Jules Verne
Cäsar Cascabel

1. Teil

1. Capitel
I. Ersparnisse.

»Hat niemand mehr Geld?... Geht, Kinder, durchsucht eure Taschen!«

»Hier, Vater,« antwortete das kleine Mädchen; damit zog es einen schmutzigen, zerknitterten grünlichen Papierfetzen aus dem Kleidchen hervor, auf dem die fast unleserlichen Worte: United States fractional Currency und die sechsmal wiederholte Zahl 10 den ehrwürdigen Kopf eines Herrn im Salonrock umgaben, – was einen Wert von zehn Cents, etwa zehn französischen Sous, repräsentierte.

»Woher hast du das?«

»Es ist mir noch von der letzten Einnahme geblieben,« antwortete Napoleone.

»Und du, Xander, hast du nichts mehr?«

»Nein, Vater.«

»Du auch nicht, Jean?«

»Ich auch nicht.«

»Wieviel fehlt denn noch, Cäsar?« fragte Cornelia ihren Mann.

»Wenn wir eine runde Summe haben wollen, so fehlen noch zwei Cents,« antwortete Herr Cascabel.

»Hier, Herr Direktor,« sagte Clou-de-Girofle, indem er ein Kupferstückchen, das er aus den Tiefen seiner Hosentasche herausgeholt hatte, durch die Luft schnellte.



»Bravo, Clou!« rief das kleine Mädchen.

»So... das stimmt!« rief Herr Cascabel.

Und es stimmte in der That, um uns der Ausdrucksweise des wackeren Gauklers zu bedienen. Die Gesamtsumme betrug gegen zweitausend Dollars, etwa zehntausend Francs.

[1] Zehntausend Francs, ist das nicht ein ganzes Vermögen, wenn man nur vermittelst seiner Talente dahin gelangt ist, sich die öffentliche Großmut zinsbar zu machen?

Cornelia umarmte ihren Mann; die Kinder kamen ebenfalls herbei, den Vater zu umarmen.

»Jetzt,« sagte Herr Cascabel, »müssen wir eine Handkasse kaufen, eine hübsche Handkasse mit Vexierschloß, in der wir unser ganzes Vermögen aufbewahren können.«

»Ist das wirklich unumgänglich notwendig?« warf Frau Cascabel ein, welche diese Ausgabe ein wenig erschreckte.

»Cornelia, das ist unumgänglich notwendig!«

»Vielleicht würde eine Schatulle genügen?...«

»Da sehe man die Frauen!« rief Herr Cascabel. »Eine Schatulle ist ganz gut für Schmucksachen. Für Geld bedarf man einer Kasse, oder doch wenigstens einer feuerfesten Kassette; und da wir mit unseren zehntausend Francs eine lange Reise machen sollen...«

»Nun, so geh deine Handkasse kaufen, aber handle ordentlich!« versetzte Cornelia.

Das Familienoberhaupt öffnete die Thür des »prächtigen und ansehnlichen« Wagens, welcher als bewegliches Wohnhaus diente, stieg über den an der Gabel befestigten eisernen Tritt hinab und durchschritt die ins Centrum von Sakramento führenden Straßen.


Cäsar Cascabel.

Im Februar ist es in Kalifornien kalt, obgleich dieser Staat unter demselben Breitegrade wie Spanien liegt; aber in seinen warmen, mit imitiertem Marderpelz gefütterten Überrock gewickelt, die Pelzmütze über die Ohren herabgezogen, kümmerte Herr Cascabel sich nicht sonderlich um die Temperatur und eilte fröhlich vorwärts. Eine Handkasse, Besitzer einer Handkasse sein, das war der Traum seines ganzen Lebens gewesen: und dieser Traum sollte endlich in Erfüllung gehen!

Es war zu Anfang des Jahres 1867.

Neunzehn Jahre vor dieser Epoche war das jetzt von der Stadt Sakramento eingenommene Gebiet noch eine weite, wüste Ebene gewesen. Im Mittelpunkt derselben erhob sich ein kleines Fort, eine Art Blockhaus, welches die Setters, die ersten Handeltreibenden, errichtet hatten, um ihre Lager gegen die Angriffe der westamerikanischen Indianer zu schützen. Aber seit jener Epoche, seitdem die Amerikaner Kalifornien den Mexikanern abgenommen hatten, welch letztere dasselbe nicht zu verteidigen vermochten, hatte das Aussehen des Landes sich merkwürdig verändert. An die Stelle des Forts war eine Stadt getreten – jetzt eine der bedeutendsten Städte der Vereinigten Staaten, wenngleich Feuer [2] und Überschwemmungen die emporblühenden Bauten zu wiederholten Malen vernichtet hatten.

So brauchte Herr Cascabel denn im Jahre 1867 keine feindlichen Einfälle von Indianerstämmen mehr zu befürchten, auch nicht einmal die Übergriffe jener kosmopolitischen Räuberscharen, welche die Provinz Anno 1849 überschwemmt hatten, als die etwas nordöstlicher auf dem Grass-Valley-Plateau [3] gelegenen Goldminen und das berühmte Lager von Allison-Rauch entdeckt worden, dessen Quarz per Kilogramm Gold im Werte von einem Franc lieferte.

Ja! jene Zeiten unerhörter Erfolge, furchtbaren Verderbens, namenlosen Elends waren vorüber. Keine Goldgräber mehr, nicht einmal im Cariboo, jenem oberhalb des Gebietes von Washington befindlichen Teil von Britisch-Kolumbia, wohin 1863 Tausende von Goldgräbern strömten. Herr Cascabel lief keine Gefahr mehr, seiner kleinen, sozusagen im Schweiße seines Angesichtes erworbenen Ersparnisse, die er in der Tasche seines Überrockes bei sich trug, beraubt zu werden. Der Ankauf einer Handkasse war auch nicht so unumgänglich notwendig zur Sicherung seines Vermögens, wie er behauptete; wenn er trotzdem darauf bestand, so war es in der Voraussicht einer großen Reise durch die Territorien des Far West, die nicht so wohl behütet waren, wie die kalifornische Region, – einer Reise, die ihn nach Europa zurückführen sollte.

Herr Cascabel schritt gemächlich durch die breiten, reinen Straßen der Stadt, vorüber an prächtigen Squares voll schöner, noch unbelaubter Bäume, ebenso elegant als bequem gebauten Gasthöfen und Privathäusern, öffentlichen Gebäuden im angelsächsischen Stile und zahlreichen monumentalen Kirchen, welche der Hauptstadt Kaliforniens ein großartiges Gepräge verleihen. Überall geschäftige Menschen, Kaufleute, Rheder, Industrielle, die einen auf die Ankunft der Schiffe harrend, welche den dem Stillen Ocean zufließenden Strom herauf oder hinabfahren, die anderen den Folsoner Bahnhof belagernd, der seine Züge ins Innere der Bundesstaaten entsendet.

Einen französischen Tusch vor sich hin pfeifend, bog Herr Cascabel in die High-Street ein. In dieser Straße hatte er bereits die Niederlage eines Konkurrenten der berühmten Pariser Kassenfabrikanten Fichet und Huret bemerkt. Hier verkaufte William J. Morlan gute und nicht teuere Ware – wenigstens verhältnismäßig nicht teuer, wenn man sich die übertriebenen Preise aller Dinge in den Vereinigten Staaten von Amerika vor Augen hält.

William J. Morlan war in seiner Niederlage, als Herr Cascabel dort vorsprach.

»Herr Morlan,« sagte er, »ich habe ja die Ehre... Ich möchte eine Handkasse kaufen.«

William J. Morlan kannte Cäsar Cascabel; wer hätte ihn in Sakramento nicht gekannt? Bildete er doch seit drei Wochen das Entzücken der Bevölkerung. So antwortete denn der wackere Fabrikant:

»Eine Handkasse, Herr Cascabel? Gestatten Sie, daß ich Ihnen Glück wünsche...«

»Wieso?«

[4] »Wenn man eine Kasse kauft, so ist das ein Zeichen, daß man ein paar Säcke Dollars aufzubewahren hat.«

»So ist's, Herr Morlan.«


Zudem »feuersicher« fügte Herr William J. Morlan hinzu. (Seite 6.)

»Nun denn, nehmen Sie diese,« antwortete der Kaufmann, indem er auf eine ungeheure Kasse wies, welche eines Platzes in den Büreaus der Gebrüder[5] Rothschild oder anderer Banquiers, die gewöhnlich ihr Auskommen haben sollen, würdig gewesen wäre.

»O!... o!... langsam!« rief Herr Cascabel. »Darin könnte ich meine ganze Familie unterbringen!... Allerdings ein wahrer Schatz, diese Familie, aber es handelt sich augenblicklich nicht um ihre Sicherung... Sagen Sie, Herr Morlan, wieviel dürfte dieser ungeheure Behälter wohl fassen?«

»Mehrere Millionen in Gold.«

»Mehrere Millionen?... Dann... werde ich... nochmals vorsprechen... sobald ich die habe... Nein, ich brauche ein sehr solides, feuerfestes Kästchen, das ich unter dem Arme tragen und in einem Winkel meines Wagens unterbringen kann, wenn ich reise.«

»Ich habe etwas Passendes für Sie, Herr Cascabel.«

Und der Fabrikant zeigte ihm eine kleine, mit einem Sicherheitsschlosse versehene Handkasse, welche höchstens zwanzig Pfund wog und im Innern wie die in Bankhäusern gebräuchlichen Geld- oder Dokumentenkassen eingerichtet war.

»Dazu ist sie feuerfest,« bemerkte Herr William J. Morlan, »und garantiert laut Faktura.«

»Vortrefflich, vortrefflich!« versetzte Herr Cascabel. »Ich bin damit zufrieden, wenn Sie mir für das Schloß stehen!...«

»Kombinationsverschluß,« sagte der Fabrikant. »Vier Buchstaben.. ein aus vier Alphabeten zu wählendes Wort, von vier Buchstaben; das läßt gegen viermalhunderttausend Kombinationen zu. Ehe ein Dieb die rechte herausfände, hätte man hunderttausendmal Zeit, ihn zu hängen.«

»Hunderttausendmal, Herr Morlan! Das ist wirklich wunderbar!... Aber der Preis?... Sie begreifen, daß eine Kasse zu teuer ist, wenn ihr Preis die Summe übersteigt, die man hineinthun möchte!«

»Sehr wahr, Herr Cascabel. Ich werde sie Ihnen denn auch bloß mit sechs und einem halben Dollar berechnen...«

»Sechs und ein halber Dollar?...« versetzte Cascabel. »Dieser Preis von sechs und einem halben Dollar gefällt mir nicht. Hören Sie, Herr Morlan, man sollte immer mit runden Summen rechnen. Sagen wir fünf Dollars.«

»Meinetwegen, weil Sie es sind, Herr Cascabel.«

Als der Handel geschlossen und der Preis bezahlt war, erbot William J. Morlan sich, dem Gaukler die Kasse in seine Wagenwohnung zu senden, damit er sie nicht selber zu tragen brauche.

»Gehen Sie doch, Herr Morlan! Ein Mann wie Ihr ergebenster Diener, der mit vierzigpfündigen Gewichten hantiert!«

»He! he!... Was wiegen Ihre vierzigpfündigen Gewichte genau?« fragte Herr Morlan lachend.

[6] »Genau fünfzehn Pfund, aber sagen Sie's nicht weiter!« erwiderte Herr Cascabel.

Damit schieden William I. Morlan und er ganz entzückt von einander.

Eine halbe Stunde später langte der glückliche Handkassenbesitzer in seinem auf dem Cirkusplatze stationierenden Wagen an und stellte dort, nicht ohne eigene Selbstzufriedenheit, »die Kasse des Hauses Cascabel« nieder.

Ah! wie man sie in seiner kleinen Welt bewunderte, diese Kasse! Wie stolz und glücklich die Familie war, sie zu besitzen! Man mußte sie öffnen, man mußte sie wieder schließen. Der junge Xander wäre gern zum Spaß hineingeschlüpft. Aber das war unmöglich; sie war zu eng, um den jungen Xander aufzunehmen!

Was Clou-de-Girofle angeht, so hatte er nie etwas so Schönes gesehen – nicht einmal im Traume.

»Wie das schwer zu öffnen sein muß!« rief er... »wenn es nicht etwa leicht ist, falls das Schloß schlecht sperrt!«

»Du hast nie etwas Richtigeres gesagt,« erwiderte Herr Cascabel.

Dann rief er in jenem befehlenden Tone, der keine Einwendung zuläßt, und mit jenen bezeichnenden Handbewegungen, die kein Zaudern gestatten:

»Vorwärts Kinder, lauft was ihr könnt und kauft alles zu einem königlichen Frühstück ein. Da habt ihr einen Dollar zu eurer Verfügung... Ich traktiere heute!«

Der wackere Mann! Als ob er nicht alle Tage »traktiert« hätte! Aber er liebte Scherze dieser Art, die er mit einem herzhaften Lachen zu begleiten pflegte.

Im nächsten Augenblicke hatten Jean, Xander und Napoleone in Begleitung Clous, der einen großen, zur Aufnahme der Viktualien bestimmten Korb am Arme trug, den Platz verlassen.

»Und nun wir allein sind, Cornelia, laß uns ein wenig überlegen,« sagte Herr Cascabel.

»Was denn, Cäsar?«

»Was?... Ei, welches Wort wir für das Schloß unserer Kasse wählen sollen. Nicht als ob ich den Kindern mißtraute!... Großer Gott, es sind ja wahre Cherubim!... ich mißtraue nicht einmal jenem einfältigen Cloude-Girofle, der die personifizierte Ehrlichkeit ist!... Aber ein solches Wort muß geheim sein.«

»Nimm ein beliebiges Wort,« versetzte Cornelia, »Ich überlasse das dir...«

»Du hast keinen besonderen Wunsch?«

»Nein.«

»Nun denn! ich möchte einen Eigennamen...«

[7] »Ja!... das wäre das Rechte... der deinige, Cäsar.«

»Unmöglich!... Er ist zu lang!... Der Name darf nur vier Buchstaben haben.«

»Dann lasse das »ä« aus!... Das geht ganz gut! Wir können ja doch machen, was wir wollen!«

»Bravo, Cornelia! Das ist ein guter Einfall... einer jener Einfälle, wie sie dir häufig kommen, liebe Frau. Aber wenn wir uns schon entschließen, Buchstaben auszulassen, so lasse ich lieber gleich vier von deinem Namen aus.«

»Von meinem Namen?...«

»Ja!... Und nehme das Ende davon... elia. Ich finde das sogar vornehmer!«

»Ah!... Cäsar!«

»Es wird dir doch Vergnügen machen, deinen Namen am Schlosse unserer Kasse zu wissen?«

»Ja, da er bereits in deinem Herzen ist!...« antwortete Cornelia mit ebensoviel Nachdruck als Zärtlichkeit.

Und voller Freude gab sie ihrem wackeren Manne einen herzhaften Kuß.

So kam es denn, daß infolge dieser Kombination niemand, der das Wort Elia nicht kannte, je im stande sein würde, die Kasse der Familie Cascabel zu öffnen.

Eine halbe Stunde später kamen die Kinder mit dem Eingekauften zurück: appetitlich aufgeschnittenem Schinken und Pökelfleisch und einigen jener erstaunlichen Gemüse, welche die kalifornische Vegetation aufweist, buschartigen Kohlköpfen, melonengroßen Erdäpfeln und gelben Rüben, die einen halben Meter lang waren und, wie Herr Cascabel zu sagen liebte, »sich höchstens mit denen vergleichen könnten, welche man ausreißt, ohne die Mühe des Anbauens gehabt zu haben.« Was die Getränke betrifft, so hat man höchstens die Qual der Wahl unter den mannigfaltigen Genüssen, welche Natur und Kunst den amerikanischen Kehlen anbieten. Diesmal sollten alle, abgesehen von einer Kanne schäumenden Bieres, teil an einer seinen Flasche Sherry zum Dessert haben.

Von Clou, ihrem gewöhnlichen Gehilfen, unterstützt, hatte Cornelia das Frühstück im Handumdrehen bereitet. Man deckte den Tisch in der zweiten Abteilung des Wagens, dem sogenannten Wohnzimmer, dessen Temperatur durch den in der ersten Abteilung befindlichen Küchenherd auf gehöriger Höhe erhalten wurde. Wenn Vater, Mutter und Kinder an jenem Tage – wie übrigens alle Tage – mit bemerkenswertem Appetit aßen, so war das durch die Umstände mehr als gerechtfertigt.

Nach der Mahlzeit schlug Herr Cascabel den feierlichen Ton an, in [8] welchem er seine Reden an das Publikum zu halten pflegte, und sprach sich folgendermaßen aus:

»Morgen, Kinder, verlassen wir die edle Stadt Sakramento mitsamt ihren wackern Einwohnern, die wir nur loben können, ob ihre Farbe nun rot, schwarz oder weiß sei. Aber Sakramento liegt in Kalifornien, und Kalifornien liegt in Amerika, und Amerika liegt nicht in Europa. Und Vaterland bleibt denn doch Vaterland, und Europa ist Frankreich, und es ist Zeit, daß Frankreich uns wieder ›in seinen Mauern‹ sehe, nachdem wir so viele Jahre lang von dort abwesend waren. Haben wir ein Vermögen erworben? Eigentlich nicht! Indessen besitzen wir eine gewisse Anzahl von Dollars, die sich in unserer Handkasse recht gut ausnehmen werden, wenn wir sie erst in französisches Gold oder Silbergeld umgesetzt haben. Ein Teil dieser Summe wird uns die Überfahrt über den Atlantischen Ocean auf einem jener schnellen Schiffe ermöglichen, welche die dreifarbige Flagge tragen, die Farbe, die Napoleon einst von Hauptstadt zu Hauptstadt spazieren führte.... Auf deine Gesundheit, Cornelia!«

Frau Cascabel verneigte sich angesichts dieser Freundschaftsbezeigung, welche ihr Gatte ihr häufig erwies, als wolle er ihr auf diese Weise dafür danken, daß sie ihm alkideisch herkulische Helden in seinen Kindern geschenkt habe.

Dann fuhr er fort:

»Ich trinke auch auf eine glückliche Reise für uns. Mögen günstige Winde unsere Segel blähen!«

Er hielt inne, um jedermann ein letztes Gläschen von seinem vorzüglichen Sherry einzuschenken.

»Aber vielleicht meinst du, Clou, daß unsere Kasse nach Deckung der Reisekosten leer bleiben werde?...«

»Nein, Herr Direktor... wenn nicht etwa die Preise der Dampfschiffe im Vereine mit den Preisen der Eisenbahnen...«

»Eisenbahnen, Railroads wie die Yankees sagen!« rief Herr Cascabel. »Aber, du naives und unverständiges Wesen, wir werden ja keine Eisenbahnen benützen! Ich gedenke die Transportkosten von Sakramento nach Newyork zu ersparen, indem ich den Weg in unserem rollenden Hause zurücklege! Einige hundert Meilen werden doch wohl die Familie Cascabel nicht erschrecken, welche daran gewöhnt ist, durch die Welt zu bummeln!«

»Gewiß nicht!« stimmte Jean bei.

»Und welche Freude es für uns sein wird, Frankreich wiederzusehen!« rief Frau Cascabel.

»Unser Frankreich, Kinder,« fuhr Herr Cascabel fort, »das ihr nicht kennt, weil ihr in Amerika geboren seid; unser schönes Frankreich, das ihr [9] endlich kennen lernen werdet! Ach, Cornelia, welch ein Vergnügen für dich, die Provençalin, und für mich, den Normannen, nach zwanzigjähriger Abwesenheit!«

»Ja, Cäsar, ja!«

»Siehst du, Cornelia, wenn man mir jetzt ein Engagement anböte, und wäre es selbst am Theater des Herrn Barnum, ich würde es ausschlagen! Unsere Rückkehr verschieben, niemals!... Eher ginge ich auf den Händen zurück!... Wir sind eben vom Heimweh befallen und das kann man nur durch die Rückkehr ins Vaterland kurieren... Ich kenne kein anderes Heilmittel dafür!«

Cäsar Cascabel sprach die Wahrheit. Seine Frau und er hatten nur mehr einen Gedanken: nach Frankreich zurückzukehren; und welche Befriedigung, in der Lage dazu zu sein, nachdem es nicht an Geld mangelte!

»Also machen wir uns morgen auf den Weg!« sagte Herr Cascabel.

»Und vielleicht wird das unsere letzte Reise sein!« antwortete Cornelia.

»Cornelia,« versetzte ihr Mann mit Würde, »ich kenne nur eine letzte Reise, diejenige, zu welcher Gott keine Retourkarten ausgiebt!«

»Wohl, Cäsar, aber werden wir uns nicht vor dieser Reise ausruhen, wenn wir ein Vermögen erworben haben?«

»Uns ausruhen, Cornelia? Niemals! Ich mag kein Vermögen, wenn dasselbe uns dem Müßiggange entgegenführt. Glaubst du denn, daß du das Recht besitzest, die Fähigkeiten unbenützt zu lassen, mit welchen die Natur dich so reichlich ausgestattet hat? Meinst du, ich könnte mit den Händen im Schoße leben und die Geschmeidigkeit meiner Gelenke gefährden? Soll Jean seine equilibristischen Übungen einstellen, Napoleone ihr Seiltanzen mit und ohne Balancierstange aufgeben, Xander nicht mehr auf dem Gipfel der lebenden Pyramide figurieren und Clou selber sein halbes Dutzend Ohrfeigen per Minute nicht mehr zur größten Belustigung des Publikums einheimsen? Nein, Cornelia! Sage mir, daß die Sonne im Regen erlöschen, daß das Meer von den Fischen ausgetrunken werden wird, aber sage mir nicht, daß die Stunde der Ruhe je für die Familie Cascabel schlagen könnte!«

Und jetzt waren nur noch die Vorbereitungen zu treffen, um sich anderen Tages, sobald die Sonne am Horizont von Sakramento erscheinen würde auf den Weg zu machen.

Man that dies im Laufe des Nachmittags. Es bedarf kaum der Erwähnung, daß man die berühmte Handkasse in einem sichern Winkel der innersten Wagenabteilung unterbrachte.

»Auf diese Weise,« sagte Herr Cascabel, »können wir sie Tag und Nacht hüten!«

[10] »Das war entschieden eine gute Idee von dir, Cäsar,« antwortete Cornelia, »und es ist mir nicht leid um das Geld, welches diese Kasse gekostet hat.«

»Sie ist vielleicht etwas klein, liebe Frau, aber wir werden eine größere kaufen... sobald unser Schatz wächst!«

2. Capitel
II. Die Familie Cascabel.

Cascabel!... Ein in den fünf Weltteilen »und anderwärts« bekannter und sogar berühmter Name, sagte stolz der Mann. der diesen Namen so ehrenvoll trug.

Cäsar Cascabel, gebürtig aus Pontorson inmitten der Normandie, war in allen Kniffen des Normannenlandes wohlbewandert. Aber so schlau und geschickt er auch sein mochte, er war ein ehrlicher Mensch geblieben und man würde unrecht thun, ihn unter die Mitglieder der gewöhnlichen Marktschreiergilde zu zählen. Als Familienvater machte er durch seine persönlichen Tugenden die Niedrigkeit seiner Herkunft und die Unregelmäßigkeiten seines Berufes wett.

Zu jener Zeit war Herr Cascabel so alt wie er aussah, fünfundvierzig Jahre, nicht mehr und nicht weniger. Zu einem unsteten Leben geboren, hatte er keine andere Wiege als das Hausierbündel gekannt, welches sein Vater auf den Messen und Märkten der normännischen Provinz umherschleppte. Seine Mutter war, kurz nachdem er das Licht der Welt erblickt hatte, gestorben, und als er einige Jahre später seinen Vater verlor, wurde er sehr zur rechten Zeit von einer wandernden Gauklerbande aufgenommen. Dort verbrachte er seine Jugend mit Purzelbäumen, Verrenkungen und gefährlichen Sprüngen, den Kopf nach unten, die Beine in der Luft. Dann wurde er nach der Reihe Clown, Gymnastiker, Akrobat, Jahrmarktsherkules – bis er sich endlich, als Vater dreier Kinder, zum Direktor jener kleinen Familie emporschwang, die er mit Frau Cascabel, gebornen Cornelia Vadarasse, aus Martigues in der Provence, gegründet hatte.

Intelligent und scharfsinnig, von auffallender Körperkraft und ungewöhnlicher Geschicklichkeit, gaben seine moralischen Eigenschaften seinen physischen nichts nach. Freilich setzt sich an einen rollenden Stein kein Moos an, aber [11] er reibt sich wenigstens an den Unebenheiten der Straßen, er glättet sich, er schleift seine Kanten ab, er wird rund und glänzend. So hatte Cäsar Cascabel sich denn auch während fünfundvierzig Jahren des Rollens so gründlich gerieben, geschliffen und abgerundet, daß er das Leben durch und durch kannte und sich über nichts mehr wunderte. Da er Europa von Jahrmarkt zu Jahrmarkt durchzogen und sich sowohl in Amerika als auch in den holländischen und spanischen Kolonieen akklimatisiert hatte, verstand er so ziemlich alle Sprachen und war derselben mehr oder weniger mächtig, »sogar derjenigen, die er nicht konnte«, wie er zu sagen pflegte, denn er stand nicht an, sich durch Gesten verständlich zu machen, wenn ihm die Worte ausgingen.

Cäsar Cascabel war etwas über Mittelgröße gewachsen, – breite Brust, sehr geschmeidige Glieder, Gesicht mit etwas vorstehenden Kinnbacken (was auf Energie deutet), kräftiger Kopf mit struppigem Haar, von den Wettern und Sonnengluten aller möglichen Zonen gebräunt, Schnurrbart ohne Spitzen unter einer mächtigen Nase, ein wenig Backenbart auf kupferigen Wangen, blaue, sehr lebhafte, sehr durchdringende, gutmütig blickende Augen, ein Mund, in dem man noch keinen künstlichen Zahn hätte anbringen können, ohne die übliche Zahl von zweiunddreißig zu überschreiten. Vor dem Publikum ein Fréderic Lemaitre mit grandiosen Gesten, phantastischen Posen und hochtrabenden Phrasen, war er im Privatleben sehr einfach, sehr natürlich, und betete seine Familie an.

Von äußerst robuster Gesundheit, war er, wenngleich sein Alter ihm jetzt den Beruf eines Akrobaten untersagte, noch immer bemerkenswert bei den Kraftproduktionen, welche »Muskel erfordern«. Überdies besaß er außerordentliches Talent zu jenem Zweige der Jahrmarktsindustrie, der Bauchrednerei, der Wissenschaft des Engastrymismus, die aus sehr alten Zeiten stammt, da nach Aussage des Bischofs Eustachius die Hexe von Endor nichts anders als eine Bauchrednerin war. So oft er es wollte, stieg ihm die Stimme aus der Kehle in den Bauch hinab. Hätte er allein ein Duett singen können?... O! er hätte sich nicht lange bitten lassen!

Schließlich wollen wir noch zur Vervollständigung seines Porträts erwähnen, daß Cäsar Cascabel eine Schwäche für die großen Eroberer hatte – besonders für Napoleon. Ja, er liebte den Helden des ersten Kaiserreiches ebenso sehr, wie er seine Henker, jene Söhne Hudson Lowes, jene abscheulichen John Bulls, haßte. Napoleon, das war »ein Mann für ihn«! Er hatte sich denn auch nie vor der Königin von England produzieren wollen, »obgleich sie ihn durch Vermittlung ihres Majordomus darum ersucht hatte«, wie er gern und zwar so häufig erzählte, daß er es schließlich selber glaubte.

Herr Cascabel war kein Cirkusdirektor, kein Franconi, Renz oder Schumann, an der Spitze einer Truppe von Kunstreitern, Kunstreiterinnen, [12] Clowns und Taschenspielern. Nein! ein einfacher Jahrmarktsgaukler, der sich auf den Marktplätzen, bei schönem Wetter unter freiem Himmel, bei Regen in einem Zelte sehen ließ. Bei diesem Gewerbe, dessen bedenklichen Wechselfällen er ein Vierteljahrhundert lang die Stirne geboten, hatte er, wie man weiß, jenes runde Sümmchen erspart, welches jetzt unter einem Kombinationsschlosse verwahrt wurde.

Welche Arbeit, welche Anstrengungen, welches zeitweilige Elend das repräsentierte! Jetzt war das Schwerste überstanden. Die Familie Cascabel bereitete sich zur Rückkehr nach Europa vor. Nachdem sie die Vereinigten Staaten durchzogen, sollte sie sich auf einem französischen oder amerikanischen – nur keinem englischen! – Paketboote einschiffen.

Übrigens war Cäsar Cascabel nicht leicht aus der Fassung zu bringen. Hindernisse existierten nicht für ihn. Höchstens Schwierigkeiten. Er verstand es, sich durchs Leben zu winden und zu schlagen. Er würde ruhig mit dem Herzog von Danzig, einem der Marschälle seines großen Mannes, gesagt haben:

»Bohrt mir ein Loch, so krieche ich hindurch!«

Und er war in der That schon durch viele Löcher gekrochen!

»Frau Cascabel, geborne Cornelia Vadarasse, eine Vollblut-Provençalin, die unvergleichliche Hellseherin, die Königin der elektrischen Frauen, mit allen Reizen ihres Geschlechtes ausgestattet, mit all den Tugenden geziert, welche einer Familienmutter zur Ehre gereichen, war siegreich aus den großen Wettkämpfen hervorgegangen, zu welchen Chicago die ersten, Athletinnen der Welt' geladen hatte.«

Mit diesen Ausdrücken pflegte Herr Cascabel die Gefährtin seines Lebens vorzustellen. Er hatte sie zwanzig Jahre zuvor in Newyork geheiratet. Hatte er bezüglich dieser Heirat die Meinung seines Vaters eingeholt? Nein! Und zwar erstens, weil sein Vater ihn auch bei der seinigen nicht um seine Meinung befragt hatte, und zweitens, weil der wackere Mann schon damals nicht mehr dieser Welt angehörte. Die Sache hatte sich, das darf man mir glauben, sehr einfach gemacht, ohne all jene präliminären Förmlichkeiten, welche im alten Europa die Vereinigung zweier für einander geschaffener Wesen so ärgerlich verzögern.

Eines Abends, als er sich in der Eigenschaft eines Zuschauers in Barnums Theater auf dem Broadway befand, erstaunte Cäsar Cascabel über die Anmut, die Kraft, die Gewandtheit, welche eine junge französische Akrobatin, Fräulein Cornelia Vadarasse, am Reck entfesselte. Der Gedanke, die Talente dieser anmutigen Künstlerin mit den seinigen zu verbinden, ihre beiden Existenzen zu einer zu verschmelzen, eine künftige Familie kleiner, ihres Vaters und ihrer Mutter würdiger Cascabels zu gründen, lag für den wackeren Gaukler auf der Hand. Während eines Zwischenaktes auf die Bühne stürzen, sich Cornelia [13] Vadarasse vorstellen, ihr mit geziemenden Worten unter Hinweis auf ihre Zusammengehörigkeit als Franzosen einen Heiratsantrag machen, einen im Zuschauerraume anwesenden ehrsamen Clergyman erspähen, denselben ins Foyer schleppen und auffordern, eine so wohl begründete Ehe einzusegnen, das war in dem glücklichen Lande der Vereinigten Staaten Amerikas eine Kleinigkeit. Und sind diese per Dampf geschlossenen Ehen deshalb weniger glückliche Wenigstens sollte die des Cäsar Cascabel mit Cornelia Vadarasse eine der glücklichsten sein, die jemals auf dieser niederen Welt geschlossen worden.

Zur Zeit, wo diese Erzählung ihren Anfang nimmt, zählte Cornelia Vadarasse vierzig Jahre. Sie war schön gewachsen, vielleicht ein klein wenig voll, mit schwarzen Augen und Haaren, lächelndem Munde, und gleich ihrem Manne im Besitze ihrer sämtlichen Zähne. Was ihre ungewöhnliche Kraft betrifft, so hatte man dieselbe bei jenen denkwürdigen Wettkämpfen ermessen können, wo sie »einen Ehren-Chignon« erhalten. Erwähnen wir, daß Cornelia ihren Mann noch wie am ersten Tage ihrer Ehe liebte und ein unerschütterliches Vertrauen in das Genie dieses außerordentlichen Menschen setzte, der eine der merkwürdigsten Typen des Normannenlandes repräsentierte.

