besorgung der Kessel bei der Fahrt auf dem Rothen Meere anvertrauen. Diese wackeren Leute begnügen sich, da nur zu sieden, wo Europäer in kurzer Zeit braten würden.

Die Ordonnanz des Oberst Munro war ein Hindu von fünfunddreißig Jahren der Race nach ein Gourgkah, Namens Goûmi. Er gehörte dem Regiment an das als Beweis unerschütterlicher Disciplin ohne Murren den Gebrauch [73] der neuen Munition annahm, welche die erste Veranlassung, mindestens den Vorwand für den Aufstand der Sipahis abgab. Klein, flink, wohlgebaut, aber von einer Ergebenheit ohne Gleichen, trug er noch immer die schwarze Uniform der »Rifles-Brigade«, an der er mit Leib und Seele hing.

Der Sergeant Mac Neil und Goûmi waren in Krieg und Frieden die beiden Getreuen des Oberst Munro.

Nachdem sie sich an seiner Seite in allen Kämpfen in Indien geschlagen, ihn bei seinen fruchtlosen Versuchen, Nana Sahib aufzufinden, begleitet, waren sie ihm auch nach seinem Ruhesitze gefolgt, um ihn niemals wieder zu verlassen.

Neben Goûmi, der Ordonnanz des Obersten, ist Fox, ein lustiger, sehr mittheilsamer Vollblut-Engländer zu nennen, als Diener des Kapitän Hod und nicht minder eifriger Jäger als dieser. Um keinen Preis der Welt hätte er seine jetzige Stellung gegen irgend eine andere vertauscht. Seine Schlauheit machte ihn des Namens Fox, das ist Fuchs, werth; er war aber ein Fuchs, der schon beim siebenunddreißigsten Tiger angelangt war, und damit hinter seinem Herrn nur um drei Stück zurückblieb. Er rechnete jedoch stark darauf, noch weiter vorwärts zu kommen.

Zur vollständigen Aufzählung des Personals der Expedition fehlt nur noch unser schwarzer Koch, der im vorderen Theile des zweiten Hauses zwischen den beiden Vorrathskammern schaltete. Ein Franzose von Geburt, der schon unter allen Breiten gebraten worden war, glaubte »Monsieur Parazard« – so lautete sein Name – nicht ein gewöhnliches Handwerk auszuüben, sondern ein Amt von hoher Bedeutung zu verwalten. Er entfaltete eine beispiellose Würde dabei, wenn er sich an dem einen oder dem anderen Ofen zu schaffen machte, oder mit der peinlichen Genauigkeit eines Chemikers Pfeffer, Salz oder andere Würze, welche seine gelehrten Präparate verlangten, hinzugab. Da Monsieur Parazard übrigens geschickt und sauber war, so verzieh man ihm wohl gern seine culinarische Eitelkeit.

Zehn Personen also, nämlich Sir Edward Munro, Banks, Kapitän Hod und ich einerseits, Mac Neil, Storr, Kâlouth, Goûmi, Fox und Monsieur Parazard anderseits bildeten die Expedition, welche der Stahlriese in zwei beweglichen Häusern nach dem Norden der indischen Halbinsel beförderte. Doch vergessen wir auch nicht die beiden Hunde Phann und Black, die der Kapitän bezüglich ihrer ausgezeichneten Eigenschaften als Gehilfen bei der Jagd auf Wild und Federvieh gar nicht genug zu loben wußte.

[74] Bengalen ist, wenn auch nicht die merkwürdigste, jedenfalls aber die reichste Präsidentschaft von Hindostan. Es ist zwar nicht das eigentliche Land der Rajahs, das mehr den centralen Theil dieses weiten Reiches umfaßt; diese Provinz erstreckt sich dagegen über ein stark bevölkertes Gebiet, welches vielleicht als das wahre Land der Hindus zu betrachten ist. Es reicht nach Norden zu bis zu der unübersteiglichen Grenze, die der Himalaya bildet, und unsere Reiseroute sollte dasselbe schräg durchschneiden.

Nach Feststellung der ersten Etappen der Fahrt hatten wir uns über Folgendes geeinigt: Wir wollten einige Meilen dem Hougly, das heißt dem Arm des Ganges folgen, der an Calcutta vorbeiströmt, dann die französische Stadt Chandernagor rechts liegen lassen, der Eisenbahnlinie bis Burdwan nachgehen und auf bequemstem Wege durch Behar ziehen, um in Benares wieder an den Ganges zu kommen.

»Meine Freunde, hatte Oberst Munro dabei geäußert, ich überlasse Euch vollständig die Bestimmung der Richtung unserer Reise... bestimmt sie nur ohne mich, Alles, was ihr thut, wird mir angenehm sein.

– Lieber Munro, erwiderte Banks darauf, Du wirst doch wohl auch Deine Ansicht zu erkennen geben müssen...

– Nein, nein, Banks, fiel der Oberst ein, ich ordne mich Dir unter und beanspruche kein Vorrecht, die eine Provinz etwa eher zu besuchen als die andere. Doch möge mir eine einzige Frage gestattet sein: Welche Richtung soll eingeschlagen werden, wenn wir nach Benares gekommen sind?

– Die nach Norden! rief Kapitän Hod bestimmt, der Weg, welcher direct nach den ersten Abhängen des Himalaya führt, also quer durch das Königreich Audh!

– Gut, gut, liebe Freunde, antwortete Oberst Munro, dann werde ich an Euch vielleicht das Ansuchen stellen... Doch davon sprechen wir später. Bis dahin macht nur Alles nach Eurem Gutdünken!«

Diese Worte Sir Edward Munro's mußten nothwendig einiges Erstaunen erwecken. Welcher Gedanke lag denselben wohl zugrunde?

Sollte er dieser Reise nur mit dem Hintergedanken zugestimmt haben, daß der Zufall ihn vielleicht finden ließ, was dem eifrigsten Willen mißglückte? Glaubte er, wenn Nana Sahib noch am Leben war, diesen etwa im Norden von Indien aufzuspüren? Ich für meinen Theil hatte das bestimmte Gefühl, daß sich Oberst Munro von ähnlichen Motiven leiten ließ, und es schien mir [75] sogar, als ob der Sergeant Mac Neil in seines Herrn Geheimnisse eingeweiht sei.

Während der ersten Stunden dieses Morgens hatten wir im Salon vom Steam-House Platz genommen. Die Thür und die beiden Fenster nach der Veranda zu standen offen, und die Punka, welche die Luft in Bewegung erhielt, machte die Temperatur recht erträglich.

Der Regulator in den Händen Storr's zügelte den Stahlriesen. Nur eine Meile in der Stunde, mehr verlangten für jetzt die Reisenden nicht, welche neugierig das Land umher betrachteten.

Von der Vorstadt Calcuttas aus folgten uns zuerst etwa hundert Europäer, welche unser Fuhrwerk anstaunten, neben einer Unmasse Hindus, die es mit einer Art mit Furcht untermischten Verwunderung anstarrten. Nach und nach verminderte sich die Menge, doch entgingen wir nicht den bewundernden Ausrufen der Passanten, die ihre »Wahs! wahs!« fast verschwendeten. Selbstverständlich galten diese Zeichen der Bewunderung weniger den beiden prächtigen Wagen, als dem gigantischen Elephanten, der diese unter Ausstoßen von Dampfwirbeln dahinschleppte.

Um zehn Uhr wurde im Speisesaale die Tafel gedeckt, und da wir wirklich weniger geschüttelt wurden, als in einem Salonwagen erster Classe, so that Jeder dem Frühstück Monsieur Parazard's alle Ehre an.

Der Weg, welchen unser Zug einhielt, führte am Ufer des Hougly hin, dem westlichsten der zahlreichen Arme des Ganges, welche zusammen das unentwirrbare Netz der sogenannten Sunderbunds bilden. Der ganze Landstrich hier besteht aus Alluvialboden.

»Was Sie hier sehen, Lieber Maucler, sagte Banks zu mir, ist das Erzeugniß des Wettstreites zwischen dem heiligen Ganges und dem nicht minder geheiligten Golf von Bengalen. Das Ganze ist eine Frage der Zeit. Vielleicht liegt hier kein Bröckchen Erde, das nicht von dem Himalaya herstammt, von wo die Strömung des Ganges dieselbe herabführte. Der Fluß hat allmählich das Gebirge abgenagt, um den Boden dieser Provinz zu bilden, in dem er für sich selbst ein Bett aussparte...

– Das er oft genug gegen ein anderes vertauscht! setzte Kapitän Hod hinzu. O, dieser Ganges ist ein Sonderling, ein Phantast, ein Mondsüchtiger! Man erbaut eine Stadt an einem Ufer, und wenig Jahrhunderte später liegt diese mit trockenen Quais mitten im Lande, da der Strom seine Richtung und [76] Mündung gewechselt hat. So badeten früher Rajmahal und Gaur ihren Fuß in dem ungetreuen Wasserlaufe und sterben jetzt vor Durst inmitten der dürren Reisfelder der Ebene.

– Nun, fragte ich, steht nicht auch zu befürchten, daß Calcutta einst dasselbe Los trifft?

– Wer weiß?

– Oho, sind wir denn gar nicht da, warf Banks ein. Giebt es denn keine Deiche? Wenn es sich nöthig macht, wird man das Austreten des Ganges schon zu hindern wissen. Man legt ihm eben einfach die Zwangsjacke an!

– Es ist ein Glück für Sie, lieber Banks, bemerkte ich, daß Sie hier keine Hindus in dieser Weise über ihren heiligen Strom sprechen hören; das würden Sie Ihnen niemals verzeihen.

– Freilich, mußte Banks zugestehen, der Ganges gilt ihnen ja als der Sohn der Gottheit, wenn nicht als diese selbst, und was er thut, ist in ihren Augen nie ein Uebel.

– Nicht einmal das Fieber, die Cholera und die Pest, die er niemals ganz ausgehen läßt! rief Kapitän Hod. Die Tiger und Krokodile, von denen es in den Sunderbunds wimmelt, befinden sich freilich nicht schlechter dabei. Im Gegentheil, man möchte sagen, die verderbliche Luft sei für diese Geschöpfe ebenso zuträglich, wie die reine Atmosphäre eines Sanatoriums während der heißen Jahreszeit für die Anglo-In dianer. O, dieses Raubzeug! – Fox! rief Hod, indem er sich zu seinem Diener wandte, der die Tafel abräumte.

– Herr Kapitän? meldete sich Fox.

Nicht wahr, Du hast den siebenunddreißigsten erlegt?

– Ja. Herr Kapitän, zwei Meilen von Port Canning, antwortete Fox. Es war eines Abends...

– Schon gut! unterbrach ihn Kapitän Hod, der ein tüchtiges Glas Grog ausleerte. Ich kenne die Geschichte Deines siebenunddreißigsten; die des achtunddreißigsten würde mich weit mehr interessiren.

Der achtunddreißigste ist noch nicht getödtet, Herr Kapitän!

– Du wirst ihn aber tödten, Fox. Ebenso wie ich den einundvierzigsten!«

Im Gespräche zwischen Kapitän Hod und seinem Diener wurde, wie man sieht, das Wort »Tiger« einfach weggelassen. Das war überflüssig. Die beiden Jäger verstanden sich schon.

[77] Je weiter sie vorwärts kamen, desto mehr verengerte sich das Bett des Hougly, der vor Calcutta nahe einen Kilometer breit ist. Stromaufwärts von dieser Stadt begrenzen ihn nur sehr niedrige Ufer. Hier entwickeln sich manchmal furchtbare Cyclonen, die ihre Zerstörung über die ganze Provinz verbreiten. Ganze Stadtviertel werden dabei vernichtet, Hunderte von Häusern eines an dem anderen zertrümmert, ungeheure Anpflanzungen verwüstet, während Tausende von Leichnamen die Stadt und das Land bedecken – das sind die Jammerbilder, welche diese schrecklichen Meteore hinterlassen, unter denen die Cyclone von 1844 die anderen an Heftigkeit besonders übertraf.

Bekanntlich besteht das Klima Indiens aus drei Jahreszeiten: der Regenzeit, der kalten und der heißen Jahreszeit. Die letztere ist zwar die kürzeste, aber auch die beschwerlichste. März, April und Mai sind besonders furchtbare Monate. Unter allen ist der Mai der heißeste. Wer sich zu dieser Zeit mehrere Stunden am Tage der Sonne aussetzt, riskirt dabei das Leben, wenigstens ein Europäer. Es ist nicht so selten, daß das Thermometer selbst im Schatten bis auf 106° Fahrenheit (etwa 41° Celsius) ansteigt.

»Die Menschen, sagt de Velbezen, dampfen dabei wie die Pferde, und während des Krieges zur Unterdrückung des Aufstandes mußten die Soldaten zu Kaltwasser-Douchen über den Kopf ihre Zuflucht nehmen, um dem Blutandrang nach dem Gehirn zu steuern.«

Dank der eigenen Bewegung des Steam-House, dem durch das Schwingen der Punka unterhaltenen Luftwechsel und der feuchten Atmosphäre, welche durch die unausgesetzt benetzten Fenstermatten eindrang, litten wir von der Hitze nicht allzusehr. Uebrigens näherte sich die Regenzeit, welche vom Juni bis zum October dauert, und diese konnte uns vielleicht unangenehmer werden, als die heiße Saison. Unter den Verhältnissen, wie wir reisten, war indeß von keiner Seite etwas Ernstliches zu fürchten.

Gegen ein Uhr Nachmittags kamen wir nach einer köstlichen Promenade, die wir machten, ohne aus dem Hause zu gehen, bei Chandernagor an.

Ich hatte diesen Erdenwinkel, den einzigen, der in der ganzen Präsidentschaft Bengalen noch Frankreich angehört, schon früher besucht. Diese unter dem Schutze der dreifarbigen Fahne stehende Stadt, welche nur das Recht hat, fünfzehn Soldaten zu ihrer eigenen Bewachung zu unterhalten, die alte Rivalin Calcuttas während der Kämpfe des 18. Jahrhunderts, ist jetzt verfallen, ohne Gewerbfleiß, ohne Handel, ihre Bazars sind verlassen, ihre Forts nicht besetzt.

[78] Vielleicht hätte Chandernagor einen neuen Impuls bekommen, wenn die Eisenbahn nach Allahabad durch dieselbe oder doch längs ihrer Mauern hingeführt worden wäre; in Folge der Anforderungen der französischen Regierung aber sah die englische Gesellschaft sich genöthigt, eine andere Linie auszuwählen und das französische Gebiet zu umgehen, wodurch Chandernagor die letzte Gelegenheit verloren hat, sich wieder zu einiger Handelsbedeutung aufzuraffen.

Unser Train berührte die Stadt also auch nicht. Er hielt drei Meilen davon auf der Straße, beim Eingang in einen Latanien-Wald an. Als wir uns hier zur Rast einrichteten, sah es aus, als ob der Bau eines Dorfes an der betreffenden Stelle begonnen worden wäre. Das Dorf war freilich beweglich, und am Morgen des 7. Mai nahm es seinen unterbrochenen Marsch wieder auf, nachdem wir eine ruhige Nacht in unseren comfortablen Cabinen zugebracht hatten.

Während des Aufenthaltes sorgte Banks für Erneuerung des Brennmaterials. Obwohl die Maschine nur wenig gebraucht hatte, hielt er doch stets darauf, daß der Tender seine volle Ladung, an Wasser und an Kohlen, führte, um sechzig Stunden den Bedarf decken zu können.

Diesen Grundsatz wendeten der Kapitän Hod und sein getreuer Fox auch redlich auf sich selbst an, und ihr innerer Ofen – ich wollte sagen ihr Magen, der eine sehr große Heizfläche bot – war stets mit reichlichem stickstoffhaltigen Brennmaterial versehen, das ja unentbehrlich ist, um die menschliche Maschine längere Zeit gut in Gang zu erhalten.

Die zunächst zurückzulegende Strecke sollte eine längere sein. Wir wollten zwei Tage lang fahren, zwei Nächte ruhen, um Burdwan zu erreichen – und dieser Stadt einen Besuch abzustatten.

Um sechs Uhr Morgens gab Storr das Abfahrtssignal mit der Dampfpfeife, blies die Cylinder aus, und der Stahlriese setzte sich etwas schneller als vorher in Gang.


Die Stadt besteht aus niedrigen Häusern. (S. 82.)

Einige Stunden lang hielten wir uns in der Nähe des Schienenweges, der über Burdwan das Gangesthal bei Rajmahal wieder erreicht, dem er dann bis Benares folgt. Eben flog der Zug von Calcutta vorüber. Er schien uns durch die bewundernden Blicke der Passagiere herauszufordern. Wir beachteten diese Herausforderung nicht. Sie mochten schneller fahren als wir, bequemer jedenfalls nicht.

[79] Die Landschaft, durch welche wir in diesen zwei Tagen kamen, war unveränderlich eben und deshalb ziemlich einförmig. Da und dort schaukelten sich einige schlanke Cocospalmen, welche Baumgattung jenseits Burdwan bald ganz verschwindet. Diese zu der großen Familie der Palmen gehörenden Bäume sind nämlich Freunde der Küste und gedeihen nur, wenn ihre Athmungsluft einige Partikelchen Meeresluft enthält. Deshalb begegnet man ihnen auch nicht mehr außerhalb einer ziemlich schmalen Uferzone und würde sie vergeblich im Innern Indiens suchen. Die Flora des Binnenlandes ist jedoch nicht weniger interessant [80] und artenreich. Zu beiden Seiten des Ganges bildete das Land sozusagen ein riesiges Schachbrett von Reisfeldern, das sich unübersehbar weit hinaus erstreckte. Der Boden war in Vierecke getheilt und eingedeicht, etwa wie die Salzsümpfe der Lagunen oder die Austernparks der Seeküste. Hier herrschte jedoch die grüne Farbe vor und die Ernte auf diesem feuchten und warmen Erdreich mit seiner üppigen Fruchtbarkeit schien sehr ergiebig werden zu sollen.


Wir zündeten uns die Cigarren an. (S. 84.)

Am nächsten Abend stieß die Maschine zur festgesetzten Stunde und mit einer Pünktlichkeit um die sie jeder Eilzug hätte beneiden können, die letzte [81] Dampfwolke aus und hielt vor den Thoren von Burdwan. In administrativer Hinsicht bildet diese Stadt den Hauptort eines englischen Bezirkes, der aber selbst einem Maharajah unterthan ist, welcher an die Regierung nicht weniger als zehn Millionen Steuern bezahlt. Die Stadt besteht größtentheils aus niedrigen Häusern mit schönen Baumalleen zwischen denselben. Letztere sind breit genug, um unseren Train den Durchgang zu gestatten. Wir sollten diese Nacht also an einem reizenden Punkte voller Schatten und Frische zubringen. An jenem Abend zählte die Residenz des Maharajah ein kleines Stadtviertel mehr, nämlich unseren tragbaren Weiler, unser aus zwei Häusern bestehendes Dörfchen, das wir jedoch nicht gegen das ganze Stadtviertel vertauscht hätten, in dem sich der glänzende Palast des Beherrschers von Burdwan in anglo-indischem Baustyl erhebt.

Unser Elephant brachte natürlich auch hier die gewohnte Wirkung hervor, das heißt, einen mit Verwunderung gemischten Schrecken bei allen Bengalen, die von rechts und links im bloßen Kopfe mit einer Haarfrisur à la Titus herzuströmten, die Männer nur bekleidet mit einem Schurz um die Lenden, die Weiber mit dem weißen »Sarri« (das ist ein burnusähnliches Hemd), das sie vom Kopf bis zu den Füßen verhüllt.

»Es beschleicht mich hier nur die eine Furcht, begann da Kapitän Hod, daß es dem Maharajah einfallen könnte, unseren Stahlriesen kaufen zu wollen, und daß er dafür eine Summe böte, die uns nöthigte, ihn Seiner Hoheit zu überlassen.

– Das wird nie geschehen! rief Banks. Wenn er es wünscht, baue ich ihm eher einen neuen Elephanten und von solcher Stärke, daß er seine ganze Hauptstadt von einem Ende des Reichs zum anderen fortziehen könnte. Den unsrigen verkaufen wir jedoch um keinen Preis. Nicht wahr, Munro?

– Um keinen Preis,« bestätigte der Oberst mit der Miene eines Mannes, den auch das Angebot einer Million nicht rühren würde.

Ein etwaiger Verkauf unseres Riesen kam jedoch eigentlich gar nicht in Frage. Der Maharajah befand sich zur Zeit gar nicht in Burdwan. Wir erhielten nur den Besuch seines »Kândar«, eine Art Geheimsecretär, der unser Gefährt in Augenschein nahm. Dafür bot uns der Mann – worauf wir mit Vergnügen eingingen – an, die Gärten des Palastes zu besuchen, welche die schönsten Exemplare von tropischen Pflanzen enthalten, und von lebendem Wasser, das sich in Teichen ansammelt oder in Bächen dahinfließt, benetzt werden; [82] ferner den mit phantastischen Kiosks geschmückten Park zu durchwandern in dem sich herrliche grüne Rasenplätze, aber auch Ziegen, Hirsche, Damhirsche und Elephanten als Repräsentanten der Hausthiere im Freien, dagegen Tiger, Löwen, Panther, Bären als Vertreter der Raubthiergeschlechter in prachtvollen hausähnlichen Käfigen vorfinden.

»Tiger im Käfig wie Stubenvögel, Herr Kapitän! rief Fox. Es ist doch zum Erbarmen!

– Gewiß, Fox! antwortete der Kapitän. Wenn es nach ihrem Willen ging, würden die letzteren gern frei in den Dschungeln umherschweifen, selbst vor dem Laufe einer Büchse mit explodirenden Geschossen!

– Das mein' ich auch!« bestätigte der Diener tief aufseufzend.

Am nächsten Tage, am 10. Mai, verließen wir Burdwan. Das mit Allem wohlversorgte Steam-House kreuzte die Eisenbahn auf einem Niveau-Uebergang, und wandte sich direct nach Ramghur, eine etwa fünfundsiebzig Meilen entfernt liegende Stadt.

Diese Reiseroute ließ freilich zu unserer Rechten die nicht unbedeutende Stadt Mourchedabad, die weder in ihrem indischen, noch im englischen Quartiere etwas Interessantes bietet; Monghir, eine Art Birmingham Hindostans, gelegen auf einem Vorberge, der das Bett des geheiligten Stromes beherrscht; Patna, die Hauptstadt jenes Königreiches Behar, das wir schräg durchziehen wollten, ein reiches Handelscentrum für den Opium-Export, welches unter den Schlingpflanzen, die hier besonders üppig gedeihen, zu verschwinden Gefahr läuft; doch wir hatten Besseres zu thun: wir mußten einer meridianalen Richtung zwei Grade unterhalb des Gangesthales folgen.

Während dieses Theiles der Fahrt wurde der Stahlriese etwas mehr angetrieben und unterhielt einen leichten Trott, der uns die vortreffliche Einrichtung unserer schwebenden Häuser überzeugend vor Augen führte. Uebrigens war die Straße gut und eignete sich zu dieser Probe. Vielleicht erschraken die Raubthiere vor dem gigantischen Elephanten, der Rauch und Dampf ausathmete. Mindestens sahen wir zum großen Erstaunen des Kapitän Hod in den Dschungeln dieses Landes kein einziges. Doch wollte Jener seiner Jagdleidenschaft ja auch erst in den nördlichen Gebieten Indiens, und nicht schon hier in Bengalen nachgehen, so daß er sich vorläufig nicht beklagte.

Am 15. Mai befanden wir uns in der Nähe von Ramghur, gegen fünfzig Meilen von Burdwan. Die mittlere Fahrgeschwindigkeit betrug bisher fünfzehn[83] Meilen in zwölf Stunden, nicht mehr. Drei Tage später, am 18., hielt der Zug, hundert Kilometer weiter, bei der kleinen Stadt Chittra an.

Dieser erste Theil der Reise war ohne jeden Zwischenfall verlaufen. Die Tage warenwarm, die Siesta unter dem Schutze der Veranda dagegen desto angenehmer. Da brachten wir diese heißesten Stunden unter köstlichem Farniente zu.

Abends reinigten Storr und Kâlouth unter den Augen Banks' den Kessel und revidirten die Maschine.

Unterdeß gingen wir, Kapitän Hod und ich, begleitet von Fox und Goûmi und den beiden Vorstehhunden, in der Nachbarschaft des Halteplatzes jagen. Noch gab es nur kleines Wild und Federvieh; wenn der Kapitän das als Jäger auch verachtete, so schätzte er es doch als Feinschmecker, und am nächsten Tage enthielt der Speisezettel des Monsieur Parazard zu seiner größten Befriedigung einige saftige Gerichte mehr, wobei wir unsere Vorräthe schonen konnten.

Zuweilen blieben Goûmi und Fox wohl auch zurück, um Holz zu fällen und Wasser zu tragen. Es mußte ja der Tender für den ganzen Tag gefüllt werden. Banks wählte deshalb auch den Halteplatz mit Vorliebe am Ufer eines Baches und in der Nähe eines Gehölzes. Die Versorgung mit dem nöthigen Material geschah stets unter der Aufsicht des Ingenieurs, der sich selbst um Alles bekümmerte.

War das Alles vollbracht, so zündeten wir uns die Cigarren an – ausgezeichnete »Cherouts« aus Manilla – und rauchten während eines Gespräches über dieses Land, das Hod und Banks ja gründlich kannten. Der Kapitän verachtete die gewöhnliche Cigarre und sog mit seinen kräftigen Lungen durch einen zwanzig Fuß langen Schlauch den aromatischen Duft aus einem »Houkah«, den sein Diener mit aller Sorgfalt gestopft hatte.

Unser größtes Vergnügen wäre es gewesen, wenn Oberst Munro sich einmal diesen kurzen Ausflügen in die nächsten Umgebungen angeschlossen hätte. Stets machten wir ihm vor dem Aufbruch diesen Vorschlag, doch ebenso oft lehnte er unser Angebot ab und blieb mit Sergeant Neil zurück. Beide gingen dann nur auf der Straße je hundert Schritt hin und her. Sie sprachen wenig, schienen sich aber vollkommen zu verstehen, und hatten es nicht nöthig, viel Worte zu wechseln, um ihre Gedanken auszutauschen. Beide schienen ganz von den furchtbaren Erinnerungen erfüllt zu sein, die nichts verlöschen konnte. Wer weiß, ob sich diese Erinnerungen nicht noch mehr belebten, je mehr Oberst [84] Munro und der Sergeant sich dem Schauplatz des schrecklichen Aufstandes näherten.

Offenbar hatte den Obersten eine fixe Idee, die wir erst später erfahren sollten, und nicht der einfache Wunsch, sich nicht von uns zu trennen, zum Anschluß an diese Fahrt nach Norden von Indien veranlaßt. Banks und Kapitän Hod theilten hierüber meine eigenen Anschauungen, und wir legten uns unwillkürlich und mit einiger Sorge vor der Zukunft die Frage vor, ob dieser Elephant, während er durch die Ebenen der Halbinsel schritt, nicht ein ganzes Drama zur Entwicklung bringen werde.

7. Capitel
Siebentes Capitel.
Die Pilger an Phalgou.

Behar, das ehemalige Magadha, war zur Zeit der Buddhisten ein geheiligter Bezirk und ist noch jetzt von Tempeln und Klöstern erfüllt. Seit vielen Jahrhunderten schon sind aber die Brahmanen an die Stelle der Priester Buddha's getreten. Sie haben die »Viharas« (das sind Klöster, von welcher Bezeichnung auch der Name »Behar« abstammen soll) in Besitz genommen, nutzen dieselben aus und leben von den Erträgnissen des Cultus; Gläubige strömen ihnen von allen Seiten zu; sie machen dem heiligen Wasser des Ganges, den Pilgerfahrten von Benares und den religiösen Feierlichkeiten von Jaggernaut merkbare Concurrenz; mit einem Wort, der ganze Bezirk gehört ihnen an.

Ein reiches Land mit endlosen, smaragdgrünen Reisfeldern, ungeheueren Mohnplantagen und zahlreichen, in üppigem Grün versteckten Flecken, beschattet von Palmen, Mango-, Dattelbäumen und Taras, über welche die Hand der Natur ein kaum entwirrbares Netz von Lianen gebreitet hat. Die Wege, denen das Steam-House folgt, bilden lauter dichtbelaubte Bogengänge, deren feuchter Boden eine erquickende Frische erhält. Die Karte vor den Augen, dringen wir, ohne Furcht, uns zu verirren, immer weiter vor. Das Sausen und Brausen unseres Elephanten mischt sich mit dem betäubenden Lärmen des gefiederten [85] Geschlechtes und mit dem unharmonischen Geschrei des Affenvolkes. Sein Dampf wälzt sich in dichten Wirbeln zwischen dem Phönix des Landes, dem Bananenbaum hindurch, dessen goldige Früchte gleich Sternen aus leichten Wolken hervorglänzen. Wo er hinkommt, fliegen ganze Schwärme zarter Reisvögel auf, deren weißes Gefieder in den weißen Dampfwirbeln verschwindet. Da und dort heben sich Gruppen von Banianen und Pampelpomeranzen kräftig ab, oder kleinere Feldstücke von. »Dahls«, das ist eine Art buschig wachsender Erbsen mit etwa meterhohen Stengeln, die in den Dörfern des Hinterlandes zu Einzäunungen verwendet werden.

Aber welche Hitze! Kaum dringt ein wenig feuchte Luft durch die Matten vor unseren Fenstern! Die »Hot winds« – die warmen Winde – welche sich, während sie die weiten Ebenen im Westen bestreichen, mit Hitze überladen, bedecken das Land mit ihrem feurigen Athem. Es wird hohe Zeit, daß der Juni-Mousson in diesen Zustand der Atmosphäre eine Aenderung bringt. Niemand vermöchte, ohne Gefahr der Erstickung, diese Gluthsonne auf die Dauer zu ertragen.

Das Land ist auch ganz menschenleer. Selbst die an diese feurigen Sonnenstrahlen gewöhnten »Raiots« müssen von jeder Feldarbeit abstehen. Nur die schattige Straße ist noch zu benutzen, und auch das nur, da wir sie unter dem Schutze unseres rollenden Bungalow durchlaufen. Der Heizer Kâlouth muß, ich sage nicht aus Platin bestehen, denn Platin würde schmelzen, sondern aus reinem Kohlenstoff, um vor seinem glühenden Kesselroste nicht in flüssigen Zustand überzugehen. Doch nein! Der brave Hindu hält aus! Er besitzt gewiß eine andere, wärmerückstrahlende Natur, die er sich auf der Plattform der Locomotiven, auf den Schienenwegen Central-Indiens erworben!

Im Laufe des 19. Mai zeigte das an der Wand des Speisesaales hängende Thermometer eine Temperatur von 106° Fahrenheit (41·11° Celsius). An demselben Abend mußten wir auf unsere hygienische »Hawakana-Promenade« verzichten. Dieses Wort bedeutet eigentlich »Luft essen«, das heißt man athmet dabei nach der erdrückenden Hitze des Tropensommertages ein wenig laue, reine Abendluft ein. Diesmal hätte die Atmosphäre im Gegentheil uns aufgezehrt.

»Herr Maucler, redete der Sergeant Mac Neil mich da an, das erinnert mich an jene letzten Tage im März, als Sir Hugh Rose mit einer nur aus zwei Geschützen bestehenden Batterie eine Bresche in die Umfassungsmauer von Laknau zu legen versuchte. Vor sechzehn Tagen waren wir über die Betwa [86] gekommen und hatten seit eben der Zeit die Pferde ein einziges Mal abgesattelt. Wir kämpften zwischen ungeheuren Granitmauern, was hier ebenso viel bedeutet, wie zwischen den Backsteinwänden eines hohen Ofens. In unseren Reihen gingen »Chitsis« auf und ab, welche Wasser in Schläuchen herumtrugen und uns das, während wir feuerten, über die Köpfe gossen. Ja, da kommt mir noch etwas in den Sinn! Ich war erschöpft, mein Kopf wollte zerspringen und fast sank ich schon zur Erde... Da bemerkte es Oberst Munro, entreißt einem Chitsi den Schlauch und gießt dessen Inhalt über mich aus... und das war der letzte, den die Träger zu beschaffen vermochten!... Sehen Sie, so etwas vergißt sich nicht. Nein! Einen Blutstropfen für jeden Wassertropfen! Und wenn ich mein ganzes Blut für den Herrn Oberst hingegeben hätte, ich bliebe doch noch sein Schuldner!

– Sergeant, fragte ich, finden Sie den Oberst Munro seit unserer Abreise nicht noch gedankenvoller und stiller als gewöhnlich? Es scheint, daß jeder Tag...

– Ganz recht, Herr Maucler, antwortete Mac Neil mich unterbrechend, das geht auch ganz natürlich zu. Der Herr Oberst nähert sich ja Laknau und Khanpur mehr und mehr, wo Nana Sahib jenes Gemetzel... o, ich kann nicht davon sprechen, ohne daß mir das Blut zu Kopfe steigt! Vielleicht wäre es besser gewesen, die Reiseroute zu ändern und nicht durch jene Provinzen zu fahren, in denen der Aufstand am verheerendsten wüthete. Wir stehen jenen entsetzlichen Vorgängen noch zu nahe, als daß die Erinnerung daran schon verblaßt sein könnte.


Mit einem Worte, alle Classen Indiens durcheinander. (S. 94.)

– Aendern könnten wir noch jetzt, erwiderte ich. Wenn Sie meinen, Sergeant, sprech' ich darüber mit Banks und Kapitän Hod...

– Nein, nein, das ist zu spät, entgegnete Mac Neil. Ich habe sogar Ursache, zu glauben, daß es dem Herrn Oberst am Herzen liegt, den Schauplatz jenes schrecklichen Krieges noch einmal zu sehen, und daß er die Stelle besuchen will, wo Lady Munro den Tod – und welchen Tod! – gefunden.

– Wenn es so steht, erwiderte ich, ist es wohl rathsamer, dem Oberst Munro zu willfahren und an unseren Projecten nichts zu ändern. Ost liegt ja ein Trost und eine Milderung des Schmerzes darin, sich an dem Grabe Derer, die uns theuer waren, auszuweinen...

– An einem Grabe, ja! rief Mac Neil. Ist jener Brunnenschacht von Khanpur aber, in den so viele unglückliche Opfer bunt durcheinander gestürzt [87] wurden, wohl noch ein Grab zu nennen? Steht etwa ein Leichenstein daran, ähnlich denen, die von pietätreichen Händen auf unseren schottischen Kirchhöfen gepflegt werden, die mitten unter Blumen und schattigen Bäumen einen Namen enthalten, den einzigen Namen dessen, der darunter ruht? Ach, mein Herr, ich fürchte, der Herr Oberst wird entsetzlich leiden! Doch, ich wiederhole, jetzt ist's zu spät, ihn von diesem Wege noch abzulenken. Wer weiß, ob er sich nicht weigerte, uns zu folgen. Nein, lassen wir die Sache gehen, und Gott sei mit uns!«

[88] Offenbar hatte Mac Neil gegründete Ursache, so bestimmt über die Absichten des Oberst Munro zu sprechen. Sagte er mir aber auch Alles, und war es nur der Zweck, Khanpur wiederzusehen, der den Oberst vermochte, Calcutta zu verlassen?


Da saßen sie und starrten mit glotzenden Augen. (S. 96.)

Doch wie dem auch sei, jetzt zog es ihn wie ein Magnet nach dem Platze, wo die Lösung des schauerlichen Dramas erfolgt war!... Jetzt mußte die Sache ihren Gang haben. Da kam mir der Gedanke, den Sergeant zu fragen, ob er für seinen Theil jeden Gedanken an Rache aufgegeben, mit einem Worte, ob er glaube, daß Nana Sahib todt sei.

[89] »Nein, gab mir Mac Neil schlechtweg zur Antwort. Obwohl ich kein Anzeichen dafür habe, worauf ich meine Ansicht stützen könnte, so kann ich doch nicht glauben, daß Nana Sahib gestorben sei, ohne die Strafe für seine Schandthaten gefunden zu haben! Nein, nein! Und doch, ich weiß nichts und habe auch nichts darüber gehört!... Es ist wie ein Instinct, der mich beherrscht... O, solch' wohlberechtigte Rache kühlen zu können, das müßte dem Herzen wohlthun! Gott gebe, daß meine Ahnungen nicht trügen und wir noch...«

Der Sergeant vollendete den Satz nicht... Seine Bewegungen deuteten an, was die Lippen nicht aussprechen wollten. Der Diener stimmte mit dem Herrn vollkommen überein.

Als ich Banks und Kapitän Hod den Sinn dieses Gespräches mittheilte, sprachen sich Beide dahin aus, daß die Reiseroute weder verändert werden sollte noch könnte. Uebrigens war niemals davon die Rede gewesen, durch Khanpur selbst zu gehen, denn wir beabsichtigten nach Ueberschreitung des Ganges bei Benares durch die Ostprovinzen der Königreiche Audh und Rohilkande direct nach Norden zu ziehen. Was Mac Neil auch denken mochte, so stand es doch nicht fest, das Oberst Munro Laknau oder Khanpur, für ihn die Stätten der entsetzlichsten Erinnerungen, wiedersehen wolle; doch würde man auch im letzteren Falle seinem Wunsche nicht entgegentreten.

Nana Sahib endlich war eine so allgemein bekannte Persönlichkeit, daß wir, wenn sich die, sein Wiederauftreten in der Präsidentschaft Bombay meldende Anzeige bestätigte, unterwegs wohl von ihm hätten sprechen hören. Zur Zeit unserer Abfahrt von Calcutta war von dem Nabab aber kaum noch die Rede, und die von uns gelegentlich eingezogenen Erkundigungen ließen eher den Gedanken aufkommen, daß die Behörden falsch berichtet gewesen seien.

Bargen die Gerüchte aber wider Erwarten doch einen wahren Kern und leitete auch den Oberst Munro jetzt wirklich eine geheime Absicht, so hätte es verwundern können, daß er an Stelle Mac Neil's nicht Banks, seinem vertrautesten Freunde, davon Mittheilung gemacht hatte. Eine Erklärung dafür lag jedoch, wie auch Banks selbst sagte, darin, daß er Alles aufgeboten hatte, den Oberst von gefährlichen und nutzlosen Unternehmungen abzuhalten, während der Sergeant Jenen vielmehr dazu antrieb.

Am 19. Mai gegen Mittag hatten wir den Flecken Chittra passirt. Das Steam-House befand sich jetzt vierhundertfünfzig Kilometer von seinem Ausgangspunkte entfernt.

[90] Mit einbrechender Nacht des nächsten Tages, des 20. Mai, kam der Stahlriese nach einem brennend heißen Tage in der Nähe von Gaya an. Wir hielten am Ufer eines geheiligten Flusses, des Phalgou, der durch die dahin gerichteten Pilgerfahrten weit und breit bekannt ist. Die beiden Häuser nahmen an einem hübschen, von prächtigen Bäumen beschatteten Uferabhange, zwei Meilen von der Stadt, Platz.

Wir gedachten hier sechsunddreißig Stunden, nämlich zwei Nächte und einen Tag zu rasten, denn dieser Ort ist, wie ich oben andeutete, einer genaueren Betrachtung werth.

Am folgenden Morgen, und zwar, um der Mittagshitze zu entgehen, schon um vier Uhr, verabschiedeten wir, das heißt Banks, Kapitän Hod und ich, uns bei Oberst Munro und wanderten nach Gaya.

Man versichert, daß nach diesem Mittelpunkt des brahmanischen Cultus jährlich mindestens fünfhunderttausend Andächtige zusammenströmen. Bei Annäherung an die Stadt sahen wir die Wege auch von einer unendlichen Menge von Männern, Frauen und Kindern bedeckt. In langem, feierlichem Zuge schritten sie Alle dahin, die den Mühsalen einer langen Pilgerfahrt getrotzt hatten, um ihre religiösen Pflichten zu erfüllen.

Banks hatte das Gebiet von Behar schon früher einmal, bei Gelegenheit der Vorarbeiten für eine noch nicht zur Ausführung gekommene Eisenbahn, kennen gelernt, wir konnten also einen besseren Führer nicht leicht finden. Den Kapitän Hod hatte er übrigens zur Zurücklassung jedes Jagdgeräthes zu bestimmen gewußt, so daß wir auch nicht zu befürchten brauchten, daß unser Nimrod uns unterwegs im Stiche ließe.

Kurz vor dem Orte, den man mit Recht die »heilige Stadt« nennen könnte, machte Banks uns auf einen geweihten Baum aufmerksam, welchen Pilger jedes Geschlechtes und jedes Alters andachtsvoll umringten.

Es war ein sogenannter »Pipal« mit ungeheurem Stamme; obwohl die meisten Aeste desselben vor Alter schon abgefallen schienen, konnte er doch nicht mehr als zwei- bis dreihundert Jahre zählen, was Louis Rousselet während seiner hochinteressanten Reise durch die indischen Gebiete der Rajahs zwei Jahre später bestätigte.

Dieser letzte Repräsentant der geweihten Pipals, welche eine lange Reihe von Jahrhunderten denselben Platz beschatteten und deren erster fünfhundert Jahre vor der christlichen Zeitrechnung gepflanzt worden sein soll, trug den [91] religiösen Namen »Boddhi«. Wahrscheinlich galt er, im Glauben der um seinen Stamm knieenden Fanatiker, für denselben, den Buddha einst gesegnet haben soll. Er erhebt sich auf einer jetzt halbverfallenen Terrasse, in der Nähe eines Backstein-Tempels aus offenbar uralten Zeiten.

Die Anwesenheit der drei Europäer inmitten der Tausende von Hindus wurde mit ziemlich scheelen Augen betrachtet. Man ließ zwar nichts gegen uns verlauten, doch vermochten wir weder bis zu der Terrasse noch in den alten Tempel durchzudringen. Die Pilger bildeten eben wahre Mauern um jene Heiligthümer, durch welche man sich kaum hätte einen Weg bahnen können.

»Wäre ein Brahmane hier, begann Banks, so hätten wir mehr erreichen und das Bauwerk in allen Theilen besichtigen können.

– Wieso? fragte ich verwundert, sollte ein Priester minder streng sein als die Anhänger seiner Lehre?

– Mein lieber Maucler, belehrte mich Banks, es giebt keine Strenge, die vor dem Angebote einiger Rupien Stand hielte. Alles in Allem ist es sehr nothwendig, daß es Brahmanen giebt.

– Das begreife ich nicht im mindesten!« erwiderte Kapitän Hod, der eine unbezwingliche Abneigung hegte sowohl gegen die Indier, deren Sitten, Vorurtheile und die Objecte ihrer Verehrung, wie gegen die nachgiebige Duldung, welche seine Landsleute jenen gerechter Weise zu Theil werden ließen.

Augenblicklich erschien ihm Indien nur als »reservirtes Jagdgebiet« und für ihn hatten die wilden Raubthiere der Dschungeln mehr Werth als alle Bewohner der Städte und Dörfer zusammen.

Nach genügendem Aufenthalt in der Nähe des geweihten Baumes führte uns Banks in der Richtung nach Gaya weiter. Mit der Annäherung an die heilige Stadt vergrößerte sich die Menge der Pilger gleichmäßig. Bald ward uns durch eine Lichtung des Gebüsches Gaya auf dem Gipfel des Felsens sichtbar, den es mit seinen wunderlichen Baulichkeiten krönt.

Vor Allem ist es der Tempel Wischnu's, der hier die Aufmerksamkeit der Reisenden erregt. Er erscheint von neuerer Bauart, da ihn die Königin von Holcar erst vor wenigen Jahren neu aufführen ließ. Die größte Merkwürdigkeit birgt dieser Tempel in den von Wischnu persönlich herrührenden Fußstapfen, als er einst zur Erde hernieder stieg, um gegen den Dämon Maya zu kämpfen. Der Kampf zwischen einem Gotte und einem bösen Geiste konnte nicht lange unentschieden bleiben. Der Teufel unterlag, und ein im Bereiche von Wischnu-Pad [92] selbst sichtbarer Felsblock bezeugt durch die tiefen Fußabdrücke seines Gegners, daß dieser Dämon es hier mit einem weit Ueberlegenen zu thun hatte.

Wenn ich sagte, daß diese Fußstapfen auf dem Stein sichtbar wären, so beeile ich mich jedoch hinzuzufügen, daß das nur für Hindus giltig ist. Es wird nämlich kein Europäer zur Betrachtung dieser göttlichen Fußspuren zugelassen. Vielleicht gehört zu deren Erkennung auf dem wunderbaren Steine auch ein handfester Glaube, der den Leuten aus dem Abendlande ja meist abgeht. Diesmal vermochte Banks durch das Angebot seiner Rupien doch nichts durchzusetzen. Kein Priester wollte sich für irgend einen Preis zu einer Heiligthumsschändung erkaufen lassen. Ob nur die Höhe der Summe die Forderungen eines Brahmanen-Gewissens noch nicht erreichte, wage ich nicht zu entscheiden. Jedenfalls gelang es uns nicht, in den Tempel Zutritt zu erhalten, und ich bin also noch immer ohne Kenntniß von dem »Eindrucke« jenes sanften und schönen jungen Mannes von Azurfarbe, gekleidet wie ein König der alten Zeit, berühmt durch seine zehn Fleischwerdungen, den Vertreter des erhaltenden Princips, im Gegensatz zu Siva, der Verkörperung des zerstörenden Princips, den die Vaichnavas, die Verehrer Wischnu's, als den ersten der dreihundert Millionen Götter betrachten, die in ihrer ungemein polytheistischen Mythologie vorkommen.

Dennoch hatten wir keine Ursache, unseren Ausflug nach der heiligen Stadt und den Weg nach Wischnu-Pad zu bereuen. Freilich erscheint es unmöglich, den Wirrwarr von Tempeln, die Reihe von Höfen und die Mengen von Viharas zu schildern, durch welche oder um welche herum wir uns begeben mußten, um nach dem letzteren zu gelangen. Selbst ein Theseus mit dem Faden der Ariadne in der Hand würde sich in diesem Labyrinth verirrt haben! Wir stiegen also den Felsen von Gaya wieder hinab.

Der Kapitän kochte vor Wuth. Er hatte seinen Zorn an dem Brahmanen, der uns den Eintritt in den Wischnu-Pad verweigerte, auslassen wollen.

»Wo denken Sie hin, Hod? hatte Banks, der jenen zurückhielt, gesagt. Wissen Sie nicht, daß die Hindus ihre Priester, die Brahmanen, nicht nur als ausgezeichnete Personen, sondern gar als Wesen höherer Abkunft verehren?«

Als wir an dem Theil des Phalgou gelangt waren, der den Felsen von Gaya bespült, lag weit und breit die ungeheuere Menge von Pilgern vor unseren Blicken. Da drängten sich in einem Wirrwarr ohnegleichen Männer, Frauen, Greise und Kinder, reiche Babous und arme Raiots der untersten Gesellschaftsclassen, Stadt- und Landbewohner, Vaichyas, Kaufleute und Gutsbesitzer, [93] Kchatrias, stolze eingeborne Krieger, Sudras, erbärmliche Künstler der verschiedensten Secten, neben Parias, die außerhalb des Gesetzes stehen und deren Augen die Gegenstände, welche sie ansehen, unrein machen – mit einem Worte, alle Classen oder Kasten Indiens durcheinander, und der kräftige Radjoupt stieß den schwächlichen Bengali mit dem Ellenbogen zur Seite, wie die Leute aus dem Pendjab die Mohammedaner aus Scind. Die Einen waren in Palankins gekommen, die Anderen in Wagen mit einem Gespann von Buckelochsen. Hier lagen Einzelne neben ihren Kameelen, deren Vipernkopf selbst den Boden berührte, auf der Erde. Andere haben den ganzen Weg zu Fuß zurückgelegt, und noch immer mehr strömen aus allen Theilen der Halbinsel herbei. Da und dort erheben sich Zelte, stehen abgespannte Wagen umher oder sieht man Hütten aus Zweigen, die aller Welt als vorübergehende Wohnung dienen.

»Welch' wüster Lärm! bemerkte Kapitän Hod.

– Das Wasser des Phalgou wird nach Sonnenuntergang nicht appetitlich zu trinken sein! meinte Banks.

– Und warum nicht? fragte ich.

– Weil dessen Wasser geheiligt ist und diese ganze verdächtige Menge sich darin baden wird, wie die Anwohner des Ganges in dessen Wellen.

– Lagern wir stromabwärts von hier? rief Hod, während er die Hand nach der Richtung ausstreckte, in der unser Zug hielt.

– Nein, Kapitän, beruhigen Sie sich, antwortete der Ingenieur, wir liegen stromaufwärts.

– Das ist ein Glück, Banks; ich möchte nicht, daß unser Stahlriese aus dieser unreinen Quelle getränkt würde!«

Wir wanden uns nun durch die Tausende von Hindus hindurch, die auf einem engen Raume zusammengepfercht waren.

Dabei hörte man zunächst das unharmonische Geräusch von Ketten und Glöckchen, das von Bettlern herrührte, welche die öffentliche Mildthätigkeit erwecken wollten.

Es wimmelt hier geradezu von Vertretern der auf der ganzen indischen Halbinsel so zahlreichen Brüderschaft von Landstreichern. Die Meisten trugen falsche Wunden zur Schau, wie die Clopin-Trouillefou des Mittelalters. Wenn diese Bettler auch sonst von den Meisten als Betrüger angesehen werden, so war das bei den Fanatikern hier, deren Verblendung den höchsten Grad erreichte, doch ganz anders.

[94] Da fanden sich Fakirs, sogenannte Goussaïns, fast nackt und mit Asche überstreut; der Eine hatte sich durch fortgesetzte Dehnung den Arm ausgerenkt, der Andere die Nägel der eigenen Finger durch die Hand wachsen lassen.

Wieder Andere waren auf die hirnverbrannte Idee gekommen, den ganzen Weg bis hierher mit ihrem Körper zu messen. Dazu strecken sie sich auf der Erde aus, erheben sich an der Stelle, werfen sich wieder nieder und legen in dieser Weise Hunderte von Meilen zurück, als hätten sie als Maßketten dienen sollen.

Hier hingen einzelne Gläubige, berauscht vom Hang – das ist eine Art flüssiges Opium mit Hanfaufguß – in Baumzweigen an eisernen Haken, welche in das Fleisch der Schulter eingriffen. Dabei drehten sie sich noch um, bis die Muskeln durchrissen und sie in die Wellen des Phalgou fielen.

Dort ließen Andere, welche zu Ehren Siva's die Beine durchstochen oder die Zunge durchbohrt hatten, indem sie Pfeile durch diese Theile gestoßen hatten, das aus den Wunden träufelnde Blut von Schlangen auflecken.

Das ganze Schauspiel erschien einem europäischen Auge natürlich im höchsten Grade widerlich. Ich beeilte mich, weiter zu kommen, als Banks mich plötzlich aufhielt.

»Jetzt naht die Stunde des Gebets!« sagte er.

Eben erschien ein Brahmane inmitten des Menschengewühls. Er erhob die rechte Hand und wies damit nach der Sonne, welche der Felsen von Gaya bis jetzt verdeckt hatte.

Der erste von dem Tagesgestirn ausgehende Strahl diente als Signal. Die fast nackte Menge stürzte in das geheiligte Gewässer. Einige begnügten sich mit einer kurzen Untertauchung, wie in den ersten Zeiten der Taufe; Andere dagegen erweiterten das vorgeschriebene Bad zu wirklichen Wasserlustbarkeiten, an denen ein religiöser Charakter wohl kaum noch zu erkennen war. Ich weiß nicht, ob die Eingeweihten, während sie. »Slocas« oder Denkverse hermurmelten, die ihnen die Priester gegen eine gewisse Belohnung vorbeteten, mehr daran dachten, ihre Seele oder ihren Leib zu reinigen. Jedenfalls schöpften sie zuerst etwas Wasser mit der hohlen Hand,


Das Geräusch kam weder aus der Luft noch vom Wasser her. (S. 98.)

sprengten dasselbe nach den vier Himmelsgegenden aus und spritzten sich darauf einige Tropfen in das Gesicht, wie die Badenden, die sich am flachen Ufer eines Seebades belustigen. Für jede von ihnen begangene Sünde rauften sie sich übrigens je ein Haar aus. Wie viele hätten da wohl verdient, nur als Kahlköpfe aus den Fluthen des Phalgou hervorzugehen! Der Lärm und Jubel der Badenden, die das Wasser durch das rasche Untertauchen [95] in Bewegung setzten oder wie ein ungeschickter Schwimmer mit der Ferse peitschten, ging so weit, daß selbst die Alligatoren erschreckt nach dem anderen Ufer entflohen. Da saßen sie, starrten mit glotzenden Augen auf die bewegte Menschenmenge, die sie aus ihrem Bereiche vertrieben, und ließen von ihren gewaltigen Kiefern ein drohendes Klappern ertönen. Die Pilger bekümmerten sich um sie übrigens nicht mehr als um unschädliche Eidechsen.

Für uns wurde es nun die höchste Zeit, diese wunderlichen Heiligen sich selbst zu überlassen, um sich zum Eintritt in den Kaïlas, das heißt das Paradies[96] Brahma's, vorzubereiten. Wir wanderten also am Ufer des Phalgou hinauf, um unseren Halteplatz wieder zu erreichen.

Das Frühstück vereinigte uns Alle an der Tafel und der übrige, außerordentlich warme Tag verlief ohne weitere Zwischenfälle. Kapitän Hod durchstreifte gegen Abend noch einmal die nächste Umgebung und brachte etwas Wild mit heim. Inzwischen vervollständigten Storr, Kâlouth und Goûmi den Vorrath an Wasser und Brennmaterial und setzten die Feuerung in Stand, denn wir gedachten am nächsten Tage zeitig aufzubrechen.


Die freiwilligen Opfer sprangen auf. (S. 101.)

[97] Um neun Uhr Abends hatten Alle ihre Zimmer aufgesucht. Eine ruhige, aber sehr warme Nacht verhüllte Alles ringsumher. Dicke Wolken verdeckten die Sterne und machten die Atmosphäre noch schwerer. Auch nach Sonnenuntergang nahm die Hitze nicht merkbar ab.

Die Temperatur war so erstickend, daß ich Mühe hatte einzuschlafen. Durch das offen gelassene Fenster drang nur eine glühende Luft ein, die mir für die Thätigkeit der Lungen sehr ungeeignet schien.

Mitternacht kam heran, ohne daß ich einen Augenblick Ruhe gefunden hätte. Dennoch wollte ich vor der Abreise drei bis vier Stunden geschlafen haben, ich täuschte mich aber in dem Glauben, dem Schlafe befehlen zu können. Der Schlummer floh mich. Der feste Wille vermochte nichts, sondern bewirkte eher das Gegentheil.

Es mochte gegen ein Uhr Morgens sein, als ich ein dumpfes Geräusch vernahm, das sich längs des Phalgou-Ufers fortzusetzen schien.

Ich glaubte zuerst, daß bei der mit Elektricität überladenen Atmosphäre ein Sturm aus Westen auftreten würde. Ein solcher konnte wohl heiß sein, mußte aber wenigstens die Luftschichten verschieben und das Athmen leichter machen.

Ich irrte. Die über unserer Haltestelle herabhängenden Baumzweige blieben vollkommen unbewegt.

Ich steckte den Kopf durch das Fenster und lauschte. Wohl ließ sich entferntes Geräusch vernehmen, doch nirgends war etwas zu sehen. Die Wasserfläche des Phalgou breitete sich tief dunkel vor mir aus, ohne jene zitternden Reflexe, welche jede Bewegung derselben erzeugt haben würde. Das Geräusch kam also weder aus der Luft noch vom Wasser her.

Etwas Verdächtiges vermochte ich jedoch nicht zu entdecken. Ich legte mich also nieder und begann, von Ermüdung überwältigt, einzuschlummern. Dann und wann drang mir jenes Geräusch noch einmal in's Ohr, endlich schlief ich aber trotzdem fest ein.

Zwei Stunden später, eben als der erste Morgenschimmer graute, wurde ich plötzlich erweckt.

Man rief nach dem Ingenieur.

»Herr Banks!

– Was giebt es?

– Kommen Sie schnell!«

[98] Ich hatte die Stimme Banks' und die des Mechanikers erkannt, der in den Gang vor unseren Zimmern getreten war.

Ich erhob mich sofort und verließ meine Cabine. Banks und Storr befanden sich schon auf der vorderen Veranda. Oberst Munro kam mir noch zuvor und Kapitän Hod erschien bald darauf.

»Was ist geschehen? fragte der Ingenieur.

– Sehen Sie selbst!« antwortete Storr.

Das Licht des anbrechenden Tages gestattete die Ufer des Phalgou und einen Theil der sich an demselben hinaufziehenden Straße einige Meilen weit zu erkennen. Unser Erstaunen war nicht gering, als wir mehrere Hundert von Hindus erblickten, welche truppweise an den Uferabhängen und auf der Straße lagerten.

»Das sind ja unsere Pilger von gestern! meinte Kapitän Hod.

– Was machen sie aber hier? fragte ich.

– Sie erwarten ohne Zweifel den Aufgang der Sonne, erwiderte der Kapitän, um sich in die heiligen Wellen zu stürzen.

– Nein, entgegnete Banks. Ihre Abwaschungen können sie ja in Gaya selbst vornehmen. Wenn sie hierher gekommen sind, so...

– Rührt das daher, daß der Stahlriese die gewohnte Wirkung hervorgebracht hat! fiel Kapitän Hod ein. Sie werden gehört haben, daß ein gigantischer Elephant, ein Koloß, wie sie nie einen ähnlichen gesehen, sich in der Nähe befinde, und sind in hellen Haufen hergezogen, ihn zu bewundern!

– Wenn es bei der einfachen Bewunderung bleibt, bemerkte der Ingenieur kopfschüttelnd.

– Was fürchtest Du sonst, Banks? fragte Oberst Munro.

– O, nichts weiter... als daß diese Fanatiker den Weg versperren und uns aufhalten könnten.

– Sei in jedem Falle vorsichtig! Mit derartigen Heiligen kann man nicht zart genug umgehen.

– Gewiß!« stimmte Banks ihm bei.

Dann rief er den Heizer.

»Sind die Feuer bereit, Kâlouth?

– Ja wohl!

– So zünde an!

[99] – Ja, ja, zünd' an, Kâlouth, wiederholte Kapitän Hod; heize darauf zu, daß unser Elephant seinen Athem von Dampf und Rauch den Pilgern in's Gesicht speie!«

Es war jetzt gegen halb vier Uhr Morgens. Die Maschine bedurfte nur einer halben Stunde, um Dampf zu haben. Die Feuer wurden also entzündet, das Holz knisterte auf dem Roste, und aus dem Rüssel des riesigen Elephanten, der bis in das Gezweig der hohen Bäume reichte, wirbelten schwarze Rauchwolken empor.

Da kamen einzelne Gruppen von Hindus näher heran. Unter der Menge entstand eine allgemeine Bewegung. Bald sahen wir uns dicht umdrängt. Die ersten Reihen der Pilger hoben die Arme empor oder streckten sie nach dem Elephanten aus, Viele beugten sich nieder, fielen auf die Kniee oder warfen sich ganz zu Boden, jedenfalls als Ausdruck der Verehrung und Anbetung.

Oberst Munro, Kapitän Hod und ich befanden uns inzwischen auf der Veranda, einigermaßen beunruhigt, wie weit der Fanatismus gehen werde. Auch Mac Neil war hinzugekommen und blickte schweigend hinaus. Banks hatte mit Storr in dem Thürmchen, welches das ungeheuere Thier trug, Platz genommen, von wo aus sie dasselbe nach Belieben in Gang setzen oder halten konnten.

Um vier Uhr schon brodelte und schnaubte der Kessel. Dieses dumpfe Geräusch konnte von den Hindus wohl als das Grollen eines überirdischen Elephanten aufgefaßt werden. Der Manometer zeigte jetzt eine Spannung von fünf Atmosphären, und Storr ließ etwas Dampf durch die Ventile abblasen, was sich etwa so ausnahm, als dränge der letztere durch die Haut der gigantischen Pachyderme.

»Wir haben vollen Dampf, Munro! rief Banks herab.

– So fahr' zu, Banks, aber vorsichtig und verletze Niemand!«

Es war nun fast tageshell. Den längs des Phalgou hinauflaufenden Weg bedeckte die andächtige Menge, welche wenig Lust zeigte, uns Platz zu machen. Es erschien unter solchen Umständen freilich nicht so leicht, vorwärts zu fahren und Niemand zu beschädigen.

Banks ließ einige Male die Dampfpfeife ertönen, worauf die Pilger mit wahrhaft höllischem Geheul antworteten.

»Platz da! Aufgepaßt!« rief Banks laut und befahl dem Mechaniker, den Regulator ein wenig zu öffnen. Man hörte das Zischen des Dampfes, der in die Cylinder eindrang. Die Maschine machte eine halbe Radumdrehung, eine [100] mächtige weiße Dampfwolke stieg aus dem Rüssel auf. Die Menge war einen Augenblick zurückgewichen. Der Regulator wurde nun zur Hälfte geöffnet. Das Schnaufen des Stahlriesen nahm an Stärke zu und unser Zug begann sich durch die dichte Reihe der Hindus zu bewegen, die uns Platz zu machen nicht gewillt schienen.

»Nehmen Sie sich in Acht, Banks!« rief ich da aus.

Beim Herabbeugen über das Geländer der Veranda hatte ich gesehen, wie sich wohl ein Dutzend Fanatiker auf den Weg offenbar in der Absicht niederwarfen, sich von den Rädern der schweren Maschine zermalmen zu lassen.

»Diese Dummköpfe! rief Kapitän Hod, sie sehen unseren Zug für den Wagen Jaggernaut's an! Sie wollen sich von den Füßen des heiligen Elephanten zertreten lassen!«

Auf ein Zeichen des Ingenieurs sperrte der Mechaniker den Dampfzufluß ab. Die quer über den Weg liegenden Pilger machten keine Miene, sich zu erheben. Rings um sie schrie und heulte die erregte Menge und ermuthigte sie durch allerlei Gesten.

Die Maschine stand still. Banks wußte nicht, was er thun solle, und befand sich offenbar in Verlegenheit.

Plötzlich kam ihm ein Gedanke.

»Wir wollen doch sehen...!« sagte er.

Er öffnete den Hahn, der zum Reinigen und Ausblasen der Cylinder diente. Sofort zischten mächtige Dampfstrahlen über den Boden hin, daß die Luft von dem Brausen erzitterte.

»Hurrah! Hurrah! Hurrah! brach Kapitän Hod aus. Drauf los, Freund Banks, drauf los!«

Dieses Mittel wirkte. Schreiend sprangen die freiwilligen Opfer auf, als der heiße Dampf sie traf. Zermalmen lassen wollten sie sich wohl, aber verbrühen nicht. Die Menge wich zurück und der Weg ward frei.

Der Regulator wurde weit geöffnet und die Räder griffen tief in den Boden ein.

»Vorwärts! Vorwärts!« drängte Kapitän Hod in die Hände klatschend und aus vollem Herzen lachend.

In schnellem Tempo eilte der Stahlriese des Wegs dahin und verschwand bald den Blicken der vor Erstaunen sprachlosen Menschenmenge, wie ein Märchenwesen in einer Wolke von Dampf.

[101]
8. Capitel
Achtes Capitel.
Einige Stunden in Benares.

Nun lag die Landstraße also für das Steam-House offen – jene Straße, die uns über Sasseram am rechten Ufer des Ganges bis nach Benares führen sollte.

Eine Meile von der letzten Haltestelle nahm die Maschine wieder einen gemäßigteren Gang an und legte etwa zweiundeinhalb Meilen in der Stunde zurück. Banks beabsichtigte denselben Abend fünfundzwanzig Meilen von Gaya zu rasten und die Nacht in Ruhe nahe der kleinen Stadt Sasseram zu verbringen.

Im Allgemeinen vermeiden die Landstraßen Indiens soweit als möglich die Wasserläufe, welche Brücken nothwendig machen, deren Herstellung auf dem Alluvialboden des Landes große Kosten bedingt. Selbst an solchen Stellen, wo man einem Flusse oder Strome nicht aus dem Wege gehen konnte, fehlen sie doch noch häufig. Zwar findet man dann wenigstens eine Fähre, das alterthümliche unzureichende Auskunftsmittel, das zur Ueberführung unseres Zuges sicherlich nicht genügt hätte. Glücklicher Weise konnten wir desselben entbehren.

Gerade an diesem Tage mußten wir nun einen bedeutenden Fluß, die Sone überschreiten. Oberhalb Rhotas aus seinen Quellflüssen Coput und Coyle entspringend, mündet derselbe etwa in der Mitte zwischen Arrah und Dinapore in den Ganges.

Die Ueberfahrt ging außerordentlich leicht von Statten. Der Elephant verwandelte sich ganz von selbst in einen Wassermotor. Er stieg den sanft geneigten Uferrand hinab bis in den Fluß, schwamm auf dessen Fläche und die breiten Füße peitschten das Wasser wie die Schaufeln eines Rades, wobei er den Zug, der hinter ihm schwamm, nachschleppte.

Kapitän Hod wußte sich vor Jubel kaum zu fassen.

»Ein rollendes Haus! rief er einmal über das andere, ein Haus, das gleichzeitig ein Wagen und ein Dampfschiff ist! Nun fehlen ihm nur noch Flügel, um es in einen Fliegapparat zu verwandeln und den Luftraum zu durchmessen!

[102] – Das wird auch noch kommen, Freund Hod, sagte der Ingenieur ganz ernsthaft.

– Ja, ich weiß, Freund Banks, antwortete ebenso ernsthaft der Kapitän, es wird noch Alles werden! Nur Eines nicht, nämlich, daß wir in zweihundert Jahren noch einmal unter den Lebenden weilen, um all' diese Wunder zu schauen! Das Leben ist gar nicht alle Tage so angenehm, und doch wäre ich dabei, zehn Jahrhunderte zu leben – aus reiner Neugier!«

Gegen Abend, zwölf Stunden nach der Abfahrt von Gaya, nachdem wir unter der stolzen Röhrenbrücke der Eisenbahn, welche vierundzwanzig Fuß über dem Spiegel der Sone liegt, hinweggeglitten waren, hielten wir in der Nähe von Sasseram. Wir wollten hier nur eine Nacht über bleiben, um Holz und Wasser zu fassen, und mit Tagesanbruch wieder aufbrechen.

Dieses Programm wurde in allen Punkten eingehalten, und bevor die Sonne ihre brennenden Strahlen, welche uns für den Mittag gespart blieben, aussandte, fuhren wir am frühen Morgen des 22. Mai wieder ab.

Die Landschaft war immer dieselbe, das heißt reich und fleißig angebaut, so wie sie längs der Ufer des herrlichen Ganges-Thales erscheint. Ich erwähne hier die zahlreichen Dörfer nicht, die inmitten unendlicher Reisfelder zerstreut oder unter Palmengruppen mit dichter Blätterkrone, unter dem Schatten von Mango-oder anderen edlen Bäumen versteckt liegen. Wir hielten übrigens bei denselben nicht an. Sperrte dann und wann ein von Zebus langsam dahingezogener Karren den Weg, so genügte ein schriller Pfiff mit der Dampfpfeife, ihn zum Ausweichen zu veranlassen, und unser Zug rollte zur größten Verwunderung der Bauern vorüber.

Im Laufe dieses Tages hatte ich auch das herrliche Vergnügen, sehr viele Rosenfelder zu sehen. Wir befanden uns jetzt nämlich nicht mehr fern von Ghazipore, dem Mittelpunkt für die Darstellung des Rosenwassers oder vielmehr der Rosenessenz.

Ich fragte Banks, ob er mir über diesen so gesuchten Artikel, den wichtigsten in der Kunst der Zusammenstellung von Wohlgerüchen, Näheres mittheilen könne.


Benares. (S. 107.)

»Ich will Ihnen Ziffern anführen, antwortete mir Banks, die den Beweis liefern, wie kostspielig die Fabrikation ist. Vierzig Pfund Rosen werden zuerst bei mäßigem Feuer einer Art langsamer Destillation unterworfen und liefern etwa dreißig Pfund Rosenwasser. Dieses Wasser gießt man auf eine neue [103] Quantität von vierzig Pfund Blumen und setzt die Destillation so lange fort, bis die Flüssigkeit noch zwanzig Pfund beträgt. Dieselbe wird nun zwölf Stunden lang der kalten Nachtluft ausgesetzt, und am anderen Morgen findet man auf deren Oberfläche – eine Unze wohlriechendes Oel. Aus achtzig Pfund Rosen – eine Quantität, welche mindestens zweimalhunderttausend Blumen enthält – gewinnt man am Ende also eine Unze ätherisches Oel! Es ist ein wirklicher Massenmord! Es ist also nicht zu verwundern, daß die Rosenessenz selbst im Productionsland die Unze mit vierzig Rupien, gleich hundert Francs bezahlt wird.

[104] – Ah, meinte Kapitän Hod, wenn man zur Gewinnung einer Unze Alkohols achtzig Pfund Weintrauben brauchte, da würde der Grog verwünscht theuer werden!«

An diesem Tage hatten wir noch die Karamnaca, einen der Nebenflüsse des Ganges, zu überschreiten. Die Hindus haben aus diesem unschuldigen Flusse eine Art Styx gemacht, auf dem zu fahren nicht gerathen sei. Sein Ufer ist nicht minder in üblem Ruf als das des Jordans oder die Küste des Todten Meeres. Die Cadaver, welche in denselben geworfen werden, führt er direct in [105] die brahmanische Hölle. Ich gehe auf diese Glaubensfragen hier nicht ein; wenn aber behauptet wird, das Wasser dieses Höllenflusses sei von unangenehmem Geschmack und der Gesundheit schädlich, so muß ich dem widersprechen, da es im Gegentheil ausgezeichnet ist.


Eine nepalesische Pagode. (S. 110.)

Am Abend, nachdem wir durch ein wenig hügeliges Land mit unübersehbaren Mohnfeldern und weiten Reisplantagen gekommen, lagerten wir am rechten Ufer des Ganges, gegenüber dem uralten Jerusalem der Hindus, der heiligen Stadt Benares.

»Vierundzwanzig Stunden Aufenthalt! rief Banks.

– Wie weit sind wir jetzt von Calcutta? fragte ich den Ingenieur.

– Etwa dreihundertfünfzig Meilen, erklärte er mir, und Sie werden zugeben, lieber Freund, daß wir weder von der Länge des Weges noch von Beschwerden der Reise etwas bemerkt haben!«

Der Ganges! Giebt es einen Fluß, dessen bloßer Name mehr poetische Legenden in uns wachruft, und scheint sich nicht ganz Indien in ihm zu vereinen? Findet sich auf der weiten Erde ein dem seinigen vergleichbares Thal, das sich, um seinen stolzen Lauf zu regeln, über ein Strecke von fünfhundert Meilen fortsetzt und nicht weniger als hundert Millionen Einwohner zählt? Giebt es einen zweiten Ort, wo seit dem Auftreten der asiatischen Racen mehr Wunder zusammengehäuft worden wären? Was würde Victor Hugo, der die Donau so erhaben besang, von dem Ganges gesagt haben? Ja, man kann es laut von sich verkündigen, wenn man


... wie ein Meer seine hohle See hat,
Wenn man über die Erde dahinzieht
Wie eine Schlange, und wenn man strömt
Vom Abendlande bis zum Morgenland!

Der Ganges aber hat seinen gefährlichen Seegang, seine Cyclonen, die schlimmer auftreten, als die Stürme des europäischen Stromes! Er windet sich, einer Schlange gleich, durch die paradiesischsten Gegenden der Welt! Auch er fließt vom Abend nach Morgen. Aber seine Quelle entspringt nicht auf mittelmäßigen Hügeln – die höchste Bergkette der Erde ist es, in den Gebirgsriesen von Thibet, von der sie herabstürzt, alle Nebenflüsse verschlingend! Vom Himalaya steigt er zur Erde herab! Am folgenden Tage, am 23. Mai, lag bei Sonnenaufgang der breite Wasserspiegel vor unseren Blicken da. Auf dem weißen Sande lagen einige Gesellschaften gewaltiger Alligatoren, welche die ersten Strahlen der Sonne zu trinken schienen. Sie verhielten sich ruhig dem glänzenden Gestirn zugewendet, [106] als wären sie die gewissenhaftesten Anhänger Brahma's. Einige vorüberschwimmende Leichen störten sie jedoch bald aus ihrer Andacht auf. Von den Cadavern, welche der Strom mit hinabführt, hat man gesagt, daß sie auf dem Rücken schwimmen, wenn es solche von Männern, auf der Brust aber, wenn es solche von Frauen wären. Ich kann versichern, daß an dieser Beobachtung nichts Wahres ist. Schnell stürzten sich die Ungeheuer auf die willkommene Beute, welche ihnen die Ströme der Halbinsel täglich liefern, und schleppten dieselbe in die Tiefe.

Die Eisenbahn von Calcutta verläuft vor ihrer Gabelung bei Allahabad, von wo aus sie nordwestlich nach Delhi und südwestlich nach Bombay führt, stets am rechten Ufer des Ganges, dessen Krümmungen sie nur abschneidet. Bei der Station Mogul Seraï, von der wir nur wenige Meilen entfernt waren, zweigt sich eine kleinere Strecke ab, die nach Ueberschreitung des Stromes Benares berührt und durch das Gounti-Thal sechzig Kilometer weit bis Jaunpore reicht.

Benares liegt demnach am linken Ufer. Hier wollten wir indeß nicht über den Ganges gehen, sondern erst bei Allahabad. Der Stahlriese blieb also an dem am Vorabend des 22. Mai gewählten Halteplatze. Am Flußufer lagen Gondeln bereit, uns nach der heiligen Stadt zu bringen, die ich etwas eingehender zu besichtigen wünschte.

Oberst Munro hatte in der oft von ihm besuchten Stadt nichts mehr zu lernen, nichts mehr zu sehen. An jenem Tage kam ihm zwar einmal der Gedanke, sich uns anzuschließen, nach reiflicher Ueberlegung aber entschied er sich für einen in Gesellschaft Mac Neil's längs des Flusses zu unternehmenden Ausflug. Beide verließen auch das Steam-House, bevor wir aufgebrochen waren. Kapitän Hod, der früher in Benares in Garnison gelegen hatte, wollte einige Kameraden besuchen. Banks und ich – der Ingenieur wollte mir als Führer dienen – wir waren also die Einzigen, welche ein Gefühl von Neugierde nach der Stadt verlockte.

Wenn ich sagte, daß Kapitän Hod in Benares garnisonirt habe, so darf man nicht vergessen, daß die Truppen der königlichen Armee gewöhnlich nicht in den Hindustädten selbst untergebracht sind. Ihre Kasernen liegen in den sogenannten »Cantonnements«, welche gleich an und für sich englische Städte darstellen. So ist es in Allahabad, in Benares und an anderen Punkten des Reiches, wo sich nicht allein die Soldaten, sondern auch die Beamten, Kaufleute [107] und Rentiers mit Vorliebe ansiedeln. Jede von jenen großen Städten besteht also eigentlich aus zwei Theilen, dem einen, in dem man allen modernen Luxus Europas wiederfindet, und dem anderen, der die Landessitte und die Gebräuche der Hindus mit der ganzen Localfarbe bewahrt hat.

Die an Benares anliegende englische Stadt ist Secrole, deren Bungalows und christliche Kirchen nichts Interessantes bieten. Hier befanden sich auch von Touristen frequentirte bessere Hôtels. Secrole ist eine ganz und gar »gemachte« Stadt, welche die Fabrikanten des Vereinigten Königreiches in Kisten versenden könnten, um sie sofort wieder aufzustellen. Hier giebt es also etwas Merkwürdiges nicht zu sehen. Nachdem Banks und ich in einer Gondel Platz genommen, fuhren wir in schräger Richtung über den Ganges, um zunächst einen Ueberblick über das prächtige Amphitheater zu gewinnen, das Benares oberhalb des hohen Ufers bildet.

»Benares, sagte Banks zu mir, ist vor allen anderen die heilige Stadt Indiens, das Mekka der Hindus, und Jeder, der sich daselbst, wenn auch nur vierundzwanzig Stunden, aufgehalten hat, versichert sich damit eines Theiles der ewigen Glückseligkeiten. Es erscheint begreiflich, welchen Zufluß von Pilgern ein solches Dogma herbeilocken und welch' große Anzahl Bewohner eine Stadt haben muß, der Brahma so hochwichtige Vorrechte verliehen hat.«

Benares sollschon über dreißig Jahrhunderte alt sein. Es wäre also etwa zu der Zeit gegründet worden, als Troja vom Erdboden verschwand. Nachdem es von jeher einen großen, nicht politischen, aber geistigen Einfluß auf ganz Hindostan ausgeübt, wurde es bis zum 9. Jahrhundert der anerkannte Mittelpunkt der buddhistischen Religion. Da vollzog sich eine religiöse Umwälzung. Der Brahmanismus verdrängte den alten Cultus. Benares wurde die Hauptstadt der Brahmanen, der Brennpunkt für die Fahrten der Gläubigen, und man behauptet, daß hier jährlich dreimalhunderttausend Pilger zusammenströmen.

Die heilige Stadt hat noch immer ihren eigenen Rajah. Dieser von England nur kärglich besoldete Fürst bewohnt einen prächtigen Palast in Ramnagur am Ganges. Er ist ein wirklicher Nachkomme der Könige von Kazi (der alte Name für Benares), hat aber keinerlei Einfluß, und würde sich darüber wohl hinwegsetzen, hätte man seinen Ruhegehalt nicht auf ein Lakh Rupien vermindert, das heißt also auf hunderttausend Rupien, gleich zweimalhunderttausend Mark, eine Summe, die einem früheren Nabab kaum als Taschengeld ausreichte. Der Aufstand von 1857 berührte, wie überhaupt alle Städte des Ganges-Thales, [108] auch Benares. Jener Zeit bestand dessen Garnison aus dem 37. Regiment eingeborner Infanterie, einem Corps regulärer Cavallerie und einem halben Regiment Sikhs. An königlichen Truppen besaß es nur eine halbe Batterie europäischer Artillerie. Diese Handvoll Menschen konnte es nicht wagen, die eingebornen Soldaten zu entwaffnen. Die Regierungsbehörden erwarteten daher auch mit Verlangen die Ankunft des Oberst Neil, der mit dem 10. Regiment der königlichen Armee auf Allahabad marschirte. Oberst Neil zog in Benares nur mit zweihundertfünfzig Mann ein und ordnete sofort eine Parade auf dem Exercierplatze an.

Als die Sipahis versammelt waren, erhielten sie den Befehl, die Waffen niederzulegen. Das verweigerten dieselben. Damit kam es zwischen ihnen und der Infanterie des Oberst Neil zum Kampf. Die reguläre Cavallerie schloß sich sofort den Empörern an, ebenso wie später die Sikhs, welche sich verrathen glaubten. Jetzt eröffnete die halbe Batterie das Feuer mit einem Hagel von Kartätschen, der die Aufrührer trotz ihrer Uebermacht und Erbitterung völlig auflöste.

Das Gefecht fand außerhalb der bewohnten Quartiere statt. Im Gebiete der Stadt selbst kam es nur zu einer ohnmächtigen Erhebung der Muselmanen, welche die grüne Fahne aufzogen – ein Versuch, der gänzlich fehlschlug. Von diesem Tage ab wurde Benares während des ganzen Aufstandes nicht wieder gestört, nicht einmal als die Empörung in den Provinzen des Westens siegreich zu sein schien.

Banks machte mir diese Mittheilungen, während unser Boot über die Fluthen des Ganges glitt.

»Lieber Freund, sagte er, wir wollen also Benares besuchen; gut! So alt diese Stadt auch ist, so werden Sie selbst kein Bauwerk finden, das mehr als dreihundert Jahre zählte. Wundern Sie sich darüber nicht. Es ist das die Folge der Religions-Streitigkeiten, bei denen Eisen und Feuer stets eine nur zu bedauerliche Rolle spielten. Nichtsdestoweniger bleibt Benares eine merkwürdige Stadt, und Sie werden keine Ursache haben, ihren Ausflug zu bereuen!«

Bald darauf lag unsere Gondel in geeigneter Entfernung still, um uns am Grunde eines Golfs, ähnlich dem von Neapel, das pittoreske Amphitheater von Häusern erkennen zu lassen, die auf einem Hügel übereinanderliegen, und die Menge Paläste, von denen ein ganzer Complex in Folge einer Senkung des Bodens, den die Wellen des Stromes fort und fort unterwühlen, vom Einstürzen [109] bedroht ist. Eine nepalesische Pagode von chinesischer Architektur, welche Buddha geweiht ist, ein Wald von Thürmen, Spitzen, Minarets und kleinen Pyramiden, die von Tempeln und Moscheen emporstreben, überragt von dem goldenen Lingam-Pfeile Sivas und den beiden unscheinbaren Pfeilen der Moschee Aureng Zehs, krönt das wunderbare Panorama.

Statt unmittelbar an einer der »Ghâts« oder Treppen, die vom Wasser zu den Uferstraßen hinausführen, zu halten, ließ Banks die Gondel längs der Quais weiter fahren, deren unterste Mauerschichten bis zum Strome hinabreichen.

Ich sah hier eine Wiederholung der Auftritte von Gaya, nur in anderer Landschaft. An Stelle der grünen Wälder des Phalgou trat hier als Hintergrund das Bild der heiligen Stadt.

Das Schauspiel selbst war nahezu das gleiche.

Auch hier bedeckten Tausende von Pilgern den Uferabhang, die Terrassen und Treppen, und stürzten sich voller Andacht zu Dreien und Vieren in den Strom. Man darf aber nicht etwa glauben, daß dieses Bad unentgeltlich zu haben wäre. Wächter mit rothem Turban und den Säbel an der Seite erhoben auf den untersten Stufen der Ghäts das Eintrittsgeld im Verein mit geschäftigen Brahmanen, welche Rosenkränze, Amulette und andere fromme Bedürfnisse verkauften.

Uebrigens drängten sich hier nicht nur Pilger, welche nur selbst zu baden gekommen waren, sondern auch Händler, deren einziges Geschäft darin bestand, heiliges, geweihtes Wasser zu schöpfen, das bis in die entlegensten Theile der Halbinsel vertrieben wird. Als Garantie ward jeder Flasche das Siegel der Brahmanen aufgedrückt. Immerhin darf man annehmen, daß hierbei Betrügereien im größten Maßstabe mit unterlaufen, denn der Export der wunderbaren Flüssigkeit hat eine gar zu beträchtliche Höhe erreicht.

»Vielleicht, meinte Banks, genügte der ganze Inhalt des Ganges noch nicht für den Bedarf der Gläubigen!«

Ich fragte ihn darauf, ob bei dieser »Baderei« nicht zuweilen Unfälle vorkämen, da man von Sicherheitsmaßregeln nichts bemerkte. Denn Schwimmmeister gab es z. B. hier nicht, um Unvorsichtige abzuhalten, die sich in die schnelle Strömung des Flusses verirrten.

»Unfälle kommen häufig genug vor, antwortete mir Banks, doch, wenn der Körper des Gläubigen verloren ist, so ist wenigstens seine Seele gerettet. Deshalb macht man nicht viel Aufheben darum.

[110] – Und die Krokodile? forschte ich weiter.

– Die Krokodile halten sich meist beiseite. Der Lärm im Wasser erschreckt und verscheucht sie. Diese Ungeheuer sind weit weniger zu fürchten, als die Bösewichte, welche untertauchen, unter dem Wasser hingleiten, Frauen und Kinder herabzerren und ihnen das Geschmeide rauben. Man erzählt auch von einem Schurken, der mit einem künstlichen Kopfe bedeckt, lange Zeit die Rolle eines falschen Krokodils gespielt und bei diesem einträglichen und gefährlichen Geschäfte sich ein ganz nettes Vermögen erworben haben soll. Eines Tages ward dieser Eindringling von einem wirklichen Alligator aufgefressen und man fand von ihm nichts als den Kopf von lohgarer Haut, der noch auf dem Strome hinabtrieb.«

Außerdem giebt es auch genug überspannte Gläubige, welche freiwillig den Tod im Ganges suchen und dabei sogar mit Raffinement zu Werke gehen. Um ihren Körper befestigen sie dann z. B. einen Rosenkranz von leeren, aber unverschlossenen urnenartigen Gefäßen. Allmählich dringt das Wasser in dieselben ein und zieht sie unter dem beifälligen Jubel der andächtigen Menge langsam hinunter.

Die Gondel hatte uns bald an die Manmenka Ghât gebracht. Hier erhoben sich die Scheiterhaufen, denen die Leichen aller Derjenigen übergeben werden, welche wegen des zukünftigen Lebens etwas in Besorgniß sind. Die Gläubigen halten viel auf die Einäscherung an dieser Stelle, und die Scheiterhaufen lodern deshalb Tag und Nacht. Aus weiter Ferne her lassen sich die reichen Babous nach Benares bringen, sobald sie sich von einer unheilbaren Krankheit ergriffen fühlen. Benares gilt ohne Zweifel für den besten Abfahrtsplatz bei »der Reise in die andere Welt«. Hat der Verstorbene sich nur verzeihliche Sünden vorzuwerfen, so geht seine Seele auf den Rauchwolken der Manmenka sofort zur ewigen Glückseligkeit ein. War er ein großer Sünder, so muß sich seine Seele dagegen erst in dem Körper eines eben gebornen Brahmanen läutern. Er darf dann hoffen, daß, wenn sein Leben während dieser zweiten Fleischwerdung ein tadelloses gewesen ist, ihm keine dritte »Avatâra« (eine dritte Menschwerdung) auferlegt wird, bevor er für immer zum Genuß der Seligkeiten in Brahma's Himmel zugelassen wird.

Den Rest des Tages benutzten wir zu einem Besuche der Stadt, ihrer hauptsächlichsten Bauwerke und der von düsteren Läden nach arabischer Sitte eingefaßten Bazars. Hier bringt man vorzüglich seine Mousselins zum Verkaufe, neben dem »Kinkôb«, einer Art goldbroschirten Seidenstoffs und das wichtigste Erzeugniß der Industrie von Benares. Die Straßen waren gut erhalten, aber [111] eng, eine Anlage, die man in allen von den Strahlen der Tropensonne fast senkrecht getroffenen Städten wiederfindet. Empfindet man doch im Schatten hier noch eine unausstehliche Hitze. Ich bedauerte die Träger unseres Palankins auf richtig, obgleich diese sich nicht selbst zu beklagen schienen.


Die Mankarnika. (S. 114.)

Die armen Teufel fanden hierbei ja Gelegenheit, einige Rupien zu verdienen, das genügte, ihnen Kräfte und Muth einzuflößen. Ganz anders erschien dagegen ein Hindu, oder vielmehr ein Bengali, mit lebhaften Augen und verschlagenem Ausdruck im Gesicht, der uns ohne Scheu auf Tritt und Schritt


Allahabad. (S. 117.)

verfolgte. Beim Aussteigen am Quai der Manmenka Ghât hatte ich im Gespräch mit Banks den Namen des Oberst Munro laut fallen lassen. Der Bengali, der unsere Gondel anlegen sah, schien dabei unwillkürlich zu erzittern. Ich beachtete das zwar nicht weiter, doch kam es mir in den Sinn, als ich diesen Spion immer [112] an unsere Fersen geheftet sah. Er verließ uns nur, um wenige Augenblicke später vor oder hinter uns wieder aufzutauchen. War er ein Freund oder ein Feind? Ich wußte es nicht; jedenfalls erregte der Name des Oberst Munro bei ihm ein mehr als gewöhnliches Interesse.

[113] Unser Palankin hielt bald am Fuße der großen Treppe von hundert Stufen, die vom Quai nach der Moschee Aureng Zeb's hinaufführt.

Früher klommen die Gläubigen, so wie die in Rom, diese Art Santa Scala nur auf den Knieen empor. Damals erhob sich der Tempel Wischnu's an derselben Stelle, die später die Moschee des Eroberers einnahm.

Ich hätte Benares gern von der Höhe der Minarets in Augenschein genommen, die für ein architektonisches Meisterwerk gehalten werden. Bei einer Höhe von hundertzweiunddreißig Fuß haben sie doch nur den Durchmesser einer gewöhnlichen Küchenesse und dennoch windet sich in ihrem cylindrischen Schafte noch eine Treppe empor; es ist aber, und zwar mit Recht, verboten, dieselben zu besteigen. Schon jetzt weichen die beiden Minarets nicht wenig von der lothrechten Linie ab und werden, da sie nicht so stabil sind wie der schiefe Thurm zu Pisa, über kurz oder lang einmal umstürzen.

Als wir die Moschee Aureng Zeb's verließen, sah ich den Bengali wieder, der uns am Thore derselben erwartete. Jetzt faßte ich ihn scharf in's Auge und er sah dabei zur Erde. Bevor ich Banks' Aufmerksamkeit wach rief, wollte ich mich überzeugen, ob die verdächtige Persönlichkeit uns immer nachfolgen werde, und schwieg deshalb.

Die Pagoden und Moscheen der Wunderstadt Benares zählen nach Hunderten. Ebenso die glänzenden Paläste, deren ohne Zweifel schönster dem Könige von Nagpore gehört. Es versagt sich nämlich kein Rajah, ein Stück Boden in der heiligen Stadt zu erwerben, nach der sich Alle zur Zeit der großen religiösen Feste von Mela begeben.

Ich konnte nicht daran denken, in der kurzen uns zu Gebote stehenden Zeit alle diese Gebäude zu besuchen, und beschränkte mich also darauf, den Tempel Bicheschwar's, wo sich der Lingam Siva's befindet, kennen zu lernen. Dieser unförmige Stein, der als ein Theil des Körpers vom wildesten der Götter der Hindu-Mythologie betrachtet wird, bedeckt einen Brunnen, dessen modriges Wasser der Sage nach Wunderkräfte besitzen soll. Ich sah auch die Mankarnika oder den heiligen Springbrunnen, in dem sich die Gläubigen zum großen Vortheile der Brahmanen baden, ferner den Mân Mundir, ein vor zwei Jahrhunderten durch den Kaiser Akbar errichtetes Observatorium, dessen Instrumente alle aus – Stein hergestellt sind.

Auch von einem Palaste der Affen, den alle Reisenden in Benares aufsuchen, hatte ich reden hören. Ein Pariser würde dabei natürlich erwarten, das [114] berühmte Affenhaus aus dem Jardin de Plantes wiederzufinden. Weit gefehlt! Der Palast ist nichts als ein Tempel, der Dourga Khound, etwas außerhalb der Vorstädte gelegen. Er stammt aus dem 9. Jahrhundert und gehört zu den ältesten Bauwerken der Stadt. Die Affen sind hier nicht in einem vergitterten Käfig eingesperrt. Sie schweifen frei durch die Höfe, springen von einer Mauer zur anderen, klettern in die Gipfel der riesigen Mango-Bäume und zanken sich mit lautem Geschrei um geröstete Körner, nach denen sie so lüstern sind und welche die Besucher ihnen mitzubringen pflegen. Hier, wie überall, erheben die Brahmanen, als Wächter des Dourga Khönnd, eine kleine Steuer, welche diesen Stand zu dem einträglichsten in ganz Indien macht.

Selbstverständlich fühlten wir uns von der Hitze nicht wenig erschöpft, als wir gegen Abend daran dachten, nach dem Steam-House zurückzukehren. Wir hatten in Secrole, in einem der besten Hôtels der englischen Stadt, gefrühstückt und zu Mittag gespeist, doch gestehe ich, daß wir dabei die Küche des Monsieur Parazard doch vermißten.

Als die Gondel an den Fuß des Ghât zurückkam, um uns nach dem rechten Gangesufer überzusetzen, sah ich jenen Bengali dicht bei unserem Boote zum letzten Male wieder. Ein von einem Hindu geführtes Boot schien ihn zu erwarten. Wollte er wohl ebenfalls über den Fluß setzen und bis zu unserem Haltepunkte folgen? Die Sache ward allmählich verdächtig.

»Banks, begann ich da mit leiser Stimme, auf den Bengali zeigend, das ist ein Spion, der uns auf jedem Schritte folgte.

– Ich hab' ihn wohl bemerkt, erwiderte Banks, und auch gesehen, daß der von Ihnen ausgesprochene Name des Oberst Munro seine Aufmerksamkeit erweckte.

– Sollten wir ihn also nicht...?

– Nein, nein, lassen wir ihn gehen, fiel mir Banks in's Wort. Besser er hält sich für unbeachtet... übrigens ist er ja gar nicht mehr da.«

Wirklich war das Canot des Bengali schon unter der Menge von Fahrzeugen verschwunden, welche jetzt die dunklen Wellen des Ganges durchschnitten.

Da wandte sich Banks an unseren Bootsmann.

»Kennst Du jenen Mann? fragte er ihn mit möglichst gleichgiltiger Stimme.

– Nein, ich sah ihn zum ersten Male!« antwortete der Bootsführer

[115] Die Nacht sank herab. Hunderte von beflaggten, mit bunten Laternen geschmückte Boote, besetzt mit Sängern und Musikanten, kreuzten sich in allen Richtungen auf dem Strome. Vom linken Ufer leuchteten verschiedene Feuerwerke auf und erinnerten mich an die Nähe des Himmlischen Reiches, wo dieselben so hoch in Ansehen stehen. Es wäre schwierig, dieses Schauspiel zu beschreiben, das wirklich kaum seinesgleichen finden dürfte. Aus welcher Veranlassung dieses scheinbar improvisirte Nachtfest gefeiert wurde, an dem Hindus aller Klassen theilnahmen, konnte ich nicht erfahren. Als es zu Ende ging, hatte unsere Gondel das linke Stromufer wieder erreicht.

Das Ganze erschien wie eine Vision. Es dauerte kaum länger, als der aufblitzende Lichtschein, der den Himmel auf Augenblicke erleuchtet und dann erlischt. Doch wie gesagt, Indien verehrt dreihundert Millionen Gottheiten, Untergottheiten, Heilige und Halbheilige jeder Sorte, und das Jahr hat nicht so viel Stunden, Minuten und Secunden, als daß jeder dieser Gottheiten eine einzige gewidmet werden könnte.

Bei unserer Rückkehr nach dem Halteplatz waren Oberst Munro und Mac Neil daselbst schon wieder eingetroffen. Banks fragte den Sergeanten, ob während unserer Abwesenheit etwas vorgefallen sei.

»Nichts, antwortete Mac Neil.

– Sie sahen keine verdächtige Persönlichkeit hier herumschleichen?

– Nein, Herr Banks. Haben Sie Veranlassung zu irgend einem Verdachte?...

– Wir wurden bei unserem Ausfluge nach Benares fortwährend beobachtet, erwiderte der Ingenieur, und das gefällt mir nicht.

– Und dieser Spion war...

– Ein Bengali, den der Name des Oberst Munro erst aufmerksam zu machen schien.

– Was kann der Mann von uns wollen?

– Das weiß ich nicht, Mac Neil. Jedenfalls heißt es aufzupassen.

– Ich werde auf dem Posten sein!« versicherte der Sergeant.

[116]
9. Capitel
Neuntes Capitel.
Allahabad.

Zwischen Benares und Allahabad beträgt die Entfernung etwa hundertdreißig Kilometer. Die Straße folgt fast stets dem rechten Ufer des Ganges und liegt zwischen der Eisenbahn und dem Strome. Storr hatte Kohlensteine besorgt und den Tender damit versehen. Für mehrere Tage war die Ernährung des Elephanten also gesichert. Wohl gereinigt – ich hätte bald gesagt, gestriegelt – sauber, als käme er eben aus der Werkstätte, schien er ungeduldig die Zeit der Abfahrt zu erwarten. Er bäumte sich zwar nicht, aber das leise Knarren der Räder verrieth die Spannung der Dämpfe, die seine Stahlbrust erfüllten.

Unser Zug setzte sich am 24. mit einer Geschwindigkeit von drei bis vier Meilen in der Stunde in Bewegung.

Die Nacht war ohne Störung verlaufen und der Bengali uns nicht ferner zu Gesicht gekommen.

Hier sei ein- für allemal bemerkt, daß unsere Lebensweise, bezüglich der Zeit des Aufstehens und Niederlegens, des ersten und zweiten Frühstücks, des Mittagsessens und der Siesta nach demselben mit militärischer Pünktlichkeit geregelt war. Im Steam-House ging Alles ebenso regelmäßig zu, wie im Bungalow zu Calcutta. Unaufhörlich wechselte die umgebende Landschaft vor unseren Blicken, ohne daß die Wohnung sich nur von der Stelle zu bewegen schien. Wir waren an dieses neue Leben schon vollständig gewöhnt, wie ein Passagier an Bord eines überseeischen Dampfers – außer dessen Monotonie, denn uns umschloß nicht immer der gleichbleibende Horizont des Meeres.

Um elf Uhr ward an diesem Tage in der Ebene ein merkwürdiges Mausoleum von mongolischer Bauart sichtbar, errichtet zu Ehren zweier geheiligter Persönlichkeiten des Islam, nämlich Kassim Soliman's, des Vaters und des Sohnes; eine halbe Stunde später die starke Festung von Chunar, deren pittoreske Bollwerke einen uneinnehmbaren, vom Spiegel des Ganges hundertfünfzig Fuß senkrecht in die Höhe steigenden Felsen krönen.

Es kam nicht in Frage, hier anzuhalten, um die Festung zu besuchen, die eine der bedeutendsten im Gangesthale und so gelegen ist, daß sie im Fall eines[117] Angriffs Pulver und Blei gar nicht braucht. Offenbar würde jede Sturmcolonne, welche diese Mauern zu erklimmen suchte, durch eine für diesen Fall bereitliegende Lawine von Felsstücken zermalmt werden.

Am Fuße derselben breitet sich die gleichnamige Stadt aus, deren schmucke Häuser sich im Grün verbergen.

Von Benares her wissen wir, daß es mehrere privilegirte Orte giebt, die von den Hindus als Heiligthümer verehrt werden. Bei genauerer Zählung würde man auf der Halbinsel leicht Hunderte von solchen finden. Auch die Veste Chunar besitzt eine solche geweihte Stätte. Hier zeigt man nämlich eine Marmorplatte, auf der irgend ein Gott regelmäßig Siesta hält. Freilich bleibt der Gott dabei unsichtbar. Wir haben uns auch nicht bemüht, ihn zu sehen.

Abends machte der Stahlriese bei Mirzapore für die nächste Nacht Halt. Wenn es dieser Stadt an Tempeln nicht fehlt, so besitzt sie doch auch gewerbliche Etablissements und eine Verladestelle für die in der Umgegend erzeugte Baumwolle. Sie wird sich einst zu einem bedeutenden Handelsplatze emporschwingen.

Am nächsten Tage, am 25., kamen wir gegen zwei Uhr Mittags durch den kleineren Fluß Tonsa, der zu dieser Jahreszeit nur einen Fuß Wassertiefe hat. Um fünf Uhr wurde die Stelle passirt, wo sich die Bahnstrecke von Bombay nach Calcutta anschließt. Nahe dem Punkte, wo die Jumma in den Ganges fällt, bewunderten wir den herrlichen Eisen-Viaduct, der seine sechzehn, je sechzig Fuß hohen Pfeiler in den Wellen dieses schönen Nebenstromes badet. Wir kamen ohne Schwierigkeit über die einen Kilometer lange Schiffsbrücke, welche das rechte und linke Ufer verbindet, und am Abend hielten wir nahe einer Vorstadt Allahabads.

Der nächste Tag, der 26., war zu einem Besuche dieser bedeutenden Stadt bestimmt, von der die Haupt-Bahnlinien Hindostans ausstrahlen. Sie besitzt eine ganz entzückende Lage, inmitten des reichsten Gebietes und zwischen den beiden Wasserläufen der Jumma und des Ganges.

Die Natur hat offenbar Alles gethan, um Allahabad zur Hauptstadt von Englisch-Indien, zum Mittelpunkt der Regierung und zur Residenz des Vicekönigs zu machen. Es ist auch gar nicht unwahrscheinlich, daß sie das noch einmal wird, im Falle die Cyclone der heutigen Hauptstadt Calcutta gar zu arg mitspielen. Sicher ist, daß einige weitblickende Köpfe diese Eventualität schon in's Auge gefaßt und erwogen haben. In dem großen Körper, der sich [118] Indien nennt, liegt Allahabad an der Stelle, die das Herz einnimmt, wie Paris im Herzen Frankreichs. London freilich liegt nicht in der Mitte des Vereinigten Königreichs, aber London hat auch nicht ein so ausgesprochenes leitendes Uebergewicht gegenüber den englischen Städten Liverpool, Manchester, Birmingham, wie Paris gegenüber allen Städten Frankreichs.

– Und von hier aus gehen wir geraden Wegs nach Norden? fragte ich Banks.

– Ja, antwortete dieser, mindestens ziemlich geraden Wegs. Allahabad bildet im Westen den äußersten Punkt dieses ersten Theiles unserer Reise.

– Nun endlich! rief Kapitän Hod, diese großen Städte sind ja ganz gut und schön, aber die unendlichen Ebenen, die weiten Dschungeln sind doch weit besser. Wenn wir immer so neben dem Schienenstrange hinziehen, werden wir zuletzt auch noch darauf hinrollen und unser Stahlriese verwandelt sich zur simplen Locomotive! Welche Erniedrigung!

– Beruhigen Sie sich, Hod, das wird nie geschehen. Wir werden bald in ihre Lieblingsgebiete hinausziehen.

– Wir fahren also direct auf die indo-chinesische Grenze zu, ohne durch Laknau zu kommen?

– Ich möchte diese Stadt, vor Allem aber Khanpur vermeiden, das für Oberst Munro gar zu viele traurige Erinnerungen birgt.

– Sie haben Recht, bemerkte ich, wir werden niemals weit genug davon vorüberkommen.

– Sagen Sie, Banks, fiel da Kapitän Hod ein, haben Sie in Benares gar nichts von Nana Sahib gehört?

– Nicht das Mindeste, antwortete der Ingenieur. Wahrscheinlich ist der Gouverneur von Bombay wieder einmal falsch berichtet gewesen und Nana ist überhaupt nicht in der Präsidentschaft Bombay erschienen.

– Wahrscheinlich, erwiderte der Kapitän, denn der alte Rebell würde unzweifelhaft von sich reden ge macht haben.

– Wie dem auch sei, sagte Banks, jedenfalls drängt es mich, aus dem Gangesthale, das von Allahabad bis Khanpur der Schauplatz so vieler Greuelthaten während des Sipahi-Aufstandes war, bald herauszukommen. Auf keinen Fall darf der Name dieser Stadt, ebensowenig wie der Nana Sahib's vor dem Obersten ausgesprochen werden. Ueberlassen wir ihn selbst seinen Gedanken!«

[119] Am nächsten Tage wollte mich auch Banks während der wenigen Stunden begleiten, die ich einem Besuche Allahabads zu widmen gedachte. Man hätte wohl drei Tage gebraucht, um die drei Städte, welche jenes bilden, gründlich in Augenschein zu nehmen. Alles in Allem ist es jedoch minder merkwürdig als Benares, obwohl es gleichfalls unter die heiligen Städte gehört.

Ueber die Hindustadt ist nichts zu sagen. Sie besteht aus einem Haufen niedriger, von engen Straßen durchschnittener Häuser, welche da und dort einige wirklich prächtige Tamarinden überragen. Die englische Stadt und die Cantonnements bieten ebensowenig Merkwürdigkeiten, sie haben schöne, wohlerhaltene Alleen, kostbare Wohnstätten, geräumige Plätze, kurz alle Elemente einer Stadt, welche später zur Hauptstadt emporzusteigen bestimmt scheint.

Das Ganze liegt in einer weiten Ebene, nördlich und südlich von den beiden Wasseradern der Jumma und des Ganges umfaßt. Man nennt diese »die Ebene der Almosen«, weil die Hindufürsten von jeher dahin kamen, um Werke der Barmherzigkeit zu üben. Nach Rousselet's Berichte, der eine Stelle aus dem »Leben Hionen Thsangs« citirt, ist es weit verdienstvoller, an diesem Orte ein Geldstück zu geben, als zehntausend an einem anderen.

Der Gott der Christenheit vergilt Wohlthaten nur hundertfach. Das ist freilich hundertmal weniger, aber es flößt mir doch mehr Vertrauen ein.

Hier noch ein Wort über das Fort von Allahabad, das einen Besuch wohl verdient. Es ist im Westen der großen Ebene der Almosen erbaut und erhebt kühn seine hohen, rothen Sandsteinmauern, deren Geschütze, wenn uns der Ausdruck erlaubt ist, den beiden Strömen »die Arme zerbrechen« können. Ein Palast in der Mitte des Forts, ehemals die bevorzugte Residenz des Sultans Akbar, – in einer der Ecken der »Lât« Feroze Schachs, das ist ein prächtiger, sechsunddreißig Fuß hoher Monolith, der einen Löwen trägt, – unsern davon ein kleiner Tempel, den die Hindu aber, da man ihnen den Eintritt in das Fort verwehrt, nicht besuchen können, obwohl er einen der hochheiligsten Orte ihrer Welt bildet, das sind etwa die Sehenswürdigkeiten dieses Forts, das die Aufmerksamkeit aller Reisenden erregt.

Banks erzählte mir, daß das Fort von Allahabad auch seine Legende habe, welche an die Sage von der Wiederaufrichtung des Tempels Salomo's in Jerusalem erinnert.

Als der Sultan das Fort von Allahabad zu errichten gedachte, schien es, als ob die Steine sich widersetzen wollten. Kaum war eine Mauer aufgeführt,


»Lesen Sie!« sagte er. (S 124.)

[120]

so brach sie wieder zusammen. Man befragte das Orakel. Dieses antwortete wie gewöhnlich, daß nur ein freiwilliges Opfer das zürnende Geschick versöhnen könne. Ein Hindu erbot sich als Sühnopfer. Er wurde den Göttern dargebracht und das Fort nun ungestört vollendet. Dieser Hindu hieß Brog, und noch heute führt die Stadt den Doppelnamen Brog-Allahabad.

Banks begleitete mich von hier aus nach den Gärten von Khousrou, welche berühmt sind und das in der That verdienen. Der eine derselben war der letzte Aufenthaltsort des Sultans, dessen Namen diese Gärten tragen. In [121] eine der weißen Marmormauern findet sich eine ungeheuere Hand eingefügt. Man zeigte uns diese mit einer Bereitwilligkeit, die wir bei den heiligen Fußabdrücken in Gaya sehr vermißten.

Freilich rührt dieses Schaustück nicht von dem Fuße eines Gottes her, sondern von einem einfachen Sterblichen, dem Großneffen Mohammed's.

Bei dem Aufstande von 1857 wurde in Allahabad das Blut so wenig geschont wie in den anderen Städten des Gangesthales. Das von der königlichen Armee den Rebellen auf dem Exercierplatze von Benares gelieferte Gefecht veranlaßte die Empörung der eingebornen Truppen und vorzüglich die Empörung des 6. Regiments der Armee von Bengalen. Gleich anfangs wurden acht Fähnriche ermordet; infolge der entschlossenen Haltung einiger europäischen Artilleristen, die zu dem Corps der Invaliden von Chounar gehörten, mußten die Sipahis aber schließlich die Waffen niederlegen.

In den Cantonnements ging es ernsthafter zu. Die Natifs erhoben sich, sprengten die Gefängnisse, plünderten die Docks und setzten die Wohnungen der Europäer in Brand. Inzwischen kam Oberst Neil, nachdem er in Benares die Ordnung wieder hergestellt, mit seinem Regiment und hundert Füselieren des Regiments von Madras an. Er nahm die Schiffsbrücke wieder, eroberte am Vormittag des 18. Juni die Vorstadt, vertrieb die Mitglieder der von einem Muselman errichteten provisorischen Regierung und machte sich zum Herrn der Provinz.

Während dieses kurzen Ausfluges nach Allahabad achteten wir, Banks und ich, immer sorglich darauf, ob uns hier Jemand eben so folge, wie in Benares; dieses Mal bemerkten wir jedoch nichts Verdächtiges.

»Gleichviel, meinte der Ingenieur, jetzt ist Mißtrauen am Platze! Ich hätte incognito zu reisen gewünscht, denn Oberst Munro's Name ist den Eingebornen der Provinz gar zu bekannt!«

Um sechs Uhr trafen wir zum Diner wieder ein. Oberst Munro, der den Halteplatz auch eine Zeit lang verlassen hatte, war schon wieder zurückgekehrt und erwartete uns. Kapitän Hod hatte einige in den Cantonnements garnisonirende Kameraden besucht und erschien fast zu derselben Zeit wie wir.

Da bemerkte ich und machte Banks darauf aufmerksam, daß Oberst Munro mir, wenn auch nicht gerade trauriger, aber doch gedankenvoller vorkomme als gewöhnlich. In seinen Augen schien ein Feuer neu aufzuglänzen, das die Thränen schon seit langem verlöscht haben mochten.

[122] »Sie haben Recht, sagte Banks, hier liegt etwas zugrunde. Was mag wohl vorgefallen sein?

– Wenn Sie Mac Neil darüber fragten? sagte ich.

– Richtig, Mac Neil weiß vielleicht...«

Der Ingenieur verließ den Salon und öffnete die Cabine des Sergeanten.

Dieser war abwesend.

»Wo ist Mac Neil? fragte Banks Goûmi, der eben die Tafel zurecht machen wollte.

– Er ist fortgegangen, erklärte Goûmi.

– Seit wann?

– Etwa seit einer Stunde, im Auftrag des Oberst Munro.

– Sie wissen nicht, wohin?

– Nein, Herr Banks, so wenig wie ich den Grund kenne.

– Seit wir nach der Stadt gingen, ist hier nichts Besonderes vorgefallen?

– Nichts!«

Banks kam zurück, theilte mir die Abwesenheit des Sergeanten und auch den Nebenumstand mit, daß Niemand den Grund dafür kenne, und wiederholte:

»Ich weiß zwar noch nicht, was hier vorliegt, aber geschehen ist irgend etwas. Gedulden wir uns also!«

Wir gingen zu Tisch. Gewöhnlich betheiligte Oberst Munro sich dabei an der Unterhaltung. Er ließ sich gern von unseren Ausflügen erzählen und interessirte sich dafür, was wir Tags über begonnen hatten. Ich achtete wohl darauf, nie von etwas zu sprechen, was ihn nur entfernt an den Sipahi-Aufstand erinnern konnte. Mir schien, als bemerkte er das auch selbst, ohne daß ich weiß, ob ihm meine Zurückhaltung genehm war. Handelte es sich um Städte wie Benares und Allahabad, in welchen die Empörung selbst gewüthet, so kostete mir dieselbe übrigens genug Mühe.

Heute, während des Essens, mußte ich also die Aufforderung fürchten, von Allahabad zu erzählen. Vergebliche Angst. Oberst Munro fragte weder Banks noch mich, wie wir den Tag verbracht hätten. Er verhielt sich während der ganzen Mahlzeit stumm. Seine Besorgtheit schien mit jeder Stunde zu wachsen. Wiederholt blickte er zu der zu den Cantonnements führenden Straße hinaus, und ich glaube, er war nahe daran, sich mehrmals von der Tafel zu erheben, um besser dahin ausschauen zu können. Offenbar erwartete Oberst Munro die Rückkehr des Sergeant Mac Neil mit unerklärlicher Ungeduld.

[123] Das Diner verlief ziemlich eintönig. Kapitän Hod warf Banks forschende Blicke zu, um zu erfahren, was hier vorliege. Banks wußte das ja so wenig wie er selbst.

Nach der Tafel stieg Oberst Munro, statt wie gewöhnlich der Ruhe zu pflegen, die Stufen der Veranda hinab, ging einige Schritte in der Straße hin und blickte längere Zeit in deren Richtung hinaus; dann wendete er sich nach uns zurück.

»Banks, Hod und Sie, Maucler, begann er, würden Sie mich wohl bis zu den ersten Häusern der Cantonnements begleiten?«

Wir verließen sofort unsere Sitze und folgten dem Oberst, der langsam und stumm dahinwandelte.

Nach etwa hundert Schritten blieb Sir Edward Munro vor einem Pfahle an der rechten Seite der Straße stehen, an dem eine Bekanntmachung angeheftet war.

»Lesen Sie!« sagte er.

Es war die, nun bereits zwei Monate alte Bekanntmachung eines Preises für den Kopf Nana Sahib's, welche dessen Anwesenheit in der Präsidentschaft Bombay ankündigte.

Banks und Hod konnten das Gefühl getäuschter Hoffnung nicht verbergen. Bisher hatten sie sich ebenso in Calcutta wie im Verlaufe der Reise mit Erfolg bemüht, diese Bekanntmachung dem Obersten nicht vor Augen kommen zu lassen. Ein unglücklicher Zufall machte jetzt ihre Vorsicht zuschanden.

»Banks, nahm Sir Edward Munro, die Hand des Ingenieurs ergreifend, wieder das Wort, Du kanntest diese Nachricht?«

Banks antwortete nicht.

»Du wußtest vor zwei Monaten, daß Nana Sahib's Auftreten in der Präsidentschaft Bombay gemeldet worden war, und hast mir nichts davon mitgetheilt?«

Banks, der nicht wußte, was er antworten sollte, blieb noch immer stumm.

»Nun denn, ja, Herr Oberst, trat Kapitän Hod da für Jenen ein, wir wußten davon, doch warum sollten wir Ihnen davon sprechen? Wer steht dafür, daß die Thatsache richtig war, und weshalb sollten wir Erinnerungen wachrufen, die Ihnen so viel Herzeleid verursachen?

– Banks, rief da Oberst Munro, dessen Gesicht einen ganz anderen Ausdruck annahm, hast Du denn vergessen, daß mir vor jedem Anderen das [124] Strafgericht über jenen Mann zukommt? So wisse denn, wenn ich zustimmte, Calcutta zu verlassen, so geschah es, weil diese Reise mich nach dem Norden Indiens führen sollte weil ich nimmer an den Tod Nana Sahib's geglaubt und meine Pflicht als Rächer nie vergessen habe. Als ich mit Euch ging, hatte ich nur Einen Gedanken, nur Eine Hoffnung. Ich rechnete darauf, durch die Zufälligkeiten der Reise und mit Hilfe Gottes mein Ziel zu erreichen. Ich irrte nicht! Gott selbst hat mir jene Nachricht zugeführt. Im Norden ist Nana Sahib also nicht zu suchen, sondern im Süden. Nun wohl! Ich werde nach dem Süden gehen!«

Unsere Ahnungen hatten also nicht gelogen! Es war nur zu richtig – ein Hintergedanke, oder besser eine fixe Idee beherrschte noch immer, wenn nicht mehr als jemals, den armen Oberst Munro! Jetzt hatte er sie ganz vor uns enthüllt.

»Wenn ich nichts gegen Dich laut werden ließ, Munro, antwortete Banks nach kurzer Pause, so erkläre Dir es damit, daß ich an die Anwesenheit Nana Sahib's in der Präsidentschaft Bombay nicht glaubte. Die Behörden waren, das ist jetzt kaum noch zweifelhaft, wieder einmal getäuscht worden. Jene Nachricht datirt vom 6. März, und seit jenem Tage hat nichts das Wiederauftreten des Nabab bestätigt.«

Oberst Munro schwieg zunächst auf die Bemerkung des Ingenieurs und blickte noch einmal nach der Straße hinaus.

»Meine Freunde, nahm er darauf wieder das Wort, ich will Sie über die Sachlage aufklären. Mac Neil ist mit einem Briefe an den Gouverneur nach Allahabad gegangen. In kurzer Zeit werde ich darüber belehrt sein, ob Nana Sahib wirklich in den Westprovinzen wieder erschienen, ob er dort noch anwesend oder schon wieder verschwunden ist.

– Und was gedenkst Du zu thun, Munro, wenn er wirklich gesehen wurde? fragte Banks, des Obersten Hand ergreifend.

– Ich gehe dahin! antwortete Sir Edward Munro, überall hin, wohin mich das Gebot der ungesühnten Gerechtigkeit zu gehen verpflichtet!

– Das ist Dein endgiltiger Beschluß, Munro?

– Gewiß, Banks. Ihr, meine Freunde, setzt ohne mich Eure Reise fort – noch diesen Abend benutze ich den Bahnzug nach Bombay.

– Nun gut, aber allein wirst Du nicht gehen, erklärte der Ingenieur, der sich nach uns umwendete. Wir begleiten Dich, Munro!

[125] – Ja, ja, Herr Oberst! rief Kapitän Hod. Ohne uns dürfen Sie nicht des Weges ziehen! Statt Raubthieren nachzustellen, machen wir Jagd auf Schurken.

– Gestatten Sie mir, Herr Oberst, fügte ich hinzu, mich dem Kapitän und ihren Freunden anzuschließen.

– Gewiß, Maucler, antwortete Banks, heut' Abend werden wir Alle Allahabad verlassen haben...

– Nicht mehr vonnöthen!« ließ sich da eine Stimme vernehmen.

Wir sahen uns um. Da stand der Sergeant Mac Neil mit einem Zeitungsblatte in der Hand.

»Lesen Sie, Herr Oberst, sagte er. Der Gouverneur beauftragte mich, Ihnen dies vorzulegen.«

Sir Edward Munro las wie folgt:

»Der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay bringt hiermit zur Kenntniß der Einwohnerschaft, daß die den Nabab Dandou Pant betreffende Bekanntmachung vom 6. März gegenstandslos geworden ist. Am gestrigen Tage in den Abhängen der Sautpourra-Berge angegriffen, wurde seine Truppe zersprengt und er selbst getödtet. Ueber die Identität der Person herrscht kein Zweifel, da er von Bewohnern Khanpurs und Laknaus wiedererkannt wurde. Dazu fehlte dem Gefallenen ein Finger der linken Hand, und es ist längst erwiesen, daß er sich diesen abnehmen ließ, als er durch seine vorgebliche Beerdigung den Glauben an seinen Tod erwecken wollte. Das indische Reich hat also nichts mehr zu fürchten von den Anschlägen des grausamen Nabab, der ihm so viel Blut gekostet hat.«

Oberst Munro hatte diese Zeilen mit dumpfer Stimme vorgelesen. Das Journal entfiel seinen Händen.

Wir blieben stumm. Das nun unbestreitbare Ableben Nana Sahib's enthob uns jeder Befürchtung für die Zukunft.

Nach mehreren Minuten des Schweigens strich sich Oberst Munro mit der Hand über die Stirn, als wolle er peinliche Erinnerungen verwischen.

»Wann werden wir von Allahabad abreisen? fragte er darauf.

– Morgen mit Tagesanbruch, antwortete der Ingenieur.

– Können wir einige Stunden in Khanpur anhalten? fuhr Oberst Munro fort.

– Du wolltest...?

[126] – Ja, Banks, ich möchte... ich will Khanpur noch einmal... zum letzten Male wiedersehen!

– In zwei Tagen werden wir da sein, erklärte einfach der Ingenieur.

– Und dann...? fragte Oberst Munro weiter.

– Dann?... wiederholte Banks, dann setzen wir unseren Ausflug nach dem Norden Indiens fort.

– Ja!... nach dem Norden!... nach Norden!« rief auch der Oberst mit einer Stimme, die mir das Herz erzittern machte.

Man hätte wirklich vermuthen können, daß Sir Edward Munro noch immer über den Ausgang des letztgemeldeten Kampfes zwischen Nana Sahib und den englischen Streitkräften einigen Zweifel hegte. Hatte er Recht gegenüber den scheinbar unbestreitbaren Thatsachen?

Die Zukunft sollte uns das lehren.

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Via dolorosa.

Das Königreich Audh war früher eines der bedeutendsten der Halbinsel und ist noch heute eines der reichsten in ganz Indien. Es besaß verschiedene mächtige und ohnmächtige Herrscher. Die Ohnmacht eines derselben, Wajad Ali Schah's, ermöglichte am 6. Februar 1857 die Einverleibung seines Reiches in das Territorium der Compagnie. Es geschah das also kaum einige Monate vor dem Ausbruche der Empörung, und diese Gebiete bildeten dann auch den Schauplatz der entsetzlichsten Metzeleien und darauf der furchtbarsten Repressalien.

Zwei Namen von Städten, Laknau und Khanpur, sind seit jener Zeit zu wirklich trauriger Berühmtheit gelangt.

Laknau ist die Hauptstadt, Khanpur einer der wichtigsten Orte des ehemaligen Königreiches.

Nach Khanpur wollte Oberst Munro gehen; und nach einer Fahrt längs des rechten Gangesufers und mitten durch eine weite Ebene voller Indigoplantagen[127] langten wir am Morgen des 29. Mai daselbst an. Zwei Tage über hatte sich der Stahlriese mit einer Durchschnitts-Geschwindigkeit von drei Meilen in der Stunde fortbewegt, wobei wir die zweihundertfünfzig Kilometer von Allahabad nach Khanpur zurücklegten.

Jetzt befanden wir uns tausend Kilometer von Calcutta, unserem Ausgangspunkte.

Khanpur ist eine Stadt von etwa sechzigtausend Seelen. Es bedeckt am rechten Ufer des Ganges einen schmalen Streifen von fünf Meilen Länge. Hier liegt auch eine Garnison von siebentausend Mann.

In der ganzen Stadt würde der Reisende vergeblich ein seiner Aufmerksamkeit würdiges Baudenkmal suchen, obgleich jene sehr alten Ursprungs sein und sogar aus der vorchristlichen Aera herrühren soll. Neugierde hatte uns auch sicherlich nicht nach Khanpur verlockt. Nur der ausgesprochene Wille Sir Edward Munro's führte uns hierher.

Am 30. Mai frühmorgens verließen wir unseren Halteplatz. Banks, Kapitän Hod und ich folgten dem Oberst und dem Sergeanten Mac Neil auf diesem Schmerzenswege, dessen wichtigste Punkte Sir Edward Munro zum letzten Male besuchen wollte.

Hierzu ist es nöthig, das Folgende zu kennen, was ich nach dem Berichte des Ingenieurs auszugsweise wiedergebe:

»Khanpur, das zur Zeit der Annexion des Königreiches Audh von sehr verläßlichen Truppen bewacht wurde, zählte beim Ausbruch des Aufstandes nur zweihundertfünfzig Mann der königlichen Armee, gegen drei Regimenter eingeborner Infanterie, das 1., 53. und 56., zwei Regimenter Cavallerie und eine Batterie Artillerie der Armee von Bengalen. Außerdem befanden sich hier eine beträchtliche Anzahl Europäer, Beamte, Kaufleute und dergleichen, ferner achthundertfünfzig Frauen und Kinder des 32. königlichen Regiments, das in Laknau garnisonirte.

Oberst Munro wohnte schon seit mehreren Jahren in Khanpur. Hier lernte er auch das junge Mädchen kennen, das später sein Weib wurde.

Mrs. Honlay war eine reizende, geistvolle junge Engländerin mit edlem Charakter und hochherzigem Sinne, eine heroische Natur und würdig, von einem Manne wie der Oberst geliebt zu werden, der sie bewunderte und anbetete. Sie bewohnte in Gesellschaft ihrer Mutter einen Bungalow in der Nähe der Stadt, wo sich Edward Munro 1855 mit ihr vermählte.

[128] Zwei Jahre nach der Hochzeit, 1857, als sich in Mirat die ersten Auftritte der Empörung abspielten, mußte Oberst Munro unverzüglich bei seinem Regimente eintreten. Gattin und Schwiegermutter ließ er in Khan pur zurück, empfahl ihnen aber, sich sofort zur Abreise nach Calcutta bereit zu machen. Oberst Munro sagte sich, daß Khanpur nicht sicher sei, und die späteren Ereignisse sollten seine Ahnung leider in vollstem Maße bestätigen.

Mrs. Honlay's und Lady Munro's Abreise erlitt einige Verzögerungen, die von den schlimmsten Folgen sein sollten. Die unglücklichen Frauen


Das Todtendenkmal von Khanpur. (S. 135.)

[129] wurden von den Ereignissen überrascht und konnten Khanpur dann nicht mehr verlassen.

Die Division, zu der Oberst Munro's Regiment gehörte, stand damals unter dem Befehle des Generals Sir Hugh Wheeler, eines geraden, ehrlichen Soldaten, der dem arglistigen Verfahren Nana Sahib's sehr bald zum Opfer fiel.

Der Nabab bewohnte jener Zeit sein Schloß in Bilhour, zehn Meilen von Khanpur, und heuchelte immer das beste Einvernehmen mit den Europäern.

Sie wissen, lieber Maucler, daß die ersten Insurrections-Versuche in Mirat und Delhi zutage traten. Am 14. Mai erreichte die Nachricht davon Khanpur. Am nämlichen Tage zeigte auch schon das 1. Sipahi-Regiment eine feindselige Haltung.

Da bot Nana Sahib der Regierung seine Dienste an. General Wheeler mußte schlecht genug unterrichtet sein, um an die Ehrlichkeit jenes Schurken zu glauben, dessen eigene Soldaten sich fast gleichzeitig der Gebäude des Schatzamtes bemächtigten.

Denselben Tag ermordete auch ein auf dem Marsche nach Khanpur begriffenes, irreguläres Sipahi-Regiment seine europäischen Officiere vor den Thoren der genannten Stadt.

Jetzt zeigte sich die Gefahr in ihrer ganzen Größe. General Wheeler befahl allen Europäern, sich in die Kaserne zu flüchten, welche die Frauen und Kinder des 32. Regiments von Laknau bewohnten – eine Kaserne in unmittelbarer Nähe der Straße nach Allahabad, der einzigen, von welcher her man auf eintreffende Hilfe hoffen konnte.

Ebenda mußten sich auch Lady Munro und ihre Mutter einschließen. Während der ganzen Dauer dieses unfreiwilligen Aufenthaltes bewies die junge Frau ihren Unglücksgefährten eine Hingebung ohnegleichen. Sie sorgte für jene mit eigener Hand, unterstützte dieselben aus ihrer Börse, ermuthigte sie durch Wort und Beispiel und zeigte ihre wahre Natur, das große Herz und, wie ich schon sagte, das heldenmüthige Weib.

Das Arsenal wurde inzwischen unter die Obhut der Soldaten Nana Sahib's gestellt. Nun erhob der Verräther aber die Fahne des Aufstandes, und am 7. Juni griffen die Sipahis auf sein Anstiften die Kaserne an, zu deren Vertheidigung nur dreihundert kampffähige Soldaten vorhanden waren. Die braven Leute wehrten sich jedoch nach Kräften gegen das Feuer der Angreifer, trotz eines wahren Hagels von Geschossen, trotz Krankheiten jeder Art, halb sterbend [130] vor Hunger und Durst, denn an Lebensmitteln trat bald empfindlicher Mangel ein und die Senkbrunnen versiegten nur zu zeitig.

Der Widerstand dauerte bis zum 27. Juni.

Da brachte Nana Sahib eine Capitulation in Vorschlag, auf welche General Wheeler unverzeihlicher Weise einging, trotz Lady Munro's dringendster Bitte, den Kampf noch nicht aufzugeben. Nach dem Wortlaute jener Capitulation sollten alle Männer, Frauen und Kinder – gegen fünfhundert Personen, auch Lady Munro nebst ihrer Mutter – auf Fahrzeuge gebracht und auf dem Ganges nach Allahabad hinunter befördert werden. Kaum stießen die Schiffe vom Ufer ab, als die Sipahis ein mörderisches Feuer auf dieselben eröffneten und sie mit Kanonenkugeln und Kartätschen überschütteten. Infolge dessen sanken einige derselben, andere geriethen in Brand. Einem einzigen Fahrzeuge glückte es, wenige Meilen auf dem Strome hinabzugelangen.

Auf demselben befanden sich Lady Munro und ihre Mutter. Einen Augenblick konnten sie sich wohl für gerettet halten. Die Söldner des Nana verfolgten sie jedoch, singen sie wieder ein und schleppten alle nach den Cantonnements zurück.

Hier traf man eine Auswahl unter den Gefangenen. Die Männer wurden sofort niedergemetzelt. Die Frauen und Kinder sperrte man mit denen zusammen, die am 27. Juni dem Tode entgangen waren.

Das ergab zusammen zweihundert arme Opfer, denen ein langer Todeskampf vorbehalten war, und welche man in einem Bungalow unterbrachte, dessen Name, »Bibi-Ghar«, eine traurige Berühmtheit erlangt hat.

– Wie sind Sie aber zur Kenntniß dieser grauenhaften Einzelheiten gekommen? fragte ich Banks.

– Durch einen alten Sergeanten des 32. Regiments der königlichen Armee, antwortete mir der Ingenieur. Der Mann entkam damals wie durch ein Wunder und wurde von dem Rajah von Raïschwarah – eine der Provinzen des Königreichs Audh – ebenso wie mehrere andere Flüchtlinge, mit größter Menschenfreundlichkeit aufgenommen.

– Und was wurde aus Lady Munro und deren Mutter?

– Darüber, was später vorgegangen ist, lieber Freund, fuhr Banks fort, fehlen uns Berichte von Augenzeugen, doch läßt sich das ohne Schwierigkeit muthmaßen. Die Sipahis waren ja thatsächlich die Herren von Khanpur, wenigstens bis zum 15. Juli – neunzehn Tage – neunzehn Jahrhunderte! Die [131] unglücklichen Gefangenen harrten von Stunde zu Stunde auf Entsatz, der leider nur zu spät eintreffen sollte.

Schon seit einiger Zeit marschirte General Havelock von Calcutta aus nach Khanpur zur Hilfe und zog daselbst, nachdem er die Aufständischen wiederholt geschlagen, am 17. Juli ein.

Zwei Tage vorher aber, als Nana Sahib vernommen, daß die königlichen Truppen den Pandon-Niddi-Fluß überschritten hatten, beschloß er, die letzten Stunden seiner Herrschaft durch einen abscheulichen Massenmord zu bezeichnen. Gegenüber den Eroberern Indiens hielt er eben Alles für erlaubt!

Einige männliche Gefangene, welche die Hast im Bibi-Ghar mit den Frauen getheilt hatten, wurden vor ihn geführt und unter seinen Augen erwürgt.

Nun blieb noch die Menge der Frauen und Kinder übrig, und darunter auch Lady Munro nebst ihrer Mutter. Eine Abtheilung des 6. Sipahi-Regiments erhielt Befehl, diese durch die Fenster des Bungalow niederzuschießen. Die Execution nahm ihren Anfang; da sie für Nana Sahib, der auf den Rückzug denken mußte, aber nicht schnell genug förderte, schickte der blutdürstige Fürst auch noch die muselmanischen Fleischer unter seine Henker... nun gab es ein Gemetzel wie im Schlachthofe!

Am nächsten Tage wurden die Frauen und die Kinder, gleichviel ob lebend oder todt, in einen benachbarten Brunnenschacht geworfen, und als Havelock's Soldaten eintrafen, soll der bis zum Rande angefüllte Brunnen noch gedampft haben!

Jetzt nahm die Wiedervergeltung ihren Anfang. Eine gewisse Anzahl Rebellen, Helfershelfer Nana Sahib's, waren dem General Havelock in die Hände gefallen. Dieser erließ einen schrecklichen Tagesbefehl, dessen Wortlaut ich nimmermehr vergessen werde.

Der Brunnen, welcher die Ueberreste der armen, auf Befehl Sahib's ermordeten Frauen und Kinder enthält, wird mit Erde angefüllt und in der Form eines Grabes hergestellt. Ein von ihrem Officier commandirtes Detachement europäischer Soldaten wird heute Abend diese fromme Pflicht erfüllen. Das Haus und die Räumlichkeiten, in denen das Gemetzel stattgefunden, werden nicht durch die Landsleute der Opfer gereinigt und gewaschen. Der Brigadier will, daß jeder Tropfen unschuldigen Blutes von den Verurtheilten mit der Zunge beseitigt und vor der Vollstreckung des Todesurtheils aufgeleckt werde, jeder nach seinem Range und dem Antheil, den er bei der Mordthat gehabt hat.

[132] Nach Verlesung des Todesurtheils wird also Jeder nach jenem Hause geführt werden, um daselbst einen Theil des Fußbodens zu säubern. Man wird Sorge tragen, die Arbeit den religiösen Empfindungen der Verurtheilten so widerlich wie möglich zu machen, und der Profoß mag die Peitsche nicht schonen, wenn das nöthig erscheint. Nach vollendeter Arbeit wird der Ausspruch des Kriegsgerichts an dem neben dem Hause errichteten Galgen vollstreckt.«

»So lautete, fuhr Banks tiefbewegt fort, jener Tagesbefehl, der Punkt für Punkt zur Ausführung kam. Und doch, die bedauernswerthen Opfer athmeten ja nicht mehr – sie waren einmal ermordet, verstümmelt, zerfleischt! Als Oberst Munro, der zwei Tage nachher eintraf, den Versuch machte, von Lady Munro und deren Mutter Ueberreste zu entdecken, fand er nichts... nichts!«

Obige Mittheilungen hatte mir Banks vor unserer Ankunft in Khanpur gemacht, und jetzt begab sich der Oberst nach dem Platze, wo einst jenes entsetzliche Blutbad stattfand.

Vorher jedoch wollte er den Bungalow wiedersehen, in dem früher Lady Munro gewohnt und ihre Jugend verbracht, die Stätte, wo er sie zum letzten Male gesehen, die Schwelle auf der sie ihn zum letzten Male umarmt hatte.

Dieser Bungalow lag etwas abgesondert außerhalb der Vorstädte, unsern den militärischen Cantonnements. Ruinen, geschwärzte Mauerreste, einige umgehackte, jetzt verdorrte Bäume, das war Alles, was von dem früheren traulichen Heim noch übrig war. Der Oberst hatte von einer Wiederherstellung nichts wissen wollen. Nach sechs Jahren lag der Bungalow also noch ebenso da, wie ihn die Hände der Mordbrenner zugerichtet hatten.

Wir verbrachten eine Stunde an dieser vereinsamten Stelle. Sir Edward Munro ging stumm durch den Trümmerhaufen, der ihm so viele Erinnerungen wach rief. Er gedachte wohl der früheren glücklichen Zeiten, die ihm später nichts mehr wiedergeben konnte. Er sah wohl das junge Mädchen wieder, wie sie sich heiteren Sinnes in ihrem Geburtshause bewegte, in dem er sie dereinst kennen lernte, und zuweilen schloß er die Augen, um die Bilder seines Geistes besser zu erkennen!

Endlich aber wendete er sich plötzlich, doch als müsse er sich dabei Gewalt anthun, zurück und führte uns mit hinweg.

Banks hatte gehofft, der Oberst werde sich damit begnügen, jenen Bungalow zu besuchen... weit gefehlt! Sir Edward Munro mochte beschlossen haben, den bitteren Kelch bis zur Neige zu leeren. Nach der Wohnstätte Lady [133] Munro's wollte er auch die Kaserne wiedersehen, wo so viele Unschuldige, für welche seine heldenmüthige Frau sich damals so aufopferungsvoll abmühte, alle Schrecken einer Belagerung ausgehalten hatten.

Diese Kaserne lag in der Ebene vor der Stadt, und jetzt baute man eine Kirche an der Stelle, wohin sich seinerzeit die Einwohner von Khanpur flüchten mußten. Der Weg nach derselben führte auf einer macadamisirten, von schönen Bäumen beschatteten Straße hin.

Hier also hatte sich der erste Act der schauerlichen Tragödie abgespielt, hier lebten, litten und kämpften einst Lady Munro und ihre Mutter mit dem Tode, bis die Capitulation so viele Opfer den Händen Nana Sahib's auslieferte, welche dieser schon einem schrecklichen Tode geweiht hatte, als der Verräther gelobte, sie heil und gesund nach Allahabad ziehen zu lassen. In der Umgebung des noch unvollendeten Baues gewahrte man da und dort Mauerüberreste als Zeugen für die Maßnahmen zur Vertheidigung, die General Wheeler getroffen hatte. 1

Oberst Munro stand lange regungslos und still vor diesen Ruinen. In der Erinnerung traten ihm wohl die Schauerscenen vor Augen, deren Schauplatz jene gewesen – nach dem Bungalow, wo Lady Munro so glücklich gelebt, die Kaserne, in der sie über alle Beschreibung gelitten hatte!

Jetzt war nur noch der Bibi-Ghar zu besuchen, jene Wohnstätte, aus der Nana einen Kerker gemacht hatte, wo einst jener Brunnenschacht gähnte, der die Leichen der Opfer seiner Grausamkeit bunt durcheinander aufnahm.

Als Banks den Oberst sich nach jener Richtung wenden sah, ergriff er dessen Arm, wie um ihn zurückzuhalten.

Sir Edward Munro blickte ihm gerade in's Gesicht und sagte mit erschreckend ruhiger Stimme:

»Laß uns gehen!

– Munro, ich bitte Dich...

– So gehe ich allein!«

[134] Hier half kein Widerstreben.

Wir begaben uns also nach Bibi-Ghar, vor dem wohl gepflegte und mit schönen Bäumen bestandene Gärten liegen.

Hier erhebt sich eine gothische achteckige Colonnade. Sie umschließt die Stätte des früheren Brunnens, dessen Mündung jetzt mit Steinen verdeckt ist. Letztere bilden eine Art Sockel mit einer Figur aus weißem Marmor, den Engel der Barmherzigkeit darauf, eines des letzten Werke des Meißels Marochetti's.

Lord Canning, der General-Gouverneur von Indien zur Zeit der furchtbaren Empörung 1857, ließ dieses Todtendenkmal nach den Entwürfen des Genie-Obersten Yule errichten und wollte die Kosten sogar aus eigenen Mitteln decken.

An dieser Stelle, wo die beiden Frauen, die Mutter und die Tochter, nachdem sie von den Metzgern Nana Sahib's niedergeschlagen, vielleicht noch lebend in den Brunnen gestürzt worden waren, konnte Sir Edward Munro sich der Thränen nicht erwehren. Er sank am Fuße des Denkmals in die Kniee.

Dicht bei ihm stand der Sergeant Mac Neil und weinte still.

Uns Allen brach fast das Herz, da wir keine Worte fanden, in diesem unheilbaren Schmerz zu trösten, während wir doch hofften, daß Sir Edward Munro hier die letzten Thränen vergießen werde.

Ach, wäre er unter den ersten Soldaten gewesen, die in Khanpur eindrangen und nach jener beispiellosen Metzelei in den Bibi-Ghar gelangten – der Schmerz würde ihn getödtet haben.

Einer der englischen Officiere lieferte darüber folgenden Bericht, den Rousselet in seinem erwähnten Werke citirt:


Er sank in die Kniee (S. 135.)

»Gleich nach unserem Eindringen in Khanpur, forschten wir nach den armen Frauen und Kindern, die wir in des scheußlichen Nana Sahib's Händen wußten, erfuhren aber nur zu bald von deren unmenschlicher Abschlachtung. Gepeinigt von unstillbarem Durste nach Rache und durchdrungen von dem Gefühle der furchtbaren Leiden, welche jene armen Opfer zu erdulden gehabt, erwachten in uns ganz fremdartige, wilde Gedanken. Halb wahnsinnig stürzten wir nach der Opferstelle. Geronnenes Blut, untermischt mit Fetzen jeder Art, bedeckte den Fußboden des kleinen Raumes, in dem jene eingesperrt gewesen waren, so hoch, daß es uns bis an die Knöchel reichte. Lange, seidenweiche Haarflechten, zerrissene Stücke von Kleidern, Schuhe von kleinen Kindern neben Spielsachen derselben lagen auf dem besudelten Fußboden umher. Die mit Blut [135] bespritzten Wände zeugten für die entsetzlichen Todesqualen. Ich hob ein kleines Gebetbuch auf, dessen erste Seite folgende ergreifende Worte zeigte: »27. Juni, die Schiffe verlassen... 7. Juli, Gefangene Nana's... unglücksschwerer Tag.« Das war aber nicht der einzige grause Anblick der unserer harrte. Noch schrecklicher erschien der Anblick des tiefen Brunnens, in den die verstümmelten Ueberreste der zarten Wesen geworfen worden waren!...«

Sir Edward Munro war nicht dabei, als die ersten Truppen Havelock's sich der Stadt bemächtigten. Er kam erst zwei Tage nach dem gräßlichen Menschenopfer.

[136] Und jetzt zeigte sich seinem Blicke nur die Stelle, wo sich einst der schreckliche Brunnenschacht befand, ein namenloses Grab von zweihundert Opfern Nana Sahib's!

Hier gelang es Banks mit Hilfe des Sergeanten, ihn mit Gewalt wegzuziehen.


Der Inâmbara in Laknau. (S. 138.)

Oberst Munro vergaß gewiß niemals die zwei Worte, die einer der Soldaten Havelock's mit dem Bajonnet auf den Rahmen des Brunnens gekritzelt hatte:

»Remember Cawnpore!« – »Gedenk' an Khan pur!«

Fußnoten

1 Inzwischen ist jene Gedächtniß-Kirche längst vollendet worden. Inschriften auf Marmortafeln erinnern an die Ingenieurs der East-Indian-Bahnlinie, welche während des großen Aufstandes von 1857 ihren Wunden oder Krankheiten erlagen; an die Officiere, Unterofficiere und Soldaten des 34. Regiments der königl. Armee, die am 17. November in dem Gefechte vor Khanpur fielen; an den Kapitän Stuart Beathon, die Officiere, Mannschaften und Frauen des 32. Regiments, welche bei der Belagerung von Laknau und Khanpur, oder während des Aufstandes den Tod fanden; endlich an die Märtyrer des Bibi-Ghar, die im Juli 1857 hingeschlachtet wurden.

11. Capitel
[137] Elftes Capitel.
Der Wechsel des Moussons.

Um elf Uhr waren wir an unserem Halteplatz zurück und hätten erklärlicherweise Khanpur gern so schnell als möglich verlassen; eine nothwendige Reparatur an der Speisepumpe der Maschine hielt uns jedoch bis zum nächsten Tage zurück.

Es verblieb mir also anderthalb Tag. Ich glaubte diese Zeit nicht besser als durch einen Besuch Laknaus verwerthen zu können.

Banks gedachte diese Stadt nicht zu berühren, in welcher Oberst Munro nur den Schauplatz der furchtbarsten Greuel des Krieges wiedergesehen hätte. Er hatte wohl Recht. Auch dort erwarteten Jenen noch zu peinigende Erinnerungen.

Nachdem ich zu Mittag das Steam-House verlassen, benutzte ich die kurze Zweigbahn, welche Khanpur mit Laknau verbindet. Die Strecke beträgt kaum zwanzig (englische) Meilen, und binnen zwei Stunden langte ich in der bedeutenden Hauptstadt des Königreichs Audh an, von der ich nur einen flüchtigen Ueberblick gewinnen, sozusagen einen Eindruck mitnehmen wollte.

Ich fand übrigens das bestätigt, was ich über die unter der Herrschaft muselmanischer Kaiser im 12. Jahrhundert errichteten Bauwerke Laknaus schon gehört hatte.

Ein Franzose aus Lyon, Martin mit Namen, und gewöhnlicher Soldat in der Armee Lally-Tollendal's, der sich 1730 zum erklärten Günstling des Königs zu machen wußte, war der Schöpfer, der Erfinder, man könnte sagen, der Baumeister der sogenannten Wunderwerke der Hauptstadt von Audh gewesen.

Die officielle Residenz der Herrscher, der Kaiserbagh, ein sinnloses Gemisch aller Baustyle, das nur dem Gehirn eines Korporals entspringen konnte, ist nichts als ein »äußerliches« Bauwerk. Darin ist nichts, Alles an der Außenseite, aber diese selbst erscheint gleichzeitig indisch, chinesich, maurisch und... europäisch. Ebenso verhält es sich mit einem anderen, kleineren Palaste, dem Farid Bâkh, gleichfalls eine Schöpfung Martin's. Der Inâmbara dagegen, erbaut in der Mitte der Citadelle von Kaïhiatoulla, einem der ersten Architekten [138] Indiens im 17. Jahrhundert, ist wirklich ein stolzes Denkmal und bringt mit den Tausenden von Glockenthürmchen, die seine Zinnen krönen, eine wirklich großartige Wirkung hervor.

Ich konnte Laknau nicht verlassen, ohne den Constantin-Palast zu besuchen, wiederum ein persönliches Werk des französischen Korporals, der deshalb auch den Namen »Palais de la Martinière« führt. Ich wollte dabei auch den nahegelegenen Garten, den Secunder Bâkh, sehen, wo Hunderte von Sipahis, welche die Grabstätte des einfachen Soldaten beraubt hatten, bevor sie aus der Stadt flüchten konnten, niedergemacht worden waren.

Uebrigens ist der Martin's nicht der einzige, französische Name, der in Laknau in hohem Ansehen steht. Ein alter Unterofficier der französischen Jäger, Namens Duprat, zeichnete sich während des Aufstandes durch seine Kühnheit so aus, daß die Empörer ihm anboten, sich an ihre Spitze zu stellen. Trotz der ihm versprochenen Schätze, und trotz der Drohungen für den Fall der Weigerung, wies Duprat das Anerbieten ab und blieb den Engländern treu. Da er nun aber den Angriffen der Sipahis, denen es nicht gelang, ihn zum Verräther zu machen, desto mehr ausgesetzt war, fand er auch seinen Tod bei einem Gefecht mit jenen.

»Ungläubiger Hund, hatten sie gerufen, Du wirst auch gegen Deinen Willen der Unsere!«

Er wurde es, aber als – ein todter Mann.

Bei den Repressalien spielten die beiden französischen Soldaten also zusammen eine Rolle: die Sipahis, welche das Grab des einen beraubt und die, durch deren Hand der andere den Tod fand, wurden ohne Erbarmen niedergemacht.

Nachdem ich noch die prächtigen Parkanlagen, den grünen blumenreichen Rahmen der großen, eine halbe Million Einwohner zählenden Stadt bewundert und auf dem Rücken eines Elephanten deren Hauptstraßen und den großartigen Boulevard Hazrat Gaudj in Augenschein genommen, ging ich wieder zur Bahn und gelangte am nämlichen Abend nach Khanpur zurück.

Am 31. Mai mit Tagesanbruch reisten wir weiter.

»Endlich rief Kapitän Hod, ist es doch nun aus mit den Allahabad, Khanpur, Laknau und den anderen Städten, um die ich mich gerade soviel bekümmere, wie um eine leere Patrone!

[139] – Ja wohl, das ist zu Ende, Hod, bestätigte Banks, und nun werden wir direct nach Norden ziehen, um den Fuß des Himalaya auf kürzestem Wege zu erreichen.

– Bravo! jubelte der Kapitän. Was ich eigentlich Indien nenne, das sind nicht die Provinzen voller Städte und mit einer zusammengedrängten Bevölkerung von Hindus – nein, das ist das Land, wo meine Freunde, die Elephanten, Löwen, Tiger, Panther, Guepards, Bären, Büffel und Schlangen in der Freiheit hausen! Da ist der einzige bewohnbare Theil der Halbinsel! Sie werden das selbst sehen, Maucler, und werden die Wunder des Gangesthales nicht vermissen.

– In Ihrer Gesellschaft, lieber Kapitän, erwiderte ich, werde ich überhaupt gar nichts vermissen.

– Uebrigens giebt es im Nordwesten, warf Banks ein, noch recht interessante Städte, wie Delhi, Agra, Lahore...

– Aber, bester Banks, unterbrach ihn Hod, wer hat denn je von diesen erbärmlichen Nestern reden hören!

– Erbärmliche Nester! versetzte Banks, nein, Hod, das sind sehr schöne Städte. Doch, beruhigen Sie sich, lieber Freund, fuhr der Ingenieur an mich gewendet fort, wir werden Ihnen das zu zeigen wissen, ohne die Feldzugspläne unseres Kapitäns zu kreuzen.

– Sehr schön, Banks, meinte Hod, aber eigentlich fängt unsere Reise doch erst heute an!«

Dann rief er lauter:

»Fox!«

Der Diener erschien.

»Hier, Herr Kapitän!

– Fox, die Flinten, Carabiner und Revolver sind doch in Ordnung?

– Gewiß!

– Sieh' mir die Schlösser nach.

– Ist auch besorgt.

– Fertige Patronen an.

– Ich habe Vorrath...

– Es ist also Alles in Stand?

– Alles!

– Wenn's möglich ist, so bring' es in noch besseren!

[140] – Soll geschehen.

– Der Achtunddreißigste wird bald auf der Liste Deines Ruhmes paradiren, Fox!

– Der Achtunddreißigste! rief der Diener, in dessen Augen ein flüchtiger Blitz aufleuchtete. Ich werde für den Burschen eine hübsche explodirende Kugel zurecht machen, über die er nicht zu klagen haben soll.

– Schon gut, Fox, nun geh' nur!«

Fox grüßte militärisch, machte eine halbe Schwenkung und wandte sich nach der Waffenkammer.

Ich verzeichne hier die für den zweiten Theil der Reise festgestellte Richtung, von der, außer im Falle des Eintritts unvorzusehender Ereignisse, nicht abgewichen werden sollte.

Diese folgt auf etwa fünfundsiebenzig Kilometer dem Laufe des Ganges nach Nordwesten, von da zweigt sie sich, längs eines Nebenflusses des gewaltigen Stromes und eines anderen bedeutenden Armes, der Goutmi, nach Norden ab. Damit vermeidet sie viele Wasserläufe, die sich zur rechten und linken Seite verbreiten, und führt in schräger Linie durch das westliche Gebiet der Königreiche Audh und Rohilkande auf die ersten Wellen der Gebirgslandschaften von Nepal zu.

Der Ingenieur hatte diesen Weg, auf dem wir vielen Schwierigkeiten entgingen, vorsorglich ausgewählt. Wurde auch die Beschaffung von Kohle im nördlichen Hindostan etwas beschwerlicher, so konnte uns dafür Holz niemals fehlen. Unser Stahlriese war also in der Lage, auf der so gut gehaltenen Straße durch die schönsten Wälder der indischen Halbinsel in jeder beliebigen Gangart vorwärts zu traben.

Gegen achtzig Kilometer trennten uns noch von der kleinen Stadt Biswah. Wir wollten diese Strecke nur sehr langsam durchreisen und es wurden dazu sechs Tage bestimmt. Dabei konnten wir nach Belieben anhalten, wo es uns gefiel, und die Jäger der Expedition gewannen hinlänglich Zeit, ihre Heldenthaten auszuführen.

Kapitän Hod mit seinem Diener Fox, denen sich auch Goûmi zuweilen anschloß, vermochten so bequem auf Kundschaft umherzuschweifen, während der Stahlriese langsamen Schrittes weiterzog. Auch mir stand es frei, Jene bei ihren Treibjagden zu begleiten, und obwohl nur ein unerfahrener Waidmann, leistete ich ihnen doch dann und wann Gesellschaft.

[141] Ich muß gestehen, daß Oberst Munro, seit der Zeit, da unsere Reise gleichsam in eine neue Phase trat, sich weniger zurückzog. Außerhalb des Bezirkes der Städte wurde er inmitten der Wälder und Ebenen, fern dem eben durchzogenen Thale des Ganges, entschieden umgänglicher. Unter diesen Verhältnissen schien er die Ruhe wieder zu finden, in der er sein Leben in Calcutta verbrachte. Und doch, konnte er wohl le vergessen, daß sein rollendes Haus ihn nach dem Norden Indiens führte, wohin ihn ein unwiderstehliches Geschick zog? Wie dem auch sei, jedenfalls gewann seine Unterhaltung an Lebhaftigkeit, während der Mahlzeiten sowohl, wie unter der Siesta, und zuweilen setzte er dieselbe sogar noch weit in die schönen Nächte hinein fort, deren wir uns während der heißen Jahreszeit erfreuten. Mac Neil dagegen erschien seit dem Besuche des Brunnenschachtes in Khanpur finsterer als gewöhnlich. Hatte der Anblick des Bibi-Ghar in seiner Seele vielleicht den Rachedurst, den er noch zu löschen hoffte, auf's Neue geweckt?

»Nana Sahib, sagte er eines Tages in abgerissenen Sätzen zu mir,.. nein... nein! Es ist unmöglich, daß sie ihn uns getödtet hätten!«

Der erste Tag verlief ohne bemerkenswerthen Zwischenfall. Weder Kapitän Hod noch Fox fanden Gelegenheit, auch nur auf das winzigste Thier zu feuern. Es war bedauerlich und sogar wunderbar, wenn man es nicht der Erscheinung des Stahlriesen selbst zuschreiben wollte, der die Raubthiere der Umgegend vielleicht verscheuchte. Wir kamen z. B. durch verschiedene Dschungeln, in denen sich Tiger und andere Raubthiere mit Vorliebe aufzuhalten pflegen, aber nicht eines kam zum Vorschein, obwohl die Jäger bis auf ein und zwei Meilen seitwärts von unserem Zuge die Umgebung absuchten. Sie mußten sich also begnügen, Black und Phann auf die Jagd nach eßbarem Wild mitzunehmen, von dem Monsieur Parazard seine gewohnte tägliche Ration beanspruchte. Unser schwarzer Küchenchef nahm einmal keine Vernunft an, und wenn der Diener des Kapitäns ihm von Tigern, Guepards und anderen minder schmackhaften Bestien erzählte, zuckte er verächtlich die Achseln und sagte blos:

»Kann man das Zeug essen?«

An diesem Abend hielten wir unter dem Schutze einer Gruppe riesiger Banianen. Die Nacht war ebenso still wie der Tag ruhig. Nicht einmal das Heulen der Raubthiere unterbrach das Schweigen der Natur. Auch unser Elephant ruhte ja. Das Zischen und Brausen des abblasenden Dampfes hatte aufgehört. Die Feuer waren gelöscht und um dem Kapitän zu willfahren, hatte [142] Banks nicht einmal den elektrischen Strom in Gang gesetzt, der die Augen des Stahlriesen in zwei glänzende Leuchtfeuer verwandelte. Doch auch dieses Mittel erwies sich als fruchtlos.

Ganz ebenso vergingen der 1. und 2. Juni. Es war zum Verzweifeln.

»Man hat mir das Königreich Audh vertauscht! rief der Kapitän wiederholt. Man hat es mitten nach Europa hinein versetzt! Hier giebt's jetzt ebensowenig Tiger, wie in den schottischen Niederungen!

– Möglicherweise, lieber Hod, erwiderte Oberst Munro, sind in der Gegend Treibjagden abgehalten und die Thiere in Menge verscheucht worden. Doch verzweifeln Sie noch nicht; warten Sie, bis wir am Fuße der Berge von Nepal sind. Dort werden Sie Gelegenheit finden, Ihre Meisterschaft im edlen Waidwerk zu erproben.

– Ich hoffe es, lieber Oberst, antwortete Hod, im anderen Falle müßten wir die Kugeln wahrlich zum Umgießen in die Schrotmühle schicken!«

Im Laufe des 3. Juni herrschte eine bis dahin unbekannte Hitze. Wäre der Weg nicht von großen Bäumen beschattet gewesen, ich glaube, wir wären in unserer beweglichen Wohnung buchstäblich gesotten worden. Der Thermometer stieg im Schatten bis auf 48 Grad, ohne den geringsten Luftzug. Es war also möglich, daß auch die Raubthiere bei so erstickender Gluth selbst in der Nacht gar nicht daran dachten, ihre Höhlen zu verlassen.

Am nächsten Tag bei Sonnenaufgang erschien der westliche Horizont zum erstenmale etwas neblig. Wir genossen da das herrliche Schauspiel einer sogenannten Luftspiegelung, die man in einigen Gegenden Indiens »Seekote«, das ist Luftschlösser, in anderen »Dessasur«, das ist Augentäuschung, nennt.

Es war jedoch keine scheinbare Wasserfläche mit den wunderbaren Effecten der Strahlenbrechung, die vor unseren Augen lag, sondern eine ganze Kette mäßiger Hügel, besetzt mit den phantastischsten Schlössern, die es nur geben kann, so etwa wie die Ufer des Rheinthales mit ihren alterthümlichen Burggrafensitzen. Wir sahen uns für kurze Zeit nicht nur in das Herz des alten Europa, sondern auch fünf bis sechs Jahrhunderte zurück, mitten in's Mittelalter versetzt.


Gegen Abend belud sich der Horizont mit Dunstmassen. (S. 146.)

Die überraschend deutliche Erscheinung machte auf uns völlig den Eindruck der Wirklichkeit. Der Stahlriese mit Allem, was dazu gehörte, erschien mir, als er so auf eine Stadt aus dem 11. Jahrhundert zuzog, noch fremdartiger, [143] als wenn er, in Dampfwolken gehüllt, durch das Land Wischnu's und Brahma's trabte.

»Hab' Dank, Mutter Natur! rief entzückt der Kapitän. Nach so vielen Minarets und Kuppeln, so vielen Moscheen und Pagoden doch endlich einmal eine alte Stadt aus der schönen Feudalzeit mit der romanischen und gothischen Pracht, die sie vor meinen Augen entrollt!

– Alle Wetter, scherzte Banks, was unser Freund Hod heute poetisch gestimmt ist. Sollte er vor dem Frühstück schon eine Ballade verzehrt haben?

[144] – Immer lachen Sie, lieber Banks, scherzen und spotten Sie nach Herzenslust, entgegnete Hod; aber blicken Sie nur dorthin! Sehen Sie Alles, wie es im Vordergrund noch größer erscheint; da werden Gebüsche zu Bäumen, Hügel wachsen zu Bergen an, und...

– Und einfache Katzen würden zu Tigern, wenn es hier gerade Katzen gäbe, nicht wahr, Hod?

– O, Banks, das wäre nicht zu verachten!... Ei, rief der Kapitän, da schmelzen ja meine Schlösser am Rhein, die Stadt verschwindet und wir fallen [145] aus dem Himmel auf die Erde, in eine gewöhnliche Landschaft des Königreichs Audh, welches nicht einmal die Tiger mehr bewohnen mögen!«

Die im Osten jetzt mehr heraufgestiegene Sonne hatte das Spiel der Strahlenbrechung plötzlich verwandelt. Die Burgen stürzten gleich Kartenhäusern zusammen und die Hügel sanken zur Ebene herab.


Die Haltestelle lag am Saume eines Waldes. (S. 147.)

»Wollt Ihr, da die Luftspiegelung verschwunden ist, begann Banks, und mit ihr die ganze dichterische Begeisterung des Kapitän Hod verflogen zu sein scheint, nun vielleicht erfahren, worauf diese Erscheinung hindeutet?

– Sprechen Sie, Ingenieur! antwortete der Kapitän.

– Auf eine demnächstige Veränderung der Witterung, erklärte Banks, wir befinden uns übrigens in den ersten Tagen des Juni, welche stets klimatische Veränderungen herbeiführen. Der Wechsel des Moussons wird die periodische Regenzeit einleiten.

– Nun, lieber Banks, sagte ich darauf, sind wir nicht wohlverwahrt? Mag der Regen immer kommen! Und wenn's ein diluvianischer wäre, dieser unausstehlichen Hitze ist er allemal vorzuziehen...

– Ihr Wunsch wird in Erfüllung gehen, bester Freund, antwortete Banks. Ich glaube, daß der Regen nicht mehr fern ist und wir bald am Südwesthorizonte die ersten Wolken werden aufsteigen sehen!«

Banks täuschte sich nicht. Gegen Abend belud sich der westliche Horizont mit Dunstmassen, eine Hindeutung darauf, daß der Mousson, wie es nicht selten zu geschehen pflegt, in der Nacht umspringen werde. Hier sandte uns der indische Ocean über die Halbinsel jene mit Elektricität gesättigten Dünste, gleich großen Schläuchen des Gottes Aeolus, die mit Unwettern und Stürmen gefüllt sind.

Während des Tages zeigten sich auch noch einige andere Erscheinungen, über welche kein Anglo-Indianer hätte im Unklaren bleiben können. Längs der Straße wirbelten vor unserem Zuge ganze Wolken sehr seinen Staubes her. Zwar mußte die jetzt etwas schnellere Bewegung der Räder – sowohl der unseres Motors, wie der beiden rollenden Häuser – Staub aufwirbeln, sicherlich aber nicht in solcher Intensität. Es sah aus wie eine Wolke von Flaumfedern, die eine in Thätigkeit gesetzte Elektrisirmaschine tanzen machte. Wirklich konnte man den Boden für einen ungeheueren Receptor ansehen, in dem das elektrische Fluidum sich seit mehreren Tagen schon angehäuft hatte. Uebrigens zeigte jener Staub eine merkwürdige gelbliche Farbe und in jedem Molekül desselbenglänzte[146] ein leuchtendes Pünktchen. Dann und wann schien unser ganzer Zug sich mitten durch Flammen zu bewegen – freilich Flammen ohne Wärme, die aber weder durch ihre Färbung, noch durch ihre Lebhaftigkeit an das bekannte St. Elmsfeuer erinnerten. Storr erzählte uns, er habe mitunter Eisenbahnzüge zwischen einer Doppelwand solch' leuchtenden Staubes dahinbrausen gesehen, und Banks bestätigte die Aussagen des Mechanikers. Während einer Viertelstunde konnte ich diese eigenthümliche Naturerscheinung durch die Lichtpforten des Thürmchens genau beobachten, von wo aus ich die Straße auf eine Strecke von fünf bis sechs Kilometer überblickte. Der baumlose Weg war staubig und von den senkrechten Sonnenstrahlen grell beleuchtet. Jetzt schien mir die Hitze der Atmosphäre fast die unserer Maschinenfeuerung zu übersteigen; jedenfalls war sie geradezu unerträglich, und ich halb erstickt, als ich unter dem Flügelschlage der Punka einige Athemzüge frischerer Luft schöpfte.

Abends gegen sieben Uhr hielt das Steam, House an. Die von Banks ausgewählte Haltestelle lag am Saume eines Waldes von prächtigen Banianen, der sich unübersehbar weit nach Norden zu erstreckte. Eine schöne Straße durchschnitt denselben und versprach uns für den folgenden Tag eine angenehmere Fahrt unter seinem hohen und ausgebreiteten Blätterdache.

Die Banianen, diese Riesen unter der Flora Indiens, sind wirkliche Großväter, man könnte sagen Häupter von Pflanzenfamilien, umringt von ihren Kindern und Kindeskindern. Aus gemeinschaftlicher Wurzel entspringend, erheben sich die letzteren rings um den Hauptstamm, mit dem sie sonst in keinerlei Verbindung stehen, während sie sich in der Höhe wiederum in dem väterlichen Gezweig verlieren. Sie machen unter dem dichten Blattwerke denselben Eindruck wie Küchlein unter den schützenden Flügeln der Glucke. Daher rührt der merkwürdige Anblick, den diese, oft mehrhundertjährigen Wälder darbieten. Die alten Bäume erscheinen wie isolirte Pfeiler, welche das ungeheuere Gewölbe tragen, dessen feinere Rippen sich auf junge Banianen stützen, die einst selbst zu Pfeilern werden sollen.

An diesem Abend richteten wir uns umfassender als gewöhnlich zum Rasten ein. Sollte der nächstfolgende Tag sich ebenso heiß zeigen wie der eben vergangene, so hatte Banks beschlossen, noch zu verweilen und nur während der Nacht zu fahren.

Oberst Munro wünschte nichts mehr, als einige Stunden in dem schönen, stillen und schattenreichen Walde zu verbringen. Alle stimmten ihm bei, die[147] Einen, weil sie wirklich der Erholung bedurften, die Anderen, weil sie versuchen wollten, endlich ein, der Büchse eines Anderson oder eines Gérard würdiges Thier zu entdecken. Man erräth leicht, wer diese Anderen waren.

»Fox, Goûmi, rief Hod, jetzt ist es erst sieben Uhr! Noch einen Streifzug in den Wald, bevor die Nacht hereinbricht. Werden Sie uns begleiten, Maucler?

– Mein lieber Hod, sagte Banks, ehe ich noch antworten konnte, Sie thäten besser, sich nicht mehr von hier zu entfernen. Der Himmel hat ein drohendes Aussehen. Wenn das Unwetter losbricht, würden Sie Mühe haben, den Rückweg zu finden. Im Falle, daß wir morgen noch hier rasten, könnten Sie ja dann aufbrechen.

– Morgen, o, da ist's heller Tag, erwiderte Kapitän Hod, jetzt ist die Stunde günstiger zu einem Versuche.

– Das weiß ich, Hod, aber die kommende Nacht sieht mir doch zu unsicher aus. Wenn Sie darauf bestehen, noch heute zu jagen, so wagen Sie sich wenigstens nicht zu weit hinaus. Binnen einer Stunde schon dürfte es sehr finster, und dann schwierig sein, die Haltestelle wieder aufzufinden.

– Seien Sie außer Sorge, Banks, es ist erst sieben Uhr, ich werde den Herrn Oberst nur um einen Urlaub von zwei Stunden ersuchen.

– So gehen Sie, lieber Hod, antwortete Sir Edward Munro, doch lassen Sie Banks' Warnung nicht außer Acht.

– Gewiß nicht, Herr Oberst!«

Mit prächtigen Jagdgewehren versehen, verließen Kapitän Hod, Fox und Goûmi das Lager und verschwanden unter den hohen Banianen zur rechten der Straße.

Mich hatte die Hitze des Tages so sehr ermüdet, daß ich es vorzog, im Steam-House zurückzubleiben.

Inzwischen wurde auf Banks' Anordnung das Feuer unter dem Kessel nicht ganz gelöscht, sondern nur gedämpft, um stets eine bis zwei Atmosphären Dampf zu behalten. Der Ingenieur wollte für jeden Zufall gerüstet sein.

Storr und Kâlouth erneuerten einstweilen den Brennmaterial- und Wasservorrath. Ein kleiner Bach, der zur linken Seite des Weges floß, lieferte ihnen den letzteren und die nahen Bäume das nöthige Holz zur Füllung des Tenders. Monsieur Parazard besorgte seine gewöhnlichen Geschäfte und grübelte, während er die Reste des heutigen Diners abtrug, schon über das für den folgenden Tag.

[148] Noch war es ziemlich hell. Oberst Munro, Banks, der Sergeant Mac Neil und ich wollten am Ufer des Baches Siesta halten. Das klare plätschernde Wasser erfrischte einigermaßen die wahrhaft erstickende Luft. Die Sonne stand noch über dem Horizonte. Der Widerschein ihres Lichtes färbte die Dunstmassen, welche man durch Lücken in dem Blätterdache sich im Zenith ansammeln sah, mit blaugrauen Tinten. Es waren das schwere, dichte, gleichsam condensirte Wolken, welche kein Wind bewegte, sondern die ihren Motor in sich selbst zu haben schienen.

Wir plauderten etwa bis acht Uhr. Von Zeit zu Zeit erhob sich Banks, um den Himmel in größerer Ausdehnung übersehen zu können, indem er bis zum Saume des Waldes ging, der ziemlich eine Viertelmeile von unserer Haltestelle die Ebene scharf begrenzte.

Zurückkehrend, schüttelte er bedenklich den Kopf.

Das letzte Mal hatten wir ihn begleitet. Schon wurde es unter den Kronen der Banianen allmählich düster. Vom Waldessaume aus erblickte ich nach Westen zu eine weite Ebene, die sich bis zu einer Reihe kleiner, schon mit den Wolken verschwimmender Hügel erstreckte.

Der Anblick des Himmels in seiner Ruhe war wirklich schrecklich. Kein Lufthauch bewegte die Blätter der hohen Bäume. Die Ruhe der eingeschlummerten Natur, von der die Dichter so oft gesungen, war das aber nicht, sondern ein bleischwerer, krankhafter Schlaf. Es schien, als stände die ganze Atmosphäre unter einer gewissen Spannung. Ich kann den Himmelsraum nicht besser vergleichen, als mit dem Dampfraume eines Kessels, wenn der Dampf zu stark comprimirt ist und eine Explosion bevorsteht.

Diese Explosion drohte hier in kürzester Zeit.

Die Gewitterwolken erschienen, wie es über Ebenen gewöhnlich der Fall ist, hoch übereinander gethürmt und zeigten gebogene, sehr scharf umschriebene Ränder. Sie schienen anzuschwellen, an Zahl ab-und an Ausdehnung zuzunehmen, während sie immer auf derselben Basis ruhten. Offenbar mußten sie bald in eine einzige Masse zusammengeflossen sein, was die Dichtheit der Wolke nur vermehren konnte. Schon verloren sich kleinere Nebenwolken, wie von einer Art Anziehungskraft getrieben und hin und her gestoßen, in der allgemeinen Dunstmasse.

Gegen achteinhalb Uhr zerriß ein Zickzackblitz mit sehr scharfen Winkeln die dunkle Masse in einer Länge von zweitausendfünfhundert bis dreitausend Metern.

[149] Fünfundsechzig Secunden später erreichte uns der Donner und rollte lang hin, wie es bei jenen, etwa fünfzehn Secunden dauernden Blitzen stets der Fall ist.

»Einundzwanzig Kilometer, sagte Banks, der seine Uhr beobachtet hatte. Das ist fast die größte Entfernung, auf welche hin der Donner noch hörbar ist. Wenn das Unwetter aber einmal losbrach, wird es schnell herausziehen, und wir dürfen es hier nicht erwarten. Kehren wir also zurück, meine Freunde,

– Und Kapitän Hod? fragte Mac Neil.

– Der Donner wird ihn wohl zur Heimkehr mahnen, meinte Banks, ich hoffe, daß er dieser Stimme gehorcht.«

Fünf Minuten später langten wir wieder an der Haltestelle an und nahmen unter der Veranda des Salons Platz.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Feuer ringsum.

Indien theilt mit gewissen Gegenden von Brasilien – unter Anderen der von Rio de Janeiro – das Privileg, von allen Ländern der Erde am häufigsten von Gewittern heimgesucht zu werden. Wenn im mittleren Europa, wie in Deutschland, Frankreich, England, (etwa an zwanzig Tagen des Jahres die Stimme des Donners zu hören ist, so ist das auf der indischen Halbinsel mindestens fünfzigmal im Jahre der Fall.

Wie die Umstände heute lagen, hatten wir allen Anzeichen nach ein Gewitter von besonderer Heftigkeit zu erwarten.

Nach unserer Rückkehr in das Steam-House beobachtete ich das Barometer. Die Quecksilbersäule war in kürzester Zeit um zwei Zoll, von 29 auf 27 (etwa 730 Millimeter) gefallen.

Ich theilte das dem Oberst mit.

»Mich beunruhigt die Abwesenheit des Kapitän Hod und seiner Begleiter, erwiderte er. Das Unwetter muß gleich zum Ausbruch kommen, die Nacht rückt[150] heran und die Dunkelheit nimmt schneller zu. Jäger entfernen sich stets weiter, als sie versprechen und selbst, als sie gewollt haben. Wie werden Jene in der tiefen Finsterniß den Rückweg finden?

– Die Tollköpfe! fiel Banks ein. Sie wollten auch keine Vernunft annehmen. Besser, sie wären ganz hiergeblieben.

– Gewiß, Banks, doch sie sind einmal weg, entgegnete Oberst Munro, und an uns ist es, Alles zu thun, um ihnen die Rückkehr zu erleichtern.

– Giebt es kein Mittel, ihnen die Stelle, wo wir liegen, zu bezeichnen? wandte ich mich an den Ingenieur.

– O doch, antwortete Banks, wenn wir unser elektrisches Licht anzünden, das sehr mächtig und weithin zu sehen ist. Ich werde den Strom schließen.

– Eine herrliche Idee, Banks!

– Soll ich mich zur Aufsuchung des Kapitän Hod aufmachen? fragte der Sergeant.

– Nein, mein alter Neil, erklärte Oberst Munro, Du würdest ihn nicht finden und Dich nur noch selbst verirren.«

Banks brachte die Elemente der Säule in Stand, schloß den Strom und bald warfen die beiden Augen des Stahlriesen, gleich zwei elektrischen Leuchtthürmen, ihre Strahlenbündel durch die Finsterniß unter den Banianen. Bei der besonders dunklen Nacht mußte die Tragweite des Lichtes gewiß eine weite sein und konnte unseren Jägern als Leitstern dienen.

Da erhob sich plötzlich ein Orkan mit entsetzlicher Gewalt. Er zerriß die Gipfel der Bäume, bog die jungen Banianenstämme zu Boden und pfiff durch dieselben wie durch die Pfeifen einer Orgel.

Alles war das Werk eines Augenblickes.


Storr und Kâlouth erneuerten den Brennmaterial-Vorrath. (S. 148.)

Ein Hagel von vertrockneten Zweigen und ein Regen von abgerissenen Blättern bedeckte die Straße. Die Bedachung des Steam-Houses hallte wider vom fortwährenden Rauschen des Stromes, der sich darüber hinwegwälzte.

Wir mußten uns in den Salon flüchten und alle Fenster dicht verschließen.

»Das ist eine Art Tofan,« sagte Banks.

So bezeichnen die Indier die heftigen und urplötzlichen Stürme, welche vorzüglich die Berggegenden verwüsten und im ganzen Lande gefürchtet sind.

»Storr, rief Banks dem Mechaniker zu, hast Du die Fensteröffnung des Thurmes gut verschlossen?

[151] – Gewiß, Herr Banks, erklärte der Mechaniker, von dieser Seite ist nichts zu fürchten.

– Wo ist Kâlouth?

– Er schichtet eben das letzte Brennmaterial in dem Tender auf.

– Morgen werden wir das Holz nur aufzulesen brauchen, meinte der Ingenieur. Der Wind fällt es selbst und erspart uns die Mühe. Pass' auf, daß wir Druck behalten, Storr, und suche unter Dach und Fach zu bleiben.

– Soll geschehen.

[152] – Sind die Bunker voll, Kâlouth? fragte Banks.

– Ja, Herr Banks, antwortete der Heizer. Auch der Wasservorrath ist ergänzt.

– Gut, so komm herein!«

Maschinist und Heizer hatten bald im zweiten Wagen Platz genommen.


Durch die Finsterniß unter den Banianen. (S. 151.)

Jetzt leuchteten die Blitze häufiger auf und aus den Wolken hörte man ununterbrochen das dumpfe Rollen. Der Tofan hatte die Luft nicht abgekühlt. Es war ein trockener Wind mit heißem Athem, so als käme er selbst aus der [153] Mündung eines Hochofens her. Sir Edward Munro, Banks, Mac Neil und ich verließen den Salon, um nach der Veranda zu gehen. Das hohe Geäst der Banianen zeichnete sich gleich einer seinen schwarzen Spitze auf dem feurigen Hintergrunde des Himmels ab. Auf jeden Blitz folgte schon nach wenigen Secunden ein heftiger Donner. Das Echo davon konnte gar nicht verstummen, weil sich stets schon ein neuer Donnerschlag hineinmischte. So rollte unausgesetzt ein tiefer Baß daher und unter diesen mischten sich noch jene trockenen Detonationen, welche Lucretius so passend mit dem scharfen Schrei zerreißenden Papieres verglichen hat.

»Warum sie nur auch wegen des Unwetters nicht zurückkehren? begann Oberst Munro.

– Vielleicht, meinte der Sergeant, hat Kapitän Hod mit seinen Begleitern ein Obdach im Walde, in der Höhlung eines Baumes oder unter einem Stein gefunden, und sie kommen erst morgen zurück. Wir sind ja dann noch immer zur Stelle!«

Banks schüttelte den Kopf. Er schien Mac Neil's Ansicht nicht zu theilen.

Jetzt – es mochte gegen neun Uhr sein – begann der Regen in furchtbaren Strömen herabzustürzen. Er war mit großen Hagelkörnern vermischt, welche uns steinigten und auf das klingende Dach des Steam-Houses niederprasselten. Es klang wie ein furchtbarer Trommelwirbel. Einander zu hören, war vollständig unmöglich, auch wenn es nicht unaufhörlich gedonnert hätte. Die von den Schloßen abgeschlagenen Banianenblätter flogen auf allen Seiten umher.

Banks, der sich inmitten dieses betäubenden Lärmens nicht verständlich machen konnte, erhob den Arm und wies uns auf die Schloßen hin, welche die Seiten des Stahlriesen trafen.

Unglaublich! Alles funkelte bei der Berührung mit den harten Eisstücken. Man hätte meinen sollen, daß aus den Wolken wirklich Tropfen geschmolzenen Metalles kämen, die bei Berührung mit dem Stahlpanzer Lichtfunken auswarfen. Diese Erscheinung bewies, wie stark die Atmosphäre mit Elektricität geladen war. Unausgesetzt durchströmte sie die leuchtende Materie, so daß der ganze Himmelsraum ein Feuer zu sein schien.

Banks winkte uns wieder nach dem Salon zurück und schloß die nach der Veranda führende Thür. Gewiß konnte man sich in freier Luft diesen elektrischen Entladungen nicht ungestraft aussetzen.

[154] Im Innern des Hauses standen wir fast im Finstern, wodurch die Beleuchtung der Außenwelt nur um so sichtbarer wurde. Wie erstaunten wir aber, sogar den eigenen Speichel leuchten zu sehen! Auch wir mußten von dem umgebenden Fluidum im höchsten Grade imprägnirt sein.

»Wir spieen Feuer,« um den Ausdruck zu gebrauchen, mit dem man diese selten beobachtete und immer erschreckende Erscheinung charakterisirt hat. In der That mußte unter diesem fortwährenden Aufleuchten, dem Feuer draußen, unter dem Krachen des Donners bei den gewaltigen Blitzen auch das furchtloseste Herz doch etwas schneller schlagen.

»Und sie! sagte bedauernd Oberst Munro.

– Ja, wo mögen sie sein!« antwortete Banks.

Unsere Lage war entsetzlich. Nicht das Geringste konnten wir thun, um den so sehr bedrohten Kapitän Hod und seinen Begleitern zu Hilfe zu kommen.

Wenn sie Schutz gefunden hatten, so konnte das nur unter den Bäumen selbst sein, und man weiß, mit welchen Gefahren das unter schweren Gewittern verbunden ist. Wie hätten sie sich in dem dichten Walde fünf bis sechs Meter von der die äußersten Zweige eines Baumes schneidenden senkrechten Linie aufhalten können – wie man es Denen empfiehlt, die in der Nähe von Bäumen von einem Gewitter überrascht werden?

Alles das ging mir durch den Kopf, als ein furchtbarer Donnerschlag, noch trockener als die anderen, mein Ohr traf, der mit dem Blitze fast zusammenzufallen schien.

Gleichzeitig machte sich ein scharfer Geruch bemerkbar – der durchdringende Geruch von salpetrigen Dämpfen – und gewiß hätte Regenwasser, das während dieses Wetters aufgefangen wurde, große Mengen derselben Säure erkennen lassen.

»Der Blitz hat eingeschlagen... meinte Mac Neil.

– Storr, Kâlouth, Parazard!« rief Banks.

Alle Drei erschienen im Salon. Zum Glück war keiner von ihnen getroffen.

Der Ingenieur stieß die Thür zur Veranda auf und begab sich nach dem Balkon.

»Dort... seht dort!...« sagte er.

Zehn Schritte von uns an der linken Seite der Straße, war eine große Baniane getroffen worden. Bei dem unausgesetzten elektrischen Scheine sahen wir sie wie am hellen Tage. Der ungeheuere Stamm, den seine Ausläufer nicht [155] mehr zu halten vermochten, lag quer zwischen den anderen Bäumen. In seiner ganzen Länge war die Rinde abgesprengt und frei in der Luft hing ein langer Fetzen derselben, der umhergeworfen wurde wie eine Schlange, die sich von Baumästen herabschlängelt. Die Abschälung mußte von unten nach aufwärts stattgefunden haben, also von einem aufsteigenden Blitz von ungeheuerer Gewalt herrühren.

»Da fehlte nicht viel, daß unser Steam-House getroffen worden wäre! sagte der Ingenieur. Doch bleiben wir hier, es ist immer ein besserer Schutz, als der unter Bäumen!«

Da hörten wir einen lauten Aufschrei. Rührte er vielleicht von unseren heimkehrenden Genossen her?

»Das war Parazard's Stimme,« sagte Storr.

Wirklich rief uns der Koch, der sich unter der letzten Veranda befand, zu sich hin.

Wir folgten eifrigst seinem Rufe.

Kaum hundert Meter von unserer Haltestelle und rechts von derselben war der Banianenwald entzündet. Schon verschwanden die höchsten Gipfel der Bäume unter den lodernden Flammen. Das Feuer entwickelte sich unglaublich heftig und schritt schneller, als man hätte glauben sollen, auf das Steam-House zu.

Da entstand eine ernste Gefahr. Die lange Dürre und die hohe Temperatur der drei Monate heißer Jahreszeit hatten Bäume, Gebüsche und Gräser ausgetrocknet. An dem leicht entzündbaren Material fand das Feuer vollauf Nahrung. Wie das in Indien wiederholt vorkommt, war der ganze Wald bedroht, von den Flammen verzehrt zu werden.

Unzweifelhaft sah man, wie das Feuer an Umfang gewann und sich nach allen Seiten verbreitete. Erreichte es unsere Haltestelle, so wurden die beiden Wagen sicher binnen wenig Minuten zerstört, denn ihre dünnen Wände konnten nicht den gleichen Widerstand leisten, wie die Stahlblechumhüllung eines feuerfesten Geldschrankes.

Schweigend standen wir der Gefahr gegenüber. Oberst Munro kreuzte die Arme.

»Banks, begann er sehr ruhig, es ist Deine Sache, uns aus dieser Lage zu helfen.

– Ja wohl, Munro, antwortete der Ingenieur, und da wir kein Mittel haben, die Feuersbrunst zu löschen, so werden wir ihr entfliehen müssen.