Erstgeborner aus dieser Jahrmarktskünstlerehe: Jean, dermalen 19 Jahre alt. Wenn er von Natur aus nicht zu Kraftproduktionen, gymnastischen Leistungen, Clown- und Akrobatenkünsten beanlagt war, so ersetzte er diesen Mangel durch eine erstaunliche Gewandtheit mit den Händen und eine Sicherheit des Blickes, welche ihn zum anmutigsten und elegantesten Taschenspieler machten, der übrigens nicht sehr stolz auf seine Erfolge war. Er war ein sanftes, sinniges Wesen, brünett wie seine Mutter, aber mit blauen Augen. Wißbegierig und zurückhaltend, suchte er sich, wo und wann er konnte, zu unterrichten. Er schämte sich keineswegs des Berufes seiner Eltern, aber er begriff, daß man doch besseres thun könne, als dem Publikum Kunststückchen vormachen, und er gedachte dieses Gewerbe aufzugeben, sobald er in Frankreich sein würde. Aber da er tiefe Zuneigung zu seinen Eltern hegte, beobachtete er in Bezug auf diesen Gegenstand die äußerste Zurückhaltung. Wie sollte er übrigens auch dahin gelangen, sich eine andere Stellung in der Welt zu schaffen?

Zweiter Sohn: Ah, dieser, der Zweitgeborene, der Verrenkungskünstler der Truppe, der war wirklich das logische Produkt der Cascabelschen Verbindung! Zwölf Jahre alt, behend wie eine Katze, geschickt wie ein Affe, flink wie ein Aal, ein kleiner, drei Fuß sechs Zoll hoher Clown, der, wenn man seinem Vater glauben wollte, schon als Säugling den »großen Sprung« gemacht, ein wahrer Gassenjunge an Schelmerei und Possen, von schlagfertigem Witze, aber gut geartet, verdiente er manchmal einen Backenstreich und lachte, wenn er ihn erhielt, da er nie sehr nachdrücklich gegeben wurde.

[14] Man wird bemerkt haben, daß der älteste Cascabel sich Jean nannte. Und weshalb dieser Name? Die Mutter hatte darauf bestanden, zu Ehren eines ihrer Großonkel, eines Marseiller Seemannes, Jean Vadarasse, der von den Karaiben verspeist worden – worauf sie sehr stolz war. Offenbar würde der Vater, welcher das Glück hatte, Cäsar zu heißen, einen anderen, historischeren, [15] besser mit seiner geheimen Bewunderung für Kriegshelden in Einklang stehenden Namen vorgezogen haben.


Jean Cascabel.

Aber er hatte seiner Frau bei der Geburt ihres ersten Kindes nicht entgegen sein wollen und dem Namen Jean zugestimmt, indem er sich vornahm, sich bei der möglichen Ankunft eines weiteren Sprößlings dafür zu entschädigen.

Und so wurde der zweite Sohn Alexander getauft, nachdem er beinahe zu den Namen Hamilkar, Attila oder Hannibal gekommen wäre. Zur vertraulichen Abkürzung aber hieß man ihn Xander.

Nach dem ersten und dem zweiten Knaben hatte die Familie sich um ein kleines Mädchen vermehrt, welches Frau Cascabel gern Hersilla genannt hätte, welches aber zu Ehren des Märtyrers von Sankt Helena den Namen Napoleone erhielt.

Napoleone zählte derzeit acht Jahre. Sie war ein niedliches Kind, welches sehr hübsch zu werden versprach und das Versprechen auch wirklich hielt. Blond und rosig, mit lebhaften und beweglichen Zügen, sehr graziös und sehr geschickt, war sie bereits in alle Geheimnisse des Seiles eingedrungen; ihre Füßchen glitten und trippelten auf dem Drahtseil dahin, als ob das leichte kleine Ding von Flügeln gehalten würde.

Selbstverständlich war Napoleone der verhätschelte Liebling der Familie Alle beteten sie an und sie war auch anbetungswürdig. Ihre Mutter gefiel sich in dem Gedanken, daß Napoleone eines Tages irgend eine glänzende Partie machen werde. Ist dies doch eine der mit dem nomadischen Gauklecleben verknüpften Chancen! Warum sollte Napoleone, wenn sie groß und hübsch geworden, nicht einem Prinzen begegnen, der sich in sie verlieben und sie heiraten würde?

»Wie in den Märchen?« antwortete Herr Cascabel, der positiver angelegt war als seine Frau.

»Nein, Cäsar, wie im Leben.«

»Ach, Cornelia! Die Zeiten sind vorüber, wo Könige Schäferinnen heirateten, und ich weiß auch nicht einmal, ob die Schäferinnen heutzutage einwilligen würden, Könige zu heiraten!«

So war die Familie Cascabel beschaffen, Vater, Mutter und drei Kinder. Vielleicht wäre es, im Hinblick auf gewisse Figuren der lebenden Pyramide, wo die Künstler sich paarweise aufeinander aufbauen, besser gewesen, wenn noch ein vierter Sprößling hinzugekommen wäre. Aber dieser Vierte blieb aus.

Glücklicherweise war Clou-de-Girofle da und durchaus zur Mitwirkung bei erstaunlichen Schaustellungen geeignet.

In der That, Clou ergänzte die Cascabels vorzüglich. Die Truppe war seine Familie. Er gehörte in jeder Hinsicht dazu, obgleich er amerikanischen Ursprungs war. Einer jener armen Teufel, ohne Verwandte, geboren kein Mensch weiß wo – kaum daß sie's selber wissen –, von der Barmherzigkeit großgezogen, vom Zufall ernährt, die gut ausfallen, wenn sie eine gute Natur und angeborene Moral haben, die ihnen gestatten, dem bösen Beispiel und den bösen Einflüsterungen des Elends zu widerstehen.


Clou-de-Girofle und Napoleone.

Und sollte man nicht einiges Mitleid mit diesen Unglücklichen haben, wenn sie, wie es am häufigsten geschieht, auf Abwege geraten oder ein übles Ende nehmen?

[16] [18]Aber letzteres war nicht der Fall bei Ned Harley, dem Herr Cascabel zum Spaß den Spitznamen Clou-de-Girofle gegeben, was in seiner Muttersprache ein artiges Wortspiel zuließ, bei dem die zahlreichen Ohrfeigen, zu deren Entgegennahme während der Vorstellung er engagiert war, die Pointe bildeten.

Vor zwei Jahren, als Herr Cascabel während seiner Rundreise durch die Vereinigten Staaten auf Ned Harley gestoßen, war dieser Unglückliche dem Hungertode nahe gewesen. Die Akrobatentruppe, der er angehört, hatte sich eben nach der Flucht des Direktors aufgelöst. Er spielte dort die »Minstrels«. Ein trauriges Gewerbe, selbst wenn es den ihm Obliegenden halb und halb ernährt! Sich mit Wichse beschmieren, um einen Neger vorzustellen, einen schwarzen Frack und eine schwarze Hofe, eine weiße Weste und weiße Kravatte anlegen und in Gesellschaft von vier bis fünf Parias seines Schlages possenhafte Lieder singen und dazu auf einer lächerlichen Fiedel herumkratzen, welch ein Amt im menschlichen Gemeinwesen! Nun, und um dieses Amt war Ned Harley gekommen; so war er überglücklich, der Vorsehung in Gestalt des Herrn Cascabel in den Weg gelaufen zu sein.

Dieser hatte gerade seinen Gehilfen davongejagt, dem die komischen Rollen in den Paradescenen gewöhnlich zugefallen waren. Sollte man's glauben? Dieser Hanswurst hatte sich für einen Amerikaner ausgegeben, und er war englischen Ursprungs! Ein John Bull in der wandernden Truppe! Ein Landsmann jener Henker, die... Sie kennen ja das Lied. Eines Tages erfuhr Herr Cascabel durch Zufall, welcher Nation der Eindringling angehörte.

»Herr Waldurton,« sagte er zu ihm, »da Sie Engländer sind, so werden Sie sich augenblicklich packen, oder ich werfe Ihnen meinen Stiefel an den Kopf, ein so tüchtiger Hanswurst Sie auch sein mögen!«

Und ein so tüchtiger Hanswurst er auch war, Herr Waldurton würde den Stiefel an die bezeichnete Stelle bekommen haben, wenn er sich nicht eiligst aus dem Staube gemacht hätte.

So kam denn Clou an seine Stelle. Der Ex-minstrel verpflichtete sich zu allem, sowohl zu der Parade auf den Brettern, als auch zur Wartung der Tiere und zu Handleistungen in der Küche, so oft Cornelia derselben bedürfen sollte. Selbstverständlich sprach er französisch, aber mit äußerst prononciertem Accent.

Im ganzen genommen war er ein trotz seiner fünfunddreißig Jahre naiv gebliebener Bursche, ebenso heiter, wenn er das Publikum durch seine drolligen Späße ergötzte, wie er im Privatleben melancholisch war. Er sah die Dinge mehr von ihrer düsteren Seite an, und das war, aufrichtig gesagt, nicht erstaunlich, da er sich kaum zu den Glücklichen dieser Erde zählen konnte Sein spitzer Kopf, das lange, eingefallene Gesicht, das gelbliche Haar, die [18] runden, kindlichen Augen, die unmäßig lange Nase, auf welche er ein halbes Dutzend Brillen setzen konnte – großer Lacheffekt –, die abstehenden Ohren und der magere, von Skelettbeinen getragene Rumpf machten ihn zu einem bizarren Wesen. Übrigens pflegte er sich nicht zu beklagen, wenn nicht etwa, – dies »wenn nicht etwa« war die Verwahrungsformel, die er seinen Äußerungen anzuhängen pflegte – das Schicksal ihm Anlaß zu Klagen gab. Schließlich hatte er sich seit seinem Dienstantritte bei den Cascabels sehr an diese Familie gewöhnt, die ihrerseits ihren Clou-de-Girofle nicht mehr zu entbehren vermocht hätte.

So war das, wenn man sich so ausdrücken darf, menschliche Element dieser Gauklertruppe beschaffen.

Das tierische Element vertraten zwei wackere Hunde, ein Wachtelhund, sehr tüchtig auf der Jagd, sehr zuverlässig als Hüter des rollenden Hauses, und ein Pudel, gelehrt und geistreich, zum Mitglied der französichen Akademie bestimmt, sobald es eine französische Akademie für Hunde geben wird.

Nach den zwei Hunden geziemt es sich, dem Publikum einen kleinen Affen vorzustellen, der es im Grimassenwettstreit so erfolgreich mit Clou selber aufnehmen konnte, daß die Zuschauer in großer Verlegenheit gewesen wären, zu entscheiden, welchem von beiden der Preis gebühre. Des weiteren gab es einen Papagei, Jako, auf Java zu Hause, der dank der Lektionen seines Freundes Xander zehn Stunden von zwölfen hindurch sprach, plapperte, sang und schrie. Schließlich sind noch zwei Pferde zu erwähnen, zwei brave alte Gäule, welche den Jahrmarktswagen zogen; der Himmel weiß, daß ihre mit dem Alter etwas steif gewordenen Beine manche Meile Weges zurückgelegt hatten!

Und man will wissen, wie diese beiden trefflichen Tiere sich nannten? Das eine hieß Vermout, wie der Sieger des Herrn Delamarre, das andere Gladiator, wie der Sieger des Grafen v. Lagrange. Ja sie trugen diese auf dem französischen Turf berühmten Namen, ohne daß es ihnen je in den Sinn gekommen wäre, sich für den Grand Prix de Paris nennen zu lassen.

Was die beiden Hunde betrifft, so hörte der Wachtelhund auf Wagram, der Pudel auf Marengo, und man wird unschwer erraten, welchem Paten sie diese historisch berühmten Namen verdankten.

Der Affe aber war John Bull getauft worden – ganz einfach wegen seiner Häßlichkeit.

Was wollen Sie? Man muß Herrn Cascabel diese Manie nachsehen, die ihren Ursprung schließlich in einem sehr verzeihlichen Patriotismus hatte – verzeihlich selbst in einer Epoche, wo derartige Sympathien keine eigentliche Existenzberechtigung mehr besitzen.

»Wie sollte man,« sagte er manchmal, »nicht den Mann vergöttern, der [19] inmitten eines Kugelregens rief: Folgt meinem weißen Helmbusch, ihr werdet ihn immer u. s. w.!«

Und als man ihm einmal bemerkte, daß diese schönen Worte von Heinrich IV. herrührten, antwortete er:

»Möglich; aber Napoleon wäre ganz im stande gewesen, einen solchen Ausspruch zu thun.«

3. Capitel
III. Die Sierra Nevada.

Wie viele Leute nicht schon von einer nach Art der Gaukler in einem Coach-House gemachten Reise geträumt haben! Sich weder um die Hotels noch um die Schenken, die unzuverlässigen Betten oder die noch unzuverlässigere Küche kümmern zu müssen, wenn es sich darum handelt, ein kaum mit Flecken oder Dörfern besäetes Land zu durchstreifen! Was reiche Liebhaber gewöhnlich an Bord ihrer Vergnügungs-Yachten mit allen Vorteilen des beweglichen Heims ausführen, das haben wenige mittels eines Wagens ad hoc vollbracht. Und dennoch, ist der Wagen nicht das gehende Hauss Warum sind die Jahrmarktsbesucher die einzigen, welche den Genuß der »Navigation aufterra firma« kennen?

In der That ist der Wagen des Gauklers eine vollständige Wohnung mit Zimmern und Möbeln, ein rollendes »Heim«, und derjenige des Cäsar Cascabel entsprach den Anforderungen eines Nomadenlebens vollkommen.

Die Belle-Roulotte – denn der Wagen hatte seinen Namen so gut wie irgend ein normännischer Schoner, und Sie können mir glauben, daß er demselben auf seinen vielen verschiedenen Wanderungen durch die Vereinigten Staaten Ehre machte – die Belle-Roulotte war vor kaum drei Jahren von den ersten Ersparnissen der Familie angekauft worden und ersetzte seitdem den alten, mit einem einfachen Plan bedeckten und jeglicher Feder entbehrenden Leiterwagen, welcher der ganzen Truppe solange als Wohnung gedient. Da Herr Cascabel nun schon über zwanzig Jahre auf den Messen und Märkten der Union einherzog, ist es selbstverständlich, daß sein Gefährt amerikanischen Ursprungs war.

Die Belle-Roulotte ruhte auf vier Rädern. Mit guten stählernen Federn versehen, verband sie Leichtigkeit mit Solidität. Sorgfältig gehalten, abgeseift,[20] gerieben, gewaschen, ließ sie ihre grellfarbigen Wände glänzen, wo Goldgelb sich angenehm mit Scharlachrot verband, um den Blicken die bereits berühmte Gesellschaftsfirma Cäsar Cascabel darzubieten. Vermöge ihrer Länge hätte sie mit jenen Chariots wetteifern können, welche noch jetzt die Prairien des Far West befahren, dort, wo der Great-Trunk, die Eisenbahn von Newyork nach San Francisco, noch keine seiner Zweiglinien projektiert hat. Offenbar [21] konnten zwei Pferde dieses schwere Gefährt nur im Schritt ziehen. Die Last war in der That eine bedeutende. Abgesehen von ihren Bewohnern, trug die Belle-Roulotte auf ihrer oberen Galerie die Zeltleinwand mit Stangen und Seilen, und dann einen unter dem Wagengestell befestigten Hängekorb, der verschiedene Gegenstände, große Trommel, Handtrommel, Klapphorn, Posaune und andere Geräte und Requisiten enthielt, welche geradezu als die Werkzeuge des Gauklers zu betrachten sind. Verzeichnen wir auch die Kostüme zu einer berühmten Pantomime, »Die Räuber des Schwarzwaldes«, welche auf dem Repertoire der Familie Cascabel figurierte.


Wagram, Warengo, John Bull und Jako. (Seite 19.)

Die innere Einrichtung war durchaus zweckmäßig und dank Cornelien, welche in dieser Hinsicht keinen Spaß verstand, selbstverständlich von tadelloser, von vlamländischer Reinlichkeit.

Am äußersten Ende des Wagens befand sich eine mit Fenstern versehene Schiebthür, welche die erste, durch den Küchenherd geheizte Abteilung verschloß. Dann kam ein Wohn- oder Speisezimmer, in welchem die Wahrsagerei betrieben wurde; hierauf ein erstes Schlafzimmer, mit gleich den Schiffskojen über einander angebrachten Lagerstätten, wo, durch einen Vorhang getrennt, links die kleine Schwester, rechts die beiden Brüder schliefen; endlich, ganz vorn, die Stube des Herrn und der Frau Cascabel, in welcher die berühmte Handkasse neben dem mit dicken Matratzen und bunter gesteppter Decke belegten Bette einen Platz gefunden. In allen Ecken waren Bretter angebracht, die man aufstellen und herablassen und als Arbeits- oder Toilettentische benützen konnte, und schmale Schränke, in denen man die Kostüme, Perücken und Masken der Pantomime verwahrte. Das Ganze wurde von zwei Petroleumlampen erhellt, zwei echten Schiffslampen, welche auf unebenen Wegen zu balancieren verstanden; überdies ließ ein halbes Dutzend kleiner Fenster, deren Scheiben in Blei gefaßt und deren leichte Musselinvorhänge von bunten Bändern gehalten waren, das Tageslicht in die verschiedenen Abteilungen dringen und gab der Belle-Roulotte das Gepräge eines holländischen Flußschiffes.

Anspruchslos von Natur, schlief Clou-de-Girofle in der ersten Abteilung, in einer Hängematte, die er abends zwischen den beiden Seitenwänden aufspannte, und beim ersten Morgengrauen wieder herabnahm.

Bleibt noch zu erwähnen, daß die beiden Hunde Wagram und Marengo, in ihrer Eigenschaft als Nachtwächter, in dem Hängekorb unter dem Wagen schliefen, woselbst sie die Gegenwart des Affen John Bull trotz seiner ungestümen Natur und seiner Neigung zu mutwilligen Streichen duldeten; und daß der Papagei Jako in einem in der zweiten Abteilung hängenden Käfig untergebracht war.

Was die beiden Pferde, Gladiator und Vermout, betrifft, so hatten sie volle Freiheit, in der Umgebung der Belle-Roulotte zu grasen, ohne daß [22] man ihnen Spannstricke anzulegen brauchte. Und wenn sie das Gras jener weiten Prairien abgeweidet hatten, wo der Tisch stets gedeckt und das Lager stets bereitet ist, konnten sie sich auf dem Boden, der sie genährt, zur Ruhe legen.

Und das ist gewiß, daß die Belle-Roulotte vermöge der Flinten und Revolver ihrer Inwohner und der sie bewachenden Hunde nachts die vollste Sicherheit gewährte.

So war dieser Familienwagen beschaffen. Wie viele, viele, zahllose Meilen durch die Union, von Newyork bis Albany, vom Niagara bis Buffalo, Saint Louis, Philadelphia, Boston, Washington, längs des Mississippi bis New-Orleans, längs des Great-Trunk bis zu den Rocky-Mountains, ins Mormonenland und ins Innerste von Kalifornien er seit drei Jahren zurückgelegt hatte! Hygienische Reisen, wenn es je welche gegeben! Denn kein Mitglied der kleinen Truppe war jemals krank gewesen – mit Ausnahme von John Bull, dessen Indigestionen ebenso häufig waren, wie sein Instinkt ihm zur Befriedigung seiner unglaublichen Naschhaftigkeit verhalf.

Und welche Freude es sein würde, diese Belle-Roulotte nach Europa zu bringen, auf den Landstraßen des alten Festlandes umherzufahren! Welch sympathische Neugierde dieselbe auf der Fahrt durch Frankreich, durch die ländlichen Gegenden der Normandie erregen würde! Ah! Frankreich wiedersehen, »seine Normandie wiedersehen«, wie in dem berühmten Liede von Bérat dahin ging alles Denken, alles Sehnen Cäsar Cascabels!

Einmal in Newyork angelangt, mußte das Gefährt zerlegt, eingepackt und an Bord eines nach Havre gehenden Paketbootes geschafft werden; dann brauchte man es nur wieder zusammenzustellen, um die Reise nach der Hauptstadt darin anzutreten.

Wie ungeduldig Herr Cascabel, seine Frau, seine Kinder und ohne Zweifel auch ihre vierfüßigen Gefährten, oder besser gesagt, ihre vierfüßigen Freunde, die Stunde der Abreise erwarteten! So verließen sie denn den großen Platz von Sakramento beim ersten Morgengrauen am 15. Februar, die einen zu Fuß, die andern im Wagen, jeder nach eigenem Gutdünken.

Die Luft war noch sehr frisch, aber das Wetter war schön. Selbstverständlich hatte man sich nicht ohne Zwieback, das heißt ohne verschiedene Fleisch- und Gemüsekonserven, eingeschifft. Übrigens würde man sich in den Städten und Dörfern neuerdings verproviantieren können. Und dann gab es ja Wild; sind doch Büffel, Damhirsche, Hafen und Rebhühner in diesen Gegenden reichlich vertreten! Und würde Jean sich's doch nicht versagen, seine Flinte zu nehmen und gehörigen Gebrauch davon zu machen, da die Jagd auf den weiten Prairien des Far West weder verboten, noch ein Erlaubnisschein dazu erforderlich ist! Jean war nämlich ein geschickter Schütze und der Wachtelhund [23] Wagram zeichnete sich vor dem Pudel Marengo durch die Jagd betreffende Eigenschaften ersten Ranges aus.

Als sie Sakramento verließ, schlug die Belle-Roulotte eine nordöstliche Richtung ein. Es handelte sich darum, die Grenze auf dem kürzesten Wege zu erreichen und die Sierra Nevada etwa zweihundert Kilometer weit bis zum Senora-Passe zu überschreiten, welcher den Zutritt zu den endlosen Ebenen des Ostens vermittelt.

Es war noch nicht der eigentliche Far West, wo man nur in weiten Zwischenräumen auf einen kleinen Flecken stößt; es war nicht die Prairie mit ihren fernen Horizonten, ihren weiten Wüstenstrecken, ihren indianischen Nomaden, welche die Civilisation allmählich gegen die minder besuchten Regionen Nordamerikas zurückdrängt. Schon in nächster Nähe von Sakramento wurde die Gegend hügelig. Man spürte die Ausläufer der Sierra, die mit ihren von schwarzen Tannen beschatteten, hier und da von fünftausend Meter hohen Spitzen überragten Bergketten einen herrlichen Rahmen um Alt-Kalifornien zieht. Es ist eine grüne Grenze, welche die Natur jener Gegend gegeben, wo sie soviel, jetzt von der menschlichen Habgier entführtes Gold aufgespeichert hatte. Der von der Belle-Roulotte eingeschlagene Weg berührte selbstverständlich die bedeutenden Städte Jackson, Mocquetenne, Placerville, guter berühmte Vorposten von Eldorado und Calaveras. Aber Herr Cascabel hielt sich dort nur eben lange genug auf, um einige Einkäufe zu besorgen, oder sich hin und wieder eine ruhigere Nacht zu gönnen. Er hatte Eile, die Berge der Nevada, das Land um den großen Salzsee und den ungeheuren Wall der Rocky-Mountains zu überschreiten, wo sein Gespann keine leichte Aufgabe haben würde. Hernach würde der Wagen bis zum Erie- oder Ontariosee nur mehr die von den Pferdehufen und Chariots der Karawanen durch die Prairie gebahnten Wege zu verfolgen brauchen.

Indessen kam man auf diesen gebirgigen Gebieten nicht rasch vorwärts. Die Reise verzögerte sich durch unvermeidliche Umwege. Überdies hatte die letzte Kälte des Winters ihre volle Schärfe bewahrt, obgleich diese Gegend unter dem achtunddreißigsten Breitegrad liegt, demselben, der in Europa Sizilien und Spanien durchschneidet. Bekanntlich ist das Klima Nordamerikas infolge der Entfernung des Golfstromes – jener warmen Strömung, die sich nach ihrem Austritte aus dem Golf von Mexiko in schräger Richtung gegen Europa hinzieht – unter derselben Breite ungleich kälter, als das des alten Festlandes. Aber noch einige Wochen und Kalifornien würde wieder jenes vor allen anderen freigebige Land, jene fruchtreiche Mutter geworden sein, wo jedes Getreidekorn sich verhundertfacht, wo die verschiedenartigsten Produkte der tropischen und der gemäßigten Zone, Zuckerrohr, Reis, Tabak, Orangen, Oliven, Citronen, Ananas und Bananen sich im Überflusse vereinen.

[24] Es ist nicht das Gold, welches den Reichtum des kalifornischen Bodens bildet, sondern die aus ihm emporsprießende außerordentliche Vegetation.


In diesen Bergländern kam man nur langsam vorwärts. (Seite 24.)

»Wir werden uns nach diesem Lande zurücksehnen,« sagte Cornelia, die nicht gleichgültig gegen Küchenfreuden war.

»Näscherin!« versetzte Herr Cascabel.

»O, es ist nicht meinetwegen, sondern der Kinder wegen!«

[25] Mehrere Tage zogen sie längs der Wälder durch die grünenden Prairien dahin. So zahlreich auch die sich davon nährenden Wiederkäuer sein mochten, es gelang ihnen nicht, den Grasteppich abzunützen, den die Natur dort unaufhörlich erneut. Man kann die vegetabilische Kraft jenes kalifornischen Gebietes nicht genug betonen, welchem kein anderes vergleichbar ist. Es ist die Kornkammer des Stillen Oceans, und die Handelsflotten, die seine Produkte exportieren, vermögen es nicht zu erschöpfen. Die »Belle-Roulotte« hielt ihre gewohnte Fahrgeschwindigkeit inne, durchschnittlich sechs bis sieben Meilen pro Tag – nicht mehr. In dieser Weise hatte sie ihr Personal bereits in sämtlichen Bundesstaaten umhergeführt, wo der Name Cascabel von den Mississippimündungen bis Neu-England so vorteilhaft bekannt war. Damals hatte man freilich in jeder Stadt der Union Halt gemacht, um Einnahmen zu erzielen. Jetzt auf dieser Reise von Westen nach Osten, handelte es sich nicht mehr darum, die Bevölkerungen in Erstaunen zu setzen. Diesmal galt es keine artistische Rundreise, sondern die Rückkehr ins alte Europa, mit normännischen Gehöften am Horizont.

Die Fahrt ging so lustig von statten, daß manches feststehende Haus dies rollende um das darin enthaltene Glück beneiden konnte. Man lachte, man sang, man scherzte, und manchmal jagte das Klapphorn, mit dem der junge Xander wohl umzugehen wußte, die Vögel in die Flucht, die ebenso geschwätzig wie diese fröhliche Familie waren.

Das war nun alles recht schön und gut, aber Reisetage brauchen nicht notwendigerweise Ferientage zu sein.

»Kinder,« sagte Herr Cascabel wiederholt, »man darf sich darum doch nicht einrosten lassen!«

Und wenn man Halt machte, um dem Gespann Ruhe zu gönnen, so rastete die Familie nicht. Mehr als einmal eilten die Indianer herbei, um Jean seine Taschenspielerstückchen probieren, Napoleone einige anmutige Pas ausführen, Xander sich wie ein Kautschukwesen verrenken, Herrn Cascabel bauchrednerische Effekte erzielen und Frau Cascabel Kraftübungen anstellen zu sehen, derweil Jako in seinem Käfig plapperte, die Hunde zusammen arbeiteten und John Bull sich in Grimassen erschöpfte.

Bemerken wir indessen, daß Jean seine Studien unterwegs nicht vernachlässigte. Er las wiederholt die wenigen Bücher, aus welchen die Bibliothek der Belle-Roulotte bestand: ein wenig Geographie und Arithmetik und verschiedene Reisebeschreibungen; er führte auch ein »Logbuch«, in welchem er die Zwischenfälle der Navigation in äußerst anziehender Weise aufzeichnete.

»Du wirst zu gelehrt werden!« sagte sein Vater manchmal zu ihm. Aber schließlich, wenn du Geschmack daran findest!...«

[26] Und Herr Cascabel hütete sich, die Instinkte seines Erstgeborenen anzufeinden. Im Grunde waren seine Frau und er sehr stolz darauf, einen »Gelehrten« in der Familie zu haben.

Am Nachmittage des siebenundzwanzigsten Februar langte die »Belle-Roulotte« vor den Engpässen der Sierra Nevada an. Vier bis fünf Tage hindurch würde die schwierige Übersteigung der Bergkette große Anstrengungen verursachen. Es würde eine harte Aufgabe für Menschen und Tiere sein, die Abhänge zu ersteigen. Man würde sich auf den engen, geschlängelten Wegen, welche die Flanken der ungeheuren Schranke umwinden, gegen die Räder stemmen müssen. Obleich das Wetter sich unter den frühzeitigen Einwirkungen des kalifornischen Frühlings fortwährend milder gestaltete, würde das Klima doch auf einer gewissen Höhe noch ziemlich rauh sein. Nichts Furchtbareres als die Regengüsse, die entsetzlichen Schneewehen, die wütenden Windstöße am Eingang der Schluchten, wo der Sturm sich wie in einem Trichter fängt. Überdies ragen die oberen Pässe in die Zone des ewigen Schnees hinein und man muß nicht weniger als zweitausend Meter emporklimmen, bevor man jenseits in das Land der Mormonen hinabsteigen kann.

Übrigens gedachte Herr Cascabel dasjenige zu thun, was er schon früher bei ähnlichen Anlässen gethan: er würde in den Dörfern oder Gehöften des Gebirges Aushilfspferde und Männer, Indianer oder Amerikaner, zu deren Führung mieten. Das würde ohne Zweifel eine Mehrausgabe bilden, aber es war eine Notwendigkeit, wenn die Familie ihr eigenes Gespann nicht dienstunfähig machen wollte.

Am Abend des siebenundzwanzigsten war der Sonora-Paß erreicht. Die bisher durchzogenen Thäler hatten nur unbedeutende Terrainschwierigkeiten geboten und Vermout und Gladiator hatten dieselben denn auch ohne allzu große Anstrengungen überwunden; aber der gegenwärtigen Aufgabe wären sie nicht einmal unter Mithilfe des ganzen Personals gewachsen gewesen.

In kurzer Entfernung von einem in den Schluchten der Sierra versteckten Dörfchen wurde Halt gemacht. Es bestand nur aus wenigen Häusern und einem auf doppelte Schußweite gelegenen Gehöfte, in welches Herr Cascabel noch denselben Abend zu gehen beschloß. Er wollte für den folgenden Tag Vorspann bestellen, welcher Vermout und Gladiator willkommen sein würde.

Vor allem mußte man Vorkehrungen treffen, um die Nacht an dieser Stelle zu verbringen.

Sobald das Lager gewohnheitsgemäß organisiert worden, setzte man sich mit den Einwohnern des Dörfchens in Verbindung, welche gern bereit waren, Menschen und Tiere mit frischer Nahrung zu versehen.

An jenem Abend war keine Rede vom »Repetieren« der Übungen. Alle [27] waren am Ende ihrer Kräfte nach dem schweren Tage, denn man hatte einen großen Teil des Weges zu Fuß zurücklegen müssen, um das Gespann zu schonen. Herr Cascabel gestattete denn auch eine vollständige Ruhe, welche auf den ganzen Nevada-Übergang ausgedehnt werden sollte.

Nachdem Herr Cascabel das Lager mit Herrscherblick gemustert, ließ er die Belle-Roulotte in der Obhut seiner Frau und Kinder zurück und schlug, von Clou begleitet, den Weg zu dem Gehöfte ein, dessen Schornsteine man durch die Bäume hindurch rauchen sah.

Jenes Gehöft war von einem Kalifornier und dessen Familie bewohnt, die den Gaukler gut aufnahmen. Der Landwirt verpflichtete sich, ihm am folgenden Tage drei Pferde und zwei Führer zur Verfügung zu stellen. Letztere sollten die Belle-Roulotte an die Stelle geleiten, wo die Abhänge sich gegen Osten zur Ebene hinabsenken; von dort würden sie mit dem Vorspann zurückkehren. Nur würde das einen hübschen Preis kosten.

Herr Cascabel erörterte diesen Preis als ein Mann, der sein Geld nicht zum Fenster hinauszuwerfen wünscht, und verstand sich schließlich zu einer Summe, welche den für diesen Teil der Reise bestimmten Kredit nicht überstieg.