[156] – Zu Fuße? rief ich erschrocken.

– O nein, mit dem ganzen Zuge.

– Und was wird aus Kapitän Hod und seinen Begleitern? warf Mac Neil ein.

– Wir können nichts für sie thun. Sind sie nicht zurück, bevor wir aufbrechen, so kann ich mir nicht helfen.

– Wir dürfen sie aber nicht im Stiche lassen! erklärte der Oberst.

Wenn der Train in Sicherheit ist, Munro, erwiderte ihm Banks, wenn ihn die Flammen nicht mehr erreichen können, so kehren wir zurück und durchsuchen den ganzen Wald, bis wir Jene entdeckt haben.

– Thu' was Du willst, Banks, sagte Oberst Munro, der sich dem Rathe des Ingenieurs, gewiß dem einzigen, der hier am Platze war, fügen mußte.

– Storr, rief Banks, an Deine Maschine, und Du, Kâlouth, an den Kessel und schüre das Feuer! – Welchen Druck zeigt das Manometer?

– Zwei Atmosphären, meldete der Mechaniker.

– Binnen zehn Minuten müssen wir vier haben. Nun vorwärts, Ihr Leute, an's Werk!«

Der Mechaniker und der Heizer ließen sich nicht antreiben. Bald wirbelten schwarze Rauchwolken aus dem Rüssel des Elephanten und mischten sich mit den Regenströmen, um die sich der Riese gar nicht zu kümmern schien. Auf die Blitze, welche den Himmel in Feuer hüllten, antwortete er mit einem Sprühregen von Funken. Ein Dampfstrahl pfiff durch den Rauchfang und der künstlich vermehrte Zug beschleunigte die Verbrennung des Holzes, das Kâlouth auf dem Roste aufhäufte.

Sir Edward Munro, Banks und ich waren auf der hinteren Veranda zurückgeblieben und beobachteten die Fortschritte der Feuersbrunst im Walde; die großen Bäume sanken in die gewaltige Lohe zusammen, die Zweige krachten wie Revolverschüsse, die Lianen schwankten von einem Stamme zum anderen und das Feuer pflanzte sich auf neue und immer neue Herde fort. In fünf Minuten war der Brand auf fünfzig Meter vorgeschritten und die vom Sturmwind zerzausten Flammen züngelten zu einer solchen Höhe auf, daß die Blitze sie in allen Richtungen kreuzten.

»Binnen fünf Minuten müssen wir den Platz verlassen haben, erklärte Banks, oder es fängt Alles Feuer!

– Diese Feuersbrunst greift schnell um sich! bemerkte ich.

[157] – Wir werden noch schneller vorwärts kommen!

– Wenn nur Hod und seine Begleiter da wären! klagte Sir Edward Munro.

– Wir wollen pfeifen, ja, ja, pfeifen, rief Banks, vielleicht hören sie das!«

Er eilte nach dem Thürmchen und bald ertönte die Luft von schrillen Pfiffen, die sich von dem rollenden Donner so auffällig unterschieden, daß sie gewiß weithin vernehmbar sein mußten.

Unsere Lage wird sich Jedermann eher denken können, als man sie schildern kann.

Auf einer Seite die Nothwendigkeit, so schnell als möglich zu entfliehen, auf der anderen die Verpflichtung, die noch nicht Zurückgekehrten zu erwarten.

Banks war nach der hinteren Veranda zurückgekommen. Der Rand des Feuers lag jetzt kaum noch fünfzig Fuß vom Steam-House entfernt. Ringsum verbreitete sich eine unerträgliche Hitze und die glühende Luft wurde unathembar. Schon fielen eine Menge glühender Holzstücke auf unseren Train nieder. Zum Glück schützte ihn der noch fortdauernde Platzregen, der ihn jedoch gegen das eigentliche Feuer selbst gewiß nicht sichern konnte.

Noch immer dauerte das scharfe Pfeifen der Maschine fort, doch weder Hod, noch Fox oder Goûmi ließen sich sehen.

Da trat der Mechaniker zu Banks heran.

»Wir haben den verlangten Druck, sagte er.

– Nun dann, vorwärts, Storr, erwiderte dieser, doch nicht zu schnell!... Es gilt nur außer dem Bereiche des Waldbrandes zu bleiben.

– Warte noch, Banks, warte noch, bat Oberst Munro, der sich nicht entschließen konnte, den Halteplatz zu verlassen.

– Noch drei Minuten, Munro, antwortete Banks sehr kühl, doch auf keinen Fall länger. In drei Minuten schon kann der Hintertheil des Zuges Feuer fangen!«

Zwei Minuten verstrichen. Das Verweilen auf der Veranda wurde jetzt zur Unmöglichkeit. Man konnte die Hand schon nicht mehr auf das erhitzte Blech lagen, welches sich zu krümmen begann. Jetzt noch länger zu warten, wäre die schwerste Thorheit gewesen.

»Vorwärts, Storr! befahl Banks.

– Ach, da!... rief der Sergeant.

– Sie sind es!«

[158] Kapitän Hod und Fox erschienen an der rechten Seite der Straße. In ihren Armen trugen sie Goûmi's scheinbar leblosen Körper, und gelangten eben an den Auftritt zum zweiten Wagen.

»Todt? fragte Banks.

– Nein, aber vom Blitz getroffen, der ihm das Gewehr in der Hand zertrümmerte, erklärte Kapitän Hod, und auf dem linken Beine gelähmt.

– Gott sei gelobt! brach Oberst Munro aus.

– Meinen Dank auch, Banks, setzte der Kapitän hinzu. Ohne Ihr Pfeifensignal hätten wir die Haltestelle schwerlich wiedergefunden!

– Nun schnell hier weg, drängte Banks, nun vorwärts!«

Hod und Fox waren in den Wagen gesprungen, und Goûmi, der den Gebrauch der Sinne nicht ganz verloren hatte, wurde in seiner Cabine niedergelegt.

»Wie viel Druck haben wir? fragte dieser den Mechaniker.

– Ziemlich fünf Atmosphären, lautete Storr's Antwort.

– Nun dann fort!« wiederholte Banks.

Es war jetzt halb elf Uhr. Banks und Storr nahmen in dem Thürmchen Platz. Der Regulator ward geöffnet, der Dampf strömte in die Cylinder, das erste Schnaufen ließ sich vernehmen und der Zug setzte sich langsam in Bewegung, inmitten der dreifachen Beleuchtung, durch den Brand der Banianen, durch die elektrischen Lampen des Elephanten und die flammenden Blitze des Himmels.

Kapitän Hod erzählte uns mit kurzen Worten die Vorgänge während seines Ausfluges, bei dem die Jäger keine Spur eines Thieres angetroffen hatten. Mit dem Aufsteigen des Gewitters kam die Dunkelheit schneller und tiefer, als sie gedacht hatten. Sie wurden von dem ersten Donnerschlage überrascht, als sie etwa drei Meilen weit entfernt waren. Natürlich wollten sie nun sofort umkehren, doch trotz aller Mühe, sich zurecht zu finden, verirrten sie sich unter den großen Banianengruppen, die einander gar zu sehr ähnelten, da ihnen kein Steg die Richtung angab.


In ihren Armen trugen sie Goûmi. (S. 159.)

Inzwischen brach das Unwetter mit aller Wuth los. Das elektrische Licht konnte bis zu der Stelle, wo sie sich befanden, nicht dringen, so daß sie gewiß nicht in gerader Linie auf das Steam-House zuschritten. Hagel und Regen fiel in Strömen. Ein Obdach gab es nicht, außer dem unzulänglichen des Blätterdaches, das bald genug durchlöchert wurde.

[159] Plötzlich krachte ein furchtbarer Donnerschlag zugleich mit einem blendenden Blitze. Neben dem Kapitän sank Goûmi vor Fox' Füßen zur Erde. Von dem Gewehre in seiner Hand hielt er nur noch den Schaft. Lauf, Schloß, Drückerbügel, kurz Alles, was von Metall daran war, hatte die elektrische Entladung zerstreut.

Seine Genossen hielten ihn für todt, was sich glücklicherweise nicht bestätigte; obwohl er aber von dem Fluidum nicht selbst getroffen schien, war doch sein linkes Bein gelähmt, so daß der arme Goûmi keinen Schritt gehen konnte.

[160] Er mußte also getragen werden. Vergeblich bat er, ihn vorläufig zurückzulassen und erst später abzuholen. Seine Begleiter gaben nicht nach; der Eine erfaßte ihn an den Schultern, der Andere an den Beinen, und so zogen sie auf gut Glück durch das Dunkel des Waldes weiter.

Zwei volle Stunden lang irrten Hod und Fox auf diese Weise umher, zögerten, hielten einmal an und setzten dann den Weg weiter fort, ohne irgend einen Anhalt, der ihnen die Lage des Halteplatzes hätte andeuten können. Endlich hörten sie mitten unter dem Wüthen der Elemente und dem Sausen des Sturmes[161] den scharfen Ton der Dampfpfeife, der vernehmlicher war, als es sogar Flintenschüsse gewesen wären. Sie erkannten die Stimme des Stahlriesen.


Ein neuer Donnerschlag. (S. 162)

Eine Viertelstunde später gelangten alle Drei nach der Stelle, die eben verlassen werden sollte. Es war die höchste Zeit!

Während der Zug nun auf der breiten und ebenen Straße im Walde dahinrollte, machte der Brand doch noch schnellere Fortschritte. Daneben wuchs die Gefahr noch mehr, als der Wind umsprang, wie es bei solchen Gewitterstürmen häufig vorkommt. Statt von der Seite zu wehen, blies er jetzt von rückwärts und belebte durch seine Heftigkeit das Feuer wie ein Ventilator, der einem Herde Sauerstoff zuführt. Der Waldbrand nahm rasch weiter zu. Brennende Zweige und glimmende Holzstücke wirbelten in einer Wolke von glühender Asche umher, die sich von der Erde erhob, als ob ein Krater seine vulkanischen Massen gen Himmel schleuderte. Wirklich ließ sich die Feuersbrunst mit nichts besser vergleichen, als mit einem Lavastrome, der sich über das Land wälzt und Alles auf seinem Wege vernichtet.

Banks bemerkte das wohl. Hätte er's auch nicht gesehen, so mußte es ihm der glühend heiße Luftstrom sagen, der über uns dahinstrich.

Die Fahrt wurde also beschleunigt, obgleich das auf dem unbekannten Wege nicht ohne Gefahr war. Die von Regen überfluthete Straße hatte aber so tiefe Furchen, daß die Maschine nicht so viel leistete, als der Ingenieur gern wollte.

Gegen halb zwölf Uhr erfolgte ein neuer Donnerschlag mit einem furchtbaren Blitze. Unwillkürlich entrang sich unser ein lauter Schrei. Wir glaubten nicht anders, als daß Banks und Storr im Thürmchen, von wo aus sie die Fahrt leiteten, erschlagen worden wären.

Dieses Unglück sollte uns jedoch erspart bleiben. Nur unser Elephant war an der Spitze eines seiner langen, hängenden Ohren von der elektrischen Entladung getroffen worden. Die Maschine hatte dabei zum Glück keinen Schaden erlitten, und der Stahlriese schien dem Wüthen des Unwetters nur durch vermehrtes Brausen und Sausen antworten zu wollen.

»Hurrah! rief Kapitän Hod, Hurrah! Ein Elephant aus Fleisch und Bein wäre auf der Stelle zusammengesunken. Du, Du trotzest dem Blitze, Dich vermag nichts aufzuhalten. Hurrah, Stahlriese! Hurrah!«

Während einer halben Stunde hielt sich unser Zug immer in geeigneter Entfernung. Da er fürchten mußte, zu heftig gegen irgend ein Hinderniß zu [162] stoßen, wollte Banks die Geschwindigkeit nicht weiter steigern, als nothwendig war, um vor dem Feuer geschützt zu bleiben.

Von der Veranda aus, wo Oberst Munro, Hod und ich Platz genommen hatten, sahen wir gewaltige Schatten vor uns her eilen, welche im Lichte des Brandes und der Blitze dahinflogen. Das waren endlich Raubthiere!

Aus Vorsicht ergriff Hod seine Büchse, denn es war ja möglich, daß die entsetzten Bestien sich auf den Train stürzen konnten, um dort Schutz oder ein Obdach zu suchen.

Ein ungeheuerer Tiger machte wirklich diesen Versuch; als er sich aber mit gewaltigem Sprunge erhob, singen ihn die Ausläufer einer Baniane am Halse. Der Hauptstamm, der sich unter der Wucht des Sturmes bog, zog dieselben an wie zwei lange Stricke, welche das Thier erwürgten.

»Armer Kerl! sagte Fox bedauernd.

– Diese Thiere, fuhr Kapitän Hod entrüstet fort, sind dazu geschaffen, von einer ehrlichen Büchsenkugel erlegt zu werden. Ja, Du armer Teufel!«

Wahrlich, Kapitän Hod hatte Pech! Als er Tiger suchte, fand er keinen, und als er sie sah, stürmten sie im Fluge vorbei, ohne daß er auf sie schießen konnte, oder erwürgten sich wie eine Maus im Drahte der Falle!

Um ein Uhr Morgens verdoppelte sich die Gefahr noch, so groß sie auch schon gewesen war.

Unter dem unbeständigen Winde, der von allen Richtungen her wehte, hatte sich der Waldbrand sogar schon vor uns ausgebreitet, und wir waren jetzt vollständig eingeschlossen.

Das Gewitter hatte indessen an Heftigkeit abgenommen, wie das stets geschieht, wenn solche Wetter über einen großen Wald ziehen, wo die Bäume die Elektricität anziehen und nach und nach erschöpfen. Doch, wenn auch die Blitze seltener wurden und der Donner nur in Zwischenräumen ertönte, auch der Regen schwächer fiel, so sauste doch der Sturm noch mit gleicher Gewalt über die Erde hin.

Jetzt mußte die Fahrt unseres Zuges unbedingt, selbst auf die Gefahr, gegen ein Hinderniß anzustoßen oder in einen Abgrund zu stürzen, so viel als möglich beschleunigt werden.

Banks that das auch, und zwar mit erstaunlich kaltem Blute, die Augen an den Linsen des Thürmchens und die Hand am Regulator, den er nie losließ.

[163] Zwischen zwei Feuerspalieren lag unsere Straße offen. Es gab keine Wahl, wir mußten dazwischen hindurch.

Banks drang mit einer Geschwindigkeit von sechs bis sieben Meilen in der Stunde hinein.

Ich glaubte schon unser Ende nahe, als wir auf die Strecke von fünfzig Metern eine sehr enge Stelle zwischen den Flammen passiren mußten. Die Räder des Zuges knirschten auf glühenden Kohlen, welche die Straße bedeckten, und eine glühende Atmosphäre umhüllte uns ganz und gar!...

Wir kamen glücklich hindurch!

Endlich, um zwei Uhr Morgens, erschien der entgegengesetzte Waldessaum unter dem Scheine der schon sehr seltenen Blitze. Hinter uns breitete sich ein grenzenloses Flammenmeer aus. Das Feuer erlosch gewiß nicht eher, als es den ausgedehnten Wald bis zur letzten Baniane verzehrt hatte.

Mit Tagesanbruch machte unser Zug Halt; das Gewitter hatte sich vollständig verzogen und wir richteten uns zu einer vorläufigen Rast ein. Unser Elephant, der nun sorgfältig untersucht wurde, zeigte an der Spitze des rechten Ohres einige Löcher, deren Ränder nach innen umgebogen waren.

Gewiß wäre einem solchen Blitzschlage jedes andere Thier als ein Elephant aus Stahl unterlegen, um sich nicht wieder zu erheben, und der Waldbrand würde den ganzen Zug in kurzer Zeit vernichtet haben!

Um sechs Uhr Morgens ging die Fahrt nach kurzer Rast weiter und gegen Mittag langten wir in der Nachbarschaft von Rewah an.

13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Kapitän Hod's Heldenthaten.

Die Hälfte des 5. Juni und die darauf folgende Nacht brachten wir ruhig lagernd zu. Nach so viel Strapazen und ausgestandenen Gefahren that uns diese Erholung sehr noth.

[164] Jetzt war es nicht mehr das Königreich Audh, das seine reichen Ebenen vor uns entfaltete. Das Steam-House dampfte nun durch das zwar noch fruchtbare, aber von sogenannten »Nullas« oder tiefen Hohlwegen durchschnittene Gebiet von Rohilkande. Bareille ist die Hauptstadt dieses gewaltigen Vierecks von hundertfünfundfünfzig Meilen Seite, das zahlreiche Neben- und Zuflüsse der Cogra bewässern und in dem sich da und dort Gruppen prächtiger Mangobäume neben einzelnen dichten Dschungeln erheben, welche vor der fortschreitenden Cultur zu verschwinden scheinen.

Hier lag nach der Einnahme von Delhi der Mittelpunkt der Empörung, gegen welche der eine Feldzug Sir John Campbell's gerichtet war; hier erzielte die Colonne des Brigadiers Walpole anfänglich keine glücklichen Erfolge; endlich kam hier ein Freund Sir Edward Munro's, der Oberst des 93. Regimentes der Schottländer, um, der sich am 14. April bei dem Sturme auf Laknau besonders ausgezeichnet hatte.

Abgesehen von dem ganzen Charakter der Landschaft, konnte kein anderes Gebiet der Fahrt unseres Zuges günstiger sein. Schöne, gut geebnete Straßen, leicht zu überschreitende Wasseradern zwischen den beiden von Norden herabfließenden Hauptarterien, Alles wirkte zur Erleichterung unserer Reise günstig zusammen. Jetzt hatten wir nur noch wenige hundert Kilometer zurückzulegen, dann mußten sich schon die ersten Bodenwellen bemerkbar machen, welche die Ebene mit den Bergen von Nepal verknüpfen.

Freilich durfte die nun eingetretene Regenzeit nicht außer Rechnung gelassen werden.

Der in den ersten Monaten des Jahres herrschende Nordost-Mousson hatte jetzt gewechselt. Die Regenzeit ist an der Küste schlimmer als im Innern der Halbinsel und tritt hier auch etwas verzögert auf, weil die Wolken sich schon zum Theile erschöpfen, bevor sie die mittleren Theile Indiens erreichen. Außerdem wird ihre Richtung durch hohe Bergwände verändert, welche eine Art atmosphärischen Wirbels erzeugen. So tritt der Mousson-Wechsel an der Malabar-Küste schon Anfang Mai ein, in der Mitte der Central- und der Nordprovinzen macht er sich erst einige Wochen später, also im Juni, bemerkbar.

Wir waren jetzt im Juni, und unsere weitere Reise sollte nun unter jenen veränderten, aber wohl vorher gesehenen Verhältnissen vor sich gehen.

Unserem wackeren Goûmi, den der Blitz so jämmerlich entwaffnet hatte, ging es vom folgenden Tage ab besser. Die linksseitige Lähmung des Beines [165] erwies sich nur als vorübergehend. Er behielt davon nichts zurück als – einen Groll gegen das Feuer des Himmels.

Im Laufe des 6. und 7. Juni hatte Hod mit Hilfe Phanns und Blacks mehr Jagdglück. Er erlegte ein Paar jener Antilopen, die man hierzulande »Nilgaus« nennt. Es sind das die blauen Ochsen der Hindus, die man richtiger als Hirsche bezeichnen sollte, denn den letzteren gleichen sie weit mehr als den Verwandten des Gottes Apis. Auch sollte man sie eigentlich perlgraue Hirsche nennen, denn ihre Farbe erinnert mehr an die des wolkenbedeckten, als an die des azurblauen Himmels. Man behauptet jedoch, daß einzelne Exemplare dieser prächtigen Thiere mit spitzen, geraden Hörnern und langem, wenig gebogenem Kopfe wirklich ein blaues Fell hätten – eine Farbe, welche die Natur den Vierfüßlern völlig verweigert zu haben scheint, selbst dem blauen Fuchse, dessen Fell vielmehr schwarz ist.

Wilde Thiere, von denen Kapitän Hod immer schwärmte, waren das freilich noch nicht. Immerhin ist der Nilgau ziemlich gefährlich, wenn er sich, leicht verwundet, auf den Jäger stürzt. Eine erste Kugel vom Kapitän und eine zweite von Fox unterbrachen sofort den Lauf der beiden schönen Thiere. Sie wurden gleichsam im Fluge erlegt. Fox schätzte sie indeß nicht höher als Federwild.

Monsieur Parazard vertrat dagegen eine andere Ansicht, und die auf der Stelle gebratenen Keulen, welche er uns am nämlichen Tage auftischte, brachten auch uns auf seine Seite.

Mit Tagesanbruch, am 8. Juni, verließen wir unseren Halteplatz, der unweit eines kleinen Dorfes von Rohilkande lag und den wir am vergangenen Abend nach einer Fahrt von vierzig Kilometern von Rewah aus erreichten. Unser Zug hatte sich also auf den vom Regen mehr und mehr durchweichten Straßen nur mit sehr mäßiger Geschwindigkeit fortbewegt. Dazu begannen die Bäche anzuschwellen, und manchmal hielt uns eine überschwemmte Strecke mehrere Stunden lang auf. Trotzdem blieben wir hinter unserem Programm kaum einen bis zwei Tage zurück. Jedenfalls mußte die Berggegend, in der das Steam-House während einiger Sommermonate wie in einem Sanatorium verbleiben sollte, gegen Ende des Juni erreicht werden. Hier lag also kein Grund zur Beunruhigung vor.

An jenem 8. Juni entging dem Kapitän Hod ein recht interessanter Büchsenschuß.

[166] Neben unserem Wege verliefen dichte Bambus-Dschungeln, wie das in der Nähe von Dörfern, welche wie in einem Blumenkorb gebaut scheinen, öfter vorkommt. Es waren das noch nicht die eigentlichen Dschungeln im Sinne der Hindus, welche die nackte unfruchtbare Ebene begrenzen, über die das aschgraue Buschwerk emporragte. Noch befanden wir uns in angebautem Lande und fruchtbarem Gebiete, das meist von sumpfigen Reisplantagen eingenommen wurde.

Von Storr's Hand geleitet, trabte der Stahlriese ruhig dahin und stieß seine sauberen Dampfwölkchen aus, die er unter die Bambus der Straße verstreute.

Plötzlich sprang ein Thier mit überraschender Gewandtheit auf und stürzte sich unserem Elephanten an den Hals.

»Ein Tchita! Ein Tchita!« rief der Mechaniker.

Sofort eilte Kapitän Hod nach dem vorderen Balkon und ergriff die Büchse, die er immer gleich bei der Hand hatte.

»Ein Tchita! rief er nun auch selbst.

– So schießen Sie ihn doch! drängte ich.

– Ich habe ja noch Zeit!« antwortete Kapitän Hod, der sich begnügte, auf das Thier im Anschlag zu liegen.

Der Tchita bildet eine in Indien eigenthümliche Art von Leoparden, die nicht ganz so groß wie der Tiger, doch der Gewandtheit und der Kräfte ihrer Glieder wegen nicht minder furchtbar sind.

Oberst Munro, Banks und ich standen auf der Veranda und warteten auf den Schuß des Kapitäns.

Offenbar hatte sich der Leopard beim Anblick unseres Elephanten getäuscht; da, wo er lebendes Fleisch zu finden hoffte, in das er seine Zähne und Krallen einschlagen konnte, fand er eine Haut von Stahl, die seinen Angriffen trotzte. Wüthend über die Enttäuschung, klammerte er sich an die Ohren des falschen Thieres und wollte sich von demselben offenbar schon wegwenden, als er unserer ansichtig wurde.

Kapitän Hod hielt noch immer den Gewehrlauf auf jenen gerichtet, wie ein seines Schusses sicherer Jäger, der seine Beute im richtigen Augenblick und an der rechten Stelle treffen will.

Knurrend richtete der Tchita sich auf. Jedenfalls fühlte er die Gefahr, wollte aber nicht entfliehen. Vielleicht erwartete er nur den richtigen Augenblick, um auf die Veranda zu stürzen.

[167] Er kletterte wirklich auf den Kopf des Elephanten, dessen als Rauchfang dienenden Rüssel er mit den Pranken umschlang, und stieg dann bis zum Ende desselben hinauf, aus dem der Dampf hervordrang.

»So schießen Sie doch, Hod! mahnte ich noch einmal.

– Dazu habe ich ja noch Zeit!« antwortete der Kapitän.

Dann wandte er sich, ohne den Leoparden, der uns anglotzte, aus den Augen zu lassen, an mich.


Die entsetzten Bestien. (S. 163)

»Sie haben wohl noch niemals einen Tchita geschossen, Maucler? fragte er.

[168] – Niemals.

– Wollen Sie einen erlegen?

– Kapitän, gab ich zur Antwort, ich will Ihnen nicht diesen herrlichen Schuß rauben...

– Pah! stieß Hod hervor, das ist kein Schuß für einen Jäger! Nehmen Sie eine Büchse. Zielen Sie der Bestie nach der Schulter. Wenn Sie fehlen, schieße ich sie im Fluge!


Das Thier sprang zur Erde hinab. (S. 170.)

– Meinetwegen!«

[169] Fox, der inzwischen herbeigekommen war, reichte mir eine Doppelflinte, die er in der Hand hielt. Ich ergriff dieselbe, spannte den Hahn, zielte nach der Schulter des Leoparden und gab Feuer.

Getroffen, aber offenbar nur leicht verwundet, machte das Thier einen gewaltigen Sprung über das Thürmchen des Mechanikers hinweg und fiel auf dem ersten Dache des Steam-Houses nieder.

Ein so guter Schütze Kapitän Hod auch war, so hätte er jetzt doch nicht auf das Thier schießen können.

»Hierher, Fox! Mitkommen!« rief er.

Beide verließen die Veranda und nahmen in dem Thürmchen Platz.

Der Leopard begab sich nach dem Dache des zweiten Hauses, wobei er die Verbindungsbrücke leicht übersprang.

Eben als der Kapitän feuern wollte, sprang das Thier zur Erde hinab, erhob sich stolz und verschwand in der Dschungel.

»Stopp! Stopp!« rief Banks laut dem Mechaniker zu, der den Dampf absperrte und die Räder durch die Luftbremse sofort zum Stillstande brachte.

Der Kapitän und Fox sprangen auf die Straße hinab und eilten in das Dickicht, um den Tchita womöglich einzuholen.

Einige Minuten verstrichen. Wir lauschten nicht ohne einige Ungeduld. Vergebens. Kein Schuß krachte. Die beiden Jäger kamen mit leeren Händen zurück

»Verschwunden! Entwischt! meldete Kapitän Hod. Und nicht einmal eine Blutspur im Grase.

– Das ist mein Fehler! sagte ich zum Kapitän. Sie hätten den Tchita an meiner Statt schießen sollen, Sie würden ihn nicht gefehlt haben!

– Mag sein, doch Sie haben auch getroffen, meinte Hod, das weiß ich, vielleicht nur nicht an der richtigen Stelle!

– Das war also weder mein achtunddreißigster, noch Ihr vierzigster, Herr Kapitän! sagte Fox sehr kleinlaut.

– Ei was, entgegnete Hod mit etwas erheuchelter Gleichgiltigkeit, ein Tchita ist kein Tiger! Sonst, Herr Maucler, hätte ich es nicht über mich gebracht, Ihnen den Schuß abzutreten.

– Zu Tisch, meine Herren, fiel da Oberst Munro ein. Das Frühstück erwartet uns und wird Sie trösten...

– Um so eher, setzte Mac Neil hinzu, da nur Fox an allem Unglück schuld ist.

[170] – Ich? erwiderte der Diener, dem diese Anschuldigung sehr unerwartet erschien.

– Gewiß, Fox, fuhr der Sergeant fort, das Gewehr, das Du Herrn Maucler gegeben hast, war ja nur mit Hühnerschrot geladen!«

Mac Neil zeigte dabei die andere Patrone vor, die er aus der Waffe, die ich benutzt, herausgenommen hatte. Sie enthielt wirklich nur kleinkörniges Schrot.

»Fox! begann der Kapitän.

– Herr Kapitän!

– Zwei Tage Stubenarrest!

– Zu Befehl, Herr Kapitän!«

Fox begab sich nach seiner Cabine, mit dem Vorsatze, sich achtundvierzig Stunden über nicht wieder blicken zu lassen. Er schämte sich seines Fehlers und wollte seine Schande verbergen.

Am nächsten Tage, am 9. Juni, durchstreiften wir, Hod, Goûmi und ich, die Ebene längs der Straße während der halbtägigen Rast, welche Banks zugestanden hatte. Der ganze Morgen war regnerisch gewesen, gegen Mittag heiterte sich der Himmel indeß ein wenig auf und ließ auf einige Stunden bessere Witterung hoffen. Hod zog diesmal übrigens nicht als Raubthierjäger, sondern als Jäger auf eßbares Wild hinaus. Im Interesse der Küche sollten wir in Gesellschaft Blacks und Phanns ruhig am Rande der Reisfelder hinwandern. Monsieur Parazard hatte dem Kapitän gemeldet, daß die Speisekammer leer sei, und daß er von seiner Ehrwürden erwarte, »Se. Ehrwürden werde die geeigneten Maßregeln ergreifen«, dieselbe wieder zu füllen.

Kapitän Hod gab nach, und wir brachen, mit einfachen Jagdflinten ausgerüstet, auf. Zwei Stunden lang erzielten wir keinen anderen Erfolg, als daß wir einige Rebhühner und Hafen aufjagten, immer aber in solcher Entfernung, daß gar nicht daran zu denken war, sie zu erlangen.

Kapitän Hod verlor bald alle gute Laune. Inmitten dieser ausgedehnten Ebene ohne Dschungeln und Gebüsch, dagegen mit vielen Dörfern und Farmen, konnte er ja kaum erwarten, ein Raubthier zu treffen, das ihn für den gestern entwischten Leoparden entschädigt hätte. Er spielte ja nur die Rolle eines Lieferanten und dachte über den bevorstehenden Empfang seitens Monsieur Parazard's nach wenn er mit leerer Jagdtasche heimkehrte. An uns lag die Schuld übrigens nicht. Um vier Uhr hatten wir noch niemals Gelegenheit [171] gefunden, ein Gewehr abzufeuern. Es wehte ein trockener Wind und alles Wild erhob sich, wie gesagt, außer Schußweite.

»Lieber Freund, redete Kapitän Hod mich da an, so kann's entschieden nicht weiter gehen! Als wir Calcutta verließen, habe ich Ihnen die schönsten Jagdzüge versprochen, und nun hindert mich ein Unglück ohne Gleichen, ein ewiges Pech, das ich nicht begreife, mein Versprechen zu erfüllen.

– Ach, bester Kapitän, antwortete ich, nur nicht vorzeitig verzweifeln. Wenn ich dieses Malheur bedauere, so geschieht das weniger um meinet- als um Ihretwillen!... Wir werden das Versäumte in den Bergen von Nepal wieder einholen.

– Ja dort, bestätigte Kapitän Hod, auf den ersten Abhängen des Himalaya liegen die Verhältnisse günstiger. Sehen Sie, Maucler, ich möchte darauf wetten, daß unser Zug mit Allem, was dazu gehört, das Zischen des Dampfes und vorzüglich der riesenhafte Elephant selbst, die Raubthiere erschreckt, vielleicht noch mehr als eine Eisenbahn, und das wird immer der Fall sein, so lange er in Bewegung bleibt. Liegen wir erst ruhig, so dürfen wir hoffen, glücklicher zu sein. Wahrhaftig, jener Leopard war ein Narr! Er mußte wohl dem Hungertode nahe sein, daß er sich auf unseren Stahlriesen stürzte, und verdiente wahrlich mit einer hübschen Kugel begrüßt zu werden. Der verteufelte Fox! Ich werde ihm nie vergessen, was er da angerichtet hat! – Um wie viel Uhr ist es jetzt?

– Bald um fünf Uhr.

– Schon um Fünf und wir haben noch keine Patrone verplatzt?

– Vor sieben Uhr erwartet man uns nicht zurück. Vielleicht glückt es noch bis dahin...

– Nein, das Glück ist einmal gegen uns, versetzte Kapitän Hod, und glauben Sie, das Glück ist der halbe Erfolg.

– Die Ausdauer aber nicht minder, antwortete ich. Nehmen wir uns vor, nicht mit leeren Händen heimzukehren. Ist's Ihnen recht, Kapitän?

– Ob mir das recht ist! entgegnete Hod. Tod Allem, was sich blicken läßt!

– Einverstanden!

– Maucler, ich bringe lieber einen Maulesel oder ein Eichhörnchen mit, als daß ich als Schneider nach Hause gehe!«

Kapitän Hod, Goûmi und ich, wir befanden uns in der Gemüthsstimmung, wo uns Alles gute Beute schien. Die Jagd wurde also mit einem, einer [172] besseren Sache würdigen Eifer fortgesetzt; doch auch die unschuldigsten Vögel mußten unsere Absicht errathen haben, denn es ließ sich keine Feder sehen.

So durchstreiften wir die Reisfelder, bald auf der einen, bald auf der anderen Seite der Straße, und kehrten wieder zurück, um uns nicht zu weit vom Halteplatz zu entfernen. Verlorene Mühe! Noch um ein halb sieben Uhr waren unsere Patronen intact. Wenn wir mit einem Spazierstocke in der Hand ausgegangen wären, hätten wir genau dasselbe erzielt.

Ich sah den Kapitän an. Er ging mit aufeinander gebissenen Zähnen dahin. Eine zwischen den Augenbrauen verlaufende lange und tiefe Furche der Stirn verrieth seinen stummen Groll. Er murmelte etwas zwischen den gepreßten Lippen und bedrohte alles Feder- und Pelzvieh, von dem sich noch kein einziges Exemplar zeigte, mit dem Tode. Allem Anschein nach hätte er seine Flinte auf jeden beliebigen Gegenstand, auf einen Felsen oder einen Baum, abgefeuert – eine bekannte Jägermanier, um dem Zorne Luft zu machen. Das Gewehr brannte ihm in den Händen, das sah man deutlich. Er warf es einmal in den Arm, trug es dann am Riemen oder schulterte damit, scheinbar ganz wider Willen.

Goûmi betrachtete ihn verwundert.

»Der Kapitän wird noch ganz rasend, wenn das so fortgeht, sagte er kopfschüttelnd.

– Gewiß, ich gäbe gern dreißig Schillinge für die simpelste Haustaube, die eine barmherzige Hand ihm in den Weg triebe. Das würde ihn beruhigen!«

Doch nicht für dreißig Schillinge, nicht für den doppelten oder dreifachen Preis hätte man sich hier das billigste und gewöhnlichste Stück Jagdwild verschaffen können. Das Feld ringsum war menschenleer und wir erblickten weder eine Farm noch ein Dorf.

Wahrlich, wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich Goûmi weggeschickt, um jeden Preis ein Stück Geflügel zu kaufen, und wenn es ein gerupftes Huhn war, um es als Sühnopfer unserem unwilligen Kapitän darbieten zu lassen.

Jetzt kam die Nacht allmählich heran. Nach einer Stunde war es nicht mehr hell genug, unsere nutzlose Expedition noch länger fortzusetzen. Obwohl wir übereingekommen waren, nicht mit leerer Jagdtasche nach dem Halteplatz zurückzukehren, so schien uns doch nichts Anderes übrig zu bleiben, wenn wir nicht die Nacht unter freiem Himmel zubringen wollten. Doch ohne Rücksicht darauf, daß für die Nacht Regen drohte, so wären Oberst Munro und Banks [173] über unser Ausbleiben gewiß unruhig geworden, was ihnen doch erspart bleiben mußte.

Mit weit aufgerissenen Augen warf Kapitän Hod den Blick von der Rechten zur Linken und von der Linken zur Rechten mit der Schnelligkeit eines Vogels, und ging immer zehn Schritte voraus, doch in einer Richtung, die uns dem Steam-House nicht gerade näher brachte.

Ich beeilte meine Schritte, um ihn einzuholen, und ihn endlich zum Aufgeben dieser vergeblichen Versuche zu veranlassen, als ich zu meiner Rechten ein starkes Rauschen von Flügeln hörte. Ich blickte auf.

Eine schillernde Masse erhob sich langsam in einem Dickicht.

Ohne Kapitän Hod Zeit zu lassen, sich umzukehren, schlug ich an, und die beiden Schüsse der Flinte krachten.

Langsam fiel ein mir unbekannter Vogel am Rande des Reisfeldes nieder.

Phann sprang darauf zu und brachte dem Kapitän die Beute.

»Endlich, rief Hod, wenn Monsieur Parazard nun nicht zufrieden gestellt ist, mag er selbst, mit dem Kopfe voraus, in seinen Kochtopf springen.

– Sind das aber auch eßbare Vögel, auf die ich geschossen habe?

– Natürlich..., wenigstens, wenn man keine anderen hat! meinte der Kapitän.

– Zum Glück hat Sie Niemand gesehen, Herr Maucler! bemerkte da Goûmi.

– Zum Glück?... Was habe ich denn verbrochen?

– Ei, Sie haben einen Pfau getödtet, das ist verboten, da der Pfau ein in ganz Indien geheiligter Vogel ist.

– Der Kukuk hole alle heiligen Vögel und Die, welche sie heilig sprechen, rief Kapitän Hod. Der hier ist nun einmal geschossen und wird verspeist werden, meinetwegen mit aller Ehrfurcht, aber gegessen wird er doch!«

In der That, ist der Pfau schon seit dem Zuge Alexander's, zu welcher Zeit er sich in Indien verbreitete, überall im Lande der Brahmanen geheiligt. Die Hindus betrachten ihn als Symbol der Göttin Saravasti, der Beschützerin der Geburt und Ehe. Auf die Tödtung dieses Vogels sind schwere, auch vom englischen Gesetz anerkannte Strafen gesetzt.

Das Exemplar aus der Hühnerfamilie, das Kapitän Hod so sehr erfreute, war mit seinen grünen, metallisch glänzenden Flügeln, welche ein Goldrand[174] umgab, wirklich prächtig anzusehen. Der wohlausgebildete Schweif erschien wie ein Fächer aus feinstem Seidenhaar.

»Nun vorwärts, drängte der Kapitän. Morgen wird Monsieur Parazard uns Pfauenbraten vorsetzen, was auch alle Brahmanen Indiens dazu sagen mögen. Wenn der Pfau an und für sich nichts Anderes als ein anspruchsvolles Huhn ist, so werden doch die künstlerisch angeordneten Federn von diesem hier uns einen hübschen Tafelschmuck liefern.

– Sind Sie nun zufrieden, Herr Kapitän?

– Mit Ihnen, lieber Freund, gewiß; mit mir leider nicht. Mein Pech ist noch nicht vorüber, ich werde das also noch abwarten müssen. Nun vorwärts!«

Wir schlugen die Richtung nach dem Lagerplatz ein, von dem wir gegen drei Meilen entfernt sein mochten. Auf dem Wege, der sich durch die vielen Krümmungen der dichten Bambus-Dschungeln wand, gingen wir, Kapitän Hod und ich, nebeneinander. Goûmi, der die Jagdbeute trug, kam wenige Schritte hinter uns. Noch war die Sonne nicht verschwunden, aber durch große Wolken verschleiert, so daß man den Weg im Halbdunkel nur mühsam erkannte.

Plötzlich ertönte aus dem Dickicht neben uns ein gewaltiges Brüllen. Mir erschien es so entsetzlich, daß ich wider Willen auf der Stelle stehen blieb.

Kapitän Hod ergriff meine Hand.

»Ein Tiger!« sagte er.

Dann kam ein Fluch über seine Lippen.

»Alle Donnerwetter Indiens! rief er, nun haben wir blos Hühnerschrot in den Flinten!«

Das war leider nur zu richtig, denn wir Alle besaßen keine einzige Kugelpatrone.


»Endlich!« rief Kapitän Hod. (S. 174.)

Uebrigens würden wir kaum Zeit gehabt haben, die Gewehre damit zu laden. Schon zehn Secunden nach dem Gebrüll erschien das Thier vor dem Dickicht und stand mit einem einzigen Sprung zwanzig Schritte vor uns auf der Straße.

Es war ein prächtiger Tiger von der Art, welchen die Hindus »Eater men« (Menschenfresser) nennen, und deren Wuth jährlich noch Hunderte zum Opfer fallen.

Unsere Lage war schrecklich.

Ich sah den Tiger an, ich verschlang ihn mit den Augen, und ich gestehe, daß mir die Flinte in den Händen zitterte. Jener maß etwa zehn Fuß in der[175] Länge und hatte ein orangefarbenes Fell mit abwechselnd weißen und schwarzen Streifen.

Er beobachtete uns ebenfalls. Sein Katzenauge leuchtete durch das Halbdunkel und mit dem Schweife peitschte er den Boden. Er duckte und erhob sich wieder wie zum Sprunge.

Hod bewahrte seine gewöhnliche Kaltblütigkeit. Er hielt das Gewehr auf das Thier angelegt und murmelte nur mit einem gar nicht wieder zu gebenden Ausdruck:

[176] »Schrot Numero sechs! Einen Tiger mit Hüh erschrot zu schießen! Wenn ich ihn nicht in beide Augen treffe, sind wir...«

Er kam nicht dazu den Satz zu vollenden. Der Tiger näherte sich, nicht in Sprüngen, sondern schleichenden Schrittes. Goûmi, der hinter uns kauerte, zielte ebenfalls auf denselben, seine Flinte enthielt aber nur Vogeldunst. Die meinige war gar nicht geladen. Ich wollte eine Patrone aus der Tasche holen.


Hod hielt das Gewehr auf das Thier angelegt. (S. 176)

»Nicht rühren! flüsterte mir der Kapitän zu; der Tiger würde springen, und dazu darf es nicht kommen!«

[177] Wir verhielten uns also alle Drei stumm und still.

Langsam kam der Tiger heran. Den Kopf, den er früher bewegte, hielt er jetzt völlig still. Seine Augen starrten voraus, doch scheinbar mehr nach unten. Mit dem weit offenen Rachen, den er nahe der Erde hielt, schien er deren Ausdünstung aufzusaugen.

Bald stand das furchtbare Thier kaum noch zehn Schritte vom Kapitän entfernt.

Fest auf den Füßen und unbeweglich wie eine Statue, concentrirte Hod seine ganze Lebenskraft in den Augen. Der bevorstehende grauenhafte Kampf, dessen Ausgang Niemand vorhersagen konnte, machte ihm sicher kaum das Herz schneller schlagen.

In diesem Augenblicke glaubte ich, der Tiger werde auf uns zuspringen.

Er machte noch fünf Schritte. Ich mußte mich stark bezwingen, um nicht dem Kapitän zuzurufen:

»So schießen Sie doch! Schießen Sie!«

Doch nein, der Kapitän hatte es gesagt – und das war wohl auch unser einziges Rettungsmittel – er wollte dem Thier die Augen verbrennen; dazu mußte er es jedoch sehr nahe haben.

Der Tiger machte noch drei Schritte und erhob sich zum Sprunge...

Da ertönte ein gewaltiger Krach, dem fast augenblicklich ein zweiter Knall folgte.

Die zweite Detonation kam aus dem Leibe des Thieres selbst her, das nach einigem Zucken und Schmerzgebrüll todt niedersank.

»Wunder über Wunder! rief Kapitän Hod. Mein Gewehr ist also mit einer Kugel, und noch dazu mit einer explodirenden, geladen! O, dieses Mal danke ich Dir, Fox!

– Ist es möglich?

– Da, sehen Sie selbst!«

Kapitän Hod schlug die Flintenläufe zurück und holte aus dem linken die Patrone heraus.

Das war eine Kugelpatrone.

Jetzt erklärte sich Alles.

Kapitän Hod besaß eine Doppelbüchse und eine Doppelflinte, beide von demselben Kaliber. Aus Irrthum hatte Fox gleichzeitig die Büchse mit Jagdpatronen und die Flinte mit Explosionskugel-Patronen geladen. Wenn dieser [178] Mißgriff gestern Abend dem Leoparden das Leben gerettet hatte, so rettete er heute das unsere.

»Ja wohl, sagte der Kapitän Hod, als ich das aussprach, und so nahe dem Tode bin ich fast noch nie gewesen!«

Eine halbe Stunde später waren wir am Halteplatz zurück. Hod ließ Fox rufen und berichtete das erlebte Abenteuer.

»Herr Kapitän, erwiderte der Diener, daraus geht hervor, daß ich vier Tage Arrest verdiene, da ich mich zweimal geirrt habe!

– Das mein' ich auch, antwortete Hod, doch da mir Dein Irrthum den einundvierzigsten eingebracht hat, so ist es meine Absicht, Dir diese Guinee dafür anzubieten...

– Und die meinige, dieselbe anzunehmen!« fiel Fox ein, der das Goldstück in der Tasche verschwinden ließ.

So verlief also das erste Zusammentreffen des Kapitän Hod mit seinem einundvierzigsten Tiger.

Am Abend des 12. Juni hielten wir nahe einem unbedeutenden Flecken und fuhren am nächsten Morgen wieder weiter, um die hundertfünfzig Kilometer zurückzulegen, die uns noch von den Bergen Nepals trennten.

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Einer gegen Drei.

Noch wenige Tage, und wir gelangten zu den ersten Abhängen jener nördlichen Gebiete Indiens, die sich von Stufe zu Stufe, Hügel auf Hügel, Berg auf Berg bis zu den höchsten Spitzen der Erdkugel aufthürmen. Bisher zeigte der Boden eine leichte Unebenheit und eine so allmähliche Steigung, daß unser Stahlriese diese gar nicht zu bemerken schien.

Das Wetter blieb stürmisch, vorzüglich regnerisch, die Temperatur aber hielt sich in erträglichen Grenzen. Die Wege waren noch nicht schlecht, und die breiten Radkränze der Räder unseres Zuges rollten trotz dessen hohen Gewichtes [179] bequem darüber hin. Zeigte sich irgendwo eine gar zu tiefe Spur, so genügte ein leichter Druck von Banks' Hand auf den Regulator, durch den er etwas mehr von dem gehorsamen Fluidum zuströmen ließ, zur Bewältigung des Hindernisses. An Kraft fehlte es unserer Maschine ja bekanntlich nicht, und eine Vierteldrehung des Einlaßventils vermehrte ihre Stärke sofort um mehrere Dutzend Pferdekräfte.

Bis jetzt hatten wir in der That, sowohl die Art der Fortbewegung als auch den von Banks gewählten Motor nur zu loben, ebenso wie den Comfort unserer rollenden Häuser, vor denen immer ein neuer Horizont aufstieg, der sich vor unseren Augen veränderte.

Allmählich verschwand die grenzenlose Ebene, die sich vom Gangesthale aus bis nach den Gebieten von Audh und Rohilkande hin erstreckt. Im Norden bildeten die Riesengipfel des Himalaya einen Rahmen, gegen den die vom Südwestwind getriebenen Wolken anzukämpfen schienen. Noch vermochten wir zwar das pittoreske Profil jener Bergkette, die sich bis zur mittleren Höhe von achttausend Metern über das Meer erhebt, nicht zu erkennen; mit der Annäherung an die tibetanische Grenze wurde das Land aber nach und nach wilder und an Stelle der cultivirten Felder bedeckten nun dichte Dschungeln die Erde.

Auch die Flora dieses Theiles des Hindugebietes gewann einen anderen Charakter. Schon waren die Palmen verschwunden, um prächtigen Banianen und dichtbelaubten Mangobäumen, welche die schönste Frucht in ganz Indien liefern, Platz zu machen, und vor Allem den Bambusgruppen, deren Stengel sich garbenartig verbreitet bis hundert Fuß über den Erdboden erheben. Hier traten auch Magnolien auf, die mit ihren großen Blumen die Luft mit erquickendem Wohlgeruche erfüllten, herrliche Ahornbäume, verschiedene Arten von Eichen, Maronenbäume mit ihren gleich den Seeigeln spitzenbesäeten Früchten, Gummibäume, deren Milchsaft aus den geöffneten Gefäßen strömte, großblättrige Pinien aus der Gattung der Pandaneen und daneben, zwar bescheidener an Wuchs, aber leuchtender an Farbe, Geraniums, Rhododendrons und Lorbeerbäume, welche gleich einem Gartenbeete die Straße einfaßten.

Noch zeigten sich da und dort ein Dorf mit Stroh-oder Bambushütten, zwei bis drei inmitten größerer Bäume versteckte Farmen, aber schon durch meilenweite Zwischenräume von einander getrennt. Auch die Bevölkerung nahm mit der Annäherung an das Hochland merkbar ab. Ein grauer, dunstiger Himmel bildete den Hintergrund des ausgedehnten Landschaftsbildes, und fast [180] unausgesetzt strömte ein heftiger Regen herab. Während der vier Tage vom 13. bis 17. Juni verschonte er uns kaum einen halben Tag. Wir mußten uns also im Salon des Steam-Houses aufhalten und die langen Stunden hinwegzutäuschen suchen, wie man das rauchend, plaudernd und Whist spielend in jeder festen Wohnung zu thun pflegt.

Während dieser Zeit hatten auch die Gewehre, zum Aerger des Kapitän Hod, vollkommen Ruhe; zwei »Schlems« aber, die er an einem Abend machte, gaben ihm den verlorenen Humor wieder.

»Man kann wohl jeden Tag einen Tiger erlegen, sagte er, aber nicht jeden Tag einen »Schlem« machen!

Gegen diese so richtige und klar formulirte Behauptung ließ sich füglich nichts einwenden.

Am 17. Juni errichteten wir unser Lager nahe einem Seraï, wie man die speciell für die Reisenden bestimmten Bungalows bezeichnet. Das Wetter hatte sich ein wenig gebessert, und der Stahlriese, der im Laufe der vier letzten Tage hart gearbeitet hatte, bedurfte, wenn auch nicht der Ruhe, doch einiger Pflege. Wir kamen also überein, einen halben Tag und die folgende Nacht an dieser Stelle zu verbringen.

Der Seraï ist die Karawanserei, das öffentliche Gasthaus an den Straßen Indiens, ein Viereck niedriger Gebäude, welche einen Hof umschließen und deren Ecken meist vier Thürmchen überragen, was dem Ganzen einen völlig orientalischen Charakter verleiht. In diesen Seraïs fungirt ein ausschließlich für den Dienst in denselben bestimmtes Personal, der »Bhisti« oder Wasserträger, der Koch, die Vorsehung der anspruchslosen Reisenden, welche sich mit Eiern und jungen Hühnchen zu begnügen wissen, und der »Khansama«, das heißt der Lebensmittel-Lieferant, mit dem man unmittelbar und meist zu sehr niedrigen Preisen ein Abkommen trifft.

Der Wächter des Seraï, der »Peon«, ist ein einfacher Agent der ehrenwerthen Compagnie, welcher fast alle diese Etablissements gehören und die sie durch den Chef-Ingenieur des Bezirks beaufsichtigen läßt.

Eine merkwürdige, aber in aller Strenge erhaltene Vorschrift in diesen Herbergen lautet dahin, daß jeder Reisende den Seraï vierundzwanzig Stunden lang benutzen darf; für einen längeren Aufenthalt daselbst braucht er die Erlaubniß des Inspectors. In Ermangelung einer solchen kann der erste Beste, Engländer oder Hindu, verlangen, daß er ihm seinen Platz räume.

[181] Selbstverständlich brachte unser Stahlriese, sobald wir Halt gemacht hatten, seine gewöhnliche Wirkung hervor, das heißt er wurde angestaunt, vielleicht mit neidischen Augen betrachtet. Ich muß indeß erwähnen, daß die dermaligen Bewohner des Seraï denselben mit einer Art Verachtung betrachteten – eine Verachtung jedoch, die viel zu gemacht erschien, um wahr sein zu können.

Freilich hatten wir es nicht mit gewöhnlichen Sterblichen zu thun, die in Geschäften oder zum Vergnügen reisten; auch nicht mit einem englischen Officier, der sich nach den Cantonnements an der Grenze von Nepal begab, noch mit einem Hindu-Kaufmann, der seine Karawane nach den Steppen von Afghanistan, jenseits Lahore und Peschawar, führte.

Es rastete hier nämlich kein Geringerer als der Prinz Gourou Singh in höchst eigener Person, der Sohn eines unabhängigen Rajah, der mit großem Pomp durch das nördliche Indien reiste.

Dieser Fürst nahm allein die drei oder vier Säle des Seraï ein, sogar alle Zugänge und Nebenräumlichkeiten, welche für die Leute seines Gefolges eingerichtet worden waren.

Ich hatte noch keinen Rajah auf Reisen gesehen. Gleich nachdem wir uns, eine Viertelmeile von dem Seraï, an einer reizenden Stelle neben einem kleinen Wasserlaufe unter dem Schutze prächtiger Pandaneen eingerichtet hatten, ging ich also, in Begleitung Banks' und des Kapitän Hod aus, um das Lager des Prinzen Gourou Singh in Augenschein zu nehmen.

Der Sohn eines Rajah, der eine Ortsveränderung vornimmt, thut das natürlich nicht allein. Wenn ich irgend Jemand nicht beneide, so sind es Diejenigen, welche keinen Fuß bewegen können, ohne gleichzeitig mehrere hundert Menschen in Bewegung zu bringen! Wahrlich, es ist doch besser, ein einfacher Fußgänger zu sein mit dem Quersack auf dem Rücken, den Stock in der Hand und die Flinte im Arme, als ein in Indien reisender Prinz mit all' dem Ceremoniell, das sein Rang ihm auferlegt.

»Da reist nicht ein einzelner Mann von einer Stadt zur anderen, meinte Banks, sondern es wechselt ein ganzer Flecken seine geographischen Coordinaten!

– Ich lobe mir das Steam-House, erwiderte ich, und ich möchte nicht mit jenem Rajahsohne tauschen!

– Wer weiß, bemerkte Kapitän Hod, ob dieser Fürst nicht selbst unser rollendes Haus seinem schwerfälligen Reise-Apparat vorzöge?

[182] – Er braucht nur ein Wort zu sagen, rief Banks, und ich baue ihm einen vollständigen Dampfpalast, wenn er die Kosten tragen will. Doch in Erwartung seines Auftrages wollen wir uns einstweilen, wenn sich's der Mühe lohnt, das Lager ein wenig ansehen!«

Das Gefolge des Prinzen bestand aus nicht weniger als fünfhundert Personen. Unter großen Bäumen der Umgebung des Seraï waren gegen zweihundert Wagen, symmetrisch wie die Zelte eines Feldlagers, aufgestellt, für welche theils Zebus, theils Büffel als Zugthiere dienten, während drei große Elephanten reichgeschmückte Palankins auf dem Rücken trugen; daneben fanden sich auch noch gegen zwanzig, aus den Ländern westlich des Indus herstamniende Kameele. Der Karawane fehlte wirklich nichts, weder Musiker, welche die Ohren Seiner Hoheit ergötzten, und Bajaderen, die seine Augen entzückten, noch Künstler, um die Stunden der Muße zu verkürzen. Dreihundert Träger und zweihundert Hellebardiere vervollständigten dieses große Personal, dessen Sold jede andere Börse als die eines unabhängigen indischen Rajah erschöpft hätte.

Die Musiker, Tamburin-, Cymbal- und Tamtam-Spieler gehörten theils der Sippe an, welche den Lärmen an Stelle der Töne setzt, theils kratzten sie auf Guitarren und viersaitigen Geigen, welche offenbar kaum jemals richtig gestimmt gewesen waren.

Unter den Künstlern befanden sich einige »Sapwallahs« oder Schlangenbändiger, welche die Reptilien durch ihre Beschwörungen anlocken oder vertreiben; ferner »Slutuis«, sehr geschickt in Uebungen mit dem Säbel; Akrobaten, die mit einer Pyramide von irdenen Gefäßen auf dem Kopfe und Büffelhörnern an den Füßen auf schlaffem Seile tanzen, und endlich Taschenspieler, welche nach Belieben des Zuschauers alte Schlangenhäute in giftige »Cobras« oder umgekehrt verwandeln.

Die Bajaderen gehörten zu der Classe jener hübschen, »Boundelis«, die für »Nautchs« oder Abendgesellschaften so gesucht sind, wo sie die doppelte Rolle der Sängerinnen und Tänzerinnen vertreten. Diese Ballerinen gingen sehr prächtig gekleidet, die Einen in goldgesticktem Mousselin, die anderen in faltigen Röcken mit Schärpen, die sie bei ihren graziösen Bewegungen ausspannten, und Alle waren geschmückt mit reichen Kostbarkeiten, prächtigen Spangen an den Armen, mit goldenen Ringen an den Fingern und Zehen, und silbernen Schellen an den Knöcheln. So aufgeputzt, führten sie den berühmten Eiertanz mitaußerordentlicher Grazie und Gewandtheit aus, und ich hoffte stark, Gelegenheit zu [183] erhalten, Jene auf besondere Einladung des Rajah einmal bewundern zu können.


»Sapwallahs« oder Schlangenbändiger. (S. 183.)

Außerdem figurirten, ich weiß nicht unter welchem Titel, noch eine Anzahl Männer, Frauen und Kinder unter dem Personal der Karawane. Die Männer gingen in lange Streifen Stoff gehüllt, den man »Dhoti« nannte, oder waren mit einer Art Hemd, der, Angarkah«, und langem, weißem Rocke, der »Jamah«, bekleidet, was ihnen ein sehr bizarres Aussehen verlieh. Die Frauen trugen den »Choli«, etwa eine Jacke mit kurzen Aermeln, und den »Sari«, entsprechend


Es war der Prinz Gourou Singh. (S. 187.)

dem Dhoti der Männer, den sie um die Hüften schlangen und dessen Ende sie kokett rückwärts über den Kopf warfen.

Träge unter den Bäumen ausgestreckt liegend, erwarteten diese Hindus die Stunde der Mahlzeiten und [184] rauchten inzwischen in ein grünes Blatt gewickelte Cigarretten oder den »Gargouli«, in dem der »Gurago«, eine schwärzliche Mischung aus Tabak, Melasse und Opium, eingeäschert wird. Andere kauten das bekannte Gemisch aus Betelblättern, Arecanuß und gelöschtem Kalk, das der Verdauung förderlich sein soll, eine Eigenschaft von großem Werthe in dem[185] brennenden Klima Indiens. Gewöhnt an den Aufenthalt in Karawanen, lebten Alle im besten Einvernehmen und legten nur zur Zeit eines Festes die gewohnte Ruhe ab. Man hätte sie für Mitglieder einer reisenden Schauspieler-Gesellschaft halten können, welche auch in vollständige Apathie zu versinken pflegen, wenn sie nicht auf der Bühne beschäftigt sind.

Als wir jedoch an der Lagerstelle ankamen, beeilten sich die Hindus, uns mit einigen »Salams« und tiefen Verbeugungen zu begrüßen. Die Meisten riefen »Sahib! Sahib!« was »Herr! O Herr!« bedeutet, und wir antworteten ihnen durch freundschaftliche Zeichen.

Ich erwähnte, daß mir der Gedanke kam, Gourou Singh werde uns zu Ehren ein Fest geben, womit die Rajahs sonst nicht zu geizen pflegen. Der für eine derartige Ceremonie hinreichende Hof des Bungalow schien mir wie geschaffen für die Tänze der Bajaderen, die Beschwörungen der Zauberer und für die Kunststücke der Akrobaten. Ich gestehe gern, daß es mich entzückt hätte, einem solchen Schauspiele in einem Seraï, unter prächtigen Bäumen und mit der natürlichen, vom Personal der Karawane gebildeten Scenerie beizuwohnen. Wie weit mußte eine solche jede Bühne eines beschränkten Theaters mit ihren Mauern aus gemalter Leinwand, dem unechten Laubwerk und der geringen Zahl Mitwirkender übertreffen!

Ich theilte diesen Gedanken meinen Gefährten mit, welche ihn zwar theilten, aber an die Erfüllung dieses Wunsches nicht glaubten.

»Der Rajah von Guzarate, belehrte mich Banks, ist ein Unabhängiger, der sich kaum nach dem Aufstand der Sipahis unterworfen hat, während dessen sein Verhalten mindestens ein sehr zweideutiges war. Er liebt die Engländer nicht, und sein Sohn wird nichts thun, sich ihnen zuvorkommend zu erweisen.

– Nun gut, was kümmern uns auch seine Nautchs!« erwiderte Kapitän Hod mit verächtlichem Achselzucken.

Es kam, wie wir dachten, ja es wurde uns nicht einmal gestattet, das Innere des Seraï zu besichtigen. Vielleicht erwartete Prinz Gourou Singh einen officiellen Besuch von Oberst Munro. Dieser hatte mit jener Persönlichkeit indeß nichts zu schaffen und ließ sich also nicht im mindesten stören.

Nach unserem Halteplatz zurückgekehrt, erwiesen wir dem von Monsieur Parazard bereiteten Diner alle Ehre. Der Speisezettel bestand in der Hauptsache freilich nur aus Conserven. Seit mehreren Tagen hatte uns das schlechte Wetter am Jagen verhindert; unser Koch war aber ein solcher Meister seines [186] Faches, daß conservirtes Fleisch und Gemüse unter seinen kundigen Händen ihre Frische und natürlichen Geschmack wieder annahmen.

Trotz Banks' Erklärung erhielt ein Gefühl von Neugierde in mir während des ganzen Abends noch immer einige Hoffnung, die erwünschte Einladung eintreffen zu sehen. Kapitän Hod spottete über meine Vorliebe für das Ballet unter freiem Himmel und behauptete, daß sich das im Opernhause doch weit schöner ausnähme. Ich glaubte zwar nicht daran, konnte jedoch, angesichts der Unliebenswürdigkeit des Prinzen, keinen Beweis dafür beibringen.

Am folgenden Tage, am 18. Juni, wurde Alles zurecht gemacht, um mit Anbruch des nächsten Tages aufzubrechen.

Um fünf Uhr begann Kâlouth zu heizen. Unser, jetzt übrigens abgespannter Elephant, stand gegen fünfzig Fuß von den Häusern entfernt, wo der Maschinist noch mit der Zuführung des nöthigen Wasservorraths beschäftigt war.

Wir gingen inzwischen am Ufer des kleinen Flusses spazieren.

Vierzig Minuten später hatte der Kessel genügen den Druck und Storr wollte eben rückwärts fahren, als sich eine Truppe Hindus näherte.

Es waren fünf bis sechs Männer in weißen Röcken und seidenen Ueberwürfen, die Turbans mit Goldstickereien verziert. Ein Dutzend, mit Flinten und Säbeln bewaffnete Soldaten begleiteten dieselben. Einer dieser Soldaten trug eine grüne Laubkrone – ein Zeichen, daß irgend welche hohe Person mit im Zuge sei.

Diese hohe Person war der Prinz Gourou Singh selbst, ein Mann von etwa fünfunddreißig Jahren, von ziemlich stolzer Erscheinung – der Typus aller Nachkommen jener sagenhaften Rajahs, in dem sich der Maharatten-Charakter noch immer wiederspiegelt.

Der Prinz schien unsere Anwesenheit nicht zu bemerken. Er trat einige Schritte vor und näherte sich dem riesigen Elephanten, den Storr's Hand eben in Bewegung setzen wollte. Als er jenen mit einiger, nur schlecht verhehlten Bewunderung betrachtet hatte, fragte er Storr:

»Wer hat diese Maschine gebaut?«

Der Mechaniker zeigte auf den Ingenieur, der jetzt herankam und in kurzer Entfernung stehen blieb.

Prinz Gourou Singh sprach ziemlich geläufig englisch und wendete sich nun an Banks:

»Sie haben das...? sagte er, kaum die Lippen bewegend.

[187] – Ja, das ist mein Werk! antwortete Banks.

– Hat man mir nicht gesagt, es sei das eine Phantasie des verstorbenen Rajah von Bouthan gewesen?«

Banks nickte bejahend mit dem Kopfe.

»Wozu dient es, fuhr Seine Hoheit, nachlässig mit den Achseln zuckend, fort, wozu dient es, sich von einem mechanischen Elephanten ziehen zu lassen, wenn man deren von Fleisch und Bein zur Verfügung hat?

– Nun, antwortete Banks, dieser Elephant ist weit stärker als alle, welche der verstorbene Rajah je besaß.

– O, versetzte Gourou Singh, der verächtlich den Mund spitzte, o... stärker!...

– Gewiß und ganz bedeutend! behauptete Banks.

– Keiner der Ihrigen, fiel der Kapitän Hod ein, den dies prahlerische Auftreten verletzte, keiner der Ihrigen wäre im Stande, jenem einen Fuß zu biegen, wenn er es nicht selbst will.

– Sie sagten?... schnarrte der Prinz.

– Mein Freund behauptet, erwiderte der Ingenieur, und ich bestätige es, daß dieses künstliche Thier dem Zuge von zehn Paar Pferden Widerstand leisten könne, und daß Ihre drei zusammengespannten Elephanten es nicht um einen Fuß breit fortbewegen würden.

– Das glaube ich unbedingt nicht, antwortete der Prinz.

– Sie thun sehr unrecht, das unbedingt nicht zu glauben, gab ihm Kapitän Hod zurück.

– Und wenn Eure Hoheit den Preis dafür zahlen wollen, fuhr Banks fort, so verpflichte ich mich gern einen zu liefern, der die Krast von zwanzig, unter den besten Exemplaren Ihrer Ställe ausgewählten Elephanten besitzt.

– Das ließe sich hören, erwiderte sehr trocken Gourou Singh.

– Und läßt sich auch ausführen!« versicherte Banks.

Der Prinz wurde allmählich lebhafter. Man sah, daß er Widerspruch nicht gern ertrug.

»Man könnte ja hier auf der Stelle eine Probe anstellen, sagte er nach kurzem Besinnen.

– Das kann man, antwortete der Ingenieur.

– Und sogar diese Probe, fuhr Gourou Singh fort, zum Gegenstand einer ansehnlichen Wette machen – im Falle Sie nicht die Furcht vor dem [188] Verluste schreckt, so wie Ihr Elephant erschrecken würde, könnte er sehen, daß er sich mit meinen Elephanten messen soll!

– Der Stahlriefe, erschrecken, zurückweichen? rief Kapitän Hod. Wer wagt zu behaupten, daß der Stahlriefe zurückweichen würde?

– Ich, erwiderte Gourou Singh.

– Und was würden Eure Hoheit einsetzen? fragte der Ingenieur die Arme kreuzend.

– Viertausend Rupien, erklärte der Prinz, wenn Sie viertausend Rupien zu verlieren haben!«

Diese Summe entsprach etwa zehntausend Francs. Der Einsatz war ziemlich hoch, und ich sah, wie Banks, so zuversichtlich er auch war, doch eine so große Summe nicht auf's Spiel setzen wollte.

Kapitän Hod hätte sofort das Doppelte gehalten, wenn sein bescheidener Sold ihm das erlaubte.

»Sie schlagen nicht ein? sagte da Seine Hoheit, für den viertausend Rupien nur eine verschwindende Kleinigkeit waren. Sie fürchten, viertausend Rupien daran zu wagen?

– Ich halte sie, fiel jetzt Oberst Munro ein, der herangekommen war und sich mit den wenigen, aber wichtigen Worten einmischte.

– Oberst Munro hält gegen mich viertausend Rupien? fragte Prinz Gourou Singh.

– Auch zehntausend, erwiderte Sir Edward Munro, wenn es Eurer Hoheit beliebt!

– Wie Sie wünschen!« antwortete Gourou Singh.

Die Sache wurde interessant. Der Ingenieur hatte des Obersten Hand gedrückt, wie um zu danken, daß er ihn gegenüber diesem prahlerischen Rajah nicht im Stiche gelassen habe, doch zog eine Wolke über seine Stirn, die mir die Frage nahe legte, ob er der mechanischen Kraft seines Elephanten nicht etwas zuviel zugemuthet habe.

Kapitän Hod strahlte vor Vergnügen, rieb sich die Hände und schritt auf den Elephanten zu.

»Nun Achtung, Stahlriese, rief er, es gilt für die Ehre Altenglands einzutreten!«

Alle unsere Leute standen auf der einen Seite der Straße. Auch von dem Seraï her war eine Anzahl Hindus herzugelaufen, dem bevorstehenden Wettkampfe[189] beizuwohnen. Banks hatte sich nach dem Thürmchen zu Storr begeben, der durch künstlich vermehrten Zug das Feuer noch mehr schürte, indem er durch den Rüssel des Stahlriesen einen Dampfstrom abblasen ließ.

Inzwischen waren einige von Gourou Singh's Dienern nach dem Seraï zurückgekehrt und holten von dort drei Elephanten, die man von Allem, was sie sonst trugen, befreit hatte. Die drei prächtigen, aus Bengalen stammenden Thiere übertrafen an Größe weit die, welche im südlichen Indien vorkommen. Als diese Riesen im kräftigsten Alter herankamen, bemächtigte sich meiner doch eine gewisse Unruhe.

Auf deren gewaltigen Rücken sitzende »Mahouts« leiteten sie mit den Händen und reizten sie durch Zurufe.

Als die Elephanten vor Seiner Hoheit vorüberschritten, blieb der größte derselben – ein wahrer Riese seines Geschlechtes – stehen, beugte beide Kniee, warf den Rüssel in die Höhe und begrüßte so den Prinzen als wohlerzogener Höfling. Dann führte man ihn und die beiden anderen näher an den Stahlriesen heran, den sie verwundert, und offenbar etwas erschreckt, zu betrachten schienen.

An dem Querriegel des Tendergestelles, das der hintere Theil unseres Elephanten verbarg, wurden nun starke Ketten befestigt.

Ich gestehe, daß mir das Herz da lauter pochte. Kapitän Hod kaute an seinem Schnurrbarte und konnte kaum am Platze aushalten.

Oberst Munro erschien ruhig, ich möchte sagen, noch ruhiger als Prinz Gourou Singh.

»Wir sind fertig, meldete der Ingenieur. Wenn es Eurer Hoheit gefällig ist...

– Mir ist's recht!« antwortete der Prinz.

Gourou Singh gab ein Zeichen; die Mahouts ließen einen eigenthümlichen Pfiff ertönen und die drei Elephanten zogen, die mächtigen Beine gegen den Boden stemmend, gleichzeitig an. Die Maschine rollte einige Schritte rückwärts.

Mir entfuhr ein Schrei. Hod stampfte mit den Füßen.

»Bremse die Räder!« befahl einfach der Ingenieur, indem er sich nach dem Maschinisten zurückwandte.

Ein schneller Handgriff, ein Brausen und Zischen ausströmenden Dampfes, und die atmosphärische Bremse that ihre Schuldigkeit.

Der Stahlriese stand und rührte sich nicht vom Flecke.

[190] Die Mahouts trieben ihre drei Elephanten hitziger an und diese versuchten eine neue Anstrengung.

Vergeblich! Unser Elephant schien im Boden festgewurzelt zu sein.

Prinz Gourou Singh biß sich in die Lippen.

»Vorwärts!« commandirte Banks.

Der Regulator wurde voll geöffnet; dichte Dampfwolken wirbelten stoßweise aus dem Rüssel empor; die freigelassenen Räder drehten sich langsam, in den Macadam eingreifend, und trotz ihres verzweifelten Widerstandes wurden die drei Elephanten rückwärts geschleppt, wobei sie tiefe Furchen in den Boden rissen.

»Go a head! Go a head!« rief der Kapitän.

Der Stahlriese marschirte unaufgehalten vorwärts, die drei gewaltigen Thiere fielen dabei auf die Seite und wurden zwanzig Fuß weit fortgeschleppt, ohne daß unser Elephant etwas davon zu bemerken schien.

»Hurrah! Hurrah! rief Kapitän Hod, der sich nicht mehr bemeistern konnte. Man könnte noch das ganze Seraï Seiner Hoheit hinter seine Elephanten anhängen; für unseren Stahlriesen wöge es doch nicht mehr als eine Heidelbeere!«

Oberst Munro gab mit der Hand ein Zeichen. Banks schloß das Einlaßventil und die Maschine stand.

Die drei Elephanten Seiner Hoheit, die mit den in der Luft schwankenden Rüsseln und den zappelnden Beinen fast riesigen, auf den Rücken liegenden Scarabäen (Rüsselkäfern) glichen, boten wirklich einen jämmerlichen Anblick.

Der Prinz hatte aus Aerger und Scham schon den Platz geräumt, ohne das Ende der Probe abzuwarten.

Die drei Elephanten wurden abgespannt. Sie erhoben sich, offenbar sehr gedemüthigt durch ihre Niederlage. Als sie an dem Stahlriesen vorüber kamen, konnte der größte derselben, obwohl ihn kein Cornac leitete, nicht umhin, vor diesem das Knie zu beugen und mit dem Rüssel zu salutiren, wie er das vor Prinz Gourou Singh zu thun gewohnt war.

Eine Viertelstunde später traf ein Hindu, der »Kâmdar« oder Secretär Seiner Hoheit bei uns ein und übergab dem Oberst einen Sack mit zehntausend Rupien, den Betrag der Wette.

Oberst Munro ergriff den Sack und warf ihn verächtlich von sich.

»Für die Leute Seiner Hoheit!« sagte er.

Darauf begab er sich ruhig nach dem Steam-House.

[191] Gewiß konnte man an dem arroganten Prinzen, der uns so wegwerfend herausgefordert hatte, kaum eine bessere Vergeltung üben.


Die drei gewaltigen Thiere wurden fortgeschleppt. (S. 191.)

Banks gab inzwischen, da der Stahlriese wieder vorgespannt worden war, das Zeichen zur Abfahrt, und unser Zug entfernte sich, inmitten einer großen Menge höchst erstaunter Hindus, mit großer Geschwindigkeit.

Wo er vorüber kam, ertönten laute Ausrufe, und bald hatten wir, hinter einer Biegung der Straße, den Seraï des Prinzen Gourou Singh aus dem Gesichte verloren.


Von hier aus erblickten wir die Ebene. (S. 195.)

Am nächsten Tag erstieg das Steam-House die ersten mäßigen Erhebungen, welche das ebene Land mit dem Fuße der Himalayagrenze verknüpfen. Für unseren Stahlriesen war das nur ein Spiel; die vierund [192] zwanzig in seine Weichen eingeschlossenen Pferde hatten ja hingereicht, mit den drei Elephanten des Prinzen Gourou Singh siegreich zu wetteifern. Er trabte also mit Leichtigkeit über die allmählich ansteigende Straße dieser Gegend hin, ohne daß es nöthig geworden wäre, die normale Dampfspannung zu überschreiten. Es bot wirklich einen merkwürdigen Anblick, den funkenspeienden Koloß unter nicht etwa schnellerem, [193] aber tieferem Schnaufen die beiden Wagen längs der Straße dahinschleppen zu sehen. Die gerieften Radkränze drückten Streifen in den Boden, dessen Macadam zerbröckelnd knirschte. Unser gar zu schweres Zugthier ließ nämlich tiefe Furchen hinter sich und beschädigte die von dem unaufhörlichen Regen erweichte Straße nicht wenig.

Jedenfalls gelangte das Steam-House dabei aber höher hinauf, das Panorama erweiterte sich, die Ebene hinter uns sank langsam tiefer und nach Süden zog sich der mehr und mehr umfassende Horizont schon bis über Sehweite zurück.

Diese Erscheinung wurde noch merkbarer, als wir einige Stunden lang unter den Bäumen eines dichten Waldes dahingezogen waren. Oeffnete sich dann eine weitere Lichtung, gleich einem ungeheuren Fenster, in der Richtung nach dem Gebirge, so hielt der Zug an – einen Augenblick nur, wenn gerade ein feuchter Nebel das Landschaftsbild verschleierte – einen halben Tag, wenn das großartige Panorama klar vor unseren Augen lag.

Dieses Emporklimmen dauerte, in Anbetracht der je nach Umständen längeren oder kürzeren Pausen und der Unterbrechungen durch das Halten während der Nacht, nicht weniger als sieben Tage, von 19. bis 25. Juni.

»Bei einiger Geduld, ließ sich Kapitän Hod vernehmen, gelangten wir mit unserem Zug bis nach den höchsten Spitzen des Himalaya!

– Trauen Sie ihm nicht zuviel zu, lieber Kapitän, entgegnete der Ingenieur.

– Er vollbrächte es doch, Banks!

– Ja, Hod, aber nur unter der Bedingung, daß ihm nicht eine fahrbare Straße mangelte, daß er genügend Feuerungsmaterial, welches in den Höhen nicht mehr zu finden ist, und athembare Luft mit sich führen könnte, die in der Höhe von zweitausend Toisen allmählich ausgeht. Wir wollen ja aber auch nur die bewohnbare Zone des Himalaya passiren. Hat der Stahlriese die mittlere Höhe der Sanatorien erklommen, so macht er an einem reizenden Plätzchen am Rande eines Gebirgswaldes Halt, wo wir die frischere Luft der höheren Regionen genießen. Dann hat Oberst Munro seinen Bungalow aus Calcutta nach den Bergen von Nepal verlegt – das ist der ganze Zweck – und wir verweilen daselbst, so lange es ihm beliebt!«

Die Stelle, an der wir endlich für mehrere Monate rasten sollten, wurde im Laufe des 25. glücklich gefunden. Schon während der letzten vierundzwanzig[194] Stunden bot die Straße mehr und mehr Schwierigkeiten, indem sie entweder nicht mehr so gut angelegt, oder durch die Regenzeit ausgewaschen und holprig geworden war. Der Stahlriese hätte hier wohl ein Schleppseil gebrauchen können, doch entging er dem durch einen etwas erhöhten Verbrauch an Brennmaterial. Kâlouth warf nur einige Scheit Holz mehr unter den Kessel, das genügte, die Spannung der Dämpfe zu steigern. Dennoch ward es nicht nöthig, die Sicherheitsventile zu belasten, welche erst bei einem Drucke von sieben Atmosphären abbliesen, und diese Spannung wurde niemals überschritten.

Seit achtundvierzig Stunden schon bewegte sich unser Zug durch nahezu verlassene Gebiete. Flecken und Dörfer gab es hier nicht mehr, höchstens einzelne Ansiedlungen und dann und wann eine in den ausgedehnten Fichtenwäldern des mittleren Gebirgskammes verlorene Farm. Drei- bis viermal begrüßten uns wenige Bergbewohner durch ihre verwunderten Zurufe. Wenn sie diesen eigenthümlichen Zug sich bergauf bewegen sahen, mußten sie nicht auf den Gedanken kommen, Brahma selbst mache sich das Vergnügen, eine große Pagode nach den unnahbaren Höhen der Grenze von Nepal zu versetzen?

Am 25 Juni endlich rief Banks zum letzten Male Halt! – am Schlusse des ersten Theiles unserer Reise durch das nördliche Indien! Der Zug stand inmitten einer ausgedehnten Waldblöße, nahe einem Gebirgsbache, dessen klares Wasser allen Bedarf während eines Aufenthaltes von mehreren Monaten decken mußte. Von hier aus erblickten wir die Ebene hinter uns auf eine Strecke von fünfzig bis sechzig Meilen.

Das Steam-House befand sich jetzt dreihundertfünfundzwanzig Meilen von seinem Abfahrtspunkte entfernt, und etwa zweitausend Meter über dem Meere und am Fuße des Dhawalagiri, dessen Gipfel sich in der Höhe von fünfundzwanzigtausend Fuß in der Luft verlor.

[195]
15. Capitel
Fünfzehntes Capitel.
Der Pal von Tandit.

Wir verlassen nun einstweilen den Oberst Munro und seine Gefährten, den Ingenieur Banks, Kapitän Hod und den Franzosen Maucler, und unterbrechen für einige Seiten den Bericht über die Reise, deren erster Theil, der Zug von Calcutta bis zur indo-chinesischen Grenze, am Fuße der Bergkette von Thibet schließt.

Der Leser erinnert sich des Zwischenfalles, der sich damals zutrug, als das Steam-House bei Allahabad lag. Das Journal dieser Stadt meldete dem Oberst Munro, in der Nummer vom 25. Mai, den Tod Nana Sahib's. Sollte sich diese so oft verbreitete und eben so oft widerrufene Nachricht diesmal bestätigen? Konnte Sir Edward Munro nach den eingehenden Details derselben noch immer zweifeln, oder mußte er nicht vielmehr darauf verzichten, an dem Empörer von 1857 Gerechtigkeit zu üben?

Das Weitere wird über diese Fragen Aufklärung geben.

Wir erzählen hier, was sich seit jener Nacht vom 7. zum 8. März ereignete, als Nana Sahib in Begleitung seines Bruders Balao Rao und seiner getreuesten Waffengefährten, nebst dem Hindu Kâlagani die Höhlenstadt von Adjuntah verließ.

Sechzig Stunden später erreichte der Nabab die Schluchten der Sautpourraberge, nachdem er die Tapi überschritten, die an der Westküste der Halbinsel, nahe bei Surate mündet. Er befand sich jetzt hundert Meilen von Adjuntah, in einem nur dünn bevölkerten Theile der Provinz, was ihm für den Augenblick wenigstens einige Sicherheit gewährleistete.

Der Ort war in der That gut gewählt.

Die nur mittelhohen Sautpourraberge beherrschen das Thal der Nerbudda, dessen Nordgrenze von den Vindhyabergen gekrönt wird. Diese beiden fast parallel verlaufenden Gebirgsketten verzweigen sich vielfach und bilden in dem unebenen Lande schwer zugängliche Schlupfwinkel. Wenn die Vindhyas aber, etwa unter dem 23. Breitengrade, fast ganz Indien von Westen nach Osten durchschneiden und dadurch eine der großen Seiten des Dreiecks von Central-Indien[196] bilden, so erstrecken sich die Sautpourraberge dagegen nicht über den 75. Längengrad hinaus und schließen sich da an den Berg Kaligong an.

Hier verweilte Nana Sahib nun in dem Lande der Gounds, jener gefürchteten Stämme alt angesessener, kaum unterjochter Völkerschaften, die er zum Aufstande verleiten wollte.

Das Gebiet von Goudwana umfaßt ein Viereck von zweihundert Meilen Seite, mit über drei Millionen Einwohnern, welche Rousselet als Landeingeborne betrachtet und unter denen die Keime der Empörung niemals absterben.

Es bildet jenes Gebiet einen beträchtlichen Theil von Hindostan und steht in der That nur dem Namen nach unter Englands Herrschaft. Die Eisenbahn von Bombay nach Allahabad durchschneidet zwar diese Gegend von Südwesten nach Nordosten und entsendet auch einen Zweig nach Nagpore, dem Mittelpunkte der Provinz, das eigentliche Volk beharrt aber in seinem halbwilden Zustande, verschließt sich jeder Civilisation, trägt das Joch der Europäer nur mit Groll, und dazu ist ihm in seinen Bergen nur schwer beizukommen, was Nana Sahib recht wohl wußte.

Hier wollte er zunächst Zuflucht suchen, um den Nachforschungen der englischen Polizei zu entgehen, bis die Stunde schlagen würde, wo er wieder die Fackel der Empörung schwingen konnte.

Gelang dem Nabab dieses sein Vorhaben, gehorchten die Gounds seinem Rufe und marschirten sie an seiner Seite, so konnte der Aufstand schnell einen bedeutenden Umfang gewinnen.

Im Norden von Goudwana nämlich liegt Bundelkund, welches das ganze Berggebiet zwischen dem oberen Plateau der Vindhyas und dem mächtigen Wasserlaufe der Jumna einschließt. In diesem, mit den schönsten Urwäldern Hindostans bedeckten Lande leben die Boundelas, ein hinterlistiges, grausames Volk, bei dem alle Verbrecher, politische und andere, mit Vorliebe Zuflucht suchen und finden; hier drängt sich eine Bevölkerung von zweiundeinhalb Millionen auf einer Fläche von achtundzwanzigtausend Quadrat-Kilometern zusammen, unter der noch völlige Wildheit herrscht; hier leben noch alte Parteigänger, welche unter Tippo Sahib gegen die Eindringlinge kämpften; von hier stammen die berühmten Würger, die Thugs, lange Zeit der Schrecken Indiens und fanatische Mörder, welche, ohne einen Tropfen Blut zu vergießen, doch unzählige Opfer hinschlachteten; ebenso wie die Banden der Pinderris fast ungestraft die scheußlichsten Mordthaten begingen; hier schweifen noch die entsetzlichen Dacoits [197] umher, eine Gesellschaft von Giftmischern, welche gern den Fußspuren der Thugs nachzogen; hierher endlich hatte auch Nana Sahib schon früher sich geflüchtet, als er den königlichen Truppen nach der Einnahme von Jansie entwischte; hier vereitelte er damals alle Nachforschungen, bis er ein noch sichereres Asyl in den unzugänglichen Schluchten der indo-chinesischen Grenze aufsuchte.

Im Osten von Goudwana liegt Khondistan, oder das Land der Khounds. So nennen sich die wilden Anhänger Tado Pennoe's, des Gottes der Erde, und Mannek Soro's, des rothen Gottes der Kämpfe, jene blutigen Adepten der »Meriahs« oder Menschenopfer, welche die Engländer nur mit größter Anstrengung auszurotten vermögen, jene Wilden, welche mit den barbarischesten Bewohnern der polynesischen Inseln auf ganz gleicher Stufe stehen, und gegen die der Ober-General John Campbell und die Kapitäne Macpherson, Marviccar und Feye von 1840 bis 1854 beschwerliche und langwierige Feldzüge führten, – Fanatiker, welche bereit sind, Alles zu wagen, wenn sie nur eine mächtige Hand unter einem religiösen Vorwand antreibt.

Westlich von Goudwana befindet sich ein Land mit einundeinhalb bis zwei Millionen Seelen, das die Bhîles bewohnen, ehemals die Herren von Malwa und Rajpoutana; jetzt sind dieselben in einzelne Clans zerfallen, über das ganze Gebiet der Vindhyas zerstreut, und fast stets berauscht von dem Branntwein, den ihnen der »Mhowah-Baum« liefert, aber von kühnem entschlossenen Charakter, gewandt, und immer des »Kisri«, das ist des Rufes zum Kampf und zur Plünderung, gewärtig.

Man sieht, daß Nana Sahib eine gute Wahl getroffen hatte. In diesen Centralgebieten der Halbinsel hoffte er jetzt, anstatt eines gewöhnlichen Militäraufstandes, eine nationale Erhebung zu erregen, an der sich die Hindus jeder Kaste betheiligen sollten.

Bevor er jedoch etwas unternehmen konnte, mußte er in dem Lande selbst Aufenthalt nehmen, um auf die Bevölkerung je nach Lage der Umstände erfolgreich wirken zu können. Er brauchte einen sicheren Schlupfwinkel, wenigstens für die erste Zeit, den er aufgeben konnte, wenn sich ein Verdacht erhob.

Das war also Nana Sahib's erste Sorge. Die Hindus, welche ihm von Adjuntah aus gefolgt waren, konnten in der ganzen Präsidentschaft frei umhergehen. Auch Balao Rao, auf den die Bekanntmachung des Gouverneurs nicht zu beziehen war, hätte der vollständigen Freiheit genießen können, wäre nur nicht die Aehnlichkeit mit seinem Bruder gewesen. Seit seiner Flucht von Nepal [198] hatte sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht mit seiner Person beschäftigt, vielmehr hatte man alle Ursache, ihn für todt zu halten. Er wäre aber doch verhaftet worden, da man ihn zu leicht für Nana Sahib selbst ansehen konnte; das mußte um jeden Preis vermieden werden.

Die beiden, in einem Gedanken vereinigten und auf ein und dasselbe Ziel lossteuernden Brüder brauchten demnach auch ein gemeinsames Asyl. Es konnte nicht schwer fallen und nicht lange dauern, ein solches in den Engpässen der Sautpourraberge aufzufinden.

Gleich anfangs wies einer der Hindus der Truppe, ein Gound, der das Thal in allen Winkeln kannte, auf eine geeignete Stelle hin.

Am rechten Ufer eines kleinen Nebenflusses der Nerbudda befand sich ein verlassener Pal, der Pal von Tandit.

Ein Pal ist weniger als ein Dorf, kaum ein Weiler, eine Vereinigung von Hütten, oft eine isolirte Wohnung. Jede Nomadenfamilie, die einen solchen bewohnt, verweilt hier nur eine Zeit lang. Nach dem Abbrennen einiger Bäume, deren Asche für kurze Zeit den Boden düngt, erbaut der Gound für sich und die Seinigen die Wohnung. Da das Land aber nichts weniger als sicher ist, so nimmt das Haus das Ansehen einer kleinen Befestigung an. Ein Ring von Palissaden umschließt dasselbe und sichert es gegen einen Ueberfall. Uebrigens ist es an und für sich schwierig, dasselbe, wie es meist im Dickicht versteckt, unter üppigen Cactus und Buschwerk vergraben liegt, aufzufinden. Gewöhnlich nimmt der Pal den Gipfel eines kleinen Hügels ein, der im Grunde eines engen Thales inmitten undurchdringlichen Gebüsches zwischen zwei Bergwänden gelegen ist. Nichts verräth, daß Menschen hier ein Unterkommen gesucht hätten. Dahin führende Straßen giebt es nicht, selbst von Fußwegen entdeckt man keine Spur. Um den Platz zu erreichen, muß man gewöhnlich dem tiefen Bett eines Bergstromes folgen, dessen Wasser jede Fußspur verwischt. Wer diesen Weg benutzt, hinterläßt kein Zeichen davon. Während der heißen Jahreszeit geht man bis an die Knöchel, während der kalten bis zum Knie im Wasser, und nichts deutet darauf hin, daß hier ein lebendes Wesen vorübergekommen sei. Dazu würde eine Lawine von Felsstücken, zu deren Ablösung schon die Hand eines Kindes hinreichte, Jeden zermalmen, der gegen den Willen der Bewohner des Pals hinauszudringen versuchte.


Der Pal von Tandit. (S. 202.)

So isolirt die Gounds auch in ihren Bergnestern sitzen, so können sie einander doch leicht genug von Pal zu Pal mittheilen. Von den Höhen der

[199] ungleichen Kämme der Sautpourraberge lassen sich die gewohnten Signale binnen wenigen Minuten über eine Strecke von zwanzig Meilen durch das Land verbreiten. Man pflegt dann auf dem Gipfel eines spitzen Felsens Feuer anzuzünden, gebraucht wohl gleich einen Baum als Riesenfackel oder läßt von einem Berge nur eine Rauchsäule aufsteigen. Die Bedeutung dieser Zeichen kennt Jedermann. Der Feind, das heißt eine Abtheilung königlicher Soldaten, ein Schwarm Agenten der englischen Polizei ist in das Thal eingedrungen, folgt dem Laufe der Nerbudda, durchsucht die Schluchten der Bergketten, vielleicht [200] auf der Fährte eines Uebelthäters, dem das Land gern Schutz bietet. Der dem Ohre der Bergbewohner so gewohnte Kriegsruf verwandelt sich in ein Alarmzeichen. Ein Fremder würde ihn mit dem Heulen der Nachtvögel oder dem Pfeifen von Reptilien verwechseln. Der Gound kann sich dabei nicht täuschen; er ist auf der Hut, wenn das genügt, er flieht, wenn er fliehen muß. Die verdächtigen Pals stehen verlassen, oder werden selbst abgebrannt. Die Nomaden verkriechen sich in andere Verstecke, wenn man ihnen zu nahe auf den Fersen ist und an den mit Asche bedeckten Wohnplätzen finden die Agenten der Behörden [201] nichts als Ruinen. In einem dieser Pals – dem Pal von Tandit – hatten Nana Sahib und die Seinigen ihr Unterkommen gewählt. Der, der Person des Nabab mit Leib und Seele ergebene Gound hatte sie hierher geführt, wo sie sich am 12. März dann häuslich einrichteten.


Die wandelnde Flamme. (S. 203.)

Sobald die beiden Brüder von dem Pal von Tandit Besitz genommen, war es ihre erste Sorge, die Umgebungen in Augenschein zu nehmen. Sie überzeugten sich, nach welcher Richtung und wie weit ihnen die Aussicht offen stand; erkundigten sich nach den nächstgelegenen Wohnungen und nach den Leuten, welche jene inne hatten. Sie durchforschten sorgfältig die Lage des isolirten Hügels, den der Pal von Tandit krönte, streiften durch das dichte Gebüsch ringsum und überzeugten sich schließlich, daß Niemand dahin gelangen könne, außer indem er dem Bette eines Sturzbaches, des Wazzur, nachging, in dem sie selbst herausgekommen waren.

Der Pal von Tandit bot also nach allen Seiten die gewünschte Sicherheit, vorzüglich, weil er auf einem Untergrunde stand, dessen geheime Ausgänge sich an der Seite eines Nebenberges öffneten und im schlimmsten Falle noch ein Entfliehen ermöglichten.

Nana Sahib und sein Bruder hätten ein besseres Versteck nicht finden können.

Balao Rao genügte es aber nicht, zu wissen, daß das der Pal von Tandit sei, er wollte auch von seiner Vergangenheit etwas hören, und fragte deshalb, während der Nabab das Innere der kleinen Festung besichtigte, den Gound weiter aus.

»Noch einige Fragen, begann er zu diesem. Seit wann steht der Pal verlassen?

– Seit einem Jahre, antwortete der Gound.

– Wer bewohnte ihn früher?

– Eine Nomadenfamilie, welche sich nur wenige Monate hier aufhielt.

– Warum haben die Leute ihn verlassen?

– Weil der Boden, der sie ernähren sollte, ihren Bedarf nicht lieferte.

– Und seit ihrem Abzug hat Deines Wissens Niemand hier Zuflucht gesucht?

– Niemand.

– In den Bereich des Pals hat noch kein Soldat der königlichen Armee, kein Polizeispion den Fuß gesetzt?

– Niemals.

[202] – Kein Fremder hat ihn besucht?

– Keiner... erwiderte der Gound, höchstens eine Frau.

– Eine Frau? wiederholte lebhaft Balao Rao.

– Ja, eine Frau, die seit drei Jahren schon im Nerbuddathale umherirrt.

– Wer ist diese Frau?

– Wer sie ist, weiß ich nicht, erkärte der Gound, kann auch nicht sagen, woher sie kommt, und kein Mensch im Thale weiß überhaupt Näheres von ihr. Man hat nie erfahren können, ob sie eine Fremde oder ein Hinduweib ist!«

Balao Rao sann einen Augenblick nach; dann fuhr er fort:

»Was beginnt das Weib?

– Sie kommt und geht, erwiderte der Gound; sie lebt nur allein von Almosen. Man bringt ihr im ganzen Thale eine Art abergläubischer Verehrung entgegen. In meinem eigenen Pal habe ich sie wiederholt aufgenommen. Sie spricht niemals. Man könnte sie für stumm halten, und es sollte mich gar nicht wundern, wenn sie das wirklich wäre. Während der Nacht sieht man sie mit einem brennenden harzigen Zweige umherirren. Deshalb nennt man sie allgemein nur »die wandelnde Flamme!«

– Doch, wenn diese Frau den Pal von Tandit kennt, sagte Balao Rao, sollte sie nicht vielleicht während unserer Anwesenheit zurückkehren, und haben wir nichts von ihr zu fürchten?

– Ganz und gar nichts, versicherte der Gound, die Person hat den Verstand verloren. Ihr Kopf gehört ihr nicht mehr, die Augen verstehen nicht, was sie sehen, die Ohren nicht, was sie hören! Sie ist für alle Dinge der Außenwelt so gut wie blind, taub und stumm. Sie ist eine Närrin, und eine Geisteskranke ist eine Todte, die nur noch fortathmet!«

In der gewöhnlichen Sprache der Hindus der Gebirge hatte der Gound das Bild der eigenthümlichen Persönlichkeit entworfen, die im ganzen Thale bekannt war, das der »wandelnden Flamme« der Nerbudda.

Es war eine Frau, deren blasses, noch schönes Gesicht alt und wiederum nicht alt aussah, das aber jedes Ausdrucks entbehrte und weder Abstammung noch Alter erkennen ließ. Man hätte sagen können, ihre unsteten Augen hätten sich vor dem Anblick einer Schreckensscene, die ihr noch immer vorschwebte, für das Leben des Geistes verschlossen.

Dieser harmlosen und des Verstandes beraubten Creatur kamen die Bergbewohner stets freundlich entgegen. Geisteskranke gelten bei den Gounds, sowie[203] überhaupt bei wilden Völkern, als geweihte Wesen, denen man mit abergläubischer Ehrfurcht begegnet. Ueberall, wo sie sich zeigte, nahm man die wandelnde Flamme gastfreundlich auf. Kein Pal schloß vor ihr seine Pforte. Man speiste sie, wenn sie hungerte, bot ihr ein Lager, wenn sie müde war, ohne von ihr einen Dank zu erwarten, den ihr Mund ja nicht auszusprechen vermochte.

Wie lange führte sie schon dieses Leben? Woher kam das Weib? Wann erschien sie zuerst in Goudwana? Solche Fragen wären schwer zu beantworten gewesen. Warum durchirrte sie die Nächte mit einer Fackel in der Hand? Wollte sie sich dadurch nur leuchten? Dachte sie die Raubthiere damit abzuwehren? Niemand hätte das sagen können. Manchmal blieb sie ganze Monate lang aus. Was wurde dann aus ihr? Vertauschte sie die Engpässe der Sautpourraberge mit den Schluchten der Vindhyas? Streifte sie jenseits der Nerbudda, in Malwa oder Bundelkund umher? Keiner wußte es. Oefter, wenn ihre Abwesenheit länger dauerte, hätte man glauben können, dieses traurige Leben habe ein Ende gefunden. Doch nein! Sie kam immer wieder, wie früher, ohne daß Anstrengung, Krankheit oder Entbehrungen ihren scheinbar so gebrechlichen Körper zerstören zu können schienen.

Balao Rao hatte dem Hindu mit größter Aufmerksamkeit zugehört. Er legte sich die Frage vor, ob in dem Umstande, daß die wandelnde Flamme den Pal von Tandit kannte, daß sie daselbst schon Zuflucht gesucht und vielleicht auch wiederkehren könnte, eine Gefahr zu erblicken sei.

Er fragte also den Gound, ob er oder die Seinigen wüßten, wo sich die Wahnsinnige letzt aufhielt.

»Ich weiß es nicht, erwiderte der Gound. Sechs Monate lang hat sie Niemand im Thale gesehen. Vielleicht ist sie nun doch todt. Doch wenn sie wirklich zu dem Pal von Tandit zurückkehrte, wäre von ihrer Anwesenheit nicht das Mindeste zu fürchten. Sie ist nur eine lebende Statue. Sie würde Euch nicht sehen, nicht hören, nicht wissen, wer Ihr seid. Sie träte eben ein, setzte sich an Euren Herd, ruhte einen oder zwei Tage, dann würde sie einfach ihre Fackel wieder entzünden, den Pal verlassen und auf's Neue von Haus zu Haus umherschweifen. So vergeht ihr ganzes Leben. Uebrigens bleibt sie diesesmal so lange aus, daß sie wahrscheinlich niemals wieder kommt. Sie, die schon geistig todt war, wird es nun auch leiblich sein!«

Balao Rao hielt es hiernach nicht für nothwendig, mit Nana Sahib über die Sache zu sprechen, und schenkte ihr auch selbst bald keine besondere Aufmerksamkeit [204] mehr. Einen Monat nach ihrem Einzuge in den Pal von Tandit hatte man von der Rückkehr der wandelnden Flamme im Nerbuddathale noch nicht das Geringste wieder vernommen.

16. Capitel
Sechzehntes Capitel.
Die wandelnde Flamme.

Einen Monat lang, vom 12. März bis 12. April, hielt Nana Sahib sich in dem Pal verborgen. Er wollte den englischen Behörden Zeit lassen, bis sie entweder jede weitere Nachforschung aufgegeben, oder sich auf falsche Fährten verirrt hätten.

Wenn die beiden Brüder am Tage niemals ausgingen, so durchstreiften dafür ihre Getreuen das Thal, besuchten die Dörfer und Weiler desselben, verkündigten durch verhüllte Anspielungen die bevorstehende Erscheinung eines, »gewaltigen Moulti«, eines halben Gottes und halben Menschen, und suchten auf diese Weise die Geister zu einer nationalen Erhebung vorzubereiten.

Mit Anbruch der Nacht wagten sich auch Nana Sahib und Balao Rao aus ihrem Versteck hervor. Sie schweiften dann bis zu den Ufern der Nerbudda hinaus, gingen von Dorf zu Dorf, von Pal zu Pal, in Erwartung der Stunde, wo sie auch im Gebiete der den Engländern lehnspflichtigen Rajahs mit einiger Sicherheit auftreten könnten. Nana Sahib wußte übrigens, daß einige halbunabhängige und des fremden Joches müde Fürsten seinem Rufe auf der Stelle folgen würden. Für jetzt galt seine Thätigkeit jedoch nur den wilden Volksstämmen von Goudwana.

Die barbarischen Bhils, die nomadisirenden Kounds und die Gounds – ein ebenso wenig wie die eingebornen Inselbewohner im großen Ocean civilisirter Stamm – fand Nana bereit, sich zu erheben, erbötig, ihm zu folgen. Gab er sich aus Klugheit auch nur zwei oder drei mächtigen Stammeshäuptlingen zu erkennen so genügte ihm das doch, sich zu überzeugen, daß sein Name allein [205] mehrere Millionen der auf den inneren Hochebenen Hindostans zerstreut lebenden Hindus heranziehen werde.

Nach der Rückkunft in den Pal von Tandit berichteten die beiden Brüder dann einander was sie gehört, gesehen und ausgerichtet hatten. Auch ihre Leute sammelten sich um sie und brachten von überall her die Kunde, daß der Geist der Empörung schon wie ein Sturmwind durch das Nerbuddathal wehe. Die Gounds warteten nur darauf, den »Kisri«, den Kriegsruf der Bergbewohner, erschallen zu lassen und sich auf die Militär-Niederlassungen der Präsidentschaft zu stürzen.

Noch war der rechte Zeitpunkt nicht gekommen.

Offenbar genügte es noch nicht, das Gebiet zwischen den Sautpourrabergen und den Vindhyas in Flammen zu setzen. Die Fackel des Aufstandes mußte sich vielmehr von Ort zu Ort weiter verbreiten. Daraus ergab sich die Nothwendigkeit, auch in den, der Botmäßigkeit der Engländer mehr untergebenen Nachbarprovinzen der Nerbudda Brennmaterial aufzuhäufen. Alle jene Städte und Flecken von Rhopal, Malwa und Bundelkund, sowie das ganze Königreich Scindia sollten einen einzigen, entzündungsfertigen Herd bilden. Mit gutem Grunde ließ es Nana Sahib aber seine eigene Sorge sein, die alten Parteigänger aus der Erhebung von 1857 aufzusuchen, die Eingebornen, welche, treu seiner Sache und niemals an seinen Tod glaubend, von Tag zu Tag darauf harrten, ihn wieder auftreten zu sehen.

Einen Monat nach seiner Ankunft im Pal von Tandit glaubte Nana Sahib mit voller Sicherheit vorgehen zu können. Er meinte, die Kunde von seinem Wiedererscheinen in der Provinz werde nun für falsch gehalten werden. Vertraute Spießgesellen unterrichteten ihn von allen Maßregeln, die der Gouverneur der Präsidentschaft Bombay zu seiner Gefangennehmung getroffen hatte. Er wußte recht gut, daß die Behörden während der ersten Tage, freilich vergebens, eifrig thätig gewesen waren. Jener Fischer von Aurungabad, der frühere Gefangene Nana's, war unter seinem Dolche gefallen und Niemand hatte Verdacht geschöpft, daß der fliehende Fakir mit dem Nabab Dandou Pant, auf dessen Kopf ein Preis gesetzt war, identisch sei. Eine Woche später legte sich die anfängliche Aufregung, die Bewerber um den Preis von zweitausend Pfund gaben alle Hoffnung auf, und Nana Sahib's Name versank wieder in Vergessenheit. Der Nabab konnte also wieder persönlich thätig sein und ohne Furcht, erkannt zu werden, seine Aufwiegeleien fortsetzen. Bald in der Kleidung eines [206] Parsi, bald in der eines schlichten Raïot (Bauern), heute allein, morgen in Begleitung seines Bruders, zog er nun von dem Pal von Tandit aus, wandte sich nach Norden, nach der anderen Seite der Nerbudda, und selbst bis über den Westabhang der Vindhyas hinab.

Ein Spion, der ihm auf allen Schlichen und Wegen gefolgt wäre, hätte jenen am 12. April in Indore getroffen.

Von dieser Hauptstadt des Königreiches Holcar aus setzte sich Nana Sahib, unter Einhaltung des strengsten Incognitos, mit der zahlreichen, meist der Cultur von Mohnfeldern obliegenden Landbevölkerung in Verbindung. Diese bestand aus thatenlustigen und fanatischen Rihillas, Mekranis und Valayalis, meist fahnenflüchtigen Sipahis aus den Natifs-Regimentern, die sich unter der Verkleidung als Hindubauern verbargen.

Dann ging Nana Sahib über die Betwa, einen Nebenfluß der Jumna, die an der Westgrenze Bundelkunds nach Norden zu verläuft, und kam am 19. April durch ein herrliches Thal mit zahllosen Dattel- und Mangobäumen, in Souari an.

Hier befinden sich merkwürdige Baudenkmäler von sehr hohem Alter, nämlich die sogenannten »Tôpes«, eine Art Grabmäler mit halbkugeligem Kuppeldache, welche im Norden des Thales die Hauptgruppe von Saldhara bilden. Aus den Grabstätten, diesen Wohnungen der Todten, deren, dem buddhistischen Ritus geweihte Altäre unter steinernen Schirmen geschützt stehen, quollen, auf Nana Sahib's Ruf, Hunderte von Flüchtlingen hervor. Vergraben unter diesen Ruinen, um den schrecklichen Repressalien der Engländer zu entgehen, genügte ein Wort, ihnen klar zu machen, was der Nabab von ihnen verlangte, eine Andeutung zur rechten Zeit mußte hinreichen, sie in Menge auf die Eroberer zu hetzen. Am 24. April weilte Nana in Bhîlsa, der Hauptstadt eines mächtigen Bezirks von Malwa, und versammelte in den Ruinen der alten Stadt die Elemente zur Empörung, welche ihm die neue nicht geliefert hätte.

Am 27. April erreichte der Nabab Rayguoh, nahe der Grenze des Königreichs Pannah, und am 30. die Reste der alten Stadt Sangoe, nicht weit von der Stelle, wo General Sir Hugh Rose den Aufständischen eine sehr blutige Schlacht lieferte, die ihm mit dem Engpaß von Maudampore den Schlüssel zu den Schluchten der Vindhyas in die Hände lieferte.

Hier schloß sich dem Nabab sein Bruder wieder an, der in Begleitung Kâlagani's nachgekommen war, und Beide gaben sich den Häuptlingen der


Die Gläubigen stürzten die Tadzias in die Fluthen des Sees. (S. 210)

hervorragendsten Stämme zu erkennen. In den mit diesen eröffneten Verhandlungen wurden die Grundzüge einer allgemeinen Erhebung besprochen und festgestellt. Während Nana Sahib und Balao Rao im Süden operirten, sollten ihre Bundesgenossen auf dem nördlichen Abhange der Vindhyas das Commando [207] führen.

Bevor sie nach dem Nerbuddathale zurückkehrten, wollten die beiden Brüder noch das Königreich Pannah besuchen. Sie begaben sich dahin längs der Keyne, unter dem Dache riesiger Teks, gewaltiger Bambus und unter dem


Plötzlich donnerte ein Schuß durch die Luft. (S. 213.)

[208]

Schutze unzähliger Schlingpflanzen, welche bestimmt scheinen, ganz Indien zu überwuchern. Hier gewannen sie zahlreiche, wilde Anhänger unter dem armseligen Personal, das für den dortigen Rajah die Diamantengruben der Umgegend ausbeutet. »Dieser Rajah, sagt Rousselet, zog, da er einsah, zu welcher Rolle die Herrschaft der Engländer ihn verurtheilte, die eines reichen Grundbesitzers der Rolle eines Schattenfürsten vor. Ein reicher Grundbesitzer war er in der That! Die ihm gehörende Diamantenregion erstreckte sich im Norden von Pannah in einer Länge von dreißig Kilometern hin, und die Bearbeitung [209] seiner Gruben, deren Edelsteine in Benares und Allahabad zu den gesuchtesten zählen, beschäftigte eine große Menge Hindus. Unter diesen Unglücklichen, welche die härtesten Arbeiten auszuführen hatten und die der Rajah einfach köpfen ließ, wenn sich die Ausbeute an Diamanten verminderte, mußte Nana Sahib Tausende von Parteigängern finden, welche entschlossen waren, für die Unabhängigkeit ihres Vaterlandes zu kämpfen und zu sterben – und er fand sie.

Von hier aus begaben sich die beiden Brüder endlich nach der Nerbudda hinab, um sich vorläufig wieder im Pal von Tandit zu verbergen. Bevor der Aufstand nämlich im Süden, gleichzeitig mit dem im Norden losbrechen sollte, gedachten sie erst noch Bhopal aufzuwiegeln. Das ist eine große muselmanische Stadt, die stets der Hauptsitz des Islam in Indien geblieben ist, und deren Begum sich den Engländern während des ganzen großen Aufstandes treu ergeben erwiesen hatte.

In Begleitung von etwa zwölf Gounds kamen Nana Sahib und Balao Rao am 24. Mai in Bhopal, am letzten Tage der Moharum-Feste an, mit denen die Muselmanen Neujahr feiern. Beide trugen die Kostüme der, »Joguis«, einer unheimlichen Bettlersecte, deren Mitglieder lange Dolche mit abgerundeten Klingen bei sich führen, mit denen sie sich in Verzückung schlagen, ohne sich dabei besonders zu verletzen.

Unkenntlich in dieser Kleidung, folgten die beiden Brüder einer Procession durch die Straßen der Stadt, inmitten zahlreicher Elephanten, die auf dem Rücken sogenannte »Tadzias«, das heißt kleine Tempel von zwanzig Fuß Höhe, trugen; sie mischten sich dabei unter die Muselmanen mit reichen goldgestickten Ueberröcken und hohen Musselin-Mützen, und befanden sich dann wieder unter den Musikern des Zuges oder unter Soldaten, Bajaderen, jungen Leuten in weiblicher Tracht – eine bunte Menge, welche der ganzen Ceremonie einen mehr carnevalistischen Anstrich verlieh. Mit den Hindus aller Klassen, unter denen sie viel Getreue zählten, hatten sie dabei unmerkbare, aber den Aufständischen vom Jahre 1857 verständliche Zeichen tauschen können.

Später Abends begab sich die ganze Volksmasse nach dem See, der dicht vor der östlichen Vorstadt liegt.

Unter betäubendem Geschrei, dem Knattern von Feuerwaffen und dem Krachen von Petarden, so wie beim Scheine Tausender von Fackeln stürzten die Gläubigen die Tadzias in die Fluthen des Sees. Die Moharum-Feste fanden damit ihren Abschluß.

[210] Da fühlte Nana Sahib, wie sich eine Hand auf seine Schulter legte. Er drehte sich um. Ein Bengali stand neben ihm.

Nana Sahib erkannte in dem Hindu einen seiner alten Waffengefährten von Laknau. Er blickte den Mann fragend an.

Der Bengali theilte ihm flüsternd das Folgende mit, was Nana Sahib anhörte, ohne seine Erregung auch nur durch eine Miene zu verrathen.

»Der Oberst Munro hat Calcutta verlassen.

– Und wo ist er?

– Er war gestern in Benares.

– Wohin geht er?

– Nach der Grenze von Nepal.

– In welcher Absicht?

– Einige Monate daselbst zu verweilen.

– Und nachher...?

– Nach Bombay zurückzukehren.«

Jetzt erschallte ein leiser Pfiff. Ein Hindu glitt durch die Menge und näherte sich Nana Sahib.

Das war Kâlagani.

»Mach' Dich sofort auf den Weg, befahl diesem der Nabab. Suche Munro auf, der jetzt nach Norden zu unterwegs ist. Schließ' Dich ihm an. Erweise ihm irgend welche Dienste und setze schlimmsten Falles das Leben auf's Spiel, aber weiche nicht von seiner Seite, bevor er jenseits der Vindhyas nach dem Nerbuddathale hinabgezogen ist. Dann, aber erst dann, gieb mir von seinem Aufenthalte Nachricht!«

Kâlagani antwortete nur durch ein bestätigendes Zeichen und verschwand wieder unter der Menge. Ein Wink des Nabab galt ihm als Befehl. Zehn Minuten später hatte er Bhopal schon im Rücken.

Jetzt trat Balao Rao an seinen Bruder heran.

»Es ist Zeit, daß wir aufbrechen.

– Ja wohl, erwiderte Nana Sahib, wir müssen vor Tagesanbruch wieder im Pal von Tandit sein.

– Auf den Weg also!«

Beide folgten nun in Begleitung ihrer Gounds dem nördlichen Ufer des Sees bis zu einer verlassenen Farm. Hier erwarteten sie und ihre Escorte die nöthigen Pferde. Diese gehörten zu der flüchtigen Race, denen man ein sehr [211] gewürzreiches Futter verabreicht und welche fünfzig Meilen in einer Nacht zurücklegen können. Um acht Uhr galoppirten sie auf der Straße von Bhopal nach den Vindhyas hin.

Nur aus Vorsicht wollte der Nabab vor Tage im Pal von Tandit eintreffen, da es jedenfalls gerathener erschien, unbemerkt in das Thal zurückzukehren.

Die kleine Truppe flog also dahin, was die Pferde laufen konnten.

Nana Sahib und Balao Rao sprachen zwar, während sie so nebeneinander ritten, kein Wort, doch erfüllte sie ein und derselbe Gedanke. Von diesem Ausfluge über die Vindhyas brachten sie nicht nur die Hoffnung, nein, die Gewißheit mit heim, daß sich unzählige Anhänger ihrer Sache anschließen würden. Das Hochland von Central-Indien war vollständig in ihrer Hand. Die auf den weiten Gebieten zerstreuten schwachen Militär-Cantonnements konnten unmöglich dem ersten Anprall der Empörer Widerstand leisten. Mit ihrer Vernichtung gewann der Aufstand freien Raum, und bald mußte sich dann von einer Küste zur anderen eine Mauer fanatischer Hindus erheben, an der die königliche Armee voraussichtlich zerschellte.

Gleichzeitig dachte Nana Sahib aber auch an den glücklichen Zufall, der ihm Munro in den Weg führte. Endlich hatte der Oberst Calcutta, wo ihm nur schwer beizukommen war, einmal verlassen. In der nächsten Zeit konnte ihm keine seiner Bewegungen entgehen. Ohne daß er sich dessen versah, würde ihn Kâlagani's Hand ja nach den wildesten Berggegenden der Vindhyas leiten, und dort konnte ihn nichts mehr vor der Rache retten, die Nana Sahib noch immer gegen ihn hegte.

Balao Rao wußte von der Unterredung seines Bruders mit jenem Bengali kein Wort. Erst nahe dem Aufgange zu dem Pal von Tandit, als man die Pferde kurze Zeit verschnaufen ließ, machte ihm Nana Sahib eine kurze Mittheilung darüber.

»Munro hat Calcutta verlassen und begiebt sich nach Bombay.

– Die Straße nach Bombay führt bis zum Strande des indischen Oceans!

– Die Straße nach Bombay, entgegnete Nana Sahib mit eigenthümlichem Tone, reicht diesesmal nur bis zu den Vindhyas!«

Diese Antwort sagte Alles.

Die Gesellschaft stieg wieder zu Pferde und verschwand in dem Baumdickicht vor dem Ufer der Nerbudda.

[212] Es war jetzt fünf Uhr Morgens. Schon graute der Tag. Nana Sahib, Balao Rao und ihre Genossen kamen eben an dem Wildbett der Nazzur an, das den Weg nach dem Pal hinauf bildet.

An diesem Punkte ließ man die Pferde unter der Aufsicht zweier Gounds zurück, die sie nach dem nächsten Dorfe führen sollten.

Die Uebrigen folgten den beiden Brüdern und Alle kletterten die unter dem Wasser des Bergbaches erzitternden Stufen hinan.

Ringsum war es still. Noch unterbrach das Geräusch des Tages nicht die Stille der Nacht.

Plötzlich donnerte ein Schuß durch die Luft, dem mehrere andere nachfolgten. Gleichzeitig hörte man von oben ein dreifaches Hurrah!

Ein Officier, der einen Trupp von fünfzig Soldaten führte, erschien neben dem Pal.

»Feuer! Daß Keiner entkomme!« rief er noch einmal.

Sofort erfolgte eine neue Salve, welche aus nächster Nähe auf die Nana Sahib und seinen Bruder umgebenden Gounds abgegeben wurde.

Fünf oder sechs Hindus fielen; die Uebrigen sprangen in das Bett des Nazzur zurück und verschwanden im Walde.

»Nana Sahib! Nana Sahib!« riefen die Engländer, während sie in die enge Schlucht hinabdrangen.

Da erhob ein zu Tode Getroffener noch einmal die Hand gegen sie.

»Tod und Verderben den Eroberern!« preßte er mit schrecklicher Stimme noch hervor und fiel bewegungslos zurück.

Der Officier trat an den Leichnam heran.

»Ist das etwa Nana Sahib? fragte er.

– Ja, er ist es, antworteten zwei Soldaten des Detachements, die den Nabab von ihrem Aufenthalte in Khanpur her genau kannten.

– Nun, dann auf die Anderen!« commandirte der Officier. Die ganze Abtheilung eilte in den Wald zur Verfolgung der Gounds.

Kaum waren Alle verschwunden, als ein Schatten geräuschlos den Abhang vom Pal herunterglitt.

Es war die wandelnde Flamme, eingehüllt in ein langes Stück braunen Stoffes, den ein Strick um die Hüften zusammenhielt.

Am Vorabend hatte die Wahnsinnige unbewußt den Officier und seine Leute hierher geführt. Kaum in das Thal zurückgekehrt, suchte sie ganz willenlos [213] den Pal von Tandit auf, nach dem eine Art Instinct sie hinzog. Diesmal aber ließ das sonderbare Wesen, das man sonst für stumm hielt, einen Namen über die Lippen gleiten, nur den einen des Massenmörders von Khanpur!

»Nana Sahib! Nana Sahib!« wiederholte sie immer, als ob das Bild des Nabab durch eine unerklärliche Ahnung wieder vor ihre Seele getreten wäre.

Dieser Name erregte die Aufmerksamkeit des Officiers im höchsten Grade. Er folgte der Wahnsinnigen auf dem Fuße. Sollte hier der Nabab sich versteckt halten, auf dessen Kopf ein Preis ausgesetzt worden war?

Der Officier traf die geeigneten Maßregeln und ließ das Bett des Nazzur bis zum Anbruch des Tages bewachen. Als Nana Sahib und die Gounds dasselbe betreten hatten, empfing er sie mit einer Salve, welche mehrere zu Boden streckte und unter diesen den Anführer des Aufstandes der Sipahis.

Der Art war das Zusammentreffen, welches der Telegraph noch am nämlichen Tage dem Gouverneur der Präsidentschaft Bombay meldete. Die Nachricht verbreitete sich blitzschnell über die ganze Halbinsel, und so konnte sie Oberst Munro am 26. Mai aus der Zeitung von Allahabad erfahren.

Diesesmal war an dem Tode Nana Sahib's nicht zu zweifeln. Seine Identität wurde ja festgestellt und das Journal brachte die Worte:

»Das indische Reich hat für die Zukunft nichts mehr zu fürchten von dem unmenschlichen Rajah, der ihm so viel Blut gekostet hat!«

Nachdem die Wahnsinnige den Pal verlassen, stieg auch sie in dem Bette des Nazzur herab. Aus ihren unstäten Augen leuchtete es wie ein inneres Feuer, das plötzlich aufgeflammt schien, und ihre Lippen murmelten den Namen des Nabab.

So kam sie nach der Stelle, wo die Leichen lagen, und stand vor der still, welche die Soldaten von Khanpur erkannt hatten. Das Gesicht des Todten hatte noch einen drohenden Ausdruck.

Die Wahnsinnige kniete nieder und legte ihre Hand auf den von Kugeln durchbohrten Körper, dessen Blut die Falten ihrer Hülle befleckte. Sie sah ihn lange stier an, erhob sich, mit dem Kopfe schüttelnd, und stieg langsam das Bett des Nazzur hinab. Dann versank die wandelnde Flamme wieder in ihre gewohnte Theilnamlosigkeit, und der Name des von Allen verwünschten Nana Sahib kam nicht mehr über ihre Lippen.


Ende des ersten Bandes. [214]

2. Band

1. Capitel
Erstes Capitel.
Unser Sanatorium.

»Die Unmeßbaren der Schöpfung!« – Sollte dieser stolze Name, den der Mineralog Hauy zur Kennzeichnung der amerikanischen Anden gebrauchte, nicht mit noch mehr Berechtigung Anwendung finden können auf die ausgedehnte Himalayakette, welche der Mensch heute noch nicht mit mathematischer Sicherheit zu messen im Stande ist?

Dieser Gedanke erfüllte mich beim Anblick jener großartigen Hochgebirgsnatur, in der Oberst Munro, Kapitän Hod, Banks und ich mehrere Wochen zubringen sollten.

»Diese Bergriesen sind nicht allein unmeßbar, erklärte uns der Ingenieur, sondern ihre Gipfel dürfen auch als unersteigbar gelten, da der menschliche Organismus in solchen Höhen nicht mehr zu functioniren vermag, wo die Dichtigkeit der Luft zu gering ist, um dem Athembedürfnisse zu genügen!«

Ein zweitausendfünfhundert Kilometer langer Wall von Urgebirgsformationen, wie Granit, Gneis und Glimmerschiefer, der vom zweiundsiebenzigsten bis zum fünfundneunzigsten Meridian reicht und zwei Präsidentschaften, Agra und Calcutta, nebst zwei Königreichen, Bouthan und Nepal, theilweise bedeckt; –


Die wandelnde Flamme kniete nieder. (S. 214.)

eine Kette, an der sich bei ihrer, den Gipfel des Montblanc um ein Drittel übersteigenden Höhe drei verschiedene Zonen erkennen lassen, die erste von fünftausend Fuß und einem gemäßigteren Klima als dem der vorgelagerten Ebenen, welche im Winter eine Roggen-, im Sommer eine Maisernte liefert; die zweite von fünf- bis neuntausend Fuß, wo der Schnee schon schmilzt, wenn der Frühling einzieht; die dritte von neun- bis fünfundzwanzigtausend Fuß Höhe und[215] mit dickem Eise bedeckt, das selbst in der heißen Jahreszeit der Sonnenstrahlen spottet; – in dieser großartigen Anschwellung der Erdkugel elf Pässe, von denen einige das Gebirge in einer Höhe von zwanzigtausend Fuß durchbrechen und durch die man, wegen der immerfort drohenden Lawinen, der Zerstörung durch Bergströme und wegen des Vordringens gewaltiger Gletschermassen nur unter großen Beschwerden nach Tibet gelangen kann; über diesem Kamme, einmal oben abgerundet zu mächtigen Kuppeln, ein andermal glatt wie der Tafelberg am Cap der Guten Hoffnung, sieben bis acht theilweise vulkanische [216] Einzelberge, welche die Quellen der Cogra, Djumma und des Ganges beherrschen, wie der Doukia und der Kintchindjinga, die über siebentausend Meter emporsteigen, der Dhiodounga mit achttausend Meter, der Dhawalagiri mit achttausendfünfhundert, der Tchamoulari mit achttausendsiebenhundert Meter Höhe; der Mount Everest, der seinen Gipfel sogar bis neuntausend Meter emporsendet, und von welchem aus das Auge des Beobachters ein Ländergebiet so groß wie ganz Frankreich müßte überblicken können; eine Aufhäufung von Bergmassen, welche die Alpen, wenn man sie auf die Alpen, die Pyrenäen, wenn man sie [217] auf die Anden thürmte, in der Höhenscala der Erdkugel nicht übertreffen würden – das ist die kolossale Bodenerhebung, deren äußerste Gipfel auch der Fuß des verwegensten Bergsteigers niemals betreten wird, und die man die Himalayakette nennt!


Die ersten Stufen sind dicht bewaldet. (S. 218.)

Die ersten Stufen dieser gigantischen Propyläen sind in großen Strecken dicht bewaldet. Hier findet man verschiedene Vertreter aus der reichen Familie der Palmen, die in höheren Zonen endlosen Wäldern von Eichen, Cypressen und Pinien oder üppigen Bambusdickichten und hohen Gräsern Platz machen.

Banks, der uns hierüber belehrte, erwähnte auch, daß die Grenze des ewigen Schnees am indischen Abhange des Gebirges bis auf viertausend Meter herabreiche, sich am tibetanischen aber bis sechstausend Meter über dem Meere zurückziehe. Es kommt das daher, daß die vom Südwinde herzugeführten Dunstmassen von dem ungeheueren Walle aufgehalten werden. Deshalb sind auf der anderen Seite von Gerstenfeldern und herrlichen Wiesen umgebene Dörfer noch in fünfzehntausend Fuß Höhe anzutreffen. Wenn man den Eingebornen glauben darf, reicht dort schon eine einzige Nacht hin, die Weideplätze mit einem grünen Teppiche zu überziehen.

In der mittleren Zone repräsentiren Pfauen, Rebhühner, Fasanen, Trappen und Wachteln die befiederte Welt. Ziegen giebt es in Ueberfluß, von Schafen wimmelt es überall. In der oberen Zone findet man nur noch den Eber, die Gemse nebst der wilden Katze, und einsam zieht der Adler seine weiten Kreise hoch über der dürftigen Pflanzenwelt, der schwach besetzten Musterkarte einer arktischen Flora.

Bis dahin zog Kapitän Hod seine Sehnsucht freilich gar nicht. Weshalb hätte dieser Nimrod den Himalaya aufsuchen sollen, wenn er auch hier nur das gewöhnliche Tafelwild hätte jagen können? Zum Glück sollte es aber an großen Raubthieren, die seiner Enfieldbüchse und seiner Explosionsgeschosse würdig waren, gewiß nicht fehlen.

Am Fuße der ersten Abhänge der Bergkette hin erstreckt sich nämlich eine tiefere Zone, von den Hindus der Gürtel von Tarryani genannt. Es ist das eine lange, geneigte, sechs bis acht Kilometer breite, feuchtwarme Ebene mit düsterer Vegetation und dichten Wäldern, in welchen reißende Thiere mit Vorliebe hausen.

Ueber diesem Paradiese eines Jägers, der die nervenerschütternde Aufregung des Kampfes liebt, befand sich nur fünfzehnhundert Meter höher der [218] von uns gewählte Halteplatz. Es war also leicht genug, nach diesem Jagdreviere, das unter Niemandes Aufsicht stand, hinunter zu gehen.

Aller Aussicht nach durfte man annehmen, daß Kapitän Hod lieber die unteren Stufen des Himalaya als dessen obere Zonen aufsuchen werde. Hier harrten übrigens nach Aussage aller Reisenden, darunter auch des humorvollen Victor Jacquemont, noch viele geographische Räthsel ihrer endlichen Lösung.

»Man kennt also diese riesenhafte Bergkette noch immer nur unvollkommen? fragte ich Banks.

– Sehr unvollkommen, antwortete der Ingenieur. Der Himalaya gleicht einem kleinen Planeten, der sich unserer Erdkugel zwar angeschlossen hat, aber seine Geheimnisse bewahrt.

– Doch ist er bereist, erwiderte ich, und durchforscht, soweit das möglich war!

– Gewiß! An Himalaya-Reisenden hat es nie gefehlt, bestätigte Banks. Die Brüder Gérard, Webb, die Officiere Kirpatrik und Fraser, Hogdson, Herbert, Lloyd, Hooker, Cunningham, Strabing, Skinner, Johnson, Moorcroft, Thomson, Griffith, Vigne, Hügel, die Missionäre Huc und Gabet, neuerdings die Gebrüder Schlagintweit, Oberst Wangh und die Lieutenants Reuillier und Montgommery haben durch ausgezeichnete Arbeiten die orographische Anordnung dieses Rückens der Erde in weitem Umfange kennen gelehrt. Trotz alledem bleibt noch gar Vieles zu wünschen übrig. Die genaue Höhe der hervorragendsten Bergspitzen hat unzählige Berichtigungen erfahren. So galt z. B. früher der Dhawalagiri für den König der ganzen Kette; nach späteren Messungen mußte er diesen Ehrenplatz dem Kintchindjinga abtreten, der seinerseits wieder durch den Mount Everest entthront werden zu sollen scheint. Bisher übertrifft der letztere alle seine Rivalen. Indessen würde nach Aussage der Chinesen der Kouin-Lun – der freilich mit den präcisen Instrumenten der europäischen Geometer noch nicht gemessen wurde – den Mount Everest noch um eine Kleinigkeit überragen, und der höchste Punkt unserer Erde wäre demnach überhaupt nicht im Himalaya zu suchen. Jene Messungen können übrigens erst dann als mathematisch sicher gelten, wenn ihnen Barometer-Beobachtungen zugrunde liegen und dabei alle, für solche directe Messungen unerläßliche Vorsichtsmaßregeln beachtet wurden. Wie kann man aber dazu gelangen, ein Barometer nach jenen fast unersteigbaren Gipfeln zu schaffen? Das ist bisher eben noch nicht geschehen.

[219] – Es wird aber dazu kommen, ließ Kapitän Hod sich vernehmen, ebenso wie man noch Reisen bis zum Nord- und zum Südpol ausführen wird.

– Ganz ohne Zweifel!

– Wie eine Reise bis in die unergründeten Tiefen des Oceans!

– Gewiß, gewiß!

– Eine solche nach dem Mittelpunkte der Erde!

– Bravo, Hod!

– Wie überhaupt Alles noch einmal gelingen wird, fügte ich hinzu.

– Selbst die Fahrt nach einem beliebigen Planeten unseres Sonnensystems! fuhr Hod fort, der in solchen Phantasien nicht so leicht ein Ende fand.

– Nein, Kapitän, erwiderte ich. Der Mensch als einfacher Bewohner der Erde wird niemals im Stande sein, deren Grenzen zu überschreiten. Doch wenn er auch an ihrer Rinde festgenietet ist, so vermag er doch alle Geheimnisse derselben zu ergründen.

– Er kann das nicht nur, es ist sogar seine Pflicht! fiel Banks ein. Alles was innerhalb der Grenzen der Möglichkeit liegt, wird und muß erreicht werden. Nachher, wenn der Mensch auf der von ihm bewohnten Kugel nichts mehr zu lernen hat, dann...

– Dann verschwindet er sammt dem Sphäroïd, das für ihn keine Geheimnisse mehr hat, vollendete Hod den Satz.

– Mit nichten! entgegnete Banks..., dann herrscht er über dasselbe und nutzt es ganz zu seinem Vortheile aus. Da wir uns aber gerade im Himalayagebiete befinden, will ich Ihnen, lieber Hod, Gelegenheit zu einer merkwürdigen Entdeckung bieten, die Sie vielleicht interessirt.

– Was meinen Sie, Banks?

– In seinem Reiseberichte erwähnt der Missionär Huc eines sonderbaren Baumes, der in Tibet ganz allgemein »der Baum der zehntausend Bilder« genannt wird. Der Hindu-Legende nach soll nämlich Tong Kabac, der Reformator der buddhistischen Religion, schon einige Tausend Jahre früher in einen Baum verwandelt worden sein, ehe Philemon, Baucis und Daphne, jene merkwürdigen Pflanzenwesen der mythologischen Flora, dasselbe Schicksal ereilte. Der Haarschmuck Tong Kabac's soll damals zur Laubkrone jenes heiligen Baumes geworden sein und auf seinen Blättern sollen sich, der Missionär behauptet das gesehen – mit eigenen Augen gesehen – zu haben, von den Blattnerven gebildete tibetanische Schriftzüge vorfinden.

[220] – Ein Baum also, dem gleich gedruckte Blätter entsprießen! rief ich.

– Ja, und von denen man Sprüche der reinsten, höchsten Moral ablesen kann, fügte der Ingenieur hinzu.

– Das lohnt der Mühe einer Untersuchung, sagte ich lachend.

– Suchen Sie darüber Gewißheit zu erlangen, meine Freunde, meinte Banks. Wenn solche Bäume im südlichen Theile Tibets vorkommen, so müssen sie auch in der oberen Zone, auf dem Abhange des Himalaya zu finden sein. Also haben Sie bei unseren Ausflügen ein Auge darauf, diesen... ja, wie soll ich sagen... diesen »Sittenlehrer« zu entdecken.

– Nein, daran denke ich nicht! erwiderte Hod. Ich bin hier, um zu jagen, und habe keinen Nutzen vom Bergklettern.

– Aber, Freund Hod, entgegnete Banks, ein so kühner Bergsteiger wie Sie wird doch wenigstens einmal den Gebirgskamm erklimmen?

– Niemals! erklärte der Kapitän bestimmt.

– Und warum?

– Ich habe auf alle Bergfahrten verzichtet!

– Und seit wann?

– Seit dem Tage, antwortete Kapitän Hod, da ich, immer in Lebensgefahr schwebend, unter größter Anstrengung den Gipfel des Vrigel im Königreiche Bouthan erklomm. Man hatte mir versichert, daß noch keines Menschen Fuß diese Spitze betreten habe. Das stachelte meine Eigenliebe an! Unter tausend Gefahren gelange ich nach dem First, was finde ich aber da in einem Felsblock eingemeißelt?... »Durand, Zahnarzt, Rue Caumartin 14, Paris!« – Seitdem klettere ich nicht mehr!«

Armer Kapitän! Ich muß indeß gestehen, daß Hod die Erzählung dieser fatalen Enttäuschung mit so lustiger Geberde zum Besten gab, daß wir nicht umhin konnten, aus vollem Herzen zu lachen.

Ich erwähnte wiederholt der »Sanatorien« der Halbinsel. Diese in den Bergen gelegenen Gesundheitsstationen werden während des Sommers, wo die brennende Hundstagssonne der Ebenen Indien zu verzehren droht, von Rentiers, Beamten und Kaufleuten vielfach aufgesucht.

In erster Linie ist hier Simla zu nennen, das unter dem einunddreißigsten Breitengrade westlich vom fünfundsechzigsten Meridian liegt. Es ist das wirklich ein Stückchen Schweiz mit Wasserfällen und Gebirgsbächen und den im Schatten von Cedern und Pinien verstreuten Sennhütten, zweitausend Meter über dem [221] Meere. Nach Simla nenne ich Dordjiling mit seinen weißen Häusern, überragt vom Kintchindjinga, etwa fünfhundert Kilometer von Calcutta und in einer Höhe von zweitausenddreihundert Metern, nahe dem sechsundachtzigsten Längen- und dem siebenundzwanzigsten Breitengrade – ein herrliches Plätzchen im schönsten Lande der Welt.

An verschiedenen Punkten der Himalayakette finden sich noch andere Sanatorien.

Jetzt tritt nun zu diesen frischen, gesunden Stationen, welche das brennende Klima Indiens unentbehrlich macht, noch unser Steam-House hinzu. Doch das gehört uns ganz allein. Es bietet allen Comfort der luxuriösesten Wohnungen der Halbinsel; hier finden wir in einer glücklichen Zone neben allen Erfordernissen des modernen Lebens eine Ruhe, die man in Simla oder Dordjiling, wo sich Anglo-Indier in großer Zahl aufhalten, vergeblich suchen würde.

Unsere Niederlassung ist mit gutem Vorbedacht ausgewählt. Die nach dem unteren Theile des Gebirges führende Straße theilt sich hier in zwei Aeste, um einige im Osten und Westen verstreute Dörfer zu verbinden. Das nächste derselben liegt gegen fünf Meilen vom Steam-House entfernt. Bevölkert ist dasselbe von biederen Bergbewohnern, welche Ziegen und Schafe züchten und ergiebige Korn- und Gerstenfelder besitzen.

Bei unserem zahlreichen Personal bedurfte es unter Banks' Leitung nur weniger Stunden, um ein Lager zu organisiren, in dem wir sechs bis sieben Wochen verweilen wollten.

Einer der Vorberge jener vielgliedrigen Nebenketten, welche den ungeheueren Kamm des Himalaya stützen, bot uns ein leicht wellenförmiges, etwa eine Meile langes und eine halbe Meile breites Plateau dazu dar. Der grüne Teppich, der dasselbe bedeckt, gleicht einem weichen Sammetgewebe aus kurzem, dichtem, sozusagen plüschartigem Grase mit duftenden Veilchen durchstickt. Baumähnliche Rhododendrons in der Größe kleiner Eichen, natürliche Blumenkörbe voller Camelien erhöhen den Liebreiz des anmuthigen Bildes. Hier bedarf die Natur nicht der fleißigen Arbeiter von Ispahan oder Smyrna, um diesen Teppich aus feiner vegetabilischer Wolle herzustellen. Einige tausend Samenkörner, die der Südwind diesem fruchtbaren Boden zuführt, ein wenig Wasser und ein wenig Sonne reichen hin, jenes weiche und unverwüstliche Gewebe zu bilden.

Auf dem Plateau erhebt sich ein Dutzend prächtiger Bäume. Es sieht aus, als hätten diese sich als Irreguläre von dem endlosen Walde abgesondert, [222] der die Seiten des Vorberges bedeckt und auf den Nachbargebirgen noch sechshundert Meter emporsteigt. Cedern, Eichen, langblättrige Pandanen, Buchen, Ahorn- und Johannisbrotbäume grünen hier mitten unter Bananen, Bambus, Magnolien und japanischen Feigenbäumen. Einzelne dieser Riesen streben mit ihren äußersten Zweigen über hundert Fuß von der Erde empor. Sie scheinen wirklich dazu geschaffen, eine Waldwohnung zu beschatten. Das Steam-House dient gewissermaßen zur Vervollständigung der Landschaft. Die runden Dächer seiner zwei Pagoden vermählen sich glücklich mit all' diesem grünen Gezweig, den starren oder biegsamen Aesten und den Blättern, welche einmal klein und zart sind wie Schmetterlingsflügel und dann wieder breit und lang wie polynesische Pagaien. Unsere fahrbaren Häuser verschwinden fast ganz unter einem Dickicht von Laubwerk und Blumen. Nichts giebt Kunde von ihrer besonderen Eigenschaft; sie erscheinen vielmehr wie eine festbegründete Wohnstätte, die ihre Stelle nicht mehr wechseln soll.

Hinter uns rauscht zur rechten Seite des Bildes über den Abhang des Vorberges ein Wildbach, dessen gewundenes Silberband wir über tausend Fuß hinauf verfolgen können, und stürzt sich in ein natürliches Becken, das eine Gruppe schöner Bäume beschattet.

Aus dem Becken fließt dann quer durch das Wiesenland ein Bach ab, der in einem rauschenden Wasserfall endigt und als solcher in eine, mit dem Auge nicht zu ermessende Tiefe hinabstürzt.

So liegt das Steam-House ebenso bequem für das häusliche Leben, wie es eine wahrhaft entzückende Augenweide bietet.

Geht man nach dem vorderen Rande des Plateaus, so gewahrt man, daß jenes viele andere, minder bedeutende Bergrücken überragt, welche in gigantischen Stufen bis zur Ebene hinabreichen. Der Hintergrund ist gerade entfernt genug, um ihn mit dem Blicke umfassen zu können.

Rechts steht unser erster Wagen so in schiefer Richtung, daß man den südlichen Horizont ebenso von dem Balkon der Veranda, wie von den Seitenfenstern des Salons, von denen des Speisezimmers und von den Cabinen der linken Seite übersehen kann. Große Cedern ragen darüber empor und heben sich deutlich von dem entfernten Hintergrunde der großen Bergkette ab, welche unter ewigem Schnee begraben liegt. Zur linken Hand lehnt sich der zweite Wagen an die Wand eines gewaltigen, von der Sonne vergoldeten Granitfelsens. Sowohl durch seine bizarre Form wie durch seinen warmen Farbenton [223] erinnert dieser Felsen lebhaft an jene riesigen »Plum-Puddings«, welche Russel Kilough in seiner Reise durch das südliche Indien erwähnt. Von dieser, Mac Neil und dem übrigen Personal überlassenen Wohnung sieht man nur eine Seite. Sie steht etwa zwanzig Schritte von der Hauptwohnung entfernt, wie das Nebengebäude einer bedeutenden Pagode.


Unsere Niederlassung ist mit gutem Vorbedacht ausgewählt. (S. 222.)

Am Ende eines der Dächer, welche dieselbe überwölben, erhebt sich ein seiner Streifen bläulichen Rauches aus dem Küchenlaboratorium des Monsieur Parazard. Weiter nach links hin bedeckt eine, von dem Walde kaum getrennte Baumgruppe den westlichen Rand


»Fox, diesmal keine Mißgriffe!« (S. 228.)

und bildet gleichsam die Seitencoulissen der Landschaft. Im Rücken und zwischen den beiden Wohnungen erhebt sich ein riesenhafter Mastodon. Es ist unser Stahlriese, der unter die Laubwölbung großer Pandanen gestellt ist. Mit seinem erhobenen Rüssel [224] scheint er die oberen Zweige derselben »abzunagen«. Aber er steht jetzt still. Er ruht aus, obwohl er der Ruhe nicht bedarf. Jetzt dient er als furchtloser Wächter des Steam-Houses, wie ein ungeheures antediluvianisches Geschöpf, und vertheidigt an der Straße, welche er selbst emporklomm, den Zugang zu unserem beweglichen Weiler.

[225] So kolossal unser Elephant auch erscheint – wenigstens so lange man nicht an die himmelhohe Bergkette denkt, welche sich sechstausend Meter über das Plateau erhebt – so gleicht er doch fast gar nicht mehr jenem künstlichen Riesen, mit dem Banks' geschickte Hand die indische Fauna beschenkte.

»Eine Mücke auf der Façade einer Kathedrale!« sagte Kapitän Hod mit einem gewissen Aerger.

Der Vergleich war nur zu passend. Dahinter ragte nämlich ein Granitblock empor, aus dem man bequem tausend Elephanten von der Größe des unserigen hätte meißeln können, und dieser Block bildete nur einen Absatz, eine der hundert Stufen jener Treppe, die nach dem Kamm des Gebirges hinausführt und die der Dhawalagiri mit seinem spitzen Gipfel bekrönt.

Manchmal senkt sich der Himmel über diesem Bilde nach dem Beobachter herab. Nicht allein die höchsten Bergspitzen, sondern auch der mittlere Kamm verschwindet zeitweilig. Es rührt das von dichten Dunstmassen her, welche sich in der mittleren Zone des Himalaya verbreiten und den ganzen unteren Theil desselben verhüllen. Die Landschaft schrumpft gewissermaßen zusammen, und dann erst scheinen, wie durch optische Täuschung, die Wohnstätten, Bäume, die benachbarten Berge und auch der Stahlriese selbst ihre natürliche Größe wieder zu gewinnen.

Es kommt zuweilen auch vor, daß niedriger stehende Wolken von gewissen feuchten Winden gejagt, noch unterhalb unseres Plateaus hinziehen. Dann erblickt das Auge nichts als ein schäumendes Meer, auf dessen bewegter Fläche die Sonne wunderbare Farbenspiele hervorzaubert. Nach oben und nach unten verschwindet der Horizont und es scheint, als wären wir in irgend eine, außerhalb der Grenze des Erdballes liegende Luftregion versetzt.

Da schlägt der Wind um; eine durch die Lücken der Bergkette dringende nördliche Brise fegt die Nebel weg, das Dunstmeer condensirt sich fast augenblicklich, die Ebene weicht bis zum südlichen Horizont zurück, das prächtige Profil des Himalaya zeichnet sich wieder an dem gereinigten Grunde des Himmels ab, der Rahmen des Bildes nimmt seine normale Größe an, und der entzückte Blick, den kein Hinderniß einengt, umfaßt alle Einzelheiten eines Panoramas von sechzig Meilen Durchmesser.

[226]
2. Capitel
Zweites Capitel.
Mathias Van Guitt.

Am nächsten Morgen, dem 26. Juni, weckte mich das Geräusch wohlbekannter Stimmen. Ich sprang auf. Kapitän Hod und sein Diener Fox waren im Speisezimmer in lebhafter Unterhaltung begriffen. Ich gesellte mich zu ihnen.

Gleichzeitig hatte Banks sein Zimmerchen verlassen und der Kapitän redete ihn mit volltönender Stimme an.

»Nun, Freund Banks, da wären wir ja endlich in dem ersehnten Hafen! Hier wird nun Rast gemacht! Es handelt sich nicht mehr um einen Aufenthalt von mehreren Stunden, sondern von einigen Monaten.

– Gewiß, lieber Hod, antwortete der Ingenieur, und nun können Sie auch nach Belieben jagen. Die Pfeife des Stahlriesen wird Sie nicht mehr nach dem Lagerplatz zurückrufen.

– Hörst Du, Fox?

– Gewiß, Herr Kapitän, bestätigte der Diener.

– Nun sei mir der Himmel günstig, rief Hod, das Sanatorium des Steam-Houses verlasse ich aber nicht eher, als bis der Fünfzigste von meiner Büchse gefallen ist! Der Fünfzigste, Fox! Es scheint mir nur, als werde es mit dem Fünfzigsten so seine Schwierigkeiten haben!

– Wir werden sie zu besiegen wissen, bemerkte Fox.

– Weshalb glauben Sie das, Kapitän Hod, fragte ich.

– O, Maucler, das ist so eine Ahnung..... Eine Jägerahnung, weiter nichts!

– So werden Sie also, sagte Banks, schon von heute an von hier ausziehen und den Feldzug eröffnen?

– Von heute an, erwiderte Hod. Wir werden damit beginnen, das Terrain zu recognosciren und die untere Zone bis zu den Wäldern von Tarryani abzusuchen – vorausgesetzt, daß die Tiger ihre alte Heimat nicht aufgegeben haben...

– Wie können Sie das glauben?...

– Ah, mein bekanntes Pech!

[227] – Bekanntes Pech!... Am Himalaya!... versetzte der Ingenieur, wäre das möglich?

– Nun, wir werden ja sehen! Sie begleiten uns doch, Maucler? fragte Kapitän Hod, sich an mich wendend.

– Ei, gewiß!

– Und Sie, Banks?

– Ich ebenfalls, antwortete der Ingenieur, und ich hoffe sogar, daß auch Munro sich so wie ich, das heißt mehr als Dilettant, Ihnen anschließen wird.

– Oho, entgegnete Kapitän Hod, als Dilettant! Nun, meinetwegen, aber als wohlbewaffneter Dilettant. Hier ist nicht die Rede davon, mit dem Stocke in der Hand spazieren zu gehen. Das wäre eine Beleidigung für die Raubthiere von Tarryani!

– Einverstanden! antwortete der Ingenieur.

– Also, Fox, fuhr der Kapitän, sich an seinen Diener wendend, fort, diesmal keine Mißgriffe! Wir sind im Lande der Tiger! Vier Enfieldbüchsen für den Oberst, für Banks, Maucler und mich, und zwei Gewehre mit explodirenden Geschoffen für Dich und Goûmi.

– Seien Sie ohne Sorgen, Herr Kapitän, versicherte Fox. Das Wild soll sich nicht zu beklagen haben!«

Dieser Tag sollte also der Erforschung jenes Waldes von Tarryani gewidmet werden, der, noch unterhalb unseres Sanatoriums, den Fuß des Himalaya bedeckt. Nach eingenommenem Frühstück, gegen elf Uhr, stiegen wir, Sir Edward Munro, Banks, Hod, Fox, Goûmi und ich, die schräg nach der Ebene hinabfallende Straße hinunter, ließen aber die beiden Hunde zurück, die uns heute nichts nützen konnten.

Der Sergeant Mac Neil, Storr, Kâlouth und der Koch blieben gleichfalls im Steam-House, um unsere Einrichtung zu vollenden. Nach zweimonatlicher Frist mußte auch der Stahlriese innerlich und äußerlich untersucht, gereinigt und in Stand gesetzt werden. Das erforderte eine lange, sorgsame und ausdauernde Arbeit, bei der seine gewöhnlichen Cornacs, der Heizer und der Maschinist, nicht viel feiern konnten.

Um elf Uhr hatten wir das Sanatorium verlassen, und wenige Minuten später, bei der ersten Wendung des Weges, verschwand das Steam-House unseren Blicken hinter einem dichten Baumvorhang.

[228] Es regnete nicht mehr.

Unter dem Antrieb eines frischen Nordostwindes jagten die in den oberen Schichten der Atmosphäre treibenden, zerrissenen Wolken mit großer Schnelligkeit dahin. Der Himalaya war gran – die Temperatur für Fußgänger wie geschaffen; freilich fehlten jetzt auch jene reizenden Spiele des wechselnden Lichtes und Schattens, welche große Wälder sonst zu bieten pflegen.

Zweitausend Meter auf directem Wege hinabzusteigen, das wäre eine Sache von fünfundzwanzig bis dreißig Minuten gewesen, wenn die vielen Windungen, welche die Steilheit der Abhänge nöthig machte, nicht den Weg bedeutend verlängert hätten. So brauchten wir nicht weniger als anderthalb Stunden, um die obere Grenze der Wälder von Tarryani, fünf-bis sechstausend Fuß über der Ebene zu erreichen. Doch legten wir den Weg in fröhlichster Laune zurück.

»Achtung, rief der Kapitän Hod. Jetzt betreten wir das Gebiet der Tiger, Löwen, Panther, Guepards und anderer wohlthätiger Bewohner der Himalaya-Region. Es ist zwar ganz schön, die wilden Thiere zu besiegen, aber noch besser, nicht von ihnen besiegt zu werden! Halten wir uns demnach hübsch beieinander und lassen wir der klugen Vorsicht ihr Recht!«

Eine derartige Empfehlung aus dem Munde eines so unerschrockenen Jägers verdiente gewiß alle Beachtung. Jeder von uns schrieb sich dieselbe hinter das Ohr. Die Büchsen und Flinten wurden geladen, die Schlösser nachgesehen, die Hähne in Sicherheit gesetzt. Wir waren auf Alles vorbereitet.

Ich bemerke hierzu noch, daß man sich nicht nur vor reißenden Thieren, sondern auch vor Schlangen hüten mußte, von denen in den Wäldern Indiens die gefährlichsten Arten vorkommen. Die »Belongas«, die grünen, die Peitschen schlangen nebst manchen anderen sind außerordentlich giftig. Die Zahl der Opfer, welche jährlich dem Bisse jener Reptilien unterliegen, übersteigt fünf- bis sechsmal die der Hausthiere und Menschen, welche durch die Zähne der Raubthiere umkommen.

Im Gebiete von Tarryani erforderte es also die einfache Klugheit, das Auge überall zu haben, aufzumerken, wohin man den Fuß setzte, worauf man die Hand stützte, auf das leiseste Geräusch zu achten, das aus dem Grase kam oder sich durch das Gebüsch verbreitete.

Um halb ein Uhr gelangten wir unter das Laubdach mehrerer, am Waldessaume dicht zusammenstehender Bäume. Ihr hohes Geäst verstrickte sich über einigen breiteren Wegen, welche der Stahlriese bequem hätte passiren können.

[229] Durch diesen Theil des Waldes beförderten die Bergbewohner schon seit langer Zeit das geschlagene Holz; auch letzt zeigte der weiche Thonboden ziemlich frische Wagenspuren. Diese Hauptstraßen verliefen in der Richtung der Bergkette, reichten der Länge nach durch ganz Tarryani und verknüpften die Lichtungen, welche die Axt der Holzschläger hier und da geschaffen hatte; auf beiden Seiten mündeten ferner schmale Fußsteige aus, die sich in dem undurchdringlichen Dickicht verloren.

Wir folgten also diesen Alleestraßen, mehr als Feldmesser denn als Jäger, da es uns zunächst darum zu thun war, deren Lage und Verlauf kennen zu lernen. Kein Geheul unterbrach das Schweigen des tiefen Waldes. Breite, offenbar noch ganz frische Fährten bewiesen jedoch, daß die Raubthiere Tarryani keineswegs verlassen hatten.

Plötzlich, eben als wir um eine Ecke der Allee bogen, welche vor einem scharf vorspringenden Berge etwas nach rechts ausbog, hemmte unsere Schritte ein Ausruf des Kapitän Hod, der immer vorausging.

Zwanzig Schritt vor uns erhob sich, an der Ecke einer von mächtigen Pandanen begrenzten Waldblöße, ein, wenigstens seines Aussehens wegen merkwürdiges Bauwerk. Ein Haus war es nicht, dazu fehlten ihm Rauchfang und Fenster; eine Jägerhütte auch nicht, denn dazu fehlten ihm die Schießscharten. Man hätte das Ganze wohl für ein, in der Tiefe des Waldes verlorenes Hindu-Grab ansehen können.

Stelle man sich einen verlängerten Würfel vor, errichtet aus nebeneinander gestellten, in den Boden festgerammten Stämmen, deren obere Enden durch biegsame Zweige fest verbunden waren. Das Dach bildeten andere, wagrecht liegende und am Kopfe der ersteren haltbar eingezapfte Stämme. Offenbar hatte der Erbauer dieses kleinen Bollwerkes demselben nach allen fünf Seiten die größtmögliche Festigkeit zu verleihen gesucht. Es maß etwa sechs Fuß in der Höhe, zwölf in der Länge und fünf in der Breite. Von einem Zugange war nichts zu erblicken, wenn diesen nicht an der Vorderseite eine starke, oben abgerundete Bohle verdeckte, welche das ganze Bauwerk ein wenig überragte.

Ueber dem Dache erhoben sich mehrere biegsame, eigenartig angeordnete und untereinander verknüpfte Zweige. Am Ende eines horizontalen Hebels, der diese Armatur trug, hing ein Laufknoten, oder eigentlich eine aus starken Lianenflechten gebildete Schnalle herab.

»Ah, was ist das? rief ich verwundert.

[230] – Das ist, erwiderte Banks nach kurzer Betrachtung, weiter nichts als – eine Mäusefalle! Welche Mäuse zu fangen sie bestimmt ist, das werden sich die Herren selbst sagen.

– Also eine Tigerfalle? platzte Hod heraus.

– Ja wohl, bestätigte Banks, eine Tigerfalle, deren von der Bohle, welche der Lianenknoten gewöhnlich oben hält, jetzt verschlossene Thür zugefallen ist, weil das Stellbrett im Innern gewiß durch ein Thier berührt wurde.

– Es ist das erste Mal, sagt Hod, daß ich in den Wäldern Indiens eine derartige Falle sehe. Eine Mäusefalle, wahrhaftig! Das erscheint aber eines Jägers unwürdig!

– Und eines Tigers ebenfalls! fügte Fox hinzu.

– Gewiß! meinte Banks, wenn es sich aber darum handelt, wilde Bestien auszurotten, und nicht darum, sie zum Vergnügen zu jagen, so bleibt das beste Mittel immer dasjenige, durch welches die meisten unschädlich gemacht werden. Diese Falle hier scheint mir recht sinnreich erdacht, um wilde Thiere anzulocken und gefangen zu halten, so mißtrauisch und stark sie auch sein mögen.

– Da das Gleichgewicht des Fallbrettes, welches die Thüre hielt, gestört worden ist, bemerkte Oberst Munro, so glaube ich, daß sich wahrscheinlich irgend ein Raubthier gefangen hat.

– Das werden wir bald erfahren! rief Kapitän Hod, und wenn die Maus nicht schon todt ist...«

Der Kapitän begleitete seine Worte mit einer entsprechenden Geste und knackte mit dem Hahne der Büchse. Die Uebrigen folgten seinem Beispiel, indem sie sich zum Schießen fertig machten.

Wir konnten gar nicht darüber in Zweifel sein, daß dieses hölzerne Blockhaus eine Falle darstelle, wie man sie in den Wäldern der Malayenländer häufiger antrifft.

Das Werk eines Hindus schien sie nicht zu sein, wohl aber ließ ihre höchst empfindliche und doch überaus solide Construction die Zweckmäßigkeit der ganzen Anlage auf den ersten Blick erkennen.

Nach kurzer Ueberlegung näherten sich Kapitän Hod, Fox und Goûmi der Falle, um sie zuerst von allen Seiten zu besichtigen. Nirgends gewährte jedoch etwa eine Lücke zwischen den lothrechten Stämmen einen Einblick in das Innere derselben.

[231] Sie lauschten gespannt. Nicht das leiseste Geräusch verrieth die Anwesenheit eines lebenden Wesens in dem Holzwürfel, der stumm wie ein Grab vor uns lag. Kapitän Hod und die Anderen kamen wieder nach der Vorderseite zurück. Sie überzeugten sich davon, daß die bewegliche Bohle in den verticalen Fugen herab geglitten sein mußte. Wenn man diese emporhob, wurde offenbar der Zugang zur Falle freigelegt.


Es erschien nichts an der Oeffnung der Falle. (S. 234)

»Es ist nicht das mindeste zu hören! sagte Kapitän Hod, der das Ohr an die Thür gelegt hatte, nicht einmal ein Athemzug! Die Mäusefalle ist leer.

[232] – Jedenfalls keine Unvorsichtigkeit!« ermahnte Oberst Munro.

Er nahm auf dem Stamme eines Baumes zur Linken der Lichtung Platz, und ich setzte mich neben ihn.


»Mit dem Naturforscher Mathias Van Guitt«. (S. 235.)

»Nun vorwärts, Goûmi!« trieb Kapitän Hod.

Der gewandte, wie ein Affe bewegliche und wie ein Leopard geschmeidige Goûmi – ein wahrer Hindu- Clown – verstand, was der Kapitän meinte. Seine Geschicklichkeit bestimmte ihn naturgemäß zu dem verlangten Dienste. Er schwang sich mit einem Satze auf das Dach der Falle und ergriff einen der [233] Zweige, welche die obere Armatur bildeten. Dann glitt er auf dem Hebel nach dem Lianenringe vor, den er durch sein Körpergewicht bis zu dem Kopftheile der den Eingang verschließenden Bohle herabzog.

Dieser Ring wurde darauf in einem dazu ausgesparten flachen Einschnitte der Bohle befestigt. Nun bedurfte es nur noch der nöthigen Belastung am anderen Hebelende, um die Maschinerie in Bewegung zu setzen.

Das erforderte jedoch die vereinten Kräfte unserer kleinen Gesellschaft. Oberst Munro, Banks, Fox und ich, wir begaben uns deshalb nach der Rückseite der Falle, um diese Bewegung auszuführen.

Goûmi verblieb in der Armatur, um den Hebel frei zu machen, wenn irgend ein Hinderniß dessen Function beeinträchtigen sollte.

»Wenn Sie mich noch brauchen, rief Kapitän Hod uns zu, so komme ich; geht es aber ohne mich, so bleibe ich lieber vor der Falle. Wenn ja ein Tiger herauskäme, soll ihn wenigstens eine Kugel begrüßen.

– Und den würden Sie sich als zweiundvierzigsten anrechnen? fragte ich den Kapitän.

– Warum nicht? antwortete Hod, wenn er durch meine Büchse fällt, findet er den Tod ja in der Freiheit!

– Verkaufen wir das Fell des Bären, fiel der Ingenieur da ein, nicht eher, als bis er erlegt ist.

– Vorzüglich, da dieser Bär ein Tiger sein dürfte! fügte Oberst Munro hinzu.

– Nun faßt kräftig an, Alle zusammen!« rief Banks.

Die Bohle war sehr schwer und glitt nur schwierig in ihren Falzen, doch gelang es uns, sie zu bewegen. Bald schwebte sie etwa einen Fuß hoch über dem Boden.

Halbgebückt und die Büchse in Anschlag, bemühte sich Kapitän Hod zu sehen, ob sich eine kräftige Tatze oder ein drohender Rachen an der Oeffnung der Falle zeigte, doch vergebens.

»Noch einen Ruck! rief Banks.

Mit Hilfe Goûmi's, der am hinteren Hebelende anfaßte, gelang es, die Bohle nach und nach höher zu ziehen. Bald wurde die Oeffnung weit genug, um auch einem größeren Raubthiere den Durchgang zu gestatten.

Aber kein Thier ließ sich sehen.

[234] Noch erschien es möglich, daß der Gefangene sich bei dem, rings um die Falle entstandenen Geräusche vielleicht in die dunkelste Ecke derselben verkrochen hatte. Vielleicht lauerte das Thier nur auf den günstigen Augenblick, mit einem Satze heraus zu springen, Jeden, der ihm im Wege war, zu überrennen und in der Tiefe des Waldes zu verschwinden.

Es waren das Augenblicke der höchsten Spannung.

Da sah ich den Kapitän einige Schritte vortreten, den Finger an der Krappe der Büchse, wobei er sich bemühte, den ganzen Innenraum der Falle zu überblicken.

Die Bohle war schon ganz emporgezogen und das Licht drang in breitem Strahle durch die Oeffnung ein.

Jetzt vernahm man durch die Wände hindurch ein leises Geräusch, dann einen dumpfen Laut, wie ein furchtbares Gähnen, das mir sehr verdächtig erschien.

Ohne Zweifel war ein Thier hier, welches vorher schlief und das wir plötzlich geweckt hatten.

Kapitän Hod trat näher heran und richtete das Gewehr nach einer unbestimmten Gestalt, die sich im Halbschatten regte.

Plötzlich ward es in der Falle lebendig. Ein Schreckensruf erschallte und ihm folgten die in gutem Englisch gesprochenen Worte:

»Nicht schießen, um des Himmels willen! Nicht schießen!«

Gleich darauf trat ein Mann aus der Falle.

Unser Erstaunen war so groß, daß wir die Armatur losließen, wodurch die Bohle zurückfiel und den Eingang auf's Neue verschloß.

Indessen ging die so unerwartet erschienene Persönlichkeit auf Kapitän Hod zu, dessen Büchse noch immer nach der Brust des Fremdlings zielte, und sagte in ziemlich bestimmtem, von einer emphatischen Handbewegung begleitetem Tone:

»Wollen Sie gefälligst Ihr Gewehr aufrichten, mein Herr! Sie haben es hier nicht mit einem tarryanischen Tiger zu thun!«

– Mit wem haben wir denn die Ehre...? fragte da Banks, auf den Mann zutretend.

– Mit dem Naturforscher Mathias Van Guitt, Hauptlieferanten von Pachydermen. Tardigraden, Proboscidien, Raub- und anderen Säugethieren für die Handlungen der Herren Charles Rice in London und Hagenbeck in Hamburg.«

Darauf wies er mit der Hand auf unseren Kreis.

»Und die Herren?...

[235] – Oberst Munro nebst dessen Reisegefährten, antwortete Banks, uns summarisch vorstellend.

– Auf einer Vergnügungsfahrt durch die Forsten des Himalaya! ergänzte der Händler gleich selbst. Ein herrlicher Ausflug, wahrhaftig! Ich mache Ihnen mein Compliment, meine Herren!«

Welch' ein Original hatten wir da vor uns? Hätte man nicht glauben können, sein Gehirn habe durch die Einsperrung in der Falle etwas gelitten? War es ein Narr oder war der Mann bei Verstande? Welcher Kategorie von Zweihändern gehörte das Individuum an?

Wir sollten das nicht nur erfahren, sondern diese Persönlichkeit, die sich für einen Naturforscher ausgab und es in der That war, in der Folge auch noch weiter kennen lernen.

Herr Mathias Van Guitt, der Menagerie-Lieferant, trug eine Brille und mochte fünfzig Jahre zählen. Ein glattes Gesicht, blinzelnde Augen, eine gewaltige Nase, die ewige Bewegung des ganzen Körpers, seine jedem Satze, den er sprach, angepaßten, mehr als ausdrucksvollen Gesten drückten ihm unverkennbar den Stempel des bekannten alten Komödianten aus der Provinz auf. Wer ist nicht einmal solchen ergrauten Theaterhelden begegnet, deren ganzes, von dem Horizonte einer Rampe und eines Prospectes begrenztes Leben sich zwischen der »Hof-« und der »Gartenseite« eines wandernden Thespiskarrens abspielte? Unermüdliche Sprecher, gefährliche Gesticulatoren und höchst eingenommen für das werthe Ich, pflegen sie den nach rückwärts geworfenen Kopf möglichst hoch zu tragen, nur erscheint dieser im Alter oft so leer, daß man zu der Ueberzeugung kommt, er werde auch im kräftigen Lebensalter nicht besonders gefüllt gewesen sein. In Mathias Van Guitt stak so ein Stückchen eines verwitterten Bretterhelden.

Ich habe einige Male die lustige Anekdote von einem armen Teufel von Sänger gehört, der jedes Wort seiner Rolle mit der entsprechenden grobsinnlichen Geste begleiten zu müssen glaubte.

So z. B. in der Oper, »Masaniello« (das ist die Stumme von Portici), bewegte er bei der in vollem Brustton herausposaunten Stelle:


Wenn aus einem Fischer von Neapel...


den gegen die Zuschauer ausgestreckten Arm so, als ob er an einem Angelhaken einen zappelnden Hecht hängen hätte. Dann weiter bei den Worten:


Der Himmel einen Fürsten machen wollte...


[236] erhob er die Hand nach dem Zenith, um auf den Himmel hinzuweisen, während die andere, zur Verbildlichung der Königskrone einen Kreis um das edle Haupt beschrieb –


Würde er, ein Rebell gegen des Schicksals Rathschluß...


dabei schien er mit Gewalt einem auf ihn wirkenden Drucke Widerstand zu leisten –

Seine Barke weiter treibend rufen...


hierzu endlich bewegte er beide Arme lebhaft von rechts nach links und umgekehrt, als handhabte er einen Bootsriemen, um seine Geschicklichkeit in der Führung eines Fahrzeuges zu beweisen.

Ganz ähnliche Gewohnheiten, wie jener Sänger, hatte nun auch der Händler Mathias Van Guitt. Er schmückte seine Rede gern mit den gewähltesten Phrasen und konnte für den Zuhörer, der sich nicht außer dem Bereiche seiner Handbewegungen zu halten wußte, leicht gefährlich werden.

Wie wir später aus seinem eigenen Munde hörten, war Mathias Van Guitt ursprünglich Professor der Naturwissenschaften am Museum von Rotterdam, dem sein Lehrstuhl nicht zugesagt hatte. Offenbar regte das Auftreten des würdigen Mannes schon jener Zeit die Lachmuskeln besonders an, und wenn jemals Schaaren von Zuhörern zu seinem Katheder strömten, so wollten diese offenbar weniger lernen, als sich nur belustigen. Unter so bewandten Umständen hatte er sich, überdrüssig, theoretische Zoologie erfolglos vorzutragen, nach Indien begeben, um sich der praktischen Zoologie zu widmen. Diese Thätigkeit behagte ihm weit mehr und er schwang sich dabei zum wohlbestallten Lieferanten der großen Hamburger und Londoner Handelsfirmen empor, aus denen die öffentlichen und privaten Menagerien der Alten und Neuen Welt ihren Bedarf zu decken pflegen.

Mathias Van Guitt befand sich augenblicklich in Tarryani, um eine umfassende Bestellung auf Raubthiere für Europa auszuführen. Sein Lagerplatz befand sich kaum zwei Meilen von der Stelle, wo wir ihn aus der Falle befreit hatten.

Wie war der Händler aber da hineingerathen? Diese Frage richtete Banks an ihn, und er gab darauf folgende, mit abwechslungsreichen Gesten illustrirte Antwort:

»Ja, das war gestern, die Sonne hatte schon den Halbkreis ihres täglichen Umlaufes vollendet. Da fiel es mir ein, eine der von mir eigenhändig errichteten[237] Tigerfallen zu besichtigen. Ich verließ also meinen Kraal, den die Herren hoffentlich bald mit ihrem Besuche beehren werden, und gelangte nach dieser Waldblöße. Ich war allein; meine Leute hatten dringende Arbeiten vor und ich wollte sie nicht davon abhalten. Das war eine Unklugheit. Als ich zur Falle kam, überzeugte ich mich sogleich, daß die, die Thür bildende bewegliche Bohle noch aufgezogen war, und zog daraus die logische Schlußfolgerung, daß sich bis jetzt kein Raubthier gefangen haben könne. Indessen wollte ich mich überzeugen, ob der Köder sich noch vorfinde und ob der Hebel richtig und leicht functionire. Ich glitt also mit geschickter kriechender Bewegung durch den engen Eingang.«

Mathias Van Guitt's Hand erläuterte dabei durch eine elegante Wellenbewegung etwa das Schleichen einer Schlange durch das hohe Gras.

»Im Innern der Falle angelangt, fuhr der Händler fort, prüfte ich das Ziegenviertel, dessen Ausdünstung die Bewohner dieses Theiles des Waldes anlocken sollte. Der Köder erwies sich unberührt. Eben wollte ich umkehren, als ein Stoß meines Armes das Spiel des Hebels auslöste: die Klappe fiel nieder, und ich saß, ohne jede Möglichkeit, daraus entkommen zu können, in meiner eigenen Falle gefangen.«

Mathias Van Guitt schwieg einen Augenblick, um den ganzen Ernst seiner fatalen Lage zu kennzeichnen.

»Immerhin, meine Herren, nahm er seine Rede wieder auf, muß ich gestehen, daß ich die Sache anfänglich von ihrer komischen Seite auffaßte. Ich war eingesperrt, richtig! Hier gab es keinen Stockmeister, um die Thüre des Kerkers zu öffnen, auch wahr! Aber ich sagte mir, daß meine Leute, wenn ich ihnen allzu lange ausbliebe, Nachforschungen anstellen würden, die ja nicht ohne Erfolg bleiben konnten. Das Ganze erschien mir nur als eine Frage der Zeit.

»Was soll man in einer Herberge wohl anderes thun als schlafen? sagt ein französischer Erzähler. Ich schlief also ein, und so verflossen zwei Stunden ohne Veränderung meiner Situation. Der Abend sank hernieder, der Hunger meldete sich. Das Beste, was ich thun zu können glaubte, war, ihn durch Schlaf hinweg zu täuschen. Ich handelte als Philosoph und verfiel in tiefen Schlaf. Die Nacht war still; im Walde regte sich nichts. Mein Schlummer blieb ungestört, und vielleicht schliefe ich noch, wenn mich nicht ein ungewohntes Geräusch geweckt hätte. Die Klappe der Falle stieg langsam empor, das Licht des Tages brach sich Bahn in meinen dunklen Schlupfwinkel, und ich brauchte nur herauszutreten... Den Schreck können Sie sich vorstellen, als ich da das [238] Mordinstrument auf meine Brust gerichtet sah. Noch einen Augenblick und ich war von einer Kugel durchbohrt! Der Herr Kapitän beliebte aber in mir noch rechtzeitig ein Wesen seiner eigenen Gattung zu erkennen, und so habe ich Ihnen, meine Herren, nur noch den verbindlichsten Dank für meine Erlösung auszusprechen!«

So lautete die Erzählung des Händlers. Ich gestehe, daß wir uns nur mit Mühe bemeistern konnten, das Lachen zu unterdrücken, welches seine Worte und Gesten unwillkürlich erregten.

»Ihr Lagerplatz, fragte Banks, ist also in diesem Theile Tarryanis aufgeschlagen?

– Ja, mein Herr, bestätigte Mathias Van Guitt. Wie ich schon die Ehre hatte, Ihnen mitzutheilen, liegt mein Kraal kaum zwei Meilen von hier entfernt, und wenn Sie diesen mit Ihrer Gegenwart beehren wollen, wird es für mich ein Vergnügen sein, Sie daselbst zu empfangen.

– Gewiß, Herr Van Guitt, versicherte Oberst Munro, wir werden nicht verfehlen, unseren Besuch abzustatten.

– Wir sind Jäger, fügte Kapitän Hod hinzu, und die Einrichtung eines Kraals hat für uns ein natürliches Interesse.

– Jäger! rief Mathias Van Guitt, Jäger!«

Sein Gesicht nahm unverkennbar einen Ausdruck an, der uns sagte, daß er die Söhne Nimrod's nicht allzu hoch schätzte.

»Sie jagen Raubthiere... natürlich, um sie zu tödten? fuhr er, gegen den Kapitän gewendet, fort.

– Einzig und allein, um sie zu tödten, erklärte Hod.

– Und ich einzig und allein, um sie zu fangen! versetzte der Händler, der sich bei diesen Worten stolz in die Brust warf.

– Nun, Herr Van Guitt, erwiderte Kapitän Hod, da werden wir uns ja keine Concurrenz machen!«

Der Händler schüttelte den Kopf. Jedenfalls veranlaßte ihn unsere Eigenschaft als Jäger nicht, direct auf seine Einladung zurückzukommen.

»Wenn die Herren mir folgen wollten!« sagte er nur mit graziöser Verneigung.

In diesem Augenblicke ließen sich im Walde verschiedene Stimmen vernehmen und ein halbes Dutzend Hindus kamen um eine Ecke der Straße, welche von der Lichtung ausging.

[239] »Ah, da sind meine Leute!« sagte Mathias Van Guitt.

Dann trat er näher an uns heran, legte den Finger auf den Mund und flüsterte uns halblaut zu:


Das giftige Reptil schlängelte sich gerade auf den Oberst zu. (S. 242.)

»Bitte, kein Wort von meinem Abenteuer! Die Leute aus dem Kraal brauchen nicht zu wissen, daß ich mich wie ein Raubthier in eigener Falle fangen ließ. Das könnte das Ansehen vermindern, welches ich mir in deren Augen immer bewahren muß!«

Ein zusagendes Zeichen unsererseits beruhigte den Händler.


Tief im Walde. (S. 244.)

»Herr, begann da einer der Hindus, dessen ruhiges und doch intelligentes Gesicht meine Aufmerksamkeit erregte, Herr, schon über eine Stunde lang suchen wir Sie ohne...

[240]

– Ich war bei diesen Herren, welche mich nach dem Kraal begleiten wollen, fiel ihm Mathias Van Guitt in's Wort. Bevor wir aber aufbrechen, bringt mir die Falle wieder in Ordnung!«

Die Hindus gehorchten willig dem Befehle des Händlers. Inzwischen lud uns Mathias Van Guitt ein, das Innere der Falle in Augenschein zu nehmen.

[241] Kapitän Hod schlüpfte nach ihm hinein und ich folgte Beiden nach. Der Raum war etwas beschränkt für die Entwickelung der Gesten unseres Wirthes, der damit so freigebig war, als ob er sich in einem Salon befänd.

»Ich zolle Ihnen alle Achtung, sagte Kapitän Hod, nachdem er sich den Apparat angesehen, das ist wirklich recht sinnreich!

– Das dürfen Sie glauben, Herr Kapitän, antwortete Mathias Van Guitt. Diese Art von Fallen ist den früheren, mit Pfählen aus hartem Holze versehenen Gruben und den bogenförmig herabgezogenen elastischen Zweigen mit Laufknoten beiweitem vorzuziehen. Im ersten Falle spießt das Thier sich auf, im zweiten Falle erwürgt es sich. Wenn es nur darauf ankommt, die reißenden Thiere auszurotten, so ist das ja ziemlich gleichgiltig. Ich aber, wie ich hier mit Ihnen rede, ich brauche jene lebendig, unverletzt, ohne jegliche Werthverminderung!

– Alles in Allem, bemerkte Kapitän Hod dagegen, verfahren wir Beide nicht auf gleiche Weise.

– Aber ich wahrscheinlich besser als Sie! versetzte der Händler. Wenn man die Raubthiere fragen könnte...

– Ja, ich befrage sie eben nicht!« erwiderte der Kapitän.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt hatten entschieden einige Mühe, sich zu verständigen.

»Aber, fragte ich den Händler, wenn sich nun ein Thier in solch' einer Falle fing, wie bringen Sie es in Gewahrsam?

– Dazu wird ein fahrbarer Käfig vor die Oeffnung gebracht, erklärte Mathias Van Guitt, in den die Gefangenen selbst hineinstürzen, und ich brauche sie dann nur, ruhig und sicher von meinen zahmen Büffeln gezogen, nach dem Kraal zu schaffen!«

Kaum hatte er diese Worte vollendet, als wir von außen her ein lautes Geschrei vernahmen.

Was mochte da geschehen sein?

Eben hatte ein Hindu eine Peitschenschlange von der gefährlichsten Art mit einem dünnen Stocke in zwei Theile getrennt, als sich das giftige Reptil gerade auf den Oberst Munro zuschlängelte.

Es war derselbe Hindu, der mir schon vorher auffiel. Sein rasches, entschlossenes Handeln hatte Sir Edward Munro von einem unerwarteten schnellen Tode gerettet, wie wir selbst zu sehen Gelegenheit hatten.

[242] Der zu unseren Ohren dringende Schrei rührte nämlich von einem Diener aus dem Kraal her, der sich im letzten Todeskampfe auf dem Boden wälzte.

Durch ein bedauernswerthes Mißgeschick war der glatte abgehauene Kopf der Schlange dem Armen an die Brust geflogen, die Zähne bohrten sich hier noch ein, und der Unglückliche hauchte, das entsetzliche Gift in den Adern, in kaum einer Minute sein Leben aus, ohne daß wir im Stande gewesen wären, ihn zu retten.

Zuerst erstarrt vor Schreck über dieses gräßliche Schauspiel, eilten wir dann sofort auf den Oberst Munro zu.

»Du bist doch nicht verletzt? fragte Banks, der seine Hand besorgt ergriff.

– Nein, Banks, beruhige Dich!« antwortete Sir Edward Munro.

Dann erhob er sich und ging auf den Hindu, seinen Lebensretter, zu.

»Ich danke Dir, mein Freund!« sagte er.

Der Hindu gab durch eine Bewegung zu verstehen, daß er für seine That keinen besonderen Dank verdient habe.

»Wie ist Dein Name? fragte ihn Oberst Munro.

– Kâlagani!« antwortete der Hindu.

3. Capitel
Drittes Capitel.
Der Kraal.

Der Tod des armen Teufels erregte, vorzüglich bei den Umständen, unter denen er erfolgte, unsere innigste Theilnahme, doch der Biß der Peitschenschlange, der giftigsten der ganzen Halbinsel, schont einmal nicht. Es war nur ein weiteres Opfer zu den Tausenden, welche jenen furchtbaren Reptilien jährlich in Indien erliegen. 1

[243] Man hat, – jedenfalls nur scherzweise – behauptet, daß es auf Martinique früher keine Schlangen gegeben habe und die Engländer solche nur dahin gebracht hätten, als sie die genannte Insel an Frankreich ausliefern mußten. Den Franzosen fehlte jede Veranlassung zu solchen Repressalien, als sie ihre Erwerbungen in Indien aufgaben. Die wären unnütz gewesen, denn nach dieser Seite hin hatte schon die Natur sich wahrhaft verschwenderisch erwiesen.

Der Körper des Indiers ging unter dem Einflusse des Giftes rasch in Zersetzung über, so daß er ohne Zögern beerdigt werden mußte. Seine Kameraden unterzogen sich dieser Pflicht, und er wurde in eine hinreichend tiefe Grube gelegt, um dem Ausscharren durch Raubthiere vorzubeugen.

Nach Beendigung der traurigen Ceremonie lud uns Mathias Van Guitt ein, ihn nach seinem Kraal zu begleiten – eine Einladung, welche von uns mit Vergnügen angenommen wurde.

Binnen einer halben Stunde erreichten wir den Lagerplatz des Händlers, welcher den Namen eines »Kraals« vollkommen rechtfertigte, während man diesen sonst nur auf die Ansiedlungen im südlichen Afrika angewendet findet.

Jener bestand aus einer geräumigen, länglichen Einzäunung tief im Walde und in der Mitte einer größeren Lichtung. Mathias Van Guitt hatte denselben den Bedürfnissen seines Geschäftes anzupassen gewußt. Auf allen vier Seiten umschloß ihn eine Palissadenwand mit einem hinreichend weiten Thore, um seine Wagen durchzulassen. In der Mitte des Hintergrundes diente eine lange, aus Baumstämmen und Planken roh gezimmerte Hütte als Wohnstätte für alle Insassen des Kraals. Sechs, in mehrere Einzelzellen abgetheilte Käfige auf vierrädrigen Gestellen schlossen sich rechtwinklich an das linke Ende der Umplankung an. Das Gebrüll aus denselben verrieth, daß sie nicht leer waren. Rechts lagerten etwa ein Dutzend Büffel im Freien und weideten die fetten Bergwiesen ab. Diese bildeten die gewöhnlichen Zugthiere der beweglichen Menagerie. Sechs Büffeltreiber, welchen die Führung der Wagen oblag, und zehn mit der Jagd auf Raubthiere vorzüglich vertraute Hindus bildeten das Personal der Niederlassung.

Die Büffeltreiber waren nur für die Dauer der Jagdzeit gemiethet. Ihre Beschäftigung bestand darin, die Karren mit den Käfigen nach den Jagdgründen zu fahren und dieselben dann nach der nächsten Eisenbahnstation zu schaffen. Hier verlud man die Karren auf Trucks und beförderte sie in kurzer Zeit nach [244] Allahabad, Bombay oder Calcutta. Die Hindujäger gehörten zu den Leuten, welche man allgemein »Chikaris« nennt. Sie suchen die Spuren der Raubthiere, treiben diese auf und fangen sie mit großer Geschicklichkeit ein.

Das war die Mannschaft des Kraals. Mathias Van Guitt und seine Leute bewohnten denselben schon seit mehreren Monaten. Sie waren hier freilich ebenso den Ueberfällen wilder Thiere, wie dem Fieber ausgesetzt, das besonders n Tarryani herrscht. Die Feuchtigkeit der Nächte die Ausdünstung schädlicher Bodenfermente und die feuchte Hitze unter dem dichten Laubgewölbe, das die Sonnenstrahlen nur wenig durchdrangen, machen die untere Zone des Himalaya zu einer ungesunden Gegend.