Am folgenden Morgen um 6 Uhr erschienen die beiden Männer, und ihre drei Pferde wurden vor Vermout und Gladiator gespannt. Die Belle-Roulotte setze sich in Bewegung und bog in eine enge, stark bewaldete Schlucht ein. Gegen 8 Uhr waren jene wunderbaren Länderstrecken Kaliforniens, welche die Familie nicht ohne ein gewisses Bedauern verließ, an einer der Krümmungen des Engpasses vollständig hinter den Bergmassen der Sierra verschwunden.

Die drei Pferde des Landwirtes waren solide Tiere, auf die man schon bauen konnte. War das auch mit ihren Führern der Fall? Das schien zum mindesten zweifelhaft.

Es waren zwei starke Burschen, eine Art Mestizen, halb Indianer, halb Engländer. Ah! hätte Herr Cascabel das gewußt, wie schnell hätte er ihnen den Laufpaß gegeben!

Im ganzen genommen fand Cornelia ihr Aussehen verdächtig. Jean teilte die Ansicht seiner Mutter und Clou war derselben Meinung. Herr Cascabel schien nicht gut angekommen zu sein. Aber schließlich waren sie nur zu zweien und würden mit starken Gegnern zu thun haben, falls sie sich einer Übertretung schuldig machen wollten.

Was gefährliche Begegnungen in der Sierra betrifft, so waren dieselben nicht vorauszusehen. Die Straßen mußten in dieser Jahreszeit sicher sein. Die Zeit war vorüber, wo die kalifornischen Goldgräber, die sogenannten »Loafers« und »Rowdies«, sich mit aus allen Weltwinkeln gekommenen Missethätern [28] verbanden, um ehrlichen Leuten übel mitzuspielen. Das Lynchgesetz hatte sie schließlich zur Vernunft gebracht.

Indessen beschloß Herr Cascabel als vernünftiger Mann, auf seiner Hut zu sein.

Die auf dem Gehöft gemieteten Männer waren jedenfalls geschickte Fuhrleute. Der Tag verging denn auch ohne Unfall, und dazu mußte man sich vor allem anderen Glück wünschen. Das Brechen eines Rades oder einer Achse hätte die Bewohner der Belle-Roulotte, so fern von jeder menschlichen Wohnung, ohne die Möglichkeit, den Unfall zu reparieren, in die größte Verlegenheit versetzt.

Der Paß bot damals einen äußerst wilden Anblick. Keine andere Vegetation als schwärzliche Fichten und das den Boden bedeckende Moos. Hie und da vermehrten ungeheuere Felsmassen die Krümmungen des Weges, besonders längs eines Nebenflusses des Walkner, der aus dem See dieses Namens floß und sich tosend in tiefe Abgründe stürzte. In blauer Ferne ragte der Castle-Peak in die Wolken hinein und beherrschte die übrigen, pittoresk aus der Nevadakette emporstrebenden Gipfel.

Gegen fünf Uhr abends, als die Tiefen der engen Schlucht sich bereits in Schatten hüllten, hatte man eine scharfe Biegung zu überwinden. Der Weg war an dieser Stelle so steil, daß es notwendig wurde, den Wagen teilweise zu entlasten und den Hängekorb sowie die meisten auf der oberen Galerie untergebrachten Gegenstände einstweilen zurückzulassen.

Jedermann legte Hand an und man muß gestehen, daß die beiden Führer bei dieser Gelegenheit großen Eifer bewiesen. Herr Cascabel und die Seinigen kamen denn auch in Bezug auf diese Leute ein wenig von ihrem ersten Eindrucke zurück. Übrigens würde ja der höchste Punkt des Engpasses binnen zwei Tagen erreicht sein; dann ging es wieder bergab und der Vorspann kehrte in das Gehöft zurück.

Als ein Rastplatz gewählt war und während die Fuhrleute sich mit ihren Pferden beschäftigten, gingen Herr Cascabel, seine Söhne und Clou zurück, um die unterhalb des Abhanges gelassenen Gegenstände zu holen.

Ein gutes Nachtmahl beschloß diesen Tag und man dachte nur mehr daran, sich auszuruhen.

Herr Cascabel bot den Führern Schlafstätten in einer der Abteilungen der Belle-Roulotte an; aber sie dankten ihm mit der Versicherung, daß der Schutz der Bäume ihnen genügen werde. In große Decken gehüllt, würden sie im Freien besser über die Pferde ihres Herrn wachen können.

Wenige Sekunden später war das Lager in tiefen Schlaf versunken.

Am folgenden Morgen war alles beim ersten Tagesscheine auf den Beinen.


Herr Cascabel stürzte hinaus und rief: »Gestohlen!« (Seite 31.)

[29]

Herr Cascabel Jean und Clou, welche die Belle-Roulotte zuerst verließen, begaben sich nach der Stelle, wo Gladiator und Vermout am vorigen Abend eingepfercht worden.

Beide waren dort; aber die drei Pferde des Landwirts waren verschwunden.

[30] Da sie nicht weit sein konnten, ging Jean, um die Führer auf die Suche nach ihnen zu senden; aber die beiden Männer waren nicht mehr im Lager.

»Wo sind sie nur?« sagte er.

»Wahrscheinlich,« antwortete Herr Cascabel, »laufen sie ihren Pferden nach.«

»Holla!... Holla!...« rief Clou mit scharfer Stimme, die in großer Entfernung hörbar sein mußte.

Er erhielt keine Antwort.

Neue Rufe, welche Herr Cascabel und Jean aus vollem Halse ausstießen.

Die Führer erschienen nicht.

»Sollten wir uns doch nicht über ihr Aussehen getäuscht haben?« rief Herr Cascabel.

»Warum hätten die Leute uns verlassen?« fragte Jean.

»Weil sie uns irgend einen schlimmen Streich gespielt haben!«

»Welchen denn?«

»Welchen?... Warte!... Wir werden es gleich wissen!...«

Und von Jean und Clou gefolgt, kehrte er laufend zu der Belle-Roulotte zurück.

Auf den Tritt springen, die Thür aufschieben, sich durch die Abteilungen in das letzte Gelaß stürzen, wo die kostbare Handkasse untergebracht worden, das war für ihn das Werk einer Sekunde; dann erschien er wieder und schrie:

»Gestohlen!«

»Die Handkasse?« fragte Cornelia.

»Ja, von diesen Schuften gestohlen!«

4. Capitel
IV. Großer Entschluß.

Schufte!

Das war gewiß die Bezeichnung, die solchem Gesindel gebührte. Aber die Familie war darum nicht minder geplündert.

Bisher hatte Herr Cascabel jeden Abend nachgesehen, ob die Kasse sich auch an ihrem Platze befinde! Gestern aber hatte er, wie er sich jetzt erinnerte, infolge der schweren Anstrengungen des Tages schlaftrunken, seine gewöhnliche Vorsichtsmaßregel vergessen. Offenbar waren die beiden Führer, während er mit[31] Jean, Xander und Clou die zurückgelassenen Gegenstände holte, unbemerkt bis in die letzte Abteilung gedrungen, hatten sich der Handkasse bemächtigt und dieselbe in irgend einem Gestrüpp am Rande des Lagers versteckt. Das war auch der Grund ihrer Weigerung, die Nacht im Innern der Belle-Roulotte zu verbringen. Sie hatten abgewartet, bis die ganze Familie eingeschlafen war, und hatten sich dann mit den Pferden des Landwirts aus dem Staube gemacht.

Von sämtlichen Ersparnissen der kleinen Truppe war nichts übrig geblieben, mit Ausnahme einiger Dollars, die Herr Cascabel bei sich trug. Und dabei mußte man noch von Glück sagen, daß die Schurken nicht auch Vermout und Gladiator mit sich geführt hatten!

Die bereits seit vierundzwanzig Stunden an die Gegenwart der beiden Männer gewöhnten Hunde hatten nicht einmal angeschlagen und die Missethat war ohne Schwierigkeit verübt worden.

Wo sollte man die über die Sierra geflohenen Diebe suchen?... Wo das Geld wiederfinden?.. Und wie sollte man ohne dies Geld über den Atlantischen Ocean kommen?

Die Verzweiflung der Familie äußerte sich in den Thränen der einen, der Wut der andern. Anfangs war Herr Cascabel ganz außer sich und seine Frau und Kinder hatten große Mühe, ihn zu beruhigen. Aber als sein Zorn sich ausgetobt hatte, beherrschte er sich wie ein Mann, der seine Zeit nicht mit vergeblichen Rekriminationen verlieren darf.

»Verwünschte Kasse!« konnte Cornelia sich nicht enthalten, inmitten ihrer Thränen zu sagen.

»Das steht fest,« meinte Jean, »daß unser Geld, wenn wir keine Kasse gehabt hätten...«

»Jawohl... Ein hübscher Einfall, der mich dazu trieb, diese verteufelte Kiste zu kaufen!« rief Herr Cascabel. »Wenn man eine Kasse hat, so ist es entschieden vernünftig, nichts hinein zu thun! Was hilft's, daß sie feuerfest ist, wie der Verkäufer mir sagte, sobald sie keine Sicherheit gegen Räuber gewährt!«

Man muß gestehen, daß dies ein harter Schlag für die Familie war und es kann niemand wunder nehmen, wenn sie sich dadurch gebeugt fühlte, zweitausend so mühsam erworbene Dollars zu verlieren!

»Was thun?« sagte Jean.

»Was thun?« antwortete Herr Cascabel, dessen zusammengebissene Zähne die Worte zu kauen schienen. »Das ist sehr einfach!... Ohne Vorspann können wir den Paß nicht höher hinausgelangen... Daher schlage ich vor, in das Gehöft zurückzukehren... Vielleicht sind jene Lumpen dort...«

»Wenn sie nicht etwa einen anderen Weg eingeschlagen haben!« sagte Clou-de-Girofle.

[32] Und das war allerdings mehr als wahrscheinlich. Indessen, wie Herr Cascabel wiederholt sagte, mußte man umkehren, da man nicht vorwärts konnte.

So wurden denn Vermout und Gladiator eingespannt und der Wagen schlug den Rückweg durch den Sierra-Engpaß ein.

Ach! das fiel nur zu leicht! Man kommt schnell von der Stelle, wenn es nur bergab geht. Aber die Truppe schritt niedergeschlagen einher. Alles schwieg, bis auf Herrn Cascabel, der von Zeit zu Zeit eine Flut von Flüchen ausstieß.

Mittags hielt die Belle-Roulotte vor dem Gehöft. Die beiden Diebe waren nicht dahin zurückgekehrt. Als der Landwirt hörte, was geschehen war, geriet er in großen Zorn, ohne sich indessen sonderlich um die Familie zu kümmern. Hatte dieselbe ihr Geld eingebüßt, so war er um seine drei Pferde gekommen. Die Missethäter mußten über den Paß hinüber geflohen sein. Da war guter Rat teuer! In seiner Wut war der Landwirt nahe daran, Herrn Cascabel für den Raub seiner Tiere verantwortlich zu machen.

»Das ist doch stark!« sagte dieser. »Warum halten Sie solche Schurken in Ihrem Dienste und warum verdingen Sie dieselben an ehrliche Leute?«

»Wußte ich's denn?« entgegnete der Landwirt. »Ich hatte mich nie über sie zu beklagen gehabt!... Sie waren aus Britisch-Kolumbia gekommen...«

»Es waren Engländer?«

»Jawohl.«

»In diesem Falle warnt man die Leute, Herr, man warnt sie!« schrie Herr Cascabel.

Wie dem auch sein mochte, das Geld war gestohlen und die Lage eine äußerst ernste.

Aber wenn Frau Cascabel sich auch nicht so rasch zu fassen vermochte, so gewann doch ihr Mann mit der ihm eigenen Nomadenphilosophie bald seine Kaltblütigkeit wieder.

Und als sie aufs neue in der Belle-Roulotte versammelt waren, entspann sich ein Gespräch zwischen den Mitgliedern der Familie, ein Gespräch von hoher Wichtigkeit, »aus welchem ein großer Entschluß her vorgehen sollte,« wie Herr Cascabel mit feierlichem Nachdruck bemerkte.

»Kinder, es giebt Lebenslagen, in denen ein entschlossener Mensch wissen muß, was er will... Ich habe sogar bemerkt, daß dies besonders bei unangenehmen Lagen der Fall ist. So zum Beispiel bei derjenigen, in die wir uns durch die That jener Schurken jener Englishmen, versetzt sehen!... Es handelt sich darum, uns für den kürzesten Weg zu entscheiden, umsomehr, da es keinen längeren giebt... Es giebt nur einen, und diesen werden wir sofort einschlagen!«

[33] »Welchen?« fragte Xander.

»Ich werde euch gleich mit dem Plan bekannt machen, der mir durch den Kopf gefahren ist. Aber um zu wissen, ob derselbe ausführbar ist, muß Jean sein Dingsda mit den Landkarten bringen...«

»Meinen Atlas,« sagte Jean.

»Jawohl, deinen Atlas. Du mußt ja sehr stark in der Geographie sein!... Geh deinen Atlas holen.«

»Sogleich, Vater.«

Und als der Atlas auf dem Tische lag, fuhr Herr Cascabel folgendermaßen fort:

»Es ist selbstverständlich, Kinder, daß wir, trotzdem diese Schufte von Engländern – habe ich es nicht geahnt, daß es Engländer waren! – uns unsere Kasse gestohlen, – was habe ich auch den Einfall gehabt, eine Kasse zu kaufen! – es ist trotzdem selbstverständlich, sage ich, daß wir unsere Absicht, nach Europa zurückzukehren, nicht aufgeben...«

»Sie aufgeben?... niemals!« rief Frau Cascabel.

»Würdig gesprochen, Cornelia! Wir wollen nach Europa zurückkehren, und wir werden dahin zurückkehren. Wir wollen Frankreich wiedersehen, und wir werden es wiedersehen. Wenn wir durch Gesindel geplündert worden sind, so soll uns das nicht... Ich wenigstens, ich muß die Luft der Heimat atmen, sonst sterbe ich...«

»Und du sollst nicht sterben, Cäsar! Wir sind nach Europa aufgebrochen... wir werden trotz allem dahin gelangen...«

»Und auf welche Weise?« fragte Jean nachdrücklich. »Ja! auf welche Weise?«

»In der That, auf welche Weise?« versetzte Herr Cascabel, indem er sich die Stirne rieb. »Freilich können wir, wenn wir unterwegs Vorstellungen geben, von Tag zu Tag genug verdienen, um die Belle-Roulotte nach Newyork zu bringen... Aber einmal dort, giebt es für uns, ohne die zur Bezahlung der Überfahrt nötige Summe, kein Paketboot!... Und in Ermangelung eines Paketbootes könnte man höchstens schwimmend übers Meer gelangen... Was mir doch etwas schwierig scheint...«

»Sehr schwierig, Herr Direktor,« antwortete Clou, »wenn man nicht etwa Schwimmhäute...«

»Hast du welche?«

»Ich glaube nicht...«

»Nun, dann schweige und höre zu!«

Er wandte sich zu seinem Ältesten.


Der Wagen fuhr den Engpaß hinab. (Seite 33.)

»Jean, schlage deinen Atlas auf und zeige uns die Stelle, wo wir uns soeben befinden!«

[34] [36]Jean suchte die Karte von Nordamerika und breitete dieselbe vor seinem Vater aus. Alle betrachteten sie, während Jean mit dem Finger auf einen Punkt der Sierra Nevada, ein wenig östlich von Sakramento, deutete.

»Hier ist die Stelle,« sagte er.

»Wohl,« antwortete Herr Cascabel. »Wenn wir also auf der andern Seite des Gebirges angelangt wären, so müßten wir das ganze Gebiet der Vereinigten Staaten bis Newyork durchmessen?«

»Ja, Vater.«

»Und wieviele Meilen macht das aus?«

»Gegen dreizehnhundert Meilen.«

»Wohl! Dann müßte man über den Ocean setzen?«

»Allerdings.«

»Wieviele Meilen beträgt dieser Ocean?«

»Ungefähr neunhundert bis Europa.«

»Und einmal in Frankreich angelangt, sind wir sozusagen gleich in unserer Normandie?«

»Sozusagen, ja!«

»Und das macht zusammen?«

»Zweitausendzweihundert Meilen!« rief die kleine Napoleone, die an ihren Fingern gezählt hatte.

»Seht doch das Jüngferlein!« sagte Herr Cascabel. »Das versteht sich bereits aufs Rechnen! – Also zweitausendzweihundert Meilen?...«

»Ungefähr, Vater,« antwortete Jean, »und ich glaube sie reichlich bemessen zu haben!«

»Nun denn, Kinder, dies Endchen Weges wäre kein Gegenstand für die Belle-Roulotte, wenn sich nicht zwischen Amerika und Europa ein Meer befände, ein verwünschtes Meer, das ihr hinderlich ist. Und dieses Hindernis kann man nicht ohne Geld bewältigen, das heißt ohne Paketboot...«

»Oder ohne Schwimmhäute!« wiederholte Clou.

»Er bleibt bei seinen Schwimmhäuten!« meinte Herr Cascabel achselzuckend.

»Also ist es augenscheinlich,« folgerte Jean, »daß wir im Osten nicht fortkommen!«

»Es ist unmöglich, wie du sagst, mein Sohn, absolut unmöglich! Aber... vielleicht im Westen?«...«

»Im Westen?« rief Jean, indem er seinen Vater ansah.

»Jawohl... Sieh ein wenig nach und zeige mir, welchen Weg man in westlicher Richtung nehmen müßte.«

»Man müßte vorerst Kalifornien, Oregon und das Gebiet von Washington bis zur nördlichen Grenze der Vereinigten Staaten durchziehen.«

[36] »Und dann?«

»Dann käme Britisch-Kolumbia...«

»Pfui!« machte Herr Cascabel. »Könnte man dies Kolumbia nicht umgehen?«


Man müsse vorerst Kalifornien durchqueren.

»Nein, Vater.«

»Sei's drum!... Dann?...«

[37] »Einmal an der Nordgrenze von Kolumbia angelangt, hätten wir die Provinz Alaska vor uns...«

»Die englisch ist?«

»Nein, russisch – wenigstens bis jetzt; denn es ist die Rede davon, daß sie annektiert werden soll...«

»Von England?«

»Nein... von den Vereinigten Staaten.«

»Vortrefflich!... Und was kommt nach Alaska?«

»Die Beringstraße, die Meerenge, welche die beiden Kontinente Amerika und Asien trennt.«

»Und wie viele Meilen hätten wir bis zu dieser Meerenge?«

»Elfhundert Meilen.«

»Merke dir's, Napoleone; du wirst dann zusammenzählen.«

»Und ich?...« fragte Xander.

»Du ebenfalls.«

»Also wie breit mag deine Meerenge sein, Jean?«

»An die zwanzig Meilen, Vater.«

»O! an die zwanzig Meilen!...« bemerkte Frau Cascabel.

»Ein Bach, Cornelia, sozusagen ein Bach!«

»Wieso!... Ein Bach?...«

»Ja... Übrigens, Jean, friert deine Meerenge nicht im Winter zu?«

»Doch, Vater! Sie ist vier bis fünf Monate hindurch fest gefroren...«

»Bravo! und dann kann man sie auf dem Eise passieren?«

»Man kann es und man thut es auch.«

»Ah! prächtige Meerenge!«

»Aber ist hernach kein Meer mehr im Wege?« fragte Cornelia.

»Nein! Man befindet sich auf dem asiatischen Festlande, welches sich bis an die europäisch-russische Grenze erstreckt.«

»Zeig uns das, Jean.«

Und Jean suchte in dem Atlas die Karte von Asien, welche Herr Cascabel aufmerksam musterte.

»Ei, das macht sich nach Wunsch,« sagte er, »wenn nicht zu viele wilde Gegenden in deinem Asien sind!...«

»Nicht allzu viele, Vater.«

»Und wo liegt Europa?«

»Dort,« antwortete Jean, den Finger auf die Uralgrenze legend.

»Und wie groß ist die Entfernung von jener Meerenge... jenem Beringbache... bis ins europäische Rußland?«

»Man zählt sechzehnhundert Meilen.«

»Und von dort nach Frankreich?«

[38] »Gegen sechshundert.«

»Und all das macht, von Sakramento aus?...«

»Dreitausenddreihundertzwanzig Meilen!« riefen Xander und Napoleone zugleich.

»Ihr bekommt beide eine gute Klassifizierung!« sagte Herr Cascabel. »Also in östlicher Richtung zweitausendzweihundert Meilen?...«

»Ja, Vater.«

»Und in westlicher cirka dreitausenddreihundert?«

»Ja; ein Unterschied von etwa elfhundert Meilen...«

»In westlicher Richtung,« schloß Herr Cascabel, »aber kein Meer auf dem Wege! Also, Kinder, wenn man auf einer Seite nicht weiter kann, so muß man sich nach der anderen wenden; und das ist es, was ich euch ganz einfach zu thun vorschlage!«

»Ei! Eine Reise nach rückwärts!« rief Xander.

»Nicht nach rückwärts, sondern nur in umgekehrter Richtung!«.

»Sehr wohl, Vater,« antwortete Jean. »Indessen möchte ich dir zu bedenken geben, daß wir bei der Länge des Weges dieses Jahr nicht mehr nach Frankreich kommen können, wenn wir die westliche Richtung wählen.«

»Warum denn nicht?«

»Weil elfhundert Meilen mehr doch keine Kleinigkeit für die Belle-Roulotte und ihr Gespann sind.«

»Nun denn, Kinder, wenn wir dieses Jahr nicht mehr nach Europa kommen, so werden wir nächstes Jahr dort eintreffen! Und dabei fällt mir ein, wenn wir schon durch Rußland müssen, so können wir die Messen von Perm, Kasan, Nischni besuchen, von denen ich so oft reden gehört; und ich stehe euch dafür, daß die berühmte Familie Cascabel dort einen guten Eindruck machen und auch reichliche Einnahmen erzielen wird!«

Was für Einwendungen kann man einem Manne machen, der auf alles eine Antwort hat?

In der That ist es mit der Seele wie mit dem Eisen. Unter wiederholten Schlägen zieht sie sich zusammen, wird sie zäh und widerstandsfähig! So war es auch bei diesen wackern Gauklern. Während ihres mühsamen und abenteuerlichen Nomadenlebens, das ihnen mancherlei Prüfungen auferlegt, hatten sie sich ohne Zweifel niemals in einer so peinlichen Lage befunden: – ihre Ersparnisse verloren, die Rückkehr ins Vaterland auf dem gewöhnlichen Wege unmöglich geworden. Aber das Unglück hatte ihnen diesen letzten Hammerschlag so rauh versetzt, daß sie nunmehr die Kraft in sich fühlten, allem Kommenden die Stirne zu bieten.

Frau Cascabel, ihre beiden Söhne und ihre Tochter spendeten im Chor den Vorschlägen des Vaters Beifall. Und doch war das wirklich der reinste [39] Unsinn und Herr Cascabel mußte auf die Rückkehr nach Europa arg versessen sein, um die Ausführung eines solchen Planes zu beschließen! Aber was war ihm eine Reise durch den Westen Amerikas und durch Sibirien, sobald Frankreich das Ziel derselben bildete?

»Bravo!... Bravo!...« rief Napoleone.

»Da capo!... da capo!...« fügte Xander hinzu, der keine bedeutsameren Worte fand, um seine Begeisterung auszudrücken.

»Sag doch, Vater,« fragte Napoleone, »werden wir den Kaiser von Rußland sehen?«

»Gewiß, wenn Seine Majestät der Zar die Gewohnheit hat, sich auf der Messe von Nischni amüsieren zu kommen.«

»Und wir werden vor ihm arbeiten?«

»Jawohl... falls es ihm Vergnügen macht...«

»Ah! wie gern ich ihn auf beide Wangen küssen möchte!«

»Vielleicht wirst du dich mit einer begnügen müssen, Töchterchen!« erwiderte Herr Cascabel. »Aber wenn du ihn umarmst, so gieb wohl acht, daß du ihm seine Krone nicht verdirbst!...«

Auch Clou-de-Girofle empfand die ungeteilteste Bewunderung für seinen Herrn und Gönner.

So würde denn die Belle-Roulotte der festgesetzten Reiseroute gemäß ihren Weg durch Kalifornien, Oregon und das Gebiet von Washington nach der anglo-amerikanischen Grenze nehmen. Es waren noch etwa fünfzig Dollars vorhanden – das Taschengeld, welches glücklicherweise nicht in der Handkasse verwahrt worden war. Da eine so geringe Summe indessen nicht die Reisekosten decken konnte, beschloß man, daß die kleine Truppe in Städten und Dörfern Vorstellungen geben werde. Die dadurch verursachten Verzögerungen brauchten kein Bedenken zu erregen. Mußte man doch warten, bis die Meerenge in ihrer ganzen Breite zufror und dem Gefährt den Übergang gestattete. Das aber konnte erst in sieben bis acht Monaten geschehen.

»Und es müßte doch mit dem Teufel zugehen,« sagte Herr Cascabel zum Schlusse, »wenn wir vor unserer Ankunft am äußersten Ende Amerikas nicht einige hübsche Einnahmen machten.«

Um die Wahrheit zu sagen, war es sehr problematisch, ob man in den oberen Gegenden Alaskas unter den wandernden Indianerstämmen »Geld machen« würde. Aber bis zur westlichen Grenze der Vereinigten Staaten, in jenem Teile des neuen Festlandes, welchen die Familie Cascabel noch nicht besucht hatte, würde das Publikum sie ohne Zweifel auf ihren bloßen Ruf hin nach Verdienst willkommen heißen.

Jenseits der Grenze lag dann freilich Britisch-Kolumbia, und obgleich es dort zahlreiche Städte gab, würde Herr Cascabel sich niemals, nein, niemals [40] dazu erniedrigen, Shillings oder Pence zu sammeln. Es war schon mehr als genug, es war schon zu viel, daß die Belle-Roulotte und ihr Personal über zweihundert Meilen weit den Boden einer britischen Kolonie unter den Füßen haben sollte!

Was Sibirien mit seinen weiten, unbewohnten Steppen betrifft, so würde man dort kaum einige jener Samojeden- oder Tschuktschentrupps antreffen, welche [41] selten die Küstengebiete verlassen. Dort standen allerdings keine Einnahmen in Aussicht. Übrigens würde man sehen, wenn man hinkäme.


Ja, Frau Direktor, eine prächtige Idee. (Seite 42.)

Als alles verabredet war, entschied Herr Cascabel, daß die Belle-Roulotte sich gleich morgen bei Tagesanbruch auf den Weg machen solle.

Einstweilen galt es zu soupieren. Cornelia ging mit gewohntem Eifer an die Arbeit, und während sie am Herde hantierte, sagte sie zu ihrem Gehilfen Clou-de-Girofle:

»Es ist doch ein prächtiger Einfall, den Herr Cascabel da gehabt hat!«

»Jawohl, Frau Direktorin, ein prächtiger Einfall, wie übrigens alle, die in seinem Kessel kochen... will sagen, in seinem Hirn umgehen...«

»Und dann, Clou, kein Meer zu durchschiffen und keine Seekrankheit...«

»Wenn nicht etwa... das Eis in jener Meerenge schaukelt!«

»Genug Clou, keine bösen Prophezeiungen!«

Unterdessen führte Xander einige gefährliche Sprünge aus, die seinen Vater entzückten, während Napoleone anmutig tanzte und die Hunde um sie herum sprangen. Man hatte jetzt Grund, sich zu üben, da die Vorstellungen wieder aufgenommen werden sollten.

Plötzlich rief Xander:

»Und die Tiere haben wir nicht um ihre Meinung über unsere große Reise befragt!«

Er lief augenblicklich zu Vermout hin:

»Nun, mein alter Klepper, wird dir ein tüchtiger Trab von dreitausend Meilen behagen?«

Dann wandte er sich zu Gladiator:

»Was werden deine armen alten Beine dazu sagen?«

Die beiden Pferde wieherten, als wollten sie ihre Zustimmung geben.

Hierauf befragte Xander die Hunde:

»Und du, Wagram, und du, Marengo, wollt ihr euch hübsche Luftsprünge gestatten?

Freudiges, von bedeutsamen Sätzen begleitetes Gebell. Kein Zweifel, Wagram und Marengo würden auf einen Wink ihres Herrn die Reise um die ganze Welt antreten.

Jetzt war die Reihe, seine Meinung kundzuthun, an dem Affen.

»Höre, John Bull!« rief Xander, »schau nicht so kläglich drein! Du wirst fremde Länder sehen, mein Junge! Und sollte dirs zu kalt werden, so ziehen wir dir eine warme Jacke an! Wie steht's mit deinen Grimassen?... Ich hoffe doch, daß du deine Grimassen nicht vergessen hast?«

Nein! John Bull hatte sie nicht vergessen, und er schnitt so komische Grimassen, daß er die allgemeine Heiterkeit erregte.

Blieb noch der Papagei.

[42] Xander nahm ihn aus seinem Käfig, und der Vogel schritt auf und ab, mit dem Kopfe wackelnd und sich auf seinen Füßen wiegend.

»Nun, Jako,« fragte Xander, »du antwortest mir nicht?... Hast du etwa deine Stimme verloren?... Wir werden eine schöne Reise machen!... Bist du's zufrieden, Jako?«

Jako holte eine Anzahl von artikulierten Lauten aus dem Grunde seines Halses hervor, in denen die »r« rollten, als ob sie dem mächtigen Kehlkopfe des Herrn Cascabel entströmt wären.

»Bravo!« rief Xander. »Jako ist zufrieden!... Jako stimmt zu!... Jako hat ›ja‹ gesagt!«

Und die Hände auf der Erde, die Füße in der Luft, führte der junge Bursche eine Reihe von Purzelbäumen und Verrenkungen aus, welche ihm väterliche Bravorufe eintrugen.

In diesem Augenblicke erschien Cornelia.

»Zu Tische!« rief sie.

Eine Sekunde später saßen die Tischgenossen im Speisezimmer, wo das Mahl bis zur letzten Krume aufgezehrt wurde.

Alles schien bereits vergessen, als Clou das Gespräch auf die berüchtigte Geldkasse zurücklenkte.

»Aber da fällt mir ein, Herr Direktor!« sagte er, »jene zwei Schurken haben sich eigentlich gehörig angeschmiert!«

»Wieso?« fragte Jean.

»Da sie das Wort nicht kennen, werden sie die Kasse niemals öffnen können...«

»Und so werden sie dieselbe vermutlich zurückbringen,« antwortete Herr Cascabel laut auflachend.

Ganz in seinen neuen Plan vertieft, hatte dieser merkwürdige Mensch den Raub bereits verschmerzt.

5. Capitel
V. Unterwegs.

Ja, unterwegs nach Europa, aber auf einer selten gewählten und Reisenden, die es eilig haben, nicht anzuempfehlenden Route.

»Und dennoch haben wir's eilig« dachte Herr Cascabel bei sich, »besonders da uns auf die Dauer das Geld ausgehen könnte!«

Der Aufbruch fand am Morgen des 2. März statt. Bei Tagesanbruch wurden »Vermout« und »Gladiator« vor die Belle-Roulotte gespannt. Frau [43] Cascabel nahm mit Napoleone darin Platz, während ihr Mann und ihre beiden Söhne zu Fuß gingen und Clou die Lenkseile hielt. John Bull hatte an der oberen Galerie Posto gefaßt und die beiden Hunde waren bereits vorausgelaufen.

Es war schönes Wetter. Junge Säfte schwellten die ersten Knospen der Büsche. Der Lenz präludierte bereits all jenen Herrlichkeiten, welche er inmitten der kalifornischen Horizonte so reichlich entfaltet. Die Vögel sangen im Laube der immergrünen Eichen und in den Fichten, deren schlanke Wipfel sich über wucherndem Heidekraut wiegten. Hier und da standen Gruppen von kleinen Kastanienbäumen und einige Exemplare jener Apfelbäume, deren Früchte unter dem Namen Mazanillen zur Bereitung des indianischen Ciders verwendet werden.

Während er mittelst seiner Landkarte die Einhaltung der verabredeten Reiseroute beaufsichtigte, vergaß Jean nicht, daß es ihm noch ganz besonders oblag, die Küche mit frischem Wildpret zu versorgen. Überdies würde Marengo ihn daran erinnert haben. Ein tüchtiger Jäger und ein tüchtiger Hund verstehen einander, ganz besonders in wildreichen Gegenden, wie hier. Es verging kaum ein Tag, an dem Frau Cascabel nicht einen Hafen, ein gehaubtes Rebhuhn, einen Auerhahn oder ein paar Gebirgswachteln mit eleganten Kopffedern, deren aromatisches Fleisch eine vorzügliche Speise bildet, zuzubereiten gehabt hätte. Wenn die Jagd in den Ebenen Alaskas bis zur Beringstraße hinauf ebenso befriedigende Ergebnisse bot, so brauchte die Familie keine großen Auslagen für ihre tägliche Nahrung zu machen. Vielleicht würde sie drüben, auf dem asiatischen Festlande, minder erfolgreich sein? Aber man würde sich schon beraten, wenn die Belle-Roulotte in den endlosen Steppen des Tschuktschenlandes anlangte.