Der Händler und die Hindus waren hier jedoch so vortrefflich acclimatisirt, daß ihnen die »Malaria« nicht mehr schadete als den Tigern oder den Eingebornen von Tarryani. Wir hätten freilich nicht lange ungestraft in dem Kraal verweilen dürfen. Das lag auch gar nicht in Kapitän Hod's Plan. Wir wollten nur einige Nächte auf den Anstand gehen und dann nach dem Steam-House in die höhere Zone zurückkehren, welche die Ausdünstungen der Ebene nicht mehr erreichen.

An dem Lagerplatze Mathias Van Guitt's angelangt, öffnete sich uns das Thor zu demselben.

Mathias Van Guitt schien unser Besuch sehr zu schmeicheln.

»Jetzt, meine Herren, begann er, gestatten Sie mir, die Pflichten des Wirthes zu erfüllen. Diese Niederlassung entspricht allen Anforderungen meiner Kunst. Sie ist freilich nicht viel mehr als eine große Hütte, wie sie die Jäger der Halbinsel einen »Houddi« zu nennen pflegen.«

Während dieser Anrede hatte der Händler die Thüren der Wohnstätte geöffnet, welche er mit seinen Leuten theilte. Alles darin war höchst einfach Ein erstes Zimmer – wenn man ihm diesen Namen geben darf – für den Herrn; ein zweites für die Chikaris, ein drittes für die Wagenlenker; in jedem als einziges Mobiliar ein Feldbett; ein vierter Raum, der gleichzeitig als Küche und Speisezimmer diente – man sieht, daß Mathias Van Guitt's Wohnung wirklich sehr dürftig war und die Bezeichnung als Houddi mit Recht verdiente. Wir hatten eine größere Hütte vor uns, weiter nichts.

Nachdem wir die Wohnung »dieser zur ersten Classe der Säugethiere gehörenden Zweihänder« in Augenschein genommen, lud man uns ein, nun auch den Aufenthaltsort der Vierfüßler zu besichtigen.

[245] Das war unbestreitbar der interessanteste Theil des Kraals. Die Einrichtung erinnerte mehr an eine wandelnde Menagerie als an die bequemen und eleganten Behälter eines Zoologischen Gartens. In der That fehlten hier nur die in Wasserfarben gemalten und am bunten Gerüst aufgehängten Bilder, welche in greller Colorirung einen Thierbändiger in rosafarbenen Tricots und Sammetwamms inmitten einer umherspringenden Horde von Bestien darstellen, welche sich mit blutigem Maule und drohenden Krallen, unter der Peitsche eines heroischen Bidel oder Pezon krümmen. Freilich mangelte es auch an Publikum für den Zuschauerraum.

Einige Schritte davon lagen die zahmen Büffel. Sie befanden sich zur rechten Hand, in einer besonderen Abtheilung des Kraals, wo man ihnen neben dem Futter, welches der Boden lieferte, noch täglich eine gewisse Menge frisches Gras vorlegte. Es wäre unthunlich gewesen, sie auf benachbarten Weideplätzen ganz frei herumlaufen zu lassen. Wie Mathias Van Guitt sich gewählt ausdrückte, »war diese Hütungsfreiheit, welche in den Clans des Vereinigten Königreichs angebracht ist, gänzlich unvereinbar mit den Gefahren in den Wäldern des Himalaya«.

Die eigentliche Menagerie umfaßte sechs Käfige auf vierrädrigen Gestellen. Jeder an der Vorderseite mit Eisenstäben vergitterte Kasten zerfiel in drei Zellen. Durch Thüren, oder vielmehr von unten nach oben bewegliche Schieber konnte man je nach Bedarf die Thiere aus einer Zelle in die andere treiben. Diese Käfige enthielten zur Zeit sieben Tiger, zwei Löwen, drei Panther und zwei Leoparden.

Mathias Van Guitt erklärte uns, daß sein Stock erst vollzählig sei, wenn er noch zwei Leoparden drei Tiger und einen Löwen gefangen habe. Dann gedachte er den Lagerplatz zu verlassen, nach der nächsten Eisenbahnstation zu ziehen und sich nach Bombay zu wenden.

Die Thiere, welche man in den Käfigen bequem beobachten konnte, waren prächtige Exemplare, aber offenbar sehr wild. Sie befanden sich noch zu kurze Zeit in der Gefangenschaft, um dieser beschränkten Lebensweise gewohnt zu sein. Das bewies ebenso ihr entsetzliches Gebrüll, wie das unermüdliche Hin- und Herlaufen von einer Scheidewand zur andern und das Schlagen gegen die Gitter, welche vielfach verbogen waren.

Als wir vor die Käfige traten, verdoppelte sich nur ihre Wuth, ohne daß Mathias Van Guitt darauf weiter zu achten schien.

[246] »Arme Thiere! sagte Kapitän Hod.

– Arme Thiere! wiederholte der getreue Fox.

– Glauben Sie denn, diese hier seien mehr zu beklagen als jene, welche Sie tödten? fragte der Händler im trockenen Tone.

– Weniger zu beklagen als zu tadeln... daß sie sich fangen ließen!« erwiderte Kapitän Hod.

Wenn es zutrifft, daß die Raubthiere in Ländern wie Afrika – wo Wiederkäuer, ihre gewöhnliche Nahrung, nur seltener vorkommen – manchmal lange Zeit fasten müssen, so ist das in den Gefilden von Tarryani keineswegs der Fall. Hier tummeln sich in Menge die Bisonochsen. Büffel, Zebus, Eber und Antilopen, welchen Löwen, Tiger und Panther unablässig nachstellen. Außerdem bieten ihnen Ziegen und Schafe, ganz abgesehen von den »Raiots« (Bauern), welche jene hüten, eine sichere und bequeme Beute. In den Wäldern des Himalaya können jene ihren Hunger hinreichend stillen. Ihre Wildheit, welche sie trotzdem niemals ablegen, findet hier also keinen Entschuldigungsgrund.

Die Insassen seiner Menagerie fütterte der Händler in der Hauptsache mit Bison- und Zebufleisch, welches die Chikaris an gewissen Tagen herbeizuschaffen hatten.

Man würde sich täuschen, zu glauben, daß eine solche Jagd gefahrlos sei. Im Gegentheil. Selbst der Tiger hat den wilden Büffel, ein furchtbares Thier, wenn es verwundet wurde, zu fürchten. Schon mancher Jäger hat es erleben müssen, wie ein Büffel den Baum, auf den er sich geflüchtet, mit den Hörnern entwurzelte. Wohl sagt man, das Auge des Wiederkäuers sei gleich einer Linse, welche alle Gegenstände in dreifacher Vergrößerung erscheinen lasse, und der Mensch imponire ihm deshalb wegen seiner riesigen Gestalt. Auch die aufrechte Haltung soll die Thiere erschrecken, so daß man immer besser thue, ihnen stehend entgegenzutreten, als gekrümmt oder liegend.

Ich weiß nicht, wie viel Wahres hieran ist, sicherlich äußert der Anblick des Menschen, wenn er sich auch noch so hoch aufrichtet, auf den wilden Büffel keinerlei Wirkung, und jener ist so gut wie verloren, wenn er keine Waffen zur Hand hat.

Ganz ebenso verhält es sich mit dem indischen Bison mit kurzem, fast viereckigem Kopfe, schlanken, an der Wurzel abgeplatteten Hörnern, höckerigem Rücken – eine Bildung, welche ihn seinem amerikanischen Stammverwandten nähert – und von Fuß bis zum Knie weißen Füßen, dessen Länge vom Schwanz bis [247] zur Spitze der Schnauze zuweilen vier Meter beträgt. Ist derselbe auch, in Gesellschaft im fetten Grase der Ebene weidend, weniger wild, so wird er dem Jäger, der ihn unkluger Weise angreift, doch immer furchtbar.

Mit dem Fleische der Wiederkäuer ernährte Van Guitt also die Raubthiere seiner Menagerie. Um dieselben sicherer und gefahrloser zu fangen, suchten sie die Chikaris in Fallen zu locken, aus denen sie gewöhnlich todt herausgeschafft werden.

Der Händler, ein Mann, der seine Sache verstand, vertheilte die Nahrung nur sehr sparsam unter seine Gefangenen. Einmal täglich, zu Mittag, erhielten sie vier bis fünf Pfund Fleisch, weiter nichts. Dazu ließ er sie – gewiß nicht aus kirchlichen Gründen – vom Sonnabend bis Montag regelmäßig fasten. Wahrlich, das war ein trauriger, magerer Sonntag für sie! Wurde ihnen dann nach Ablauf von achtundvierzig Stunden aber der schmale Bissen zugetheilt, da entwickelte sich ein unbeschreiblich wildes Leben, ein entsetzliches Geheul, da sprangen die Bestien hin und her, daß die rollenden Käfige sich bewegten und man fürchten mußte, diese in Stücke gehen zu sehen.

Ja, die armen Thiere! war man versucht mit Kapitän Hod zu rufen. Mathias Van Guitt hatte jedoch seine guten Gründe, so zu verfahren. Diese Enthaltsamkeit im Gefängniß ersparte seinen Thieren gewisse, sonst leicht auftretende Hautkrankheiten und erhöhte ihren Verkaufswerth auf den Märkten Europas.

Man wird sich leicht vorstellen können, daß Mathias Van Guitt's Sprachwerkzeuge, während er uns seine Thiere mehr als Naturforscher denn als Schausteller zeigte, nicht gerade feierten. Im Gegentheil. Er plauderte, schilderte, erzählte, und da die Raubthiere Tarryanis den Hauptgegenstand seiner etwas weitschweisigen Redesätze bildeten, hatten sie für uns doch ein gewisses Interesse. Wir sollten auch den Kraal nicht eher verlassen, als bis uns von der Zoologie des Himalaya kein Geheimniß mehr übrig blieb.

»Aber sagen Sie mir, Herr Mathias Van Guitt, fragte Banks, wirst Ihr Geschäft wirklich so viel ab, daß es die damit verbundenen Gefahren aufwiegt?

– In früherer Zeit, antwortete der Händler, gab es einen recht guten Ertrag. Seit einigen Jahren freilich, muß ich gestehen, sind die Raubthiere im Preise sehr gesunken. Sie können sich durch die neuesten Preiscourante leicht überzeugen. Unser Hauptmarkt ist der Zoologische Garten von Antwerpen, für Vögel,[248] Schlangen, Affen und eidechsenartige Reptilien, Raubthiere aus der Alten und Neuen Welt, dahin befördere ich »fachgewohnheitsmäßig«...

Kapitän Hod verbeugte sich bei diesem Worte.

... die Beute unserer abenteuerlichen Jagdzüge in den Wäldern der Halbinsel. Leider scheint der Geschmack des Publikums zu wechseln, und die Verkaufspreise werden bald niedriger stehen als die Beschaffungsunkosten. Kürzlich ist z. B. ein männlicher Strauß für elfhundert Francs verkauft worden, und das Weibchen brachte gar nur achthundert. Ein schwarzer, weiblicher Panther


Der Leopard erklettert die Bäume. (S. 253)

[249] fand nur zu sechzehnhundert Francs einen Abnehmer, eine javanische Tigerin zu zweitausendvierhundert, und eine große Löwenfamilie – der Vater, die Mutter, ein Onkel und zwei hoffnungsvolle junge Löwen – zu siebentausend Francs zusammen.

– Das ist freilich so gut wie nichts! meinte Banks.

– Was die Proboscidien betrifft... fuhr Mathiaas Van Guitt fort.

– Proboscidien? fragte Kapitän Hod.

– Ja, mit diesem wissenschaftlichen Namen bezeichnen wir die Pachydermen, welche die Natur mit einem Rüssel ausstattete.

– Also die Elephanten.

– Ja wohl, die Elephanten der quaternären Periode, die Mastodons der vorhistorischen Zeiten...

– Ich danke verbindlichst, fiel Kapitän Hod ein.

– Was die Proboscidien also angeht, nahm Mathias Van Guitt den Faden seiner Rede wieder auf, so muß man von deren Fang jetzt fast ganz absehen, außer wo es sich um die Gewinnung ihrer Zähne handelt, denn der Elfenbeinconsum hat sich nicht vermindert. Seitdem aber die am Ende ihres Latein angelangten dramatischen Autoren angefangen haben, jene in ihren Theaterstücken vorzuführen, reisen die Impresarios damit von Stadt zu Stadt, und ein einziger Elephant, der mit der wandernden Gesellschaft die Provinzen durchzieht, genügt, die Neugier eines ganzen Landes zu befriedigen. Elephanten sind jetzt auch weit weniger gesucht als früher.

– Aber liefern Sie diese Vertreter der indischen Fauna, fragte ich da, nur in die Menagerien von Europa?

– Sie verzeihen, erwiderte Mathias Van Guitt, wenn ich, ohne besonders neugierig zu sein, erst eine bescheidene Frage an Sie richte.«

Ich verbeugte mich zustimmend.

»Sie sind Franzose, mein Herr, begann der Händler. Das erkennt man nicht allein an Ihrem Accent, sondern auch an Ihrem, aus dem gallo-romanischen und keltischen gemischten Typus. Als Franzose nun werden Sie keine Vorliebe für weite Reisen haben und z. B. noch nicht um die Erde gekommen sein?«

Hierzu beschrieb Mathias Van Guitt mit den Händen einen weiten Kreis in der Luft.

»Ich hatte noch nicht das Vergnügen! antwortete ich.

[250] – Ich richte an Sie, fuhr der Händler fort, nicht die Frage, ob Sie nach Indien gekommen sind, denn Sie befinden sich ja ebenda, wohl aber die, ob Sie die indische Halbinsel gründlich kennen?

– Nur zum Theile, gestand ich. Ich habe indeß Bombay, Calcutta, Benares, Allahabad und das Thal des Ganges besucht. Ich sah dabei die Baudenkmäler, bewunderte...

– Ah, was soll das bedeuten!« unterbrach mich Mathias Van Guitt, den Kopf abwendend, während er mit einem Zeichen der Hand seine Geringschätzung ausdrückte.

Dann ging er zur Hypotypose über, d. h. er begann mit lebhaften Redewendungen.

»Ja, was soll das bedeuten, wenn Sie die Menagerien der mächtigen Rajahs noch nicht kennen lernten, welche es sich angelegen sein lassen, die prächtigen Thiere, den Stolz und Schmuck Indiens, zu erhalten! O, dann nehmen Sie nur den Wanderstab wieder zur Hand! Gehen Sie nach Guicowar, um den König von Baroda ehrfurchtsvoll zu begrüßen! Bewundern Sie seine Menagerie, die den größten Theil ihrer Insassen an Löwen aus Kattyvar, an Bären, Panthern, Tchitas, Luchsen und Tigern meiner Person zu danken hat Wohnen Sie einmal der Hochzeit der sechzigtausend Tauben bei, welche jedes Jahr mit großem Pompe gefeiert wird. Bewundern Sie die fünfhundert »Boulbouls«, die Nachtigallen der Halbinsel, auf deren Erziehung so viel Sorgfalt verwendet wird, als wären sie die Erben des Thrones! Sehen Sie die Elephanten an, von denen einer, als Vollstrecker der Todesurtheile, auf dem Hinrichtungsblocke den Kopf des Verdammten mit einem Fußtritte zermalmt! Dann begeben Sie sich nach den Anlagen des Rajah von Maissour, des reichsten Souveräns von Asien. Besuchen Sie den Palast, in dem die Rhinocerosse, Elephanten, Tiger und Thiere von hohem Range, welche zur animalischen Aristokratie Indiens gehören, zu Hunderten vertreten sind. Wenn Sie das gesehen haben, mein Herr, dann wird man Sie wenigstens nicht mehr der völligen Unkenntniß der Wunder dieses unvergleichlichen Landes beschuldigen können!«

Ich erwiderte Mathias Van Guitt nur durch eine stumme Verbeugung Seine leidenschaftliche Darstellungsweise schnitt ja von vornherein jede Discussion ab.

Kapitän Hod konnte es aber doch nicht unterlassen, einige, speciell die Fauna von Tarryani betreffende Fragen an jenen zu richten.

[251] »Ich möchte Sie noch um einige Aufklärung über die Raubthiere bitten, die ich in diesem Theile Indiens aufzufinden hoffe. Da ich nur Jäger bin, werde ich Ihnen, Herr Van Guitt, keine Concurrenz machen, im Gegentheile, wenn ich mich bei dem Fange einiger Tiger, welche noch an Ihrer Sammlung fehlen, nützlich machen könnte, würde ich es gerne thun. Ist Ihre Menagerie aber vollzählig, so werden Sie es nicht übel deuten, wenn ich mir zum persönlichen Vergnügen mit der Vertilgung dieser Bestien die Zeit vertreibe!«

Mathias Van Guitt nahm die Haltung eines Mannes an, der sich in das Unvermeidliche fügt, das er nicht zu ändern vermag. Er gab übrigens auch zu, daß Tarryani eine große Menge schädlicher Thiere beherberge, nach welchen auf europäischen Märkten keine besondere Nachfrage herrsche, und deren Ausrottung ihm erlaubt erscheine.

»Schießen Sie die Eber, da habe ich nichts einzuwenden, antwortete er. Obschon diese Vertreter der Schweinefamilie keine Fleischthiere sind...

– Keine Fleischthiere? bemerkte Kapitän Hod verwundert.

– Ich verstehe darunter, daß sie Herbivoren sind, so sind sie doch wild genug, um den Jäger, der sie kühn angreift, zu gefährden.

– Und die Wölfe?

– Ach, Wölfe giebt es auf der Halbinsel genug, und dazu sind sie, wenn sie sich in großer Zahl auf eine einsame Farm stürzen, nicht wenig zu fürchten. Die hiesigen gleichen ganz und gar dem wilden Wolfe Polens, und für mich haben sie nicht mehr Werth als Schakals und wilde Hunde. Ich leugne übrigens keineswegs, daß sie mancherlei Verwüstungen anrichten, da sie aber keinen Handelswerth haben und nicht würdig sind, unter den höheren Classen der Zookraten zu figuriren, so überlasse ich diese Ihnen ebenfalls, Herr Kapitän.

– Wie steht es mit den Bären? fragte ich.

– O, die Bären haben ihre guten Seiten, erklärte der Händler mit zustimmendem Kopfnicken. Wenn die von Indien auch nicht so stark begehrt sind, wie einige andere Arten, so besitzen sie dennoch einen gewissen Handelswerth, der ihnen die wohlwollende Beachtung der Kenner sichert. Man kann zweifelhaft sein, welche der beiden Abarten man vorziehen soll, ob die aus den Thälern von Kaschmir, oder die aus den Berggegenden von Raymahal. Die Thiere sind aber, außer wenn sie im Winterschlafe gestört werden, ganz unschuldiger Natur und können eigentlich die cygenetischen Begierden eines wahren [252] Jägers, wie ich einen solchen in der Person des Herrn Kapitän vor mir habe, nach keiner Seite erregen!«

Jetzt verneigte sich der Kapitän, obwohl man dabei erkannte, daß er bei solchen speciellen Fragen mit oder ohne Erlaubniß Mathias Van Guitt's nur sein eigenes Urtheil zu Rathe ziehen werde.

»Uebrigens, nahm der Händler das Wort wieder auf, sind die Bären nur Botanophagen...

– Botanophagen? sagte der Kapitän.

– Ja wohl, meinte Mathias Van Guitt, sie leben nur von Vegetabilien und haben nichts mit den wilden Raubthieren zu thun, deren sich die Halbinsel mit vollem Rechte rühmt.

– Rechnen Sie den Leoparden zu den Raubthieren? fragte Kapitän Hod.

– Ohne Widerrede. Diese Katze ist behend, kühn, muthig, erklettert die Bäume und wird dadurch manchmal fast gefährlicher als der Tiger.

– Oho, ließ Kapitän Hod sich vernehmen.

– Mein Herr, erwiderte Mathias Van Guitt, darauf sehr trockenen Tones, sobald ein Jäger nicht mehr sicher ist, in den Bäumen Zuflucht zu finden, kommt sehr bald die Reihe an ihn, gejagt zu werden!

– Und der Panther? fragte Kapitän Hod weiter, um die Belehrung kurz abzuschneiden.

– Das ist ein prächtiger Kerl, antwortete Mathias Van Guitt, und Sie können sich selbst überzeugen, welch' schönes Exemplar ich besitze! Wunderbare Thiere das, die in Folge eines seltsamen Widerspruches, einer Antilogie, um ein weniger gebräuchliches Wort zu verwenden, sogar selbst zur Jagd abgerichtet werden können! Gewiß, meine Herren, vorzüglich in Guicowar erziehen die Rajahs ihre Panther zu dieser vornehmen Passion. Man nimmt sie in einem Palankin mit hinaus, den Kopf verbunden wie ein Geier oder Lerchenfalke. Wahrlich, das sind richtige vierfüßige Falken. Sobald die Jäger einer Heerde Antilopen ansichtig werden, wird dem Panther seine Maske abgenommen und er stürzt sich auf die furchtsamen Wiederkäuer, deren schnelle Beine sie doch nicht vor seinen furchtbaren Tatzen retten können! Ja, ja, Herr Kapitän, so ist es! Panther werden Sie in Tarryani genug antreffen, vielleicht mehr, als Ihnen lieb ist; ich mache Sie aber freundschaftlich darauf aufmerksam, daß dieselben gewöhnlich keine Futtervorräthe haben...

– Das hoffe ich wenigstens, sagte Hod.

[253] – So wenig wie die Löwen, fügte der Händler, von dieser Antwort betroffen, hinzu.

– Ah, die Löwen! wiederholte Kapitän Hod, plaudern wir ein wenig von den Löwen!

– Nun, antwortete Mathias Van Guitt, meiner Ansicht nach stehen die hiesigen sogenannten Könige des Thierreiches weit unter ihren Stammverwandten im alten Libyen. Hier schmückt die männlichen Thiere nicht die stattliche Mähne, das Erbtheil des afrikanischen Löwen, im Gegentheile erscheinen sie mir wie kläglich geschorene Simsons! Aus Central-Indien sind sie auch gänzlich ausgewandert und haben sich nach Kattywar, nach der Wüste von Theil und nach Tarryani zurückgezogen. Diese entarteten Katzen leben jetzt als Eremiten, als Einsiedler und können kaum noch aus dem Umgange mit ihresgleichen frische Lebenskräfte schöpfen. Bei mir stehen sie auf der Stufenleiter der Vierfüßler auch keineswegs im ersten Rang. Ja, meine Herren, einem Löwen kann man entgehen, einem Tiger niemals!

– Ah, die Tiger! rief Kapitän Hod.

– Ja, die Tiger! wiederholte Fox.

– Dem Tiger allein gebührt die Krone! fuhr Mathias Van Guitt lebhafter werdend fort. Man spricht vom »Königstiger«, nicht vom Königslöwen, und das ist auch ganz richtig. Ihm gehört ganz Indien. War er nicht der erste Besitzer des Bodens? Ist er nicht berechtigt, nicht allein die angelsächsischen Eroberer, sondern auch die Kinder der Sonne als fremde Eindringlinge zu betrachten? Er allein ist ja das erste Kind des heiligen Bodens von Argavarta. Man begegnet diesen prächtigen Raubthieren auch auf der ganzen Halbinsel, und vom Cap Camorin bis zum Wall der Himalayaberge haben sie kein Stückchen Gebiet, das ihre Vorfahren inne hatten, verlassen!«

Mathias Van Guitt's Arme beschrieben dazu, nachdem er zuerst ein Vorgebirge im Süden bezeichnet, eine ganze Reihe von Bergspitzen.

»In Sunderbund, fuhr er fort, sind sie vor Allem zu Hause! Da spielen sie die Herren, und wehe Dem, der ihnen dieses Gebiet streitig zu machen suchte! In den Nilgheries streifen sie in Massen umher, gleich wilden Katzen.

Si parva licet componere magnis!

Sie werden also begreifen, daß diese prächtigen Katzen auf den Märkten von Europa besonders gesucht sind. Welche Anziehung äußern die öffentlichen und privaten Menagerien durch den Tiger! Wann fürchten Sie für das Leben [254] des Thierbändigers? Nur, wenn er den Käfig des Tigers betritt. Welches Thier bezahlen die Rajahs mit gleichem Gewichte an Gold zum Schmucke ihrer fürstlichen Gärten? Den Tiger! Wer erzielt den höchsten Preis an den zoologischen Börsen von London, Antwerpen und Hamburg? Der Tiger! Durch welche Art von Jagd erwerben sich die Jäger Indiens, die Officiere der königlichen oder der Natifs-Armee den höchsten Ruhm? Durch die Jagd auf den Tiger! Wissen Sie, meine Herren, welche Unterhaltung die unabhängigen Fürsten Indiens ihren Gästen bieten? Man sperrt einen Königstiger zunächst in einen Käfig. Der letztere wird inmitten einer weiten Ebene aufgestellt. Der Rajah, seine Gäste, Officiere und Leibwache sind alle mit Lanzen, Revolvern und Flinten bewaffnet, meist reiten sie auf flüchtigen Einhufern.

– Auf Einhufern? fiel Kapitän Hod ein.

– Nun ja, auf Pferden, wenn Sie dieses vulgäre Wort vorziehen. Schon da bäumen sich aber, beunruhigt durch die Nähe der Katze, ihre Ausdünstung und durch die Blitze, welche aus ihren Augen zucken, die Einhufer gewaltig und die Reiter haben alle Mühe, dieselben zu halten. Plötzlich wird die Thüre geöffnet. Das Ungeheuer stürzt heraus, es springt, fliegt, wirst sich auf vereinzelte Gruppen und bringt seiner Wuth ganze Hekatomben zum Opfer. Wenn es ihm auch zuweilen gelingt, den umschließenden Ring von Eisen und Feuer zu durchbrechen, so unterliegt es doch gewöhnlich – eines gegen Hundert! Jedenfalls stirbt es einen Tod, den es schon im voraus gerächt hat!

– Bravo, Herr Mathias Van Guitt, rief Kapitän Hod, der nun auch selbst wärmer wurde. Wahrlich, das muß ein herrliches Schauspiel sein! Ja, ja, der Tiger ist doch der König der Thiere!

– Ein König, der jede Empörung verachtet! fügte der Händler hinzu.


Einige Bergbewohner stellten sich bei uns ein. (S. 259.)

– Und wenn Sie solche gefangen haben, Herr Van Guitt, begann jetzt Kapitän Hod, so habe ich schon verschiedene erlegt, und ich hoffe stark, Tarryani nicht zu verlassen, bevor nicht der fünfzigste von meiner Hand gefallen ist.

– Herr Kapitän, erwiderte der Händler, die Stirn runzelnd, ich habe Ihnen die Eber, die Wölfe, Bären und Büffel überlassen. Befriedigt das Ihre Jagdlust noch nicht?«

Ich bemerkte, daß unser Freund Hod dieser heiklen Frage gegenüber nicht weniger in Feuer gerieth, als Mathias Van Guitt.

Hatte der Eine mehr Tiger gefangen, als der Andere getödtet? Welch' unerschöpflicher Redestoff. Was verdiente den Vorzug: jene einzufangen oder sie [255] zu erlegen? Welches herrliche Thema! Schon begannen Beide, der Kapitän und der Händler, kurze, flüchtige Sätze zu wechseln, und gerade herausgesagt, zu gleicher Zeit zu reden, so daß Keiner den Anderen verstehen konnte.

Banks versuchte eine Vermittlung.

»Die Tiger sind die Könige der Schöpfung, meine Herren, sagte er, darüber herrscht kein Zweifel, doch erlaube ich mir hinzuzufügen, daß es für ihre Unterthanen sehr gefährliche Herrscher sind. Im Jahre 1862, wenn ich nicht irre, haben die prächtigen Katzen alle Telegraphenbeamten auf der Insel [256] Sangor – aufgefressen. Man erzählt sich auch von einer Tigerin, daß sie binnen drei Jahren nicht weniger als hundertachtzehn Opfer verschlungen habe, und von einer an deren, welche in derselben Zeit gar hundertsiebenundzwanzig Menschen verzehrt habe! Das ist zu viel, selbst für Königinnen! Seit der Entwaffnung der Sipahis sind übrigens in einem Zeitraume von drei Jahren zwölftausendfünfhundertvierundfünfzig Individuen unter den Zähnen der Tiger gefallen.


Mathias Van Guitt empfahl sich mit einer gewählten Geste. (S. 261.)

– Gewiß, mein Herr, antwortete Mathias Van Guitt, doch Sie scheinen ganz zu vergessen, daß diese Thiere Omophagen sind.

[257] – Omophagen? warf Kapitän Hod ein.

– Ja, Rohfleischfresser, und die Hindus behaupten, daß jene, welche einmal Menschenfleisch gekostet haben, gar kein anderes mehr mögen!

– Nun, und was will das sagen?... fragte Banks.

– Ei, weiter nichts, erwiderte Mathias Van Guitt lachend, als daß sie eben ihrer Natur gehorchen!... Sie müssen doch Nahrung haben!«

Fußnoten

1 Im Jahre 1877 sind nicht weniger als 1677 Menschen durch den Biß von Schlangen umgekommen. Aus den von der Regierung für die Vernichtung jener Reptilien gezahlten Prämien, ergiebt sich, daß im Laufe desselben Jahres 127.295 solcher erlegt worden sind

4. Capitel
Viertes Capitel.
Eine Königin von Tarryani.

Die letztere Bemerkung beschloß unseren Besuch im Kraal; es war jetzt Zeit, nach dem Steam-House zurückzukehren.

Kapitän Hod und Mathias Van Guitt schieden eigentlich nicht als die besten Freunde von einander. Wenn der eine die wilden Thiere von Tarryani vernichten wollte, wollte der Andere sie nur fangen, und doch waren ja genug vorhanden, um Beide zu befriedigen.

Man verabredete inzwischen, daß der Kraal und das Sanatorium in engerer Verbindung bleiben sollten. Man wollte sich gegenseitig benachrichtigen, sobald sich eine günstige Gelegenheit zur Jagd oder zum Fange böte. Die mit allen Wegen und Stegen vertrauten Chikaris Mathias Van Guitt's konnten Kapitän Hod recht wesentliche Dienste leisten, wenn sie ihn auf die Fährten von Thieren aufmerksam machten. Der Händler stellte ihm jene zuvorkommend zur Verfügung, und vorzüglich Kâlagani. Obschon dieser Hindu nur erst kurze Zeit dem Personal des Kraals angehörte, erwies er sich doch besonders geschickt und nach allen Seiten verläßlich.

Als Gegendienst versprach Kapitän Hod, soweit ihm das möglich sei, beim Einfangen der wilden Thiere zu helfen, welche an Mathias Van Guitt's Sammlung noch fehlten.

Bevor er den Kraal verließ, wo er wahrscheinlich nicht sobald wieder vorsprechen würde, sprach Sir Edward Munro nochmals seinen Dank gegen Kâlagani [258] aus, dessen entschlossenes Eingreifen ihn gerettet hatte, und erklärte, daß er im Steam-House stets willkommen sein werde.

Der Hindu verneigte sich sehr kühl. Ein Zeichen von Befriedigung, den Mann, der ihm sein Leben verdankte, so reden zu hören, ließ er in seinen Zügen nicht durchblicken.

Wir kamen zur Zeit des Essens zurück. Wie man sich denken kann, drehte sich unser Gespräch vorwiegend um Mathias Van Guitt.

»Alle Wetter, polterte der Kapitän heraus, was für Gesten er fertig bringt, jener Händler! Welche Auswahl von Worten, welchen Wechsel von Ausdrücken er hat! Nur daß er in wilden Thieren blos Objecte zur Schaustellung sieht, darin schießt er fehl.«

An den folgenden Tagen, am 27., 28. und 29. Juni, fiel ein so gewaltiger Regen, daß unsere Jäger, so begierig sie auch waren, gar nicht daran denken konnten, das Steam-House zu verlassen. Bei solch' schrecklichem Wetter sind Spuren auch gar nicht zu erkennen, und die Raubthiere, welche, wie die Katzen alle, keine besonderen Freunde des Wassers sind, verlassen dann ihre Höhlen nicht gern.

Am 30 stellte sich besseres Wetter mit heiterem Himmel ein. Am nämlichen Tage rüsteten wir, das heißt Kapitän Hod, Fox, Goûmi und ich, uns rechtzeitig, nach dem Kraal hinunter zu gehen.

Schon am Morgen stellten sich einige Bergbewohner bei uns ein. Sie hatten davon reden gehört, daß eine wunderbare Pagode im Himalayagebiete erschienen sei, und nun trieb die Neugier sie nach dem Steam-House.

Es ist ein schöner Menschenschlag, diese Bewohner der thibetanischen Grenze, ausgezeichnet durch kriegerische Tugenden, unerschütterliche Loyalität und Gastfreiheit, und den Hindus der Ebenen moralisch und physisch unzweifelhaft überlegen.

Wenn die angebliche Pagode ihre Verwunderung erregte, so machte der Stahlriese auf sie einen noch weit tieferen Eindruck. Und doch verhielt sich dieser jetzt ruhig. Was würden die braven Leute erst gesagt haben, wenn sie gesehen hätten, wie er rauch- und flammenspeiend mit sicherem Schritte die Bergabhänge emporklomm!

Oberst Munro empfing die Eingebornen, von denen einige das ganze Gebiet von Nepal bis zur indo-chinesischen Grenze öfter zu durchstreifen pflegten, mit aller Freundlichkeit. Das Gespräch kam auch einmal auf jenen Theil der [259] Grenze, wo Nana Sahib nach der Niederlage der Sipahis Zuflucht gesucht hatte, als er sich überall in Indien verfolgt sah.

Die Bewohner der Berge wußten übrigens nicht mehr als wir. Das Gerücht von seinem Tode war auch zu ihnen gedrungen und schien nicht angezweifelt zu werden. Um seine, ihn überlebenden Waffengefährten kümmerte sich Niemand. Wahrscheinlich hatten diese tief im Innern von Thibet ein sicheres Versteck gefunden, wo sie jedenfalls nur sehr schwierig zu finden gewesen wären.

Wenn Oberst Munro, als er sich nach dem Norden der Halbinsel begab, den Gedanken gehabt hatte, Alles an's Licht zu ziehen, was Nana Sahib näher oder ferner berührte, so mußte ihn diese Auskunft wohl davon abbringen. Als die Bergbewohner aber so sprachen, blieb er halb träumend in Gedanken versenkt und nahm am Gespräch keinen weiteren Antheil.

Nur Kapitän Hod richtete an diese einige Fragen, freilich ganz anderen Inhalts. Er vernahm dadurch, daß die wilden Thiere, vorzüglich die Tiger, in der unteren Zone des Himalaya wahrhaft entsetzliche Verwüstungen anrichteten. Einzelne Landgüter und ganze Dörfer waren deshalb schon von den Einwohnern aufgegeben worden. Heerden von Ziegen und Schafen wurden vernichtet und auch nicht wenige Einwohner waren den Bestien zum Opfer gefallen. Trotz des von der Regierung ausgesetzten nicht unbeträchtlichen Preises – dreihundert Rupien für jeden Tigerkopf – schien die Zahl dieser Katzen nicht abzunehmen, und es entstand schon die Frage, ob der Mensch nicht weichen und jenen das Feld überlassen solle.

Die Leute fügten auch hinzu, daß die Tiger sich jetzt gar nicht mehr auf Tarryani beschränkten, sondern daß man ihnen, wo hohes Gras, Dschungeln oder Gebüsche nur geeignete Verstecke böten, überall in der Ebene begegne.

» Es sind entsetzlich schädliche Thiere!« meinten sie.

Die braven Leute huldigten, und das mit gutem Grunde, bezüglich der Tiger also keineswegs derselben Anschauung wie der Händler Mathias Van Guitt und unser Freund, der Kapitän Hod.

Die Landleute zogen sich, hoch erfreut über den gefundenen Empfang, zurück und versprachen gelegentlich wieder nach dem Steam-House zu kommen.

Als sie fort waren, machten wir, Kapitän Hod, unsere zwei Begleiter und ich, uns wohl bewaffnet und auf jeden Zwischenfall vorbereitet auf den Weg nach Tarryani hinunter.

[260] An der Waldblöße mit jener Falle angelangt, aus der wir Mathias Van Guitt glücklicher Weise befreit hatten, trat dieser uns, nicht ohne gewisse Feierlichkeit entgegen.

Fünf bis sechs seiner Leute, darunter auch Kâlagani, waren eben beschäftigt, einen Tiger, der sich während der Nacht gefangen hatte, aus der Falle in einen fahrbaren Käfig zu schaffen.

Es war wirklich ein prächtiges Thier, dessen Anblick in Kapitän Hod ein gewisses Gefühl von Neid erwachen ließ.

»Wieder einer weniger in Tarryani, murmelte er mit einem leisen Seufzer, der in Fox' Herzen ein Echo fand.

– Und einer mehr in der Menagerie, meinte dagegen der Händler. Noch zwei Tiger, einen Löwen und zwei Leoparden, und ich werde im Stande sein, meinen eingegangenen Verpflichtungen noch vor der bedungenen Zeit nachzukommen. Kommen Sie mit nach dem Kraal, meine Herren?

– Wir danken bestens, antwortete Kapitän Hod, heute denken wir auf eigene Rechnung zu jagen.

– Kâlagani steht Ihnen zur Verfügung, Herr Kapitän, erwiderte der Händler, er kennt den Wald sehr gut und kann Ihnen von Nutzen sein.

– Er wird uns ein willkommener Führer sein.

– Nun denn, meine Herren, fuhr Mathias Van Guitt fort, viel Glück auf den Weg! Aber versprechen Sie mir, nicht Alles niederzumetzeln!

– Wir lassen Ihnen noch etwas übrig!« versicherte Kapitän Hod.

Sich mit einer gewählten Geste empfehlend, verschwand Mathias Van Guitt schnell unter den Bäumen und folgte seinem Käfige.

»Nun vorwärts, rief Kapitän Hod, vorwärts, meine Freunde! es gilt meinen zweiundvierzigsten!

– Meinen achtunddreißigsten! ließ Fox sich vernehmen.

– Und meinen ersten!« fügte ich hinzu.

Der Ton, mit welchem ich diese Worte hervorbrachte, nöthigte dem Kapitän ein Lächeln ab. Offenbar fehlte mir die richtige heilige Gluth.

Hod hatte sich zu Kâlagani gewendet.

»Du kennst Tarryani gut.

– Ich bin wohl zwanzigmal, am Tage und in der Nacht, nach allen Richtungen durch dasselbe gekommen, antwortete der Hindu.

[261] – Hast Du davon reden gehört, daß sich in der Nachbarschaft des Kraals ein Tiger gezeigt habe?

– Gewiß, dieser Tiger ist aber eine Tigerin. Man hat sie etwa zwei Meilen von hier im Hochwalde gesehen und sucht sie schon seit mehreren Tagen zu fangen. Wollen Sie etwa...

– Ob wir wollen!« rief Kapitän Hod, ohne dem Hindu zur Vollendung seines Satzes Zeit zu lassen.

Wir konnten in der That nichts Besseres thun, als Kâlagani zu folgen, und das geschah denn auch.

Wilde Thiere sind in Tarryani ohne Zweifel sehr häufig, und sie brauchen wöchentlich nicht weniger als zwei Ochsen zur Nahrung. Es ist leicht zu berechnen, wie viel deren »Unterhalt« also der ganzen Halbinsel kosten mag!

Aber wenn Tiger auch in großer Anzahl vorkommen, so darf man doch nicht glauben, daß sie ohne Noth umherschweifen. Wenn sie der Hunger nicht drängt, bleiben sie ruhig in ihrem Verstecke, und es wäre ein großer Irrthum, zu glauben, daß man ihnen auf Tritt und Schritt begegnete. Wie viele Reisende sind durch Wälder und Dschungeln gekommen, ohne nur einen zu Gesicht bekommen zu haben! Auch wenn eine Jagd veranstaltet wird, muß man zunächst die gewöhnliche Fährte des Thieres und vorzüglich den Bach oder die Quelle aufzufinden suchen, wo es seinen Durst zu löschen pflegt.

Doch auch das genügt noch nicht, man muß sie auch noch anlocken. Das erreicht man sehr bequem durch Befestigung eines Rinderviertels an einem Pfahle und an einer von Bäumen oder Felsblöcken umgebenen Stelle, wo die Jäger leicht Schutz finden können. So verfährt man wenigstens im Walde.

In der Ebene liegt die Sache anders; da wird der Elephant der nützlichste Bundesgenosse des Menschen bei diesen gefährlichen Parforcejagden. Diese Thiere müssen dazu jedoch besonders abgerichtet sein. Trotzdem packt sie zuweilen Schrecken und Furcht, was die auf ihren Rücken sitzenden Jäger leicht in Gefahr bringt. Der Tiger springt nämlich ohne Zögern auf den Rücken eines Elephanten. Da wird der Streit zwischen ihm und dem Menschen auf dem Nacken der riesigen, selbst wüthend werdenden Pachyderme ausgekämpft, und dieser endet nur selten zum Nachtheile des Raubthieres.

So gestalten sich die Jagden der Rajahs und reichen Sportsmen von Indien, welche einen Platz in den cynegetischen Annalen mit Recht verdienen.

[262] Kapitän Hod freilich verfuhr auf andere Weise. Er spürte dem Tiger zu Fuße nach, er pflegte zu Fuß mit ihm anzubinden.

Wir folgten also Kâlagani, der raschen Schrittes voranging. Zurückhaltend, wie die Hindus im Allgemeinen, sprach er nur wenig und begnügte sich, an ihn gerichtete Fragen kurz zu beantworten.

Eine Stunde später machten wir in der Nähe eines reißenden Baches Halt, an dessen Uferwand sich noch die frischen Spuren von Thieren zeigten. In der Mitte einer kleineren Lichtung erhob sich ein Pfahl, an dem ein großes Rinderviertel hing.

Die Lockspeise war nicht ganz unberührt. Die Zähne von Schakals, diesen Spitzbuben der Fauna Indiens, hatten sie benagt; jene schweifen ja Tag und Nacht nach Beute umher – hier sollte sie ihnen nicht zu Theil werden. Ein Dutzend jener feigen Räuber flohen bei unserer Annäherung und überließen uns den Platz.

»Herr Kapitän, begann Kâlagani, hier wollen wir die Tigerin erwarten. Sie sehen, daß der Ort zu einem Hinterhalte ganz passend ist.«

Es bot in der That keine Schwierigkeit, sich in den Bäumen oder hinter den Felsblöcken so zu verbergen, daß der Pfahl in der Mitte der Waldblöße unter Kreuzfeuer zu nehmen war.

Das geschah denn auch sofort. Goûmi nahm mit mir auf demselben Aste Platz. Kapitän Hod und Fox richteten sich Beide auf den Zweigen der ersten Gabelung zweier großer, üppig grüner Eichen ein.

Kâlagani selbst hatte sich hinter einem hohen Felsblocke versteckt, den er, wenn es noth that, erklimmen konnte.

Das Thier konnte somit in einen Kreis von Feuer genommen werden, aus dem an kein Entrinnen zu denken war. Alles lag für jenes so ungünstig als möglich, obwohl wir immer auf unvorhergesehene Zwischenfälle gefaßt sein mußten.

Nun hieß es geduldig warten.

Die nach allen Seiten auseinander gestäubten Schakals ließen im benachbarten Gebüsch noch immer ihr heiseres Bellen hören, wagten sich aber an das Rinderviertel nicht wieder heran.

Eine Stunde mochte verflossen sein, als das Bellen plötzlich schwieg. Fast in dem nämlichen Augenblicke sprangen zwei oder drei Schakals aus dem Dickicht jagten über die Lichtung und verschwanden im dunkleren Walde.


Wir ließen sie herankommen. (S. 266.)

Ein Zeichen Kâlagani's, der sich anschickte, den Felsen zu ersteigen, ermahnte uns, jetzt auf der Hut zu [263] sein.

Die urplötzliche Flucht der Schakals konnte wirklich nur durch die Annäherung eines größeren Raubthieres – ohne Zweifel der Tigerin – veranlaßt sein, und wir durften jeden Moment erwarten, sie irgendwo in die Lichtung heraustreten zu sehen.

Unsere Waffen waren bereit. Schon richteten sich die Gewehre Kapitän Hod's und Fox' nach der Stelle des Gebüsches, aus dem die Schakals hervorgebrochen [264] waren; ein Fingerdruck und die Schüsse krachten! Bald bemerkte ich in den höheren Zweigen des Dickichts eine leise Bewegung; gleichzeitig hörte man das dürre Holz brechen. Irgend ein Thier bewegte sich vorsichtig, offenbar ohne Uebereilung, darunter hin. Von den Jägern, die ihm im dichten Laub auflauerten, konnte es sicherlich nichts bemerken. Dennoch schien ihm der Instinct zu sagen, daß der Ort nicht ganz geheuer sei. Wenn es nicht der Hunger trieb, wenn nicht die Ausdünstung des Fleisches jenes angelockt hätte, würde es schwerlich weiter gegangen sein.

[265] Doch – da erschien es zwischen den Zweigen eines Gebüsches und blieb, wie mißtrauisch, einen Augenblick stehen.

Es war eine Tigerin von mächtigem Wuchs, prächtigem Kopfe und geschmeidigem Körper. Sie bewegte sich schleichend vorwärts wie ein Reptil, das sich auf der Erde hinwindet.


Es wäre um den Händler geschehen gewesen... (S. 267.)

Wir ließen sie nach Verabredung bis an den Pfahl herankommen. Sie schnüffelte auf dem Boden hin, erhob sich wieder und krümmte den Rücken hoch auf, wie eine gewaltige Katze, welche eben nicht springen will.

Plötzlich krachten zwei Gewehrschüsse.

»Nummer zweiundvierzig! rief Kapitän Hod.

– Nummer achtunddreißig!« ließ Fox sich vernehmen.

Der Kapitän und sein Diener hatten zu ganz gleicher Zeit und so sicher geschossen, daß die Tigerin, von einer, wenn nicht gar von zwei Kugeln im Herzen getroffen, todt zusammenbrach.

Kâlagani sprang zuerst auf das Thier zu. Wir selbst kletterten sofort zur Erde.

Die Tigerin zuckte nicht mehr.

Wem kam jedoch die Ehre zu, sie tödtlich getroffen zu haben? Dem Kapitän oder Fox? Man begreift, daß diese Frage hier von Bedeutung war. Das Thier wurde geöffnet. Zwei Kugeln hatten das Herz getroffen.

»Ei nun, begann der Kapitän, doch nicht ohne einiges Bedauern, so zählt sie für jeden von uns zur Hälfte!

– Zur Hälfte, Herr Kapitän!« wiederholte Fox im nämlichen Tone.

Ich glaube bestimmt, daß Keiner den ihm gebührenden Antheil abgegeben hätte.

Das war also die Wunderthat, deren erfreulichstes Resultat darin lag, daß das Thier ohne Kampf unterlegen war und die Jäger nicht im Geringsten in Gefahr kamen, was übrigens bei derartigen Jagden nur selten der Fall ist.

Fox und Kâlagani blieben auf dem Schlachtfelde, um das prächtige Fell abzuziehen, während Kapitän Hod und ich nach dem Steam-House zurückkehrten.

Es liegt nicht in meiner Absicht, alle die kleinen Erlebnisse bei unseren Zügen in Tarryani einzeln aufzuzählen, wenn sie nichts besonders Charakteristisches bieten. Es genüge also die Bemerkung, daß Hod und Fox sich in keiner Weise zu beklagen hatten.

[266] Am 18. Juli begünstigte sie das Glück bei einer sogenannten »Houddi«, das ist Hüttenjagd, ganz ausnehmend, so daß sie einer ernstlichen Gefahr ohne Unfall entgingen. Solch' ein Houddi ist übrigens zur Jagd auf wilde Thiere recht vortheilhaft eingerichtet. Er bildet ein kleines, crenelirtes Fort, dessen Mauern nach einem Bache zu, wo die Thiere zur Tränke zu gehen pflegen, mit Schießscharten versehen sind. Da jene an diese kleinen Bauwerke gewöhnt sind, kommen sie ohne Mißtrauen heran und laufen so geradenwegs in's Feuer. Doch hier wie allenthalben kommt es darauf an, sie mit dem ersten Schuß tödtlich zu treffen, sonst geht die Sache ohne gefährlichen Kampf nicht ab, da der Houddi den Jägern nicht immer gegen die, in Folge einer Verwundung nur noch wüthenderen Thiere hinlänglich Schutz gewährt. So kam es denn auch, wie wir gleich sehen werden, bei der Gelegenheit, von der hier die Rede ist.

Mathias Van Guitt leistete uns Gesellschaft. Vielleicht hegte er die Hoffnung, einen nur leicht verletzten Tiger nach dem Kraal schaffen und dort pflegen und wieder heilen zu können.

An genanntem Tage kamen unseren Jägern nun drei Tiger auf einmal in den Weg, welche die erste Gewehrsalve nicht hinderte, auf die Mauern des Houddi loszustürzen. Die beiden ersten wurden zum großen Leidwesen des Händlers durch eine zweite Kugel hingestreckt, als sie schon die Mauer erklommen. Der dritte gelangte bis in's Innere desselben, blutete zwar an der Schulter, war aber nicht tödtlich getroffen.

»Hei, den fangen wir! rief Mathias Van Guitt, der bei diesen Worten einige Schritte vortrat, den kriegen wir lebendig!...«

Er hatte seinen voreiligen Satz noch nicht vollendet, als das Thier schon auf ihn zusprang und ihn niederwarf, so daß es um den Händler ohne Zweifel geschehen wäre, hätte Kapitän Hod dem Tiger nicht noch eine Kugel durch den Kopf gejagt, die ihn niederstreckte.

Schwerfällig erhob sich Mathias Van Guitt wieder.

»Aber, lieber Kapitän, sagte er, statt sich bei unserem Freunde zu bedanken, Sie hätten auch noch ein bischen warten können!...

– Warten!... Auf was denn?... antwortete Kapitän Hod, etwa bis der Tiger Ihnen mit einem Tatzenschlage die Brust zerfleischt hätte?

– Von einem Tatzenschlage stirbt man auch noch nicht!...

– Nun, meinetwegen, erwiderte Kapitän Hod sehr trocken, ein andermal werde ich warten!«

[267] Das Thier konnte nun einmal nicht die Menagerie des Kraals vermehren und diente also nur dazu, eine Decke vor das Bett zu liefern; diese glückliche Jagd brachte aber auf zweiundvierzig die Zahl der vom Kapitän, auf achtunddreißig der vom Diener erlegten Tiger, ohne die halbe Tigerin zu rechnen, welche Jeder in seine Activa eingetragen hatte.

Man darf nun aber nicht glauben, daß diese großen Jagden uns die kleineren hätten vergessen lassen. Monsieur Parazard würde das nimmer zugegeben haben. Antilopen, Gemsen, große Trappen, welche sich in der Nachbarschaf des Steam-Houses zahlreich vorfanden, boten unserer Tafel eine fortwährende Abwechslung an Wild.

Wenn wir durch Tarryani streiften, schloß sich Banks nur selten an uns an. Während mich diese Züge zu interessiren begannen, langweilten sie ihn offenbar. Ihn reizten mehr die oberen Zonen des Himalaya, wohin er sich gern begab, vorzüglich wenn Oberst Munro ihn begleitete.

Das kam indeß nur ein- bis zweimal vor. Banks hatte die Bemerkung gemacht, daß Sir Edward Munro seit Erreichung unseres Sanatoriums wieder mehr und mehr nachdenklich geworden war. Er sprach nur wenig, hielt sich abseits und verhandelte mehrfach mit dem Sergeant Mac Neil. Brüteten die Beiden über ein neues Project, das sie selbst vor Banks zu verheimlichen suchten?

Am 13. Juli erhielten wir den Besuch Mathias Van Guitt's. Vom Glücke weniger begünstigt als Kapitän Hod, hatte er seiner Menagerie noch keine weitere Erwerbung zuführen können. Weder Tiger, noch Leoparden oder Löwen schienen Lust zu haben, in die Fallen zu gehen. Ohne Zweifel reizte sie der Gedanke, sich im äußersten Westen zum Angaffen ausstellen zu lassen, nicht im mindesten. Das wurmte den Händler natürlich mit Recht und er machte auch gar kein Hehl daraus.

Kâlagani und zwei Chikaris aus seinem Personal begleiteten Mathias Van Guitt bei diesem Besuche.

Die Einrichtung des Sanatoriums in der herrlichen Umgebung gefiel ihm außerordentlich. Oberst Munro lud ihn ein, zu Tische dazubleiben. Er nahm das ohne Zögern an und versprach, der Tafel alle Ehre anzuthun.

In der Zeit vor dem Mittagsessen wollte Mathias Van Guitt das Steam-House genauer in Augenschein nehmen, dessen luxuriöse Ausstattung mit der Einfachheit seines Kraals allerdings nicht wenig contrastirte. Die beiden fahrbaren Häuser fanden seine volle Anerkennung, ich muß aber gestehen, daß der [268] Stahlriese seine Bewunderung nicht erregte. Ein Naturforscher seines Schlages mußte ja wohl diesem Meisterwerke der Mechanik gegenüber unempfindlich bleiben. Wie hätte er auch die Erzeugung dieses künstlichen Thieres, so merkwürdig das auch war, jemals billigen können?

»Denken Sie nicht so gering von unserem Elephanten, Herr Mathias Van Guitt! sagte Banks zu ihm. Das ist ein mächtiges Thier, und im Nothfalle würde es ihm gar nicht schwer fallen, neben unseren beiden Wagen Ihre ganze fliegende Menagerie mit fortzuziehen.

Ich habe meine Büffel, antwortete der Händler, und lobe mir deren ruhigen und sicheren Schritt.

– Der Stahlriese fürchtet aber weder die Tatzen, noch die Zähne des Tigers! rief Kapitän Hod dazwischen.

– Das glaube ich, meine Herren, erwiderte Mathias Van Guitt, aber warum sollten ihn diese auch anfallen? Sie machen sich aus stählernem 'Fleische verteufelt wenig!«

Wenn der Naturforscher seine Gleichgiltigkeit gegenüber unserem Elephanten nicht verhehlte, so konnten doch die Hindus, und vorzüglich Kâlagaul, gar nicht müde werden, ihn mit den Augen fast zu verschlingen. Man merkte leicht genug heraus, daß ihrer Bewunderung für das riesige Thier auch eine gewisse Portion abergläubischen Respects beigemischt war.

Kâlagani schien höchst erstaunt über die wiederholte Versicherung des Ingenieurs, daß der Stahlriese mehr Kraft habe als alle Zugthiere des Kraals zusammen. Das war auch Wasser auf Kapitän Hods Mühle, der die Gelegenheit nicht vorbeiließ, nicht ohne einen gewissen Stolz unser Abenteuer mit den drei »Proboscidien« des Prinzen Gourou Singh zu erzählen. Auf den Lippen des Händlers spielte dabei zwar ein etwas ungläubiges Lächeln, er ging aber nicht weiter auf die Sache ein.

Das Diner verlief in wünschenswerther Weise. Mathias Van Guitt that ihm wirklich alle Ehre an. Freilich strotzte unsere Küche eben von der Jagdbeute der letzten Tage, und Monsieur Parazard hatte offenbar gestrebt, sich selbst zu übertreffen. Der Keller des Steam-Houses lieferte auch verschiedene Getränke, die unserem Gaste recht gut zu munden schienen, vorzüglich zwei bis drei Gläser französischen Weines, die er mit einem unvergleichlichen Schnalzen der Zunge schlürfte.

Nach dem Essen, als wir uns trennen sollten, merkte man sogar, an der Unsicherheit der Pendelschwingungen seiner Beine, daß der Wein, wenn er ihm [269] zu Kopfe gestiegen war, auch die Beine schwer gemacht hatte. Mit einbrechender Nacht schieden wir als die besten Freunde der Welt, und Mathias Van Guitt konnte auch, Dank seinen Begleitern, ohne Unfall wieder nach dem Kraal gelangen.

Am 16. Juli entstand zwischen dem Händler und Kapitän Hod aber doch eine kleine Mißhelligkeit.

Der Kapitän hatte einen Tiger gerade in dem Augenblicke geschossen, wo dieser in eine der Klappfallen gehen wollte und zwar zum dreiundvierzigsten für Jenen, aber nicht zum achten für den Händler wurde.

Nach ziemlich lebhaften Auseinandersetzungen traten indeß die alten guten Beziehungen wieder ein, was vorzüglich der begütigenden Einmischung des Oberst Munro zu verdanken war, indem Kapitän Hod sich verpflichtete, diejenigen Raubthiere zu schonen, welche, »die Absicht zu erkennen gäben«, sich in eine der Fallen Mathias Van Guitt's fangen zu lassen.

Während der nächsten Tage herrschte geradezu abscheuliches Wetter. Wir mußten wohl oder übel im Steam-House bleiben. Unsere Zeit war kurz, denn schon währte die Regenperiode über drei Monate, und wenn unser Reiseprogramm in der von Banks entworfenen Weise durchgeführt werden sollte, hatten wir für den Aufenthalt im Sanatorium nur etwa noch sechs Wochen übrig.

Am 23. Juli wiederholten einige Bergbewohner von der Grenze ihren Besuch bei Oberst Munro. Ihr Dorf, Souari mit Namen, befand sich nur fünf Meilen von unserem Halteplatze, nahe der obersten Grenze von Tarryani.

Einer derselben theilte uns mit, daß eine Tigerin seit sechs Wochen in ihrer Nachbarschaft furchtbar wüthe. Die Heerden wurden fast decimirt, und man sprach schon davon, das unbewohnbar gewordene Souari gänzlich zu verlassen, da es weder für Thiere noch für Menschen hinlängliche Sicherheit mehr bot. Fallen, Schlingen, Hinterhalte, nichts hatte Erfolg gehabt, und die Tigerin galt schon für eines der furchtbarsten Raubthiere, von denen auch alte Bergbewohner je reden gehört.

Diese Mittheilung war, wie man sich leicht denken kann, Wasser auf Kapitän Hod's Mühle. Er erbot sich gegenüber den Landleuten sofort, sie nach dem Dorfe Souari zu begleiten, mit seiner Erfahrung als Jäger und seinem sicheren Auge den wackeren Leuten beizuspringen, die, wie mir dünkte, auf dieses Anerbieten rechneten.

»Gehen Sie mit, Maucler? fragte mich Kapitän Hod, aber in einem Tone, der es mir völlig freistellte, ja oder nein zu sagen.

[270] – Natürlich, gab ich zur Antwort, bei einer so interessanten Expedition möchte ich nicht fehlen.

– Auch ich werde Sie diesesmal begleiten, sagte der Ingenieur.

– Das ist ja ein herrlicher Gedanke, Banks!

Ja, lieber Hod, es verlangt mich danach, Sie in Thätigkeit zu sehen.

– Und ich, soll ich nicht mit dabei sein, Herr Kapitän? fragte Fox.

– Ah, der Schlaukopf! rief der Kapitän, er wäre nicht böse darüber, seine halbe Tigerin voll zu machen! – Ja wohl, Fox, Du wirst dabei sein!«

Da wir das Steam-House voraussichtlich auf drei bis vier Tage verließen, fragte Banks auch den Oberst, ob es ihm Recht sei, uns bis nach Souari zu begleiten.

Sir Edward Munro lehnte das dankend ab. Er hatte sich vorgenommen, während unserer Abwesenheit die mittlere über Tarryani gelegene Zone des Himalaya zu besuchen und Goûmi nebst dem Sergeanten Mac Neil mitzunehmen

Banks beruhigte sich damit.

Es wurde nun bestimmt, daß wir noch an demselben Tage nach dem Kraal aufbrechen und uns von Mathias Van Guitt einige Chikaris erbitten wollten, welche gewiß sehr ersprießliche Dienste leisten konnten.

Binnen einer Stunde, gegen Mittag, erreichten wir unser Ziel. Der Händler wurde von dem Vorhaben unterrichtet. Er verhehlte keineswegs seine geheime Befriedigung, als er von den kühnen Raubzügen der Tigerin hörte, »welche, sagte er, dazu geschaffen scheine, bei den Kennern die Achtung vor den Katzen der Halbinsel zu erhöhen.«

Er stellte uns drei seiner Hindus zur Verfügung, ohne Kâlagani, der stets bereit war, wo es galt, einer Gefahr entgegen zu gehen.


Wir gingen langsam, geräuschlos vorwärts. (S. 275.)

Mit Kapitän Hod traf Jener nur das Abkommen, daß die Tigerin, wenn sie unerwarteter Weise sollte lebendig gefangen werden können, der Menagerie Mathias Van Guitt's angehöre. Welches Zugmittel, wenn eine an den Balken des Käfigs hängende Notiz in beredten Worten gesprochen hätte, »von den Großthaten einer der Königinnen Tarryanis, die nicht weniger als hundertachtunddreißig Personen beiderlei Geschlechts aufgefressen hatte.«

Unsere kleine Gesellschaft verließ den Kraal gegen zwei Uhr Nachmittags. Vor vier Uhr noch gelangten wir, eine östliche Richtung bergaufwärts einhaltend, ohne Zwischenfall nach Souari. Hier war der Schrecken auf seinem Höhepunkt. Am nämlichen Morgen hatte die Tigerin ein unglückliches Hinduweib, [271] das sich unbedachtsam nach einem Bache begeben, gepackt und in den Wald geschleppt.

Das Haus eines Bergbewohners, eines reichen englischen Bodenpächters, nahm uns gastfrei auf. Unser Wirth hatte mehr als alle Anderen Ursache, sich über das unergreifbare Raubthier zu beklagen, dessen Fell er gern mit einigen tausend Rupien bezahlt hätte.

»Herr Kapitän Hod, begann er, vor mehreren Jahren zwang eine Tigerin in den Centralprovinzen die Bewohner von dreizehn Dörfern zur Flucht, wodurch[272] zweihundertfünfzig Quadratmeilen des besten Bodens ungenutzt liegen blieben. Wenn das hier so fort geht, wie in der letzten Zeit, muß die ganze Provinz aufgegeben werden.

– Und Sie haben schon alle Mittel versucht, der Tigerin habhaft zu werden? fragte Banks.


Kapitän Hod erwartete das Raubthier. (S. 277.)

– Alle, Herr Ingenieur! Fallen, Gruben, selbst mit Strychnin vergiftete Köder! Nichts hat Erfolg gehabt!

– Lieber Freund, sagte Kapitän Hod, ich verspreche zwar nicht bestimmt, [273] daß wir Ihnen Vergeltung schaffen, aber daß wir Alles thun werden, was in unseren Kräften steht!«

Sobald wir in Souari vollständig untergebracht waren, wurde noch für denselben Tag ein Treibjagen verabredet. Uns, unseren Leuten und den Chikaris aus dem Kraal schlossen sich etwa zwanzig Landleute an, welche das Terrain, auf dem wir operiren wollten, gründlich kannten.

Obwohl Banks nichts weniger als Jäger war, schien dieser Ausflug doch sein Interesse zu erregen.

Während der drei Tage des 24., 25. und 26. Juli durchstreiften wir weite Strecken des Gebirges ganz erfolglos, außer daß zwei Tiger, an die man gar nicht gedacht, der Kugel des Kapitäns erlagen.

»Den fünfundvierzigsten!« begnügte sich Hod anzumelden, ohne darauf besonderes Gewicht zu legen.

Am 27. endlich verrieth die Tigerin ihre Gegenwart durch eine neue Uebelthat. Ein unserem Wirthe gehöriger Büffel verschwand von einer Weide dicht neben Souari, und eine Viertelmeile vom Dorfe fand man nur wenig Ueberreste von demselben wieder. Die Frevelthat – ein Mord mit Vorbedacht, würde ein Jurist sagen – war offenbar vor Tagesanbruch geschehen. Der Mörder konnte nicht fern sein.

War der eigentliche Urheber jenes Verbrechens aber wirklich jene schon so lange vergeblich gesuchte Tigerin?

Die Hindus aus Souari hegten darüber keinen Zweifel.

»Das ist mein Onkel gewesen, es kann kein anderer gewesen sein, der den Streich verübt hat!« erklärte einer der Bergbewohner.

Mein Onkel! So bezeichnen die Hindu nämlich im größten Theile der Halbinsel den Tiger ganz allgemein. Es kommt das daher, daß sie die Seele eines ihrer Vorfahren in dem Körper eines Mitglieds der Katzenfamilie vermuthen. Hier hätten sie freilich richtiger sagen sollen: Das ist meine Tante!

Sofort wurde der Entschluß gefaßt, dem Thiere vor Einbruch der Nacht nachzuspüren, weil jenes sich im Dunklen jeder Nachstellung leichter zu entziehen vermochte. Jetzt mußte es stark gesättigt sein und verließ seinen Schlupfwinkel unter zwei bis drei Tagen voraussichtlich nicht wieder.

Wir brachen also auf. Von der Stelle, wo der Büffel geraubt worden war, bezeichneten Blutspuren den von der Tigerin eingeschlagenen Weg. Diese Spuren führten nach einem kleinen Gehege, das freilich schon mehrmals abgesucht [274] worden war, ohne etwas darin zu finden. Jetzt sollte das Dickicht dadurch umzingelt werden, daß man einen Kreis bildete, aus dem das Thier wenigstens nicht ohne gesehen zu werden entwischen konnte.

Die Einwohner stellten sich in der Weise auf, daß sie nach und nach durch Verengerung des Kreises dem Mittelpunkte näher kamen. Kapitän Hod, Kâlagani und ich, wir befanden uns auf der einen Seite, Banks und Fox auf der anderen, immer aber in einer Stellung, um mit den Leuten aus dem Kraal und jenen aus dem Dorfe Fühlung zu behalten. Offenbar war jeder Punkt des Ringes mit gleicher Gefahr bedroht, da Niemand wissen konnte, wohin die Tigerin ausbrechen würde. Daß das Thier sich in dem Wäldchen befand, stand außer Zweifel. Die Spuren, welche an einer Seite des Gehölzes ausliefen, waren nirgends anders wieder aufzufinden. Man konnte eben nicht behaupten, ob hier sein gewöhnliches Lager war, da man den Ort schon wiederholt vergeblich durchsucht hatte; für den Augenblick sprachen jedoch alle Voraussetzungen dafür, daß es sich in dem Wäldchen verborgen hielt.

Es war jetzt gegen acht Uhr Morgens. Nachdem alle Maßregeln getroffen, gingen wir langsam, geräuschlos vorwärts, indem wir den einschließenden Ring enger zusammenzogen. Eine halbe Stunde später stießen wir auf die Linie der ersten Bäume.

Bis jetzt regte sich nichts; nichts verrieth die Anwesenheit des Raubthieres, und ich fragte mich schon, ob wir uns nicht ganz zwecklos abmühten.

Augenblicklich konnte man nur Diejenigen sehen, welche ein sehr beschränktes Stück des Bogens einnahmen, und doch lag sehr viel daran, ganz gleichmäßig vorzudringen.

Aus diesem Grunde waren wir übereingekommen, daß der zuerst in den Wald Eindringende einen Gewehrschuß als Signal abgeben sollte.

Dieses Signal erfolgte durch Kapitän Hod, der immer voraus war, und wir drangen durch den Waldrand ein. Ich sah nach meiner Uhr; sie zeigte acht Uhr fünfunddreißig Minuten.

Nach einer weiteren Viertelstunde war der Kreis so eng geworden, daß wir uns fast mit den Ellenbogen berührten, und nun hielt Alles vor der dichtesten Mitte des Gehölzes an – aber noch hatte sich nichts gezeigt.

Das rings herrschende Schweigen unterbrach nur das Knacken dürrer Aeste, die trotz aller Vorsicht doch zuweilen zertreten wurden.

Da ließ sich ein dumpfes Geheul vernehmen.

[275] »Dort steckt die Bestie!« rief Kapitän Hod und zeigte nach dem Eingange einer Felsenhöhle, über der sich eine Gruppe hoher Bäume erhob.

Kapitän Hod täuschte sich nicht. Mochte das auch nicht der gewöhnliche Schlupfwinkel der Tigerin sein, so hatte sie doch, als sie sich von einer großen Gesellschaft von Jägern verfolgt sah, darin Schutz gesucht.

Hod, Banks, Fox, Kâlagaul und einige Leute aus dem Kraal hatten sich dem engen Eingange genähert, zu dem auch einzelne Blutspuren hinführten.

»Wir werden da hineindringen müssen, sagte Kapitän Hod.

– Das dürfte gefährlich werden, meinte Banks, der Erste, welcher hinein gelangt, könnte ohne schwere Verwundung kaum davonkommen.

– Ich wag's, rief Hod, nachdem er sich überzeugt, daß seine Büchse gut in Stand war.

– Nach mir, Herr Kapitän, erklärte Fox, der sich schon zu der engen Oeffnung der Höhle niederbog.

– Nein, Fox, nimmermehr! rief Kapitän Hod, der kommt mir zu!

– Aber, Herr Kapitän, entgegnete Fox in sanftem Tone, ich bin ja um sechs im Rückstand!«...

Beide hatten in dem Augenblicke nur die Liste der erlegten Tiger im Kopfe.

»Ihr werdet weder der Eine noch der Andere da hinein gehen, fiel jetzt Banks ein; das lasse ich nimmer zu!

– Vielleicht giebt es noch ein anderes Mittel, unterbrach Kâlagani den Ingenieur.

– Und welches?

– Nun, wir räuchern die Höhle aus, antwortete der Hindu. Das Thier muß dann zum Vorschein kommen. Wir laufen dabei weniger Gefahr und können es draußen leichter erlegen.

– Kâlagani hat Recht, sagte Banks... Wohlan, Leute, schafft trockenes Holz und dürres Laub herbei! Stopft mir die Oeffnung gut zu. Der Wind wird Rauch und Flammen nach innen treiben, dann muß sich die Bestie entweder rösten lassen oder zu entfliehen suchen.

– Die Tigerin wird das Letztere wählen, meinte der Hindu.

– Nach Belieben, versetzte Hod, wir werden zur Hand sein, sie im Vorübergehen zu begrüßen!«

Sofort wurde nun Laubwerk, vertrocknetes Gras, dürres Holz – daran fehlte es in dem Wäldchen nicht – kurz, ein großer Haufen von brennbarem [276] Material vor der Oeffnung der Höhle aufgestapelt. Im Innern derselben blieb noch Alles still. Nichts zeigte sich in dem dunklen Schlunde, der ziemlich tief zu sein schien. Doch hatten mich meine Ohren nicht betrogen. Das Geheul kam bestimmt von hier heraus.

Jetzt zündete man Feuer an. Bald stand Alles in lichten Flammen. Ein scharfer, dichter Qualm stieg von dem Brandherd empor, den der Wind zurücktrieb und der die Luft im Innern völlig unathembar machen mußte.

Da hörte man ein zweites, aber weit wüthenderes Geheul. Das Thier merkte, daß auch sein letzter Schlupfwinkel angegriffen wurde, und um nicht zu ersticken, mußte es wohl oder übel nach außen durchbrechen.

Wir warteten, längs der Seitenwand des Felsens aufgestellt und halb gedeckt durch Baumstämme, um dem ersten Ansturm auszuweichen.

Der Kapitän hatte sich einen anderen Platz erwählt, und ich muß gestehen, gerade den gefährlichsten. Dieser befand sich am Eingange zu einem Stege in dem Gehölz, dem einzigen, den die Tigerin einschlagen mußte, wenn sie durch das Dickicht entfliehen wollte. Hod kniete auf der Erde, um einen sicheren Standpunkt zu haben, und hatte die Büchse schon im Anschlag liegen; der ganze Mensch war unbeweglich wie Marmor.

Kaum drei Minuten verflossen seit der Anzündung des Holzhausens, als ein drittes Geheul, oder diesmal vielmehr ein halb ersticktes Röcheln aus der Mündung der Höhlung heraustönte. Plötzlich wurde der brennende Haufen auseinandergerissen und ein riesiger Körper erschien in dem dicken Rauche.

Es war die gesuchte Tigerin.

»Feuer!« rief Banks.

Zehn Flintenschüsse krachten, wir überzeugten uns aber später, daß keine Kugel ordentlich getroffen hatte. Das Thier trat uns gar zu schnell vor die Augen. Wie hätte man auch bei den schwarzen Rauchwirbeln, die es verhüllten, richtig zielen können!

Die Tigerin berührte nach ihrem ersten Satze nur die Erde, um zu einem zweiten auszuholen und nach dem Dickicht zu stürzen.

Kapitän Hod erwartete das Raubthier mit größter Kaltblütigkeit, und indem er es gleichsam im Fluge auf's Korn nahm, jagte er demselben eine Kugel entgegen, welche es freilich nur an einer Schulter verwundete.

Mit der Schnelligkeit eines Blitzes hatte die Tigerin sich auf unseren Freund geworfen, ihn zu Boden gestreckt und wollte ihm eben den Kopf mit [277] einem furchtbaren Tatzenschlage zerschmettern... Da sprang Kâlagani hinzu, ein langes Messer in der Faust.

Der Aufschrei, der uns entfuhr, war noch nicht verhallt, als der muthige Hindu auf die Bestie losstürzte und diese gerade an der Kehle packte, als die rechte Tatze schon auf den Schädel des Kapitäns niederfallen sollte.

Gestört durch diesen unerwarteten Angriff, warf das Thier den Hindu durch eine Bewegung der Hüfte zu Boden und kehrte sich grimmig gegen diesen.

Kapitän Hod aber hatte sich mit einem Satze erhoben, ergriff das von Kâlagani verlorene Messer und bohrte es mit sicherer Hand der Katze tief in's Herz.

Die Tigerin wälzte sich am Boden.

Höchstens fünf Minuten lang hatte die ganze aufregende Scene gewährt.

Kapitän Hod lag noch auf den Knieen, als wir zu ihm eilten. Kâlagaul, an der Schulter blutend, erhob sich eben wieder.

»Bag mahryaga! Bag mahryaga!« rief der Hindu, was so viel bedeutete als: Die Tigerin ist todt!

Ja wohl, sie war todt! Welch' herrliches Thier! Zehn Fuß lang von der Schnauze bis zur Schwanzspitze, der Körper in passendem Verhältniß, mit ungeheueren, mit langen Krallen bewehrten Tatzen, die auf der Mühle des Schleifers zugeschärft schienen.

Während wir das Raubthier bewunderten, überhäuften es die Hindus, ihrem gerechten Grolle Luft machend, mit Schmähungen aller Art. Kâlagani hatte sich dem Kapitän genähert.

»Ich danke, Herr Kapitän! sagte er.

– Was hast Du zu danken? erwiderte der Kapitän, ich, lieber Freund, stehe in Deiner Schuld. Ohne Deine Hilfe wäre es um einen der Kapitäne der ersten Schwadron von den Carabiniers der königlichen Armee geschehen gewesen!

– Ohne Sie wäre ich jetzt todt! antwortete kühl der Hindu.

– Aber, alle Wetter, sprangst Du nicht mit dem Messer in der Hand auf die Tigerin zu, als sie mir eben die Hirnschale einhämmern wollte?

– Sie haben ihr aber den Todesstoß gegeben, Herr Kapitän; sie bildet Ihren siebenundvierzigsten!

– Hurrah! Hurrah! schrieen die Hindus. Hurrah dem Kapitän Hod!«

Der Kapitän war allerdings berechtigt, diese Tigerin auf sein Conto zu schreiben, aber er dankte auch Kâlagani durch einen warmen Händedruck.

[278] »Kommt mit nach dem Steam-House, wandte sich Banks an Kâlagani. Euere Schulter ist durch einen Tatzenschlag zerrissen; in unserer Reise-Apotheke werden wir hoffentlich Mittel finden, diese Wunde zu heilen!«

Kâlagani verneigte sich zustimmend, und nachdem wir von den Bergbewohnern, welche uns mit Dankesbezeigungen überschütteten, Abschied genommen, begaben wir uns wieder nach dem Sanatorium zurück.

Die Chikaris verließen uns, um nach dem Kraal zu gehen. Auch diesesmal kehrten sie mit leeren Händen zurück, und wenn Mathias Van Guitt auf jene »Königin von Tarryani« gerechnet hatte, so blieb ihm nichts weiter übrig, als diese zu bedauern. Unter den gegebenen Verhältnissen war es wirklich unmöglich, dieselbe lebendig zu fangen.

Gegen Mittag trafen wir wieder bei dem Steam-House ein. Hier wartete unser eine unangenehme Ueberraschung. Zu unserem größten Bedauern waren Sir Edward Munro, Sergeant Mac Neil und Goûmi weggereist.

Ein an Banks gerichtetes Billet theilte diesem zur Beruhigung mit, Sir Edward Munro wolle, geleitet auch von dem Verlangen, einen Ausflug bis zur Grenze von Nepal vorzunehmen, dabei gewisse Zweifel, welche noch über die Genossen Nana Sahib's herrschten, aufklären, und er werde sicherlich zurück sein, bevor die Zeit für die Abfahrt aus dem Himalaya herankäme.

Bei der Vorlesung dieser Zeilen schien es mir, als ob Kâlagani eine halb ärgerliche Bewegung machte.

Weshalb diese Bewegung? Ich täuschte mich wahrscheinlich.

5. Capitel
Fünftes Capitel.
Nächtlicher Ueberfall.

Die Reise des Oberst Munro erregte in uns doch eine lebhafte Unruhe.


Während wir das Raubthier bewunderten. (S. 278)

Er handelte offenbar in der Erinnerung an eine Vergangenheit, die wir längst für immer abgeschlossen glaubten. Doch was war zu thun? Den Spuren Sir Edward Munro's nachzugehen? Wir wußten ja nicht, welche Richtung er eingeschlagen, [279] welches Ziel zu erreichen er sich vorgenommen habe. Andererseits konnten wir uns nicht verhehlen, daß, wenn er gegen Banks über nichts gesprochen hatte, er nur die Einwürfe seines Freundes fürchtete, denen er enthoben sein wollte. Banks bedauerte jetzt lebhaft, an unserer Expedition theilgenommen zu haben.

Wir mußten uns also zufrieden geben und den Lauf der Dinge abwarten. Oberst Munro wollte ja sicherlich vor Ende August zurück sein, da dieser Monat der letzte war, den wir im Sanatorium zuzubringen gedachten, um dann in südwestlicher Richtung den Weg nach Bombay einzuschlagen.

[280] Kâlagani, dem Banks alle mögliche Sorgfalt widmete, blieb nur vierundzwanzig Stunden im Steam-House, seine Wunde schien sehr schnell zu vernarben, und er verließ uns, um seinen Dienst im Kraal wieder anzutreten.

Auch zu Anfang des August fiel reichlicher Regen – es war ein Wetter, bei dem sich »Frösche einen Schnupfen holen konnten«, wie Kapitän Hod sagte. Immerhin durfte man erwarten, daß dieser Monat weniger regenreich sein werde als der Juli und uns folglich auch mehr Ausflüge in die Umgegend gestatten würde.


Er trollte mit vergnügtem Grunzen seines Weges. (S. 283.)

Mit dem Kraal standen wir wie bisher in häufiger Beziehung. Mathias Van Guitt war leider immer noch nicht zufriedengestellt. Auch er wollte sein Lager mit Anfang September aufgeben. Da ihm aber noch immer ein Löwe, zwei Tiger und zwei Leoparden [281] fehlten, hegte er doch einige Zweifel, ob es bis dahin noch gelingen werde, seinen Thierbestand zu completiren.

Statt der Schauspieler, die er für Rechnung seiner Auftraggeber engagiren wollte, fanden sich in seiner Agentur andere ein, für die er kein Interesse hatte.

So fing sich z. B. am 24. August ein schöner Bär in einer der Fallen.

Wir befanden uns eben im Kraal, als die Chikaris in einem fahrbaren Käfige einen Gefangenen von großem Wuchse, mit schwarzem Pelze, scharfen Krallen und langbehaarten Ohren – dem besonderen Kennzeichen für die Familie der Bären in Indien – zur Stelle schafften.

»Nun, was thue ich mit diesem unnützen Tardigraden! rief der Händler achselzuckend.

– Bruder Ballon! Bruder Ballon!« ließen sich dagegen die Hindus vernehmen.

Es scheint fast, als ob die Hindus, wenn sie nur die Neffen der Tiger sind, sich als die Brüder der Bären betrachten.

Ungeachtet dieses Verwandtschaftsgrades empfing Mathias Van Guitt Bruder Ballon doch mit ganz unzweideutig schlechter Laune. Bären fangen, wo er Tiger brauchte, daran konnte ihm nicht viel liegen. Was sollte er mit dem lästigen Thiere beginnen? Er verspürte keine Lust, dasselbe zu füttern, ohne die Aussicht, auf seine Kosten zu kommen.

Der indische Bär ist auf den Märkten Europas nicht besonders gesucht. Er hat weder den Handelswerth des amerikanischen Grizzly, noch den des Eisbären. Deshalb bekümmerte sich Mathias Van Guitt als gewiegter Kaufmann nicht viel um ein so beschwerlich fortzuschaffendes Thier, das er nur schwierig wieder an den Mann bringen konnte.

»Wollen Sie ihn? fragte er den Kapitän Hod.

– Was soll ich denn damit anfangen? antwortete der Kapitän.

– Ei, Sie machen Beefsteaks davon, sagte der Händler, wenn ich mich dieser Katachrese bedienen darf.

– Herr Mathias Van Guitt, bemerkte da Banks ganz ernsthaft, die Katachrese ist eine in jedem Falle erlaubte Redefigur, wo sie, in Ermanglung eines anderen Ausdruckes, den Gedanken passend verdeutlicht.

[282] – Das war auch meine Absicht, meinte der Händler.

– Nun, Hod, fuhr Banks fort, nehmen Sie den Bären des Herrn Van Guitt oder nehmen Sie ihn nicht?

– Meiner Treu, nein! erklärte der Kapitän bestimmt. Beefsteaks von einem erlegten Bären zu essen, das möchte zur Noth noch angehen; aber einen Bären zu schlachten, um ihn zu Beefsteaks zu verarbeiten, das reizt meinen Appetit wahrlich nicht!

– Nun, so setzt den Plantigraden wieder in Freiheit!« rief Mathias Van Guitt seinen Chikaris zu.

Diese gehorchten dem Befehle. Der Käfig wurde aus dem Kraal hinausgeschafft. Einer der Hindus öffnete das Gitter desselben.

Bruder Ballon, der seine beschämende Lage fühlte, ließ sich das nicht zweimal sagen. Er trabte ruhig durch die Thür des Gefängnisses, schüttelte ein wenig den Kopf, womit er vielleicht seinen Dank ausdrücken wollte, und trollte mit vergnügtem Grunzen seines Weges.

»Da haben Sie ein gutes Werk gethan, sagte Banks, das wird Ihnen Glück bringen, Herr Van Guitt!«

Banks sollte richtig prophezeit haben. Schon der Morgen des 6. August brachte dem Händler seine Belohnung, da er ihm eines der seiner Menagerie noch fehlenden Raubthiere in die Hand lieferte.

Das ging folgendermaßen zu.

Mathias Van Guitt, Kapitän Hod und ich in Begleitung Fox', des Maschinisten Storr und Kâlagani's durchsuchten seit der Morgendämmerung ein Cactus-und Mastixdickicht, als wir plötzlich ein halbersticktes Brüllen vernahmen.

Sofort machten wir die Gewehre zum Feuern fertig, schlossen uns alle Sechs dicht aneinander, um nicht einzeln überfallen werden zu können, und gingen nach der verdächtigen Stelle langsam vor.

Nach fünfzig Schritten ließ der Händler Halt machen. Aus der Art des Gebrülls schien er zu erkennen, um was es sich hier handle, und so bat er – womit er sich vor Allem an Kapitän Hod wandte – darum, ja nicht unnöthig zu schießen.

Dann ging er allein noch einige Schritte vorwärts, während wir zurückblieben.

»Richtig, ein Löwe!« rief er.

[283] An dem Ende eines festen, an der Gabelung zweier starken Zweige angebrachten Strickes hing in der That ein gewaltiges Thier.

Es war ein Löwe, zwar ein Löwe ohne Mähne – wodurch die hiesigen sich von ihren Stammverwandten in Afrika unterscheiden – aber doch ein wirklicher Löwe, wie ihn Mathias Van Guitt brauchte und längst suchte.

Das wilde Thier, das mit einer Vordertatze durch den Laufknoten des Strickes gehalten war, riß an diesem zwar heftig herum, konnte sich aber nicht davon befreien.

Kapitän Hod wollte doch schon, trotz der Ermahnung des Händlers, Feuer geben.

»Schießen Sie nicht, Kapitän! rief Mathias Van Guitt, ich beschwöre Sie, schießen Sie nicht!

– Aber...

– Nein, nein, sage ich Ihnen! Dieser Löwe hat sich in einer meiner Schlingen gefangen, er gehört mir!«

Wir hatten freilich eine Schlinge – eine Hängeschlinge, möchte ich sagen, – von sehr einfacher und doch sinnreicher Construction vor uns.

Ein tüchtiger Strick wird an einem starken, aber biegsamen Baumzweige befestigt. Dieser Zweig wird so zur Erde herabgebogen, daß der untere Theil des Strickes, dessen Ende einen Laufknoten bildet, in den Einschnitt eines fest in den Boden eingerammten Pfahles geklemmt werden kann. An dem Pfahle selbst bringt man einen Köder in der Weise an, daß ein Thier, wenn es diesen herabholen will, entweder den Kopf oder doch eine Tatze durch die Schlinge stecken muß. Wenn es nun aber nur ganz wenig an der Lockspeise zerrt, zieht es auch den Strick aus dem Einschnitte, der Zweig schnellt empor, das Thier wird mit in die Höhe gehoben und gleichzeitig gleitet ein schwerer Holzcylinder an dem Stricke herab, schließt dadurch die Schlinge fester und verhindert, daß diese sich durch die Anstrengung des hängenden Thieres wieder öffnet.

Diese Sorten Fallen trifft man in den Wäldern Indiens sehr häufig an, und Raubthiere fangen sich darin leichter, als man auf den ersten Blick glauben sollte. Meist wird das Thier dabei freilich am Halse eingeschnürt, wodurch es schnell erstickt, während das schwere Holzstück ihm auch den Schädel halb zerschmettert. Der Löwe aber, der sich vor unseren Augen wand, hatte sich nur mit einer Tatze gefangen. Er war also lebend und werth, unter den vierbeinigen Gästen des Kraals zu figuriren.

[284] Erfreut über diesen Fang, sendete Mathias Van Guitt Kâlagani nach dem Kraal, um den fahrbaren Käfig und einen Wagenführer herbeizuholen. Inzwischen konnten wir das Thier, dessen Wuth unsere Anwesenheit verdoppelte, mit aller Muße beobachten.

Der Händler wendete kein Auge von demselben ab. Er umkreiste den Baum von allen Seiten, natürlich mit der Vorsicht, sich außer Schuß- oder eigentlich Hiebweite zu halten, da der Löwe mit den Tatzen gewaltig ausschlug.

Nach einer halben Stunde kam der von zwei Büffeln gezogene Käfig an. Man ließ den Gehängten hineinsinken, was kein so leichtes Stück Arbeit war, und wir schlugen wieder den Weg nach dem Kraal ein.

»Ich fing wirklich schon an zu verzweifeln, äußerte Mathias Van Guitt; die Löwen sind nicht in zu großer Anzahl unter den Nemoralen Indiens vorhanden...

– Was? Unter den Nemoralen? fragte Kapitän Hod.

– Ja, das heißt unter den Thieren, welche durch die Wälder schweifen, und ich gratulire mir, diesen Kerl, der meiner Menagerie Ehre machen wird, gefangen zu haben.«

Mathias Van Guitt hatte sich von diesem Tage ab überhaupt nicht mehr über den früheren Unstern zu beklagen.

Am 11. August wurden zwei Leoparden zusammen in der nämlichen Falle gefangen, aus der wir den Händler befreit hatten.

Es waren das zwei Tchitas, ähnlich jenem, der in den Ebenen von Rohilkande den Stahlriesen so kühn angegriffen hatte und dessen wir damals nicht habhaft werden konnten.

Jetzt fehlten nur noch zwei Tiger, um den Stock Mathias Van Guitt's vollzählig zu machen.

Der 15. August kam heran. Oberst Munro war noch nicht wieder erschienen, ebensowenig erhielten wir Nachrichten von ihm. Banks war unruhiger, als er sich den Anschein gab. Er befragte Kâlagaul, der ja die nepalische Grenze kannte über die Gefahren, denen Sir Edward Munro ausgesetzt sein könne, wenn er sich in jene unabhängigen Gebiete hineinwagte. Der Hindu versicherte ihm, daß sich in der Nähe von Tibet kein einziger Parteigänger Nana Sahib's mehr aufhalte. Jedenfalls bedauerte er, daß der Oberst ihn nicht als Führer mitgenommen habe. Seine Dienste wären ihm in einem Lande, das er bis auf [285] den einsamen Fußsteg kannte, gewiß von Nutzen gewesen. Jetzt war ja aber gar nicht daran zu denken, jenen aufzusuchen.

Kapitän Hod und Fox setzten ihre Ausflüge durch Tarryani unermüdlich fort. Unterstützt von den Chikaris des Kraals, gelang es ihnen, drei weitere mittelgroße Tiger ohne große Gefahr zu erlegen. Zwei von diesen kamen auf Rechnung des Kapitäns, der eine auf Rechnung des Dieners.

»Achtundvierzig! sagte Hod, der die runde Summe von fünfzig gern voll gemacht hätte, bevor er den Himalaya verließ.

– Neununddreißig!« zählte Fox, ohne von einem gewaltigen Panther zu reden, der unter seiner Kugel gefallen war.

Am 20. August ging der vorletzte der von Mathias Van Guitt gesuchten Tiger in eine der Fallen, der er aus Instinct oder Zufall bisher ausgewichen war. Wie das gewöhnlich geschieht, verletzte sich das Thier durch den Fall, doch schien die Wunde keine schwere zu sein. Einige Tage Ruhe genügten zur Heilung derselben, und jedenfalls sah man zur Zeit der Ablieferung an Hagenbeck in Hamburg davon nicht mehr das Geringste.

Die Verwendung solcher Fallen wird von allen Kennern als eine barbarische Methode verurtheilt. Handelt es sich nur darum, die Thiere zu vernichten, so mag wohl jedes Mittel gelten, beabsichtigt man aber, dieselbenlebendig einzufangen, so verenden sie doch zu häufig in Folge des Sturzes, vorzüglich, wenn sie in jene fünfzehn bis zwanzig Fuß tiefen Gruben fallen, welche zum Fange der Elephanten bestimmt sind. Unter zehn findet man kaum eines, das nicht einen gefährlichen Knochenbruch erlitten hat. Selbst in Mysore, wo man diesem Verfahren mit Vorliebe huldigte, wird es, nach Aussage des Händlers, jetzt mehr und mehr verlassen.