Einstweilen ging alles nach Wunsch. Herr Cascabel war nicht der Mann dazu, die günstige Witterung und Temperatur, deren man sich während dieser Zeit erfreute, unbenützt zu lassen. Man eilte auf den Wegen, welche die sommerlichen Regengüsse einige Monate später unfahrbar machen würden, so schnell vorwärts, wie das Gespann es gestattete, – das heißt durchschnittlich sieben bis acht Meilen pro Tag, wobei man mittags Halt machte, um zu essen und zu ruhen, und um sechs Uhr abends ein Lager für die Nacht bezog. Die Gegend war nicht, wie man glauben könnte, verlassen. Die Feldarbeit rief bereits die Ackerleute heraus, welche diesem reichen und freigebigen Boden einen Wohlstand verdanken, der in jedem andern Weltteil Neid erregen könnte. Überdies kam man häufig an Gehöften, Weilern, Dörfern, Marktflecken, ja selbst Städten vorüber, besonders als die Belle-Roulotte das linke Ufer des Sakramento hinauffuhr, durch jene Gegend, welche das eigentlichste Goldland gewesen und noch heute den bedeutsamen Namen Eldorado führt.

[44] Dem Programme ihres Oberhauptes gemäß, gab die Familie Vorstellungen, wo immer sich Gelegenheit zur Verwertung ihrer Talente bot. Sie war in jenem Teile Kaliforniens noch nicht bekannt. Und giebt es nicht überall wackere Leute, die gern bereit sind, sich zu amüsieren? In Placerville, Aubury, Marysville, Tchama und anderen mehr oder minder wichtigen Städten, die der »ewige« amerikanische Cirkus, der sie von Zeit zu Zeit aufsucht, bereits ein wenig blasiert hat, heimsten die Cascabels ebenso viele Bravos wie Cents ein, welch letztere sich auf eine Gesamtsumme von mehreren Dutzend Dollars beliefen. Fräulein Napoleones Anmut und Kühnheit, Herrn Xanders außerordentliche Gelenkigkeit, Herrn Jeans wunderbare Fertigkeit in Taschenspielerkünsten, Clou-de-Girofles verduzte Mienen und Albernheiten wurden von allen Kennern nach Verdienst gewürdigt. So auch die beiden Hunde, die im Verein mit John Bull Wunder leisteten. Was Herrn und Frau Cascabel betrifft, so zeigten sie sich ihres Rufes wert, der eine in Kraftproben, die andere im Ringkampfe mit flachen Händen, bei welchem sie die gegen sie auftretenden Amateurs unfehlbar in den Sand warf.

Man schrieb den 12. März, als die Belle-Roulotte die kleine Stadt Shasta erreichte, welche der Berg desselben Namens mit vierzehntausend Fuß Höhe überragt. Gegen Westen zogen sich die verworrenen Massen der Coast-Ranges dahin, welche man glücklicherweise nicht zu übersteigen brauchte, um die Grenze von Oregon zu erreichen. Aber die Gegend war sehr unregelmäßig; man mußte sich zwischen den kapriziös verzweigten Ausläufern des Gebirges hindurchwinden und konnte auf den kaum zur Not gebahnten Wegen, welche man mit Hilfe der Landkarte aufsuchte, nur langsam vorwärts kommen. Überdies wäre die Reise durch das Küstenland, wo die natürlichen Hindernisse dünner gesäet waren, vorzuziehen gewesen; aber dazu hätte man die Coast-Ranges übersteigen müssen, deren Pässe absolut unzugänglich waren. Daher schien es vernünftiger, sich nordwärts zu halten und an der Grenze von Oregon die letzten Ausläufer der genannten Bergkette zu umgehen.

So lautete der von Jean, dem Geographen der Truppe, erteilte Rat, und man hielt es für das beste, denselben zu befolgen.

Nachdem sie das Fort Jones hinter sich gelassen, machte die Belle-Roulotte am 19. März bei dem Marktflecken Yrika Halt. Dort wurde der Familie ein guter Empfang zu teil, der ihr die Einkassierung einiger Dollars ermöglichte. Es war das erste Debut einer französischen Truppe in diesem Landstrich. Was wollen Sie? In jenen fernen Gegenden Amerikas liebt man die Kinder Frankreichs! Sie werden dort stets mit offenen Armen empfangen und fühlen sich gewiß wohler, als sie es bei einigen ihrer europäischen Nachbarn sein würden!

In diesem Marktflecken gelang es, Pferde um einen mäßigen Preis zu mieten, welche Vermout und Gladiator zu Hilfe kamen. So konnte die Belle-[45] Roulotte die Bergkette an ihrem nördlichen Ende überschreiten, und zwar diesmal ohne von den Führern geplündert zu werden.

»Meiner Treu!« meinte Herr Cascabel, es waren, soviel ich weiß, keine Engländer!«

Wenn diese Reise nicht von einigen Schwierigkeiten und Verzögerungen verschont blieb, so zog man sich doch, dank den getroffenen Vorsichtsmaßregeln, ohne Unfall aus der Sache.

Endlich gelangte die Belle-Roulotte am 27. März auf das Gebiet von Oregon. Die Ebene war im Osten von Mount Pitt begrenzt, der wie die Zeigerstange einer Sonnenuhr emporragt.

Tiere und Menschen hatten schwer gearbeitet. Man mußte sich eine kurze Rast in Jacksonville gönnen. Als hierauf der Roquesfluß überschritten war, zog der Weg sich durch die Windungen eines Küstengebietes dahin, das sich unabsehbar nach Norden ausdehnt.

Ein noch immer gebirgiges, aber reiches, dem Landbau ungemein günstiges Land. Rings Prairien und Wälder. Kurz, die Fortsetzung der kalifornischen Region. Hier und da Banden jener Saste- oder Umpaqua-Indianer, welche das Land durchstreifen, von denen man aber nichts zu befürchten hatte.

Jetzt fand es Jean – welcher die Reisebeschreibungen in der kleinen Bibliothek emsig las und die daraus geschöpften Kenntnisse wohl zu verwerten gedachte – an der Zeit, eine beherzigenswerte Warnung auszusprechen.

Man befand sich mehrere Meilen nördlich von Jacksonville in einer dichtbewaldeten Gegend, welche das auf einem Hügel von zweitausend Fuß Höhe erbaute Fort Lane beschirmt.

»Man wird hier acht geben müssen,« sagte Jean, »denn in dieser Gegend wimmelt es von Schlangen.«

»Schlangen!« schrie Napoleone erschrocken auf, »Schlangen!... Laß uns forteilen, Vater!«


War der Roques-Fluß erst passiert... (Seite 46).

»Ruhig, Kind!« antwortete Herr Cascabel. »Wir werden bloß einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen haben.«

»Sind jene garstigen Tiere gefährliche« fragte Cornelia.

»Sehr gefährlich, Mutter,« antwortete Jean. »Es sind Klapperschlangen die allergiftigsten. Wenn man ihnen ausweicht, so greifen sie einen nicht an; aber wenn man sie berührt, wenn man sie aus Versehen stößt, so schnellen sie in die Höhe und beißen, ihr Biß ist fast immer tödlich.«

»Wo halten sie sich auf?« fragte Xander.

»Unter dürrem Laube, wo man sie nicht leicht sieht,« erwiderte Jean. »Da sie indessen mit den Ringen ihres Schweifes ein klapperndes Geräusch hervorbringen, so hat man Zeit, ihnen auszuweichen.«

[46] »Nun denn!« sagte Herr Cascabel. »Laßt uns auf unsere Füße achten und die Ohren offen halten!«

Jean hatte recht gethan, seine Familie zu warnen, da die Schlangen in den Distrikten Westamerikas wirklich stark verbreitet sind. Und es giebt dort nicht nur unmäßig viele Schlangen, sondern auch Taranteln, die eine fast ebenso große Gefahr bilden.

[47] Überflüssig, hinzuzufügen, daß man sich sehr in acht nahm und äußerst behutsam vorwärts schritt. Zudem hatte man die Pferde und andere Tiere der Truppe zu überwachen, welche den Angriffen der Insekten und Reptilien nicht weniger ausgesetzt waren als ihre Herrschaft.

Dann hatte Jean auch hinzufügen zu müssen geglaubt, daß jene verwünschten Schlangen und Taranteln die bedauerliche Gewohnheit haben, sich in die Häuser einzuschleichen und ohne Zweifel auch keinen Wagen respektieren. Man konnte daher befürchten, daß die Belle-Roulotte ihren unliebsamen Besuch erhalten werde.

Mit welcher Sorgfalt man demzufolge abends unter Betten und Möbeln, in Ecken und Winkeln nachsah! Napoleone stieß manchen durchdringenden Schrei aus, wenn sie eines jener garstigen Tiere zu erblicken glaubte; in jedem Endchen gewundenen Seiles sah sie eine Klapperschlange, wenngleich dasselbe keinen dreieckigen Kopf zur Schau trug. Und das Entsetzen, das sie empfand, wenn sie im Halbschlummer ein klapperndes Geräusch zu vernehmen glaubte! Und um die Wahrheit zu sagen, war Cornelia nicht viel zuversichtlicher als ihre Tochter.

»Zum Teufel!« rief ihr Mann eines Tages, die Geduld verlierend, aus; »zum Teufel mit den Schlangen, welche den Frauen Furcht einjagen, und mit den Frauen, die sich vor Schlangen fürchten! Unsere Mutter Eva war tapferer und unterhielt sich sogar ganz gern mit ihnen!«

»O!... das war im Paradiese!« antwortete das kleine Mädchen.

»Und sie hätte auch besseres thun können!« fügte Frau Cascabel hinzu.

Auch Clou war während der nächtlichen Raststunde besorgt. Anfangs wollte er große Feuer anzünden, zu denen die Wälder den nötigen Brennstoff geliefert hätten; aber Jean gab ihm zu bedenken, daß der Feuerschein zwar die Schlangen verscheuchen, die Taranteln hingegen anziehen dürfte.

Kurz, die Familie fühlte sich nur in den wenigen Dörfern ruhig, in denen die Belle-Roulotte übernachtete und wo die Gefahr natürlich viel geringer war.

Übrigens lagen die kleinen Marktflecken nicht sehr weit auseinander; so z. B. Canonville am Cow-Creek, Roseburg, Rochester, Youcalla, wo Herr Cascabel noch einige Einnahmen erzielte. Da er schließlich mehr verdiente als er ausgab, indem die Prairie ihn mit Gras für seine Pferde, der Wald mit Wild für seine Küche, die Flüsse mit vortrefflichen Fischen für seinen Tisch versahen, so kostete ihm die Reise eigentlich nichts. Und der kleine Schatz vermehrte sich. Aber ach! wie weit er hinter den in den Pässen der Sierra Nevada gestohlenen zweitausend Dollars zurückblieb!

Wenn die kleine Truppe indessen schließlich von den Bissen der Klapperschlangen und Taranteln verschont blieb, so wurde sie dafür auf andere Weise[48] heimgesucht. Es geschah dies wenige Tage später, – so viel verschiedene Mittel hat die freigebige Natur ersonnen, die armen Sterblichen auf dieser Erde zu Grunde zu richten!

Auf seiner Fahrt durch die Länderstrecken von Oregon war der Wagen soeben an Eugène-City vorübergekommen. Dieser Name hatte großes Vergnügen erregt, da sein französischer Ursprung auf der Hand lag. Herr Cascabel hätte jenen Landsmann, jenen Eugène, kennen mögen, der zweifelsohne als einer der Gründer des genannten Marktfleckens anzusehen war. Es mußte ein wackerer Mann gewesen sein; und wenn sein Name auch nicht unter den modernen Namen französischer Herrscher, eines Karl, Ludwig, Franz, Heinrich, Philipp... und Napoleon figurierte, so war er darum doch nicht minder französisch – gut französisch.

Nachdem sie in den Städten Harrisburg, Albany und Jefferson Halt gemacht, ging die Belle-Roulotte vor Salem, der am Ufer der Villamette gelegenen ziemlich bedeutenden Hauptstadt von Oregon, vor Anker. Man schrieb den 3. April.

Herr Cascabel gönnte den Seinen eine vierundzwanzigstündige Ruhe, – wenigstens als Reisenden, denn der große Platz des Fleckens diente den Künstlern zur Bühne, und eine schöne Einnahme entschädigte sie für ihre Anstrengungen.

In ihrer freien Zeit gingen Jean und Xander, da der Fluß ihnen als sehr fischreich beschrieben wurde, dem Vergnügen des Fischens nach.

Aber in der folgenden Nacht empfanden Eltern und Kinder solches Jucken am ganzen Körper, daß sie sich fragten, ob sie nicht etwa die Opfer irgend eines Scherzes geworden seien, wie sie noch heute bei Dorfhochzeiten vorkommen.

Und wie groß war ihr Erstaunen, als sie einander am folgenden Morgen betrachteten!...

»Ich bin so rot wie eine Indianerin des Far West!« rief Cornelia.

»Und ich bin ganz geschwollen!« rief Napoleone.

»Und ich bin vom Kopf bis zu den Füßen mit Blasen bedeckt!« rief Clou-de-Girofle.

»Was bedeutet das?« fügte Herr Cascabel hinzu. »Herrscht hier im Lande die Pest?«

»Ich glaube, ich weiß, was es ist,« antwortete Jean, indem er seine mit rötlichen Flecken bedeckten Arme betrachtete.

»Was denn?...«

»Wir sind von der Yedra angesteckt, wie die Amerikaner es nennen.«

»Hol der Teufel deine Yedra! Laß sehen: wirst du uns sagen, was das bedeutet?«

[49] »Die Yedra, Vater, ist eine Pflanze, die man, wie es scheint, bloß zu berühren, zu riechen, ja, auch nur zu sehen braucht, um allen durch sie verursachten Unannehmlichkeiten ausgesetzt zu sein. Sie vergiftet aus der Entfernung...«

»Wie?... wir sind vergiftet?« fiel Frau Cascabel ein; »vergiftet!...«

»O, fürchte nichts, Mutter,« beeilte sich Jean zu erwidern. »Wir werden mit einigem Jucken und vielleicht ein wenig Fieber davonkommen.«

Die Erklärung war richtig. Diese Yedra ist eine ungesunde, außer ordentlich giftige Pflanze. Wenn der Wind den fast unsichtbaren Samen dieser Staude verweht und die Haut in die geringste Berührung damit kommt, so wird sie rot und bedeckt sich mit Blasen und Ausschlag. Ohne Zweifel waren Herr Cascabel und die Seinigen in den vor Salem gelegenen Wäldern in eine Yedra-Strömung hineingeraten. Aber schließlich dauerte der Ausschlag, der ihnen allen großes Unbehagen verursachte, nicht länger als vierundzwanzig Stunden.

Am 5. April verließ die Belle-Roulotte Salem; sie trug eine klägliche Erinnerung an die waldigen Ufer der Villamette mit sich fort – obgleich dieser Flußname hübsch ist und in französischen Ohren einen guten Klang hat.

Die Familie passierte Fairfield, Canemah, Oregon-City, Portland, die bereits bedeutendere Städte sind, und erreichte am 7. April ohne weiteres Mißgeschick die Ufer der Kolumbia und damit die Grenze jenes Staates Oregon, den sie in einer Länge von hundertundfünfzehn Meilen durchzogen hatte.

Gegen Norden dehnte sich das Gebiet von Washington aus. Der östlich von der Reiseroute der Belle-Roulotte gelegene Teil ist gebirgig. Dort entwickeln sich die Verzweigungen der als Cascade-Ranges bekannten Bergkette, mit Gipfeln wie der neuntausendsiebenhundert Fuß hohe Mount St. Helena, sowie Mount Baker und Mount Bainer, die beide elftausend Fuß hoch sind. Die Natur scheint, nachdem sie sich von den Küsten des Atlantischen Oceans bis hierher in langen Ebenen erschöpft hat, ihre ganze Hebekraft aufzubieten, um die den Westen des neuen Festlandes bedeckenden Berge emporzutürmen. Wollte man diese Gebiete dem Meere vergleichen, so könnte man sagen, daß die bisher ruhige, gleichmäßige, schlummernde Flut hier wild und ungestüm wird und hohe Wogenkämme emporwirft.

Jean machte diese Bemerkung und der Vergleich gefiel seinem Vater ungemein.

»So ist es, so ist es in der That!« antwortete er. »Auf das schöne Wetter folgt Sturm. Pah! unsere Belle-Roulotte ist festgefügt! Die wird keinen Schiffbruch erleiden. Zu Schiffe, Kinder, zu Schiffe!«

Und man schiffte sich ein, und das Fahrzeug verfolgte seinen Kurs durch die wogende Gegend. Bald begann auch das Meer – um den Vergleich fortzusetzen – sich zu glätten! und dank den Bemühungen der Mannschaft entging die Arche Cascabel den schlimmsten Gefahren. Wenn sie auch manchmal ihre Geschwindigkeit mäßigen mußte, so gelang es ihr doch wenigstens, die Klippen zu umschiffen.


Jean und Xander gaben sich dem Vergnügen des Fischens hin. (Seite 49.)

Dann fand sie auch in allen Marktflecken, in Kalmera, in Monticello, eine gute und sympathische Aufnahme. Desgleichen in den Forts, die eigentlich nur als militärische Wachtposteli zu betrachten sind; sie [50] besitzen keine Mauern, [51] höchstens Pallisaden; aber ihre kleinen Besatzungen genügen doch, die das Land durchstreifende Indianertrupps im Zaume zu halten.

Die Belle-Roulotte wurde denn auch weder von den Chinoux noch von den Nesquallys behelligt, als sie sich durch das Walla-Walla-Land wagte. Wenn diese Indianer abends das Lager umschwärmten, so bekundeten sie keinerlei böse Absicht. Was sie in die höchste Verwunderung versetzte, das war John Bull, dessen Grimassen ihre Heiterkeit erregten. Sie hatten noch nie einen Affen gesehen und hielten diesen ohne Zweifel für ein Mitglied der Familie.

»Ei, jawohl!... Es ist mein kleiner Bruder!« sagte Xander zu ihnen, was entrüstete Proteste seitens der Frau Cascabel zur Folge hatte.

Endlich erreichte man Olympia, die Hauptstadt des Staates Washington, und dort wurde »auf allgemeines Verlangen« die letzte Vorstellung der französischen Truppe in den Vereinigten Staaten gegeben. Nicht weit davon erstreckte sich die äußerste Grenze der Konföderation im Nordwesten Amerikas.

Jetzt führte der Weg längs der Küste des Stillen Oceans oder vielmehr längs jener zahlreichen, regellosen »Sounds« dahin, welche durch die großen Inseln Vancouver und Queen-Charlotte geschützt sind.

Nachdem man das Städtchen Stellakööm passiert hatte, mußte man die Pagget-Sounds umgehen, um das an der Meerenge zwischen den Inseln und dem Festlande gelegene Fort Bettingham zu erreichen.

Dann kam der Wachtposten Whatcome mit dem in die Wolken des Horizonts ragenden Mount Baker, und der Posten Srimiahmoo am Rande der Georgia Strait.

Endlich, nachdem sie von Sakramento aus gegen hundertfünfzig Meilen zurückgelegt, gelangte die Belle-Roulotte am siebenundzwanzigsten April an die gegenwärtige, im Frieden von 1817 festgesetzte Grenze von Britisch-Kolumbia.

6. Capitel
VI. Fortsetzung der Reise.

Zum erstenmal in seinem Leben sollte Herr Cascabel, ein natürlicher und unversöhnlicher Feind Englands, den Faß auf englischen Boden setzen. Zum erstenmale sollte seine Sandale britische Erde berühren und sich mit dem angelsächsischen Staube beschmutzen! Möge der Leser uns diese emphatische Ausdrucksweise verzeihen! Aber es war dies ganz gewiß die Form, welche [52] der fragliche Gedanke in jenem Gauklerhirn annehmen mußte, das so zäh an seinem längst gegenstandslos gewordenen patriotischen Hasse festhielt.

Zwar lag Kolumbia nicht in Europa. Es gehörte nicht zu jener Gruppe, welche England, Schottland und Irland unter der Bezeichnung Großbritannien bilden. Aber es war darum doch ebenso englisch wie Indien, Australien, Neuseeland, und dementsprechend Cäsar Cascabel zuwider.

Britisch-Kolumbia bildet eine der bedeutendsten Kolonien des britischen Reiches, indem es Neuschottland und die aus Ober- und Nieder-Kanada bestehende Dominion sowohl, als auch das der Hudsonbai-Gesellschaft überlassene ungeheure Territorium umfaßt. In der Breite reicht es von einem Weltmeer zum andern, von den Küsten des Stillen Oceans bis zu denen des Atlantischen. Im Süden stößt es an die Grenze der Vereinigten Staaten, die sich von Washington bis Maine hinzieht.

Es war also wirklich englischer Boden, über den der Weg nach Norden führte. Im ganzen genommen hatte man bloß gegen zweihundert Meilen zurückzulegen, um die südliche Spitze von Alaska, der russischen Besitzungen in Westamerika, zu erreichen. Nichtsdestoweniger waren zweihundert Meilen auf »diesem verhaßten Boden«, wenn sie für die an lange Pilgerreisen gewöhnte Belle-Roulotte auch nur eine Spazierfahrt bedeuteten, doch zweihundertmal zu viel, und Herr Cascabel gedachte sie in möglichst kurzer Zeit zu überstehen.

Von nun an machte man höchstens in den Speisestunden Halt. Es gab keine gymnastischen Künste, keine Tänze, keine Ringkämpfe mehr. Das angelsächsische Publikum mochte sehen, wie es ohne dieselben fertig wurde! Die Familie Cascabel empfand nichts als Verachtung für die mit dem Bilde der Königin versehenen Münzen. Ein Papierdollar war ihr lieber als eine silberne Krone oder ein goldenes Pfund.

Unter diesen Umständen wird man begreifen, daß die Belle-Roulotte den Städten und Dörfern auswich. Wenn die Jagd unterwegs die Verköstigung des Personals zu bestreiten vermochte, so brauchte man den Produzenten dieses abscheulichen Landes keine ihrer Produkte abzukaufen.

Man möge nicht wähnen, daß diese Haltung einer Art Affektation des Herrn Cascabel entsprang. Nein! sie war natürlich. Und der Philosoph, der sein Mißgeschick so gefaßt hingenommen, der nach dem Raube in der Sierra Nevada seine gute Laune wiedererlangt hatte, er wurde mürrisch und verstimmt von dem Augenblick an, wo er die Grenze Britisch-Amerikas überschritt. Er ging mit gesenktem Kopfe und verdrießlicher Miene, den Hut in die Stirne gedrückt, den harmlosen Reisenden, die seinen Weg kreuzten, wilde Blicke zuschleudernd. Die Lust zum Lachen war ihm vergangen, das sah man, als Xander sich vermittelst eines unzeitigen Scherzes eine derbe Zurechtweisung zuzog.

[53] Der Junge ließ es sich nämlich an jenem Tage einfallen, eine Viertelmeile mit schrecklichen Verrenkungen und Grimassen rücklings vor dem Wagen einherzugehen.

Und als ihn sein Vater nach dem Beweggrunde dieser, zum mindesten sehr ermüdenden Art der Fortbewegung fragte, antwortete er augenzwinkernd:

»Wir machen doch eine Reise nach Rückwärts!«

Die Übrigen brachen ob dieser Erwiderung in Lachen aus, – sogar Clou, der dieselbe sehr amüsant fand.... wenn sie nicht etwa absolut dumm sei.

»Xander!« sagte Herr Cascabel in strengem Ton, indem er seine hochfahrendste Miene annahm, »wenn du dir nochmals Späße dieser Art zu einer Zeit erlaubst, wo wir nicht zum Scherzen aufgelegt sind, so werde ich dich gehörig an den Ohren ziehen!«

»Aber Vater...«

»Still!... Im Lande der English lacht man nicht.«

Und die Familie wagte in Gegenwart ihres strengen Oberhauptes nicht mehr den Mund zu öffnen, wenngleich sie nicht in ganz so hohem Maße antisächsisch gesinnt war, wie er.

Der Teil von Britisch-Kolumbia, welcher an das Küstengebiet des Stillen Oceans stößt, ist sehr abwechslungsreich. Im Osten von den Rocky Mountains begrenzt, deren Kette bis in die Polarregion hinausreicht, ist er im Westen an der tief ausgezackten, der norwegischen ähnlichen Bute-Küste von zahlreichen Fjords durchschnitten, welche eine Reihe hoher Gipfel pittoresk überragt. Dort erheben sich Piks, die in Europa, selbst in den Alpengegenden ihresgleichen suchen; Gletscher, welche die mächtigsten der Schweiz an Höhe und Ausdehnung weit zurücklassen. So Mount Hocker, der fünftausendachthundert Meter mißt – tausend Meter mehr als die höchste Kuppe des Mont Blanc –, so Mount Browne, der ebenfalls höher als jener Riese der Alpen ist.

Die von der Belle-Roulotte zwischen den östlichen und westlichen Höhenzügen eingehaltene Richtung führte durch ein breites und fruchtbares Tiefland, wo offene Ebenen mit herrlichen Wäldern abwechselten und der Fraserstrom, nach dem er etwa hundert Meilen weit von Süden nach Norden geflossen, sich in einen schmalen Meerarm zwischen der Bute-Küste, der Vancouver-Insel und dem von letzterer dominierten Archipel ergoß.

Diese Vancouver-Insel ist zweihundertfünfzig geographische Meilen lang und dreiundsechzig breit. Von den Portugiesen angekauft, wurde sie Gegenstand einer Besitzergreifung, die sie im Jahre 1789 in spanische Hände brachte. Zur Zeit, da sie noch Nutka hieß, dreimal von Vancouver durchforscht, trug sie den Namen des englischen Seefahrers sowohl, als den des Kapitäns Quadra, und ging schließlich gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts endgültig in großbritannischen Besitz über.

[54] Ihre Hauptstadt ist gegenwärtig Viktoria und ihre bedeutendste Stadt ist Nanaimo. Ihre reichen, anfänglich durch die Agenten der Hudsonbai-Gesellschaft ausgebeuteten Steinkohlenlager lieferten einen der bedeutendsten Handelsartikel zwischen San Francisco und den verschiedenen Häfen der Westküste.

Ein wenig nördlich von der Vancouver-Insel erstreckt sich die Queen-Charlotte-Insel, die bedeutendste des gleichnamigen Archipels, welcher die englischen Besitzungen in jenen Gewässern vervollständigt.

Man wird unschwer erraten, daß Herr Cascabel ebensowenig daran dachte, die Inselhauptstadt zu besuchen, wie er Adelaide oder Melbourne in Australien, Madras oder Kalkutta in Indien besucht haben würde. Er verwendete seine ganze Sorge darauf, das Fraserthal so rasch hinauszueilen, wie sein Gespann es nur immer gestattete, und verkehrte ausschließlich mit den Urbewohnern des Landes.

Übrigens fand die kleine Truppe hier leicht das zu ihrer Nahrung erforderliche Wild. Die Gegend wimmelte von Damhirschen, Hafen, Rebhühnern; und wenigstens, sagte Herr Cascabel, diente es zur Erhaltung ehrlicher Wesen, dies Wild, das sein ältester Sohn mit sicherem und flinkem Blei erlegte!... Auch hatte es kein angelsächsisches Blut in den Adern und konnte anstandslos von Franzosen verzehrt werden!

Das Gefährt passierte Fort Langley und drang immer tiefer ins Fraserthal. Man würde vergebens nach einem fahrbaren Wege auf diesem, fast ganz sich selber überlassenen Boden gesucht haben. Längs des rechten Flußufers bildeten breite Gras- und Kräuterstrecken den Saum der westlichen Wälder, hinter welchen hohe Bergesgipfel sich am Horizonte von dem meist grauen Himmel abhoben.

Wir müssen erwähnen, daß Jean bei dem unweit der Frasermündung gelegenen New-Westminster, einer der bedeutendsten Städte der Bute-Küste, Sorge getragen hatte, auf der zwischen beiden Ufern verkehrenden Fähre über den Fluß zu setzen. In der That eine weise Vorsicht, sobald sie, stromaufwärts ziehend, die Quellen des Flusses erreichte, würde die Belle-Roulotte dieselben nur mehr in westlicher Richtung zu umgehen brauchen. Es war das der kürzeste und auch der zugänglichste Weg, um jene Spitze von Alaska zu erreichen, welche in die kolumbische Grenze vorspringt.

Übrigens war Herr Cascabel, vom Zufall begünstigt, auf einen Indianer gestoßen, der sich erboten hatte, ihn bis an die russischen Besitzungen zu führen; und er sollte es nicht bereuen, sich diesem wackern Eingeborenen anvertraut zu haben. Offenbar würde das die Reisekosten vergrößern, aber es war besser, nicht auf einige Dollars zu sehen, wo es sich um die Sicherheit der Reisenden und die Schnelligkeit der Reise handelte.

[55] Der angenommene Führer hieß Ro-No. Er gehörte zu einem jener Stämme, deren Tyhis oder Häuptlinge häufige Beziehungen zu den Europäern unterhalten. Diese Indianer sind wesentlich verschieden von den Tchilicotten, einer falschen, verschlagenen, grausamen, wilden Rasse, vor der man sich im Nordwesten Amerikas hüten muß. Haben diese Banditen doch im Jahre 1864 an der Niedermetzelung des zum Bau einer Straße an der Bitte-Küste entsandten Personals teilgenommen! War doch der Ingenieur Waddington, dessen Tod in der ganzen Kolonie so tief beklagt wurde, unter ihren Streichen gefallen! Und erzählte man doch endlich zu jener Zeit, daß diese Tchilicotten das Herz eines ihrer Opfer herausgerissen und wie australische Kannibalen verzehrt hätten!

Jean, welcher die Schilderung jener fuchtbaren Metzelei in Frederic Whympers Reise durch Nordamerika gelesen, hatte denn auch seinen Vater von der Gefahr unterrichten zu müssen geglaubt, die eine Begegnung mit den Tchilicotten bilden würde; aber selbstverständlich sprach er der übrigen Familie nicht davon, um sie nicht unnötigerweise zu erschrecken. Überdies hatten die Rothäute sich, durch das Henken einer gewissen, bei jenem unseligen Ereignisse besonders kompromittierten Anzahl der Ihrigen eingeschüchtert, seither weise abseits gehalten. Dies bestätigte auch der Führer Ro-No, der den Reisenden versicherte, daß sie auf dem Wege durch Britisch-Kolumbia nichts zu befürchten hätten.

Das Wetter war unverändert schön. Die Hitze begann sogar sich zwischen Mittag und zwei Uhr nachmittags recht fühlbar zu machen. Die Knospen entfalteten sich längs der saftgeschwellten Zweige; Blätter und Blumen würden nicht lange zaudern, ihre Frühlingsfarben zu vereinen.

Die Gegend bot jetzt den Anblick, welcher nordischen Ländern eigentümlich ist. Das Fraserthal war von Wäldern eingefaßt, in denen das nordische Element dominierte: Cedern, Tannen und auch jene Douglas-Fichten, welche bei einem Umfange von fünfzehn Meter am Fuße des Stammes ihre Wipfel zu einer Höhe von hundert Fuß und mehr über dem Erdboden erheben. Die Wälder und Ebenen waren reich an Wild, und ohne sich zu weit zu entfernen, vermochte Jean den täglichen Anforderungen der Küche leicht zu entsprechen.

Übrigens sah diese Gegend keineswegs wie eine Wildnis aus. Hie und da lagen Dörfer, wo die Indianer in ziemlich gutem Einverständnisse mit den Beamten der angelsächsischen Verwaltung zu leben schienen. Auf dem Flusse sah man Flottillen jener Kanoes aus Cedernholz, welche mit Hilfe der Strömung abwärts treiben, oder mittelst Segel und Rudern stromaufwärts geführt werden.

Auch begegnete man häufig nach Süden ziehenden Rothäuten. In ihre [56] weißen Wollmäntel gehüllt, wechselten sie zwei, drei Worte mit Herrn Cascabel, der sie schließlich wohl oder übel verstehen lernte; sie bedienten sich nämlich eines eigentümlichen Idioms, des Chinouk, einer Mischung der französischen und englischen Sprache mit dem Jargon der Eingeborenen.

»Wohl!« rief er aus. »Nun kann ich Chinouk!... Noch eine Sprache, die ich spreche, ohne sie je erlernt zu haben!«


Dieser Führer nannte sich Ro-No. (Seite 56.)

Chinouk ist in der That – wie Ro-No gesagt hatte – der Name jener westamerikanischen Sprache, deren sich die verschiedenen Völkerschaften bis in die alaskischen Provinzen hinauf bedienen.

Dank dem frühen Anbruche der heißen Jahreszeit, waren die Schneemassen des Winters fast ganz ver [57] schwunden, obgleich sie sich manchmal bis in die letzten Tage des April halten. Folglich ging die Reise unter günstigen Bedingungen von statten. Ohne es zu sehr anzustrengen, trieb Herr Cascabel sein Gespann nach Möglichkeit vorwärts, um das kolumbische Gebiet je eher hinter sich zu lassen. Die Temperatur stieg allmählich, was man schon an den Moskitos allein bemerkt haben würde, die bald unerträglich wurden. Es fiel sehr schwer, das Innere der Belle-Roulotte davon frei zu halten, selbst mit der Vorsicht, nachts keinerlei Licht darin zu brennen.

»Verwünschte Tiere!« rief Herr Cascabel eines Tages nach einem vergeblichen Kampfe mit den quälenden Insekten.

»Ich möchte nur wissen, wozu diese garstigen Mücken da sind?« fragte Xander.

»Sie sind dazu da... um uns aufzufressen...« antwortete Clou.

»Und um besonders die Engländer in Kolumbia aufzufressen!« fügte Herr Cascabel hinzu. »Kinder! Formelles Verbot, eine einzige zu töten! Für die Herren English kann es ihrer nie zu viele geben; und das tröstet mich!«

Während dieses Teiles der Reise war die Jagd außerordentlich ergiebig. Man sah häufig Wild, besonders Damhirsche, die aus den Wäldern in die Ebenen herabkamen, um ihren Durst an den fließenden Wassern des Fraser zu stillen. Stets von Wagram begleitet, vermochte Jean einige derselben zu erlegen, ohne sich unvorsichtig weit zu entfernen – was seine Mutter beunruhigt haben würde. Manchmal ging Xander, glücklich, seine ersten Waffenthaten unter der Leitung seines älteren Bruders zu unternehmen, mit ihm auf die Jagd, und es wäre schwer gewesen, zu sagen, wer flinker und leichtfüßiger sei, der junge Jäger oder der Wachtelhund.

Jean, der sich bisher nur der Erbeutung einiger Damhirsche rühmen konnte, hatte jetzt auch das Glück, einen Büffel zu erlegen. Bei dieser Gelegenheit geriet er in ernstliche Gefahr; denn das durch seinen ersten Schuß bloß verwundete Tier raunte auf ihn zu und würde ihn unfehlbar zu Boden geworfen, zerstampft und aufgespießt haben, wenn er es nicht im letzten Augenblick durch einen Schuß vor den Kopf niedergestreckt hätte. Man kann sich denken, daß er die Einzelheiten dieses Vorfalles verschwieg. Aber da die kühne That einige hundert Schritt weit vom Ufer des Fraser vollbracht worden, mußte man die Pferde ausspannen, um das ungeheure Tier zu schleppen, das mit seiner dicken Mähne einem Löwen glich.

Man weiß, wie nützlich dieser Wiederkäuer dem Prairie-Indianer ist, der sich nicht scheut, ihn mit Pfeil oder Lanze anzugreifen. Seine Haut bildet das Bett des Wigwams, die Decke der Familie, und erzielt häufig einen Kaufpreis von cirka zwanzig Piastern. Was sein Fleisch betrifft, so trocknen die Eingeborenen dasselbe an der Sonne; sie schneiden es in lange Schnitten; eine kostbare Hilfsquelle in Zeiten der Not.



[58] [60]Zwar essen die Europäer gewöhnlich bloß die Zunge des Büffels – und diese ist wirklich einer der feinsten Leckerbissen –, aber die Mitglieder der kleinen Truppe zeigten sich weniger heikel. Jene jungen Magen verschmähten keinerlei Speise. Überdies röstete, briet und kochte Cornelia das Fleisch so vorzüglich, daß es für ausgezeichnet erklärt wurde und zahlreiche Mahlzeiten lieferte. Von der Zunge des Tieres konnte jeder nur ein kleines Stückchen bekommen, aber nach allgemeinem Dafürhalten hatte man nie etwas Besseres gegessen.

Während der ersten vierzehn Tage auf kolumbischem Gebiete trug sich weiter nichts Erwähnenswertes zu. Indessen begann das Wetter umzuschlagen und der Zeitpunkt rückte heran, wo strömende Regengüsse den Marsch nach Norden zwar nicht behindern, aber doch verzögern würden.

Unter diesen Umständen war auch eine Überschwemmung infolge starken Steigens des, Fraser zu befürchten, welche die Belle-Roulotte großen Beschwerden oder gar Gefahren ausgesetzt haben würde.

Aber wenn der Fluß beim Anbruch der Regenzeit auch mächtig anschwoll, so trat er doch glücklicherweise nicht aus seinen Ufern, und die Ebenen blieben verschont, welche die Flut bis an die bewaldeten Thalwände überschwemmt haben würde. Allerdings konnte der Wagen auf dem durchweichten Boden nur mühsam vorwärts kommen, aber sein festes, wasserdichtes Dach bot der Familie Cascabel den sichern Schutz, den es ihr schon so oft gegen Sturm und Unwetter gewährt hatte.

7. Capitel
VII. Durch den Kariboo.

Wackerer Cascabel! Warum hattest du den Teil von Britisch-Kolumbia, der jetzt vor dir offen lag, nicht einige Jahre früher aufgesucht! Warum hatten die Wechselfälle deines Wanderlebens dich nicht dahin geführt, als der Boden noch voller Gold war und man sich nur zu bücken brauchte, um es aufzulesen! Warum bezog die Schilderung, die Jean seinem Vater von jener merkwürdigen Periode machte, sich nur auf die Vergangenheit und nicht auf die Gegenwart!

[60] »Das ist der Kariboo, Vater,« sagte Jean an jenem Tage; aber vielleicht weißt du nicht, was der Kariboo ist?«

»Ich habe keine Ahnung davon,« antwortete Herr Cascabel. »Ist es ein zwei- oder vierfüßiges Tier?«

»Ein Tier?« rief Napoleone. »Ist es groß?... Ist es böse?... Beißt es?...«

»Es ist kein Tier,« entgegnete Jean, »sondern ganz einfach eine Gegend, die diesen Namen trägt, das Goldland, das Eldorado Kolumbias. Welche Schätze es enthalten, wie viele Menschen es bereichert hat!...«

»Während es andere zu Grunde richtete, wie?« warf Herr Cascabel ein.

»Gewiß, Vater; ich will sogar hinzufügen, daß die letzteren in der Mehrheit waren. Und doch gab es Goldgräberverbände, welche täglich bis zu zweitausend Mark Goldes gewannen. In einem gewissen Thale des Kariboo, dem William-Creek, wühlte man förmlich im Gold!«

Aber so bedeutend der Ertrag jenes goldreichen Thales auch gewesen, es waren zu viele Menschen zu seiner Ausbeutung herbeigeströmt. Durch die Schwärme von Goldsuchern und das sie begleitende Gesindel wurde das Leben dort außerordentlich schwierig, gar nicht zu reden von der ungeheuren Verteuerung aller Dinge. Die Preise der Nahrungsmittel waren horrend; das Brot kostete einen Dollar per Pfund. Ansteckende Krankheiten entwickelten sich in dieser ungesunden Umgebung. Und so gingen schließlich die meisten Besucher des Kariboo elendiglich zu Grunde. Es war dasselbe, was sich wenige Jahre vorher in Australien und in Kalifornien zugetragen hatte.

»Vater,« meinte Napoleone, »es wäre doch sehr nett, wenn wir einen großen Goldklumpen auf unserem Wege fänden!«

»Was würdest du denn damit anfangen, Herzchen?«

»Was ich damit anfangen würde?« antwortete Napoleone. »Ich würde es Mütterchen übergeben, die es sogleich gegen klingende Münze umtauschen würde!«

»Nun denn, suchen wir!« sagte Clou; »wir werden ganz gewiß welches finden, wenn wir nicht etwa...«

»Vergeblich suchen, wie?« fiel Jean ein. »Und das wird uns ganz gewiß passieren, mein armer Clou, denn der Kasten ist leer... absolut leer!«

»Nun... nun...« entgegnete Xander; »man wird ja sehen...«

»Halt, Kinder!« sagte Herr Cascabel plötzlich in seinem nachdrücklichsten Tone. »Ich verbiete euch, euch auf diese Weise zu bereichern! Von englischem Boden aufgelesenes Gold... Pfui!... Eilen wir, eilen wir schnell vorwärts, ohne uns durch das Mitnehmen eines Goldklumpens, und wäre er auch so groß wie Clous Kopf, zu erniedrigen! Und wenn wir an die Grenze gelangen, so werden wir, selbst wenn kein Plakat mit den Worten: ›Man wird [61] gebeten, sich die Schuhe abzuwischen‹, dort angebracht ist, uns den kolumbischen Staub von den Füßen schütteln, Kinder!«

Immer derselbe, dieser Cäsar Cascabel! Aber möge er sich beruhigen! Wahrscheinlich wird keines der Seinigen Gelegenheit haben, das kleinste Goldkorn aufzulesen!

Aber trotz des Verbotes des Herrn Cascabel schweiften prüfende Blicke unterwegs unaufhörlich über den Boden hin. Jeder Kiesel schien Napoleone und insbesondere Xander sein Gewicht in Gold wert zu sein. Und warum auch nicht? Nimmt doch Nordamerika unter den goldreichen Gegenden den ersten Rang ein! stehen ihm doch Australien, Rußland, Venezuela, China nach!

Indessen hatte die Regenzeit begonnen. Täglich fielen große Wassermassen und machten die Reise immer schwieriger.

Der indianische Führer trieb das Gespann an. Er fürchtete, daß die bisher fast ausgetrockneten Rios oder Creeks, die sich in den Fraser ergießen, unter plötzlichen Zuflüssen anschwellen möchten. Wie sollte man über dieselben gelangen, wenn die Furten nicht mehr passierbar wären? Die Belle-Roulotte würde Gefahr laufen, während der mehrwöchentlichen Regenzeit nicht von der Stelle zu können. Folglich mußte man schleunigst aus dem Fraserthal hinauszukommen suchen.

Wir sagten bereits, daß man die Eingeborenen dieser Gegend nicht zu fürchten brauchte, seitdem die Tchilicotten gegen Osten zurückgedrängt worden waren.

Das war richtig, aber es gab dort gewisse furchtbare Tiere – Bären zum Beispiel –, mit denen eine Begegnung ernste Gefahr bringen konnte.

Das erfuhr Xander bei einem Anlasse, wo er das Unrecht, seinem Vater ungehorsam zu sein, beinahe teuer bezahlt hätte.

Es war am Nachmittag des siebzehnten Mai. Die Familie hatte etwa fünfzig Schritte jenseits des Creek, den das Gespann soeben trockenen Fußes passiert hatte, Halt gemacht. Die Ufer dieses Creek waren so steil, daß ein Übergang absolut unmöglich geworden wäre, wenn irgend ein plötzliches Anschwellen ihn in einen Sturzbach verwandelte.

Da man einige Stunden rasten sollte, ging Jean vorwärts, um zu jagen, während Xander, trotzdem er den Befehl hatte, sich nicht weit vom Lager zu entfernen, unbemerkt über den Creek zurückging, bloß mit einem zwölf Fuß langen Seile versehen, das er zusammengerollt am Gürtel trug.

Der Bursche wußte, was er wollte: er hatte einen glänzenden, buntgefiederten Vogel bemerkt; er gedachte demselben zu folgen, um sein Nest zu entdecken, denn er konnte mit Hilfe des Seiles jeden beliebigen Baum erklimmen, um sich dieses Nestes zu bemächtigen.

Indem er sich so entfernte, beging Xander eine um so größere Unvorsichtigkeit, [62] als das Wetter drohend aussah. Ein schweres Gewitter zog schnell heraus. Aber wer kann einen Buben zurückhalten, der einem Vogel nachstellt?

So befand Xander sich denn bald in einem dichten Walde, dessen Ausläufer an das linke Ufer des Creek heranreichten. Der Vogel hüpfte von Zweig zu Zweig und schien ihn zum Scherze weiterzulocken.

Ganz mit der Verfolgung beschäftigt, vergaß Xander, daß die Belle-[63] Roulotte binnen zwei Stunden wieder aufbrechen sollte; und so war er, zwanzig Minuten nachdem er das Lager verlassen, bereits eine starke halbe Meile weit in die Tiefen des Forstes gedrungen Hier gab es keine Wege, höchstens enge, von dem um Cedern und Tannen wachsenden Dorngestrüpp überwucherte Wildpfade.


Es ist vergebens, einen wilden Jungen aufzuhalten.

Der Vogel schwang sich mit fröhlichem Geschrei von Baum zu Baum, während Xander wie eine junge Wildkatze lief und sprang. Nichtsdestoweniger waren all seine Anstrengungen vergeblich und der Vogel verschwand schließlich im Dickicht.

»Jetzt hol' ihn der Teufel!« rief Xander, stehen bleibend, sehr ärgerlich über seinen Mißerfolg.

Da erst erblickte er durch das Laubwerk den von dichten Wolken bedeckten Himmel. Schon flogen grelle Lichter über das dunkle Grün.

Es waren die ersten Blitze, von anhaltendem Donnergerolle gefolgt.

»Ich habe noch eben Zeit, zurückzukehren; und was wird der Vater sagen!« dachte der junge Bursche.

In diesem Moment fiel sein Blick auf einen eigentümlichen Gegenstand, einen Kiesel von sonderbarer Form, von der Größe eines Tannenzapfens, auf dem metallische Punkte glitzerten.

Und da bildete unser Bube sich gleich ein, daß dies ein hier vergessener Goldklumpen sein müsse! Mit einem Freudenschrei griff er danach, wog ihn in der Hand und steckte ihn in die Tasche, indem er sich vornahm, niemand etwas davon zu erwähnen.

»Wir werden ja sehen, was man dazu sagt,« murmelte er, »wenn ich ihn in schöne Goldstücke umgesetzt habe.«

Kaum hatte Xander seinen kostbaren Kiesel eingesteckt, als das Gewitter mit einem heftigen Donnerschlage losbrach. Der Widerhall desselben zitterte noch in weiter Ferne nach, als sich ein Brummen vernehmen ließ.

Am Rande eines kaum zwanzig Schritte entfernten Dickichts erhob sich ein ungeheurer, »Grizzly-Bär.«

So tapfer er auch war, so lief Xander doch schleunigst in der Richtung des Creek davon. Der Bär aber setzte ihm augenblicklich nach.

Wenn es Xander gelang, das Bett des Creek zu erreichen, zu passieren und sich in das Lager zu flüchten, so war er gerettet. Man würde den Bären auf dem linken Ufer schon in Atem zu halten und sogar zu erlegen wissen, um eine Bettdecke aus seinem Pelze zu machen.

Aber der Regen fiel bereits in Strömen, die Blitze zuckten unaufhörlich, der Himmel hallte von tosenden Donnerschlägen. Bis auf die Haut durchnäßt, durch die nassen Kleider am Laufen behindert, konnte Xander sich kaum mehr aufrecht halten, und ein Fall würde ihn in die Gewalt des Raubtieres geben.

[64] Trotzdem gelang es ihm, seine Distanz einzuhalten, und in weniger als einer Viertelstunde hatte er das Ufer des Creek erreicht.

Dort aber stellte sich ihm ein unüberwindliches Hindernis entgegen Der Creek hatte sich in einen Sturzbach verwandelt und riß Felsstücke, Bäume, Wurzeln mit sich fort. Die Flut reichte bis an den Rand der Ufer hinan. In diese Wirbel springen, hieß, sich rettungslos in den Tod stürzen.


Zwanzig Schritte vor ihm erhob sich ein kolossaler Bär. (Seite 64.)

[65] Xander wagte nicht umzukehren. Er wußte den Bären dicht hinter sich, bereit, ihn zu erdrücken. Und dabei war es unmöglich, der kaum zwischen den Bäumen sichtbaren Belle-Roulotte seine Nähe kundzuthun.

Da gab ihm sein Instinkt, fast ohne Überlegung, ein Auskunftsmittel ein, das ihn vielleicht retten konnte.

Fünf Schritte von ihm stand ein Baum, eine Ceder, die ihre unteren Äste über den Creek streckte.

Darauf zuspringen, ihren mittelgroßen Stamm umschlingen, sich mit Hilfe der rauhen Rinde bis zu den Ästen emporziehen, war für den gelenkigen Jungen das Werk einer Sekunde. Kein Affe hätte geschickter oder flinker sein können. Von einem kleinen Clown war das nicht zu verwundern; und so konnte er sich geborgen wähnen.

Leider nicht für lange. Denn der Bär war am Fuße des Baumes angelangt und begann daran emporzuklettern; es würde schwer sein, ihm zu entgehen, selbst wenn man sich in die höchsten Äste hinaufflüchtete.

Xander verlor seine Kaltblütigkeit nicht. War er doch der würdige Sohn des berühmten Cascabel und gewohnt, sich mit heiler Haut aus den ärgsten Klemmen zu ziehen!

Er mußte von dem Baume herabkommen, aber wie? dann mußte er den Sturzbach passieren, aber auf welche Weiser Durch den strömenden Regen angeschwollen, begann der Creek auszutreten und das rechte Ufer, auf dem sich das Lager befand, zu überfluten.

Um Hilfe rufen?... Inmitten des wütenden Sturmes mußte sein Geschrei ungehört verhallen. Überdies würden Herr Cascabel, Jean oder Cloude-Girofle, falls sie den Abwesenden suchten, denselben vorn, nicht im Rücken der Belle-Roulotte vermuten. Wie hätten sie auf den Gedanken kommen sollen, daß Xander über den Creek zurückgegangen sei?

Unterdessen kletterte der Bär langsam, aber immer höher hinan und mußte bald die unteren Aste der Ceder erreichen, während Xander dem Wipfel zustrebte.

Da kam dem Buben eine Idee Da einige der Äste sich etwa zehn Fuß weit über den Creek erstreckten, entrollte er hastig das an seinem Gürtel befestigte Seil und knüpfte dessen Ende zu einer Schlinge, die er mit einiger Mühe um die Spitze eines der horizontalen Äste warf; dann zog er den letzteren vermittelst des Seiles an sich und hielt ihn in dieser senkrechten Stellung fest.

All dies geschah mit Geschick, Schnelligkeit und großer Geistesgegenwart.

Es war aber auch keine Zeit zu verlieren; der Bär hatte die untersten Äste erreicht und suchte sich nun höher zu schwingen.

In diesem Augenblicke ließ Xander, das äußerste Ende des emporgezogenen [66] Astes erfassend, diesen wie eine Feder zurückschnellen und wurde wie ein Stein aus einer Katapulte über den Creek hinaus geschleudert. Nachdem er sich mittelst eines kräftigen Lendendruckes überschlagen, fiel er am rechten Ufer des Baches zu Boden, während der verdutzte Bär seine Beute durch die Luft davonfliegen sah.

»Ah! der Strick!«

Mit diesem Kompliment bewillkommnete Herr Cascabel den unbesonnenen Jungen in dem Augenblicke, wo er selber mit Jean und Clou an das Ufer des Creek kam, nachdem er den Buben umsonst in der Nähe des Lagers gesucht hatte.

»Strick!...« wiederholte er. »Welche Angst du uns eingejagt hast!«

»Nun denn, Vater, zause mich an den Ohren!« antwortete Xander. »Ich habe es verdient!«

Aber statt sich an den Ohren seines Sohnes schadlos zu halten, gab Herr Cascabel seinem eigenen Verlangen nach, ihn auf beide Wangen zu küssen, indem er sagte:

»Thu das nicht wieder! denn ein andermal...«

»Würdest du mich auch wieder küssen!« antwortete Xander, indem er seinem Vater einen herzhaften Kuß gab.

Dann rief er:

»Ha... der ist schön angeführt, mein Bär!... Er macht ein recht dummes Gesicht, der Hansnarr!«

Jean hätte das davonschleichende Tier gern erlegt; aber man durfte nicht daran denken, es zu verfolgen. Da das Wasser noch immer stieg, mußte man sich eilends vor der Überschwemmung flüchten, und so kehrten alle vier zu der Belle-Roulotte zurück.

8. Capitel
VIII. Gefährlicher Aufenthalt.

Acht Tage später, am sechsundzwanzigsten Mai, erreichte das Gespann die Quellen des Fraser. Der Regen war Tag und Nacht gefallen, aber wenn man den Versicherungen des Führers Glauben schenken durfte, so mußte das schlechte Wetter jetzt bald zu Ende sein.

Als die Quellen des Flusses auf ziemlich gebirgigen Wegen umgangen waren, drang die Belle-Roulotte in gerader Richtung gegen Westen vor.

[67] Noch einige Tagereisen und Herr Cascabel erreichte die Grenze von Alaska.

Die letzte Woche hindurch hatte der von Ro-No verfolgte Weg an keinem Marktflecken, keinem Weiler vorübergeführt. Übrigens hatte man allen Grund, mit den Diensten dieses Indianers zufrieden zu sein, denn er kannte das Land vollkommen.

An jenem Tage meldete der Führer Herrn Cascabel, daß er, wenn er wolle. in einem unsern gelegenen Dorfe Halt machen könne, wo eine vierundzwanzigstündige Rast den etwas übermüdeten Pferden gut anschlagen dürfte.

»Was für ein Dorf ist es?« fragte Herr Cascabel, stets voller Mißtrauen, wenn es sich um die kolumbische Bevölkerung handelte.

»Ein Koquinendors,« antwortete der Führer.

»Also kein Sachsennest!« rief Herr Cascabel. »Dann bin ich's zufrieden.«

Abends machte die Belle-Roulotte am Eingang dieses Dorfes Halt. Sie brauchte höchstens noch drei Tage, um die geographische Grenze zu erreichen, welche Alaska von Kolumbia trennt.

Dann würde Herr Cascabel ungesäumt seine gewohnte, auf dem Gebiete Ihrer britannischen Majestät so arg kompromittierte gute Laune wiederfinden.

Das Koquinendors war von einer indianischen Bevölkerung bewohnt; aber es beherbergte damals gerade eine Anzahl Engländer, Jäger von Beruf oder aus Liebhaberei, welche es nur in der Jagdsaison aufzusuchen pflegten.

Unter den eben anwesenden Offizieren der Garnison von Viktoria befand sich auch ein gewisser Baronet Sir Edward Turner, ein hochmütiger, brutaler insolenter, stark auf seine Nationalität eingebildeter Mensch, einer jener Gentlemen, die da glauben, sich aus dem einfachen Grunde, weil sie Engländer sind, alles gestatten zu dürfen. Selbstverständlich verabscheute er die Franzosen zum mindesten ebenso sehr, wie Herr Cascabel dessen Landsleute verabscheute. Man sieht, wie sehr diese beiden geschaffen waren, einander zu verstehen!

Nun geschah es am Abend desselben Tages, während Jean, Xander und Clou auf Proviant ausgegangen waren, daß die Hunde des Baronets in der Nähe der Belle-Roulotte auf Wagram und Marengo stießen, welche offenbar die nationalen Abneigungen ihres Herrn teilten.

So entstand denn Zwietracht zwischen dem Wachtelhund und Pudel einerseits und den »Pointers« andererseits, Lärm, Zähnefletschen, Kampf und schließlich Einschreiten der Eigentümer.

Sir Edward Turner trat auf den Lärm hin aus dem Hause, welches er am Eingang des Dorfes bewohnte, und kam, um die Hunde des Herrn Cascabel mit seiner Peitsche zu bedrohen.

Letzterer eilte dem Baronet augenblicklich entgegen und ergriff die Partei seiner Tiere.

[68] Sir Edward Turner – der sich in sehr korrektem Französisch ausdrückte – erkannte sofort, mit wem er zu thun hatte; er ließ seiner Insolenz die Zügel schießen und zögerte nicht, den Gaukler im besonderen und dessen Landsleute im allgemeinen mit britischer Grobheit zu traktieren.

Man kann sich leicht vorstellen, was Herr Cascabel bei solchen Reden empfand.

[69] Da er sich indessen in keine Händel einlassen wollte – noch dazu auf englischem Grund und Boden, wo irgendwelche Verwicklungen seine Reise verzögern konnten – so beherrschte er sich und sagte in untadelhaftem Tone:


Dann Lärm, Zähnefletschen und Kampf. (Seite 68.)

»Ihre Hunde haben die meinigen zuerst angegriffen, mein Herr.«

»Die Ihrigen!...« versetzte der Baronet. »Die Hunde eines Possen reißers!... Für solche Köter sind Stock- oder Peitschenhiebe viel zu gut!«

»Ich muß Ihnen bemerken,« entgegnete Herr Cascabel, der sich trotz seines Entschlusses, ruhig zu bleiben, zu erhitzen begann, »daß eine solche Ausdrucksweise keines Gentleman würdig ist.«

»Und doch gebührt einem Menschen Ihrer Sorte nichts besseres.«

»Mein Herr, ich bin höflich... und Sie sind ein Flegel!...«

»Ah! Hüten Sie sich!... Sie wagen es, Sir Edward Turner frech zu antworten!...«

Herr Cascabel brauste auf; mit blassem Gesichte, flammenden Augen und drohenden Fäusten schritt er auf den Baronet los, als Napoleone herbeieilte.

»Vater, komm doch!...« sagte sie. »Mama verlangt nach dir.«

Cornelia hatte ihre Tochter zu Cascabel geschickt, um ihn zur Rückkehr in die Belle-Roulotte zu bewegen.

»Gleich!« antwortete Herr Cascabel. »Bitte deine Mutter zu warten, bis ich mit diesem Gentleman abgerechnet habe, Napoleone.«

Bei diesem Namen brach der Baronet in ein verächtliches Gelächter aus.

»Napoleone!« wiederholte er, »Napoleone, diese Kleine!... Der Name jenes Ungeheuers, welches...«

Das war mehr, als Herr Cascabel ertragen konnte. Er trat mit gekreuzten Armen dicht vor den Baronet hin.

»Sie insultieren mich!« sagte er.

»Ich insultiere Sie... Sie?«

»Mich! und Sie insultieren den großen Mann, der Ihre Insel auf einmal in den Mund gesteckt hätte, wenn er dort gelandet wäre!...«

»Wahrhaftig?«

»Der sie wie eine Auster verschluckt haben würde!...«

»Elender Hanswurst!« schrie der Baronet.

Er war ein wenig zurückgewichen und warf sich in Positur, um sich durch Boxen zu verteidigen.

»Jawohl! Sie insultieren mich, mein Herr Baronet, und Sie werden mir dafür Rede stehen!«

»Einem Gaukler Rede stehen!«

»Indem Sie ihn insultierten, haben Sie ihn zu Ihresgleichen gemacht!...

[70] Und wir werden uns auf Degen, Pistolen, Säbel, was Sie wollen, schlagen... sogar mit den Fäusten!«

»Warum nicht mit Blasen,« gab der Baronet zurück, »wie Ihre Hanswürste auf den Brettern?«

»Verteidigen Sie sich...«

»Als ob man sich mit einem Marktschreier schlüge!«

»Doch!« schrie Herr Cascabel außer sich vor Wut, »doch! man schlägt sich... oder läßt sich schlagen.«

Und ohne zu bedenken, daß sein Gegner bei einer jener Boxereien, auf welche die Gentlemen sich trefflich verstehen, sicher im Vorteil sein würde, wollte er sich auf denselben stürzen, als Cornelia persönlich intervenierte.

Im selben Augenblick eilten einige Offiziere vom Regiment des Sir Edward Turner, seine Jagdgefährten, herbei; entschlossen, den Baronet nicht mit »solchem Gesindel« anbinden zu lassen, überschütteten sie die Familie Cascabel mit Schmähungen. Übrigens schienen diese Schmähungen nicht im stande zu sein, die imposante Cornelia aus der Fassung zu bringen. Sie begnügte sich damit, Sir Edward Turner einen Blick zuzuwerfen, welcher dem Beleidiger ihres Mannes nichts Gutes verhieß.

Jean, Clou und Xander waren ebenfalls herbeigekommen und der Streit drohte in Thätlichkeiten auszuarten, als Frau Cascabel rief:

»Komm, Cäsar, und auch ihr, Kinder, kommt!... Gehen wir!.... Alle in die Roulotte, und das augenblicklich!«

Ihr Ton war so gebieterisch, daß keiner dem Befehl zu trotzen wagte.

Aber welch einen Abend Herr Cascabel verbrachte! Sein Zorn legte sich nicht!... Er, in seiner Ehre, in der Person seines Helden angegriffen!... Von einem Englishman insultiert!... Er wollte ihn aufsuchen gehen, sich mit ihm, mit seinen Gefährten, mit sämtlichen Schuften in diesem elenden Dorfe schlagen!... Und seine Kinder begehrten nichts so sehr, als ihn begleiten zu dürfen! Selbst Clou sprach davon, eine englische Nase abzubeißen... wenn es nicht etwa ein englisches Ohr sein sollte!

Cornelia hatte wirklich große Mühe, diese Wütenden zu beruhigen. Im Grunde gestand sie sich, daß das Unrecht gänzlich auf Seite des Sir Edward Turner sei; sie konnte nicht leugnen, daß ihr Mann sowohl als die ganze Familie in einer Weise behandelt worden waren, wie man einander nicht behandelt, nicht einmal unter Marktschreiern der schlimmsten Sorte.

Da die Lage aber ungünstig genug war, so gab sie nicht nach, sondern bot dem Unwetter die Stirne und entgegnete auf die schließlich von ihrem Manne ausgesprochene Absicht, dem Baronet etwas an den Kopf werfen zu gehen:

»Ich verbiete Dir's, Cäsar!«

[71] Und obgleich Herr Cascabel vor Wut schäumte, mußte er sich den Befehlen seiner Gattin fügen.

Welche Eile Cornelia hatte, dies verwünschte Dorf am folgenden Morgen zu verlassen! Sie würde erst ruhig sein, wenn sie die ganze Familie ein paar Meilen weiter nordwärts sähe! Und um ganz sicher zu sein, daß niemand sich im Laufe der Nacht entferne, verschloß sie nicht nur sorgfältig die Thür der Belle-Roulotte, sondern blieb auch selber draußen, um Wacht zu halten.

Am nächsten Tage, dem siebenundzwanzigsten Mai, weckte Cornelia die Ihrigen schon um drei Uhr morgens. Größerer Sicherheit halber wollte sie vor Sonnenaufgang abfahren, während die Dorfbewohner, Indianer wie Engländer noch im Schlafe lagen. Es war dies das beste Mittel, um einen neuen Ausbruch der Feindseligkeiten zu verhüten. Und selbst zu dieser frühen Stunde – ein bemerkenswerter Umstand – schien die würdige Frau große Eile zu haben. Sehr erregt, mit unstetem Blicke und flammenden Augen, nach allen Seiten spähend, drängte, schalt und hetzte sie ihren Mann, ihre Söhne und Clou, die ihr viel zu langsam waren.

»Binnen wieviel Tagen werden wir die Grenze überschritten haben?« fragte sie den Führer.

»Binnen drei Tagen,« antwortete Ro-No, »wenn wir unterwegs nicht aufgehalten werden.«

»Vorwärts!..,« erwiderte Cornelia. »Und daß man unseren Aufbruch nur nicht bemerke.«

Man sollte sich aber denn doch nicht einbilden, daß Herr Cascabel die gestrigen Beleidigungen bereits verdaut habe! Das Dorf verlassen, ohne dem Baronet seine Schuld heimgezahlt zu haben, das war hart für einen ebenso heißblütigen als patriotischen Normannen!

»Das kommt davon,« sagte er wiederholt »wenn man den Fuß in ein John Bull gehöriges Land setzt!«

Aber wenn er auch die größte Luft empfand, in der Hoffnung auf eine Begegnung mit Sir Edward Turner durch das Dorf zu schlendern, wenn er auch mehr als einen Blick auf die verschlossenen Fensterläden des von diesem Gentleman bewohnten Hauses warf, so gelang es ihm doch nicht, sich von der schrecklichen Cornelia loszumachen. Sie ließ ihn keinen Augenblick aus den Augen.