Ein einziger Tiger fehlte also noch der Menagerie des Kraals, und Mathias Van Guitt hätte diesen gar zu gern in seinem Käfige gesehen, denn es drängte ihn jetzt, nach Bombay aufzubrechen.

Dieser Tiger sollte nun zwar bald genug erlangt werden, aber freilich um welchen Preis! Ich muß hierüber etwas ausführlicher berichten, denn das Thier wurde theuer – sehr theuer – bezahlt.

Kapitän Hod hatte für die Nacht des 26. August einen Jagdausflug verabredet. Alle Vorzeichen ließen auf einen günstigen Erfolg rechnen, da der Himmel wolkenlos, die Luft ruhig und der Mond im Abnehmen war. Bei ganz tiefer Finsterniß verlassen die Raubthiere nur ungern ihre Höhlen, während [286] sie bei mäßigem Lichtschein desto lieber umherschweifen. Der »Meniscus« – ein Wort, womit Mathias Van Guitt den sichelförmigen Mond zu bezeichnen pflegte – der Meniscus mußte also nach Mitternacht seine bleichen Strahlen herabsenden.

Kapitän Hod und ich, Fox und Storr, der an solchem Sport allmählich Gefallen fand, bildeten den Kern der Expedition, der sich der Händler, Kalagaul und einige Hindus anschließen sollten.

Nach beendigter Mahlzeit und nachdem wir uns von Banks, der eine Einladung, uns zu begleiten, abschlug, verabschiedet hatten, verließen wir das Steam-House gegen sieben Uhr Abends und kamen gegen acht Uhr ohne bemerkenswerthen Zwischenfall in den Kraal an.

Mathias Van Guitt stand eben vom Abendessen auf. Er begrüßte uns in der gewohnten eigenthümlichen Weise. Sofort traten wir zur Berathung zusammen und verabredeten alles Weitere bezüglich der anzustellenden Jagd.

Wir wollten uns in der Nähe eines Bergstromes auf die Lauer legen, der im Grunde einer jener Schluchten, welche man hier »Nullahs« nennt, zwei Meilen vom Kraal und an einer Stelle vorüberfloß, wohin ein Tigerpärchen jede Nacht zu kommen pflegte. Ein Köder war daselbst nicht angebracht worden, da das nach Aussage der Hindus überflüssig schien. Ein vor kurzer Zeit in diesem Theile Tarryanis abgehaltenes Treibjagen hatte den Beweis geliefert, daß die Tiger schon, um ihren Durst zu löschen, jene Schlucht regelmäßig aufsuchten. Es war auch bekannt, daß man sich dort günstig aufstellen konnte.

Den Kraal sollten wir vor Mitternacht nicht verlassen. Jetzt war es erst neun Uhr. Nun hieß es warten zu lernen, ohne sich dabei zu sehr zu langweilen.

»Meine Herren, begann Mathias Van Guitt, meine Wohnung steht gänzlich zu ihrer Verfügung.


Wir gehen spazieren.

Ich ersuche Sie, es wie ich zu machen und sich niederzulegen. Wir müssen noch vor dem frühen Morgen hinaus, und einige Stunden Schlaf werden uns für etwaige Strapazen stärken.

– Haben Sie Lust, zu schlafen, Maucler? fragte mich Kapitän Hod.

– Nein, gab ich zur Antwort. Ich werde lieber umherspazieren, bis wir fortgehen, als mich gerade dann wecken zu lassen, wenn ich im tiefsten Schlafe liege.

– Wie es Ihnen beliebt, meine Herren, bemerkte der Händler. Ich für meinen Theil fühle schon jenes spasmodische Blinzeln der Augenlider, welches die Müdigkeit hervorbringt. Sie sehen, ich schwanke schon so zwischen Wachen und Schlafen!«

[287] Mathias Van Guitt erhob dabei die Arme, warf, wie durch unwillkürliche Muskelbewegung, den Kopf zurück und gähnte recht herzhaft.

Als er mit seinen Verrenkungen fertig war, winkte er uns noch ein Adieu zu und verschwand in der Hütte, wo er jedenfalls bald in sanftem Schlummer lag.

»Und was beginnen wir nun? fragte ich.

– Wir gehen spazieren, antwortete Kapitän Hod, wir gehen im Kraal auf und ab. Die Nacht ist schön, und ich werde zur Zeit besser bereit sein, zu [288] marschiren, als wenn ich jetzt zwei bis drei Stunden lang schliefe. Der Schlaf ist zwar unser bester Freund, leider läßt er aber manchmal lange Zeit auf sich warten!«

So trotteten wir also, plaudernd und träumend, langsam durch den Kraal. Storr, »den sein bester Freund gewöhnlich nicht lange warten ließ«, lag am Fuße eines Baumes und schlief schon fest. Die Chikaris und die Wagenführer hockten ebenfalls in ihrer Ecke und überhaupt wachte sonst kein Mensch innerhalb der Einzäunung.


»Zehn Tiger und ein Dutzend Panther!« rief er herab. (S. 293.)

Es wäre das auch überflüssig gewesen, da der von einer Palissade umschlossene Kraal vollständig abge [289] sperrt war.

Kâlagani hatte sich selbst noch überzeugt, ob das Thor gut verwahrt sei; nachdem das geschehen, wünschte er uns im Vorübergehen gute Nacht und begab sich nach dem Häuschen, das er mit seinen Gefährten bewohnte.

Kapitän Hod und ich, wir befanden uns nun ganz allein.

Nicht allein die Leute Van Guitt's, sondern auch die Hausthiere und die Raubthiere schliefen alle, diese in ihren Käfigen, jene zusammen unter großen Bäumen am Ende des Kraals. Drinnen und draußen herrschte allgemeines Schweigen.

Unsere Promenade führte uns zunächst nach der Stelle, wo die Büffel lagen. Die schönen, sanften und gelehrigen Wiederkäuer waren nicht einmal eingeschlossen. Gewohnt, unter dem Blätterdache mächtiger Ahornbäume zu lagern, sahen wir sie gemächlich hingestreckt, die Hörner untereinander verwickelt, die Füße untergeschlagen, und man hörte nur das langsame, schnaufende Athmen der mächtigen Körper.

Auch unsere Annäherung störte sie nicht aus ihrer Ruhe. Nur einer derselben erhob ein wenig den dicken Kopf, glotzte uns mit dem unsteten Blicke an, der dieser Art von Thieren eigenthümlich ist, und duckte sich dann wieder langsam nieder.

»Da sieht man, wie das Leben im Hause oder viel mehr die Zähmung sie verändern kann, sagte ich zum Kapitän.

– Ja, erwiderte dieser, und doch sind gerade Büffel sehr gefährliche Thiere, wenn sie in der Wildniß hausen. Aber, wenn es ihnen nicht an Kräften fehlt, so geht ihnen dafür jede Gewandtheit ab, und was vermögen ihre Hörner z. B. gegen den Zahn der Löwen oder gegen die Tatze der Tiger? Offenbar sind diese Raubthiere ihnen gegenüber im Vortheil.«

In dieser Weise plaudernd, hatten wir uns den Käfigen genähert. Auch hier herrschte vollständige Ruhe. Tiger, Löwen, Panther und Leoparden schliefen in ihren abgesonderten Käfigen. Mathias Van Guitt ließ sie nicht eher zusammen, als bis sie durch einige Wochen Gefangenschaft etwas mürber geworden waren, und daran that er ganz recht. Während der ersten Tage der Einsperrung hätten die Bestien wahrscheinlich einander selbst aufgezehrt.

Vollkommen unbeweglich, lagen die drei Löwen, großen Katzen gleich, krumm zusammengebogen. Den Kopf, der zwischen den dicht behaarten schwarzen [290] Tatzen verschwand, sah man gar nicht; so schliefen sie den Schlaf des Gerechten. In den Zellen der Tiger herrschte nicht derselbe Friede. Glühende Augen blitzten zuweilen durch das Dunkel auf, eine kräftige Tatze rüttelte wohl auch einmal an den eisernen Gitterstäben. Es war der Schlaf von Raubthieren, deren Grimm selbst der Schlaf nicht sänftigt.

»Sie haben böse Träume, das begreife ich wohl!« sagte der mitleidige Kapitän.

Einige Gewissensbisse oder wenigstens das Gefühl von Reue schien auch die drei Panther zu quälen. Um diese Stunde waren sie, frei von jeder Fessel, in den Wäldern umhergestrichen und hatten sich nach den Weideplätzen geschlichen, wo sie lebendes Fleisch witterten.

Den Schlaf der vier Leoparden störte offenbar kein Alpdrücken. Sie lagen friedlich und still. Zwei dieser Katzen, ein Männchen und ein Weibchen, besaßen ein gemeinsames Schlafzimmer und befanden sich darin ebenso wohl wie im Grunde ihrer Höhle.

Nur eine einzige Zelle stand noch leer – die, welche der sechste und gar nicht zu erlangende Tiger einnehmen sollte, den Mathias Van Guitt sich noch beschaffen mußte, bevor er Tarryani verlassen konnte.

Unser Spaziergang mochte etwa eine Stunde gewährt haben. Nachdem wir an der inneren Seite der Kraal-Einfriedigung dahingegangen, ließen wir uns am Fuße einer mächtigen Mimose nieder.

Im ganzen Walde ringsum regte sich nichts, selbst der Wind, der gegen Abend noch durch die Bäume rauschte, hatte sich jetzt gelegt. Kein Blättchen rührte sich. Die Atmosphäre über der Erde war eben so ruhig wie in den oberen Regionen, wo die Sichel des Mondes langsam herauszog.

Kapitän Hod und ich saßen dicht bei einander, sprachen aber kaum noch ein Wort. Der Schlaf überfiel uns nicht etwa, es machte sich vielmehr der mehr geistige als körperliche Einfluß der Stille in der Natur auf uns geltend. Man denkt dann wohl, verleiht aber dem Gedanken keine Worte. Man träumt wie ein Mensch, der doch nicht schläft, und der Blick, den die Augenlider nicht verschleiern, verliert sich gern in einer phantastischen Vision.

Nur ein Umstand fiel dem Kapitän auf und mit leiser Stimme, wie man es unwillkürlich thut, wenn Alles ringsumher schweigt, sagte er:

»Wissen Sie, Maucler, eine solche Stille setzt mich wirklich in Erstaunen. Gewöhnlich brüllen die Raubthiere im Dunklen und während der Nacht schallt [291] es sonst durch den ganzen Wald. Fehlt es an Tigern oder Panthern, so hört man dafür die Schakals bellen. Dieser Kraal voll lebender Wesen sollte sie eigentlich zu Hunderten herbeilocken, und doch hört man nicht das Geringste, kein Knacken von dürrem Holz auf der Erde, kein einziges Geheul da draußen. Wenn Mathias Van Guitt wach wäre, würde er sich ebenso darüber wundern wie ich und gewiß irgend ein sonderbares Wort finden, sein Erstaunen auszudrücken!

– Sie haben Recht, lieber Hod, antwortete ich, und ich weiß mir das Ausbleiben aller jener Nachtschwärmer auch nicht zu erklären. Doch, achten wir auf uns selbst, daß wir bei der Stille ringsum nicht zuletzt noch einschlafen.

– Nein, nein, wir müssen aushalten, meinte Kapitän Hod, indem er die Arme dehnte. Die Stunde zum Aufbruch kommt bald heran!«

Wir singen also wieder an zu plaudern, wenn auch mit längeren Pausen.

Wie lange das dauerte, vermag ich nicht zu sagen; plötzlich entstand aber eine dumpfe Bewegung, die mich aus diesem Zustande der Somnolenz weckte.

Kapitän Hod, der ebenfalls wieder völlig munter wurde, sprang gleichzeitig mit mir auf.

Das Lärmen ging offenbar von den Käfigen der Raubthiere aus.

Löwen, Tiger, Panther und Leoparden, die noch eben ganz ruhig gelegen hatten, ließen ein heimliches Murren und Knurren hören. Sie hatten sich erhoben trabten in ihren Zellen hin und her, schnüffelten hinaus, als wenn sie irgend etwas witterten, und richteten sich wuthschnaubend an den Eisenstangen der Käfige empor.

»Was mögen sie nur haben? fragte ich.

– Ich weiß es nicht, erwiderte Kapitän Hod, aber ich fürchte, sie wittern die Annäherung von...«

Plötzlich entstand rings um den Kraal ein entsetzliches Gebrüll.

»Das sind Tiger,« rief Kapitän Hod, und eilte nach dem Hause Mathias Van Guitt's.

Der Höllenlärm hatte das ganze Personal des Kraals auf die Füße gebracht und der Händler erschien mit mehreren Leuten an der Thür.

»Ein Ueberfall!... rief er.

– Ich glaube, ja, antwortete Kapitän Hod.

– Ich werde mich sofort überzeugen!«...

[292] Ohne ein weiteres Wort zu äußern, ergriff Mathias Van Guitt eine Leiter, die er an die Palissade lehnte. In einem Augenblicke stand er auf der obersten Stufe.

»Zehn Tiger und ein Dutzend Panther! rief er herab.

– Das mag ernsthaft werden, meinte Kapitän Hod. Statt daß wir jene jagen wollten, werden sie nun uns zu Leibe gehen!

– Die Gewehre! Schnell die Gewehre her!« befahl der Händler.

Alle beeilten sich, dem Gebote zu folgen, und in zwanzig Secunden waren wir fertig, Feuer zu geben.

Solche Ueberfälle einer ganzen Bande von Raubthieren sind in Indien übrigens nicht gar zu selten. Wie oft wurden nicht die Bewohner solcher Gegenden, in denen Tiger hausen, vorzüglich die der Sunderbunds, in den Wohnungen geradezu belagert! Das sind kritische Stunden, und leider bleibt der Vortheil häufig genug auf Seite der Angreifer.

In das Geheul von draußen mischte sich nun auch noch das Gebrüll in den Behältern. Der Kraal schien dem Walde Antwort zu geben. Wir konnten kaum noch das eigene Wort hören.

»An die Palissaden!« rief Mathias Van Guitt, der sich mehr durch Gesten als durch die Stimme verständlich machte.

Wir stürzten Alle nach der Einfriedigung.

Die Büffel packte der Schreck und sie erhoben sich eben, um den bisher innegehabten Platz zu verlassen. Vergeblich suchten die Wagenführer sie zurückzuhalten.

Plötzlich sprang das Thor, dessen Riegel also nicht ordentlich geschlossen sein konnte, heftig auf und in tollen Sätzen stürzten eine Menge Bestien in den Kraal herein.

Kâlagani hatte das Thor doch, wie er das immer that, auch heute gut verwahrt.

»In's Haus! In's Haus!« schrie Mathias Van Guitt und eilte nach demselben hin, da dieses jetzt allein noch einigen Schutz gewähren konnte.

Blieb uns auch Zeit genug, dahin zu entfliehen?

Schon wälzten sich zwei von Tigern überfallene Chikaris auf der Erde. Die Anderen, welche das Haus nicht erreichen konnten, eilten durch den Kraal, um irgend einen Schlupfwinkel zu suchen. Der Händler, Storr und sechs Hindus befanden sich schon in dem Hause, dessen Thüre gerade in dem Moment [293] zugeworfen wurde, als zwei Panther hineindringen wollten. Kâlagani, Fox und die Uebrigen erkletterten die Bäume, um in deren Aesten Schutz zu suchen.

Kapitän Hod und ich fanden weder Zeit noch Gelegenheit, zu Mathias Van Guitt zu gelangen.

»Maucler! Maucler!« rief Kapitän Hod, der von einem Tatzenschlage am Arme verwundet war.

Mich selbst hatte ein furchtbarer Tiger mit dem Schweife zu Boden geworfen. Ich raffte mich wieder auf und sprang, als das Thier eben auf mich losgehen wollte, dem Kapitän zu Hilfe.

Nur eine Zuflucht blieb uns noch; die leere Zelle des sechsten Käfigs. In einem Augenblicke hatten wir uns Beide dahin geflüchtet und die schnell zugeschlagene Thür schützte uns einstweilen vor den Bestien, welche wüthend an den Gitterstäben emporsprangen.

Die rasende Wuth der Thiere im Hofe und der Tiger in den Zellen ging so weit, daß der auf den Rädern schwankende Käfig fast umgeworfen worden wäre. Bald ließen die Tiger jedoch von demselben ab, um sich einer bequemeren Beute zuzuwenden.

Welch' entsetzlicher Anblick, von dem uns nichts entging!

»Das ist die verkehrte Welt! rief Kapitän Hod, der sich kaum bemeistern konnte. Sie draußen und wir drinnen!

– Und Ihre Wunde? fragte ich.

– Das hat nichts zu bedeuten!«

Jetzt krachten fünf oder sechs Schüsse. Sie blitzten aus dem Häuschen auf, in dem Mathias Van Guitt sich befand und welches zwei Tiger und drei Panther bestürmten.

Eines der Thiere fiel von einer Explosionskugel, welche von Storr's Büchse herrühren mußte.

Die übrigen hatten sich gleich anfangs auf die Büffel gestürzt, die sich gegen solche Gegner freilich kaum zu vertheidigen vermochten.

Fox, Kâlagani und die Hindus, welche, um die Bäume erklettern zu können, die Waffen hatten wegwerfen müssen, konnten sie nicht schützen.

Nun gab auch Kapitän Hod, die Büchse durch das Gitter unseres Käfiges steckend, Feuer. Trotz der halben Lähmung seines rechten Armes in Folge der Wunde, die ihn nicht so sicher wie gewöhnlich zu zielen erlaubte, gelang es ihm doch, seinen neunundvierzigsten Tiger zu erlegen.

[294] Da sprangen die erschrockenen Büffel eben brüllend durch den Kraal. Vergebens versuchten sie, sich den Tigern zu widersetzen, die den Stößen der Hörner durch geschickte, gewaltige Sätze zu entgehen wußten. An einem derselben hatte sich ein Panther festgeklammert, der ihm mit den Tatzen den Nacken zerfleischte – vor Schmerz betäubt, rannte das arme Thier davon, erreichte das Thor des Kraals und flüchtete nach außen.

Fünf bis sechs andere, denen die Bestien ebenso zusetzten, folgten jenem und flohen gleichfalls.

Mehrere Tiger eilten denselben nach; die noch im Kraal befindlichen Büffel aber lagen schon mit zerbissener Kehle und aufgerissenem Leibe am Boden.

Aus den Fenstern des Häuschens dauerte das Gewehrfeuer fort. Kapitän Hod und ich suchten auch unser Bestes zu thun. Da schien noch eine neue Gefahr zu nahen.

Die in den Käfigen eingesperrten Thiere, welche das Getöse des Kampfes, der Blutgeruch und das Heulen der Bestien nur noch mehr erhitzte, schäumten geradezu vor unbeschreiblicher Wuth. Sollte es ihnen gelingen, die Gitterstäbe zu durchbrechen? Auf jeden Fall war das zu befürchten.

Schon kam es so weit, daß ein Tigerkäfig umstürzte. Einen Augenblick glaubte ich, dessen Wände könnten gebrochen sein, so daß den Insassen der Weg geöffnet wäre...

Zum Glück bestätigte sich diese Annahme nicht; ja, die Insassen konnten jetzt nicht einmal mehr sehen, was draußen vorging, da die vergitterte Seite des Käfigs auf die Erde zu liegen gekommen war.

»Wahrlich, das sind doch zuviel!« brummte Hod, während er die Büchse wieder lud.

Da machte ein Tiger einen furchtbaren Sprung, und mit Hilfe der Krallen gelang es ihm, die Baumgabelung zu erreichen, nach welcher sich zwei oder drei Chikaris geflüchtet hatten.


»Das ist die verkehrte Welt!« rief Kapitän Hod. (S. 294.)

Einer der Unglücklichen, den jener an der Kehle packte, versuchte vergeblich, sich fest zu halten und stürzte zur Erde.

Gleich fiel ein Panther über den schon leblosen Körper her, dessen Knochen in einer breiten Blutlache knackten.

»So schießt doch! So schießt doch!« rief Kapitän Hod, als könne er sich Mathias Van Guitt und dessen Leuten vernehmlich machen.

[295] Wir selbst vermochten nichts mehr auszurichten; unsere Patronen waren zu Ende und wir sahen uns zu ohnmächtigen Zuschauern des entsetzlichen Gemetzels verurtheilt.

Da gelang es einem Tiger in der Zelle neben uns, als er mit aller Macht an den Eisenstäben rüttelte, den Käfig aus dem Gleichgewichte zu bringen, der einen Augenblick hin und her schwankte und dann gänzlich umfiel.

Von dem Falle trugen wir nur leichte Verletzungen davon und erhoben uns wenigstens schnell wieder auf die Kniee. Die Wände hatten ausgehalten, [296] aber auch wir konnten nun nicht mehr beobachten, was im Hofe geschah. Doch, wenn auch nichts zu sehen war, so hörte man ja genug. Welch' ein Hexensabbath von Gebrüll innerhalb der Planke des Kraals! Wie gewahrte man den Dunst von Blut in der Luft! Es schien, als ob jetzt der Kampf noch wüthender entbrannt wäre. Was war wohl vorgegangen? Sollten die Gefangenen aus den anderen Käfigen entkommen sein? Griffen sie wohl gar Mathias Van Guitt's Hütte an? Kletterten vielleicht Tiger und Panther etwa auf die Bäume, um die Hindus herabzureißen?


An einem derselben hatte sich ein Panther festgeklammert. (S. 295.)

»Und aus diesen vermaledeiten Kasten nicht heraus zu können!« rief Kapitän Hod in voller Wuth.

So verging eine Viertelstunde – eine Viertelstunde, [297] deren endlose Minuten wir beklommen zählten.

Dann legte sich allmählich das Getöse, das Gebrüll wurde schwächer. Die Tiger in den anderen Zellen unseres Käfigs sprangen nur seltener umher. War das Gemetzel zu Ende?

Da hörte ich, wie das Thor des Kraals heftig zugeworfen wurde. Kâlagani rief laut nach uns und Fox' Stimme hörten wir daneben, wie er immer »Herr Kapitän! Herr Kapitän!« halb jammernd wiederholte.

»Kommt hierher!« antwortete Hod.

Man hörte uns und ich fühlte sogleich, wie der Käfig langsam aufgerichtet wurde. Noch einen Augenblick und wir waren wieder befreit.

»Fox! Storr! rief der Kapitän, dessen erster Gedanke seinen Gefährten galt.

– Hier!« erwiderten der Maschinist und der Diener.

Sie waren unverwundet. Auch Mathias Van Guitt und Kâlagani heil und gesund. Zwei Tiger und eine Pantherin lagen leblos auf dem Boden. Die anderen waren lebendig aus dem Kraal entkommen, dessen Thor Kâlagani sofort sorgfältig verschloß. Wir waren in Sicherheit.

Keines der Thiere der Menagerie hatte während des Kampfes entwischen können, der Händler zählte sogar einen Gefangenen mehr. Ein junger Tiger hatte sich unter dem umgestürzten kleineren fahrbaren Käfig wie in einer Falle gefangen.

Mathias Van Guitt's Stock war also vollzählig – aber wie theuer kam ihm das zu stehen! Fünf von seinen Büffeln waren erwürgt, die anderen entflohen und drei entsetzlich verstümmelte Hindus schwammen im Hofe des Kraals in ihrem Blute!

[298]
6. Capitel
Sechstes Capitel.
Mathias Van Guitt's Abschied.

Im Laufe der Nacht ereignete sich nichts mehr, weder im Kraal, noch in dessen Umgebung. Die Pforte war jetzt fest verriegelt. Wie hatte sie sich aber öffnen können, als die Bande Raubthiere die Palissade umschwärmte? Das erschien unerklärlich, da Kâlagani selbst die schweren Balken, welche gewöhnlich davor lagen, in die Einschnitte geschoben hatte.

Kapitän Hod litt von seiner Verletzung doch ziemlich stark, obwohl diese nur in einem Einrisse der Haut bestand. Dennoch fehlte nicht viel, so hätte er den Gebrauch des rechten Armes einbüßen können.

Ich für meinen Theil fühlte von dem heftigen Schweifschlage, der mich zu Boden streckte, gar nichts mehr.

Wir beschlossen also, noch vor Anbruch des Tages nach dem Steam-House zurückzukehren.

Bedauerte Mathias Van Guitt den Verlust dreier seiner Leute gewiß ganz aufrichtig, so schien ihm doch der Vorgang nicht allzusehr zu Herzen zu gehen, obwohl er ohne Büffel, gerade im Moment der Abreise, in einige Verlegenheit gerieth.

»Das gehört so zum Geschäft, sagte er zu uns, und ich ahnte fast, daß mir noch ein ähnliches Abenteuer bevorstand!«

Er ließ hierauf die drei Hindus begraben, deren Ueberreste in einer Ecke des Kraals so tief versenkt wurden, daß die wilden Thiere sie nicht wieder ausscharren konnten.

Das Morgengrauen drang indessen schon bis in die niedrigeren Theile Tarryani's, und wir nahmen also nach vielen herzhaften Händedrücken von Mathias Van Guitt Abschied.

Zur Begleitung, wenigstens auf dem Wege durch den Wald, stellte der Händler uns Kâlagani und zwei seiner Hindus zur Verfügung. Wir nahmen das Angebot an und verließen um sechs Uhr die Einfriedigung des Kraals.

Der Rückweg ging ohne Störung von statten. Von Tigern und Panthern keine Spur mehr. Die gesättigten Bestien mochten sich in ihre Höhlen zurückgezogen haben, und jetzt erschien es nicht an der Zeit, sie dort aufzustören.

[299] Was die aus dem Kraal entflohenen Büffel betraf, so waren diese entweder erwürgt und lagen irgendwo im hohen Grase, oder es war, da sie sich im anderen Falle nach allen Seiten zerstreut und verirrt haben mußten, gar nicht darauf zu rechnen, daß ihr Instinct sie nach dem Kraal zurückführen werde. Für den Händler waren sie demnach als unwiederbringlich verloren zu betrachten.

Am Saume des Waldes verließen uns Kâlagani und die zwei Hindus. Eine Stunde später begrüßte Phanns und Blacks Gebell unsere Rückkehr zum Steam-House.

Ich erzählte Banks unser erlebtes Abenteuer. Selbstverständlich beglückwünschte er uns, demselben so leichten Kaufes entkommen zu sein. Bei nächtlichen Ueberfällen dieser Art kommt es nämlich gar zu häufig vor, daß Keiner der Belagerten übrig bleibt, um die Großthaten der Angreifer zu schildern.

Kapitän Hod mußte wohl oder übel seinen Arm in der Binde tragen; der Ingenieur, der eigentliche Arzt unserer Expedition, erklärte die Wunde jedoch für nicht gefährlich und versicherte, daß sie binnen wenigen Tagen geheilt sein werde.

Kapitän Hod wurmte es vorzüglich, einen Schlag erhalten zu haben, ohne denselben erwidern zu können. Doch hatte er wenigstens zu den achtundvierzig Tigern, die sein Conto zählte, einen weiteren hinzugefügt.

Am nächsten Tage, am 27. August, hörten wir die Hunde wieder sehr laut, aber offenbar freudig anschlagen.

Oberst Munro, Mac Neil und Goûmi kehrten nach dem Sanatorium zurück. Ihr Wiedererscheinen nahm uns eine wahre Centnerlast von den Schultern. Hatte Oberst Munro von seinem Zuge den erwarteten Erfolg gehabt? Noch wußten wir darüber nichts. Er kehrte ja heil und gesund zurück, das war die Hauptsache.

Banks lief ihm eilig entgegen, drückte ihm warm die Hand und fragte ihn nur durch einen Blick.

»Nichts!« antwortete Oberst Munro durch eine einfache Bewegung des Kopfes.

Das bedeutete für uns nicht allein, daß seine Nachforschungen an der nepalischen Grenze nicht nur fruchtlos geblieben waren, sondern auch, daß jedes weitere Gespräch über dieses Thema unerwünscht und nutzlos sei. Er schien uns zu verstehen zu geben, daß er die Sache nicht weiter erwähnt wissen wolle. Mac Neil und Goûmi, welche Banks während des Abends fragte, erwiesen sich [300] mittheilsamer. Sie gestanden zu, daß Oberst Munro vorzüglich habe jenen Theil von Hindostan sehen wollen, nach dem sich Nana Sahib vor seinem Wiedererscheinen in der Präsidentschaft Bombay geflüchtet hatte. Sich zu versichern, was aus den Genossen des Nabab geworden sei, nachzuforschen, ob von ihrem Uebertritt über die indo-chinesische Grenze nicht noch Spuren aufzufinden wären, zu erfahren, ob, wenn nicht Nana Sahib, sich doch dessen Bruder Balao Rao in dieser der englischen Gewalt nicht unterworfenen Gegend verberge – das waren Sir Edward Munro's Zwecke gewesen. Aus Allem, was ich erfuhr, ging jedoch hervor, daß die Rebellen das Land verlassen haben mußten. Von ihrer Lagerstelle, wo jenes vorgebliche Begräbniß stattgefunden hatte, um den Glauben an den Tod Nana Sahib's zu verbreiten, fand sich kaum noch eine Spur. Von Balao Rao war nichts zu hören, so wenig wie von dessen Begleitern, deren Spur vollständig verwischt schien. Da der Nabab also in den Schlachten der Sautpourraberge gefallen, seine Spießgesellen wahrscheinlich über die Grenzen der Halbinsel hinaus vertrieben waren, so blieb für den Oberst als Rächer nichts mehr zu thun übrig. Wir dachten also nur daran, die Himalaya-Grenze zu verlassen, die Reise wieder nach Süden hin fortzusetzen und unseren beabsichtigten Zug von Calcutta bis Bombay vollends abzuschließen.

Der Aufbruch wurde demnach für über acht Tage, das heißt für den 3. September, festgestellt. Wir mußten doch Kapitän Hod Zeit gönnen zur Vernarbung seiner Wunde. Uebrigens schien auch der von seinem beschwerlichen Zuge angegriffene Oberst Munro dringend einiger Ruhe zu bedürfen.

Inzwischen traf Banks die nöthigen Vorbereitungen. Er hatte mit Instandsetzung unseres Trains, der wieder in die Ebene hinab und vom Himalaya nach der Präsidentschaft Bombay dampfen sollte, die ganze Woche völlig zu thun.

Die Reiseroute sollte übrigens zum zweiten Male verändert werden, um die großen Städte des Nordwestens, wie Mirat, Delhi, Agra, Gwalior, Jansie und andere, in welchen die Empörung von 1857 zu viele Spuren der Zerstörung zurückgelassen hatte, zu umgehen. Mit den letzten Rebellen jener Erhebung sollte Alles verschwinden, was Oberst Munro's trübe Erinnerungen erwecken konnte. Unsere fahrbaren Wohnungen sollten also durch die Provinzen ziehen, ohne bei den Hauptstädten anzuhalten; die Landschaften verdienten einen Besuch übrigens auch schon allein um ihrer natürlichen Reize willen. Das ausgedehnte Königreich Scindia gerade steht in dieser Hinsicht keinem anderen nach. Unserem Stahlriesen sollten sich jetzt die herrlichsten Wege der Halbinsel eröffnen.

[301] Der Mousson hatte mit dem Ende der Regenzeit, welche sich nicht über den August hinaus ausdehnt, aufgehört. Die ersten Tage des Septembers versprachen eine angenehme Temperatur, welche gegenüber dem ersten den zweiten Theil der Fahrt minder beschwerlich machen mußte.

Während der zweiten Hälfte unseres Aufenthaltes im Sanatorium lag es Fox und Goûmi ob, die Bedürfnisse der Küche zu decken. Von den beiden Hunden begleitet, durchstreiften sie die mittlere Gebirgszone, wo Rebhühner, Fasanen und Trappen in Menge umherflogen. Das im Eisbehälter aufbewahrte Geflügel lieferte unterwegs dann ein herrliches Wild.

Noch zwei- oder dreimal statteten wir dem Kraal einen Besuch ab. Hier war auch Mathias Van Guitt beschäftigt, sich zur Abfahrt nach Bombay zu rüsten, wobei er seinen Kummer als Philosoph ertrug, der sich über die kleinen und großen Widerwärtigkeiten des Lebens erhaben fühlte.

Wir wissen schon, daß die Menagerie des Händlers durch den Fang des zehnten Tigers, der so theuer zu stehen kam, vollständig geworden war. Mathias Van Guitt hatte also nur daran zu denken, wie er sich neue Büffelgespanne verschaffen konnte. Von den Wiederkäuern, die bei jenem Ueberfalle entflohen, war natürlich keiner wieder im Kraal erschienen; alle Umstände sprachen dafür, daß jene zerstreut im Walde einen gewaltsamen Tod gefunden hatten. Jetzt galt es also, sie zu ersetzen, was unter den gegebenen Verhältnissen immerhin seine Schwierigkeiten bot. In dieser Angelegenheit hatte der Händler Kâlagani ausgesendet nach den Farmen und benachbarten Flecken von Tarryani und erwartete seine Rückkehr mit einiger Ungeduld.

Die letzte Woche unseres Aufenthaltes im Sanatorium verlief ungestört. Kapitän Hod's Wunde heilte allmählich. Er hegte zwar den Wunsch, seine Campagne noch mit einem Jagdzuge abzuschließen, mußte aber auf Bitten Oberst Munro's davon absehen. Warum sollte er sich auch einer Gefahr aussetzen, da sein Arm den Dienst ja halb versagte? Kam uns während der Rückfahrt ein Raubthier in den Weg, so bot sich ihm ja ganz natürliche Gelegenheit, Revanche zu nehmen.

»Uebrigens, lieber Kapitän, bemerkte ihm Banks, sind Sie noch am Leben, während neunundvierzig Tiger von ihrer Hand den Tod fanden – ohne die angeschossenen zu zählen. Die Bilanz schließt also sehr zu Ihren Gunsten ab.

– Neunundvierzig, freilich, erwiderte Kapitän Hod, doch ich hätte den fünfzigsten gar zu gern hinzugefügt!«

[302] Der 2. September kam heran, der Tag vor unserer Abreise.

Schon am Morgen meldete Goûmi einen Besuch des Händlers.

Wirklich kam Mathias Van Guitt in Begleitung Kâlagani's nach dem Steam-House. Er wollte sich ohne Zweifel im letzten Augenblicke nach allen Regeln des Anstandes verabschieden.

Oberst Munro empfing ihn sehr herzlich. Mathias Van Guitt erging sich selbstgefällig in den gewöhnlichen langen Redesätzen, die er mit allem Aufwand seiner merkwürdigen Phraseologie ausschmückte. Immerhin schien es mir, als ob seine Höflichkeiten noch einen Hintergedanken verbargen, dem er nur Worte zu leihen zögerte.

Da berührte Banks gerade den Kernpunkt seiner Beklemmungen, als er Mathias Van Guitt fragte, ob es ihm gelungen sei, seine Büffelbespannung wieder zu ersetzen.

»Leider nein, Herr Banks, antwortete der Händler, Kâlagani hat sich vergebens in allen Dörfern darum bemüht. Obwohl ich ihm unbeschränkte Vollmacht ertheilt hatte, vermochte er doch nicht ein einziges Paar jener nützlichen Wiederkäuer aufzutreiben. Ich muß also bekennen, daß es mir zur Beförderung meiner Menagerie nach der nächsten Station an einem Motor noch völlig fehlt; daß mir durch den unerwarteten Ueberfall in der Nacht vom 25. zum 26. August meine Büffel zerstreut wurden, hat mich in eine gewisse Verlegenheit versetzt... meine Käfige sind schwer... und...

– Ja, wie wollen Sie dieselben dann nach der Station schaffen? fragte der Ingenieur.

– Das weiß ich eben noch nicht... ich suche... überlege... zögere... Inzwischen vergeht die Zeit, und am 20. September, das heißt in achtzehn Tagen, soll ich meine Katzen in Bombay abliefern...

– In achtzehn Tagen! Da haben Sie aber keine Stunde zu verlieren!

– Freilich, Herr Ingenieur. Und doch steht mir nur ein Hilfsmittel, nur ein einziges zu Gebote!...

– Und das wäre?

– Nun, ich müßte, in der Voraussetzung, dadurch nicht zu belästigen, eine vielleicht recht aufdringliche Frage an den Herrn Oberst wagen...


Es gelang Goûmi, das gewaltige Reptil herauszuziehen. (S. 307.)

– Bitte, geniren Sie sich in keiner Weise, Herr Mathias Van Guitt, sagte Oberst Munro, wenn ich Ihnen nützen kann, werde ich mit Vergnügen dazu bereit sein!«

[303] Mathias Van Guitt verneigte sich, führte die rechte Hand an die Lippen, bewegte langsam den Oberkörper und bot überhaupt das Aussehen eines Menschen, der sich von unerwartetem Wohlwollen überrascht sieht.

Die Frage des Händlers lief darauf hinaus, ob es, die große Zugkraft des Stahlriesen vorausgesetzt, nicht ausführbar wäre, seine fahrbaren Käfige hinter unsere Häuser anzuschließen und sie bis Etawah, der nächsten Station an der Bahn von Delhi nach Allahabad, mitzunehmen. Es handelte sich hierbei um eine Entfernung von etwa dreihundert Kilometern auf bequemer Fahrstraße.

[304] »Sind wir im Stande, Herrn Mathias Van Guitt's Wunsche zu entsprechen? fragte der Oberst den Ingenieur.

– O gewiß, ohne alle Schwierigkeit, erklärte Banks, der Stahlriese wird diese Vermehrung der Last kaum wahrnehmen.

– Also zugestanden, Herr Van Guitt, sagte Oberst Munro. Wir befördern Ihr Material bis Etawah. Nachbarn sollen einander aushelfen, auch im Himalaya.

– Herr Oberst, antwortete Mathias Van Guitt, ich kannte ja Ihre [305] Freundlichkeit, und ganz offen gestanden, rechnete ich in meiner Verlegenheit ein wenig auf Ihre bereitwillige Hilfe.

– Daran thaten Sie ganz recht!« erwiderte Oberst Munro.


Einige Verwandte der Familie Sus wurden erlegt. (S. 309.)

Nachdem Alles geordnet war, schickte Mathias Van Guitt sich zur Heimkehr nach dem Kraal an, um einen Theil seines nun überflüssig gewordenen Personals zu verabschieden. Er wollte nur die zur Besorgung der vier Käfige nothwendigen Chikaris ferner beibehalten.

»Also morgen auf Wiedersehen, sagte Oberst Munro.

– Auf morgen, meine Herren, antwortete Mathias Van Guitt, ich sehe dem Eintreffen ihres Stahlriesen bei dem Kraal mit Vergnügen entgegen.«

Sehr zufrieden mit dem Erfolge seines Besuches im Steam-House, zog der Händler sich zurück, aber ganz wie ein Schauspieler, der nach allen Regeln der modernen Kunst hinter den Coulissen verschwindet.

Kâlagani wendete keinen Blick von Oberst Munro, dessen Reise nach der Grenze von Nepal ihm so sehr im Kopfe herumgegangen war.

Unsere letzten Vorbereitungen waren bald beendigt. Alles lag und stand wieder am rechten Ort, nichts erinnerte mehr an einen längeren Aufenthalt an diesem Platze. Die fahrbaren Häuser harrten nur noch des Stahlriesen. Der Elephant sollte nun zunächst beigabwärts bis zur Ebene gehen und sich dann nach dem Kraal wenden, wo der ganze Zug geordnet werden sollte, um nachher auf geradem Wege durch die Ebenen von Rohilkande zu dampfen.

Am folgenden Tage, dem 3. September sieben Uhr Morgens war der Stahlriese bereit, seine bisher tadellos erfüllten Functionen wieder aufzunehmen. Da erlebten wir noch ein ganz unerwartetes Ereigniß, das Alle erstaunen machte.

Der Rost des in den Weichen des Thieres enthaltenen Kessels war schon mit Brennmaterial beschickt worden. Kâlouth hatte dasselbe eben angezündet, als es ihm einfiel, den Rauchkasten zu öffnen – an dessen Rückwand sich die, zur Abführung der Verbrennungsproducte durch den Kessel führenden Flammenrohre anschließen – um nachzusehen, ob kein Hinderniß für den Zug vorhanden sei.

Kaum hatte er aber die Thüren jenes Raumes aufgeschlagen, als er entsetzt zurückwich und etwa ein Dutzend Riemen mit seltsamem Pfeifen herausschoffen.

Banks, Storr und ich sahen den Vorgang mit an, ohne dafür eine Erklärung zu finden.

[306] »He, Kâlouth, was giebt es denn? fragte Banks.

– Einen Regen von Schlangen, Herr Ingenieur!« rief der Heizer.

Was wir für Riemen ansahen, waren wirklich Schlangen, die sich in den Flammenrohren aufgehalten hatten, wahrscheinlich um ungestörter zu schlafen. Das Feuer auf dem Roste mochte sie wohl unsanft aufgestört haben. Einige jener Amphibien fielen halbverbrannt zu Boden, und hätte Kâlouth den Rauchkasten nicht geöffnet, so wären wohl Alle schnell zu Asche verbrannt worden.

»Was? rief Kapitän Hod, der eiligst herbeilief, unser Stahlriese beherbergt auch Schlangen im Leibe?«

Ja, in der That, und darunter auch die giftigsten, wie einige »Whip snakes« (Peitschenschlange), »Goulabis«, schwarze Cobras und Brillenschlangen, lauter höchst gefährliche Arten.

Gleichzeitig steckte eine prächtige Python- (Tiger-) Schlange, aus der Familie der Boas, ihren spitzigen Kopf aus der oberen Mündung des Kamins, das heißt aus dem Rüssel des Elephanten hervor, die sich inmitten der ersten dichten Rauchwolken wand.

Die lebend aus den Rohren entkommenen Schlangen zerstreuten sich schnell unter dem nächsten Gebüsche, so daß wir nicht Zeit genug fanden, sie unschädlich zu machen.

Die Pythonschlange konnte freilich nicht so leicht aus dem engen Stahlcylinder entwischen. Kapitän Hod ergriff schnell die Büchse und zerschmetterte ihr mit einer Kugel den Kopf.

Goûmi stieg nachher auf den Stahlriesen, kletterte bis zur oberen Mündung des Rüssels und es gelang mit Hilfe Kâlouth's und Storr's, das gewaltige Reptil herauszuziehen.

Die Boa mit ihrer grünen, bläulich gefleckten Haut, die mit regelmäßigen Ringen verziert ist, als wäre sie aus dem Felle eines Tigers geschnitten, war wirklich ein prächtiges Exemplar. Sie maß nicht weniger als fünf Meter in der Länge und hatte etwa den Durchmesser eines Menschenarmes.

Dieses Musterstück der Ophidien Indiens hätte der Menagerie Mathias Van Guitt's gewiß zur Zierde gereicht, vorzüglich da sie den Beinamen Tigerschlange hat. Kapitän Hod sah aber trotzdem davon ab, sein Register damit zu bereichern.

Kâlouth schloß nun den Rauchkasten wieder, der Zug kam in Gang, das Feuer auf dem Roste prasselte bei der reichlich zuströmenden Luft, so daß es [307] im Kessel bald zu brodeln anfing, und drei Viertelstunden später zeigte der Manometer schon genügende Dampfspannung an. Wir konnten nun abreisen.

Die beiden Wagen wurden miteinander verkuppelt und der Stahlriese kam heran, um sich an die Spitze zu stellen.

Noch einen Blick warfen wir über das herrliche Panorama, das sich nach Süden hin vor uns ausbreitete, einen letzten nach der wunderbaren Bergkette, deren zackiges Profil den nördlichen Horizont einnahm, noch einmal grüßten wir den Dhawalagiri, dessen Gipfel stolz auf das ganze nördliche Indien niederschaut – ein kurzer Pfiff und der Zug setzte sich in Bewegung.

Das Herabsteigen auf der vielgewundenen Straße ging ohne Schwierigkeit von statten. Die Luftbremse hielt die Räder fest, wenn die Straße zu steil abfiel. Eine Stunde später hielt der Zug an der Grenze Tarryanis, am Anfang des ebenen Landes.

Der Stahlriese ward nun abgespannt und verschwand unter Führung Banks', des Maschinisten und des Heizers langsam auf einer der breiten Straßen des Waldes.

Zwei Stunden nachher hörten wir ihn wieder schnaufen, und bald kam der Stahlriese, die sechs Käfige der Menagerie im Schlepptau, aus dem Walde hervor.

Gleich nach seinem Eintreffen wiederholte Mathias Van Guitt seine Danksagungen gegen Oberst Munro. Die Käfige und vor diesen ein als Wohnung für den Händler und dessen Leute dienender Wagen wurden an unseren Zug gehängt – ein wirklicher Train, bestehend aus neun Wagen.

Ein neues Zeichen von Banks, ein darauf antwortendes vorschriftsmäßiges Pfeifen, und der Stahlriese schritt majestätisch auf der schönen Straße dahin, die nach Süden hinabführte. Das Steam-House und die mit Thieren gefüllten Käfige Mathias Van Guitt's schienen für denselben nicht mehr zu wiegen als ein gewöhnlicher Möbelwagen.

»Nun, mein lieber Herr Lieferant, was meinen Sie hierzu? fragte Kapitän Hod.

– Ei, Herr Kapitän, antwortete Mathias Van Guitt nicht ganz mit Unrecht, ich denke, wenn dieser Elephant von Fleisch und Bein wäre, würde er noch merkwürdiger sein!«

Wir fuhren nicht auf der nämlichen Straße, die uns nach dem Fuße des Himalaya geführt hatte. Die jetzt gewählte verlief nach Südwesten gegen [308] Philibit, eine kleine Stadt, hundertfünfzig Kilometer von unserem Halteplatz. Die Fahrt ging ruhig, mäßig schnell und ohne Hinderniß von statten.

Mathias Van Guitt war ein täglicher Gast an der Tafel des Steam-Houses, und sein gesunder Appetit that der Küche Monsieur Parazard's alle Ehre an.

Die Bedürfnisse der Speisekammer setzten die gewohnten Lieferanten von Zeit zu Zeit in Bewegung, und der wiedergenesene Kapitän Hod – der Schuß auf die Pythonschlange lieferte den Beweis – ergriff wieder die Jagdflinte.

Dabei mußte, ebenso wie für das Personal, auch für die Insassen der Menagerie gesorgt werden, eine Pflicht, welche den Chikaris oblag. Unter Anführung Kâlagani's, der selbst ein sicherer Schütze war, ließen es die gewandten Hindus nicht dahin kommen, daß es an Bison- oder Antilopenfleisch gefehlt hätte. Dieser Kâlagani war wirklich ein ganz außerordentlicher Mann. Obwohl er sich meist zurückhielt, behandelte ihn Oberst Munro, der einen geleisteten Dienst nicht so leicht vergaß, doch stets mit großer Freundlichkeit.

Am 10. September bewegte sich unser Zug um Philibit herum, ohne daselbst anzuhalten, doch lief eine ziemliche Anzahl Hindus zusammen, um jenen zu sehen.

Die Raubthiere Mathias Van Guitt's erregten, obwohl es sehr schöne Exemplare waren, beiweitem nicht das Aufsehen wie der Stahlriese. Die Leute gaben sich gar nicht die Mühe, jene durch die Gitterstäbe in Augenschein zu nehmen, sondern bewunderten einzig und allein den mechanischen Elephanten.

Der Train zog nun durch die ausgedehnten Ebenen des nördlichen Indiens weiter hinab und ließ Bareilli, eine der bedeutendsten Städte von Rohilkande, einige Meilen westlich liegen. Er dampfte zuweilen durch dichte, reich von Vögeln bevölkerte Wälder, wobei Mathias Van Guitt unsere Aufmerksamkeit auf das, »eclatante Gefieder« der umherflatternden Bewohner lenkte, zuweilen wieder durch Dickichte von stachlichen, zwei bis drei Meter hohen Akazien, welche die Engländer »Wait a bit-bush« nennen. Hier tummelten sich viele Eber umher, die nach den gelben Beeren dieser Büsche sehr lüstern sind. Einige Verwandte der Familie Sus wurden, wenn auch nicht ohne Gefahr, erlegt, denn diese Eber sind sehr wild und muthig. Kapitän Hod und Kâlagani fanden wiederholt Gelegenheit, ihre Kaltblütigkeit und Geschicklichkeit zu beweisen, denen sie ihren Ruf als ausgezeichnete Jäger verdankten.

[309] Zwischen Philibit und der Station Etawah mußte unser Zug einen Arm des oberen Ganges, und bald nachher einen seiner mächtigsten Nebenflüsse, den Kali-Nadi, überschreiten.

Das ganze rollende Material der Menagerie wurde nun vom Steam-House abgekuppelt, letzteres selbst aber schwamm, in Folge seiner früher beschriebenen Einrichtung von einem Ufer zum anderen.

Mit Mathias Van Guitt's Zuge ging das freilich nicht so leicht von statten. Hierzu mußte eine Fähre benutzt werden, mittelst der die Käfige einer nach dem anderen über die beiden Flüsse geschafft wurden. Wenn diese Ueberführung auch einige Zeit in Anspruch nahm, so verursachte sie wenigstens keine Schwierigkeiten. Der Händler befand sich nicht zum ersten Male in ähnlicher Lage, und seine Leute hatten schon auf dem Wege zur Himalaya-Grenze verschiedene Flüsse überschreiten müssen.

Kurz, wir erreichten ohne nennenswerthen Zwischenfall am 17. September die Eisenbahn von Delhi nach Allahabad, etwa hundert Schritte von der Station Etawah.

Hier sollte der ganze Zug in zwei Theile zerlegt werden, die jeder einen eigenen Weg einschlagen sollten.

Während der erste die Richtung nach Süden weiter inne hielt, um durch das ausgedehnte Gebiet des Königreichs Scindia nach den Vindhyas und der Präsidentschaft Bombay zu gelangen, sollte der andere Theil auf die Frachtwagen der Bahn verladen, erst nach Allahabad geschafft und von da auf der Eisenbahn nach Bombay nach der Küste des Indischen Meeres befördert werden.

Wir hielten also an und bereiteten uns vor, die Nacht an jener Stelle zuzubringen. Am nächsten Tage, wenn der Händler sich nach Südosten wendete, sollten wir, jenen Weg ziemlich in rechtem Winkel durchschneidend, etwa längs des 77. Meridians weiterziehen.

Zu derselben Zeit, als Mathias Van Guitt sich von uns trennte, entließ er auch einen Theil seines jetzt nicht mehr erforderlichen Personals. Mit Ausnahme zweier Hindus zur Besorgung der Käfige während einer zwei bis drei Tage nicht überdauernden Reise, brauchte er ja Niemand mehr. Im Hafen von Bombay, wo ihn ein für Europa segelfertiges Schiff erwartete, angekommen, mußte er seine Waare ja durch die gewöhnlichen Hilfsarbeiter an Bord bringen lassen. Hierdurch wurden also einige der Chikaris dienstfrei und unter anderen auch Kâlagani.

[310] Der Leser weiß, wie und warum wir mit diesem Hindu besonders verknüpft waren, da er sowohl dem Oberst Munro, wie dem Kapitän Hod so ersprießliche Dienste geleistet hatte.

Als Mathias Van Guitt nun seine Leute verabschiedet, glaubte Banks zu bemerken, daß Kalagaul nicht recht wußte, was er beginnen sollte, und er fragte denselben also, ob es ihm passen könne, uns bis Bombay zu begleiten?

Nach kurzer Ueberlegung nahm Kalagaul das Anerbieten des Ingenieurs an, und Oberst Munro drückte Jenem seine Befriedigung darüber aus, daß er ihm jetzt doch ein wenig nützen könne. Der Hindu trat demnach in das Personal des Steam-Houses ein, was uns, bei seiner Kenntniß dieses Theiles von Indien, nur von Vortheil sein konnte.

Am nächsten Morgen wurde das Lager aufgehoben. Wir hatten ja keine Ursache, hier länger zu verweilen. Der Stahlriese stand unter Dampf. Banks gab Storr Anweisung, sich bereit zu halten.

Jetzt war nichts mehr zu thun übrig, als von unserem Freunde, dem Lieferanten, Abschied zu nehmen. Von unserer Seite ging das ziemlich einfach, von der seinigen natürlich weit theatralischer zu.

Die Dankesbezeugungen Mathias Van Guitt's für den Dienst, den Oberst Munro ihm geleistet, nahmen nothwendiger Weise eine möglichst erweiterte Form an. Er »spielte« diesen letzten Act ganz vorzüglich und war in der großen Abschiedsscene geradezu vollkommen.

Durch eine Bewegung der Muskeln des Vorderarmes versetzte er seine rechte Hand in Pronation, so daß die Hohlhand nach der Erde gerichtet war. Damit wollte er ausdrücken, daß er hienieden niemals vergessen werde, was er Oberst Munro verdanke, und daß, wenn die Dankbarkeit auch aus dieser Welt verbannt würde, diese doch noch ein letztes Asyl in seinem Herzen finden solle.

Mittelst einer entgegengesetzten Bewegung brachte er die Hand wieder in die Supination, das heißt er wendete die Hohlhand nach oben und streckte diese nach dem Zenith empor. Das bedeutete, daß selbst dort oben diese Gefühle nie in ihm erlöschen würden und keine Ewigkeit im Stande sei, ihn von seiner eingegangenen Verbindlichkeit zu befreien.

Oberst Munro dankte Mathias Van Guitt nach Gebühr, und wenige Minuten später war der Lieferant für die Häuser von Hamburg und London unseren Augen entschwunden.

[311]
7. Capitel
Siebentes Capitel.
Der Uebergang über die Betwa.

Heute, am 18. September, war unsere Position in Bezug auf den Punkt der Abreise, den Halteplatz und unser Ziel genau folgende:

1. Von Calcutta tausenddreihundert Kilometer.

2. Vom Sanatorium im Himalaya dreihundertachtzig Kilometer.

3. Von Bombay tausendsechshundert Kilometer.

Bezüglich der Entfernung hatten wir also kaum die Hälfte der Reise hinter uns; berücksichtigt man aber die sieben Wochen, welche das Steam-House an der Himalaya-Grenze verweilt hatte, so war schon weit mehr als die Hälfte der für dieselbe bestimmten Zeit verflossen.

Wir hatten Calcutta am 6. März verlassen. Vor Ablauf zweier Monate gedachten wir, wenn nichts dazwischen käme, die Westküste von Hindostan zu erreichen.

Unsere Reiseroute erfuhr übrigens einige Abänderungen. Da man dahin überein kam, die von der Revolution von 1857 betroffenen großen Städte zu umgehen, waren wir genöthigt, eine mehr südliche Richtung einzuhalten. Durch die herrlichen Provinzen des Königreichs Scindia führen schöne fahrbare Straßen, so daß der Stahlriese, wenigstens bis zu den Gebirgen des Centrums hin, nicht auf bemerkenswerthe Schwierigkeiten stoßen konnte. Die Fahrt versprach also unter den günstigsten Bedingungen zu verlaufen.

Der Eintritt Kâlagani's unter das Personal des Steam-Houses konnte hierzu nur noch weiter beitragen. Der Hindu kannte diesen Theil der Halbinsel ganz genau, wovon sich Banks noch an diesem Tage überzeugte. Nach dem Frühstück, als Oberst Munro und Kapitän Hod Siesta hielten, fragte er ihn, unter welchen Verhältnissen und als was er durch diese Provinz gekommen sei.

»Ich war, antwortete Kâlagani, bei einer der zahlreichen Karawanen von Banjaris angestellt, welche für Rechnung der Regierung, wie für Privatleute Cerealien gewöhnlich mittelst Büffeln befördern. So bin ich doch wenigstens zwanzigmal durch die Gebiete der Centralstaaten und des Nordens von Indien hinausgezogen oder herabgekommen.

[312] – Ziehen jene Karawanen noch immer durch diesen Theil der Halbinsel? fragte der Ingenieur.

– Gewiß, versicherte Kâlagani, und gerade in der jetzigen Jahreszeit sollte es mich sehr wundernehmen, wenn wir nicht einer Truppe nach dem Norden reisender Banjaris begegneten.

– Nun, Kâlagani, fuhr Banks fort, Ihre genaue Kenntniß des Landes wird uns von großem Nutzen sein. Statt durch die großen Städte des Königreichs Scindia zu gehen, ziehen wir quer durch das Land, und Sie werden uns als Führer dienen.


Er war in der großen Abschiedsscene geradezu vollkommen. (S. 311.)

[313] – Mit Vergnügen!« antwortete der Hindu mit jenem kalten Tone, der ihm von jeher eigen war, an den ich mich aber noch immer nicht gewöhnen konnte.

Dann fügte er hinzu:

»Darf ich Ihnen da im voraus die Richtung andeuten, der wir im Allgemeinen zu folgen haben?

– Recht gern, ich höre!«

Mit diesen Worten breitete Banks auf dem Tische eine im großen Maßstabe entworfene Karte dieses Theiles von Indien aus, um zu vergleichen, wie weit Kâlagani's Angaben damit übereinstimmten.

»Die Sache ist höchst einfach, begann der Hindu. Eine gerade Linie führt uns von der Delhi-Bahn nach der von Bombay, die sich in Allahabad vereinigen. Von der Station Etawah aus, die wir nahe der Grenze von Bundelkund eben verließen, ist nur ein unbedeutender Wasserlauf, die Jumna, zu überschreiten, und von dieser Grenze bis zu den Vindhyabergen ein zweiter, die Betwa. Selbst wenn diese Flüsse in Folge der Regenzeit jetzt aus den Ufern getreten sein sollten, wird das, wie ich glaube, dem Zuge kein besonderes Hinderniß bieten, von einem Ufer zum anderen zu gelangen.

– Das wird keine erheblichen Schwierigkeiten machen, erwiderte der Ingenieur; nun, und wenn wir nach den Vindhyas kommen...

– Dann wenden wir uns ein wenig nach Südost, um einen bequemen Paß aufzusuchen. Auch das dürfte unsere Fahrt nicht wesentlich behindern. Ich kenne z. B. den Paß von Sirgur, den man gewöhnlich mit Wagen und Pferden überschreitet.

– Kann aber unser Stahlriese, sagte ich, auch überall da fortkommen, wo es Pferden noch möglich ist?

– Daran zweifle ich keinen Augenblick, versicherte Banks; aber jenseits des Passes von Sirgur ist das Land sehr bergig. Könnten wir nicht lieber längs der Vindhyas durch Bhopal fahren?

– Gewiß; doch da finden sich sehr viel Städte, antwortete Kâlagaul, denen man kaum aus dem Wege gehen könnte; gerade diese waren übrigens der Hauptsitz der Sipahis während des Unabhängigkeitskrieges.«

Ich verwunderte mich nicht wenig über diese Bezeichnung »Unabhängigkeitskrieg«, welche Kâlagani für die Empörung von 1857 gebrauchte. Doch man durfte ja nicht vergessen, daß es ein Hindu und kein Engländer war, der [314] hier sprach. Allem Anscheine nach hatte Kâlagaul übrigens an der Erhebung nicht theilgenommen, mindestens hatte er niemals etwas verlauten lassen, was dafür gezeugt hätte.

»Nun gut, fuhr Banks fort, wir lassen also die Städte von Bhopal westlich liegen, und wenn Sie überzeugt sind, daß der Paß von Sirgur uns nach einer gangbaren Straße führt...

– O, diese Straße habe ich oft genug kennen gelernt; sie biegt um den Puturia-See und mündet vierzig Meilen von da, nahe Jubbulpore, an der Eisenbahn von Bombay nach Allahabad.

– Richtig, sagte Banks, der den Angaben des Hindus auf der Karte folgte; aber von da aus?

– Von da aus wendet sich die Hauptstraße nach Südwesten und läuft sozusagen neben der Bahnlinie bis Bombay.

– Ja, ja, so ist es, antwortete Banks; ich finde also kein ernsthaftes Hinderniß, durch die Vindhyas zu reisen und wir können uns mit diesem Wege einverstanden erklären. Den Diensten, die Sie uns bisher geleistet haben, Kâlagani, reihen Sie hiermit einen neuen an, der Ihnen nie vergessen, werden soll.«

Kâlagani verneigte sich und wollte eben weggehen, als er, sich besinnend, noch einmal auf den Ingenieur zutrat.

»Sie haben noch eine Frage an mich? begann Banks.

– Ja wohl, antwortete der Hindu. Darf ich wohl erfahren, warum Sie so geflissentlich die großen Städte von Bundelkund vermeiden wollen?«

Banks sah mich an. Wir hatten keinen Grund, Kâlagani zu verheimlichen, daß das aus Rücksicht auf Sir Edward Munro geschehe, und so theilten wir ihm denn das Nöthigste darüber mit.

Kâlagani horchte gespannt auf die Worte des Ingenieurs. Dann sagte er mit einem gewissen eigenthümlichen Tone:

»Der Oberst Munro hat von Nana Sahib nichts mehr zu fürchten, wenigstens nicht in diesen Provinzen.

– Weder in diesen Provinzen, noch irgend wo anders, bemerkte Banks dazu. Warum sagen Sie gerade, »in diesen Provinzen«?

– Weil der Nabab, wenn er, wie man behauptet, vor einigen Monaten in der Präsidentschaft Bombay aufgetreten war, jedenfalls, da alle Nachforschungen vergeblich blieben, die indo-chinesische Grenze wieder überschritten hat.«

[315] Diese Antwort bewies, daß Kâlagani von den Ereignissen in den Sautpourra-Bergen nichts wußte und nicht erfahren hatte, daß Nana Sahib bei dem Pal von Tandit durch Soldaten der königlichen Armee getödtet worden war.

»Ich sehe, Kâlagani, sagte darauf Banks, daß die Neuigkeiten, welche sich sonst durch ganz Indien verbreiten, bis in die Wälder des Himalaya nur mit Mühe hinauf dringen!«

Der Hindu sah uns, ohne zu antworten, ziemlich starr an, wie ein Mann, der nicht versteht, was er hörte.

»Ja, fuhr Banks fort, Sie scheinen nicht zu wissen, daß Nana Sahib todt ist.

– Nana Sahib ist todt? rief Kâlagani.

– Gewiß, versicherte Banks; von der Regierung sind auch die näheren Umstände bekannt gemacht worden, unter denen er den Tod gefunden hat.

– Das ist nicht möglich, sagte Kâlagani, den Kopf schüttelnd; wo wäre Nana Sahib denn getödtet worden?

– Bei dem Pal von Tandit, in den Sautpourra-Bergen.

– Und wann?...

– Schon etwa vor vier Monaten, antwortete der Ingenieur, am 25. Mai!«

Kâlagani, an dem mir der Ausdruck seiner Augen hierbei auffiel, kreuzte die Arme und stand schweigend da.

»Haben Sie Gründe, fragte ich ihn, an den Tod Nana Sahib's nicht zu glauben?

– O nein, meine Herren, erwiderte Kâlagani, ich glaube ja, was Sie mir sagen!«

Bald nachher, als wir allein waren, kam Banks noch einmal auf diesen Gegenstand zurück.

»Darin gleichen sich doch alle Hindus, sagte er. Der Anführer der rebellischen Sipahis ist zur sagenhaften Persönlichkeit geworden. Die abergläubischen Leute werden nimmermehr an seinen Tod glauben, da sie ihn nicht haben hängen sehen!

– Sie erscheinen mir, fügte ich hinzu, wie die alten Brummbären des Kaiserreiches, die zwanzig Jahre nach Napoleon's Tode behaupteten, daß dieser noch immer am Leben sei!«

[316] Seit der Ueberschreitung des oberen Ganges, den das Steam-House vierzehn Tage vorher passirt hatte, dehnte sich ein fruchtbares Land mit schönen Straßen vor dem Stahlriesen aus. Es war Doab, das zwischen dem Ganges und der Jumna liegt, bevor diese sich bei Allahabad vereinigen. Weite Alluvialebenen, zwanzig Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung von den Brahmanen urbar gemacht, sehr lückenhafte Culturfortschritte bei den Bauern, große, durch englische Ingenieure ausgeführte Canalisationsarbeiten, Baumwollanpflanzungen, welche hier ganz besonders gedeihen, das Knarren der Baumwollpressen, die man in jedem Dorfe findet, Gesang der Arbeiter, welche jene bedienen – das sind die Eindrücke, die ich von Doab, wo in der Urzeit die erste kirchliche Gemeinschaft gegründet wurde, zurückbehalten habe.

Unsere Fahrt ging ganz nach Wunsch von statten. Die Landschaften wechselten sozusagen nach den Launen unserer Phantasie. Unsere Wohnung zog ohne Anstrengung weiter zum Ergötzen unserer Augen. Stellte sie nicht, wie Banks im voraus behauptet hatte, die höchste Stufe der Vollkommenheit eines Transportmittels dar? Die Karren mit Ochsengespann, die Wagen mit Pferden oder Mauleseln, ja, die Waggons der Eisenbahnen, was waren sie gegen unsere dahinrollenden Häuser?

Am 19. September hielt das Steam-House am linken Ufer der Jumna an. Dieser bedeutende Fluß scheidet im mittleren Theile der Halbinsel das eigentliche Land der Rajahs oder Rajasthan von Hindostan, dem engeren Vaterlande der Hindus.

Die Jumna hatte eben einen ziemlich hohen Wasserstand und in Folge dessen auch stärkere Strömungen als gewöhnlich, wodurch unser Uebergang zwar ein wenig erschwert, aber doch keineswegs verhindert wurde. Banks vernachlässigte auch die nöthige Vorsicht nicht. Zunächst mußte ein passender Landungsplatz gesucht werden; einen solchen entdeckten wir bald. Eine halbe Stunde später schon stieg das Steam-House am anderen Ufer des Flusses langsam empor. Für Eisenbahnzüge braucht man große, oft mit ungeheueren Kosten hergestellte Brücken, und eine solche – eine Röhrenbrücke – führt auch bei der Festung von Selimgarh, in der Nähe von Delhi, über die Jumna. Für unseren Stahlriesen sammt den beiden von ihm gezogenen Wagen boten die Wasserläufe einen ebenso bequemen Weg, wie die schönsten macadamisirten Landstraßen der Halbinsel. Jenseits der Jumna liegen in dem Gebiete von Rajasthan eine Anzahl Städte, welche der Ingenieur vorsichtiger Weise bei unserer Fahrt nicht [317] berühren wollte; so zur linken Hand z. B. Gwalior, an dem Flusse Rawunrika, auf hochaufstrebenden Basaltfelsen mit seiner prächtigen Moschee Musjid, dem Palaste Pal, dem merkwürdigen Elephantenthore, dem berühmten Festungswerke und mit seiner Vihara von buddhistischem Ursprung; es ist eine uralte Stadt, der freilich das in einer Entfernung von zwei Kilometern angelegte neuere Laschkar eine recht ernsthafte Concurrenz macht. Hier, im Herzen dieses Gibraltars von Indien, hatte die Rani von Jansi, Nana Sahib's ergebene Bundesgenossin, bis zur letzten Stunde wahrhaft heldenmüthig gekämpft. Hier wurde sie auch, bei einem Treffen gegen die zweite Escadron der Husaren der königlichen Armee, wie wir wissen, von der Hand des Oberst Munro getödtet, der mit einem Bataillon seines Regimentes bei der Affaire betheiligt war. Von diesem Tage her schrieb sich, wie uns gleichfalls bekannt ist, der unauslöschliche Haß Nana Sahib's, den der Nabab bis zu seinem letzten Athemzuge zu befriedigen gesucht hatte. Ja, es war besser, daß Sir Edward Munro's Erinnerungen unter den Thoren von Gwalior nicht wieder wachgerufen wurden!

Nach Gwalior lag, westlich von unserer neuen Reiseroute, Antri mit seiner weit ausgedehnten Ebene, aus der da und dort, gleich den Inseln eines Archipels, spitze Einzelberge emporragen. Ferner Duttiah, das noch nicht fünf Jahrhunderte alt ist und an dem man die zahlreichen Häuser ebenso bewundert, wie das Festungswerk inmitten der Stadt, neben den Tempeln mit den verschiedenartigsten Thürmen, den verödeten Palast Dirding Deo's, das Arsenal Tope Oana – Alles zusammen die Hauptstadt des Königreichs Duttiah bildend, das in der nördlichen Ecke von Bundelkund liegt und unter englischem Schutze steht. Ganz wie Gwalior, waren auch Antri und Duttiah von der Erhebung des Jahres 1857 ernsthaft berührt worden.

Endlich kamen wir am 22. September in einer Entfernung von wenigstens vierzig Kilometer bei Jansi vorüber. Diese Stadt bildet die wichtigste Militärstation von Bundelkund, während unter den niederen Volksschichten daselbst ein leicht erregbarer revolutionärer Geist herrscht. Jansi, eine verhältnißmäßig neue Stadt, treibt bedeutenden Handel mit einheimischem Muslin und blauen Baumwollenwaaren. Es findet sich hier kein Bauwerk aus der Zeit vor der Gründung, welche erst im 17. Jahrhundert stattfand. Immerhin ist es von Interesse, die hiesige Citadelle zu besuchen, deren äußere Mauern die Geschosse der Engländer nicht zu zerstören vermochten, und die Grabstätte der Rajahs, welche einen äußerst pittoresken Anblick bietet. Hier befand sich jedoch der Hauptwaffenplatz [318] der aufrührerischen Sipahis Centralindiens. Hier war es, wo die unerschrockene Rani die erste Erhebung entfachte, die sich bald über ganz Bundelkund ausbreiten sollte. Hier mußte Sir Hugh Rose eine Schlacht liefern, welche nicht weniger als sechs volle Tage dauerte und bei der er fünfzehn Percent seiner Truppen einbüßte. Hier unterlagen endlich, trotz ihres Löwenmuthes, Tantia Topi, Balao Rao, der Bruder Nana Sahib's, und die Rani, obschon sie eine Besatzung von zwölftausend Sipahis zur Verfügung und eine Armee von zwanzigtausend zur Unterstützung hatten, den überlegenen englischen Waffen. Hier hatte, wie Mac Neil seinerzeit erwähnte, der Oberst Munro seinem Sergeanten das Leben gerettet, indem er jenem mitleidig den letzten Tropfen Wasser überließ. Mehr als irgend eine andere jener Städte traurigen Andenkens mußte deshalb Jansi auf einer Reise vermieden werden, deren Richtung die besten Freunde des Obersten mit Rücksicht auf diesen bestimmt hatten.

Am nächsten Tage, am 23. September, bestätigte eine Begegnung, die unsere Fahrt um einige Stunden verzögerte, die früheren Aussagen Kâlagani's.

Es war gegen elf Uhr Morgens. Nach dem Frühstück hatten wir Alle ein bequemes Plätzchen aufgesucht, die Einen auf dem Balkon, die Anderen im Salon des Steam-Houses. Der Stahlriese trabte mit einer Geschwindigkeit von neun bis zehn Kilometern in der Stunde vorwärts. Vor ihm hin erstreckte sich zwischen Baumwollen- und Fruchtfeldern eine von schönen Bäumen beschattete herrliche Straße. Das Wetter war schön, die Sonne leuchtete in vollem Glanze. Eine »obrigkeitliche« Besprengung dieser Landstraße wäre freilich nicht zu verachten gewesen, angesichts des seinen weißen Staubes, den der Wind vor uns hertrieb.

In der Entfernung von zwei bis drei Meilen schien sogar die ganze Atmosphäre von solchen Staubwirbeln erfüllt, welche auch ein heftiger Samum in der Libyschen Wüste kaum in dichteren Wolken hätte erheben können.

»Ich begreife nicht, wie jene Erscheinung zu Stande kommen kann, sagte Banks, da nur ein leichter Wind weht.

– Kâlagani wird das zu erklären wissen,« erwiderte Oberst Munro.

Man rief den Hindu, der nach der Veranda kam und einen Blick nach jener Stelle hin warf.

»Das ist eine lange Karawane, sagte er ohne Zögern, die nach Norden hinauf zieht, wie ich Ihnen, Herr Banks, das schon vorher gesagt habe; wahrscheinlich ist es eine Karawane von Banjaris.

[319] – Nun, Kâlaganui, bemerkte Banks, da werden Sie ohne Zweifel einige Ihrer früheren Gefährten treffen?

– Das wäre wohl möglich, antwortete der Hindu, da ich ziemlich lange unter jenen nomadisirenden Völkern verweilte.

– Beabsichtigen Sie vielleicht, uns in diesem Falle zu verlassen und sich jenen wieder anzuschließen? fragte Kapitän Hod.


Gwalior. (S. 318.)

– Nein, sicherlich nicht!« erwiderte Kâlagani.

Der Hindu hatte sich nicht getäuscht; eine halbe Stunde später mußte der [320] Stahlriese trotz seiner Kraft alles Vorwärtsdringen gegen eine wahrhafte Mauer von Wiederkäuern aufgeben.

Wir sollten diese Verzögerung übrigens nicht zu bedauern haben. Das Schauspiel, welches sich unseren Blicken darbot, war unstreitig der Beobachtung werth.


Der Eingeborene blieb einen Augenblick stehen. (S. 323.)

Eine mindestens vier- bis fünftausend Ochsen zählende Heerde bedeckte nach Süden zu die Straße auf eine Strecke von mehreren Kilometern. Wie Kâlagani vorausgesagt, bildete dieselbe eine Karawane von Banjaris.

[321] »Die Banjaris, erklärte uns Banks, sind die wirklichen Zigeuner Hindostans. Mehr ein Volk als nur ein Stamm, ohne feste Wohnsitze, leben dieselben im Sommer unter Zelten, im Winter in Hütten. Sie sind die Lastträger der Halbinsel, und ich habe sie sogar während der Erhebung von 1857 in Thätigkeit gesehen. In Folge einer Art stillschweigender Uebereinkunft zwischen den kriegführenden Theilen, ließ man ihre Züge unbehelligt durch die aufrührerischen Provinzen passiren. Sie waren die eigentlichen Lieferanten und beschafften die Nahrungsmittel ebenso für die königliche Armee wie für die Natifs. Wenn man einen Theil Indiens als die Heimat dieser Nomaden bezeichnen sollte, so wäre vielleicht Rapoutana, und speciell das Königreich Milwar zu nennen. Da sie aber bei uns vorbei defiliren, so mache ich Sie, lieber Maucler, darauf aufmerksam, sich diese Banjaris genau anzusehen.«

Unser Zug stand jetzt längs der Seite der Landstraße. Es wäre auch unmöglich gewesen, einer solchen Lawine von gehörnten Thieren, vor der alle Raubthiere eiligst zu entfliehen pflegen, Widerstand zu leisten.

Wie mir Banks empfohlen, beobachtete ich aufmerksam den ganzen Zug; ich muß jedoch gestehen, daß das Steam-House unter den gegebenen Verhält nissen nicht seine gewohnte Wirkung hervorbrachte. Der Stahlriese, der sonst stets allgemeine Bewunderung erregte, zog kaum die Blicke dieser Banjaris auf sich, welche gewohnt zu sein schienen, über nichts zu erstaunen.

Die Männer wie die Frauen dieser Zigeuner-Race zeichneten sich gleichmäßig aus – die Männer waren groß, stark, hatten ausdrucksvolle Gesichtszüge, eine Adlernase, welliges Haar, die Hautfarbe ähnelte einer Bronze mit Ueberschuß von Kupfergehalt; sie trugen einen langen Ueberrock nebst Turban, als Waffen eine Lanze, einen runden Schild und einen langen Säbel an schräg über die Brust hängendem Lederzeug; – die Frauen waren ebenfalls hochgewachsen und gut proportionirt, wie die Männer stolz auf ihren Stamm, hatten den Oberkörper in eine Art Schnürleib eingezwängt, während der übrige Körper unter den Falten eines langes Rockes verschwand und die ganze Gestalt vom Kopfe bis zu den Füßen ein elegant drapirtes Oberkleid umhüllte; dazu trugen sie Edelsteine in den Ohren, glitzernde Halsbänder, Armspangen und Ringe von Gold, Elfenbein oder Muscheln um die Knöchel.

Neben den Männern, Frauen, Greifen und Kindern marschirten in friedlichem Schritt, ohne Sattel und Halfter, Tausende von Ochsen, ihre rothen Troddeln schüttelnd, wobei die am Kopfe angebrachten Schellen erklangen, und [322] trugen quer über den Rücken einen Doppelsack mit Getreide oder anderen Cerealien.

Wir hatten einen ganzen, zu einer Karawane vereinigten Stamm vor uns, der unter Führung eines gewählten Häuptlings, eines »Naik«, dahinzog, welcher für die Dauer der Fahrt unbeschränkte Machtvollkommenheit besitzt.

Die Spitze nahm ein besonders großer Stier ein, der in stolzer Haltung, geschmückt mit scharlachrothen Stoffen, einer ganzen Garnitur von Schellen und Muscheln, voranschritt. Ich richtete an Banks die Frage, welche Bewandtniß es mit diesem prächtigen Thiere habe?

»Darüber wird Kâlagani uns gewiß aufklären können, antwortete der Ingenieur. Wo ist er denn?«

Kâlagani wurde gerufen. Er kam nicht, man suchte nach ihm. Er war nicht mehr im Steam-House.

»Er wird ohne Zweifel einen alten Bekannten getroffen haben, meinte Oberst Munro, aber jedenfalls wiederkehren, bevor wir weiter fahren.«

Eine solche Erklärung schien ganz natürlich, und wir brauchten uns über die augenblickliche Abwesenheit des Hindu wohl nicht zu beunruhigen; dennoch konnte ich mich eines unangenehmen Eindrucks dabei nicht ganz erwehren.

»Nun, sagte Banks, wenn ich nicht irre, repräsentirt dieser Stier bei den Karawanen der Banjaris deren Gottheit. Wohin er geht, gehen sie nach. Bleibt er stehen, so rastet man; ich glaube indeß, der Naik wird dabei heimlich seine Hand mit im Spiele haben. Kurz, die ganze Religion jener Nomaden beruht in der Verehrung dieses Stiers.«

Erst zwei Stunden später vermochten wir das Ende des langen Zuges wahrzunehmen. Ich sachte unter den Nachzüglern Kâlagani und sah ihn wirklich im Gespräch mit einem Hindu, der nicht zu den Banjaris gehörte. Offenbar war es einer der Eingebornen, welche zeitweilig bei den Karawanen Dienste nehmen, wie es ja auch Kâlagani wiederholt gethan. Beide sprachen heimlich mit einander. Von wem und wovon mochte die Rede sein? Wahrscheinlich von dem Gebiete, durch welches der wandernde Stamm eben gekommen war und das wir unter der Leitung unseres neuen Führers durchreisen sollten. Der Eingeborne, welcher sich am Ende der Karawane hielt, blieb auf einen Augenblick vor dem Steam-House stehen. Mit einem gewissen Interesse beobachtete er den Zug, nebst dessen künstlichem Elephanten, obwohl er am meisten den Oberst Munro in's Auge zu fassen schien und uns übrigens nicht ansprach. Dann [323] winkte er Kâlagani ein Lebewohl zu, schloß sich seinem Zuge wieder an und war bald in den dichten Staubwolken um denselben unseren Blicken verschwunden.

Als Kâlagani zu uns zurückkehrte, sagte er, ohne darum gefragt zu sein, zu Oberst Munro:

»Einer meiner alten Kameraden, der seit zwei Monaten angestellt ist.«

Das war Alles. Kâlagani nahm seinen gewöhnlichen Platz wieder ein, und bald dampfte das Steam-House auf der, von den Hufen der unzähligen Ochsen zertretenen Straße weiter.

Am nächsten Tage, am 24. September, hielt unser Train an, um fünf bis sechs Kilometer östlich von Ourtcha, am linken Ufer der Betwa, einem der Hauptzuflüsse der Jumna, die Nacht zu verbringen.

Von Ourtcha ist nichts zu sagen und war nichts zu sehen. Es ist die alte Hauptstadt von Bundelkund, welche in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch ziemlich in Blüthe stand. Unter den Einfällen der Mongolen von der einen und denen der Maharaten von der anderen Seite litt sie aber so sehr, daß sie sich niemals ganz erholen konnte. Jetzt stellte die frühere große Stadt Central-Indiens nur noch einen elenden Flecken dar, der kaum einige Hundert Bewohner beherbergt.

Ich sagte, daß wir am Ufer der Betwa Halt machten; eigentlich war das in einer gewissen Entfernung von demselben der Fall.

Der an sich bedeutende Fluß hatte jetzt nämlich Hochwasser und überschwemmte die Ufergelände in ziemlicher Breite. Dieser Umstand drohte unserem Uebergange vielleicht einige Schwierigkeiten zu bereiten, doch konnten wir uns darüber erst morgen vergewissern. Die Nacht war zu dunkel, um irgend etwas zu sehen.

Nach der Abendmahlzeit suchte also Jeder bald seinen Schlafraum auf.

Außer unter besonderen Umständen ließen wir unser Lager während der Nacht niemals bewachen. Was hätte das auch nützen sollen? Unsere fahrbaren Häuser konnte doch Niemand wegtragen. Konnte es Jemand einfallen, unseren Elephanten stehlen zu wollen? Gewiß nicht. Er hätte sich schon durch sein eigenes Gewicht vertheidigt. Auch ein etwaiger Ueberfall von Landstreichern, welche wohl da und dort die Landstraßen unsicher machen, war nicht gerade wahrscheinlich. Wenn übrigens auch keiner unserer Leute während der Nacht Wache hielt, so hatten wir ja die beiden Hunde, Phann und Black, welche bei jeder verdächtigen Annäherung gewiß angeschlagen hätten.

[324] Eben das kam nun in dieser Nacht vor. Gegen zwei Uhr Morgens wurden wir von wüthendem Gebell erweckt. Ich sprang vom Lager auf und fand die Anderen schon auf den Füßen.

»Was giebt es? fragte Oberst Munro.

– Die Hunde schlagen an, antwortete Banks, und gewiß nicht ganz ohne Ursache.

– Es wird sich ein Panther in dem benachbarten Walde haben hören lassen, sagte Kapitän Hod; wir wollen den Saum des Holzes untersuchen und aus Vorsicht die Gewehre mitnehmen.«

Der Sergeant Mac Neil, Kâlagani und Goûni waren schon herausgetreten, um zu lauschen, und erörterten unter einander, was im Dunklen vorgehen möge. Wir gingen zu ihnen hin.

»Meiner Ansicht nach, sagte Kapitän Hod, werden zwei oder drei Raubthiere in die Nähe gekommen sein, um im Flusse ihren Durst zu löschen.

– Kâlagani glaubt das nicht, antwortete Mac Neil.

Und was ist Ihre Meinung? fragte Oberst Munro den Hindu.

– Ich bin mir selbst noch nicht klar, erwiderte Kâlagaul, es steht aber fest, daß es sich weder um Tiger oder Panther, auch nicht um Schakals handelt. Ich glaube unter den Bäumen eine unbestimmte Masse zu sehen...

– Das soll bald aufgeklärt sein! rief Kapitän Hod, der immer den ihm noch fehlenden fünfzigsten Tiger im Gedanken hatte.

– Gedulden Sie sich, Hod, ermahnte ihn Banks, in Bundelkund ist es stets gerathen, vor Landstreichern auf der Hut zu sein.

– Wir sind in der Ueberzahl und wohlbewaffnet, antwortete Kapitän Hod; ich muß Gewißheit über die Sache haben!

– Nun, meinetwegen!« sagte Banks.

Die beiden Hunde bellten zwar noch immer, offenbar aber nicht so wüthend, wie sie es bei der Annäherung reißender Thiere zu thun pflegten.

»Du, lieber Munro, fuhr Banks fort, bleib' mit Mac Neil und den Uebrigen am Platze. Hod, Maucler, Kâlagani und ich werden inzwischen auf Kundschaft ausgehen.

– Also vorwärts!« drängte Kapitän Hod, indem er Fox ein Zeichen gab, ihm nachzufolgen.

Phann und Black sprangen zwischen den Bäumen voraus und zeigten den Weg.

[325] Kaum betraten wir den eigentlichen Wald, als sich ein auffälliges Geräusch vernehmen ließ. Offenbar trieb sich hier am Saume des Waldes eine ganze Bande lebender Wesen umher. Wir sahen auch undeutlich einige schweigsame Schatten, welche durch das Dickicht entflohen.

Die Hunde bellten, sprangen hin und her und immer tiefer in das Gehölz.

»Wer da?« rief Kapitän Hod.

Keine Antwort.

»Entweder wollen die Leute nicht Rede stehen, meinte Banks, oder sie verstehen kein Englisch.

– Dann dürften sie die Sprache der Hindus kennen, bemerkte ich.

– Rufen Sie Jene an, Kâlagani, sagte Banks, und wenn sie nicht antworten, geben wir Feuer.«

Kâlagani rief in seiner Muttersprache den schattenhaften Erscheinungen zu, hervorzutreten.

Es erfolgte ebenso wenig eine Antwort wie das erste Mal.

Da krachte ein Schuß. Der ungeduldige Kapitän Hod hatte nach einem Schatten geschossen, der sich zwischen den Bäumen hindurchwand.

Auf den Knall des Gewehres ward es plötzlich lebendig überall; nach links und rechts sahen wir eine große Menge Geschöpfe auseinander stieben. Phann und Black, welche ein Stück voraus waren, kamen bald darauf ruhig wieder und überzeugten uns, daß Alles geflohen sei.

»Ob das nun Landstreicher oder Nachzügler von der Karawane waren, sagte Kapitän Hod, jedenfalls haben sie sehr schnell Fersengeld gegeben!

– Ja, es wird uns nichts Anderes übrig bleiben, als in das Steam-House zurückzukehren. Ich will aber doch bis Tagesanbruch Wachen ausstellen.«

Kurze Zeit darauf waren wir bei den Anderen zurück. Mac Neil, Goûmi und Fox übernahmen es, zu wachen, während wir unsere Lagerstätten wieder aufsuchten. Die Nacht verlief ohne weitere Störung. Es war also anzunehmen, daß die Unbekannten, als sie das Steam-House so vortrefflich vertheidigt sahen, es vorgezogen hatten, zu verschwinden.

Am nächsten Tage, am 25. September, sollten wir, Oberst Munro, Kapitän Hod, Mac Neil, Kâlagani und ich, während schon die Abfahrt vorbereitet wurde, noch einmal den Saum des Waldes untersuchen.

Von der Bande, welche diese Nacht hier gewesen war, fand sich keine Spur mehr. Wir konnten uns also wohl jeder Besorgniß entschlagen.

[326] Als wir zurückkamen, traf Banks eben Anstalt über die Betwa zu gehen. Der stark angeschwollene Fluß wälzte seine gelblichen Fluthen auf beiden Seiten weit über den Ufern hin. Die Strömung erwies sich als so heftig, daß der Stahlriese ihr gerade entgegenarbeiten mußte, um nicht zu sehr thalabwärts gezogen zu werden.

Der Ingenieur bemühte sich, zunächst eine geeignete Landungsstelle zu erspähen, und betrachtete deshalb mit dem Fernrohr das gegenüberliegende Ufer. Das Bett der Betwa mochte an der Stelle, wo wir uns befanden, augenblicklich wohl eine Meile in der Breite messen. Es war das also der bedeutendste Wasserübergang, den unser Zug bisher ausgeführt hatte.

»Aber, fragte ich, was beginnen die Reisenden oder Kaufleute, wenn sie an einen solchen, durch Hochwasser angeschwollenen Fluß kommen? Ich glaube kaum, daß man mit einer Fähre gegen eine solche Strömung, die schon mehr einer Stromschnelle gleicht, ankämpfen könnte.

– Ei, versetzte Kapitän Hod, das ist sehr einfach – sie gehen eben nicht über das Wasser.

– Und doch, fiel Banks ein, wenigstens, wenn sie Elephanten zur Hand haben.

– Wie? Elephanten könnten eine so weite Strecke schwimmend zurücklegen?

– Gewiß, versicherte der Ingenieur, und dabei verfährt man in der Weise, daß alles Gepäck auf den Rücken...

– Dieser Proboscidien geschafft wird! fuhr Kapitän Hod, in Erinnerung an seinen Freund Mathias Van Guitt, fort.

– Die Mahouts, erklärte Banks weiter, treiben sie dann in die Strömung. Zuerst zögert das Thier, weicht zurück und giebt einige unwillige Laute von sich; bald besinnt es sich aber anders, tritt ruhig in's Wasser und überschreitet wacker schwimmend den Lauf des Flusses. Es kommt wohl vor, daß einmal einer von der Strömung fortgeführt wird, doch geschieht das unter der Hand eines geschickten Führers höchst selten.

– Gut, versetzte Kapitän Hod, wenn wir auch nicht »mehrere« Elephanten zur Hand haben, so besitzen wir doch einen...

– Der uns nicht im Stiche lassen wird, fiel Banks ein. Gleicht er nicht jenem Oructor Amphibolis des Amerikaners Evans, der schon im Jahre 1804 auf der Erde hinrollte und auf dem Wasser schwamm.


Wie sahen einige schweigsame Schatten. (S. 326.)

Jeder nahm nun seinen Platz im Zuge wieder ein; Kâlouth stand an der Feuerthür, Storr saß in dem Thürmchen und Banks, gleichsam als Steuermann, neben ihm.

Zuerst mußten wir gegen fünfzig Schritte durch das überschwemmte Uferland fahren und gelangten dann [327] in die eigentliche Strömung. Der Stahlriese setzte sich langsam und sicher in Gang. Seine breiten Füße tauchten zwar schon in die Fluth, doch schwamm er noch nicht auf derselben. Der Uebergang von dem festen Boden in die dahineilende Fluth erforderte einige Vorsicht.


Hundert Gestalten wälzten sich aus dem Walde hervor.

[328]

Plötzlich schlug ganz dasselbe Geräusch, welches wir in der Nacht gehört hatten, an unser Ohr.

In den tollsten Sprüngen wälzten sich wohl hundert Gestalten aus dem Walde hervor.

»Alle Teufel, rief Kapitän Hod, aus vollem Herzen lachend, das sind also Affen gewesen!«

In der That stürzte eine dichte Gesellschaft jener possirlichen Geschöpfe auf das Steam-House zu.

[329] »Was mögen die Kerle vorhaben? fragte Mac Neil.

– Sie wollen uns sicherlich überfallen, meinte Kapitän Hod, der immer zur Abwehr bereit war.

– O, nein, warf Kâlagani, der die Affengesellschaft beobachtet hatte, ein, das ist nicht zu befürchten.

– Nun, was haben sie dann vor? fragte Mac Neil noch einmal.

– Sie wollen in unserer Gesellschaft über den Fluß setzen, weiter nichts!« antwortete der Hindu.