»Wohin gehst du, Cäsar?... Bleib hier, Cäsar!... Ich verbiete dir, dich zu rühren, Cäsar!«...

Herr Cascabel hörte nichts anderes. Niemals hatte er sich in so hohem Grade unter dem Pantoffel seiner vortrefflichen und gebieterischen Lebensgefährtin befunden.

Dank den wiederholten Aufforderungen, wurden die Vorbereitungen schnell [72] beendet und die Pferde eingespannt. Um vier Uhr morgens waren Hunde, Affe und Papagei, Gatte, Söhne und Tochter sämtlich in den Abteilungen der Belle-Roulotte untergebracht, auf deren Kutschersitz Cornelia Platz nahm. Sobald Clou und der Führer sich an die Spitze des Zuges gestellt hatten, wurde das Zeichen zur Abfahrt gegeben.

Eine Viertelstunde später war das Koquinendors hinter dem Walle von grünen Bäumen, welcher es umgab, verschwunden. Der Tag brach eben an. Alles war still. Kein lebendes Wesen zeigte sich auf der langen Ebene, die sich gen Norden hinzog.

Und als es endlich gewiß war, daß der Aufbruch bewerkstelligt worden, ohne die Aufmerksamkeit irgend eines Dorfbewohners zu erregen, als Cornelia die volle Überzeugung erlangt hatte, daß weder Indianer, noch Engländer daran dachten, ihr den Weg zu vertreten, da stieß sie einen langen Seufzer der Erleichterung aus, durch den ihr Mann sich ein wenig verletzt fühlte.

»Du hattest also große Angst vor jenen Leuten, Cornelia?« fragte er sie.

»Sehr große Angst,« begnügte sie sich zu erwidern.

Die drei folgenden Tage vergingen ohne Zwischenfall und wie der Führer vorausgesagt hatte, langte man endlich bei der äußersten Grenze von Kolumbia an.

Als die Belle-Roulotte die alaskische Grenze glücklich überschritten hatte, konnte sie Halt machen.

Einmal dort, erübrigte es nur mehr, die Forderung des Indianers, der sich ebenso eifrig, als treu gezeigt hatte, zu begleichen und ihm für seine Dienste zu danken. Dann nahm Ro-No, nachdem er noch die Richtung bezeichnet hatte, die man einhalten müsse, um in kürzester Frist nach Sitka, der Hauptstadt der russischen Besitzungen, zu gelangen, von der Familie Abschied.

Nun er sich nicht mehr auf englischem Gebiete befand, hätte Herr Cascabel doch gewiß freier atmen müssen. Aber nein! Trotz der darüber hingegangenen drei Tage hatte er sich noch immer nicht von jenem Auftritt im Koquinendorse erholt. Die Sache lag ihm noch immer schwer auf dem Herzen. Er konnte sich denn auch nicht enthalten, Cornelia zu sagen:

»Du hättest mich umkehren lassen sollen, um mit jenem Mylord abzurechnen...«

»Das war bereits geschehen, Cäsar,« antwortete Frau Cascabel einfach. Jawohl... Geschehen und gründlich dazu!

Nachts, während die Ihrigen im Lager schliefen, war Cornelia lauernd um das Haus des Baronets gestrichen; und als sie ihn mit seiner Flinte herauskommen sah, um sich auf den Anstand zu begeben, war sie ihm einige hundert Schritte weit gefolgt. Sobald er tief genug in den Wald gelangt war, hatte ihm die Besitzerin des »ersten Preises der Wettkämpfe von Chicago« [73] eine Reihe jener Stöße versetzt, welche den Empfänger nach allen Regeln der Kunst zu Boden strecken. Braun und blau geprügelt, war Sir Edward Turner erst am nächsten Tage aufgelesen worden und mußte die Merkmale seiner Begegnung mit dieser liebenswürdigen Frau noch lange mit sich herumtragen.

»O Cornelia... Cornelia!...« rief ihr Mann, indem er sie in die Arme schloß; »du hast meine Ehre gerächt... du bist es wert, eine Cascabel zu sein.«

9. Capitel
IX. Zurück!

Alaska ist der im Nordwesten Nordamerikas zwischen dem zweiundfünfzigsten und zweiundsiebzigsten Breitegrad gelegene Teil des Festlandes und wird somit auf der Höhe der Beringstraße von der Linie des nördlichen Polarkreises durchschnitten.

Wenn man die Karte ein wenig aufmerksam betrachtet, so erkennt man deutlich, daß die Küste ein Profil von orientalischem Typus bildet. Die Stirne entwickelt sich zwischen der Barrow-Spitze und Cap Lisburn; die Augenhöhle wird vom Kotzebue-Sund, die Nase vom Prince-of-Wales-Cap, der Mund vom Norton-Sund und der traditionelle Spitzbart von der Halbinsel Alaska dargestellt, an welch letztere sich die in den Stillen Ocean hinausgestreuten Alëuten-Inseln reihen; der Umriß des Kopfes aber erscheint durch die verlängerten Höhenzüge des Ranges markiert, deren letzte Abhänge sich ins Eismeer herabsenken.

Dieses Land sollte die Belle-Roulotte in einer schrägen Ausdehnung von sechshundert Meilen durchreisen.

Selbstverständlich hatte Jean seine Berge, seine Flüsse, die Anlage des Küstengebietes, den ganzen Weg, den man einschlagen sollte, sorgfältig auf der Karte studiert. Er hatte sogar eine kleine Vorlesung darüber gehalten, welcher die Familie mit gespanntem Interesse gefolgt war.

Dank seinen Bemühungen wußten alle – sogar Clou –, daß diese im äußersten Nordwesten des amerikanischen Festlandes gelegene Gegend zuerst von den Russen, dann von dem Franzosen Layerouse und dem Engländer Vancouver, endlich von dem Amerikaner Mac Clure gelegentlich seiner Expedition zur Aufsuchung des Sir John Franklin besucht worden war.

[74] In der That war dieselbe, dank den Reisen Frederic Whimpers und Oberst Bulxleys, teilweise schon im Jahre 1865 bekannt, als man davon sprach, ein unterseeisches Kabel zwischen der alten und der neuen Welt durch die Beringstraße zu ziehen. Vor jener Epoche war die alaskische Provinz meist nur von den Agenten der mit Pelz- und Kürschnerwaren handelnden Geschäftshäuser bereist worden.

[75] Da tauchte die berühmte Doktrin Monroes wieder in der internationalen Politik auf, nach welcher ganz Amerika ausschließlich den Amerikanern gehören sollte. Wenn die großbritannischen Kolonien, Kolumbia und die Dominion, erst in einer mehr oder minder fernen Zukunft in den Besitz der Union gelangen konnten, so würde Rußland sich doch vielleicht dazu verstehen, Alaska, nämlich ein Gebiet von fünfundvierzigtausend Quadratmeilen, an sie abzutreten. So wurden denn der moskowitischen Regierung sehr ernstgemeinte Anträge in diesem Sinne gestellt.


Die Familie Cascabel hatte Halt gemacht. (Seite 76.)

In den Vereinigen Staaten hatte man anfangs ein wenig über den Staatssekretär Herrn Steward gespöttelt, als er sich anmaßte, Walrus-Sia, das »Robbenland«, erwerben zu wollen, von dem man nicht recht wußte, was die Republik damit anfangen solle. Aber Herr Steward beharrte mit echtem Yankee-Starrsinn, und im Jahre 1867 war die Sache bereits sehr weit gediehen. Wenn der Vertrag zwischen Amerika und Rußland noch nicht unterzeichnet war, so mußte er es in kürzester Frist werden.

Es war am Abend des einunddreißigsten Mai, als die Familie Cascabel jenseits der Grenze bei einer Gruppe großer Bäume Halt gemacht hatte. Hier befand die Belle-Roulotte sich in Alaska, auf durchaus russischem Gebiete und nicht mehr auf dem Boden von Britisch-Kolumbia. Herr Cascabel konnte in dieser Hinsicht beruhigt sein.

Er hatte denn auch seine gute Laune wiedererlangt, und das in so hohem Grade, daß alle die Seinigen davon angesteckt wurden. Jetzt würde ihr Weg bis ins europäische Rußland hinein nur mehr durch moskowitisches Gebiet führen. Alaska oder Sibirien, standen diese weiten Länderstrecken doch unter der Herrschaft des Zars!

Das war ein fröhliches Nachtmahl! Jean hatte einen großen und fetten Hasen geschossen, den Wagram im Gehölze aufgestöbert hatte. Einen echt russischen Hafen, wenn's gefällig ist!

»Und wir wollen eine gute Flasche trinken!« sagte Herr Cascabel. »Beim Himmel! diesseits der Grenze atmet sich's freier. Das ist amerikanische Luft, mit einer Beimischung von russischer Luft. Zieht sie in vollen Zügen ein, Kinder!... Geniert euch nicht!... Es ist genug da für alle – sogar für Clou, trotz seiner ellenlangen Nase. Uf!... Während unserer fünfwöchentlichen Reise durch jenes verwünschte Kolumbien bin ich beinahe erstickt!«

Als das Nachtmahl beendet und der letzte Tropfen der guten Flasche getrunken war, zog ein jeder sich in seine Abteilung und auf sein Lager zurück. Die Nacht verging sehr ruhig. Sie wurde weder durch das Nahen schädlicher Tiere, noch durch das Erscheinen wandernder Indianer gestört. Am folgenden Morgen hatten Pferde und Hunde vollkommen von ihren Anstrengungen ausgeruht.

[76] Bei Tagesanbruch war alles in Bewegung und die Gäste des wirtlichen Rußland, »dieser Schwester Frankreichs«, wie Herr Cascabel sagte, rüsteten sich zur Weiterfahrt. Das dauerte nicht lange. Kurz vor sechs Uhr morgens bewegte die Belle-Roulotte sich in nordwestlicher Richtung vorwärts, um den Simpsonfluß zu erreichen, über den man leicht mittelst Fähre gelangen würde.

Die Spitze, welche Alaska nach Süden ausstreckt, ist ein schmaler, unter dem allgemeinen Namen Thlinkithen bekannter Küstenstreif, längs dessen sich eine Anzahl Inseln oder Inselgruppen hinzieht, wie die Prince-of-Wales-, die Crooper-, die Kuju-, die Baranow- oder Sitka-Insel u. a. mehr. Auf der letztgenannten Insel liegt die Hauptstadt von Russisch-Amerika, die auch den Namen Neu-Archangel führt. Einmal in Sitka angelangt, gedachte Herr Cascabel einen mehrtägigen Halt zu machen, erstens um sich auszuruhen, und zweitens um sich auf die Beendung jenes ersten Teiles seiner Reise vorzubereiten, welcher die Beringstraße zum Ziel hatte.

Der Weg nach Sitka führte längs des Küstengebirges über einen kapriciös zerklüfteten Landstreifen.

Herr Cascabel brach denn auch auf, aber bei seinen ersten Schritten auf alaskischem Boden stellte sich ihm ein Hindernis entgegen, und dieses Hindernis schien unüberwindlich zu sein.

Das wirtliche Rußland, die Schwester Frankreichs, schien nicht geneigt, jene französischen Brüder, aus denen die Familie Cascabel bestand, gastfreundlich aufzunehmen.

Rußland trat ihnen nämlich in der Person dreier Grenzwächter entgegen, kräftiger Typen mit großen Bärten, starken Köpfen und aufgestülpten Nasen, von kalmückenhastem Aussehen, in die dunkle moskowitische Uniform gekleidet und mit jenen flachen Kappen versehen, welche so vielen Millionen Menschen heilsamen Respekt einflößen.

Auf ein Zeichen des Anführers stand die Belle-Roulotte still und Clou, der das Gespann führte, rief seinen Gönner herbei.

Herr Cascabel erschien an der Thür der ersten Abteilung, gefolgt von seinen Söhnen und seiner Frau. Sie stiegen alle aus, ein wenig beunruhigt durch die Uniformen.

»Ihre Pässe?« fragte der Beamte auf russisch – eine Sprache, welche Herr Cascabel unter diesen Umständen nur zu gut verstand.

»Pässe?« wiederholte er.

»Ja! Es ist nicht gestattet, die Besitzungen des Zars ohne Pässe zu betreten.«

»Aber wir haben keine, mein lieber Herr,« erwiderte Herr Cascabel höflich.

[77] »Dann werden Sie nicht weiterfahren!«

Das war so kurz und deutlich, wie wenn man einem lästigen Besucher die Thür vor der Nase zumacht.

Herr Cascabel verzog das Gesicht. Er begriff, wie streng die Vorschriften der moskowitischen Regierung sind und er sah ein, daß es hier schwerlich zu einem Vergleiche kommen werde. Es war wirklich ein unglaubliches Mißgeschick, diesen Beamten so dicht an der Grenze begegnet zu sein.

Cornelia und Jean warteten sehr besorgt auf das Ergebnis des Zwiegespräches, von dem die Beendigung ihrer Reise abhing.

»Wackere Moskowiten,« sagte Herr Cascabel, seine Stimmmittel und Gesten entfaltend, um seiner Suada größeren Nachdruck zu verleihen; »wir sind Franzosen und reisen zu unserem Vergnügen, ja ich kann sagen, auch zum Vergnügen anderer Leute, insbesondere der edlen Bojaren, wenn sie uns mit ihrer Gegenwart beehren wollen!... Wir glaubten, man bedürfe keiner Papiere, um den Grund und Boden Sr. Majestät des Zars, des Kaisers aller Reußen, zu betreten...«

»Ohne besondere Erlaubnis,« antwortete man ihm, »ist noch kein Mensch über die russische Grenze gekommen!«

»Könnte es nicht doch einmal geschehen... ein einziges kleines Mal?« versetzte Herr Cascabel mit möglichst einschmeichelnder Stimme.

»Nein,« antwortete der Beamte steif und trocken. »Und darum.... zurück!... ohne weiteres!«

»Aber wo kann man sich denn schließlich Pässe verschaffen?« fragte Herr Cascabel.

»Das ist Ihre Sache.«

»Lassen Sie uns nach Sitka gehen! Dort werden wir durch Vermittlung des französischen Konsuls...«

»In Sitka giebt's keinen französischen Konsul. Und übrigens, wo kommen Sie her?«

»Von Sakramento.«

»Nun, dann hätten Sie sich in Sakramento mit Pässen versehen sollen... Hier reden Sie umsonst.«

»Nicht doch!« versetzte Herr Cascabel. »Wir befinden uns auf der Rückreise nach Europa...«

»Nach Europa?... auf diesem Wege?...«

Herr Cascabel begriff, daß das ihn besonders verdächtig machen mußte; denn es war doch etwas ungewöhnlich, auf diesem Wege nach Europa zurückzukehren.


Alsdann werden Sie nicht passieren. (Seite 78.)

»Ja...« fügte er hinzu, »gewisse Umstände haben uns gezwungen, diesen Umweg zu machen...«

[78] »Gleichviel!« sagte der Beamte. »Ohne Paß reist man nicht durch russisches Gebiet.«

»Wenn es sich nur um die Zahlung von Gebühren handelt,« bemerkte Herr Cascabel mit bedeutsamem Augenzwinkern, »so können wir uns doch vielleicht einigen...«

[79] Aber die Einigung schien selbst unter diesen Bedingungen nicht zustande kommen zu sollen.

»Wackere Moskowiten!« rief Herr Cascabel in heller Verzweiflung, »ist es denn möglich, daß ihr niemals von der Familie Cascabel gehört habt?«

Er betonte diese Worte, als ob die Familie Cascabel auf einer Stufe mit der Familie Romanow stände!

Aber auch das blieb wirkungslos. Man mußte kehrt machen und zurückfahren. Die Beamten trieben ihre strenge und unerbittliche Pflichterfüllung sogar soweit, daß sie die Belle-Roulotte über die Grenze geleiteten und ihren Bewohnern die formelle Weisung erteilten, dieselbe nicht mehr zu überschreiten. Demzufolge sah Herr Cascabel sich in sehr übler Laune wieder auf britisch-kolumbischem Gebiete. Man wird zugeben, daß das eine unangenehme und dazu äußerst beunruhigende Lage war. Sämtliche Pläne waren über den Haufen geworfen. Der mit so vieler Begeisterung eingeschlagene Weg mußte aufgegeben werden. Die Reise durch den Westen, die Rückkehr nach Europa über Sibirien wurde durch das Fehlen von Pässen unausführbar. Allerdings konnte man auf die bisherige Art durch den Far West nach Newyork reisen. Aber wie sollte man ohne Paketboot über den Atlantischen Ocean gelangen, und wie sollte man sich ohne Geld auf einem Paketboote einschiffen?

Andererseits konnte man nicht recht hoffen, die zu einer solchen Ausgabe nötige Summe unterwegs zu verdienen. Und wieviel Zeit man dazu gebrauchen würde! Die Familie Cascabel – warum sollte man's leugnen?– war nichts neues mehr in den Vereinigten Staaten.

Seit zwanzig Jahren gab es kaum eine Stadt oder einen Marktflecken längs der Geleise des Great Trunk, welche sie nicht schon ausgebeutet hätte. Jetzt würde sie nicht einmal so viele Cents einheimsen, wie sie früher Dollars geerntet. Nein! in östlicher Richtung harrten ihrer endlose, vielleicht jahrelange Verzögerungen, bevor sie es ermöglichen würde, sich nach Europa einzuschiffen. Man mußte um jeden Preis eine Kombination ersinnen, welche der Belle-Roulotte gestattete, Sitka zu erreichen. Das dachten, das sagten die Mitglieder dieser interessanten Familie, als die drei Beamten sie ihren trüben Erwägungen überlassen hatten.

»Schöne Aussichten!« seufzte Cornelia kopfschüttelnd.

»Oder eigentlich keine Aussichten,« versetzte Herr Cascabel. »Es ist rein, als ob die Welt mit Brettern vernagelt wäre!«

Geh, alter Kämpfer, Held der Arenen! Wird es dir wirklich an Mitteln fehlen, das Geschick zu besiegen? Wirst du dich vom Unglück beugen lassen? Wirst du, ein in allen Pfiffen und Kniffen bewanderter Gaukler, dich nicht jederzeit aus der Klemme zu ziehen wissen? Bist du mit deiner Weisheit zu Ende? Wird deine so fruchtbare Phantasie keinen Ausweg finden?

[80] »Cäsar,« sagte Cornelia, »da diese verwünschten Grenzwächter gerade an Ort und Stelle sein mußten, um uns den Weg abzuschneiden, so laß uns versuchen, uns an ihren Vorgesetzten zu wenden...«

»An ihren Vorgesetzten!« rief Herr Cascabel. »Ihr Vorgesetzter ist der Gouverneur von Alaska, irgend ein russischer Oberst, ebenso störrig wie diese Menschen, der uns einfach zum Teufel schicken wird!«

»Überdies residiert er vermutlich in Sitka,« bemerkte Jean, »und eben dahin läßt man uns nicht gehen.«

»Vielleicht,« meinte Clou-de-Girofle ganz vernünftig, würden die Polizisten sich nicht weigern, einen von uns zu dem Gouverneur zu geleiten...«

»Ei! Clou hat recht,« antwortete Herr Cascabel. »Das ist ein vortrefflicher Einfall...«

»Wenn es nicht etwa ein sehr schlechter ist,« fügte Clou mit seiner gewohnten Verwahrungsformel hinzu.

»Wir sollten es versuchen, bevor wir den Rückweg antreten,« sagte Jean; »und wenn es dir recht ist, Vater, so will ich...«

»Nein, es wird besser sein, wenn ich selber gehe,« erwiderte Herr Cascabel. »Ist es weit von der Grenze bis nach Sitka?«

»Etwa hundert Meilen,« sagte Jean.

»Nun, binnen zehn Tagen kann ich in unser Lager zurückgekehrt sein. Wir wollen bis morgen warten und dann unser Glück versuchen.«

Am folgenden Tage machte Herr Cascabel sich auf, um die Grenzwächter zu suchen. Es kostete ihm nicht viel Zeit oder Mühe, mit ihnen zusammenzutreffen, da sie in der Nähe der Belle-Roulotte auf der Lauer geblieben waren.

»Sie sind es?« rief man ihm drohend entgegen.

»Ja, ich!« antwortete Herr Cascabel mit seinem angenehmsten Lächeln.

Und mit allen möglichen, an die Adresse der moskowitischen Verwaltung gerichteten Artigkeiten gab er sein Verlangen kund, zu Sr. Excellenz dem Gouverneur von Alaska geführt zu werden. Er erbot sich, die Reiseunkosten des »verehrlichen Beamten«, der ihm gütigst das Geleite geben wolle, zu bezahlen, und verstieg sich sogar zu Andeutungen betreffs einer hübschen Gratifikation in klingender Münze für den großmütigen und opferwilligen Mann, der... u. s. w.

Der Versuch schlug fehl. Die Aussicht auf eine hübsche Gratifikation machte keinen Eindruck. Es ist wahrscheinlich, daß die Beamten, eigensinnig wie Zollbeamte und Grenzwächter es zu sein pflegen, dies beharrliche Verlangen, die alaskische Grenze zu überschreiten, äußerst verdächtig zu finden begannen. Einer von ihnen bedeutete ihm, daß er augenblicklich zurückgehen müsse, und fügte hinzu:

»Wenn wir Sie nochmals auf russischem Gebiete antreffen, so wird man [81] Sie nicht nach Sitka, sondern ins nächste Fort bringen. Und wer einmal dort ist, der weiß nie, wie oder wann er wieder herauskommt!«

Herr Cascabel wurde, nicht ohne einige Rippenstöße, unverzüglich zur Belle-Roulotte zurückgebracht, wo seine niedergeschlagene Miene das Mißlingen seines Versuches verkündete.

So sollte die rollende Wohnung der Cascabels sich denn jetzt in eine feststehende verwandeln? Die Barke, welche den Gaukler und sein Vermögen trug, sollte an der kolumbo-alaskischen Grenze stecken bleiben, wie ein Schiff, welches die ebbende Meerflut inmitten von Felsen auf dem Trockenen zurückläßt? In der That, das stand nur zu sehr zu befürchten.

Wie traurig die folgenden Tage waren, während deren die Familie zu keinem Entschlusse gelangen konnte!

Glücklicherweise fehlte es nicht an Lebensmitteln; man besaß noch einen reichlichen Vorrat von Konserven, den man übrigens in Sitka zu erneuern gedachte. Dann gab es auch erstaunlich viel Wild in der Umgegend. Nur trugen Jean und Wagram die größte Sorge, sich nicht über die kolumbische Grenze hinauszuwagen. Der junge Bursche wäre schwerlich mit der Konfiskation seiner Flinte und einer Geldstrafe zu gunsten des moskowitischen Fiskus davongekommen.

Indessen hatte sich des Herrn Cascabel und der Seinigen eine tiefe Niedergeschlagenheit bemächtigt. Sogar die Tiere schienen davon angesteckt zu sein. Jako plapperte weniger als sonst. Die Hunde zogen den Schweif ein und stießen langgezogenes, ängstliches Gebell aus. John Bull erging sich nicht mehr in Verrenkungen und Grimassen. Nur Vermout und Gladiator fanden sich bereitwillig in die Situation, da sie nichts anderes zu thun hatten, als das fette, frische Gras der umliegenden Ebene abzuweiden.

»Man muß aber doch einen Entschluß fassen!« sagte Herr Cascabel mehrmals, indem er die Arme kreuzte.

Allerdings; aber welchen'?... Welchen?... Das hätte Herrn Cascabel nicht in Verlegenheit setzen sollen; denn, um die Wahrheit zu sagen, er hatte keine Wahl: er mußte zurückgehen, da er nicht vorwärts gehen durfte. Die Reise nach Westen, die man so resolut unternommen hatte, aufgeben! Da mußte man den verwünschten Boden von Britisch-Kolumbia nochmals passieren und dann die Prairien des Far West durchziehen, um die Küste des Atlantischen Oceans zu erreichen. Und was würde man machen, wenn man sich nun in New-York befand? Vielleicht würden ein paar mildthätige Seelen eine Subskription eröffnen, um die Repatriirung der Familie zu ermöglichen? Welche Demütigung für diese braven Leute, die stets von ihrer Arbeit gelebt hatten, sich zum Empfangen eines Almosens zu erniedrigen! Ah! die elenden Schufte die ihnen in den Pässen der Sierra Nevada ihr kleines Vermögen gestohlen!

[82] »Wenn die nicht in Amerika gehenkt oder in Spanien garrottiert oder in Frankreich guillotiniert oder in der Türkei gepfählt werden,« sagte Herr Cascabel öfters, »so giebt es keine Gerechtigkeit mehr auf Erden!« Endlich faßte er einen Entschluß.

»Morgen brechen wir auf!« sagte er am Abend des vierten Juni. »Wir kehren nach Sakramento zurück, und dann...«

Er beendete seinen Satz nicht. In Sakramento würde man weitersehen. Im übrigen war alles zur Abreise bereit. Man brauchte bloß die Pferde anzuspannen und südwärts zu lenken.

Jener letzte Abend an der Grenze von Alaska war noch trauriger. Jedermann hielt sich stumm in seinem Winkel. Die Nacht war stockfinster. Schwere formlose Wolken furchten den Himmel, treibenden Eisschollen gleich, die eine starke Brise gen Osten jagte. Der Blick vermochte an keinem Sterne zu haften und die Mondsichel war kurz zuvor hinter den hohen Bergen am Horizont erloschen.

Es war gegen neun Uhr, als Herr Cascabel seinem Personal den Befehl zum Schlafengehen erteilte. Am folgenden Tage würde man beim ersten Morgengrauen aufbrechen. Die Belle-Roulotte würde auf dem Wege zurückkehren, auf dem sie von Sakramento gekommen und der auch ohne Führer leicht zu finden war. Sobald man die Quellen des Fraser erreichte, brauchte man nur das Thal desselben bis an die Grenze des Territoriums von Washington zu verfolgen.

Nachdem er den beiden Hunden gute Nacht gewünscht, schickte Clou sich eben an, die Thür des äußersten Raumes zu schließen, als ein Knall aus geringer Entfernung herüberdröhnte.

»Das tönt wie ein Schuß!« rief Herr Cascabel.

»Ja... man hat geschossen...« antwortete Jean.

»Vermutlich irgend ein Jäger...« meinte Cornelia.

»Ein Jäger... in dieser finstern Nacht?...« warf Jean ein. »Das ist nicht recht wahrscheinlich.«

Da krachte ein zweiter Schuß und Rufe schollen aus dem Dunkel.

10. Capitel
X. Kayette.

Bei diesen Rufen stürzten Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou aus dem Wagen.

»Dort muß es sein!« sagte Jean, nach dem Waldrande deutend, der sich längs der Grenze hinzog.

[83] »Horchen wir noch!« entgegnete Herr Cascabel.

Das war vergeblich. Kein weiterer Schrei scholl durch den Raum, kein weiterer Schuß erfolgte.

»Sollte es ein Unfall gewesen sein?...« fragte Xander.

»So viel ist jedenfalls sicher,« antwortete Jean, »daß die Rufe Hilferufe waren, und daß jemand da drüben in Gefahr schwebt...«

»Man muß ihm zu Hilfe eilen!« sagte Cornelia.

»Ja, Kinder, gehen wir,« antwortete Herr Cascabel; »und nehmen wir Waffen mit!...«

Schließlich war es ja möglich, daß es sich hier nicht um einen bloßen Unfall handelte. Vielleicht war irgend ein Reisender einem Verbrechen an der alaskischen Grenze zum Opfer gefallen. So mußte man denn vorsichtshalber bereit sein, sich selber sowohl als andere zu verteidigen.

Binnen wenigen Sekunden hatten Herr Cascabel und Jean, Xander und Clou, die ersteren mit Flinten, die beiden letzteren mit Revolvern bewaffnet, die Belle-Roulotte verlassen, welche Cornelia und die beiden Hunde bis zu ihrer Rückkehr hüten sollten.

Fünf bis sechs Minuten lang schritten sie am Waldrande dahin. Von Zeit zu Zeit blieben sie stehen, um zu lauschen: kein Geräusch unterbrach die Stille des Waldes. Trotzdem wußten sie bestimmt, daß die Rufe aus dieser Richtung und aus ziemlich geringer Entfernung gekommen waren.

»Wenn wir nicht etwa von der Sinnentäuschung genarrt worden sind?...« bemerkte Herr Cascabel.

»Nein, Vater,« antwortete Jean, »das ist nicht möglich! Ah!... hörst Du...«

Diesmal vernahm man deutlich einen Hilferuf, – nicht mehr von einer Männerstimme, wie der erste, sondern von der Stimme einer Frau oder eines Kindes.

Die Nacht war sehr dunkel und im Schatten der Bäume sah man kaum einige Meter weit. Clou hatte zwar vorgeschlagen, eine der Wagenlaternen mitzunehmen; aber dem hatte Herr Cascabel sich aus Vorsicht widersetzt, da es jedenfalls besser war, nicht von weitem gesehen zu werden.

Übrigens erschollen die Rufe von neuem und wurden so deutlich, daß man sich leicht danach zurechtfinden konnte. Es schien nicht einmal nötig zu sein, in den Wald einzudringen.

In der That erreichten Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou in fünf Minuten den Rand einer kleinen Lichtung, wo sie zwei Männer auf der Erde liegen sahen. Neben dem einen kniete eine Frau und stützte dessen Kopf in ihren Armen.


Ein Weib stützte ihm den Kopf. (Seite 84.)

[84] [86]Es waren die Rufe dieser Frau, die man zuletzt vernommen hatte. Jetzt rief sie in der Chinouksprache, welche Herr Cascabel ein wenig verstand:

»Kommt!... Kommt!... Sie sind ermordet!...«

Jean eilte zu der Frau, die von dem Blute des Unglücklichen, den sie ins Leben zurückzurufen suchte, überströmt war.

»Dieser atmet noch!« sagte Jean.

»Und der andere?« fragte Herr Cascabel.

»Der andere... ich weiß nicht!...« antwortete Xander.

Herr Cascabel kam herbei, um zu horchen, ob kein Herzschlag, kein Hauch des Mundes noch einen Rest von Leben verrate.

»Er ist wirklich tot!« sagte er.

Das war er in der That; eine Kugel hatte seine Schläfe durchbohrt und ihn auf der Stelle getötet.

Aber wer war jene Frau, deren Sprache auf indianischen Ursprung deutete? War sie jung oder alt? In der Dunkelheit, unter der über ihren Kopf gezogenen Kapuze, konnte man ihre Züge nicht unterscheiden. Aber diese Fragen drängten nicht; sie würde später schon sagen, woher sie komme und unter welchen Umständen dieser Doppelmord verübt worden sei. Jetzt mußte man vor allem den Mann, der noch atmete, in das Lager transportieren und ihm die schnelle Pflege angedeihen lassen, von der vielleicht seine Rettung abhing. Was die Leiche seines Gefährten betraf, so würde man am folgenden Tage wiederkommen, um ihm die letzte Ehre zu erweisen.

Von Jean unterstützt, hob Herr Cascabel den Verwundeten bei den Schultern auf, während Xander und Clou ihn bei den Füßen hoben. Dann sagte er, zu der Frau gewendet:

»Folgen Sie uns.«

Und diese schritt ohne Zaudern neben dem Körper her, indem sie das noch immer aus seiner Brust fließende Blut mit einem Tuche zu stillen suchte.

Man konnte nicht schnell vorwärts kommen. Der Mann war schwer und man mußte ihm jede Erschütterung ersparen. Herr Cascabel wollte einen Lebenden ins Lager bringen, keinen Toten.

Endlich, nach Verlauf von zwanzig Minuten, trafen alle dort ein, ohne durch irgend eine unliebsame Begegnung aufgehalten worden zu sein.

Cornelia und die kleine Napoleone, welche befürchteten, daß die Ihrigen einem feindlichen Angriffe zum Opfer gefallen sein könnten, erwarteten sie in tödlicher Unruhe.

»Schnell, Cornelia,« rief Herr Cascabel, »Wasser, Leinen, alles Nötige, um eine Blutung zu hemmen; sonst geht der Unglückliche am Blutverlust zu Grunde!«

[86] »Gut, gut!« antwortete Cornelia. »Du weißt, daß ich mich darauf verstehe, Cäsar. Nicht so viele Worte und laß mich gewähren!«

In der That verstand Cornelia sich darauf, da sie während der Ausübung ihres Berufes mehr als eine Wunde zu pflegen gehabt hatte.

Clou brachte eine Matratze in die erste Abteilung, auf welche der Verwundete gelegt wurde, den Kopf von einem flachen Polster gestützt. Beim Schein der Hängelampe erblickte man sein, bereits von den Schatten des nahen Todes entfärbtes Gesicht und zugleich auch die Züge der Indianerin, die neben ihm auf die Kniee gesunken war.

Es war ein junges Mädchen, das höchstens fünfzehn bis sechzehn Jahre zu zählen schien.

»Wer ist dieses Kind?« fragte Cornelia.

»Sie war es, deren Rufe wir hörten,« antwortete Jean; »sie befand sich bei dem Verwundeten.«

Letzterer war ein Mann von etwa fünfundvierzig Jahren, mit bereits ergrauendem Haar und Barte, von hoher, kräftig gebauter Gestalt und sympathischen Zügen, die, obgleich sein Gesicht bleich war und die geschlossenen Lider seinen Blick verhüllten, einen energischen Charakter bekundeten. Von Zeit zu Zeit entrang sich seinen Lippen ein Seufzer; aber er sprach kein Wort, aus dem man auf seine Nationalität hätte schließen können.

Als seine Brust entblößt worden, konnte Cornelia konstatieren, daß sie von einem Dolchstoße zwischen der dritten und vierten Rippe durchbohrt worden sei. War diese Verwundung tödlich? Nur ein Arzt hätte das beurteilen können. Jedenfalls schien es unzweifelhaft, daß sie sehr ernster Natur sei.

Da die Intervention eines Arztes indessen unter den gegenwärtigen Umständen unmöglich war, so mußte man sich mit der Pflege, welche Cornelia dem Verwundeten angedeihen lassen konnte, und mit den in der kleinen Reise-Apotheke enthaltenen Heilmitteln begnügen.

Das geschah denn auch und es gelang, die Blutung, welche einen schnellen Tod herbeizuführen drohte, zu hemmen. Man würde später sehen, ob es möglich sei, den Mann in diesem Zustande absoluter Entkräftung in den nächsten Marktflecken zu transportieren. Diesmal würde Herr Cascabel nicht lange fragen, ob es ein britisch-kolumbischer sei, oder nicht.

Nachdem sie die Wunde sorgfältig mit frischem Wasser ausgewaschen, legte Cornelia mit Arnika getränkte Kompressen darauf. Dieser Verband genügte, um das Blut zu stillen, von dem der Verwundete seit dem Augenblick des Mordes bis zu seiner Ankunft im Lager sehr viel verloren hatte.

»Und was können wir jetzt thun, Cornelia?...« fragte Herr Cascabel.

»Wir werden den Unglücklichen auf unser Bett legen,« antwortete Cornelia, »und ich werde bei ihm wachen, um die Kompressen nach Bedarf zu erneuern.«

[87] »Wir werden alle bei ihm wachen!« sagte Jean. »Wir können ja sowieso nicht schlafen. Und dann müssen wir auch auf unserer Hut sein, da sich Mörder in der Umgegend befinden.«

Herr Cascabel, Jean und Clou trugen den Mann auf das Bett in der innersten Abteilung.

Während Cornelia an seinem Lager blieb und vergeblich auf ein Wort von ihm harrte, erzählte die junge Indianerin, deren Chinouk-Dialekt Herr Cascabel mit einiger Mühe verstand, ihre Geschichte.

Sie war wirklich eine Eingeborene, von einer der autochthonen Rassen Alaskas. In dieser Provinz, nördlich und südlich von dem großen Flusse Youkon, stößt man auf zahlreiche wandernde sowohl, als auf ansässige Indianerstämme, unter anderen auf die Co-Youkons, welche vielleicht die bedeutendsten und wildesten von allen Stämmen bilden, dann die Newicargouts, die Tananas, die Kotcho-a-Koutchins und auch, insbesondere gegen die Mündung des Flusses zu, die Pastoliks, die Haveacks, die Primsker, die Melomuten und die Indgeleten.

Diesem letzteren Stamme gehörte die junge Indianerin an, welche sich Kayette nannte.

Kayette hatte weder Eltern noch Verwandte mehr; es sind nicht nur Familien, welche auf diese Weise aussterben, sondern ganze Stämme, von denen man keine Spur mehr auf alaskischem Gebiete findet.

So z. B. die »Leute der Mitte«, die früher nördlich vom Youkon wohnten.

Allein, ohne Eltern zurückgeblieben, hatte Kayette sich nach Süden auf den Weg gemacht, durch Gegenden, welche ihr von früheren Wanderungen mit ihrem Stamme her bekannt waren. Ihr Plan war, nach der Hauptstadt Sitka zu gehen, wo sie in den Dienst irgend eines russischen Beamten zu treten gedachte. Und wahrlich, man würde sie schon auf ihre ehrliche, sanfte und gewinnende Miene hin engagiert haben. Sie war sehr hübsch, von nur leicht ins Braune spielender Hautfarbe, mit schwarzen, lang bewimperten Augen und reichem braunen Haar, das von einer Pelzkapuze zurückgehalten wurde.

Von mittelgroßer Gestalt, schien sie trotz ihres schweren Überrockes anmutig und geschmeidig zu sein.

Bekanntlich entwickeln diese nordamerikanischen Indianer-Rassen, Burschen und Mädchen, von lebhaftem und fröhlichem Charakter, sich sehr schnell. Mit zehn Jahren handhaben die Knaben bereits geschickt die Flinte und das Beil. Mit fünfzehn Jahren verheiraten die Mädchen sich und sind trotz ihrer Jugend vortreffliche Familienmütter. Kayette war denn auch ernster und entschlossener als man es bei ihrem Alter erwartet hätte, und die lange Reise, die sie angetreten, bewies zur Genüge die Energie ihres Charakters. Sie war bereits


Kayette hatte die Richtung nach Süden eingeschlagen. (Seite 88.)

einen Monat unterwegs, dem Südwesten Alaskas zustrebend, und hatte jenen engen, an die Inseln grenzenden Küstenstreifen erreicht, durch den man nach der Hauptstadt gelangt, als sie, längs des Waldrandes dahinschreitend, einige hundert Schritte vor sich zwei Schüsse und verzweifelte Hilferufe gehört hatte.

[88]

Es waren dieselben Rufe, welche bis in das Lager der Belle-Roulotte gedrungen.

Kayette war sogleich beherzt auf die Waldlichtung zugeeilt.

[89] Ohne Zweifel hatte ihr Nahen die Mörder aufgescheucht, denn sie erblickte eben nur noch zwei Männer, welche durch das Dickicht davonflohen. Aber offenbar würden jene Elenden bald erfahren haben, daß sie sich vor einem Kinde gefürchtet; sie kehrten in der That bereits in die Lichtung zurück, um ihre Opfer zu plündern, als das Erscheinen des Herrn Cascabel und der Seinigen sie – diesmal endgültig – verscheuchte.

Angesichts der beiden auf dem Boden liegenden Männer, von denen der eine eine Leiche war, während das Herz des anderen noch schlug, hatte Kayette um Hilfe gerufen, und wie man weiß, nicht umsonst. Herr Cascabel hatte sowohl die Rufe der angefallenen Reisenden, als auch die der jungen Indianerin vernommen.

Die Nacht verfloß. Die Belle-Roulotte hatte keinen Angriff von den Mördern zurückzuschlagen, die sich ohne Zweifel schleunigst von dem Schauplatze des Verbrechens geflüchtet.

Am folgenden Morgen konstatierte Cornelia keine Veränderung in dem Befinden des Verwundeten, das noch immer gleich beunruhigend erschien.

Unter diesen Umständen erwies Kayette sich als sehr nützlich, indem sie gewisse Kräuter sammeln ging, deren antiseptische Eigenschaften ihr bekannt waren. Sie bereitete einen Aufguß daraus, in welche neue Kompressen getaucht und dann auf die Wunde gelegt wurden, aus der kein Blutstropfen mehr floß.

Im Laufe des Morgens bemerkte man, daß der Verwundete zu atmen begann; aber es kamen nur Seufzer, nicht einmal undeutliche, abgerissene Worte, über seine Lippen.

Es war daher unmöglich zu ergründen, wer er war, woher er kam, wohin er ging, was er an der alaskischen Grenze zu thun hatte, unter welchen Umständen er und sein Gefährte angegriffen worden und wer die Angreifer gewesen.

Jedenfalls waren jene Elenden, wenn ihr Attentat einen Raub zum Zwecke gehabt, durch ihre allzu eilige Flucht vor der jungen Indianerin um eine prächtige Beute gekommen, derengleichen sie in diesen wenig besuchten Gegenden nicht sobald wieder antreffen würden.

Dies unterlag keinem Zweifel, denn als Herr Cascabel den Verwundeten entkleidete, hatte er in einem um seinen Leib geschnallten Ledergürtel eine Menge Goldstücke von amerikanischem und russischem Ursprunge gefunden, welche eine Gesamtsumme von cirka fünfzehntausend Francs bildeten. Dies Geld wurde in Sicherheit gebracht, um sobald als möglich zurückerstattet zu werden. Papiere aber fanden sich keine vor, mit Ausnahme eines Notizbuches mit einigen teils russischen, teils französischen Aufzeichnungen. Nichts, nichts, woraus man die Identität des Unbekannten feststellen gekonnt hätte.


Als die Erde dies Grab bedeckte... (.Seite 92.)

An jenem Morgen, um die neunte Stunde, sagte Jean:

[90]

»Vater, wir haben eine Pflicht gegen jene verlassene Leiche zu erfüllen.«

»Du hast recht, Jean, gehen wir. Vielleicht finden wir irgend eine Schrift bei dem Toten, die uns aufklärt. – Du wirst uns begleiten,« fügte Herr Cascabel, zu Clou gewendet, hinzu. »Nimm eine Haue und eine Schaufel mit.«

[91] Mit diesen Werkzeugen versehen und wohl bewaffnet, verließen alle drei die Belle-Roulotte und wandten sich dem Waldrande zu, an dem sie gestern entlang gegangen waren.

Sie fanden bald die Stelle wieder, wo der Mord verübt worden war.

Offenbar hatten die beiden Reisenden an diesem Orte übernachten wollen. Man sah die Spuren eines Lagers, die noch rauchende Asche eines Feuers. Am Fuße einer großen Fichte waren Kräuter aufgeschichtet, welche den Reisenden als Bett gedient haben mochten. Vielleicht waren sie sogar im Schlafe überfallen worden.

Bei dem Ermordeten war die Totenstarre bereits eingetreten.

Seine Kleidung, seine Physiognomie, seine rauhen Hände wiesen darauf hin, daß dieser höchstens dreißig Jahre zählende Mann der Diener des andern gewesen sein müsse.

Jean durchsuchte seine Taschen. Er fand kein Papier darin. Auch kein Geld. An seinem Gürtel hing ein Revolver von amerikanischem Fabrikat, mit sechs Kugeln geladen, dessen der Unglückliche nicht Zeit gehabt, sich zu bedienen.

Augenscheinlich war der Angriff plötzlich und unerwartet gekommen und die beiden Opfer waren gleichzeitig gefallen.

Zu dieser Stunde war der Wald in der Umgebung der Lichtung verlassen. Nach einer kurzen Rekognoszierung kehrte Jean zurück, ohne irgend jemand gesehen zu haben. Die Mörder waren offenbar nicht mehr zurückgekommen; sonst würden sie die Leiche geplündert oder doch wenigstens den an deren Gürtel hängenden Revolver an sich genommen haben.

Unterdessen hatte Clou eine Grube gegraben, welche tief genug war, um eine Leiche vor der Ausgrabung durch wilde Tiere zu schützen. Der Tote wurde darein gebettet, und als die Erde das Grab bedeckte, sprach Jean ein Gebet.

Dann kehrten Herr Cascabel, Jean und Clou in das Lager zurück. Dort ließ man Kayette am Bette des Verwundeten, während Jean und seine Eltern sich mit einander berieten.

»Es ist gewiß,« sagte Herr Cascabel, »daß unser Gast, falls wir nach Kalifornien zurückkehren, nicht lebend dort ankommen wird. Es sind Hunderte von Meilen bis dahin. Am besten wäre es, nach Sitka zu gehen, wo wir binnen drei, vier Tagen sein könnten, wenn diese verwünschten Polizisten uns nicht den Übergang auf ihr Gebiet verwehrten!«

»Und dennoch müssen und werden wir nach Sitka gehen!« antwortete Cornelia resolut.

»Aber wie?... Ehe wir eine Meile weit gekommen sind, wird man uns aufhalten...«

[92] »Gleichviel, Cäsar! Wir müssen aufbrechen, und das sofort. Begegnen wir den Grenzwächtern, so werden wir ihnen das Vorgefallene erzählen; möglicherweise werden sie jenem Unglücklichen das bewilligen, was sie uns verweigert haben...«

Herr Cascabel schüttelte unwillig den Kopf.

»Die Mutter hat recht,« sagte Jean. »Versuchen wir Sitka zu erreichen, ohne bei den Beamten um eine Erlaubnis nachzusuchen, die sie nicht erteilen würden. Das wäre nur verlorene Zeit. Überdies ist es wahrscheinlich, daß sie uns auf dem Rückwege nach Sakramento glauben und sich entfernt haben. Seit vierundzwanzig Stunden haben wir keinen einzigen von ihnen mehr gesehen. Sie sind gestern abends nicht einmal durch die Schüsse herbeigeführt worden...«

»Das ist wahr,« antwortete Herr Cascabel, »und es sollte mich nicht wundern, wenn sie sich zurückgezogen hätten...«

»Wenn sie nicht etwa...« bemerkte Clou, der sich eingefunden hatte, um an der Besprechung teilzunehmen.

»Jawohl... wenn sie nicht etwa... das versteht sich von selber!« erwiderte Herr Cascabel.

Jeans Bemerkung war einleuchtend und vielleicht konnte man wirklich nichts besseres thun, als nach Sitka aufbrechen.

Binnen einer Viertelstunde waren Vermout und Gladiator angespannt. Während des langen Aufenthalts an der Grenze gehörig ausgeruht, konnten sie an diesem ersten Marschtage etwas tüchtiges leisten. Die Belle-Roulotte setzte sich in Bewegung und Herr Cascabel verließ mit kaum verhehlter Befriedigung das kolumbische Gebiet.

»Kinder!« sagte er, »halten wir die Augen offen! Und du, Jean, laß deine Flinte schweigen. Es ist durchaus überflüssig, die Aufmerksamkeit auf uns zu lenken...«

»Und darum wird die Küche doch nicht feiern,« fügte Frau Cascabel hinzu.

Obgleich ziemlich unregelmäßig, war das nördlich von Kolumbien gelegene Land leicht zu passieren, selbst längs der zahlreichen Kanäle, welche die Inselgruppen vom Festlande trennen. Keine Berge in Sicht bis an die äußersten Grenzen des Horizonts. Manchmal, aber sehr selten, tauchte ein einsames Gehöft auf, das die Familie sich wohl hütete zu besuchen. Da er die Karte des Landes gründlich studiert hatte, fand Jean sich ziemlich gut zurecht und hoffte Sitka zu erreichen, ohne die Dienste eines Führers in Anspruch nehmen zu müssen.

Aber die Hauptsache war, keinem Beamten, weder einem Grenzwächter noch einem Diener der inneren Verwaltung, in den Weg zu laufen. Und es [93] schien, als ob die Belle-Roulotte auf dieser Fahrt die vollste Freiheit der Bewegung genießen solle. Das war sogar erstaunlich. Herr Cascabel war denn auch nicht minder überrascht als befriedigt.

Cornelia schrieb die Thatsache der Vorsehung zu, und ihr Mann war nicht abgeneigt, ihre Meinung zu teilen. Jean meinte seinerseits, daß irgend ein Umstand das Vorgehen der moskowitischen Verwaltung beeinflußt haben müsse.

So gingen die Dinge während des sechsten und siebenten Juni. Man näherte sich Sitka. Vielleicht hätte die Belle-Roulotte noch schneller vorwärts kommen können, wenn Cornelia nicht gefürchtet hätte, daß das Rütteln ihrem Verwundeten schaden könnte, welchen Kayette und sie unermüdlich pflegten, die eine wie eine Mutter, die andere wie eine Tochter. Es war noch immer zweifelhaft, ob der Kranke das Ziel der Reise lebend erreichen werde. Wenn sein Zustand sich nicht verschlimmert hatte, so konnte man leider auch nicht sagen, daß er sich gebessert habe. Wie hätten die geringen Hilfsmittel, welche die kleine Apotheke bot, das wenige, was die beiden Frauen angesichts einer so schweren, ärztlichen Eingreifens bedürftigen Verwundung thun konnten, genügen sollen? Die Hingebung kann niemals die Wissenschaft ersetzen – leider! – denn niemals hatten barmherzige Schwestern sich hingebender gezeigt. Übrigens hatte jedermann den Eifer und die Intelligenz der jungen Indianerin schätzen gelernt. Sie schien bereits zur Familie zu gehören. Sie war gewissermaßen eine zweite Tochter, welche der Himmel der Frau Cascabel geschenkt.

Am Nachmittage des siebenten passierte die Belle-Roulotte eine Furt des Stekin-River, eines kleinen Flusses, der sich in einen engen Meeresarm zwischen dem Festlande und der Baranow-Insel, nur mehr wenige Meilen weit von Sitka ergießt.

Abends vermochte der Verwundete einige Worte hervorzubringen.

»Mein Vater... da unten... wiedersehen!« murmelte er.

Da diese Worte auf russisch gesagt worden, verstand Herr Cascabel sie vollkommen.

Auch wurde ein Name mehrmals wiederholt: »Ivan... Ivan...«

Ohne Zweifel war das der Name des unglücklichen Dieners, der an der Seite seines Herrn ermordet worden.

Sehr wahrscheinlich waren beide von moskowitischer Herkunft.

Wie dem auch sein mochte, da der Verwundete Sprache und Erinnerung wiederzugewinnen begann, so würde die Familie Cascabel bald seine Geschichte erfahren.


Niemals hatten sich barmherzige Schwestern dienstbereiter gezeigt. (Seite 96.)

An jenem Tage war die Belle-Roulotte an den Rand des engen Kanals gelangt, über welchen man setzen muß, um die Baranow-Insel zu erreichen.

[94] Folglich mußte man sich an die Schiffer wenden, die den Dienst auf jenen zahlreichen Meerengen versehen.

Nur konnte Herr Cascabel nicht hoffen, mit den Bewohnern des Landes in Berührung zu treten, ohne seine Nationalität zu verraten. Es stand zu befürchten, daß die ärgerliche Paßfrage von neuem auftauchen werde.

»Nun,« sagte er, »unser Russe wird darum doch nach Sitka gelangen!

[95] Wenn die Polizisten uns zwingen, an die Grenze zurückzugehen, so werden sie doch wenigstens ihn als einen ihrer Landsleute dabehalten; und da wir den Anfang damit gemacht haben, ihn zu retten, so müßte es doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie ihn nicht zum Schlusse heilten!«

Eine Anschauungsweise, die ihr Gutes hatte, die aber doch nicht verfehlte, die Familie betreffs des ihrer harrenden Empfanges zu beunruhigen. Es wäre eben grausam gewesen, Sitka zu erreichen und dann doch den Weg nach New-York einschlagen zu müssen.

Während der Wagen am Ufer des Kanals harrte, war Jean gegangen, sich nach der Fähre und den Schiffern zu erkundigen, mit deren Hilfe der Übergang bewerkstelligt werden sollte.

In diesem Augenblicke kam Kayette, Herrn Cascabel zu melden, daß seine Frau seiner bedürfe.

Er begab sich sofort zu ihr.

»Unser Verwundeter ist bei voller Besinnung,« sagte Cornelia. »Er spricht, Cäsar, und du mußt zu verstehen suchen, was er will...«

In der That hatte der Russe die Augen geöffnet, blickte um sich und musterte fragend die Personen, die er zum erstenmale in seinem Leben sah. Hin und wieder fielen unzusammenhängende Worte von seinen Lippen.

Endlich rief er mit schwacher, kaum vernehmlicher Stimme nach seinem Diener Ivan.

»Mein Herr,« sagte Herr Cascabel, »Ihr Diener ist nicht hier, aber wir sind da...«

Auf diese französisch gesprochenen Worte antwortete der Verwundete in derselben Sprache:

»Wo bin ich?«

»Bei Leuten, welche Sie gepflegt haben, mein Herr...«

»Aber das Land?...«

»Es ist ein Land, in dem Sie nichts zu befürchten haben, falls Sie Russe sind...«

»Russe... ja... Russe...«

»Nun denn, Sie sind in der Provinz Alaska, wenige Meilen von der Hauptstadt...«

»Alaska!« murmelte der Verwundete.

Und es zuckte etwas wie Schrecken durch seinen Blick.


Jean deutete nach dem amerikanischen Grenzhaus hin. (Seite 96.)

»Auf russischem Boden!...« flüsterte er.

»Nein!... Auf amerikanischem Boden!«

Jean trat eben ein; er war es, der es sagte.

Und dabei wies er durch das offene Fensterchen der Belle-Roulotte auf das Sternenbanner, das von einem Wachthause an der Küste wehte.

[96] In der That war die Provinz Alaska seit drei Tagen nicht mehr russisch. Vor drei Tagen war der Annexionsvertrag unterzeichnet worden, der sie den Vereinigten Staaten einverleibte. Künftighin hatte die Familie Cascabel nichts mehr von russischen Beamten zu fürchten. Sie befand sich in einem amerikanischen Lande.

[97]
11. Capitel
XI. Sitka.

Sitka, Neu-Archangel, inmitten der Inselgruppen an der Westküste auf der Baranow-Insel gelegen, ist nicht nur die Hauptstadt dieses Eilands, sondern auch die Hauptstadt der ganzen, an die Bundesregierung abgetretenen Provinz. Es ist die einzige ansehnliche Stadt in jener Region, wo man höchst selten Marktflecken oder unbedeutende Dörfer in weiter Entfernung von einander trifft. Es wäre sogar richtiger, diese Dörfer einfach Wachtposten oder Faktoreien zu nennen. Sie gehören zumeist den amerikanischen Gesellschaften, hie und da auch der englischen Hudsonbaigesellschaft an. Man kann sich denken, daß der Verkehr zwischen diesen Posten sehr schwierig ist, besonders während der strengen Jahreszeit, wo der alaskische Winter seine Stürme entfesselt.

Noch vor einigen Jahren war Sitka bloß ein wenig besuchtes kommerzielles Centrum, wo die russisch-amerikanische Handelsgesellschaft ihre Pelzniederlagen hatte. Aber dank den Entdeckungen, welche in dieser in die Polarzone hineinreichenden Provinz gemacht worden sind, hat Sitka einen bedeutenden Aufschwung genommen und verspricht unter der neuen Verwaltung eine reiche, dieses neuen Staates der Union würdige Stadt zu werden.

Schon damals besaß Sitka alle jene Gebäude, welche zu einer sogenannten »Stadt« gehören: einen lutherischen Tempel, sehr einfach gebaut, dessen architektonische Anordnung aber etwas majestätisches an sich hat; eine griechische Kirche mit einer jener Kuppeln, welche nicht recht zu diesem nebligen, von dem Firmamente des Orients so grundverschiedenen Himmel passen; einen Klub, die »Club-Gardens«, eine Art Tivoli, wo Stammgäste wie Reisende Restaurants, Cafés, Bars und verschiedene Spiele finden, ein »Club-House«, dessen Pforten nur Junggesellen offen stehen; eine Schule, ein Spital und schließlich Häuser und pittoresk auf den umliegenden Hügeln gruppierte Villen und Cottages. Den Horizont des Ganzen bildet ein weiter, immergrüner Fichtenwald und jenseits desselben eine Linie hoher Berge, deren Gipfel sich im Nebel verlieren und von dem auf der Crouze-Insel befindlichen Mount Edgcumbe beherrscht werden, der in einer Höhe von achttausend Fuß über den Meeresspiegel emporragt.

Obgleich Sitka unter dem sechsundfünfzigsten Breitegrade liegt, ist sein Klima nicht sehr rauh und sinkt das Thermometer selten unter sieben bis acht Grad Celsius herab; hingegen verdient es, als eine Wasserstadt ersten Ranges bezeichnet zu werden. In der That regnet es auf der Baranowinsel sozusagen[98] immer, wenn es nicht gerade schneit. Man wird es demnach nicht erstaunlich finden, daß die Belle-Roulotte, nachdem sie mit ihrem sämtlichen Personal und Material auf einer Fähre über den Kanal geschafft worden war, ihren Einzug in Sitka in strömendem Regen hielt. Und dennoch dachte Herr Cascabel nicht daran, sich zu beklagen; war er doch gerade zu einer Zeit eingetroffen, wo er die Stadt ohne jedweden Paß betreten durfte.

»Ich habe während meines Daseins viel Glück gehabt, aber niemals ein so außerordentliches,« sagte er wiederholt. »Wir standen vor der Pforte, ohne hinein zu können, und da thut sich diese Pforte angelweit vor uns auf!...«

Soviel ist gewiß, daß der Abtretungsvertrag genau zur rechten Zeit unterfertigt worden war, um der Belle-Roulotte den Übertritt über die Grenze zu gestatten. Auf dem amerikanisch gewordenen Boden gab es keine störrigen Beamten, keine jener Formalitäten mehr, welche die moskowitische Regierung so gebieterisch fordert.

Und jetzt wäre es ganz einfach gewesen, den Russen entweder in ein Spital, wo es ihm nicht an Pflege fehlen würde, oder aber in einen Gasthof zu bringen, wo der Arzt ihn besuchen konnte. Aber als Herr Cascabel ihm davon sprach, antwortete er:

»Ich fühle mich wohler, mein Freund, und wenn ich Ihnen nicht zur Last falle...«

»Zur Last, mein Herr!« antwortete Cornelia. »Was fällt Ihnen ein!«

»Sie sind hier zu Hause,« fügte Herr Cascabel hinzu, »und wenn Sie glauben...«

»Nun, ich glaube, es wäre besser für mich, bei denen zu bleiben, die mich aufgenommen... mich hingebend gepflegt haben...«

»Nur so so, mein Herr!« antwortete Herr Cascabel. »Aber Sie müssen doch sofort einen Arzt konsultieren.«

»Kann er nicht hierher kommen?«

»Nichts leichter als das; ich gehe selber, um den besten in der Stadt zu suchen.«

Die Belle-Roulotte hatte am Eingange von Sitka, neben einem mit Bäumen bepflanzten, bis an den Hochwald führenden Spazierwege Halt gemacht. Dort besuchte Doktor Harry, an den man Herrn Cascabel gewiesen, den Russen.

Nachdem er die Wunde aufmerksam untersucht hatte, erklärte der Arzt, daß sie nicht mehr gefährlich sei, da der Dolchstoß durch eine Rippe abgelenkt worden. Kein edles Organ sei verletzt; und dank den kalten Umschlägen, dank dem Safte der von der jungen Indianerin gesammelten Kräuter, werde die bereits begonnene Vernarbung bald soweit vorgeschritten sein, daß der Verwundete aufstehen könne. Sein Zustand sei durchaus befriedigend und er dürfe von nun an Nahrung zu sich nehmen. Aber wenn Kayette ihn nicht [99] gefunden, wenn die Sorgfalt der Frau Cascabel nicht der Blutung Einhalt gethan hätte, so würde er ganz gewiß einige Stunden nach dem an ihm verübten Attentate gestorben sein.

Des weiteren sagte Doktor Harry, daß der Mord seiner Meinung nach das Werk gewisser Mitglieder der Karnossschen Bande, oder des Karnoff selber sei, dessen Anwesenheit im Osten der Provinz signalisiert worden. Dieser Karnoff sei ein Missethäter russischen oder eigentlich sibirischen Ursprungs, der an der Spitze eines Trupps von Deserteuren stehe, wie man deren öfter in den russischen Besitzungen Asiens und Amerikas antreffe. Umsonst seien Prämien auf die Gefangennahme der Bande ausgesetzt worden. Diese ebenso gefürchteten wie furchtbaren Schurken seien bisher der Gerechtigkeit entgangen. Und dennoch haben häufige Verbrechen, Diebstähle und Morde, besonders im südlichen Teile des Gebietes, Schrecken verbreitet. Die Sicherheit der Reisenden, der Handelsleute, der Beamten, der Pelzgeselsschaften sei nicht länger gewährleistet, und auch dies neue Verbrechen müsse den Spießgesellen Karnoffs zugeschrieben werden.

Als er sich empfahl, ließ Doktor Harry die Familie sehr beruhigt über den Zustand ihres Gastes zurück.

Herr Cascabel hatte von vornherein die Absicht gehegt, in Sitka einige Tage lang der Ruhe zu pflegen, – einer Ruhe, welche seinem Personal nach einer Reise von fast siebenhundert Meilen von der Sierra Nevada an gewiß gebührte. Überdies dachte er seine kleinen Ersparnisse durch zwei, drei gute Einnahmen in dieser Stadt zu vergrößern.

»Kinder, man ist nicht mehr in England,« sagte er; »man ist in Amerika, und vor Amerikanern darf man arbeiten!«

Dabei zweifelte Herr Cascabel keinen Augenblick, daß der Ruf seiner Familie bereits zu der alaskischen Bevölkerung gedrungen sei und daß man sich in Sitka sage:

»Die Cascabels sind in unseren Mauern!«

Die Pläne des Herrn Cascabel wurden auch durch ein Gespräch. welches zwei Tage später zwischen ihm und dem Russen stattfand, beeinflußt.

Der letztere – in Cornelias Augen war er zum mindesten ein Fürst – wußte jetzt, daß seine wackeren Retter arme Jahrmarktskünstler seien, welche in Amerika umherzogen. Sämtliche Cascabels waren ihm vorgestellt worden; desgleichen die junge Indianerin, der er sein Leben verdankte.

Und eines Abends, als das ganze Personal beisammen war, erzählte er seine Geschichte, oder doch wenigstens soviel davon, als für Fremde wissenswert war. Er sprach das Französische so fließend, als ob es seine Muttersprache wäre; nur rollte er das »r« ein wenig – was der moskowitischen Aussprache eine zugleich angenehme und energische Färbung verleiht und das Ohr mit eigentümlichem Zauber berührt.

[100] Übrigens war seine Erzählung äußerst einfach. Nichts sehr Abenteuerliches und auch nichts Romanhaftes.

Er hieß Sergius Wassiliowitsch – und von nun an nannte man ihn in der Familie Cascabel mit seiner Erlaubnis nur mehr »Herr Sergius.« Von seinen sämtlichen Verwandten war nur noch sein Vater am Leben, welcher im Gouvernement Perm, unweit der Stadt dieses Namens, auf einem Landgut wohnte. Von Reiselust und Geschmack für Entdeckungen und geographische Forschungen getrieben, hatte Herr Sergius Rußland vor drei Jahren verlassen. Nachdem er die Territorien der Hudsonbai studiert, hatte er sich eben zu einer Forschungsreise durch Alaska, vom Youkon bis ans Polarmeer, angeschickt, als er unter folgenden Umständen angegriffen worden war:

Am vierten Juni hatten sein Diener Ivan und er ihr Lager an der Grenze aufgeschlagen, als sie im ersten Schlafe überfallen wurden. Zwei Männer hatten sich auf sie gestürzt. Sie erwachten, fuhren empor, suchten sich zu verteidigen... Umsonst! schon im nächsten Augenblick streckte eine Kugel den unglücklichen Ivan zu Boden.

»Er war ein wackerer, ein ehrlicher Diener!« sagte Herr Sergius. »Er war bereits zehn Jahre bei mir gewesen! er war mir sehr ergeben und ich beklage ihn wie einen Freund!«

Herr Sergius versuchte nicht seine Bewegung bei diesen Worten zu verbergen; so oft er von Ivan sprach, verrieten seine feuchten Augen, wie sehr aufrichtig sein Schmerz war.

Er fügte hinzu, daß er selber, in die Brust getroffen und bewußtlos geworden, nichts mehr gehört noch gesehen habe, bis er, ins Leben zurückgekehrt, aber unfähig, seinen Rettern für ihre Sorgfalt zu danken, begriffen habe, daß er sich bei barmherzigen Menschen befinde.

Als Herr Cascabel ihm mitteilte, daß man das Attentat Karnoff oder einigen seiner Komplizen zuschreibe, schien Herr Sergius nicht überrascht, da er von der Anwesenheit dieser Bande an der Grenze reden gehört habe.