Kâlagani täuschte sich nicht. Wir hatten es hier weder mit jenen langarmigen, starkbehaarten Gibbons zu thun, welche unverschämt sind und sogar gefährlich werden können, noch mit »Mitgliedern der aristokratischen Familie«, die den Palast von Benares bewohnt. Es waren vielmehr sogenannte »Langours«, die größten Affen der Halbinsel, geschmeidige Vierhänder mit schwarzem Fell und glattem, von weißem Backenbart umrahmten Gesichte, was ihnen das Ansehen alter Advocaten verlieh. Bezüglich ihrer bizarren Haltung und maßlosen Gesticulationen hätte sogar Mathias Van Guitt in ihnen seinen Meister gefunden. Ihr Chinchillapelz war auf dem Rücken grau, am Bauche fast weiß und den Schwanz trugen sie meist hoch.

Ich erfuhr bei dieser Gelegenheit, daß die Langours in ganz Indien als geheiligte Thiere betrachtet werden. Der Sage nach stammen sie von den Kriegern Rama's ab, welche die Insel Ceylon eroberten. In Amber haben sie einen Palast, den Zehnanah, inne, wo sie von Touristen vielfach aufgesucht werden. Sie zu tödten, ist ausdrücklich verboten, und die Mißachtung dieses Gesetzes hat schon manchem englischen Officier das Leben gekostet.

Diese Affen sind von sanftem Charakter und leicht zähmbar, dagegen äußerst gefährlich, wenn man sie angreift, und Louis Rousselet sagt von ihnen mit Recht, daß sie verwundet ebenso gefährlich wie Hyänen und Panther werden können.

Uns kam es jedoch gar nicht in den Sinn, die Langours anzugreifen, und Kapitän Hod setzte auch das Gewehr wieder beiseite.

Hatte Kâlagani Recht, indem er behauptete, daß die ganze Gesellschaft, welche nicht über den Strom gelangen konnte, unseren schwimmenden Apparat zu benutzen gedachte, um die Betwa zu überschreiten? Das war ja möglich, und wir sollten uns auch sogleich davon überzeugen. Der Stahlriese, der jetzt das Ufergelände überschritten hatte, erreichte eben das eigentliche Bett des Stromes.

[330] Bald schwamm der ganze Zug mit ihm. In Folge einer Biegung des Flusses stand das Wasser an eben dieser Stelle fast stille, so daß auch das Steam-House sich kaum fortbewegte.

Die Affenheerde war inzwischen nahe herangekommen und plätscherte in dem seichten Wasser, welches das nächstliegende Land bedeckte.

Von feindseligen Absichten bemerkten wir nichts. Plötzlich aber singen Männchen und Weibchen, Alte und Junge an zu hüpfen und zu springen, reichten einander die Hand und gelangten zuletzt bis an den Zug, der sie zu erwarten schien.

Binnen wenig Secunden saßen gegen zehn auf dem Stahlriesen, etwa dreißig auf jedem Hause – eine ganze Gesellschaft lustiger Burschen, welche untereinander lebhaft zu plaudern schienen und offenbar ihre Befriedigung zu erkennen gaben, zu so gelegener Zeit einen schwimmenden Apparat angetroffen zu haben, der ihnen die Fortsetzung ihrer Wanderung ermöglichte.

Der Stahlriese trieb bald in die Strömung hinein und wendete sich dieser entgegen. Banks hatte einen Augenblick gefürchtet, diese Ueberlastung mit Passagieren werde unseren Zug zu schwer machen; das war jedoch nicht der Fall. Die Affen hatten sich wirklich recht geschickt über denselben vertheilt. Sie hockten da auf dem Rücken, dem Thürmchen, Halse und dem Rüssel des Elephanten bis zur äußersten Spitze, wo sie nicht einmal der ausgestoßene Dampf erschreckte. Andere befanden sich auf den abgerundeten Dächern unserer Pagoden, die einen zusammengekauert, andere stehend, diese auf die Füße gestützt, jene sich auf dem Schwanze haltend – selbst unter der Veranda des Balkons.

Das Steam-House hielt sich also, in Folge seiner glücklich vertheilten Luftkästen, in der richtigen Schwimmlinie, so daß auch diese Mehrbelastung keine Gefahr erzeugte.

Kapitän Hod und Fox waren höchst verwundert – vorzüglich der Diener. Es fehlte nicht viel, so hätte er das grimassenschneidende lustige Volk im Namen des Steam-Houses begrüßt. Er sprach wirklich mit den Langours, drückte ihnen die Hand und nahm den Hut vor denselben ab. Ja, er hätte gern alle Zuckervorräthe der Speisekammer geplündert, wenn Monsieur Parazard, ungehalten, sich in solcher Gesellschaft zu befinden, nicht dagegen Einspruch erhob.

Der Stahlriese arbeitete rastlos mit seinen vier Füßen, welche gleich langen Pagaien wirkten. Immer zurückgedrängt, hielt er doch stets die schräge Linie nach dem Punkte ein, wo wir anlanden wollten.

[331] Nach einer halben Stunde hatte er ihn erreicht; kaum berührte er aber das Ufer, als die ganze Gesellschaft vierhändiger Clowns an's Land sprang und unter tausend lustigen Sätzen verschwand.

»Sie hätten sich wenigstens bedanken können!« rief Fox, den diese Rücksichtslosigkeit der ungebetenen Theilnehmer an der Ueberfahrt verletzte.

Ein allgemeines Lachen antwortete ihm. Mehr verdiente ja wohl die Bemerkung des empfindlichen Dieners nicht.

8. Capitel
Achtes Capitel.
Hod gegen Banks.

Die Betwa war überschritten. Schon trennten uns hundert Kilometer von der Station Etawah.

Vier Tage verliefen ohne Zwischenfall, sogar ohne jedes Jagdabenteuer. In diesem Theile des Königreichs Scindia hielten sich nur wenige Raubthiere auf.

»Offenbar komme ich nach Bombay, wiederholte Hod öfters nicht ohne einen gewissen Groll, ohne meinen Fünfzigsten erlegt zu haben.

Kâlagani führte uns mit wunderbarer Sicherheit durch dieses nur ganz schwach bevölkerte Gebiet, dessen Topographie er auf's genaueste kannte, und am 29. September begann unser Zug den nördlichen Abhang der Vindhyas emporzusteigen, um durch den Paß von Sirgur zu gehen.

Bis hierher war unsere Fahrt durch Bundelkund ohne jede Belästigung verlaufen. Gerade dieses Land ist aber eines der unsichersten von ganz Indien. Hier suchen sich alle Verbrecher gern zu verbergen. Landstreicher giebt es in Menge. Die Dacoits vorzüglich treiben hier ihr unheimliches Doppelgewerbe als Giftmischer und Räuber. Wer durch dieses Gebiet kommt, muß also immer sorgsam auf der Hut sein.

Den schlimmsten Theil von Bundelkund nun bildet die Berggegend der Vindhyas, welche das Steam-House eben betrat. Der Weg ist nicht lang – [332] höchstens hundert Kilometer – bis nach Jubbulpore, der nächsten Station der Eisenbahn von Bombay nach Allahabad. Freilich durften wir nicht daran denken, hier so schnell und bequem fortzukommen wie in den Ebenen von Scindia. Steile Wegstrecken, schlecht unterhaltene Straßen, ein steiniger Boden, scharfe Biegungen und manchmal auch die ungenügende Breite des Weges, Alles trug dazu bei, unsere mittlere Geschwindigkeit zu vermindern. Banks rechnete darauf, während der zehn Fahrtstunden jedes Tages nicht mehr als fünfzehn bis zwanzig Kilometer zurückzulegen. Tag und Nacht mußten wir übrigens die Umgebungen der Straße oder unseres Nachtquartiers scharf bewachen lassen.

Kâlagani hatte uns zuerst diesen Rath ertheilt, obwohl wir uns ja in günstiger Lage zur Vertheidigung befanden. Die beiden Häuser und das Thürmchen – eine wirkliche Kasematte, welche der Stahlriese auf dem Rücken trug – boten ja, um einen beliebten Ausdruck dafür zu gebrauchen, eine gewisse »Widerstandsfläche« dar. Schwerlich würde es irgend welchen Landstreichern, Dacoits oder anderen, nicht einmal Thugs, wenn in diesem Theile Bundelkunds noch solche umherlungerten, in den Sinn gekommen sein, uns anzugreifen. Vorsicht ist jedoch niemals vom Uebel, und besser war es doch, für jeden Fall bereit zu sein.

Noch in den ersten Stunden dieses Tages erreichten wir den Paß von Sirgur, durch den sich unser Zug ohne größere Beschwerden dahinwand. Dann und wann, wenn die Steigung zu stark wurde, mußte wohl etwas mehr Dampf gegeben werden, der Stahlriese entwickelte aber unter Storr's Hand stets hinreichende Kraft, selbst wenn es galt, Steigungen von zwölf bis fünfzehn Centimeter auf einen Meter zu überwinden.

An ein Abweichen vom richtigen Wege war wohl nicht zu denken. Kâlagani kannte alle Schluchten und Stege der Vindhyas, und vor Allem des Passes von Sirgur. Er fand sich stets zurecht, selbst wenn mehrere Straßen an einer zwischen hohen Felsen verlorenen Stelle ausmündeten, trotz der dichten Wälder von Alpenbäumen, welche die Aussicht schon in einer Entfernung von zwei- bis dreihundert Schritten absperrten. Wenn er uns zuweilen verließ und entweder allein oder von mir, von Banks oder irgend einem Anderen begleitet, vorausging, so geschah das nicht, um sich über die Richtung des Weges, sondern nur über dessen Zustand aufzuklären.

Der viele Regen während der kaum beendeten nassen Jahreszeit hatte die Straßen selbstverständlich arg beschädigt und Furchen in dem Erdboden hinterlassen,[333] ein Umstand, der nicht ganz unberücksichtigt bleiben durfte, da wir nicht gern Wege einschlugen, von denen wir schwierig hätten umkehren können.

Wir kamen also den Umständen nach ganz leidlich vorwärts. Der Regen hatte völlig aufgehört. Der von leichtem Gewölk, durch das zuweilen die Sonne blitzte, halb verschleierte Himmel drohte nicht mehr mit den schweren Unwettern, deren Heftigkeit man vorzüglich im Centrum der Halbinsel fürchtet. Wenn die Hitze auch nicht bedeutend war, so machte sie sich doch noch während einiger Stunden des Tages bemerkbar, doch hielt sich die Temperatur im Ganzen auf mittlerer Höhe, so daß sie Reisenden mit Schutzmitteln, wie sie uns zu Gebote standen, nicht eigentlich lästig wurde. An eßbarem Wild fehlte es nicht, und unsere Jäger beschafften leicht die Bedürffnisse für die Tafel, ohne sich vom Steam-House allzuweit zu entfernen.

Nur Kapitän Hod – und natürlich auch Fox – mochten das Nichtvorhandensein von Raubthieren, durch das sich Tarryani auszeichnete, bedauern. Konnten sie überhaupt darauf rechnen, Löwen, Tiger und Panther da anzutreffen, wo es diesen an Wiederkäuern, ihrer hauptsächlichsten Nahrung, fast vollständig mangelte?

Fehlten in der Fauna der Vindhya-Berge aber die Fleischfresser sehr auffallend, so fanden wir desto mehr Gelegenheit, die Elephanten Indiens kennen zu lernen – ich meine die wilden Elephanten, von denen wir bisher nur sehr wenige Exemplare gesehen hatten.

Am 30. September gegen Mittag wurde ein Paar dieser herrlichen Thiere vor unserem Zuge sichtbar. Bei unserer Annäherung wichen sie nach der Seite der Straße aus, um das ihnen noch unbekannte Fuhrwerk, welches sie zu erschrecken schien, vorüberziehen zu lassen.

Was hätte es uns nützen können, sie ohne allen Grund, vielleicht nur um die Jagdlust zu befriedigen, zu tödten? Selbst dem Kapitän Hod fiel das gar nicht ein. Er begnügte sich, in ihrer Freiheit die schönen Thiere zu bewundern, die hier in den oberen Bergschluchten hausten, wo Bäche und Weideplätze alle ihre Bedürfnisse decken mußten.

»Eine herrliche Gelegenheit für unseren Freund Mathias Van Guitt, bemerkte er, um uns einen gelehrten Vortrag über Zoologie zu halten!«

Bekanntlich ist Indien vor allen anderen das Land der Elephanten. Diese Pachydermen gehören alle einer und derselben Art an, welche aber niedriger steht, als die der afrikanischen Elephanten, und zwar ebenso diejenigen, welche [334] in den verschiedenen Provinzen der Halbinsel selbst umherschweifen, als auch die, deren Fährten man in Birma, im Königreiche Siam bis zu den östlich vom Busen von Bengalen gelegenen Gebieten verfolgt.

Wie man sie einsängt? Gewöhnlich in einem »Kiddah«, das ist ein von Palissaden umschlossener Platz. Wenn es sich dabei um eine ganze Heerde handelt, so treiben sie die in der Zahl von drei- bis vierhundert Mann zusammentretenden Jäger unter Führung eines »Djamadar«, das ist ein darauf besonders eingeübter Eingeborner, in den Kiddah zusammen, schließen sie darin ein, suchen sie mit Hilfe gezähmter, speciell hierzu abgerichteter Elephanten von einander zu trennen, fesseln sie dann an den Hinterbeinen und haben sie damit in ihrer Gewalt. Diese Methode, welche Zeit und einen gewissen Kraftaufwand erfordert, erweist sich aber häufig nutzlos, wenn man große, starke Männchen einfangen will. Es sind das ziemlich bösartige Thiere, welche den Kreis der Treiber oft durchbrechen und sich nicht in den Kiddah hineindrängen lassen. Auch benutzt man wohl Weibchen, welche jenen Männchen tagelang folgen. Diese tragen in dunkle Stoffe gehüllte Mahouts auf dem Rücken, und wenn die Elephanten sich ahnungslos dem süßen Schlummer überlassen, werden sie von jenen mit Ketten gefesselt, ehe sie recht wissen, was mit ihnen vorgeht.

Ich erwähnte schon einmal, daß man Elephanten früher mittelst tiefer, an den von ihnen gewöhnlich gewählten Wegen gelegenen Gruben zu fangen pflegte; da diese fünfzehn Fuß tief ausgehoben wurden, so verletzte sich das Thier meist beim Hineinfallen oder fand dabei seinen Tod, so daß man dieses barbarische Mittel fast allgemein aufgegeben hat.

Endlich kommt in Bengalen wie in Nepal auch noch der Lasso zur Verwendung. Eine solche Jagd bietet dann die interessantesten Momente. Man benutzt dazu gut abgerichtete Elephanten, welche drei Mann tragen. Auf ihrem Hals sitzt ein Mahout, der sie führt, auf dem Rücken ein Hindu, der den mit einem Laufknoten versehenen Lasso zu werfen hat, und noch weiter rückwärts ein Treiber, der sie mit einem Schlägel oder scharfen Haken anspornt. So ausgerüstet verfolgen diese Pachydermen den wilden Elephanten, oft mehrere Stunden lang, weit hin über Ebenen, quer durch dichte Wälder, wobei die Leute auf dem Thiere nicht immer ohne Schaden davon kommen, endlich aber stürzt das einmal, »lassirte« Thier in schwerem Fall zusammen.

Mittelst dieser verschiedenen Methoden fängt man in Indien jährlich eine große Anzahl Elephanten. Es ist das auch kein schlechtes Geschäft. Ein Weibchen[335] wird mit siebentausend, ein Männchen mit zwanzigtausend, und wenn es von »reinem Blute« ist, bis mit fünfzigtausend Francs bezahlt.

Wenn man für diese Thiere so hohe Summen anlegt, so müssen dieselben doch sehr nützlich sein. Das ist auch wirklich der Fall, wenn man sie genügend nährt, das heißt ihnen im Laufe eines Tages etwa sechzig bis siebenzig Kilo grünes Futter verabreicht;


Die einen zusammengekauert, andere stehend. (S. 331)

sie dienen dann zum Transport von Soldaten, Proviant, von Artilleriematerial in bergigen Gegenden oder durch Dschungeln, welche für Pferde unzugänglich sind, oder werden auch von Einzelnen, welche


Die beiden Elephanten traten zur Seite. (S. 338.)

sie als Zugthiere gebrauchen, zu besonders schweren Arbeiten benutzt. Diese mächtigen und gelehrigen, in Folge eines eigenthümlichen Instincts, der sie zum Gehorsam zu nöthigen scheint, leicht zähmbaren und lenksamen Riesen werden in ganz Hindostan allgemein verwendet. Da sie sich in gezähmtem Zustande nicht vermehren (ganz neuerdings hat doch ein Ele [336] phantenweibchen in einer amerikanischen Menagerie ein Junges geworfen), so jagt man sie ohne Unterlaß, um den Bedarf der Halbinsel wie des Auslandes zu decken. Man verfolgt sie, stellt ihnen nach und fängt sie fortwährend auf die oben angegebene Weise.

[337] Trotzdem scheint ihre Zahl nicht abzunehmen, denn sie streifen noch immer in vielköpfigen Heerden in verschiedenen Theilen Indiens umher. Ja, ich möchte fast sagen, in gar zu zahlreichen Heerden, wie man bald erkennen wird.

Die beiden Elephanten traten, wie erwähnt, so zur Seite, daß unser Zug bequem vorüber passiren konnte, und trotteten dann ruhig weiter. Da wurden hinter uns plötzlich noch andere Elephanten sichtbar, welche sich offenbar beeilten, das Pärchen, an dem wir eben vorüber gekommen, einzuholen. Eine Viertelstunde später zählten wir schon ein ganzes Dutzend. Sie beobachteten das Steam-House und folgten uns in einer Entfernung von höchstens fünfzig Metern. Sie schienen eben nicht gewillt, uns zu überfallen, aber noch weniger, uns zu verlassen. Es wäre ihnen jenes um so leichter geworden, als der Stahlriese auf den bergigsten der Vindhya-Kämme kaum schneller fortzutreiben gewesen wäre.

Ein Elephant dagegen läuft schneller, als man glauben sollte, und legt, nach Sanderson, der in dieser Beziehung vielfache Erfahrung besitzt, sogar bis fünfundzwanzig Kilometer in der Stunde zurück. Es konnte also für die Thiere, welche hinter uns hertrabten, keine Schwierigkeiten haben, uns einzuholen oder sogar zuvorzukommen.

Das schien aber – wenigstens für den Augenblick – ihre Absicht nicht zu sein. Wahrscheinlich warteten sie nur, bis noch mehr dazu gekommen waren. Jetzt bildeten sie schon eine ganze Gesellschaft, die sich ebensogut noch weiter vergrößern konnte. Eine solche Heerde von Pachydermen besteht gewöhnlich aus dreißig bis vierzig Individuen, welche eine Familie mehr oder weniger verwandter Glieder bilden; es kommt aber nicht selten vor, daß man Haufen von über hundert solcher Dickhäuter begegnet, was für die Reisenden, die ihnen in den Weg kommen, immer ziemlich mißlich, wenn nicht gar gefährlich wird.

Oberst Munro, Banks, Hod, der Sergeant, Kâlagani und ich hatten auf der Veranda des zweiten Wagens Platz genommen und beobachteten, was hinter uns vorging.

»Ihre Anzahl wächst noch immer, sagte Banks, und wird sich wahrscheinlich durch alle in der Umgegend zerstreuten Elephanten weiter vermehren.

– Sie können sich aber, bemerkte ich, doch nicht auf so große Entfernungen hin verständigen?

– Das nicht, erwiderte der Ingenieur, aber sie spüren einander; ja, ihr Geruchsinn ist so sein, daß z. B. zahme Elephanten das Vorhandensein von wilden sogar auf drei bis vier Meilen Entfernung wittern.

[338] – Das ist ja eine wahre Völkerwanderung! sagte da Oberst Munro. Seht nur da, hinter unserem Zuge, eine ganze Heerde, vertheilt zu Gruppen von zehn bis zwölf Elephanten, welche alle gleichmäßig einhertraben. Wir werden unsere Fahrt etwas beschleunigen müssen, lieber Banks.

– Der Stahlriese leistet, was er kann, Munro, entgegnete der Ingenieur. Wir haben fünf Atmosphären und guten Zug, aber die Straße ist zu steil.

– Weshalb sollen wir denn so besonders eilen? meinte Kapitän Hod, den die ganze Geschichte weidlich amüsirte. Die liebenswürdigen Thiere mögen uns doch begleiten, wenn ihnen dies Spaß macht. Das ist ja ein unseres Zuges ganz würdiges Gefolge. Rings war das Land verlassen – jetzt ist es das nicht mehr, und wir ziehen unter Escorte dahin, wie mächtige Rajahs!

– Wir wollen sie gewähren lassen, antwortete Banks, ja, ich wüßte auch gar nicht, wie wir sie hindern könnten, uns nachzufolgen.

– Das beunruhigt Sie doch nicht? fragte Kapitän Hod. Sie wissen ohne Zweifel, daß eine Heerde Elephanten minder gefährlich ist als ein einziger Tiger. Jene dort sind ja prächtige Kerle!... Lämmer, große Lämmer mit Rüsseln, weiter nichts!

– Aha, unser Freund Hod geräth wieder in Begeisterung! sagte Oberst Munro. Ich gebe gern zu, daß wir von jener Heerde nichts zu fürchten haben, so lange sie sich in gebührender Entfernung hält; wenn es den Lämmern aber einfallen sollte, uns auf dieser schmalen Straße zu überholen, so dürfte das ohne Beschädigung für das Steam-House wohl nicht abgehen.

– Vorzüglich, fügte ich hinzu, wenn sie Alle ganz in die Nähe unseres Stahlriesen kämen, weiß ich doch nicht, wie sie diesem begegnen würden.

– Sie würden ihn begrüßen, alle Wetter! rief Kapitän Hod. Sie würden ihn ebenso achtungsvoll begrüßen, wie seiner Zeit die Elephanten des Prinzen Gourou Singh!

– Ja, das waren aber zahme Elephanten, bemerkte der Sergeant Mac Neil.

– Richtig, erwiderte der Kapitän Hod, jene werden zahm werden, oder dürften bei dem Anblick unseres Elephanten vielmehr so sehr erstaunen, daß sie ihn erfurchtsvoll respectiren!«

Offenbar hatte unseres Freundes Enthusiasmus für den künstlichen Elephanten, »das aus den Händen des englischen Ingenieurs hervorgegangene Meisterwerk der Mechanik«, sich noch nicht vermindert, [339] »Die Proboscidien übrigens – er hatte sich das Wort nun einmal angewöhnt – diese Proboscidien, fügte er hinzu, sind sehr intelligent; sie überlegen, urtheilen, vergleichen, sie verbinden ihre Gedanken und legen überhaupt fast eine menschliche Einsicht an den Tag.

– Darüber ließe sich doch streiten, antwortete Banks.

– Wie, darüber wäre noch zu streiten? rief Kapitän Hod. Da müßte man doch nicht in Indien gelebt haben, um so zu sprechen! Benutzt man denn nicht die schönen Thiere zu allerhand häuslichen Arbeiten? Giebt es einen zweibeinigen ungefiederten Diener, der ihnen gleichkäme? Ist der Elephant im Hause seines Herrn nicht zu jedem Dienste bereit? Ist Ihnen, Maucler, wohl bekannt, was die erfahrensten Schriftsteller über dieselben sagen? Wenn man denselben glauben darf, so ist der Elephant gegen Diejenigen, welche er liebt, geradezu zuvorkommend aufmerksam; er nimmt ihnen jede Last ab, holt für sie Blumen und Früchte, er sammelt Geld ein, wie z. B. die Elephanten der berühmten Pagode von Willenoor bei Pondichery; in den Bazars bezahlt er das Zuckerrohr, die Bananen oder Mangofrüchte, die er für sich selbst einkauft; in Sunderbund vertheidigt er die Heerden und das Haus seines Herrn gegen reißende Thiere; er pumpt Wasser in die Cisternen und führt die ihm anvertrauten Kinder mit größerer Sorgfalt spazieren als die beste Bonne in ganz England! Er nähert sich dem Menschen durch seine Erkenntlichkeit, denn sein Gedächtniß ist vorzüglich, und so vergißt er niemals die Wohlthaten, die man ihm zugewendet, freilich auch nicht die Neckereien oder üble Behandlung! Seht, meine Freunde, einen solchen Riesen an Humanität – ja, ich sage mit Absicht, an Humanität – könnte man nicht vermögen, ein unschuldiges Insect zu tödten. Einer meiner Freunde – das sind so Züge, die man nicht vergißt – hatte ein kleines Gottesküchlein sich auf einen Stein setzen sehen und einem zahmen Elephanten geboten, dasselbe zu zerdrücken. Der herrliche Dickhäuter hob seine Tatze aber nur desto vorsichtiger über den Stein weg, und weder Zureden noch Schläge hatten ihn vermocht, dieselbe auf das Insect zu legen. Als man ihm dagegen befahl, dasselbe wegzunehmen, faßte er es vorsichtig mit der wunderbaren Art von Hand, welche das Rüsselende bildet, und gab ihm die Freiheit! Sagen Sie dann immer noch, lieber Banks, daß der Elephant nicht gut, edelmüthig und überhaupt allen anderen Thieren, selbst dem Affen und dem Hunde geistig überlegen sei, oder muß man nicht vielmehr zugeben, daß die Indier recht haben, wenn sie ihm fast so viel Einsicht wie dem Menschen zuschreiben?«

[340] Kapitän Hod wußte seine begeisterte Lobrede nicht besser zu schließen, als daß er den Hut vor der gewaltigen Heerde zog, die uns gemessenen Schrittes folgte.

»Sehr schön, Kapitän Hod, sagte Oberst Munro lachend, die Elephanten haben an Ihnen einen warmen Vertheidiger!

– Habe ich aber nicht vollkommen recht, Herr Oberst? fragte der Kapitän.

– Es mag sein, daß Kapitän Hod mit dem, was er zum Besten gab, recht hat, antwortete Banks, aber ich glaube nur, ich gehe auch nicht fehl mit meinen Ansichten, die ich Sanderson, einem Elephantenjäger und mit allen einschlagenden Verhältnissen vertrauten Manne verdanke.

– Und was sagt denn Ihr Sanderson? fragte Kapitän Hod in etwas wegwerfendem Tone.

– Er behauptet, der Elephant besitze nur mittelmäßigen Verstand und die erstaunlichsten Handlungen, die man diese Thiere ausführen sieht, wären die Folgen einer willenlosen Unterwürfigkeit, so daß sie nur weniger bemerkbaren Winken ihrer Cornaes nachkämen.

– Das möchte ich bewiesen sehen! versetzte Kapitän Hod, der allmählich wärmer wurde.

– Auch macht er darauf aufmerksam, fuhr Banks fort, daß die Indier den Elephanten auf ihren Denkmälern oder Bildern niemals als Symbol der Intelligenz benutzt haben, sondern daß sie dazu stets den Fuchs, den Raben oder den Affen wählen.

– Dagegen protestire ich! rief Kapitän Hod, während er mit den Armen eine Bewegung gleich dem Schwingen eines Elephantenrüssels ausführte.

– Protestiren Sie nach Belieben, Herr Kapitän, aber hören Sie weiter! erwiderte Banks. Sanderson sagt ferner, der Elephant zeichne sich vorzüglich durch den phrenologisch nachweisbaren Sinn für Gehorsam aus – und der muß an seinem Schädel einen hübschen Höcker bilden! Er weist darauf hin, daß der Elephant sich in wahrhaft kindischen Fallen – das ist das richtige Wort – fangen lasse, wie in von Zweigen überdeckten Gruben, und daß er nicht einmal versuche, aus denselben zu entkommen. Er führt an, daß jener sich ohne zu große Schwierigkeiten in Umzäunungen treiben lasse, was mit anderen wilden Thieren niemals gelingen möchte. Er bestätigt endlich, daß gefangene Elephanten, welche etwa wieder entflohen, sich doch so leicht auch wieder fangen lassen, daß [341] es ihrem Scharfsinn wahrlich nicht zur Ehre gereicht. Nicht einmal die Erfahrung vermag sie klüger zu machen!

– Arme Thiere! seufzte Kapitän Hod in komischem Tone, dieser Ingenieur läßt auch kein gutes Haar an Euch!

– Endlich, fuhr Banks fort, und das ist ein weiterer Beleg für die Richtigkeit meiner Ansicht, widerstreben manche Elephanten, eben aus Mangel an Einsicht, jedem Zähmungsversuche, und man hat oft große Mühe, jüngere Thiere oder auch Weibchen zur Vernunft zu bringen!

– O, das ist wieder eine Aehnlichkeit mehr, die sie mit dem Menschen haben! antwortete Kapitän Hod. Sind nicht Männer auch eher zu leiten als Kinder und Frauen?

– Lieber Kapitän, antwortete Banks, um darüber urtheilen zu können, fehlt es uns wohl Beiden zu sehr an Erfahrung aus der Ehe.

– Sehr richtig!

– Schließlich, fügte Banks noch hinzu, darf man ja nicht zu sehr auf die Gutmüthigkeit jener Thiere bauen oder etwa glauben, man könne mit einer ganzen Heerde jener Riesen fertig werden, wenn sie durch irgend etwas gereizt würden, und ich sähe es z. B. viel lieber, daß die, welche uns jetzt begleiten, nach Norden zu wanderten, während wir nach Süden fahren.

– Ja, und das umsomehr, sagte Oberst Munro, als ihre Zahl während Deines Streites mit Hod in wirklich bedrohlichem Grade zugenommen hat!«

9. Capitel
Neuntes Capitel.
Hundert gegen Einen.

Sir Edward Munro täuschte sich nicht. Jetzt marschirte schon eine Truppe von fünfzig bis sechzig Elephanten hinter unserem Zuge her. Sie gingen in dichten Reihen und schon trabten die Vordersten dem Steam-House nahe genug – kaum in einer Entfernung von zehn Metern – um sie genau beobachten zu können.

[342] An der Spitze marschirte der größte der ganzen Gesellschaft, obwohl seine lothrechte Höhe bis zur Schulter drei Meter gewiß nicht überschritt. Wie ich schon sagte, erreichen die hiesigen nicht die Größe der Elephanten in Afrika, unter denen man Exemplare von vier Meter Höhe antrifft. Seine Stoßzähne, welche ebenfalls kleiner bleiben als die der afrikanischen Race, messen an der äußeren Krümmung etwa hundertfünfzig Centimeter bei einen Durchmesser von vierzig Centimeter an dem Knochenzapfen, der ihre Basis bildet. Wenn man auf der Insel Ceylon eine gewisse Anzahl dieser Thiere findet, welche jener furchtbaren Waffen, der sie sich gegebenen Falles sehr geschickt bedienen, beraubt sind – ich meine die sogenannten »Muknas« – so sieht man solche dafür im eigentlichen Hindostan ungemein selten.

Diesem Elephanten folgten mehrere Weibchen, die wirklichen Führer der Karawane. Wäre das Steam-House nicht auf der Straße gewesen, so würden diese den Vortrab gebildet haben, während jenes Männchen, unter den Üebrigen eingereiht, bestimmt zurückgeblieben wäre. Die Männchen nämlich scheinen zur Anführung einer Heerde völlig ungeeignet; sie bekümmern sich ebensowenig um die jungen Thiere, wissen nicht, wann es nöthig ist, wegen der Bedürfnisse dieser »Babies« Halt zu machen, und verstehen sich auch kaum auf die Auswahl eines passenden Lagerplatzes. In der That sind es nur die Weibchen, welche sozusagen das erste Wort führen und die wandernden Heerden leiten.

Die Frage, warum sich die ganze uns nachfolgende Gruppe in Bewegung gesetzt habe, ob sie blos ihre erschöpften Weideplätze verließ, vor den Stichen einer sehr gefährlichen Fliegenart entfloh, oder ob sie nur die Neugier, unserem seltsamen Gefährt zu folgen, jetzt durch die Vindhya-Berge verlockte – das wäre vorläufig schwer zu sagen gewesen. Das Land lag jetzt offen vor uns, und die Elephanten zogen, wie sie es zu thun gewohnt sind, wenn sie sich nicht in bewaldeten Gegenden aufhalten, am hellen Tage weiter. Ob sie mit einbrechender Nacht, so wie wir es gezwungen waren, Halt machen würden, mußte sich ja bald zeigen.

»Nun, Kapitän Hod, fragte ich da unseren Freund, sehen Sie, wie unser Nachtrab sich immer mehr vermehrt? Erweckt Ihnen das noch immer keine Besorgniß?...

– Pah! versetzte Kapitän Hod, weshalb sollten die Thiere etwas gegen uns im Schilde führen? Es sind ja keine Tiger, nicht wahr, Fox?


Sie gingen in dichten Reihen. (S. 342.)

[343]

– Nicht einmal Panther!« antwortete der Diener, der natürlich immer mit seinem Herrn übereinstimmte.

Kâlagani schüttelte freilich den Kopf ein wenig bei diesen zuversichtlichen Behauptungen; er theilte die Ansicht der beiden Jäger offenbar nicht.

»Sie scheinen mir beunruhigt, Kâlagani, sagte Banks, der jene Bemerkung gehört hatte, zu diesem.

– Könnten wir nicht etwas schneller vorwärts kommen? antwortete der Hindu.

[344] – Das dürfte seine Schwierigkeit haben, antwortete der Ingenieur. Doch wir wollen versuchen, was sich thun läßt!«

Banks verließ die Veranda und begab sich nach dem Thürmchen, in welchem Storr seinen Platz hatte. Bald darauf pustete und schnaufte der Stahlriese stärker und in kürzeren Zwischenräumen und unser Zug rollte etwas schneller dahin.

Es war nur wenig und bei dem beschwerlichen Wege nicht mehr zu erreichen. Doch auch die verdoppelte Geschwindigkeit unseres Zuges hätte an der[345] Sachlage gewiß nichts Wesentliches geändert. Die Elephantenheerde trabte eben etwas schneller mit. Das that sie denn auch jetzt, so daß unser Steam-House einen Vorsprung nicht gewinnen konnte.

Ohne besondere Veränderung verliefen so mehrere Stunden. Wir nahmen nach dem Essen wieder auf der Veranda des zweiten Wagens Platz.


Inzwischen sank die Nacht. (S 346.)

Jetzt dehnte sich die Straße hinter uns auf eine Strecke von mindestens zwei Meilen in gerader Richtung aus, so daß wir sie, durch Windungen derselben nicht mehr behindert, in der ganzen Ausdehnung überblicken konnten.

Da sahen wir denn mit Schrecken, daß die Zahl der Elephanten seit einer Stunde noch immer zugenommen hatte – es mochten ihrer jetzt mindestens Hundert sein.

Die Thiere marschirten, je nach der Breite des Weges zu Zweien, Dreien, schweigend und gleichmäßigen Schrittes, die einen mit hoch erhobenem Rüssel, die anderen mit den Stoßzähnen hoch in der Luft. Das Ganze erschien wie das Wogen eines von Grundwellen bewegten Meeres. Noch zeigte sich – um die Metapher weiter zu führen – keine Brandung; welcher Gefahr waren wir aber preisgegeben, wenn ein Sturm diese dahinwogende Masse empörte?

Inzwischen sank die Nacht – eine mond- und sternenlose finstere Nacht – hernieder. Durch die höheren Luftschichten wallte ein seiner Nebel daher.

Wie Banks vorausgesagt, konnten wir nach dem Eintritt völliger Finsterniß gar nicht daran denken, auf dieser gefährlichen Straße weiter zu fahren, sondern mußten wohl oder übel Halt machen. Der Ingenieur brachte also unseren Zug an einer breiteren Stelle des Thales zum Stehen, wo wir in eine kleinere Schlucht einfahren konnten, um der gefährlichen Heerde Raum zu lassen, ihre Wanderung nach Süden fortzusetzen.

Freilich vermochte Niemand vorherzusagen, ob die Heerde nicht an derselben Stelle wie wir Halt machen würde.

Als es dunkler wurde, bemächtigte sich unserer Nachfolger eine gewisse Unruhe, von der wir vorher nichts bemerkt hatten. Sie brüllten gewaltig, aber dumpf, und dazu gesellten sich noch ganz eigenthümliche, uns unbekannte Töne.

»Was hat das zu bedeuten? fragte Oberst Munro.

– Das ist, erklärte Kâlagani, der Ton, den diese Thiere von sich geben, wenn sie einen Feind in der Nähe wittern.

– Und als solchen betrachten sie augenblicklich offenbar uns, nicht wahr? fragte Banks.

[346] – Das fürchte ich leider auch!« antwortete der Hindu.

Jenes erwähnte Geräusch glich fast entferntem Donner. Es erinnerte an das, welches man hinter den Coulissen eines Theaters durch Erschütterung eines großen Stahlbleches zu erzeugen pflegt. Die Elephanten berührten mit den Rüsseln fast den Boden und trieben die durch tiefe Einathmung aufgesammelte Luft gegen denselben aus, wodurch jenes dumpfe rollende Geräusch zu entstehen schien.

Es war jetzt neun Uhr Abends.

Wir befanden uns auf einer kleinen, etwa eine halbe Meile breiten offenen Ebene, an der die zu dem Puturia-See hinführende Straße ausmündete. An genanntem See hatte Kâlagani Halt zu machen vorgeschlagen, da jener aber noch gegen fünfzehn Kilometer von uns entfernt lag, mußten wir darauf verzichten, ihn noch heute zu erreichen.

Banks gab Befehl, den Dampf abzusperren. Der Stahlriese hielt an, wurde aber nicht abgespannt. Auch das Feuer sollte nicht gänzlich gelöscht werden. Storr erhielt Auftrag, stets Dampf zu halten, um in jedem Augenblick weiter fahren zu können. Wir mußten eben auf Alles vorbereitet sein.

Oberst Munro zog sich in seine Cabine zurück. Banks und Kapitän Hod wollten sich nicht niederlegen, und ich beschloß auch, ihnen Gesellschaft zu leisten. Uebrigens blieb das ganze Personal auf den Füßen. Was sollten wir aber beginnen, wenn es den Elephanten einfiel, das Steam-House zu überfallen?

Während der ersten Stunde dauerte rings um unseren Halteplatz ein dumpfes Gemurmel fort. Allem Anschein nach betrat die vierbeinige Gesellschaft nach und nach die kleine Ebene. Ob sie wohl darüber hinwegziehen und ihren Weg weiter nach Süden fortsetzen würde?

»Das wäre wohl möglich, meinte Banks.

– Sogar wahrscheinlich!« fügte Kapitän Hod hinzu, der noch immer an seiner optimistischen Auffassung festhielt.

Gegen elf Uhr wurde es stiller und zehn Minuten später herrschte ringsum das tiefste Schweigen. Die Nacht war ruhig. Jedenfalls hätten wir das leiseste auffällige Geräusch wahrgenommen. Aber nichts ließ sich hören außer dem leisen Brodeln im Kessel des Stahlriesen. Nichts war zu sehen, außer dann und wann eine Garbe von Funken, welche aus dessen Rüssel emporstieg.

»Nun, hatte ich nicht recht? begann da Kapitän Hod. Sie sind abgezogen, die braven Elephanten!

[347] – Glückliche Reise! sagte ich dazu.

– Abgezogen? bemerkte Banks den Kopf schüttelnd. Das werden wir sogleich sehen!«

Darauf rief er nach dem Mechaniker.

»Storr, sagte er, die Leuchtfeuer!

– Sofort, Herr Banks!«

Zwanzig Secunden später blitzten zwei elektrische Strahlenbündel aus den Augen des Stahlriesen hervor und beleuchteten durch einen automatischen Mechanismus bewegt, allmählich jeden Punkt im Bereiche des Horizonts.

Da standen die Elephanten alle im großen Kreise rings um das Steam-House und unbeweglich wie eingeschlafen – vielleicht schliefen sie auch wirklich, die grellen Strahlen, welche ihre unförmigen Massen trafen, schienen ihnen aber ein übernatürliches Leben einzuhauchen. Durch eine einfache optische Täuschung nahmen diejenigen unter den Ungeheuern, auf welche die glänzenden Lichtbündel fielen, wahrhaft riesenmäßige Proportionen an, so daß sie an Größe mit unserem Stahlriesen wetteifern zu können schienen. Von den Lichtblitzen getroffen, erhoben sich dieselben plötzlich, so als hätte sie eine feurige Nadel gestochen. Sie streckten die Rüssel vor und die gewaltigen Zähne in die Höhe. Es sah aus, als wollten sie sich schon auf unseren Train stürzen. Aus den gewaltigen Kinnladen drang ein heiseres Knurren hervor. Wie durch Ansteckung bemächtigte sich Aller bald eine plötzliche Wuth, und rings um unser Lager ertönte ein drohendes Geräusch, als ob hundert Hornisten auf einmal Appell bliesen.

»Auslöschen!« rief Banks.

Der elektrische Strom wurde sofort unterbrochen und der Lärm legte sich augenblicklich wieder.

»Sie lagern im Kreise rund umher, sagte der Ingenieur, und werden bei Tagesanbruch auch noch da sein.

– Hm!« brummte Kapitän Hod, dessen gutes Zutrauen doch ein wenig erschüttert schien.

Was war aber zu thun? Kâlagani wurde darum gefragt. Er machte kein Hehl daraus, daß er unsere Situation etwas beunruhigend fand.

Konnte man daran denken, den Lagerplatz in dieser pechschwarzen Nacht zu verlassen? Das war von vornherein unmöglich. Was hätte das auch nützen können? Die Elephantenheerde wäre uns unzweifelhaft nachgefolgt und unsere Lage erschien dann eher schlimmer, als am hellen Tage. Wir kamen also dahin [348] überein, erst mit dem Morgengrauen aufzubrechen, mit möglichster Vorsicht und Schnelligkeit weiter zu dampfen, aber unser furchtbares Gefolge auf keine Weise zu reizen.

»Und wenn nun die Thiere nicht ablassen, uns zu folgen? fragte ich.

– So werden wir versuchen, eine Oertlichkeit zu erreichen, wo das Steam-House vor ihrem Angriffe gesichert ist.

Werden wir eine solche aber innerhalb der Vindhya-Berge finden? sagte Kapitän Hod.

– Doch, es giebt eine, fiel der Hindu ein.

– Und welche? fragte Banks.

– Den Puturia-See.

– Wie weit ist er von hier?

– Gegen neun Meilen.

– Aber Elephanten schwimmen auch, antwortete Banks, und vielleicht besser als irgend ein anderer Vierfüßler! Man hat schon beobachtet, daß sie sich einen halben Tag lang auf der Wasseroberfläche erhielten. Ist nicht auch zu fürchten, daß jene uns auf den Puturia-See nachfolgen und das Steam-House damit in eine noch gefährlichere Lage käme?

– Ich sehe keinen anderen Ausweg, einem Angriffe zu entgehen!

– So werden wir ihn versuchen!« antwortete der Ingenieur.

Es blieb uns in der That nichts anderes übrig. Vielleicht wagten sich die Elephanten unter diesen Verhältnissen doch nicht in's Wasser, oder wir konnten sie wenigstens überholen.

Mit Ungeduld erwarteten wir den Tag. Bald fing der Morgen an zu grauen. Während der Nacht war es zu keiner feindlichen Demonstration gekommen, mit Sonnenaufgang zeigte es sich aber, daß auch kein Elephant von der Stelle gewichen und das Steam-House von allen Seiten umschlossen war.

Da entstand eine allgemeine Bewegung auf dem Ruheplatze. Es schien, als ob die Elephanten alle einem Commando gehorchten. Sie schwangen die Rüssel, rieben die Stoßzähne am Boden, machten gleichsam Toilette, indem sie sich mit frischem Wasser bespritzten, und nagten endlich eine Portion des fetten Grases ab, an dem es dieser Stelle nicht fehlte. Endlich näherten sie sich dem Steam-House, manche derselben soweit, daß man sie aus dessen Fenstern schon mit Spießen hätte erreichen können. Banks empfahl uns indessen ausdrücklich, ihnen auf keine Weise zu nahe zu treten. Es erschien zu wichtig, ihnen keine [349] Veranlassung zu einem Angriffe zu bieten. Einzelne von den Elephanten drängten sich jetzt immer mehr an unseren Stahlriesen heran. Offenbar wollten sie sehen, was an diesem gewaltigen, augenblicklich unbeweglichen Thiere sei. Erkannten sie in ihm wohl einen ihresgleichen? Vermutheten sie in ihm irgend welche geheimnißvolle Kraft? Am vergangenen Tage hatten sie keine Gelegenheit gehabt, jenen in Thätigkeit zu sehen, da sich auch die ersten Reihen immer in einer gewissen Entfernung hinter unserem Zuge hielten.

Was würden sie aber beginnen, wenn sie ihn erst schnaufen hörten, wenn sie ihn seine großen, gegliederten Füße heben, sich in Bewegung setzen und unsere rollenden Wagen mitschleppen sahen?

Oberst Munro, Kapitän Hod, Kâlagani und ich hatten vorn auf dem Wagen Platz genommen. Der Sergeant Mac Neil und seine Genossen hielten sich auf dem hinteren Theile auf.

Kâlouth stand vor seiner Feuerthür und beschickte den Rost noch immer mit Brennmaterial, obwohl der Dampf schon eine Spannung von fünf Atmosphären hatte.

Banks saß im Thürmchen neben Storr, die Hand am Regulator.

Die Zeit der Abfahrt war herangekommen. Auf ein Zeichen von Banks öffnete der Mechaniker den Hahn zur Dampfpfeife, die ihren schrillenden Laut ertönen ließ.

Die Elephanten erhoben die Ohren, dann wichen sie ein wenig zurück und räumten uns auf einige Schritte den Weg.

Jetzt strömte der Dampf in die Cylinder, eine Wolke drang aus dem Rüssel hervor, die Räder begannen sich zu bewegen, wirkten auf die Füße des Stahlriesen und der ganze Zug rückte von der Stelle.

Meine Gefährten werden alle zustimmen, wenn ich sage, daß sich unter den Thieren der ersten Reihe zuerst eine gewisse Bestürzung bemerkbar machte. Sie wichen wenigstens auseinander und die Straße bot jetzt genügend Raum, um das Steam-House mit der Schnelligkeit eines in kurzem Trabe dahintrottenden Pferdes fortzutreiben.

Sofort aber setzte sich auch die ganze »proboscidische Masse« – ein Ausdruck des Kapitän Hod – vor und hinter uns mit in Bewegung. Die ersten Gruppen derselben nahmen die Spitze des Zuges ein, die letzten folgten dem Train. Alle schienen entschlossen, nicht von unserer Seite zu weichen. Dabei begleiteten uns, da der Weg hier gerade breiter war, andere Elephanten noch [350] an beiden Seiten, sowie etwa Reiter neben einem Wagen. Jetzt drängte sich Alles durcheinander, Männchen und Weibchen, Thiere von jeder Größe und von jedem Alter, Jünglinge von fünfundzwanzig Jahren und »gemachte Männer« von sechzig, alte Pachydermen, welche vielleicht über hundert Jahre zählten, und Babies neben ihren Müttern, die Lippen – nicht, wie man früher meinte, den Rüssel – an deren Brust und unterwegs saugend. Die ganze Gesellschaft hielt eine gewisse Ordnung ein, drängte sich nicht mehr als nöthig und regulirte ihren Schritt nach dem des Stahlriesen.

»Wenn sie uns in dieser Weise bis zum See begleiten, bemerkte Oberst Munro, so habe ich nichts dagegen...

– Gewiß, antwortete Kâlagani, was wird aber geschehen, wenn die Straße sich wieder verengert?«

Hierin lag allerdings eine Gefahr.

Während der drei Stunden, welche wir brauchten, um zwölf Kilometer von den fünfzehn zurückzulegen, welche zwischen dem letzten Halteplatz und dem Puturia-See lagen, ereignete sich nichts besonderes. Nur zwei- bis dreimal stellten sich einige Elephanten quer auf die Straße, als wollten sie dieselbe sperren. Der Stahlriese schritt jedoch mit horizontal vorgestreckten Stoßzähnen auf sie zu, und spie ihnen heißen Dampf in's Gesicht, wodurch sie leicht veranlaßt wurden, den Durchgang freizugeben.

Um zehn Uhr Morgens hatten wir also noch etwa drei Kilometer bis zum See vor uns. Da – so hofften wir wenigstens – mußten wir in verhältnißmäßig sicherer Stellung sein.

Im Falle die ungeheuere Heerde uns aber wirklich unbelästigt lassen sollte, beabsichtigte Banks, den Puturia-See, ohne daselbst zu halten, im Westen liegen zu lassen, um am nächsten Tage schon aus den Vindhyas herauszukommen. Dann hatten wir bis zur Station Jubbulpore nur noch eine Fahrt von wenigen Stunden.


Die Elephanten standen da. (S. 348)

Ich bemerke hier, daß das Land um uns nicht nur sehr wild, sondern auch völlig verlassen war. Nirgends sah man ein Dorf, nirgends eine Farm – der Mangel an Weideland erklärte das genügend – eine Karawane oder einen einzelnen Reisenden. Seit unserem Eintritt in die Gebirgslandschaft von Bundelkund waren wir noch keiner lebenden Seele begegnet.

Gegen elf Uhr begann das Thal, in dem das Steam-House hindampfte, sich allmählich zusammenzuziehen. Wie Kâlagani vorausgesagt, wurde die Straße bis zur Stelle, wo sie am See ausmündete, sehr schmal.

[351] Unsere ohnehin beunruhigende Lage verschlimmerte sich dadurch natürlich noch weiter.

Wären die Elephanten nur vor oder hinter unserem Zuge hergetrabt, so hätte das ja keine besonderen Schwierigkeiten geboten. Aber die, welche uns zur Seite marschirten, konnten unmöglich länger daselbst bleiben. Entweder drängten uns diese gegen die Felsenwand neben der Straße, oder sie stürzten selbst in eine der Schluchten, die sich da und dort zwischen derselben öffneten. Instinctmäßig suchten die Thiere sich theils vor, theils hinter uns noch einen Platz zu[352] erobern, wodurch wir so eingeengt wurden, daß unser Zug sich weder vor-, noch rückwärts bewegen konnte.

»Die Sache wird unangenehmer, sagte Oberst Munro.

– Ja freilich, erwiderte Banks, es wird nichts anderes übrig bleiben, als in die Masse einzudringen.

– Nun dann, darauf zu, darauf zu! rief Kapitän Hod. Alle Teufel! Die stählernen Stoßzähne unseres Riesen werden doch gegen die Elfenbeinzähne jener dummen Thiere aufkommen!«


Die Laufbrücke wurde durch Axtschläge zertrümmert. (S 357.)

Für den launigen Kapitän waren die Proboscidien jetzt schon nichts mehr als, »dumme Thiere«.

»O gewiß, fiel der Sergeant Mac Neil ein, wir sind aber Einer gegen Hundert!

– Das gilt jetzt gleich, rief Banks; schnell vorwärts, [353] sonst marschirt die ganze Heerde da hinten über unsere Köpfe weg!«

Die Einlaßventile wurden weiter geöffnet und der starke Dampfdruck brachte den Stahlriesen in schnellere Bewegung. Seine Stoßzähne erreichten einen der Elephanten dicht vor ihm.

Das Thier schrie laut auf vor Schmerz und die ganze Truppe stimmte bald mit ein. Ein Kampf, dessen Ausgang nicht vorauszusehen war, schien nun unvermeidlich.

Wir hatten die Waffen ergriffen, die Büchsen mit Spitzkugeln, die Flinten mit explodirenden Geschossen geladen und die Revolver in Bereitschaft gesetzt, um jeden Angriff nachdrücklich abweisen zu können.

Ein gewaltiges männliches Thier wandte sich, die Zähne zum Stoße bereit und die Hinterbeine fest auf die Erde gestemmt, zuerst in voller Wuth gegen das Steam-House.

»Ein Gunesch!« rief Kâlagani.

– Ah, der hat ja nur einen Zahn! meinte Kapitän Hod, verächtlich die Achseln zuckend.

– Dafür ist er um so gefährlicher!« erwiderte der Hindu.

Kâlagani hatte jenen Elephanten mit dem Namen bezeichnet, den die Jäger für die Männchen mit nur einem Stoßzahn gebrauchen. Die Indier zollen diesen Thieren ganz besondere Verehrung, vorzüglich, wenn jenen der rechte Zahn fehlt. Unser Feind gehörte zu dieser Art und war, wie Kâlagani gesagt hatte, nur um so mehr zu fürchten.

Das zeigte sich auch bald. Der Gunesch stieß einen langen Ton, wie von einem Horn, aus, schlug den Rüssel zurück, dessen sich die Elephanten übrigens nie im Kampfe bedienen, und drang auf unseren Stahlriesen ein.

Der Stoßzahn traf geradlinig das Deckblech der Brust, brach aber, als er hinter diesem auf die feste Kesselwand traf, glatt weg.

Wir fühlten den Stoß im ganzen Zuge. Dennoch bewegte sich dieser nach vorwärts und drängte den Gunesch, der ihn noch immer aufzuhalten suchte, unwiderstehlich zurück.

[354] Der Ruf des letzteren war jedoch verstanden worden. Die ganze Heerde vor uns machte jetzt Halt und bildete ein unübersteigliches Hinderniß von lebenden Massen. Gleichzeitig stießen die hinteren Gruppen, welche ihren Weg fortsetzten, heftig gegen die letzte Veranda. Konnten wir der drohenden Zermalmung entgehen?

Einige von ihnen, die uns sonst zur Seite marschirten, faßten die Trittbretter der Wagen und schüttelten sie gewaltig.

Hielten wir an, so war es um den ganzen Train geschehen – jetzt galt es, sich nach Kräften zu vertheidigen. Büchsen und Flinten wurden auf die Angreifer gerichtet.

»Daß kein Schuß verloren geht! rief Kapitän Hod. Zielt nach dem Ursprung des Rüssels oder nach der Stelle unter den Augen; nur so ist etwas auszurichten!«

Wir thaten wie Kapitän Hod gesagt. Mehrere Schüsse krachten schnell hinter einander – ein wüthendes Schmerzgeheul antwortete darauf.

Drei oder vier gut getroffene Elephanten hinter und neben uns – ein glücklicher Umstand, da uns der Weg nicht versperrt wurde – stürzten zu Boden. Die ersten Gruppen wichen ein Stück zurück und der Zug konnte etwas vorwärts dringen.

»Wiederladen und abwarten!« befahl Kapitän Hod.

Wenn er unter dem Abwarten verstand, daß wir es erst zu einem ernsten Angriff kommen lassen sollten, so dauerte das nicht eben lange. Die ganze Heerde drängte sich jetzt gegen uns heran und wir schienen rettungslos verloren.

Ringsum ertönte ein wüthendes Geheul und Gebrüll. Man hätte glauben können, Kriegs-Elephanten vor sich zu haben, welche die Hindus durch besondere Mittel zur höchsten Wuth, die sie, »Musth« nennen, anzustacheln verstehen. Man kann sich kaum etwas Entsetzlicheres vorstellen. In Guicowar bildet man »Elephantadors,« um gegen diese furchtbaren Thiere zu kämpfen; aber auch der verwegenste derselben wäre wohl vor den schrecklichen Feinden, welche das Steam-House bestürmten, zurückgewichen.

»Vorwärts! rief Banks.

– Feuer!« commandirte Hod.

Unter das beschleunigte Schnaufen der Maschine mischte sich der Knall der Gewehre. Auf diese sich hin und her schiebende Masse konnte man freilich nicht so sorgsam zielen, wie der Kapitän das empfohlen hatte. Jede Kugel fand zwar [355] ein Stück Fleisch, um hineinzudringen, sie traf damit aber keineswegs immer tödtlich. Die verwundeten Elephanten wurden nur um so wüthender und antworteten auf unsere Flintenschüsse durch die Stöße ihrer gewaltigen Zähne, welche die Wände des Steam-Houses durchlöcherten.

Mit den Detonationen der Feuerwaffen, die man auf allen Seiten hörte, und dem Krachen der explodirenden Geschosse im Körper der getroffenen Thiere verband sich auch ferner das Zischen des durch künstlichen Zug noch mehr erhitzten Dampfes. Der Druck desselben nahm fortwährend zu. Der Stahlriese zwängte sich in den Haufen hinein, theilte ihn und drängte ihn zurück. Dazu arbeitete er mit dem beweglichen Rüssel, der gleich einer furchtbaren Keule auf die Fleischmassen niederfiel, die seine Stoßzähne zerrissen.

So kamen wir auf der engen Straße doch langsam vorwärts. Manchmal glitten wohl die Räder auf dem Boden, griffen aber doch wieder mit ihren gefurchten Kränzen ein und wir näherten uns dem See mehr und mehr.

»Hurrah! rief Kapitän Hod, wie ein Soldat, der sich in das dichte Kampfgewühl stürzt.

– Hurrah! Hurrah!« riefen wir Alle nach ihm.

Da senkte sich eben ein Rüssel auf die vordere Veranda nieder. Ich sah schon den Augenblick kommen, wo Oberst Munro von dem lebenden Lasso emporgehoben und unter die Füße der Elephanten geschleudert werden würde. Das wäre sicherlich so weit gekommen, wenn nicht Kâlagani noch rechtzeitig zugesprungen wäre und den Rüssel durch einen kräftigen Axthieb getrennt hätte.

Der Hindu verlor also, obschon er sich an der allgemeinen Vertheidigung betheiligte, Sir Edward Munro doch niemals aus den Augen. Diese Ergebenheit gegen die Person des Obersten, welche er niemals verleugnete, lehrte uns wiederholt, wie er sich bewußt war, unter uns gerade diesen vorzüglich beschützen zu müssen.

O, welche unwiderstehliche Macht entwickelte doch unser Stahlriese! Mit welcher Sicherheit drang er in die Masse der Feinde ein, gleich einem Keil, der ja zuletzt jedes Hinderniß zu überwinden vermag. Da nun die hinter uns befindlichen Elephanten gleichzeitig nachdrängten, so kam unser Zug ohne Aufenthalt, wenn auch nicht ohne Erschütterungen, fast schneller vorwärts, als wir zu hoffen wagten.

Plötzlich entstand noch ein anderes Geräusch, das sich mitten unter dem allgemeinen Lärmen vernehmbar machte.

[356] Eine Anzahl Elephanten zermalmte eben den zweiten Wagen, den sie an die Felsenwand drängten.

»Hierher zu uns! Schnell! Schnell!« rief Banks den Leuten zu, welche die Rückseite des Steam-Houses vertheidigten.

Goûmi, der Sergeant und Fox hatten sich schon aus dem zweiten Wagen geflüchtet.

»Wo steckt aber Parazard? fragte Kapitän Hod.

– Er will seine Küche nicht verlassen, antwortete Fox.

– So holt ihn mit Gewalt!«

Unser Koch hielt es offenbar für unvereinbar mit seiner Ehre, den ihm anvertrauten Posten aufzugeben. Den starken Armen Goûmi's, wenn diese einmal anfaßten, hätte Jemand aber ebensowenig widerstehen können, wie den Backen einer Blechscheere. Monsieur Parazard sah sich also plötzlich wider Willen in den Speisesaal versetzt.

»Seid Ihr Alle da? rief Banks.

– Alle, antwortete Goûmi.

– So trennt die Verkuppelung!

– Die Hälfte unseres Zuges opfern!... fuhr Kapitän Hod auf.

– Es muß sein!« erklärte Banks.

Die Ketten wurden gelöst, die Laufbrücke durch Axtschläge zertrümmert und unser zweiter Wagen blieb nun stehen.

Es war die höchste Zeit. Schon wurde der Wagen gepackt, emporgehoben und umgeworfen, und die Elephanten stürzten über denselben hin, um ihn durch ihr Gewicht vollends zu zerstören. Er bildete nur noch eine unförmliche Ruine, welche jetzt die Straße hinter uns sperrte.

»Sehr schön! bemerkte Kapitän Hod, aber in einem Tone, der uns Alle zum Lachen reizte, und da sagen die Leute noch, so ein Thier könne nicht einmal ein Gottesküchlein zertreten!«

Wenn die nun einmal wüthenden Elephanten mit dem ersten Wagen eben so verfuhren wie mit dem zweiten, konnten wir uns keiner Täuschung über das unser harrende Geschick mehr hingeben.

»Schüre das Feuer, Kâlouth!« rief der Ingenieur.

Noch einen halben Kilometer, eine letzte Anstrengung und wir hatten den Puturia-See erreicht.

[357] Auch jetzt versagte der gewaltige Stahlriese unter der Hand Storr's, der die Ventile so weit als möglich öffnete, den verlangten Dienst nicht. Er erzwang sich den Durchgang durch diesen Wall von Elephanten, bohrte ihnen die Stoßzähne in den Rücken und sprühte ihnen kochenden Dampf entgegen, wie damals den Pilgern am Phalgou, oder übergoß sie mit Strahlen siedenden Wassers!... O, er that mehr als seine Schuldigkeit!

Endlich wurde der See jenseits der letzten Krümmung des Weges sichtbar.

Wenn unser Zug noch zwei Minuten Widerstand leistete, so waren wir gerettet.

Die Elephanten ahnten das, wie es schien – ein Beweis ihrer Intelligenz, welche Kapitän Hod vertheidigt hatte. Sie versuchten zum letzten Male, unseren Zug umzustürzen. Wir eröffneten dagegen das Feuer von Neuem. Wie ein Hagel schlugen die Kugeln in die nächsten Reihen ein. Höchstens fünf oder sechs Elephanten sperrten uns noch den Weg. Die Meisten fielen und die Räder knarrten über einen von Blut getränkten Boden.

Etwa hundert Schritte vom See mußten wir noch diese letzten Thiere zu verdrängen suchen.

»Noch einmal Dampf! Fest darauf!« rief Banks dem Mechaniker zu.

Der Stahlriese schnaubte, als würden noch ganz neue Maschinenkräfte in ihm geboren. Unter einem Drucke von acht Atmosphären zischte der Dampf aus den Sicherheitsventilen. Hätten wir diese nur im Geringsten belastet, so mußte der Kessel, dessen Wände erzitterten, unbedingt zerspringen. Es war unnöthig. Nichts vermochte der Gewalt des Stahlriesen mehr zu widerstehen. Fast sprungweise stürmte das Ungethüm vorwärts. Was von unserem Zuge noch übrig war, folgte ihm polternd und schwankend und zermalmte, auf die Gefahr hin, selbst umzustürzen, die Glieder der gefallenen Elephanten. Wenn unser Wagen umfiel, wäre es freilich noch immer um alle Insassen desselben geschehen gewesen.

Dieses Unglück sollte uns erspart bleiben, wir erreichten das Ufer des Sees und bald schwamm der Zug auf dem ruhigen Wasser.

»Gott sei gelobt!« rief Oberst Munro.

Zwei oder drei in ihrer Wuth verblendete Elephanten, eilten in den See nach und versuchten noch auf der Wasserfläche Die zu verfolgen, welche sie auf dem festen Lande nicht zu besiegen vermochten.

Die Tatzen des Stahlriesen thaten jedoch ihre Schuldigkeit. Der Zug entfernte sich bald vom Ufer und einige wohlgezielte letzte Schüsse befreiten uns[358] von den »See-Ungeheuern« gerade in dem Augenblicke, als sie die hintere Veranda mit den Rüsseln packen wollten.

»Nun, mein Herr Kapitän, fragte Banks, was halten Sie jetzt von der Sanftmuth der indischen Elephanten?

– Pah, erwiderte Kapitän Hod, gegen die Raubthiere ist das immer noch nichts! Setzen Sie nur dreißig Tiger an die Stelle der hundert Pachydermen, und ich wette, was Sie wollen, daß in diesem Augenblicke Niemand von uns übrig wäre, das erlebte Abenteuer zu berichten!«

10. Capitel
Zehntes Capitel.
Der Puturia-See.

Der Puturia-See, auf dem das Steam-House vorläufig Zuflucht gefunden hatte, liegt etwa vierzig Kilometer östlich von Dumoh. Diese Stadt, der Hauptort der englischen Provinz, der sie den Namen gegeben, ist im erfreulichen Aufblühen und beherrscht mit ihren zwölftausend Einwohnern, welche noch eine kleine Garnison verstärkt, gewissermaßen den gefährlichsten Theil von Bundelkund. Jenseits ihrer Mauern, vorzüglich in den weiter östlich gelegenen Landschaften und in der verwahrlosten Gegend der Vindhya-Berge, deren Mittelpunkt der See etwa einnimmt, macht sich dieser Einfluß freilich kaum fühlbar.

Was konnte uns überhaupt aber noch Schlimmeres zustoßen, als dieses Zusammentreffen mit Elephanten, aus dem wir ja heil und gesund hervorgegangen waren?

Immerhin hatte unsere Lage etwas Beunruhigendes, da ein großer Theil unseres Materials verschwunden war. Der eine von den Wagen, welche unseren Zug bildeten, war ja vernichtet worden, ohne Aussicht, ihn wieder »flott zu machen«, um einen seetechnischen Ausdruck zu gebrauchen. Da die Elephanten denselben umgeworfen und gegen den Felsen gedrängt hatten, konnten von seinem Rumpfe, über den jene schwerfälligen Dickhäuter hinmarschirten, nichts anderes mehr als formlose Trümmer übrig geblieben sein.


Wir erreichten das Ufer des Sees. (S. 358.)

Ohne zu erwähnen, daß jener Wagen dem Personal der Expedition als Wohnung diente, enthielt er ja nicht allein die Küche, sondern auch die Vorraths [359] kammern und unser Munitionsmagazin. Wir besaßen jetzt kaum noch ein Dutzend Patronen, doch war nicht anzunehmen, daß wir deren vor der Ankunft in Jubbulpore bedürfen könnten.


Sie schwanden bereits in der Entfernung weniger Faden aus dem Gesichte. (S. 367.)

Bezüglich der schwer zu ersetzenden Nahrungsmittel lag die Sache freilich anders. Die Vorräthe der Speisekammer waren vollständig verloren gegangen. Selbst wenn wir am nächsten Abend bei der noch gegen siebzig Kilometer [360] entfernten Station eintrafen, mußten wir doch etwa vierundzwanzig Stunden lang fasten.

Nun, man lernt sich ja in Alles fügen!

Natürlich erschien Monsieur Parazard unter diesen Verhältnissen der Unglücklichste von Allen. Der Verlust seiner Speisekammer, die Zerstörung seines »Laboratoriums« und die Verstreuung seiner Vorräthe gingen ihm gar sehr zu Herzen. Er machte auch kein Hehl aus seiner Verzweiflung, erwähnte der Gefahr, der wir Alle wie durch ein Wunder entgangen, kaum mit einem Worte, [361] sondern jammerte nur über das Mißgeschick, das ihn persönlich getroffen hatte. Eben als wir im Salon zusammenkamen, um zu überlegen, was unter den jetzigen Umständen zu thun sei, betrat Monsieur Parazard mit gewohnter Feierlichkeit die Schwelle desselben und meldete sich, »um uns eine Mittheilung von höchster Bedeutung« zu machen.

»Sprechen Sie, Monsieur Parazard, sagte Oberst Munro, indem er jenem einzutreten winkte.

– Meine Herren, begann unser Koch sehr ernst, es wird Ihnen nicht unbekannt sein, daß der ganze Inhalt des zweiten Wagens vom Steam-House bei jener Katastrophe verloren gegangen ist. Aber selbst wenn wir noch einige Vorräthe besäßen, wäre ich, in Ermanglung einer Küche, in der größten Verlegenheit, Ihnen auch nur die bescheidenste Mahlzeit zu bereiten.

– Wir kennen das, Monsieur Parazard, erwiderte Oberst Munro. Es ist bedauernswerth, doch wir müssen uns wohl in das Unvermeidliche fügen, und wenn wir fasten müssen, so thun wir es eben.

– Ja, meine Herren, fuhr der Koch fort, es ist um so bedauernswerther, als ich gegenüber jener großen Anzahl Elephanten, von denen mehr als einer unter ihren mörderischen Kugeln geendet hat...

– Ein herrlicher Satz, Monsieur Parazard, fiel Kapitän Hod ein. Bei einiger Uebung würden Sie bald dahin gelangen, sich nicht weniger elegant auszudrücken wie unser Freund Mathias Van Guitt.«

Monsieur Parazard verneigte sich höflich und fuhr nach einem Seufzer also fort:

»Ja, ich wollte eben sagen, meine Herren, daß mir da eine Gelegenheit geboten wäre, Ihnen meine Geschicklichkeit im vollen Glanze zu zeigen. Das Fleisch des Elephanten ist, wie sich leicht denken läßt, nicht in allen Stücken brauchbar, denn es ist zum Theile abscheulich hart und zähe; es scheint jedoch, als habe der Schöpfer aller Dinge unter dieser Fleischmasse doch zwei Stücke besonders bevorzugt, zwei Stücke, welche werth sind, auf der Tafel des Vicekönigs von Indien zu erscheinen. Ich habe hierbei im Sinne erstens die Zunge dieses Thieres, ein ungemein wohlschmeckender Leckerbissen, wenn dieselbe nach einem mir allein bekannten Recept zugerichtet wird, und zweitens die Füße der Pachyderme...

– Pachyderme?... Sehr schön, obwohl der Proboscidie eleganter klingt, sagte Kapitän Hod.

[362] –... die Füße also, fuhr Monsieur Parazard fort, aus denen man die besten Suppen bereitet, welche die Küchenkunst, deren Vertreter ich im Steam-House bin, jemals gekannt hat.

– Sie machen mir den Mund wässrig, Monsieur Parazard, antwortete Banks. Unglücklicher Weise einerseits und glücklicher Weise andererseits sind uns die Elephanten auf den See nicht nachgefolgt, und ich fürchte, wir werden wenigstens zur Zeit auf eine Klauensuppe und ein schmackhaftes Ragout von der Zunge jener Thiere verzichten müssen.

– Wäre es nicht möglich, begann der Koch noch einmal, an's Land zurückzukehren und sich damit zu versorgen...

– Nein, das geht nicht, Monsieur Parazard. So vortrefflich Ihre Zubereitungen auch sein möchten, so dürfen wir uns deshalb einer augenscheinlichen Gefahr nicht auf's Neue aussetzen.

– Nun denn, meine Herren, sagte der Koch, so genehmigen Sie den Ausdruck des aufrichtigen Bedauerns, das ich über diesen beklagenswerthen Zwischenfall empfinde.

– Wir nehmen das für geschehen an, Monsieur Parazard, sagte Oberst Munro. Was das Mittagessen und das Frühstück betrifft, so machen Sie sich darüber, bevor wir nach Jubbulpore kommen, keine weitere Sorge.

– So darf ich mich wohl wieder zurückziehen,« erwiderte Monsieur Parazard mit einer Verbeugung, ohne die ihm angeborne Würde zu verlieren.

Wir hätten über die komische Erscheinung unseres Kochs fast laut aufgelacht, doch benahmen uns andere, sehr ernsthafte Fragen zunächst die Lust dazu.

Zu so vielen Verlegenheiten trat nämlich noch eine andere. Banks eröffnete uns, daß unter den gegenwärtigen mißlichen Umständen weder der Mangel an Nahrungsmitteln, noch der an Munition der schlimmste sei, wohl aber der Mangel an – Brennmaterial. Bei der Unmöglichkeit, während der letzten achtundvierzig Stunden frische Holzvorräthe zum Betriebe der Maschine einzunehmen, erschien das nicht wunderbar. Bei der Ankunft am See besaßen wir davon fast gar nichts mehr. Hätte sich der Weg hierher nur um eine Stunde verlängert, so konnten wir das Wasser überhaupt nicht erreichen, und der erste Wagen des Steam-Houses verfiel noch zuletzt demselben Schicksale wie vorher der zweite.

»Jetzt, fügte Banks hinzu, haben wir nichts mehr zu feuern; die Dampfspannung nimmt ab, sie ist schon bis auf zwei Atmosphären gesunken, und uns fehlt jede Möglichkeit, sie wieder zu steigern!

[363] – Ist unsere Lage wirklich so schlimm, wie Du zu glauben scheinst, Banks? fragte Oberst Munro.

– Wenn es sich nur darum handelte, nach dem Ufer, von dem wir noch nicht weit entfernt sind, zurückzukehren, antwortete Banks, so ließe sich das wohl ausführen. In einer Viertelstunde würden wir das erreichen. Es wäre aber zu unklug, nach der Stelle zu gehen, wo die Elephanten ohne Zweifel noch zusammen sind. Nein, wir werden über den Puturia-See fahren und an dessen südlichem Ufer einen Landungsplatz suchen müssen.

– Wie breit mag der See in dieser Richtung sein? fragte Oberst Munro weiter.

– Kâlagani schätzt die Entfernung auf etwa sieben bis acht Meilen. Unter den gegebenen Verhältnissen würden wir dazu gewiß mehrere Stunden brauchen, und ich sage im voraus, daß die Maschine in vierzig Minuten nicht mehr im Stande sein wird, zu arbeiten.

– Nun wohl, antwortete Sir Edward Munro, so bringen wir die Nacht ruhig auf dem See zu. Wir sind hier ja in Sicherheit. Morgen findet sich schon Rath.«

Etwas anderes war offenbar nicht zu thun. Wir bedurften der Ruhe gar sehr. Auf dem letzten Halteplatze, wo uns die Elephanten umringten, hatte ja kein Mensch schlafen können.

Jetzt nahte eine dunkle Nacht – ja, eine dunklere, als uns lieb war.

Gegen sieben Uhr entstand auf dem See ein leichter Nebel. Man erinnert sich, daß sich schon während der vergangenen Nacht dichte Dünste in der Höhe bildeten. Hier gestaltete sich, bei der Verschiedenheit des Ortes, auch die Erscheinung anders. Wenn die Dunstmassen über dem Elephantenlager einige hundert Fuß hoch dahinzogen, so wälzten sie sich hier, in Folge der Ausdünstung des Wassers, auf dem Puturia selbst hin. Nach dem ziemlich warmen Tage vermischten sich höhere und tiefere Luftschichten und der ganze See verschwand bald in einem zwar noch dünnen Nebel, der aber jede Minute an Dichtheit zunahm.

Hierdurch entstand, wie Banks schon vorher sagte, eine neue Schwierigkeit, der wir wohl Rechnung tragen mußten.

Mit seiner früheren Berechnung übereintreffend, ging dem Stahlriesen gegen siebeneinhalb Uhr der Dampf allmählich aus, die Kolben arbeiteten langsamer, die beweglichen Füße schlugen nicht mehr das Wasser und die Dampfspannung [364] sank endlich unter eine Atmosphäre herab. Brennmaterial oder irgend ein Mittel, diese wieder zu steigern, war nicht vorhanden.

Der Stahlriese und der einzige Wagen, den er noch zog, schwammen nun freilich auf dem stillen See, kamen aber nicht von der Stelle.

Bei dem herrschenden Nebel war es natürlich sehr schwer, unsere Lage einigermaßen sicher zu bestimmen. Während der kurzen Zeit, als unsere Maschine noch arbeitete, hatte sich der Zug nach dem südöstlichen Ufer des Sees zu bewegt, um da einen Landungsplatz aufzusuchen. Da der Puturia nun die Gestalt eines ziemlich langen Ovals besitzt, so konnte es ja möglich sein, daß das Steam-House sich gar nicht weit von dem einen oder anderen Ufer befand.

Das Gebrüll der Elephanten, die uns auch hier ziemlich eine Stunde lang verfolgt hatten, war der großen Entfernung wegen nicht mehr zu hören.

Wir besprachen also, was unter den jetzigen Verhältnissen wohl am besten zu thun sei. Banks ließ auch Kalagaul rufen, dessen Ansicht er kennen lernen wollte. Der Hindu kam sofort und wurde aufgefordert, seine Meinung auszusprechen.

Wir befanden uns in dem Speisesaale, der, da er seine Beleuchtung durch Oberlicht erhielt, gar keine Seitenfenster hatte. So konnte der Schein der Lampen nicht nach außen dringen. Das gewährte uns den Vortheil, die Lage des Steam-Houses etwaigen Landstreichern an den Ufern des Sees nicht zu verrathen.

Auf die an ihn gerichteten Fragen schien Kâlagani – mir wenigstens kam es so vor – nicht ohne Zögern zu antworten. Es handelte sich darum, zu sagen, an welcher Stelle des Puturia-Sees sich das Steam- House befand, und ich gebe zu, daß eine Antwort darauf nicht eben leicht war. Vielleicht hatte eine schwache Briefe aus Nordwesten unseren Zug ein wenig weiter getrieben; vielleicht führte uns auch eine leichte Strömung nach dem unteren Ende des Sees.

»Nun, Kâlagani, sagte Banks, dem daran gelegen war, über diesen Punkt in's Klare zu kommen, Sie kennen die Ausdehnung des Puturia doch genau genug?

– Gewiß, antwortete der Hindu, doch ist bei diesem Nebel so gut wie gar nichts zu sehen.

– Sind Sie im Stande, annähernd die Entfernung bis zu dem uns zunächst gelegenen Ufer abzuschätzen?

– Ja, so ziemlich, antwortete der Hindu nach kurzer Ueberlegung, sie kann über anderthalb Meilen kaum betragen.

[365] – Nach Osten zu? fragte Banks.

– Ja, nach Osten.

– Und wenn wir nach diesem Ufer kämen, wären wir Jubbulpore näher als Dumoh?

– Gewiß.

– Eben in Jubbulpore, setzte Banks hinzu, müssen wir uns wieder mit allem Nöthigen versorgen. Wer weiß aber, wann es uns gelingt, an jenes Ufer zu kommen! Das kann einen oder gar zwei Tage dauern, und uns fehlt nicht weniger als Alles!

– Aber, fuhr Kâlagani fort, könnten wir nicht, oder könnte wenigstens nicht Einer von uns versuchen, noch in dieser Nacht das Land zu erreichen?

– Ja, aber wie?

– Ei nun schwimmend!

– Einundeinehalbe Meile inmitten dieses Nebels! antwortete Banks, das hieße das Leben auf's Spiel setzen...

– Aber es ist doch kein Grund, den Versuch nicht zu wagen!« erwiderte der Hindu.

Ich weiß zwar nicht warum, aber es schien mir immer, als habe Kâlagani's Stimme heute gar nicht die gewohnte Offenheit.

»Würden Sie es unternehmen, den See soweit zu durchschwimmen? fragte da Oberst Munro, der den Hindu scharf fixirte.

– Gewiß, Herr Oberst, und ich glaube das auch ausführen zu können.

– Da würden Sie uns einen großen Dienst leisten, mein Freund! fiel Banks wieder ein. Zu Lande kann es Ihnen nicht schwer fallen, die Station Jubbulpore zu erreichen und uns Hilfe zu bringen.

– Ich bin sofort bereit!« antwortete einfach der Hindu.

Ich erwartete, auch Oberst Munro würde unserem Führer seinen Dank für dieses Anerbieten abstatten; nachdem er jenen aber noch einmal kurze Zeit aufmerksam betrachtet hatte, rief er nach Goûmi.

Goûmi erschien auf der Stelle.

»Goûmi, redete Sir Edward Munro diesen an, Du bist ein vortrefflicher Schwimmer?

– Man sagt es, Herr Oberst.

– Würdest Du davor zurückschrecken, noch in dieser Nacht anderthalb Meilen weit durch das laue Wasser des Sees zu schwimmen?

[366] – O, auch zwei Meilen, wenn es sein muß.

– Nun denn, fuhr Oberst Munro fort, Kâlagani hatte sich erboten, nach dem Ufer zu schwimmen, das Jubbulpore am nächsten liegt. Auf diesem See sowohl, wie überhaupt in ganz Bundelkund werden immer zwei kühne und intelligente Männer, die sich gegenseitig unterstützen können, sicherer zum Ziele gelangen, als ein Einzelner. – Willst Du Kâlagani begleiten?

– Wenn es Ihnen beliebt, Herr Oberst! antwortete Goûmi.

– O, ich brauche Niemand, erklärte da Kâlagani, doch wenn es der Herr Oberst wünscht, nehme ich Goûmi gern als Begleiter an.

– Nun, so geht in Gottes Namen, sagte Banks, und seid ebenso vorsichtig, wie Ihr muthig seid!«.

Oberst Munro nahm hierauf Goûmi beiseite und ertheilte ihm einige kurze Verhaltungsmaßregeln. Fünf Minuten später schon glitten die beiden Hindus, ein Packet mit Kleidungsstücken auf dem Kopfe, in das Wasser des Sees hinab, Der Nebel war immer dichter geworden, so daß jene uns bereits in der Entfernung weniger Faden gänzlich aus dem Gesichte schwanden.

Ich fragte Oberst Munro, warum ihm allem Anscheine nach so viel daran gelegen habe, Kâlagani einen Begleiter mitzugeben.

»Die Antworten dieses Hindu, erklärte Sir Edward Munro, dessen Ergebenheit ich bisher nie mißtraut hätte, schienen mir nicht offen zu sein.

– Denselben Eindruck machten sie auch auf mich, sagte ich.

– Ich für meinen Theil habe nichts bemerkt..., meinte Banks.

– Glaube mir, Banks, fuhr Oberst Munro fort, Kâlagani hatte, als er sich erbot, an's Land zu gehen, irgend einen Hintergedanken.

– Aber welchen?

– Das weiß ich nicht! Doch als er den Zug zu verlassen wünschte, geschah dies nicht, um in Jubbulpore für uns Hilfe zu suchen.

– Oho!« ließ Kapitän Hod sich vernehmen.

Banks blickte den Oberst, die Stirn runzelnd, an.

»Lieber Munro, begann er, bisher hat sich dieser Hindu stets treu und vorzüglich Dir gegenüber wirklich ergeben bewiesen! Heute vermuthest Du, daß Kâlagani uns verrathen wolle? Was berechtigt Dich dazu?

– Nun, antwortete Oberst Munro, während Kâlagani sprach, sah ich, wie er dunkler wurde, und Leute mit hellkupferfarbener Haut werden dunkler, wenn sie lügen. Wohl zwanzigmal habe ich auf diese Beobachtung hin Bengalen


Zwei Lichtbündel wurden hingeworfen. (S. 374.)

und Hindus verblüffen können und habe mich damit [367] niemals getäuscht. Was auch Alles zu Kâlagani's Gunsten sprechen könnte, ich bleibe doch dabei, daß er nicht die Wahrheit geredet hat!«

Ich habe mich inzwischen vielfach überzeugt, daß Sir Edward Munro mit jener Behauptung vollkommen Recht hatte.

Die Hindus bräunen sich, wenn sie lügen, ebenso wie die Weißen erröthen. Dieses Symptom hatte der Scharfsichtigkeit des Obersten nicht entgehen können, wir mußten also seiner Beobachtung einen gewissen Werth beimessen.

[368] »Was könnte Kâlagani aber beabsichtigen, fragte Banks, und warum sollte er uns verrathen?

– Das wird sich la später zeigen, sagte Oberst Munro, vielleicht erst zu spät!

– Zu spät, Herr Oberst, fiel Kapitän Hod ein. Ei, wir sind doch noch nicht verloren, denke ich!

– Jedenfalls, Munro, fuhr der Ingenieur fort, hast Du gut daran gethan, ihm Goûmi mitzugeben – der ist uns bis in den Tod ergeben, dazu gewandt und einsichtig genug, um, wenn er Unheil wittern sollte...

[369] – Ja, ja, und darum erschien es mir gerathen, unterbrach ihn Oberst Munro, ihn aufmerksam zu machen, seinen Begleiter scharf im Auge zu behalten.

– Nun gut, sagte Banks; jetzt wollen wir ruhig den Tag abwarten; mit Sonnenaufgang verschwindet voraussichtlich der Nebel und wir werden ja sehen, was dann zu thun ist!«


Das Ufer lag vor uns (S. 372.)

Diese Nacht sollte und mußte in der That unthätig hingebracht werden.

Der Nebel hatte sich mehr und mehr verdichtet, ohne daß jedoch Anzeichen von schlechter Witterung eintraten. Es war das ein glücklicher Umstand, denn wenn unser Zug auch schwimmen konnte, so war er doch keineswegs gebaut, um »See zu halten«. Man durfte also hoffen, daß die Dampfbläschen in der Luft sich mit Anbruch des Tages condensiren würden, was uns für den folgenden Tag schönes Wetter versprach.

Während das Personal im Speisezimmer Platz nahm, setzten wir uns auf die Divans des Salons und sprachen nur wenig, lauschten aber desto aufmerksamer auf jedes etwaige Geräusch von draußen.

Plötzlich, es mochte gegen zwei Uhr nach Mitternacht sein, unterbrach ein Geheul von Raubthieren das Schweigen der Nacht.

In der Richtung nach Südosten mußte also Land sein, wenn wir von demselben auch noch ziemlich weit entfernt waren. Das Heulen und Brüllen tönte nur so abgeschwächt bis zu uns herüber, daß Banks die Entfernung auf eine gute Meile schätzte. Wahrscheinlich hatte sich eine Heerde wilder Thiere zur Stillung ihres Durstes an jener Stelle des Sees eingefunden.

Bald überzeugten wir uns auch, daß der schwimmende Train unter dem Drucke einer leichten Brise langsam und gleichmäßig nach dem Gestade zu trieb. Jene Töne drangen nicht nur deutlicher zu unseren Ohren, sondern man unterschied auch schon das dumpfere Brüllen des Tigers von dem heiseren Geheul der Panther.

»Aha, konnte Kapitän Hod sich nicht enthalten zu sagen, welch' hübsche Gelegenheit, seinen Fünfzigsten zu erlegen.

– Ein andermal, lieber Kapitän, entgegnete Banks. Ich hoffe, daß die Bestien, wenn wir bei Tageslicht an's Ufer stoßen, den Platz geräumt haben werden.

– Kann es von Nachtheil sein, fragte ich, die elektrischen Leuchten in Thätigkeit zu setzen?

[370] – Das glaube ich nicht, antwortete Banks. Am Ufer dort befinden sich gewiß nur Thiere, welche des Trinkens wegen dorthin gekommen sind. Es hält uns nichts davon ab, zu sehen, was wir da vor uns haben.«

Auf Bank's Anordnung wurden zwei Lichtbündel in südöstlicher Richtung hingeworfen. Leider vermochten die elektrischen Lichtstrahlen den dicken Nebel nicht zu durchdringen und beleuchteten nur einen verhältnißmäßig beschränkten Raum vor dem Steam-House, während das Ufer selbst den Blicken verborgen blieb.

Das immer lauter werdende Geheul verrieth inzwischen, daß der Zug noch immer über die Wasserfläche weiter trieb. Die Zahl der an jener Stelle versammelten Thiere war aller Wahrscheinlichkeit nach eine sehr große, was sich leicht daraus erklärte, daß der Puturia-See sozusagen die natürliche Tränke für die Raubthiere dieses Theiles von Bundelkund bildete.

»Wenn nur Goûmi und Kâlagani nicht unter diese Heerde gerathen sind! sagte Kapitän Hod.

– Die Tiger sind es gerade nicht, die ich für Goûmi fürchte!« erwiderte Oberst Munro.

Der Verdacht, den der Oberst hegte, hatte entschieden noch zugenommen. Ich für meinen Theil begann allmählich, ihn zu theilen. Immerhin sprachen die guten Dienste Kâlagani's seit unserer Ankunft im Himalaya-Gebiete, seine Opferwilligkeit bei den bekannten Vorgängen, wo er für Sir Edward Munro und Kapitan Hod sogar sein Leben auf's Spiel setzte, doch gewiß zu seinem Vortheil. Wenn der Zweifel aber einmal im Geiste platzgreift, so vermindert sich leicht die Bedeutung und wechselt der Eindruck früherer Thatsachen, man vergißt die Vergangenheit und fürchtet für die Zukunft.

Welche Beweggründe konnten den Hindu aber treiben, uns jetzt zu verrathen? Hegte er einen persönlichen Haß gegen die Bewohner des Steam-Houses? Das gewiß nicht. Warum sollte er sie in einen Hinterhalt gelockt haben? Das erschien ganz unerklärlich. Jeder machte sich darüber seine eigenen Gedanken, ohne eben klar sehen zu lernen, und ungeduldig erwarteten wir die weitere Entwicklung dieser peinlichen Situation.

Gegen vier Uhr Morgens hörte das Gebrüll der Thiere plötzlich auf. Was uns dabei auffiel war, daß sie sich offenbar nicht einzeln nach einander entfernt und nach dem letzten Schluck noch einmal einen Ton von sich gegeben hatten. Nein, im Augenblicke war Alles vorüber, so daß man annehmen konnte, es habe[371] sie irgend ein zufälliger Umstand bei ihrem Geschäfte gestört und sie zur eiligen Flucht veranlaßt. Sie zogen sich in ihre Höhlen und Schlupfwinkel nicht zurück wie Thiere, welche heimkehren, sondern wie solche, welche sich zu retten suchen.

Ohne vermittelnden Uebergang folgte die Stille auf den vorigen Lärm. Hier wirkte also eine Ursache mit, die uns noch vollständig entging, aber gerade deshalb unsere Unruhe eher noch vermehrte.

Aus Vorsicht gab Banks Befehl, die Leuchtfeuer zu löschen. Waren die Thiere etwa vor einer Rotte von Landstreichern entflohen, welche sich in Bundelkund und den Vindhyas umhertrieben, so erschien es wichtig, die Lage des Steam-Houses möglichst zu verbergen.

Jetzt unterbrach das Schweigen ringsum nichts, als das Plätschern der Wellen. Der Wind legte sich mehr und mehr. Ob unser Zug noch durch eine schwache Strömung weiter getrieben wurde, konnte man nicht unterscheiden. Bald mußte es jedoch Tag werden und der Nebel, der nur in den untersten Schichten der Atmosphäre lagerte, verschwinden.

Ich sah nach der Zeit, es war fünf Uhr Morgens. Ohne den Nebel würde das Morgenroth den Gesichtskreis um uns schon auf einige Meilen erweitert haben, so daß das Ufer sichtbar gewesen wäre. Noch zerriß der Dunstschleier aber nicht. Wir mußten uns in Geduld fassen.

Oberst Munro, Mac Neil und ich im Vordertheil des Salons, Fox, Kalouth und Monsieur Parazard im Hintertheil des Speisezimmers, Banks und Storr im Thürmchen und Kapitän Hod auf dem Rücken des gigantischen Thieres nahe dem Rüssel sitzend, wie ein wachthabender Matrose am Bug seines Schiffes, wir warteten Alle gespannt, daß Einer »Land!« rufen sollte.

Gegen sechs Uhr erhob sich eine schwache, zuerst kaum bemerkbare Brise, frischte aber bald ein wenig auf. Die ersten Strahlen der Sonne durchbrachen die Nebelmassen und der Horizont zeigte sich unseren Blicken. Im Südosten lag das Ufer vor uns. Es bildete am Ende des Sees eine schmal verlaufende Bucht mit dichtem Wald dahinter. Die Dünste stiegen allmählich empor und legten weiter rückwärts eine Reihe Berge frei, deren Gipfel schnell nach einander hervortraten.

»Land!« hatte Kapitän Hod gerufen.

Der schwimmende Train befand sich kaum noch zweihundert Meter von dem Ufer der Bucht des Puturia und trieb unter der nordwestlichen Brise weiter auf dieselbe zu.

[372] Alles war hier still, weder ein Thier, noch ein menschliches Wesen sichtbar. Alles erwies sich als gänzlich verlassen. Keine Wohnstätte, keine Farm unter dem Dache der ersten Bäume. Es schien also gefahrlos, hier zu landen.

Mit Hilfe des Windes gelangten wir denn auch bald an das flache, einen sandigen Strand darstellende Ufer. Freilich konnten wir wegen Mangels an Dampf weder auf dieses hinausfahren, noch eine unsern sichtbare Straße einschlagen, welche der Himmelsrichtung nach auf Jubbulpore zuführen mußte.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, waren wir Alle dem Kapitän Hod gefolgt, der zuerst an's Land sprang.

»Nun Brennmaterial herbei! rief Banks. Binnen einer Stunde haben wir Druck und dann vorwärts!«

Der Bedarf war leicht zu decken. Holz gab es ringsum in Menge und auch trocken genug, um sogleich verfeuert werden zu können. Wir brauchten also nur den Rost zu beschicken und den Tender zu füllen.

Alle legten Hand an's Werk. Kâlouth allein blieb vor dem Kessel, während wir Anderen das nöthige Material für vierundzwanzig Stunden herbeischafften. Das war mehr, als wir bis Jubbulpore brauchten, und dort konnte es an Kohle nicht fehlen. Jetzt meldete sich allmählich auch der Hunger, doch dem konnten ja die Jäger unterwegs abhelfen, Monsieur Parazard sollte dann am Kesselfeuer kochen, so gut es eben anging.

Drei Viertelstunden später zeigte der Dampf hinreichende Spannung; der Stahlriese setzte sich in Bewegung und klomm endlich den Strand in die Höhe, um nach der Landstraße zu gelangen.

»Nach Jubbulpore!« rief Banks.

Storr hatte den Regulator aber kaum einmal halb umgedreht, als sich aus dem Walde heraus ein entsetzliches Geschrei vernehmen ließ. Eine Rotte von wenigstens hundertfünfzig Hindus stürzte sich auf das Steam-House. Das Thürmchen des Stahlriesen, der Wagen, dessen vordere und hintere Veranda wurden bestürmt, bevor wir nur zur Ueberlegung kommen konnten.

Sofort schleppten uns die Hindus etwa fünfzig Schritt weit von dem Zuge fort und machten uns jede Flucht unmöglich.

Unser Zorn, unsere Wuth über das Bild der Zerstörung und Plünderung, das sich nun vor unseren Augen entrollte, wird Jeder leicht begreifen. Mit Aexten in den Händen, warfen die Hindus sich auf das Steam-House. Alles wurde geplündert, verwüstet und vernichtet. Von dem Mobiliar des Wagens [373] blieb kein Stückchen ganz. Zuletzt vollendete das Feuer die Zerstörung und in wenigen Minuten war Alles, was der letzte Wagen unseres Zuges noch enthielt, durch die Flammen aufgezehrt.

»O, diese Spitzbuben, diese Schurken!« rief Kapitän Hod, den mehrere Hindus kaum zu fesseln vermochten.

Er sah sich aber, wie wir Alle, auf unnütze Schimpfreden beschränkt, welche die Hindus nicht einmal zu verstehen schienen. Denen zu entkommen, die uns bewachten, daran war gar nicht zu denken.

Die letzten Flammen erloschen; von unserer fahrbaren Pagode, welche die eine Hälfte der Halbinsel durchmessen hatte, war nichts mehr übrig als das unförmliche Gerippe.

Nun griffen die Hindus den Stahlriesen selbst an, offenbar in der Absicht, auch diesen zu zerstören. Hier vermochten sie freilich nichts auszurichten. Weder Axt, noch Feuer konnten dem dicken Stahlpanzer und der Maschine im Innern des künstlichen Elephanten etwas anhaben. Trotz aller Bemühungen blieb dieser unversehrt, während Kapitän Hod, halb vor Befriedigung, halb vor Wuth, ein Hurrah nach dem andern rief.

Da trat ein Mann hervor, wahrscheinlich der Anführer jener Hindus.

Die ganze Räuberbande sammelte sich sofort um ihn. Ein Anderer begleitete ihn. Jetzt wurde alles klar, dieser zweite war unser Führer – es war Kâlagani.

Von Goûmi keine Spur. Der Treue war verschwunden, der Verräther geblieben. Ohne Zweifel hatte die Anhänglichkeit des wackeren Dieners an uns diesem das Leben gekostet und wir sollten ihn nicht wieder sehen. Kâlagani schritt auf Oberst Munro zu, senkte ein wenig die Augen und sagte frostig:

»Dieser ist's!«

Auf ein Zeichen wurde Sir Edward Munro ergriffen, fortgeschleppt und verschwand in der Mitte der Bande, die nach Süden zu abzog, ohne daß es ihm möglich gewesen wäre, uns zum letzten Male die Hand zu drücken oder nur ein Lebewohl zu sagen.

Kapitän Hod, Banks, der Sergeant, Fox, kurz wir Alle versuchten zwar, frei zu kommen, um ihn den Händen der Hindus zu entreißen.

Vergebens! Fünfzig Arme drückten uns nieder – noch eine Bewegung und wir wären erwürgt worden.

»Leistet keinen Widerstand!« sagte Banks.

[374] Der Ingenieur hatte wohl Recht; augenblicklich vermochten wir doch nichts, um den Oberst Munro zu retten; es erschien räthlich, uns zu sichern und die Entwickelung der Dinge abzuwarten.

Eine Viertelstunde später ließen die Hindus uns los und zogen den Vorangegangenen nach. Verfolgten wir sie, so konnte das eine Katastrophe herbeiführen, ohne dem Oberst Munro etwas zu nützen, und wir fühlten doch die Verpflichtung, Alles zu seiner Rettung zu versuchen...

»Keinen Schritt weiter!« rief Banks.

Wir gehorchten ihm.

Alles zeigte, daß der Ueberfall jener von Kâlagani herbeigeführten Hindus nur dem Oberst Munro galt. Welche Absichten mochte der Verräther haben? Aus eigenem Antrieb konnte er schwerlich handeln. In wessen Antrieb aber dann?... Mir kam unwillkürlich der Name Nana Sahib in den Sinn!... – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Hier schließt das von Maucler verfaßte Manuscript. Der junge Franzose wohnte den Ereignissen, welche die Lösung dieses Dramas vorbereiteten, nicht mehr bei. Jene selbst sind aber später bekannt geworden, und wir fügen sie also, zur Vollendung des Berichtes über diese Reise durch das nördliche Indien, in erzählender Form an.

11. Capitel
Elftes Capitel.
Auge in Auge.

Die Thugs, blutigen Andenkens, von denen Hindostan befreit zu sein scheint, haben doch ihrer ganz würdige Nachfolger hinterlassen.


Sir Edward Munro wurde ergriffen und fortgeschleppt. (S. 374.)

Es sind das die Dacoits, eine Art verwandelte Thugs. Das gewöhnliche Verfahren dieser Uebelthäter hat gewechselt, der Zweck der Mordthaten ist ein anderer geworden, aber das endliche Resultat ist dasselbe geblieben: die überlegte Tödtung, der Mord Jetzt handelt es sich nicht mehr darum, der wilden Kali, der Todesgöttin ein Opfer zu bringen. Wenn diese neueren Fanatiker nicht mehr [375] stranguliren, so vergiften sie, um zu rauben. Den Würgern sind weitaus praktischere, aber gleichmäßig zu fürchtende Verbrecher gefolgt.

Die Dacoits, welche in gewissen Gebieten der Halbinsel besondere Banden bilden, nehmen Alles auf, was die anglo-indische Justiz an Mördern durch die Maschen ihres Netzes schlüpfen läßt. Sie streifen Tag und Nacht auf den Landstraßen umher, vorzüglich in den wilden Gegenden, und bekanntlich bietet gerade Bundelkund die geeignetsten, schwer zugänglichen Plätze. Zuweilen vereinigen sich diese Banden zu starken Haufen, um ein vereinzelt liegendes Dorf[376] zu überfallen. Da bleibt dessen Bewohnern nichts übrig als die schleunigste Flucht; wer von ihnen in die Hände der Dacoits fällt, dem stehen die entsetzlichsten, ausgesuchtesten Qualen bevor. Hier erwachten die Sagen von den Mordbrennern des äußersten Westens wieder zum Leben. Wenn man Louis Rousselet glauben darf, so »überbot die List dieser Scheusale, das erbarmungslose Verfahren derselben Alles, was die phantasiereichsten Erzähler jemals erdacht haben«.


Goûmi sprang zur Seite und verschwand in den Dschungeln. (S. 381.)

In die Gewalt einer solchen, von Kâlagani angeleiteten Bande Dacoits war der unglückliche Oberst Munro gefallen. Ehe er zur Besinnung kommen [377] konnte, was mit ihm vorging, sah er sich gewaltsam von seinen Gefährten getrennt und auf der Straße nach Jubbulpore fortgeschleppt.

Kâlagani hatte seit dem Tage, wo er zu den Insassen des Steam-Houses in Beziehung trat, nur Verrath gebrütet. Nana Sahib war es, der ihn abgeschickt, der gerade ihn erwählt hatte, seinen Racheplan vorzubereiten.

Man erinnert sich, daß der Nabab am verwichenen 24. Mai in Bhopal, während der letzten Moharum-Feste, zu denen er sich mit Verachtung jeder Gefahr begeben hatte, von der Abreise Sir Edward Munro's nach den nördlichen Provinzen Indiens Nachricht erhielt. Auf seinen Befehl verließ damals Kâlagani, einer der seiner Sache und Person am meisten ergebenen Hindus, die Stadt Bhopal. Dessen Auftrag lautete dahin, der Spur des Obersten nachzugehen, ihn aufzuspüren, niemals aus den Augen zu lassen, wenn es nöthig werden sollte, selbst das Leben zu wagen und sich in die nähere Umgebung des gehaßten Feindes Nana Sahib's einzuschleichen.

Kâlagani war in derselben Stunde aufgebrochen, um nach Norden zu gehen. Schon in Cawnpore gelang es ihm, den Zug des Steam-Houses, einzuholen. Seit dieser Zeit hatte er, ohne sich je sehen zu lassen, auf eine günstige Gelegenheit gewartet, die sich jedoch nicht einstellte. Deshalb entschloß er sich, als Oberst Munro nebst seinen Begleitern im Sanatorium des Himalaya rastete, einstweilen bei Mathias Van Guitt Dienste zu nehmen.

Kâlagani sagte sich, daß zwischen dem Kraal und dem Sanatorium bald ein täglicher Verkehr entstehen müßte. Das geschah denn auch, und es glückte ihm nebenbei, vom ersten Tage ab nicht nur die besondere Aufmerksamkeit Oberst Munro's zu erregen, sondern sich auch einen gewissen Anspruch auf dessen Erkenntlichkeit zu erwerben.

Damit war für ihn der schwierigste Punkt überwunden. Das Uebrige ist bekannt. Der Hindu kam sehr häufig nach dem Steam-House, er wurde von den weiteren Plänen der Bewohner desselben unterrichtet und erfuhr, welchen Weg Banks später einzuschlagen gedachte. Nun beherrschte ihn blos noch der eine Gedanke, womöglich als Führer der Expedition angenommen zu werden, wenn diese wieder nach dem Süden hinabzog.

Kâlagani versäumte nichts, um dieses Ziel zu erreichen. Er schrak selbst nicht davor zurück, nicht allein das Leben der Anderen, sondern auch das eigene auf's Spiel zu setzen. Wie das zuging, ist schon aus dem Vorhergehenden bekannt. So kam ihm der Gedanke, daß jeder Verdacht schwinden müsse, wenn [378] er die Expedition vom Anfang der Rückreise an, aber immer im Dienste Mathias Van Guitt's, begleitete, und daß ihm Oberst Munro vielleicht das selbst anbieten würde, wonach er vor Allem verlangte.

Um das aber zu erreichen, mußte der Händler erst seiner Zugthiere, der Büffelgespanne, beraubt und dadurch genöthigt werden, die Hilfe des Stahlriesen in Anspruch zu nehmen. So machte er sich den – allerdings unerwarteten – Ueberfall der Raubthiere zunutze. Auf die Gefahr hin, ein entsetzliches Unglück anzurichten, schob er unbemerkt die Holzriegel zurück, welche das Thor des Kraals verschlossen. Die Tiger und Panther stürzten in die Umzäunung. Die Büffel wurden zerfleischt oder vertrieben, einige Hindus kamen bei der Affaire um's Leben, aber – Kâlagani's Absicht war erreicht; Mathias Van Guitt sah sich gezwungen, Oberst Munro's Unterstützung zu erbitten, um mit seiner fahrenden Menagerie nach Bombay zu gelangen.

Es wäre in der That schwierig gewesen, in der fast wüsten Gegend des Himalaya neue Gespanne zu beschaffen; der Sicherheit halber unternahm es Kâlagani aber selbst, sich scheinbar um die Besorgung neuer Zugthiere zu bemühen. Natürlich waren seine Bemühungen fruchtlos, und so mußte Mathias Van Guitt mit seinem Personal und der Menagerie im Schlepptau des Stahlriesen bis zur Station Etawah ziehen.

Von da aus sollte der Weitertransport der ganzen Waare des Händlers auf der Eisenbahn erfolgen. Die jetzt überflüssig gewordenen Chikaris wurden entlassen und Kâlagani sollte ebenfalls verabschiedet werden. Da gab er sich den Anschein, als sei er sehr in Verlegenheit, was er nun beginnen sollte. Banks ließ sich dadurch täuschen. Er sagte sich, daß der intelligente diensteifrige Hindu ihnen mit seiner genauen Kenntniß gerade dieses Theiles von Indien werde von großem Nutzen sein können, bot ihm daher an, bis Bombay den Dienst als Führer zu versehen, und von demselben Tage ab lag das Schicksal der Expedition in Kâlagani's Hand.

Noch ließ nichts in dem Hindu, der sich stets zu jedem Opfer bereit zeigte, einen niedrigen Verrath vermuthen.

Nur einmal war Kâlagani daran, sich eine Blöße zu geben, damals nämlich, als Banks gegen ihn von Nana Sahib's Tode sprach. Er machte unwillkürlich eine Geste und schüttelte den Kopf wie Einer, der an das Gehörte nicht glauben kann. Dasselbe hätte aber jeder Hindu gethan, dem der sagenhafte Nabab als eines jener übernatürlichen Wesen gilt, die der Tod nicht erreichen [379] kann. Ob Kâlagani diese Nachricht bei der – übrigens nicht zufälligen – Begegnung mit einem alten Kameraden unter der Karawane von Banjaris bestätigt wurde, weiß man zwar nicht, gewiß erhielt er aber verläßliche Auskunft.

Jedenfalls gab der Verräther seine abscheulichen Absichten niemals auf, als wolle er die Projecte des Nabab nun selbst zur Ausführung bringen.

So setzte das Steam-House seinen Weg quer durch die Schluchten der Vindhyas fort und gelangte unter vielfachen, dem Leser bekannten Zwischenfällen nach dem Ufer des Puturia-Sees, auf dem es vorläufig Zuflucht suchen mußte. Als Kâlagani hier unter dem Vorwande, nach Jubbulpore zu gehen, den schwimmenden Train verlassen wollte, ließ er sich zum ersten Male durchschauen. So sehr er sich sonst zu bemeistern wußte, hatte eine einfache physiologische Erscheinung, die der Aufmerksamkeit des Obersten nicht entgehen konnte, gegen ihn Verdacht erweckt, und wir wissen jetzt, daß dieser nur zu sehr begründet war.

Man ließ ihn aufbrechen, gab ihm aber Goûmi zur Begleitung. Beide sprangen in's Wasser und erreichten nach einer Stunde das südöstliche Ufer des Puturia.

Darauf gingen sie neben einander durch die dunkle Nacht dahin, der Eine den Anderen scharf beobachtend, während der Zweite das nicht vermuthete. Bisher war der Vortheil auf Seiten Goûmi's, dieses zweiten Mac Neil des Oberst Munro.

Drei volle Stunden marschirten die beiden Hindus auf der Landstraße hin, welche die südlichen Abhänge der Vindhyas durchschneidet und bei der Station Jubbulpore mündet. Auf dem Lande war der Nebel beiweitem dünner als auf dem Wasser. Goûmi behielt seinen Begleiter scharf im Auge. Im Gürtel trug er ein tüchtiges Messer. Bei der ersten verdächtigen Bewegung war er entschlossen, sich auf Kâlagani zu stürzen und diesen mindestens unschädlich zu machen. Leider behielt der treue Hindu nicht Zeit genug, seinen Vorsatz auszuführen.

Die mondlose Nacht war tiefdunkel. Auf die Entfernung von zwanzig Schritten hätte man einen dahingehenden Menschen nicht erkennen können.

Da erscholl plötzlich an einer Mündung der Straße eine Stimme, welche Kâlagani anrief.

»Hier, Nassim!« antwortete der Hindu.

Gleichzeitig ertönte zur Linken der Straße ein scharfer, sonderbarer Schrei.

[380] Das war der »Kisri« (das Kriegsgeschrei) der wilden Stämme von Goudwana, den Goûmi nur zu gut kannte.

Die Ueberraschung hatte Goûmi's Arm gelähmt. Was hätte er auch, wenn er Kâlagani erdolchte, gegen einen ganzen Haufen Hindus ausrichten können, den jener Kriegsruf herbeilocken mußte? Eine düstere Ahnung mahnte ihn zu fliehen, um wenigstens die drohende Gefahr zu melden.

Goûmi zauderte keinen Augenblick. Als Kâlagani mit jenem Nassim zusammentraf, der ihn angerufen hatte, sprang er zur Seite und verschwand in den Dschungeln neben der Straße.

Und als Kâlagani mit seinen Kameraden zurückkam, in der Absicht, sich des Begleiters, den Oberst Munro ihm aufgedrungen, zu entledigen, da war Goûmi nicht mehr zur Stelle.

Nassim, der Anführer einer der Sache Nana Sahib's ergebenen Bande Dacoits, schickte sofort seine Leute aus, um den Entschwundenen zu suchen. Er wollte um jeden Preis den muthigen Diener wieder erlangen, der ihm entflohen war. Alle Nachforschungen aber erwiesen sich fruchtlos. Ob Goûmi nur durch die Finsterniß geschützt wurde, oder in irgend welchem Schlupfwinkel Schutz gefunden hatte, jedenfalls mußten die Straßenräuber darauf verzichten, ihn wiederzufinden.

Was hatten die Dacoits von Goûmi übrigens zu befürchten, der in dieser wilden Gegend auf sich angewiesen und jetzt drei volle Stunden vom Puturia entfernt war, den er doch vor ihnen auf keinen Fall erreichen konnte?

Kâlagani traf danach seine Maßnahmen. Er verhandelte einen Augenblick mit dem Führer der Dacoits, der seine Befehle zu erwarten schien. Dann machten Alle Kehrt und wandten sich schnellen Schrittes dem Puturia zu.

Wenn diese Horde jetzt die Schlupfwinkel in den Vindhyas, wo sie seit einiger Zeit hauste, verlassen hatte, so lag der Grund darin, daß ihnen Kâlagani die demnächstige Ankunft des Oberst Munro in der Umgebung des Puturia-Sees gemeldet hatte. Durch wen aber? Eben durch jenen Hindu, der kein Anderer als Nassim war und seinerzeit der Karawane der Banjaris folgte. Und wem hatte er das gemeldet? Dem, dessen Hand im Verborgenen alle diese Vorgänge leitete.

Was schon geschehen und was noch geschah, war in der That das Resultat eines wohldurchdachten Planes, dem Oberst Munro und seine Begleiter zum Opfer fallen mußten. In Folge dessen konnten die Dacoits auch, als der Train [381] an das Südufer des Sees stieß, denselben unter Anführung Nassim's und Kâlagani's überfallen.

Der ganze Anschlag galt indeß nur dem Oberst Munro allein. Seine Begleiter waren ja in diesem trostlosen Landstriche nach Zerstörung ihres letzten Wagens nicht weiter zu fürchten. Er wurde also fortgeschleppt und befand sich um sieben Uhr Morgens schon sechs Meilen vom Puturia-See.

Man durfte wohl kaum annehmen, daß Oberst Munro von Kâlagani nach der Station Jubbulpore gebracht werden würde. Jener sagte sich auch selbst, daß er aus dem Gebiete der Vindhyas schwerlich herauskommen und, einmal in der Macht seiner Todfeinde, diesen kaum jemals wieder entrinnen werde.

Sein kaltes Blut hatte der nie verzagende Mann aber nie verloren. Er schritt, bereit auf Alles, was nur geschehen konnte, inmitten der wilden Hindus dahin und stellte sich, als ob er Kalagaul überhaupt nicht sehe. Der Verräther marschirte an der Spitze der Truppe, deren Anführer er in der That zu sein schien. An Flucht war nicht zu denken. Gefesselt wurde Oberst Munro zwar nicht, er sah aber auch weder vorn noch hinten, ebensowenig an den Seiten eine Lücke in der Escorte, durch die er hätte entschlüpfen können. Uebrigens mußte er ja auch im ersten Augenblicke wieder eingefangen werden. Er vergegenwärtigte sich nun seine Lage mit allen möglichen Folgen derselben. Daß Nana Sahib bei dem ganzen Vorgange seine Hand im Spiele habe, konnte gerade er nicht glauben, da für ihn der Nabab als todt galt. Irgend ein Waffengefährte des alten Rebellenführers aber, z. B. Balao Rao, konnte ja wohl vom Hasse getrieben werden, den Racheplan auszuführen, dem sein Bruder das ganze Leben geweiht hatte. Sir Edward Munro fühlte, daß es sich hierbei um etwas dergleichen handle.

Dabei dachte er auch an den armen Goûmi, den er nicht als Gefangenen der Dacoits sah. Vielleicht war es ihm ja gelungen, zu entfliehen, wahrscheinlich aber hatte er den Tod gefunden. Doch selbst wenn er heil und gesund geblieben, war auf Hilfe von seiner Seite schwerlich zu rechnen.

Wenn Goûmi nämlich, um Unterstützung zu holen, bis zur Station Jubbulpore gelaufen war, so kam er damit zu spät.

Hatte er dagegen Banks und die Anderen am Südende des Sees wieder zu finden gesucht, so konnten doch auch diese wegen Mangels an Munition nichts ausrichten. Sie beeilten sich vielleicht selbst, schnell nach Jubbulpore zu [382] kommen,... bevor sie das aber erreichten, war der Gefangene längst nach irgend einem unzugänglichen Schlupfwinkel in den Vindhyas gebracht worden.

Nach dieser Seite hin mußte er also jede Hoffnung aufgeben.

Oberst Munro betrachtete die Sachlage mit ruhigem Blicke. Er verzweifelte nicht, er war nicht der Mann dazu, sich gänzlich niederbeugen zu lassen, aber er liebte es, die Sachen nüchtern zu betrachten, statt sich einer unbegründeten Illusion hinzugeben, was seiner nicht würdig schien.

Die Horde Hindus marschirte mit größter Geschwindigkeit. Nassim und Kâlagani strebten offenbar danach, vor Sonnenuntergang an einer vorherbestimmten Stelle anzulangen, wo sich das Los des Obersten entscheiden sollte. Wenn der Verräther Eile hatte, so wünschte auch Sir Edward Munro ein Ende zu sehen, ganz gleichgiltig, welches das Schicksal ihm bestimmt hätte.

Nur einmal gegen Mittag ließ Kâlagani eine halbe Stunde Halt machen. Die Dacoits führten Lebensmittel mit sich und begannen am Ufer eines kleinen Baches zu essen.

Auch dem Oberst wurde etwas Brot und ein wenig getrocknetes Fleisch vorgelegt, was dieser nicht abwies. Er hatte seit dem vorigen Tage nichts genossen und wollte seinen Feinden nicht die Freude gönnen, ihn vielleicht in der letzten Stunde körperlich schwach zu sehen.

Bis hierher waren schon sechzehn Meilen unter forcirtem Marsche zurückgelegt worden. Auf Kâlagani's Befehl setzte sich Alles wieder in Bewegung und zog gegen Jubbulpore weiter.

Erst gegen fünf Uhr Nachmittags verließen die Dacoits die Landstraße und bogen von derselben nach links ab. Wenn Oberst Munro auf jenem Hauptwege noch einen Schimmer von Hoffnung hegen konnte, so sah er nun wohl ein, daß sein Geschick nur in den Händen Gottes lag.

Eine Viertelstunde später durchschritten Kâlagani und seine Begleiter einen Engpaß, der, nach dem wildesten Theile von Bundelkund zu, den Ausgang des Nerbudda-Thales bildete.

Diese Stelle lag etwa hundertfünfzig Kilometer von dem Pal von Tandit, im Osten jener Sautpourra-Berge, die man als die westliche Fortsetzung der Vindhyas ansehen kann.

Da erhob sich auf einem der letzten Bergausläufer die alte Veste Ripore, seit langer Zeit schon aufgegeben, weil sie, wenn die westlichen Engpässe von einem Feinde gesperrt wurden, auf keine Weise mehr mit Proviant und Schießbedarf


Da erhob sich die alte Veste Ripore. (S. 383.)

versorgt werden konnte. Das Fort thronte auf einem [383] der letzten Vorsprünge der Bergkette, einer Art natürlichem Sägewerk (ein zickzackförmig verlaufender Wall), von etwa fünfhundert Fuß Höhe und hing über eine größere Erweiterung des Passes, in der Mitte der benachbarten Bergzüge heraus. Man konnte nach demselben nur auf einem schmalen, in vielen Krümmungen am Felsen emporsteigenden Wege gelangen, der kaum für Fußgänger zugänglich war.

Auf der Kuppe des Berges lagen noch einige halb abgetragene Courtinen und einige Bastionen in Trümmern. Mitten auf einem freien Platz, den ein [384] Steingeländer gegen den Abgrund zu umschloß, erhob sich noch ein verfallenes Gebäude, früher die Kaserne der kleinen Garnison von Ripore, das man jetzt kaum noch als Stall verwandt hätte.

Von allen Geschützen, welche sonst mit ihren drohenden Mündungen durch die Schießscharten der Außenmauer lugten, war nur noch ein einziges, jetzt nach innen gerichtet, übrig, eine Kanone, die zu schwer war, um ohne große Mühe weggeschafft zu werden, und in zu schlechtem Zustande, um ihr einen besonderen Werth beizumessen. So stand sie verlassen noch auf der riesigen Lafette und [385] der Rost nagte langsam an dem eisernen Rohre. Sie bildete übrigens ihrer Größe und Dicke nach ein würdiges Seitenstück der berühmten Bronzekanone von Bhilsa, jenes ungeheuren Geschützes von sechs Metern Rohrlänge und einem Kaliber von vierundvierzig Centimetern, das zur Zeit Jehanghir's gegossen worden war. Auch hätte man sie mit der nicht minder bekannten Kanone von Bidjapour vergleichen können, deren Donner, nach Aussage der Eingebornen, alle Bauwerke der Stadt in ihren Grundvesten erschütterte.


»Sieh' mich besser an!« entgegnete der Hindu. (S 386.)

Diesen Anblick also bot die Veste von Ripore, wohin der Gefangene durch Kâlagani's Spießgesellen geführt wurde. Es war um sechs Uhr Abends, als er daselbst, nach einem Marsche von fünfundzwanzig Meilen, anlangte.

Oberst Munro sollte nicht lange darüber im Zweifel bleiben, welchem seiner Feinde er hier entgegentreten sollte.

Das verfallene Gebäude auf dem Platze diente noch einer Abtheilung Hindus als Wohnstätte. Als die neu angekommenen Dacoits längs der äußeren Mauer sich kreisförmig aufgestellt, traten jene aus dem Hause hervor.

Oberst Munro stand in der Mitte und wartete ruhig mit gekreuzten Armen.

Kâlagani trat aus der Menge hervor und ging den Anderen einige Schritte entgegen.

Ein einfach gekleideter Hindu erschien an der Spitze der Abtheilung.

Kâlagani blieb vor diesem stehen und verneigte sich. Der Hindu reichte ihm die Hand, welche er voll Ehrfurcht küßte. Ein Zeichen mit dem Kopfe bedeutete ihm, daß man mit seinen Diensten zufrieden war.

Dann schritt der Hindu auf den Gefangenen zu, langsam zwar, aber mit flammenden Augen und allen Zeichen einer kaum verhaltenen Wuth. Man hätte geglaubt, ein Raubthier schleiche sich nach seiner Beute.

Oberst Munro ließ jenen nahe kommen, ohne einen Schritt zurückzuweichen und fixirte denselben ebenso scharf, wie dieser den Gefangenen.

Jetzt war der Hindu nur noch fünf Schritte von ihm entfernt.

»Es ist blos Balao Rao, der Bruder des Nabab! sagte der Oberst mit verächtlichem Tone.

– Sieh mich besser an! entgegnete der Hindu.

– Nana Sahib! rief Oberst Munro, unwillkürlich zurückschreckend. Nana Sahib am Leben!...«

Ja wohl, der Nabab selbst, der alte Rebellenführer im Aufstand der Sipahis, der unversöhnliche Feind Munro's.

[386] Bei dem Gefechte in der Nähe des Pals von Tandit war nur sein Bruder Balao Rao gefallen.

Die außergewöhnliche Aehnlichkeit der zwei Männer, die beide ein pockennarbiges Gesicht und denselben Finger der nämlichen Hand amputirt hatten, täuschte damals die Soldaten von Luknow und Khanpur. Sie erkannten den Nabab in der Leiche seines Bruders, eine Verwechslung, die wohl Jedem passirt wäre. Als den Behörden damals also der Tod des Nabab gemeldet wurde, lebte Nana Sahib noch, nur Balao Rao war nicht mehr.

Diesen Umstand wußte sich Nana Sahib zunutze zu machen; er gewährte ihm ja eine fast absolute Sicherheit. Seinem Bruder wurde von der englischen Polizei gar nicht mit größerem Eifer nachgespürt. Die Greuelthaten von Khanpur legte man diesem ja nicht zur Last und er besaß auf die Hindus Central-Indiens auch nicht den verderblichen Einfluß, wie der Nabab.

Als Nana Sahib aber sich so hitzig verfolgt sah, beschloß, er so lange die Rolle eines Todten zu spielen, bis sich die passende Gelegenheit böte, wieder handelnd aufzutreten: er verzichtete also vorläufig auf alle revolutionären Pläne und brütete allein darüber, wie er sich selbst rächen könne. Noch niemals lagen die Verhältnisse dafür günstiger. Oberst Munro, den seine Sendboten fortwährend überwachten, hatte sich von Calcutta auf eine Reise begeben, die ihn nach Bombay führen sollte. War es da nicht möglich, ihn in das Gebiet der Vindhyas durch die Provinzen von Bundelkund zu locken? Nana Sahib setzte das voraus und schickte daher den getreuen Kâlagani zur Ausführung dieses Planes ab.

Der Nabab verließ bald den Pal von Tandit, der ihm nicht mehr sicher genug schien, und drang weiter in das Nerbudda-Thal bis zu den letzten Schluchten der Vindhyas ein. Da lag die Festung Ripore, die ihm auf den ersten Blick als geeigneter Zufluchtsort erschien, in dem die Behörden Den, welchen sie für todt hielten, schwerlich austreiben würden.

Nana Sahib zog sich also mit einigen, seiner Person ergebenen Hindus hierher zurück, erhielt bald Verstärkung durch eine Gesellschaft Dacoits, Gesellen, welche würdig waren, unter einem solchen Führer zu dienen, und wartete nun den Lauf der Dinge ab.

Auf was wartete er seit vier Monaten? Einzig darauf, daß Kâlagani seinen Auftrag durchführen und ihm die baldige Ankunft des Oberst Munro in den Vindhyas anmelden sollte, wo jener unter seine Gewalt kam.

[387] Nur einer Befürchtung konnte Nana Sahib sich nicht ganz entschlagen. Wenn die über die ganze Halbinsel verbreitete Kunde von seinem Tode auch zu Kâlagani's Ohren drang und dieser der Nachricht Glauben schenkte, konnte es ihn ja leicht veranlassen, auf sein Verrätherwerk gegenüber Oberst Munro zu verzichten.

Aus diesem Grunde sendete er noch einen anderen Hindu auf der Hauptstraße nach Bundelkund hin, eben jenen Nassim, der dem Steam-House auf dem Wege durch Scindia unter der Banjari-Karawane begegnete, sich in Verbindung mit Kâlagani zu setzen wußte und diesen über den wahren Sachverhalt aufklärte.

Nassim kehrte unmittelbar darauf nach der Veste Ripore zurück und theilte Nana Sahib Alles mit, was sich seit Kâlagani's Abreise aus Bhopal zugetragen hatte. Oberst Munro und seine Begleiter fuhren unter Kâlagnil's Führung in kleineren Tagereisen durch die Vindhyas, und am Puturia-See sollte man sie erwarten.

Alles war dem Nabab nach Wunsch gegangen. Der Tag der Rache kam heran.

Heut' Abend stand nun Oberst Munro allein, ohne Waffen, vor ihm.

Nach den ersten rasch gewechselten Worten sahen sich die beiden Männer scharf in's Gesicht, ohne nur eine Silbe zu sprechen.

Da, als dem Oberst plötzlich das Bild der Lady Munro recht lebhaft vor Augen trat, stürmte ihm das Blut heftig aus dem Herzen zum Kopfe – er wollte sich auf den Mörder der Opfer von Khanpur stürzen...

Nana Sahib trat nur einige Schritte zurück.

Drei Hindus fielen über den Oberst her und bändigten ihn, wenn auch mit großer Mühe.

Inzwischen hatte Sir Edward Munro die Herrschaft wieder über sich selbst gewonnen. Der Nabab erkannte das offenbar, denn er winkte den Hindus von ihm abzulassen.

Die beiden Feinde standen sich nun Auge in Auge gegenüber.

»Deine Landsleute, Munro, begann Nana Sahib, haben die hundertzwanzig Gefangenen von Peschawar vor die Mündungen ihrer Kanonen gebunden, und seit jenem Tage sind über zwölfhundert Sipahis desselben entsetzlichen Todes gestorben! Deine Landsleute metzelten ohne Schonung die Flüchtlinge von Lahore nieder, erdrosselten nach der Einnahme von Delhi drei Fürsten und neunundzwanzig andere Mitglieder der königlichen Familie; sie haben in Laknau [388] sechstausend der Unsrigen und dreitausend nach dem Feldzuge im Pendschab gemordet! Alles in Allem sind durch die Kanone, die Flinte, den Galgen und das Schwert hundertzwanzigtausend Officiere und Soldaten der Natifs-Armee und zweihunderttausend Eingeborne von Euch wegen jener Erhebung für unsere nationale Unabhängigkeit grausam hingeopfert worden!

– Zum Tode mit ihm! Zum Tode!« riefen die Dacoits und die Hindus, welche Nana Sahib umringten.

Der Nabab gebot ihnen Stillschweigen und wartete, daß Oberst Munro ihm antworten sollte.

Der Oberst erwiderte nichts.

»Du selbst, Munro, fuhr der Nabab fort, hast mit eigener Hand die Rani von Jansi, meine treue Gefährtin, getödtet... und sie ist noch nicht gerächt!«

Oberst Munro schwieg auch hierauf still.

»Endlich ist vor vier Monaten, sagte Nana Sahib, mein Bruder Balao Rao unter den mir bestimmten Kugeln gefallen... und mein Bruder ist noch nicht gerächt!

– Zum Tode! Zum Tode mit ihm!«

Die Rufe erklangen lauter als vorher und die ganze Horde schien nicht übel Lust zu haben, über den Gefangenen herzufallen.

»Ruhe! rief Nana Sahib, erwartet die Stunde des Gerichts!«

Alle schwiegen.

»Es war, nahm der Nabab wieder das Wort, einer Deiner Vorfahren, Munro, jener Hektor Munro, der zuerst jene gräßliche Strafe ersann und vollstrecken ließ, von der Deine Landsleute im Kriege von 1857 einen so schamlos schrecklichen Gebrauch gemacht haben. Er ließ schon früher viele Hindus, unsere Väter, unsere Brüder, lebend vor die Mündungen der Kanonen binden...«

Wieder brach ein Sturm des Unwillens in der blutgierigen Menge los, den Nana Sahib kaum zu besänftigen vermochte.

»Auge um Auge! Zahn um Zahn! sagte er. Du wirst denselben Tod erleiden, Munro, wie so viele der Unsrigen!«

Darauf drehte er sich um.

»Sieh hier diese Kanone!«

Der Nabab wies dabei nach dem gewaltigen, fünf Meter langen Geschütz, das mitten auf dem Platze stand.

[389] »Man wird Dich, fuhr er fort, vor die Mündung dieser Kanone binden! Sie ist geladen, und morgen mit Sonnenaufgang wird ihr Donner, wenn er in den tiefsten Gründen der Vindhyas widerhallt, Allen verkünden, daß Nana Sahib's Rachedurst endlich gelöscht ist!«

Oberst Munro sah den Nabab fest, aber mit einer Ruhe an, welche auch die Ankündigung seines nahen Todes nicht zu erschüttern vermochte.

»Gut, erwiderte er, Du thust nur, was ich gethan hätte, wenn Du in meine Hände gefallen wärst!«

Darauf stellte sich Oberst Munro freiwillig vor die Mündung des Geschützes, wo er mit auf dem Rücken gebundenen Händen mittelst starker Stricke angebunden wurde.

Noch lange Zeit nachher schmähten und schimpften ihn die erbärmlichen Dacoits und Hindus – als ob Sioux-Indianer in Nordamerika einen zum Tode Verurtheilten noch am Richtpfahl zu peinigen suchten.

Mit einbrechender Nacht verschwanden Nana Sahib, Kâlagani und Nassim in der alten Kaserne. Ermüdet verließ auch die übrige Bande allmählich den Platz und folgte ihren Führern nach.

Den Tod und den allmächtigen Gott vor Augen, blieb Sir Edward Munro allein zurück.

12. Capitel
Zwölftes Capitel.
Vor der Mündung der Kanone.

Die eingetretene Ruhe dauerte nicht lange an. Die Dacoits hatten sich zum Abendessen versammelt, und dabei hörte man sie unter der Wirkung des starken Araks, dem sie unmäßig zusprachen, laut durcheinander schreien und rufen.

Nach und nach legte sich der Höllenlärm. Der Schlaf übermannte die rohen Gesellen, welche schon der starke Tagesmarsch ermüdet hatte.

Sir Edward Munro fragte sich, ob man ihn bis zur Stunde seiner Todes unbewacht lassen und ob Nana Sahib nicht einen Getreuen zu seines [390] Beaufsichtigung heraussenden werde, obwohl er, mit dreifachen Stricken fest umwunden, gänzlich außer Stande war, sich nur im geringsten zu rühren.

Da trat gegen acht Uhr ein Hindu aus der Kaserne und schritt über den Platz hin.

Ihm war der Auftrag ertheilt worden, die Nacht über in Oberst Munro's Nähe zu bleiben.

Zuerst ging er schräg über den freien Platz auf die Kanone zu, um sich von der Anwesenheit des Gefangenen zu überzeugen, und prüfte die Stricke, welche fest angezogen waren, mit kräftiger Hand. Ohne sich an den Oberst selbst zu wenden, begann er ein kurzes Selbstgespräch.

»Zehn Pfund gutes Pulver! murmelte er. Es ist lange her, daß die alte Kanone von Ripore den Mund aufgethan hat, aber morgen, wird sie ihre Stimme hören lassen!...«

Diese Bemerkung lockte auf den stolzen Zügen Oberst Munro's nur ein verächtliches Lächeln hervor. Der Tod, auch in seiner entsetzlichsten Gestalt, konnte ihn nicht erschrecken.

Nachdem der Hindu die Mündung der Kanone besichtigt, trat er ein wenig zurück, strich mit der Hand über das dicke Bodenstück derselben und sein Finger lag einen Augenblick auf dem Zündloch, das mit Pulver völlig ausgefüllt war.

Der Hindu lehnte sich gegen den Knopf der Schwanzschraube. Er schien den Gefangenen ganz vergessen zu haben, der geduldig dastand wie ein Verurtheilter am Fuße des Galgens, unter dem die Fallthüre sich öffnen soll.

Ob aus Gleichgiltigkeit oder in Folge des genossenen Araks mag dahingestellt bleiben, begann der Hindu eine alte Volksweise aus Goundwana leise zu trällern. Er machte dabei Pausen und fing von Neuem an, wie Einer, der in halbtrunkenem Zustande seine Gedanken nicht zu sammeln vermag.

Eine Viertelstunde später erhob er sich wieder und strich mit der Hand über das Rohr der Kanone hin. Hierauf ging er um dieselbe herum, machte vor dem Oberst Munro Halt und murmelte, diesen ansehend, einige unverständliche Worte.


Noch lange Zeit schmähte ihn die erbärmliche Bande. (S. 390.)

Noch lange Zeit schmähte ihn die erbärmliche Bande. (S. 390.)


Wie instinctmäßig befühlte er noch einmal die Stricke, als wollte er sie noch fester anziehen; dann warf er den Kopf zurück, als wolle er sagen, daß hier Alles in Ordnung sei, und lehnte sich, zehn Schritte zur Linken des Geschützes, nachlässig an die Brustwehr.

[391] Zehn Minuten lang verharrte der Hindu in derselben Stellung, wobei er manchmal den Platz überblickte und manchmal sich hinausbog und in den Abgrund starrte, der vor der Festung gähnte.

Offenbar bemühte sich derselbe nach Kräften, nicht in Schlaf zu sinken. Endlich erlag er aber doch der Erschöpfung, glitt auf die Erde nieder und streckte sich neben der Brustwehr aus, wo er im tieferen Schatten gar nicht zu sehen war.

Uebrigens lagerte rings schon tiefes Dunkel. Am Himmel standen unbeweglich [392] dicke Wolken. Die Luft war so ruhig, als ob deren Moleküle miteinander verlöthet wären. Vom Thale drang kein Geräusch bis in diese Höhe. Ringsum herrschte vollkommene Stille.

Wenn das eine Nacht voll Todesangst für den Oberst Munro sein sollte, so muß man ihm zur Ehre sagen, daß er kaum einen Augenblick an die letzte Secunde seines Lebens dachte, wo die gewaltsam zerrissenen Gewebe des Leibes und seine verstümmelten Glieder weithin zerstreut werden sollten. Es handelte sich ja nur um einen Blitzschlag, und diese Aussicht war nicht dazu angethan, [393] eine Natur wie die seinige, welche vor nichts zurückbebte, allzusehr zu erregen. Nur wenige Stunden hatte er noch zu leben – der Rest eines Erdendaseins, das sich einst für ihn so glücklich gestaltet hatte. Sein ganzes Leben spiegelte sich in scharfen Bildern noch einmal in ihm wieder, die ganze Vergangenheit trat lebhaft vor seine Augen.


»Morgen mit Sonnenaufgang... Bum!« sagte der Hindu. (S. 395)

Das Bild der Lady Munro stand wieder vor ihm. Er sah, er hörte sie, die Unglückliche, die er nicht mit den Augen, aber mit den Herzen beweinte, wie in den ersten Tagen. Er fand noch einmal das junge Mädchen in jener schrecklichen Stadt Khanpur, in der Wohnung, wo er sie zuerst gesehen, bewundert, geliebt hatte. Die wenigen glückseligen Jahre, denen die entsetzlichste aller Katastrophen ein jähes Ende machte, lebten in seinem Geiste wieder auf. Schon war die halbe Nacht verstrichen, ohne daß Sir Edward Munro es gewahr wurde. Er hatte ganz im Andenken an sein Weib da unten gelebt, ohne daß ihn etwas davon abzuwenden vermochte. In drei Stunden drängten sich drei Jahre der glücklichen Vereinigung mit ihr zusammen. Ja, die Phantasie hatte ihn unwiderstehlich von diesem Plateau von Ripore hinweggetragen, ihn von der Mündung der Kanone befreit, welche sozusagen der erste Sonnenstrahl abfeuern sollte! Da erschien ihm aber der entsetzliche Ausgang der Belagerung von Khanpur, die Einsperrung der Lady Munro und ihrer Mutter in dem Bibi-Ghar, die Niedermetzelung ihrer unglücklichen Gefährten und endlich der Brunnenschacht, das Grab jener zweihundert Opfer, an dem er vier Monate vorher, zum letzten Male geweint hatte.

Und hier, wenige Schritte von ihm, hauste der scheußliche Nana Sahib, der Mörder Lady Munro's und so vieler anderer bejammernswerther Opfer! In seine Hand mußte er fallen, der danach gelechzt hatte, Gerechtigkeit zu üben an dem Scheusal, das dem Gesetze unerreichbar geblieben war. In einer Aufwallung blinden Zornes machte Oberst Munro eine Anstrengung, seine Fesseln zu brechen. Vergebens – die Stricke widerstanden und schnitten ihm nur in's Fleisch ein. Er stieß einen kurzen Schrei aus, aber nicht vor Schmerz, sondern vor Wuth.

Auf diesen Schrei erhob der im Schatten der Brustwehr liegende Hindu den Kopf und sammelte wieder seine Gedanken. Er erinnerte sich wohl, daß er den Gefangenen bewachen sollte. So erhob er sich, schritt vorsichtig auf Oberst Munro zu, legte diesem, wie um sich zu vergewissern, daß er noch da sei, die Hand auf die Schulter und sagte mit noch schlaftrunkener Stimme:

[394] »Morgen, mit Sonnenaufgang... Bum!«

Dann kehrte er nach der Brustwehr zurück, um einen bequemen Platz zu suchen, legte sich wieder auf die Erde nieder und sank bald in tiefen Schlummer.

Nach jener vergeblichen Anstrengung wurde der Oberst auffallend ruhig. Seine Gedanken nahmen wieder eine andere Richtung an und er vergaß ganz das Los, das seiner harrte. In Folge einer ganz natürlichen Ideenverbindung erinnerte er sich jetzt seiner Freunde, seiner Gefährten. Er fragte sich, ob sie vielleicht einer anderen Dacoits-Bande, wie solche zahlreich die Vindhyas durchstreifen, in die Hände gefallen seien, ob sie wohl dasselbe Geschick wie ihn ereilen sollte – und dieser Gedanke schnürte ihm das Herz zusammen.

Und doch sagte er sich gleichzeitig, daß dies nicht der Fall sein könne. Hätte der Nabab ihren Untergang beschlossen gehabt, so würde er Alle gleichmäßig verurtheilt und hingerichtet haben. Es hätte ja ganz seinem Charakter entsprochen, ihm die Todesangst durch die seiner Freunde zu vermehren. Nein, nein! Nur ihm – das bemühte er sich zu glauben, ihm allein galt der Haß und die Rache Nana Sahib's.

Was mochten aber Banks, Kapitän Hod, Maucler und die Uebrigen, wenn sie sich auf freiem Fuße befanden, wohl beginnen! Sollten sie die Straße nach Jubbulpore eingeschlagen haben, auf welcher sie der Stahlriese, den die Dacoits nicht zu zertrümmern vermochten, schnell weiter befördern konnte! Dort mußten sie Hilfe finden. Doch, was hätte das nützen sollen? Wie hätten sie wissen können, wo Oberst Munro sich jetzt befand? Niemand dachte gewiß an die Veste von Ripore, den Schlupfwinkel Nana Sahib's. Ja, wie konnte ihnen überhaupt dessen Name in den Sinn kommen? War Nana Sahib denn nicht todt für sie? War er nicht bei dem Gefechte neben dem Pal von Tandit gefallen? Nein, sie waren außer Stande, für den Gefangenen etwas zu thun.

Von Seiten Goûmi's war ebenso wenig etwas zu erwarten. Kâlagani mußte ja Alles daran liegen, sich dieses treuen Dieners zu entledigen, und wenn Goûmi nicht wieder erschienen war, so hatte er sicher schon vor seinem Herrn den Tod erlitten.

Es erschien ebenso unnütz, an irgend ein anderes Mittel zur Rettung zu denken. Oberst Munro gab sich nicht gern Illusionen hin. Er sah die Sachen an, wie sie lagen, und wandte seine Gedanken wieder jenen glücklichen Tagen zu, die sein ganzes Herz erfüllten.

[395] Er hätte nicht sagen können, wie viele Stunden lang er so träumte. Noch war es dunkle Nacht. Auf den Gipfeln der Berge im Osten erschien noch kein Schimmer, der den kommenden Tag verkündet hätte.

Es mochte indeß gegen vier Uhr Morgens sein, als dem Oberst Munro eine eigenthümliche Erscheinung auffiel. Bis jetzt, während dieser Rückkehr in sein früheres Leben, hatte er mehr in sich als um sich geblickt. Die Außenwelt, wovon bei der Finsterniß so wie so nur wenig zu erkennen war, hatte ihn nicht ablenken können; jetzt richteten sich plötzlich seine Augen nach einem bestimmten Punkte und alle in seiner Erinnerung aufgetauchten Bilder verblaßten vor einer eben so unerwarteten als unerklärlichen Erscheinung.

Oberst Munro bemerkte, daß er sich auf dem Plateau von Ripore nicht allein befand. Am Ende des Fußsteges, nahe dem Thore, blinkte ein noch ziemlich unbestimmtes Licht. Es schwankte hin und her, flackerte einmal auf, drohte dann zu verlöschen und blitzte wieder heller; als ob es von schwacher, unsicherer Hand gehalten würde.

In der gegenwärtigen Lage des Gefangenen konnte das Geringste von größter Bedeutung sein. Er folgte dem Lichtschein also mit den Augen, bemerkte, daß ein rußiger Dampf von demselben emporstieg und daß er sich weiter bewegte. Er schloß daraus mit Recht, daß jenes Licht sich nicht in einer feststehenden Laterne befinden könne.

»Einer meiner Freunde, sagte sich Oberst Munro... Vielleicht Goûmi!... doch nein... Er würde kein Licht bei sich führen, das ihn verrathen müßte... Aber was ist das?«

Die Flamme kam langsam näher. Sie bewegte sich zuerst längs der Mauer der alten Kaserne hin, und Sir Edward Munro fürchtete schon, es werde dadurch einer der im Innern schlafenden Hindus geweckt werden.

Das geschah jedoch nicht. Die Flamme kam unbemerkt vorüber. Dann und wann, wenn die Hand, die sie trug, sich fieberhaft bewegte, belebte sie sich und leuchtete in vollem Glanze.

Bald erreichte dieselbe die Mauer der Brustwehr und folgte dieser nach, wie die irrende Flamme des St. Elmsfeuers in einer Gewitternacht.

Da erst wurde es Oberst Munro möglich, eine Art Gespenst von ganz unbestimmter Form wahrzunehmen, einen »Schatten«, den jene Flamme geisterhaft beleuchtete. Das in dieser Weise dahinwandelnde Wesen war mit einem langen, weiten Stück Stoff bedeckt, das den Kopf und die Arme gänzlich verhüllte.

[396] Der Gefangene regte sich nicht. Er hielt den Athem an. Er fürchtete, die Erscheinung zu erschrecken und die Flamme, deren Schein jene in der Dunkelheit leitete, verlöschen zu sehen. Er war ebenso unbeweglich wie das schwere metallene Geschütz, das ihn in seinen gewaltigen Rachen zu halten schien.

Das Gespenst glitt inzwischen längs der Brustwehr fort. Konnte es dabei nicht an den Körper des eingeschlafenen Hindu stoßen? Nein, der Hindu lag zur Linken der Kanone, die Erscheinung nahte sich dagegen von der rechten Seite, blieb zuweilen stehen und ging dann mit kleinen Schritten weiter.

Endlich kam die Erscheinung so nahe, daß Oberst Munro sie deutlicher erkennen konnte.

Es war ein Wesen von mittlerer Größe, deren ganzen Körper ein einziges Stück Stoff vollständig verhüllte. Nur eine Hand sah aus demselben hervor, welche einen brennenden harzigen Zweig hielt.

»Ein Irrsinniger, der das Lager der Dacoits wahrscheinlich öfter zu besuchen pflegt, sagte sich Oberst Munro, und auf den Niemand besonders Achtung giebt! O, warum hat er statt des Feuers nicht einen Dolch in der Hand!... Vielleicht könnte ich?...«

Ein Irrsinniger war es zwar nicht, Oberst Munro hatte aber doch beinahe das Richtige getroffen.

Es war die Wahnsinnige aus dem Nerbudda-Thale, das Geschöpf ohne Bewußtsein, welches seit vier Monaten durch die Vindhyas irrte und von den abergläubischen Gounds stets ehrfurchtsvoll betrachtet und gastfreundlich aufgenommen wurde. Weder Nana Sahib, noch einer seiner Leute wußte, welchen Antheil die »wandelnde Flamme« an dem Ueberfall beim Pal von Tandit gehabt hatte. Sie begegneten ihr so häufig in den Berg-Districten von Bundelkund, daß ihre Anwesenheit Niemand auffiel. Schon wiederholt hatte sie bei ihrer unausgesetzten Wanderung die Schritte nach der Veste von Ripore gelenkt, und Keiner daran gedacht, sie von hier zu vertreiben. Der Zufall leitete sie stets bei den nächtlichen Wanderungen und der Zufall führte sie auch in dieser Nacht hierher.

Oberst Munro wußte von der Irrsinnigen bisher nichts. Von der, »wandelnden Flamme« hatte er niemals reden gehört, und doch machte das unbekannte Wesen, als es näher und näher kam, ihn vielleicht berühren, vielleicht ansprechen konnte, sein Herz heftiger schlagen.

[397] Allmählich näherte sich die Wahnsinnige der Kanone. Ihr Harzzweig verbreitete nur einen schwachen Schimmer und sie schien den Gefangenen gar nicht zu sehen, obwohl sie jetzt gerade vor ihm stand und ihre Augen hinter der Hülle, welche Oeffnungen hatte wie die Kutte eines bußfertigen Sünders, fast sichtbar waren.

Sir Edward Munro sprach kein Wort. Weder durch eine Bewegung des Kopfes, noch durch einen Laut versuchte er die Aufmerksamkeit der fremdartigen Erscheinung auf sich zu lenken.

Sie kehrte auch bald zurück und umschritt die gewaltige Kanone, auf deren Oberfläche ihr Harzbrand kleine Lichterchen hintanzen ließ.

Begriff die Wahnsinnige wohl, wozu diese einem Ungeheuer ähnliche Kanone dienen sollte, warum jener Mann an deren Mündung gefesselt war, welche mit dem ersten Sonnenstrahl Blitz und Donner speien sollte?

Gewiß nicht. Die »wandelnde Flamme« war auch jetzt wie gewöhnlich ohne Bewußtsein. Sie irrte diese Nacht, wie schon früher öfter, auf der Höhe von Ripore umher, die sie dann verlassen würde; sie schlich dann den gewundenen Pfad hinab, betrat wieder das Thal und begab sich dahin, wohin die augenblickliche, unüberlegte Laune sie eben führte.

Oberst Munro, der den Kopf frei bewegen konnte, folgte allen ihren Bewegungen. Er sah sie hinter dem Geschütz vorbeigehen. Von da wandte sie sich nach der steinernen Brustwehr, um ihr voraussichtlich bis zu der Stelle zu folgen, wo diese sich an das Eingangsthor anschloß.

So geschah es auch anfänglich; plötzlich aber hielt sie vor dem schlafenden Hindu inne und kehrte wieder um. Welches unsichtbare Band hinderte sie, weiter zu gehen? Wie dem auch sei, jedenfalls führte sie ein unerklärlicher Trieb zu dem Oberst Munro zurück, vor dem sie regungslos stehen blieb.

Diesmal schlug Sir Edward Munro's Herz so heftig, daß er unwillkürlich den Versuch machte, eine Hand zu bewegen, um sie darauf zu pressen.

Die »wandelnde Flamme« trat ganz nahe an ihn heran. Sie hatte den brennenden Zweig bis in Gesichtshöhe des Gefangenen erhoben, wie um ihn besser sehen zu können. Durch die Oeffnungen der Kutte leuchteten ihre Augen in unheimlicher Gluth.

Oberst Munro fühlte sich davon wunderbar ergriffen und verzehrte die Erscheinung fast mit dem Blicke.

[398] Da schob die linke Hand der Wahnsinnigen langsam die Falten ihrer Hülle auseinander, bald zeigte sich ihr Gesicht, und gerade da bewegte sie mit der rechten Hand den Zweig heftiger, der in Folge dessen einen helleren Schein verbreitete. Ein Schrei – ein halb unterdrückter Schrei – entrang sich der Brust des Gefangenen.

»Laurence! Laurence!«

Jetzt fürchtete er selbst, den Verstand verloren zu haben!... Einen Augenblick schloß er die Augen.

Es war Lady Munro, ja, Lady Munro selbst, die hier vor ihm stand.

»Laurence... Du... Du!« wiederholte er.

Lady Munro antwortete nichts. Sie erkannte ihn offenbar nicht wieder. Sie schien ihn gar nicht zu verstehen.

»Laurence, o Gott, wahnsinnig! Wahnsinnig, aber doch noch am Leben!«

Eine noch so vollkommene Aehnlichkeit konnte Sir Edward Munro unmöglich täuschen. Das Bild seines jungen Weibes war zu tief in sein Gedächtniß eingegraben. Nein, auch nach einer neunjährigen Trennung, die er für eine Trennung auf Ewigkeit halten mußte, fühlte er es, das war Lady Munro, wenn auch etwas verändert, doch immer noch schön; das war Lady Munro, durch ein Wunder den Henkern Nana Sahib's entgangen, die hier vor ihm stand.

Die Unglückliche fiel, nachdem sie Alles versucht, ihre Mutter, die vor ihren Augen ermordet wurde, zu vertheidigen, von einer Kugel getroffen zur Erde. Schwer, doch nicht tödtlich verletzt, wurde sie in bewußtlosem Zustande, aber als eine der Letzten in den Brunnenschacht zu Khanpur auf die armen Opfer geworfen, die jenen schon fast ausfüllten. Mit Einbruch der Nacht drängte sie vielleicht der Erhaltungstrieb, den Rand des Brunnens zu erklimmen – aber nur ein Instinct, denn den Verstand hatte sie in Folge des Anblicks der gräßlichen durchlebten Scenen schon verloren.


»Laurence! Laurence!« (S. 399.)

Nach Allem, was sie seit Beginn jener Belagerung, in dem Gefängnisse des Bibi-Ghar, auf dem Platze, wo das Gemetzel stattfand, erlebt, wo sie es sehen mußte, wie ihre Mutter schonungslos erwürgt wurde, ausgestanden – war sie wahnsinnig geworden, aber sie lebte noch, und ebenso fand Oberst Munro sie jetzt wieder. Als Irrsinnige war sie dem Brunnenschacht entstiegen, in der Umgebung umhergestreift und hatte die Stadt verlassen, als Nana Sahib und die Seinigen nach der blutigen Execution daraus entflohen. So stürmte sie ziellos in der Finsterniß quer durch das Land hin. Die Stadt [399] umgehend und die bevölkerten Landstriche meidend, dann und wann von einem Raiot mitleidig aufgenommen und als ein des Verstandes beraubtes Wesen fast verehrt, war die Wahnsinnige bis nach den Sautpourra-Bergen, bis nach den Vindhyas gewandert. So irrte sie noch heute, seit neun Jahren todt für Alle, aber in der Erinnerung von der Feuersbrunst bei der Belagerung getrieben, rastlos umher.

Ja, sie war es wirklich!

Oberst Munro rief ihren Namen noch einmal... sie antwortete nicht. [400] O, was hätte er nicht darum gegeben, sie jetzt in seine Arme pressen, sie aufheben, davon tragen, mit ihr ein neues Leben anfangen, ihr durch seine liebende Sorgfalt den Verstand wieder geben zu können!... Und er stand hier an diese Masse todten Metalls gebunden; an den Armen lief ihm das Blut von den Einschnitten der Stricke herab, und keine Macht der Erde konnte ihn aus dieser furchtbaren Lage retten!


Eine furchtbare Detonation. (S. 403.)

Welche unnennbaren Qualen zermarterten ihn jetzt, die selbst der grausame Nana Sahib kaum hätte ersinnen können! O, und wie würde das Scheusal [401] gejubelt haben, wenn der Nabab wußte, daß auch Lady Munro in seiner Gewalt war! Was hätte er wohl nicht erdacht, um die Folter des Gefangenen zu erschweren!

»Laurence! Laurence!« rief Oberst Munro noch einmal.

Er wagte sogar ziemlich laut zu rufen, auf die Gefahr hin, den wenige Schritte von ihnen schlafenden Hindu zu erwecken, die in der Kaserne liegenden Dacoits, vielleicht gar Nana Sahib selbst herbeizulocken.

Ohne die Worte zu verstehen, starrte ihn Lady Munro jedoch wie vorher mit unstetem, stechendem Blicke an. Sie sah die gräßlichen Leiden nicht, die der Unglückselige erduldete, der sie in dem Augenblicke wiederfand, wo die nächste Stunde ihm den Tod bringen sollte. Sie wiegte nur mit dem Kopfe hin und her, als wolle sie keine Antwort geben.

So verflossen einige Minuten; dann ließ sie die Hand sinken, die Hülle schloß sich wieder vor dem Gesicht, und sie trat einen Schritt zurück.

Oberst Munro glaubte schon, daß sie wieder davon gehen wollte.

»Laurence!« rief er noch einmal, als sollte es der letzte Abschiedsgruß sein.

Doch nein, Lady Munro dachte noch gar nicht daran, das Plateau von Ripore zu verlassen, und so entsetzlich schon des Gefangenen Lage war – es sollte noch schlimmer kommen.

Lady Munro blieb stehen. Offenbar erregte diese Kanone ihre Aufmerksamkeit. Vielleicht erweckte dieselbe in ihr eine unerklärliche Erinnerung an die Belagerung von Khanpur. Sie kam also langsamen Schrittes zurück. Ihre Hand, welche den brennenden Zweig hielt, strich auf dem metallenen Rohre hin, und es genügte ja ein Funke, der auf das Zündloch fiel, den Schuß abzufeuern.

Sollte Oberst Munro gar von ihrer Hand sterben?

Er konnte, er mochte den Gedanken nicht ertragen. Nein, nun wollte er vor den Augen Nana Sahib's und seiner Helfershelfer in den Tod gehen.

Munro wollte rufen, wollte selbst seine Henker wecken!...

Da fühlte er von dem Innern des Geschützes her eine Hand die seinen drücken, die ja auf dem Rücken festgebunden waren. Das war offenbar eine Freundeshand, die seine Fesseln zu lösen versuchte. Bald verrieth ihm die Kälte einer Stahlklinge, welche vorsichtig zwischen den Stricken und seinen Händen eindrang, daß in der Seele dieses ungeheueren Geschützes sich – Gott weiß, durch welches Wunder! – ein Befreier befinden mußte.

[402] Er konnte sich nicht täuschen! Die Stricke, die ihn hielten, wurden zerschnitten!...

In einer Secunde war das geschehen! Er konnte einen Schritt vorwärts thun... Er war frei! So sehr er sich zu beherrschen wußte, er mußte jetzt sehr an sich halten, denn ein Ausruf hätte ihn wieder in's Verderben gestürzt.

Aus dem Geschütze ragte eine Hand hervor... Munro ergriff diese, zog, was er konnte, und ein Mann, der mühsam aus der Rohrmündung herauskroch, fiel zu seinen Füßen nieder.

Es war Goûmi.

Der treue Diener hatte, nachdem es ihm gelungen, zu entfliehen, die Straße nach Jubbulpore eingeschlagen, auf der auch Nassim mit seinen Leuten dahinzog. Da, wo der Weg nach Ripore abzweigt, mußte er sich noch einmal verbergen. Er hörte von einer daselbst lagernden Gruppe Hindus von Oberst Munro sprechen, den die Dacoits unter Kâlagani's Führung nach der genannten Veste schleppen würden, wo Nana Sahib ihn mit der großen Kanone erschießen lassen wolle. Ohne Zögern war Goûmi auf einem schmalen, sich vielfach windenden Fußpfade davongeschlichen und hatte den Platz an dem Fort erreicht, als sich Niemand daselbst befand. Da kam ihm der heroische Gedanke, in das ungeheuere Geschütz zu kriechen, seinen Herrn, wenn es anging, auf diese Weise zu befreien oder mit ihm zusammen denselben Tod zu erleiden.

»Es wird bald Tag werden, sagte Goûmi mit verhaltener Stimme. Wir müssen fliehen!

– Und Lady Munro?«

Der Oberst zeigte auf die Wahnsinnige, welche wie versteinert dastand. Ihre Hand ruhte auf dem Bodenstück der Kanone.

»Wir tragen sie fort... Herr...« antwortete Goûmi, ohne eine weitere Erklärung zu verlangen.

Es war zu spät.

In dem Augenblick, als der Oberst und Goûmi sich ihr näherten, um sie mitzunehmen, klammerte sie sich mit der Hand, so gut es ging, an das Geschütz, der brennende Zweig fiel dabei auf dieses nieder und eine furchtbare Detonation, welche das Echo der Vindhyas noch verdoppelte, erfüllte mit Donnerrollen das ganze Thal der Nerbudda.

[403]
13. Capitel
Dreizehntes Capitel.
Stahlriese!

Bei dem Krachen des Schusses fiel Lady Munro ohnmächtig in die Arme ihres Gatten.

Ohne einen Augenblick zu verlieren, eilte der Oberst mit ihr und gefolgt von Goûmi quer über den Vorplatz. Dem Wächter, der, durch den Krach erweckt, emporsprang, bohrte Goûmi sein langes Messer in die Brust. Dann stürzten Beide nach dem kleinen Fußwege, der nach der Straße von Ripore führte.

Sir Edward Munro und Goûmi hatten kaum das Thor hinter sich, als die plötzlich erwachte Truppe Nana Sahib's schon den Platz vor ihrer Kaserne erfüllte.

Die Hindus wußten zuerst nicht, was sie thun sollten, wodurch die Flüchtlinge einen kleinen Vorsprung bekamen.

Nana Sahib selbst verweilte nämlich nur selten die Nacht hindurch auf der Veste. Auch am letzten Abend hatte er, nachdem Oberst Munro vor die Kanonenmündung gebunden worden war, einige Führer der Goudwana-Stämme aufgesucht, was er am hellen Tage gern vermied. Jetzt war aber schon die Stunde herangekommen, wo er gewöhnlich zurückkehrte, und er konnte jeden Augenblick erscheinen.

Kâlagani, Nassim, die Hindus, die Dacoits, zusammen wohl über hundert Mann, waren bereit, den Spuren des Flüchtlings zu folgen. Nur ein Gedanke hielt sie davon ab. Sie wußten ja gar nicht, was überhaupt vorgefallen war. Die Leiche des Hindus, der bei dem Oberst gewacht hatte, konnte ihnen natürlich keinen Aufschluß geben. Sie vermochten also nichts Anderes anzunehmen, als daß durch einen unerklärten Zufall vor der Hinrichtungsstunde Feuer an das Geschütz gekommen und von dem Gefangenen nichts weiter mehr übrig sei, als unförmliche, zerrissene Reste.

Kâlagani's und der Anderen Wuth machte sich in lauten Verwünschungen Luft. Weder Nana Sahib, noch einer von ihnen hatte sich also am Anblick des Oberst Munro in dessen letzten Minuten weiden können.

[404] Der Nabab war indeß nicht fern. Er mußte die Detonation gehört haben und kehrte darauf hin jedenfalls sofort nach der Veste zurück.

Was sollte man ihm zur Antwort geben, wenn er wegen des der Obhut seiner Leute anvertrauten Gefangenen Rechenschaft forderte?

Solche Gedanken beschäftigten Alle und verursachten einige Zögerung, wodurch die Flüchtlinge Zeit gewannen, unbemerkt ein gutes Stück von der Veste wegzukommen.

Nach dieser wunderbaren Rettung von bester Hoffnung beseelt, eilten Sir Edward Munro und Goûmi den vielfach gewundenen Steg hinab, so schnell sie konnten. Die kräftigen Arme des Obersten fühlten die noch immer ohnmächtige Lady Munro kaum. Uebrigens war auch sein Diener zur Hand, ihm zu Hilfe zu kommen.

Fünf Minuten nach Durchschreitung des Thores hatten Beide schon die Hälfte des Weges bis zum Thale hinab hinter sich. Inzwischen wurde es heller und heller und das Tageslicht drang auch schon in die Tiefe hinab.

Da vernahmen sie über sich ein lautes Geschrei.

Ueber die Brustwehr gebeugt, hatte Kâlagani, wenn auch undeutlich, doch zwei entfliehende Männer bemerkt. Einer derselben konnte niemand Anderes sein, als der Gefangene Nana Sahib's.

»Munro! Das ist Munro!« rief Kâlagani, schäumend vor Wuth.

Die ganze Rotte brach nun eiligst zur Verfolgung auf.

»Wir sind gesehen worden! sagte der Oberst, ohne seine Schritte zu hemmen.

– Die Ersten halte ich auf! rief Goûmi. Sie werden mich umbringen. Sie gewinnen aber Zeit genug, um die Straße zu erreichen.

– Wir werden entweder Beide fallen oder Beide davon kommen!« entgegnete Oberst Munro.

Der Oberst und Goûmi hatten ihre Schritte beschleunigt. Auf dem unteren, minder steilen Ende des Steges angelangt, konnten sie sogar laufen. Jetzt brauchten sie nur noch hundert Schritt bis zur Straße von Ripore, welche nach der großen Landstraße hinführte, auf welcher sie leichter entfliehen konnten.

Freilich wurde da auch die Verfolgung leichter. Ein Versteck zu suchen, wäre unnütz gewesen, denn sie wären nur zu bald aufgefunden worden. Es blieb ihnen also nichts übrig, als den Hindus möglichst weit zuvorzukommen und eher, als sie, den letzten Paß der Vindhyas hinter sich zu lassen.

[405] Oberst Munro's Entschluß stand für jeden Fall fest. Lebend wollte er unbedingt nicht wieder in Nana Sahib's Hände fallen. Auch Die, welche das Schicksal ihm eben erst wiedergegeben, sollte durch seine Hand von Goûmi's Dolche den Tod finden, und dann wollte er diesen sich selbst in's Herz stoßen.

Beide hatten einen Vorsprung von etwa fünf Minuten. Als die ersten Hindus durch das Thor stürmten, gewahrten Oberst Munro und Goûmi schon den breiteren Weg, der sich an den Fußsteg anschloß und der schon in der Entfernung einer Viertelmeile auf die Landstraße auslief.

»Hurtig, Herr! rief Goûmi, bereit den Oberst mit seinem eigenen Leib zu decken. Vor Ablauf von fünf Minuten befinden wir uns auf der Straße von Jubbulpore!

– Gott gebe, daß wir da Hilfe finden!« murmelte Oberst Munro.

Das Rufen und Schreien der Hindus wurde immer deutlicher hörbar.

Gerade als die Flüchtlinge den Weg im Thale betraten, lenkten raschen Schrittes zwei Männer am Anfang des Bergpfades ein.

Es war hell genug, um sich erkennen zu können, und Beide riefen fast gleichzeitig mit haßerfüllter Stimme:

»Munro!

– Nana Sahib!«

Auf den Donner der Kanone hin war der Nabab herbeigeeilt, um zu sehen, was auf der Veste vorging. Er konnte nicht begreifen, warum sein Befehl vorzeitig ausgeführt worden sei.

Ein Hindu begleitete ihn; bevor dieser aber einen Schritt oder eine Bewegung machen konnte, lag er schon zu Füßen Goûmi's von demselben Messer zu Tode getroffen, das die Fesseln des Oberst zerschnitten hatte.

»Hierher! rief Nana Sahib seinen Leuten zu, welche den Fußpfad herabkamen.

– Ja, zu Dir!« antwortete Goûmi.

Und schneller als der Blitz stürzte er auf den Nabab.

Er beabsichtigte, wenn es ihm nicht gelang, jenen mit dem ersten Dolchstoß zu tödten, wenigstens mit ihm zu kämpfen, um Oberst Munro Zeit zu gewähren, die Straße zu erreichen; die Eisenhand des Nabab hatte aber die seinige gepackt und das Messer war ihm dabei entfallen.

Wüthend, sich entwaffnet zu sehen, faßte Goûmi darauf seinen Gegner um den Leib, drückte ihn fest an sich und trug ihn fort, um sich mit demselben [406] in den ersten Abgrund zu stürzen. Inzwischen kamen Kâlagani und die Uebrigen immer näher – jetzt erreichten sie schon das Ende des Bergpfades, und nun war kaum noch Hoffnung, ihnen zu entrinnen.

»Aushalten! Aushalten! rief Goûmi. Einige Minuten nehme ich's mit den Kerlen auf und gebrauchte ihren Nabab als Schild! Fliehen Sie, Fliehen Sie ohne mich!«

Eine höchstens drei Minuten lange Wegstrecke trennte jetzt die Flüchtlinge noch von ihren Verfolgern, und der Nabab rief mit halberstickter Stimme nach Kâlagani.

Da hörten jene plötzlich zwanzig Schritte vor sich laute Rufe.

»Munro! Munro!« klang es von dort her.

Auf der Straße von Ripore erschien Banks mit Kapitän Hod, Maucler, dem Sergeanten Mac Neil, Fox und Parazard, und hundert Schritte von ihnen auf der breiten Landstraße stand der Stahlriese, von dem ein lustiger Rauch emporwirbelte, und der mit Storr und Kâlouth die Uebrigen erwartete.

Nach Zerstörung des letzten Wagens vom Steam-House war dem Ingenieur und seinen Gefährten nur noch Eines übrig geblieben; sie mußten den Elephanten, dem die Dacoits nichts hatten anhaben können, als Gefährt zu benutzen suchen. Auf demselben zusammengedrängt, waren sie auch sobald als möglich vom Puturia-See weg und die Landstraße nach Jubbulpore hingefahren. Als sie eben an dem nach der Veste führenden Seitenwege vorüberdampfen wollten, hatten, sie jedoch den furchtbaren Knall hoch über sich gehört und in Folge dessen angehalten.

Eine Ahnung, ein Instinct, wenn man so sagen will, drängte sie, jenen Seitenweg zu verfolgen, ohne daß sie hätten sagen können, was sie dabei hofften.

Wie dem auch sei, jedenfalls sahen sie sich plötzlich dem Oberst Munro gegenüber, der sie anrief!

»Rettet, rettet nur Lady Munro!

– Und haltet Nana Sahib fest, den echten Nana Sahib!« rief Goûmi.

Er hatte mit den letzten Kräften den Nabab zur Erde geworfen, den Kapitän Hod, Mac Neil und Fox jetzt packten.

Ohne eine weitere Erklärung zu verlangen, eilten Banks und die Uebrigen zu dem Stahlriesen auf der Landstraße.

Auf Anordnung des Obersten, der ihn den englischen Behörden ausliefern wollte, wurde Nana Sahib am Halse des Elephanten festgebunden. Lady Munro


Die Verfolgung des Stahlriesen. (S. 410.)

brachte man in dem Thürmchen unter, wo ihr Gatte neben ihr Platz nahm. Einzig mit seinem Weibe beschäftigt, die allmählich wieder erwachte, glaubte er [407] auch schon einen Schimmer von Vernunft in ihr aufdämmern zu sehen.

Der Ingenieur und seine Gefährten hatten sich rasch auf den Rücken des Stahlriesen geschwungen.

Es war jetzt heller Tag geworden. Schon zeigten sich die ersten Hindus höchstens etwa dreihundert Schritte weiter rückwärts. Auf jeden Fall mußte man suchen, den vorgeschobenen Posten des Militär-Cantonnements von Jubbulpore, [408] welcher vor die äußersten Ausläufer der Vindhyas gelegt ist, vor ihnen zu erreichen.

Der Stahlriese hatte Ueberfluß an Wasser und Brennmaterial, um ihn unter starkem Drucke zu halten und mit größter Geschwindigkeit hindampfen zu lassen. Auf der vielfach gewundenen Straße konnte man freilich nicht blind darauf zufahren.

Immer lauter erscholl das Geschrei der Hindus, die ihm offenbar näher kamen.

[409] »Wir werden uns vertheidigen müssen, sagte der Sergeant Mac Neil.

– Daran soll's nicht fehlen!« versicherte Kapitän Hod.

Noch hatte man etwa ein Dutzend Schüsse vorräthig. Es erschien also dringend gerathen, keine einzige Kugel zu vergeuden, denn die Hindus waren bewaffnet, und es kam darauf an, sie in gebührender Entfernung zu halten.


»Armes, armes Geschöpf!« klagte Kapitän Hod. (S. 413.)

Da knatterten ein Dutzend Schüsse. Die Kugeln pfiffen über den Stahlriesen hinweg, bis auf eine, die das Rüsselende traf.

»Schießt nicht, wir dürfen nur sicher gezielt Feuer geben! rief Kapitän Hod. Schont die Kugeln! Sie sind noch zu weit!«

Der Stahlriese hatte aber bald genug einen steileren, engen Paß erreicht, der sich zwischen zwei hohen Felsabhängen dahinwand.

Jetzt mußte die Geschwindigkeit vermindert und nur mit größter Vorsicht weiter gefahren werden. In Folge dieser Verzögerung gewannen die Hindus auch das verlorene Terrain allmählich wieder. Wenn sie auch keine Hoffnung hatten, Nana Sahib, den jeden Augenblick ein Dolchstoß bedrohte, zu retten, so wollten sie wenigstens seinen Tod rächen.

Bald krachten von neuem einige Schüsse, ohne einen von Denen, die der Stahlriese dahinführte, zu treffen.

»Die Sache wird ernsthaft! sagte Kapitän Hod, indem er die Büchse anlegte. Achtung!«

Goûmi und er feuerten gleichzeitig. Zwei der nächsten Hindus wälzten sich, in die Brust getroffen, am Boden.

»Zwei weniger, sagte Goûmi, der seine Waffe wieder lud.

– Ja, zwei Procent! rief Kapitän Hod. Das ist nicht genug. Wir müssen mehr erhandeln!« Und sie streckten drei andere Hindus nieder.

Durch den gewundenen Paß ging die Fahrt aber nicht schnell vorwärts. Denn während die Straße enger wurde, stieg sie, wie erwähnt, auch ziemlich steil an. Noch eine halbe Meile, dann war die letzte Rampe der Vindhyas überwunden und der Stahlriese konnte sich nur noch hundert Schritte vor dem Wachtposten befinden, von wo aus die Station Jubbulpore sichtbar sein mußte.

Kâlagani wußte übrigens nicht, daß Kapitän Hod und den Anderen bald die Patronen ausgehen und Büchsen und Flinten in ihren Händen zu nutzlosen Waffen werden mußten.

In der That hatten die Fliehenden schon die Hälfte ihrer Munition aufgebraucht und kamen nun bald in die Lage, sich nicht mehr vertheidigen zu [410] können. Doch krachten jetzt wiederum vier Schüsse und vier Hindus stürzten zur Erde. Kapitän Hod und Fox besaßen nur noch zwei Kugeln.

Da stürmte Kâlagani, der sich bisher immer etwas gedeckt gehalten hatte, wuthverblendet weiter vor.

»Aha! Du! die letzte gilt Dir!« sagte Kapitän Hod und zielte in größter Ruhe.

Die Kugel flog aus der Büchse und traf den Verräther mitten in die Stirn. Zwecklos bewegten sich seine Hände noch einmal in der Luft, dann taumelte er und brach leblos zusammen.

Die Uebrigen nahmen jedoch sehr bald wahr, daß das Feuern aufhörte, und setzten jetzt Alles daran, den Elephanten selbst, von dem sie eine Strecke von höchstens fünfzig Schritt noch trennte, einzuholen und anzugreifen.

»Herunter! Herunter! rief Banks.

Wie die Dinge lagen, schien es allerdings rathsamer, bis zu dem nicht mehr entfernten Wachtposten zu laufen.

Oberst Munro sprang, sein Weib in den Armen haltend, auf die Straße.

Kapitän Hod, Maucler, der Sergeant und die Uebrigen kletterten sofort herab. Nur Banks war in dem Thürmchen geblieben.

»Und dieser Schurke? rief Kapitän Hod, auf Nana Sahib zeigend, der an dem Halse des Elephanten festgebunden lag.

– Ueberlasse das mir, lieber Kapitän!« antwortete Banks mit eigenthümlichem Tone.

Darauf drehte er noch einmal an dem Regulator und stieg nun selbst herab. Alle entflohen, den Dolch in der Hand und entschlossen, ihr Leben so theuer als möglich zu verkaufen.

Der Stahlriese rollte, obwohl sich selbst überlassen, unter dem Drucke des Dampfes die Straße weiter hinauf; da ihn aber keine verständige Hand mehr leitete, stieß er bald gegen die Felswand zur Linken des Weges, wie ein Widder, der den Gegner mit dem Kopfe anrennt, und sperrte, plötzlich angehalten, die Straße fast vollständig.

Banks und die Anderen waren schon weitere dreißig Schritt vorausgeeilt, als sich die Hindus in Menge auf den Stahlriesen stürzten, um Nana Sahib zu befreien.

Plötzlich erschütterte ein furchtbares Krachen, wie ein heftiger Donnerschlag, die Luft und hallte in den benachbarten Bergen wider.

[411] Banks hatte beim Verlassen des Thürmchens die Sicherheitsventile des Kessels belastet, so stark er konnte. Der Dampfdruck stieg dadurch ungeheuer an, und als der Stahlriese gegen die Felswand rannte, sprengte derselbe, da er durch die Cylinder keinen Ausgang mehr fand, den Kessel, dessen Trümmer nach allen Richtungen hin verstreut wurden.

»Armer Riese! klagte Kapitän Hod, Du erlittest den Tod, um uns zu retten!«

14. Capitel
Vierzehntes Capitel.
Kapitän Hod's fünfzigster Tiger.

Oberst Munro und seine Freunde und Reisebegleiter hatten jetzt nichts mehr zu fürchten, weder von Seiten des Nababs und der Hindus, die seinem Befehle unterstanden, noch von der der Dacoits, die unter Jenes Führung eine gefürchtete Bande in diesem Theile Bundelkunds gebildet hatten.

Bei dem Donner der Explosion waren die Soldaten des Wachpostens vor Jubbulpore in großer Zahl herausgeeilt. Was von Nana Sahib's jetzt führerlosen Spießgesellen noch übrig war, hatte eiligst die Flucht ergriffen.

Oberst Munro gab sich zu erkennen. Eine halbe Stunde später gelangten Alle nach der Station, wo sie in Ueberfluß fanden, was sie bedurften, und vorzüglich Speise und Trank, wonach Jeder lechzte.

Lady Munro wurde bis zu der Zeit, wo sie nach Bombay gebracht werden konnte, in einem comfortablen Hôtel verpflegt. Dort hoffte Sir Edward Munro auch die Seele Derjenigen wieder zum Leben zu erwecken, die jetzt nur leiblich lebte und für ihn so gut wie todt blieb, so lange sie nicht die Vernunft wieder erlangte.

Im Grunde zweifelte keiner seiner Freunde an einer baldigen Heilung. Alle sahen mit Vertrauen einem Ereignisse entgegen, das offenbar allein das sonst freudelose Leben des Obersten umzugestalten vermochte.

Man kam überein, schon am folgenden Tage nach Bombay weiter zu reisen. Der erste Eisenbahnzug sollte die Insassen des Steam-Houses nach der [412] Hauptstadt des westlichen Indiens führen. Diesmal freilich sollte sie die gewöhnliche schnellfüßige Locomotive befördern, und nicht mehr der unermüdliche Stahlriese, von dem nur noch unförmliche Trümmer übrig waren.

Doch weder Kapitän Hod, sein enthusiastischer Verehrer, oder Banks, sein geistvoller Schöpfer, noch irgend ein anderer Theilnehmer der Expedition konnte jemals das »treue Thier« vergessen, daß sie sich allmählich als lebend anzusehen gewöhnt hatten. Noch lange hallte das Krachen der Explosion, die es endlich vernichtete, in ihrer Erinnerung wieder.

Es kann demnach kaum Wunder nehmen, daß Banks, Kapitän Hod, Maucler, Fox und Goûmi Jubbulpore nicht verlassen wollten, ohne den Schauplatz der Katastrophe noch einmal zu besichtigen.

Von der Dacoitsbande war ja bestimmt nichts mehr zu fürchten. Um jedoch keine Vorsicht aus den Augen zu setzen, nahmen der Ingenieur und seine Gefährten von dem Wachposten vor den Vindhyas eine Abtheilung Soldaten zur Deckung mit und erreichten gegen elf Uhr den Eingang des Passes.

Hier lagen zunächst fünf bis sechs schrecklich verstümmelte Leichen. Es waren das die der ersten Hindus, welche den Stahlriesen erklettert hatten, um Nana Sahib's Fesseln zu lösen. Von der übrigen Bande fand sich keine Spur.

Den Stahlriesen selbst hatte die Explosion seines Kessels vollkommen zerstört. Eine seiner riesigen Tatzen fand sich weit weggeschleudert wieder. Ein Theil des gegen die Bergwand gestoßenen Rüssels hatte sich in eine Gesteinsspalte eingebohrt und ragte gleich einem Riesenarme daraus hervor. Ueberall lagen Blechstücke, Schrauben, Bolzen, Roststäbe, Cylinderbruchstücke und Reste der Treibstangen-Verbindungen umher. Im Moment der Explosion, als die überlasteten Ventile jeden Abfluß desselben verhinderten, mußte der Dampf eine ungeheuere Spannung, mindestens von zwanzig Atmosphären, erreicht haben.

Und jetzt war von dem künstlichen Elephanten, dem Stolze der Bewohner des Steam-Houses, von dem Kolosse, der die abergläubische Bewunderung der Hindus erregte, von dem mechanischen Meisterwerke des Ingenieurs Banks, dem verwirklichten Traume des phantastischen Rajahs von Bouthan, nichts mehr übrig, als ein unkenntliches, werthloses Gerippe!

»Armes, armes Geschöpf! – Diesen Ausruf des Bedauerns konnte Kapitän Hod angesichts des Cadavers seines geliebten Stahlriesen nicht unterdrücken.

– O, da bauen wir einen anderen... mächtigeren Nachfolger! sagte Banks.

[413] – Das glaube ich wohl, erwiderte Kapitän Hod mit einem tiefen Seufzer, er ist es aber doch nicht mehr!«

Bei diesen Nachsuchungen kam dem Ingenieur und seinen Gefährten natürlich der Gedanke, ob sie nicht einige Ueberbleibsel Nana Sahib's nachweisen könnten. Fand sich dabei auch der leicht wieder zu erkennende Kopf nicht vor, so genügte ja schon die eine Hand von ihm, welcher der amputirte Finger fehlte, die Identität seiner Person festzustellen. Sie hätten so gern den unbestreitbaren Beweis des Todes Desjenigen erlangt, der jetzt nicht mehr verwechselt werden konnte.

Keiner der blutigen Reste, die den Boden bedeckten, schien jedoch Nana Sahib angehört zu haben. Wahrscheinlich hatten die getreuen Anhänger des Nabab wenigstens die Ueberbleibsel seiner Leiche noch mitgenommen.

Die unausbleibliche Folge davon war aber die, daß die Fabel von Nana Sahib, wegen Mangels vollgiltiger Beweise, wieder in ihr Recht trat; daß der unerreichbare Nabab in der Vorstellung der Volksstämme Central-Indiens noch immer als lebend galt, bis die Sage den alten Anführer der Sipahis vielleicht zu einem unsterblichen Gotte umwandelte.

Banks und die Seinigen freilich zweifelten keinen Augenblick mehr daran, daß jener die Explosion nicht habe überleben können.

Sie kehrten nach der Station zurück, wohin Kapitän Hod ein Stückchen von den Stoßzähnen des Stahlriesen mitnahm – eine kostbare Reliquie, die er als theures Andenken bewahrte.

Am folgenden Tage, den 4. October, verließen Alle Jubbulpore in einem Salonwagen, der dem Oberst Munro und seinen Begleitern zur Verfügung gestellt worden war. Vierundzwanzig Stunden später überschritten sie die westlichen Ghats, jene indischen Anden, die sich in einer Ausdehnung von dreihundertsechzig Meilen Länge hin erstrecken und mit dichten Waldmassen von Banianen, Sykomoren, Tek-Eichen, neben Palmen, Cocos- und Arecapalmen, Pfeffer- und Santelholzbäumen und Bambusdickichten bedeckt sind. Einige Stunden später schon brachte sie der Bahnzug nach der Insel Bombay, die in Verbindung mit den Inseln Salcette, Elephanta und anderen eine prächtige Rhede bildet und auf ihrer südöstlichen Spitze die Hauptstadt der Präsidentschaft trägt.

Die dort wegen Lady Munro's Zustand consultirten Aerzte empfahlen einstimmig, die Leidende nach einem freundlichen Landsitze in der Umgebung zu[414] bringen, wo die friedliche Stille im Verein mit der zärtlichen unausgesetzten Sorgfalt des Gatten einen glücklichen Erfolg am sichersten erhoffen ließ.

Endlich ward Allen diese Freude zu theil. Allmählich lüftete sich der Schleier um Lady Munro's Geist, sie fing wieder an, Gedanken zu fassen. Von der früheren »wandelnden Flamme« blieb nichts mehr übrig, nicht einmal eine Erinnerung.

»Laurence! Laurence!« rief da der entzückte Oberst Munro, und, endlich ihn wiedererkennend, sank ihm die wiedergefundene Gattin in die Arme.

Eine Woche später waren die Insassen des Steam-Houses in dem Bungalow von Calcutta wieder vereinigt. Hier begann nun ein anderes Leben, als das, welches bisher in dem prächtigen Wohnsitze geherrscht hatte. Banks verbrachte hier die Zeit, die seine Arbeiten nicht in Anspruch nahm, Kapitän Hod seinen Urlaub, sobald er solchen erhielt. Mac Neil und Goûmi gehörten ganz zum Hause und trennten sich von dem Oberst niemals wieder.

Später verließ Maucler, der nach Europa zurückkehren mußte, Calcutta. Es traf sich zufällig, daß auch Kapitän Hod's Urlaub zu Ende ging, weshalb dieser und der getreue Fox das gastliche Haus verließen, um sich nach den Cantonnements von Madras zu begeben.

»Adieu, lieber Kapitän, sagte da Oberst Munro. Ich schätze mich glücklich in dem Gedanken, daß Sie bezüglich unserer Fahrt durch das nördliche Indien doch eigentlich nichts zu beklagen haben, als daß es Ihnen nicht vergönnt war, den fünfzigsten Tiger zu erlegen.

– O, ich habe ihn doch erlegt, Herr Oberst!

– Was höre ich! Sie haben?...

– Ja, ganz gewiß! fiel ihm Kapitän Hod mit einem gewissen Stolze in's Wort. Neunundvierzig Tiger und... Kâlagani... sollte dieser nicht für den fünfzigsten gelten können?«

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