»Sie sehen,« schloß er, »daß meine Geschichte nichts merkwürdiges an sich hat; ohne Zweifel ist die Ihrige merkwürdiger. Mein Feldzug sollte mit der Erforschung Alaskas enden. Von dort gedachte ich nach Rußland zurückzukehren, um meinen Vater zu sehen und das väterliche Haus nicht mehr zu verlassen. Jetzt aber wollen wir von Ihnen reden, und da möchte ich vor allem wissen, auf welche Weise und weshalb Franzosen sich so weit von ihrer Heimat in diesem Teile Amerikas befinden.«

»Gaukler, Herr Sergius, streifen die nicht allenthalben umher?« entgegnete Cascabel.

»Freilich; aber darum staune ich doch, Sie in solcher Entfernung von Frankreich anzutreffen!«

[101] »Jean,« sagte Herr Cascabel zu seinem ältesten Sohne, »erzähle Herrn Sergius, warum wir hier sind und auf welche Weise wir nach Europa zurückkehren.«

Jean schilderte die von den Bewohnern der Belle-Roulotte seit der Abfahrt von Sakramento ausgestandenen Wechselfälle und bediente sich dabei, da er von Kayette verstanden zu werden wünschte, der englichen Sprache, welche Herr Sergius durch Erklärungen auf Chinouk ergänzte. So erfuhr Kayette denn, wer die Familie Cascabel war, an die sie sich so eng angeschlossen hatte. Sie hörte, wie die Gaukler auf dem Wege nach der Küste des Atlantischen Oceans in den Pässen der Sierra Nevada ihrer sämtlichen Ersparnisse beraubt worden waren und wie sie aus Geldmangel zur Änderung ihrer Pläne gezwungen, sich entschlossen hatten, gen Westen auszuführen, was ihnen gen Osten unmöglich geworden; wie sie daher die Front ihres rollenden Hauses nach Sonnenuntergang gekehrt hatten und durch Kalifornien, Oregon, Washington, Kolumbia gezogen waren, um an der Grenze von Alaska Halt zu machen; endlich, wie die formellen Verfügungen der russischen Regierung sie dort aufgehalten – übrigens ein glücklicher Zufall, da dieses Verbot ihnen gestattet hatte, Herrn Sergius zu Hilfe zu kommen. Und so befänden sich denn französische, von väterlicher Seite sogar normännische Jahrmarktsgaukler in Sitka – dank jener Annexion Alaskas durch die Vereinigten Staaten, welche ihnen die Pforten der neuen amerikanischen Besitzung geöffnet.

Herr Sergius hatte dem Berichte des jungen Mannes die größte Aufmerksamkeit geschenkt; als er hörte, daß Herr Cascabel ganz Sibirien zu durchreisen gedenke, um nach Europa zu gelangen, machte er eine leichte Bewegung des Staunens, deren Bedeutung aber niemand verstehen konnte.

»Also, meine Freunde,« sagte er, als Jean seine Erzählung beendet hatte, »ist es Ihre Absicht, sich von Sitka aus nach der Beringstraße zu begeben?«

»Ja, Herr Sergius,« antwortete Jean, »und dieselbe zu passieren, sobald sie zufriert.«

»Sie haben da eine lange und mühselige Reise unternommen, Herr Cascabel!«

»Lang, ja, Herr Sergius! Wahrscheinlich auch mühselig! Was wollen Sie? Wir hatten keine Wahl. Und dann scheuen Gaukler keine Mühe; wir sind daran gewöhnt, durch die Welt zu streifen!«

»Unter diesen Umständen rechnen Sie wohl nicht darauf, noch heuer nach Rußland zu kommen?...«

»Nein,« antwortete Jean, »denn die Meerenge wird nicht vor den ersten Tagen des Oktober passierbar sein.«

»Immerhin,« meinte Herr Sergius, »ist es doch ein kühner und abenteuerlicher Plan...«

[102] »Möglich,« antwortete Herr Cascabel; »aber wenn es keinen anderen Ausweg gab!... Herr Sergius, wir haben Heimweh!... Wir wollen nach Frankreich zurückkehren und wir werden es... Und da wir zur Zeit der Messen durch Perm, durch Nischni kommen werden... nun, so werden wir zusehen, daß die Familie Cascabel dort keinen allzu schlechten Eindruck macht.«

»Wohl; aber was für Hilfsquellen haben Sie?«

»Einige Einnahmen, die wir unterwegs gemacht und die ich durch zwei, drei Vorstellungen in Sitka zu vergrößern gedenke. Die Stadt feiert soeben die Annexion und ich bilde mir ein, daß das Publikum sich für die Leistungen der Familie Cascabel interessieren werde.«

»Meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »es würde mir großes Vergnügen bereitet haben, meine Börse mit Ihnen zu teilen, wenn ich nicht beraubt worden wäre...«

»Sie sind nicht beraubt worden, Herr Sergius!« antwortete Cornelia lebhaft.

»Nicht einmal eines halben Rubels,« fügte Cäsar hinzu.

Und er brachte den Gürtel herbei, in welchem die ganze Habe des Herrn Sergius verwahrt war.

»Dann werden Sie die Güte haben, meine Freunde...«

»Nicht doch, Herr Sergius!« antwortete Herr Cascabel. »Ich möchte Sie durchaus keiner Geldverlegenheit aussetzen, um uns aus einer solchen zu ziehen...«

»Sie wollen nicht mit mir teilen?«

»Gewiß nicht!«

»Ah! diese Franzosen!« sagte Herr Sergius, indem er ihm die Hand bot.

»Es lebe Rußland!« rief der junge Xander.

»Und es lebe Frankreich!« versetzte Herr Sergius.

Es war gewiß das erste Mal, daß dieser doppelte Ruf auf jenen fernen Territorien Amerikas ausgetauscht wurde.

»Und jetzt haben wir genug geplaudert, Herr Sergius,« sagte Cornelia. »Der Arzt hat Ihnen Stille und Ruhe empfohlen, und Kranke müssen ihrem Arzte stets gehorchen.«

»Und ich werde Ihnen gehorchen, Frau Cascabel,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich habe Ihnen noch eine Frage, oder vielmehr eine Bitte vorzulegen.«

»Ich stehe zu Diensten, Herr Sergius.«

»Es ist sogar ein Dienst, den ich von Ihnen erwarte...«

»Ein Dienst?«

»Da Sie sich nach der Beringstraße begeben, wollen Sie mir erlauben, Sie bis dahin zu begleiten?«

[103] »Uns zu begleiten?«

»Ja!... Diese Reise wird meine Durchforschung Alaskas nach Westen hin vervollkommnen.«

»Und wir antworten Ihnen: Mit größtem Vergnügen, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel.

»Unter einer Bedingung,« fügte Cornelia hinzu.

»Und welcher denn?«

»Daß Sie alles Nötige thun werden, um Ihre Gesundheit wieder zu erlangen... ohne Widerrede!«

»Da stelle ich auch eine Bedingung; nämlich, daß ich als Ihr Reisegefährte zu den Reisekosten beisteuern darf.«

»Wie es Ihnen beliebt, Herr Sergius!« antwortete Herr Cascabel.

So war denn die Sache zu allseitiger Befriedigung geordnet. Aber das Familienoberhaupt glaubte seinem Plane nicht entsagen zu sollen, einige Vorstellungen auf dem großen Platze von Sitka zu geben, – was ihm Ruhm und Profit zugleich eintragen mußte. Die ganze Provinz feierte die Annexion und die Belle-Roulotte hätte zu keiner günstigeren Zeit eintreffen können.

Selbstverständlich hatte Herr Cascabel das an Herrn Sergius verübte Attentat zur Anzeige gebracht, woraufhin der Befehl erteilt worden war, der Karnossschen Bande eifriger nachzuspüren.

Am siebzehnten Juni konnte Herr Sergius zum erstenmal ausgehen. Er befand sich viel besser und seine Wunde war dank der Behandlung des Doktor Harry zugeheilt.

Nun lernte er die übrigen Künstler der Truppe kennen: die beiden Hunde, die sich leise an seinen Knieen rieben, Jako, der ihn mit den ihm von Xander einstudierten Worten. »Wie geht's, Herr Sergius?« begrüßte, und endlich John Bull, dessen schönste Grimassen er freundlich entgegennahm. Sogar die beiden alten Pferde, Vermout und Gladiator, wieherten freudig, als er sie mit Zuckerstückchen regalierte. Von nun an zählte Herr Sergius zur Familie, so gut wie die junge Kayette. Er hatte bereits den ernsten Charakter, den emsigen Geist, die über seinen Stand hinausstrebenden Neigungen bemerkt, welche den ältesten Sohn auszeichneten Xander und Napoleone bezauberten ihn durch ihre Anmut und Lebhaftigkeit. Clou amüsierte ihn mit seiner gutmütigen ehrlichen Dummheit. Was Herrn und Frau Cascabel betrifft, so hatte er deren häusliche Tugenden bereits schätzen gelernt. Es waren entschieden Leute von Herz, mit denen er da zu thun hatte.

Man beschäftigte sich eifrig mit Vorbereitungen zur nahen Abreise. Man durfte nichts unterlassen, um den Erfolg dieser Reise auf einer Strecke von fünfhundert Meilen von Sitka bis zur Beringstraße zu sichern.


Herr Sergius konnte sich zum erstenmale im Freien bewegen. (Seite 104.)

[104] [106]Das ziemlich unbekannte Land bot allerdings keine großen Gefahren, weder von wilden Tieren, noch von wandernden oder ansässigen Indianern; und man würde bei den verschiedenen, von den Beamten der Pelzgesellschaften bewohnten Faktoreien Halt machen können. Die Hauptsache war, sich mit dem täglichen Lebensbedarfe zu versehen, da die Hilfsquellen des Landes mit Ausnahme der Jagd gleich Null sein mußten.

Selbstverständlich besprach die Familie diese Fragen mit Herrn Sergius.

»Vor allem,« sagte Herr Cascabel, »müssen wir den Umstand im Auge behalten, daß wir nicht während der strengen Jahreszeit zu reisen brauchen.«

»Das ist ein Glück,« antwortete Herr Sergius, »denn der alaskische Winter ist grausam unterm Polarkreise.«

»Dann reisen wir auch nicht blindlings ins Land hinein,« fügte Jean hinzu. »Herr Sergius muß ein tüchtiger Geograph sein...«

»O,« erwiderte Herr Sergius, »in einem unbekannten Lande findet auch ein Geograph sich schwer zurecht. Aber mein Freund Jean hat sich mit seinen Landkarten bis hierher recht gut aus der Sache gezogen und so hoffe ich, daß wir auch zu zweien Erfolg haben werden. Überdies habe ich eine Idee, die ich Ihnen später mitteilen will...«

Sobald Herr Sergius eine Idee hatte, konnte es nur eine vortreffliche sein, und man ließ ihr volle Zeit, zu reisen, um sie dann in Ausführung zu bringen.

Da es ihm nicht an Geld gebrach, erneuerte Herr Cascabel seine Vorräte an Mehl, Schmalz, Reis, Tabak und insbesondere an Thee, welcher in Alaska in großen Mengen konsumiert wird. Dann kaufte er auch in der Niederlage der russisch-amerikanischen Gesellschaft Schinken, Rauchfleisch, Zwieback und Konserven ein. Angesichts der Zuflüsse des Youkon würde es unterwegs nicht an Wasser fehlen; aber dasselbe konnte durch einen kleinen Zusatz von Zucker und Cognac, oder eigentlich, »Wódka«, einer Art Branntwein, welche bei den Russen sehr beliebt ist, nur an Güte gewinnen. Daher versah man sich reichlich mit Zucker und Wódka. Was den Brennstoff betrifft, so nahm die Belle-Roulotte, trotzdem die Wälder denselben zu liefern hatten, eine Tonne vortrefflicher Vancouverkohle mit; nur eine Tonne, denn man durfte sie nicht zu schwer belasten.

Unterdessen hatte man in der zweiten Wagenabteilung einen Aushilfsverschlag angebracht, mit dem Herr Sergius sich begnügen wollte und der mit gutem Bettzeug versehen ward. Man kaufte auch Decken ein, sowie jene Hasenpelze, deren die Indianer sich im Winter soviel zu bedienen pflegen. Und für den Fall, daß man unterwegs genötigt wäre, das eine oder andere anzuschaffen, versah Herr Sergius sich mit jenen billigen Glasperlen, Kattunstoffen, Messern und Scheren, welche die gangbare Münze zwischen Händlern und Eingeborenen bilden.

[106] Da man bei dem in jenem Landstriche herrschenden Überflusse an Damwild, Renntieren, Hasen, Auerhähnen, Gänsen und Rebhühnern auf die Jagd rechnen durfte, wurden Pulver und Blei in genügender Quantität angekauft. Herr Sergius konnte sich sogar zwei Flinten und einen Karabiner verschaffen, welche das Arsenal der Belle-Roulotte vervollständigten. Er war ein guter Schütze und würde sich ein Vergnügen daraus machen, in Gesellschaft seines Freundes Jean zu jagen.

Zudem durfte man nicht vergessen, daß die Karnoffsche Bande vielleicht in der Umgebung von Sitka ihr Unwesen trieb, daß man vor einem Angriffe dieser Übelthäter auf der Hut sein und sie gegebenen Falles nach Verdienst empfangen mußte.

»Denn,« bemerkte Herr Cascabel, »auf die Anforderungen, welche diese indiskreten Leute an uns stellen könnten, wüßte ich mir keine bessere Antwort, als eine Kugel vor die Brust...«

»Wenn nicht etwa vor den Kopf!« bemerkte Clou-de-Girofle scharfsinnig.

Mit einem Worte, dank dem Handel, welchen die Hauptstadt von Alaska mit den verschiedenen Städten Kolumbias und den Häfen des Stillen Oceans betrieb, vermochten Herr Sergius und seine Gefährten die zu einer langen Reise durch die Wildnis notwendigen Gegenstände zu nicht allzu übertriebenen Preisen zu erwerben.

Diese Vorkehrungen waren erst in der vorletzten Woche des Juni beendet und die Abfahrt wurde definitiv auf den sechsundzwanzigsten festgesetzt. Da man die Beringstraße nicht eher passieren konnte, als bis sie vollständig zugefroren war, hatte man reichlich Zeit, dahin zu gelangen. Nichtsdestoweniger war es angezeigt, mit möglichen Verzögerungen und unvorhergesehenen Hindernissen zu rechnen; und jedenfalls kam man besser zu früh als zu spät an. In Port-Clarence, welches auf dem Küstengebiete der Meerenge gelegen ist, würde man Rast halten und den günstigen Augenblick abwarten, um auf die asiatische Küste hinüber zu gelangen.

Und was machte während dieser Zeit die junge Indianerin? Nichts absonderliches. Sie ging Frau Cascabel sehr intelligent bei den verschiedenen Reisevorbereitungen zur Hand. Diese ausgezeichnete Frau hatte eine mütterliche Zuneigung zu ihr gefaßt; sie liebte sie ebenso sehr wie Napoleone und schloß sich täglich fester an ihr neues Kind an. Jedermann hatte Kayette auf seine Weise lieb gewonnen, und ohne Zweifel genoß das arme Mädchen jetzt eines Glückes, welches sie unter den wandernden Stämmen in den Zelten der Indianer nie gekannt. So würde man denn mit großer Trauer den Augenblick nahen sehen, wo Kayette sich von der Familie trennen sollte. Aber mußte sie, die jetzt allein in der Welt stand, nicht in Sitka bleiben, da sie doch [107] dahin gekommen war, um ihren Lebensunterhalt als Dienerin, wahrscheinlich unter elenden Verhältnissen, zu erwerben?

»Und dennoch,« sagte Herr Cascabel manchmal, »wenn diese niedliche Kayette – mein Vöglein möcht ich sie heißen – wenn mein Vöglein Lust zum Tanzen hätte, so sollte man ihr vielleicht vorschlagen... Ah! welch eine reizende Tänzerin sie wäre! Und auch welch eine anmutige Kunstreiterin, wenn sie in einem Cirkus auftreten wollte! Ich bin überzeugt, daß sie wie eine echte Centaurin reiten würde!«

Herr Cascabel glaubte nämlich in vollem Ernste, daß die Centauren vortreffliche Reiter seien, und dieser Ansicht würde man nicht ungestraft widersprochen haben.

Als er Jean bei den Worten seines Vaters den Kopf schütteln sah, begriff Herr Sergius sehr wohl, daß dieser ernste und zurückhaltende Junge die väterlichen Ansichten über Akrobatie und ähnliche Künste durchaus nicht teilte.

Man beunruhigte sich sehr über Kayette, was aus ihr werden würde, welche Existenz ihrer in Sitka harre; und man war ganz betrübt, als Herr Sergius sie am Vorabend der Abreise an seiner Hand vor den versammelten Familienkreis führte.

»Meine Freunde,« sagte er »ich hatte keine Tochter; nun, und jetzt habe ich eine, eine Adoptivtochter. Kayette wird die Güte haben, mich als ihren Vater zu betrachten und ich bitte um Unterkunft in der Belle-Roulotte für sie!«

Welche Freudenrufe Herrn Sergius antworteten und mit welchen Liebkosungen das »Vöglein« überhäuft wurde! Herr Cascabel aber konnte sich nicht enthalten, seinem Gaste gerührt zu sagen:

»Was für ein wackerer Mann Sie sind!«

»Weshalb denn, mein Freund?« antwortete Herr Sergius. »Haben Sie etwa vergessen, was Kayette für mich gethan hat? Ist es nicht natürlich, daß sie mein Kind werde, da ich ihr mein Leben verdanke?«

»Nun, so teilen wir!« rief Herr Cascabel. »Wenn Sie ihr Vater sind, Herr Sergius, so will ich ihr Onkel sein!«

12. Capitel
XII. Don Sitka nach Fort Youkon.

Am frühen Morgen des sechsundzwanzigsten Juni lichtete – um uns eines der metaphorischen Ausdrücke zu bedienen, welche ihrem Kommandanten geläufig waren – die Belle-Roulotte die Anker. Es fragte sich nur mehr – [108] um diese Metapher durch die bilderreiche Bemerkung des unsterblichen Prudhomme zu vervollständigen –, ob sie nicht etwa über einen Vulkan schiffen werde. Das war nicht unmöglich, sowohl figürlich gesprochen, da der Weg große Schwierigkeiten bieten würde, als auch in physikalischer Hinsicht, da es auf der nördlichen Küste des Beringmeeres nicht an thätigen oder erloschenen Vulkanen fehlt.

So verließ denn die Belle-Roulotte die alaskische Hauptstadt, begleitet von den guten Wünschen der zahlreichen Freunde, deren Bravos und Rubel die Familie im Laufe der vor den Thoren Sitkas verbrachten Tage eingeheimst hatte.

Das Wort »Thore« ist bezeichnender als man glauben sollte. Die Stadt ist nämlich mit einer soliden Palissade umgeben, durch deren wenige Öffnungen man nicht leicht ohne Erlaubnis eindringt.

Die russischen Autoritäten haben sich eben gegen den Zufluß der Kaluchen-Indianer vorsehen müssen, welche ihre Wohnstätten zwischen dem Stekin- und dem Tchilcotflusse, in der Nähe von Neu-Archangel, aufzuschlagen pflegen. Dort erheben sich verstreut ihre äußerst primitiv gebauten Hütten. Eine niedrige Thür führt in einen runden, manchmal in zwei Abteilungen geteilten Raum, welcher nur durch ein Loch in der Decke Licht erhält und auch keinen anderen Ausweg für den Rauch des Herdes besitzt. Diese Hütten bilden insgesamt eine Vorstadt Sitkas, eine Vorstadtextra muros. Nach Sonnenuntergang hat kein Indianer das Recht, in der Stadt zu verweilen, – ein durch die oft bedenklichen Beziehungen zwischen Indianern und Weißen gerechtfertigtes Verbot.

Außerhalb Sitkas mußte die Belle-Roulotte vorerst mit Hilfe dazu bestimmter Fähren über eine Anzahl schmaler Flüsse setzen, um an das geschlängelte Ufer eines Golfes zu gelangen, welcher in eine Spitze ausläuft und als Lyan-Kanal bekannt ist.

Von da an war man auf festem Lande.

Der Reiseplan, oder eigentlich die Marschroute, war sorgfältig von Herrn Sergius und Jean auf den großen Landkarten studiert worden, die ihnen im Gardens-Klub leicht zugänglich gewesen. Da Kayette die Gegend kannte, hatte man auch sie um ihre Meinung befragt. Ihr lebhafter Geist gestattete ihr, die Zeichen der vor ihr ausgebreiteten Karte zu begreifen. Sie drückte sich abwechselnd in indianischer und russischer Sprache aus und ihre Bemerkungen erwiesen sich als sehr nützlich für die Besprechung. Man mußte, wenn nicht den kürzesten, so doch jedenfalls den leichtesten Weg nach dem auf der östlichen Küste der Meerenge gelegenen Port-Clarence wählen. Demnach beschloß man, daß die Belle-Roulotte direkt auf den großen und bedeutenden Fluß Youkon zusteuern solle, welchen sie bei dem gleichnamigen [109] Fort, fast auf der Hälfte des Weges, cirka zweihundertfünfzig Meilen von Sitka, erreichen würde. Auf diese Weise wich man den Schwierigkeiten aus, die eine Reise längs der teilweise gebirgigen Küste geboten hätte. Dagegen breitete das Youkon-Thal sich zwischen den verworrenen Höhenzügen des Westens und den Rocky-Mountains aus, welch letztere Alaska von dem Flußgebiete des Mackenzie und von Britisch-Amerika trennen.

Demzufolge sah die Familie Cascabel einige Tage nach ihrer Abreise die regellosen Umrisse der Küste mit den hohen Gipfeln des Schönwetter- und des Elias-Berges im Südwesten verschwinden.

Die sorgfältig geregelten Marsch- und Raststunden wurden streng eingehalten. Man hatte keinen Grund zur Eile und es war besser, piano zu gehen, um sano zu gehen. Die Hauptsache war, die beiden Pferde zu schonen, die nur durch ein Renntiergespann ersetzt werden konnten, falls man sie verlöre, – eine Eventualität, der man um jeden Preis ausweichen mußte. So brach man denn jeden Morgen gegen sechs Uhr auf, machte mittags zwei Stunden lang Halt, und fuhr bis sechs Uhr abends weiter, um dann die ganze Nacht hindurch zu rasten. Auf diese Weise legte man durchschnittlich fünf bis sechs Meilen pro Tag zurück.

Wenn man übrigens Eile gehabt hätte, so wäre nichts leichter gewesen, als bei Nacht zu fahren, denn die Sonne von Alaska war, wie Herr Cascabel bemerkte, durchaus nicht träge.

»Kaum ist sie untergegangen, so geht sie schon wieder auf!« sagte er. »Dreiundzwanzig Stunden Beleuchtung und sie wird darum nicht besser bezahlt als anderswo!«

In der That sank die Sonne in dieser Epoche, nämlich zur Zeit der Sommersonnenwende, und in dieser hohen Zone, um elf Uhr siebzehn Minuten abends, und ging um elf Uhr neunundvierzig Minuten wieder auf, so daß sie nur zweiunddreißig Minuten lang hinter dem Horizonte verschwunden blieb, und die auf ihren Untergang folgende Abenddämmerung ohne Unterbrechung in den neuen Morgenschein hinüberfloß.

Was die Temperatur betrifft, so war sie heiß und manchmal sogar erstickend schwül. Unter diesen Umständen wäre es mehr als unvernünftig gewesen, nicht während der glühenden Mittagsstunden Rast zu halten. Menschen und Tiere litten sehr empfindlich von dieser außerordentlichen Hitze. Wer würde glauben, daß das Thermometer an der Grenze des Polarkreises manchmal auf dreißig Grad Celsius über Null steigt? Und dennoch ist dem so.


Die Belle-Roulotte mußte eine Anzahl enger Fahrwasser passieren. (Seite 109.)

Obgleich die Reise sicher und ohne große Schwierigkeiten von statten ging, klagte die von der unausstehlichen Hitze arg mitgenommene Cornelia, und nicht ohne Grund.

[110] »Sie werden sich bald nach dem sehnen, was Ihnen jetzt so schwer zu ertragen scheint!« sagte Herr Sergius eines Tages zu ihr.

»Nach einer solchen Hitze?... niemals!« rief sie aus.

»In der That, Mutter,« bestätigte Jean. »Jenseits der Beringstraße, in den sibirischen Steppen, wirst du noch ganz anders von der Kälte leiden!«

[111] »Einverstanden, Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel. »Aber während man sich der Hitze nicht erwehren kann, ist es doch wenigstens möglich, sich mit Hilfe des Feuers vor der Kälte zu schützen.«

»Allerdings, mein Freund,« erwiderte Herr Sergius, »und das werden Sie auch in einigen Monaten thun müssen, denn die Kälte wird schrecklich sein, vergessen Sie das nicht!«

Nachdem die Belle-Roulotte sich durch die »Canons,« enge, kapriziös zwischen die mittelhohen Berge eingezwängte Schluchten, hindurchgewunden, sah sie am dritten Juli nur mehr weite Ebenen mit spärlichen Wäldern vor sich.

An jenem Tage fuhr sie an einem kleinen See, dem Dease-See entlang, welchem der Lewis-Rio, einer der bedeutendsten Nebenflüsse des unteren Youkon, entsprang. Kayette erkannte denselben.

»Ja,« sagte sie. »Das ist der Cargu, der sich in unseren großen Fluß ergießt!«

Und sie erklärte Jean, daß »Cargu« in alaskischer Sprache wörtlich »kleiner Fluß« bedeute.

Aber vernachlässigten es die Künstler der Cascabelschen Truppe während dieser Reise ohne Hindernisse und Anstrengungen ihre Übungen zu wiederholen, sich die Kraft ihrer Muskeln, die Geschmeidigkeit ihrer Glieder, die Geschicklichkeit ihrer Hände zu erhalten? Gewiß nicht; wenn die Hitze es gestattete, verwandelte der abendliche Rastplatz sich in eine Arena, welche nur Herrn Sergius und Kayette zu Zuschauern hatte. Dann bewunderten beide die Heldenthaten dieser tapferen Familie – die junge Indianerin nicht ohne einiges Erstaunen, Herr Sergius mit Wohlwollen.

Herr und Frau Cascabel übten sich abwechselnd im Heben schwerer Gewichte und im Werfen und Auffangen von Hanteln; Xander erging sich in den Verrenkungen, die seine Spezialität bildeten; Napoleone betrat das zwischen zwei Pfosten aufgespannte Seil und entfaltete ihre Anmut als Tänzerin, während Clou vor einem vermeintlichen Publikum paradierte.

Freilich hätte Jean es vorgezogen, bei seinen Büchern zu bleiben, sich im Geplauder mit Herrn Sergius zu bilden, oder Kayette zu unterrichten, welche unter seiner Leitung sehr schnelle Fortschritte in der französischen Sprache machte; aber der Vater verlangte, daß er nichts von seiner bemerkenswerten Geschicklichkeit als Equilibrist einbüße, und so schnellte er aus Gehorsam seine Gläser, Ringe, Kugeln, Messer und Stäbchen umher, – derweil er an ganz andere Dinge dachte, der arme Junge!

Übrigens empfand er große Befriedigung darüber, daß Herr Cascabel seinen Wunsch aufgeben mußte, Kayette zur Jahrmarktskünstlerin heranzubilden. Da das junge Mädchen von Herrn Sergius, einem reichen, gelehrten, der [112] besten Gesellschaft angehörenden Manne, adoptiert worden, war ihre Zukunft in achtbarster Weise gesichert. Ja! Das freute ihn, diesen wackern Jean, obgleich ihm andererseits der Gedanke, daß Kayette die Seinen verlassen werde, sobald sie die Beringstraße erreichten, ernstlichen Kummer bereitete. Und dieses Leid hätte man vermieden, wenn sie als Tänzerin bei der Truppe geblieben wäre!

Aber Jean hegte eine zu aufrichtige Freundschaft für sie, um sich nicht über ihre Adoption seitens des Herrn Sergius zu freuen. Empfand er doch selber das glühende Verlangen, seine Lage zu ändern! Fühlte er sich doch vermöge seiner höheren Instinkte zu etwas anderem als zu dieser Gaukler-Existenz geschaffen! Und er hatte sich doch auf den öffentlichen Plätzen unzähligemale der Bravos geschämt, welche ihm seine wunderbare Geschicklichkeit eingetragen!

Als er eines Abends mit Herrn Sergius spazieren ging, öffnete er diesem sein Herz mit all seinem Sehnen und Bedauern. Er sagte, was er zu werden gewünscht hätte, zu welchem Ehrgeiz er sich berechtigt glaube. Indem sie auch weiterhin durch die Welt streiften, sich auf Jahrmärkten zur Schau stellten, ihrem Gymnastiker- und Akrobatengewerbe oblagen und sich mit Gauklern und Clowns umgaben, würden seine Eltern es vielleicht zu bescheidenem Wohlstande bringen, würde er selber vielleicht mit der Zeit ein wenig Vermögen erwerben. Aber bis dahin würde es zu spät sein, eine achtbarere Laufbahn zu betreten.

»Ich schäme mich meiner Eltern nicht, Herr Sergius,« fügte er hinzu. »Nein. Das wäre undankbar. Innerhalb der Grenzen dessen, was sie thun konnten, haben sie nichts unterlassen! Sie sind gut gegen ihre Kinder gewesen! Aber ich fühle die Kraft in mir, ein Mann zu werden, und ich soll nichts als ein armer Gaukler sein!«

»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius »ich verstehe dich. Aber glaube mir, daß es schon etwas ist, ein wie immer beschaffenes Gewerbe ehrlich betrieben zu haben. Kennst du redlichere Menschen als deine Eltern?« –

»Nein, Herr Sergius!«

»Nun denn, fahre fort sie zu achten, wie ich sie selber achte. Dein Streben nach Besserem beweist eine edle Gesinnung. Wer weiß, was die Zukunft dir bringen wird! Fasse Mut, mein Kind, und rechne auf meine Unterstützung. Ich werde niemals vergessen, was deine Familie für mich gethan hat; niemals! Und eines Tages, wenn ich kann...«

Während Herr Sergius sprach, bemerkte Jean, daß seine Stirne sich verdüsterte und seine Stimme unsicher ward. Er schien der Zukunft mit Besorgnis entgegenzusehen. Ein kurzes Schweigen entstand, welches Jean mit den Worten unterbrach:

[113] »Warum wollen Sie nicht weiter als bis Port-Clarence mit uns reisen, Herr Sergius? Da Sie doch die Absicht haben, zu Ihrem Vater in Rußland zurückzukehren...«

»Es ist unmöglich, Jean,« antwortete Herr Sergius. »Ich habe die von mir unternommene Erforschung der westamerikanischen Gebiete noch nicht beendet.«

»Kayette wird bei Ihnen bleiben?...« flüsterte Jean.

Und seine Stimme klang so traurig, daß Herr Sergius sich tief bewegt fühlte.

»Muß sie mich nicht begleiten,« erwiderte er, »nun ich die Sorge für ihre Zukunft übernommen habe?«

»Sie würde Sie nicht verlassen, Herr Sergius und in Ihrem Lande...«

»Mein Kind,« antwortete Herr Sergius, »meine Pläne sind noch nicht endgültig gefaßt... Das ist alles, was ich dir jetzt sagen kann. Wenn wir erst Port-Cla rence erreicht haben, werden wir sehen... Vielleicht werde ich deinem Vater alsdann einen gewissen Vorschlag zu machen haben und es wird von seiner Antwort abhängen, ob...«

Jean bemerkte wieder das Zögern, welches er zuvor in den Worten des Herrn Sergius wahrgenommen hatte. Diesmal beharrte er nicht, da er sich zu größter Zurückhaltung verpflichtet fühlte. Aber nach dieser Unterhaltung wurde ihre gegenseitige Sympathie noch größer. Herr Sergius hatte erkannt, wie viel Gutes, Zuverlässiges, Edles in diesem redlichen und freimütigen Burschen steckte. Er beschäftigte sich denn auch damit, ihn zu unterrichten, die Studien, an denen er Geschmack fand, zu leiten. Was Herrn und Frau Cascabel betrifft, so konnten sie sich nur Glück wünschen zu dem, was Herr Sergius für ihren Sohn that.

Indessen vernachlässigte Jean sein Jägeramt durchaus nicht. Herr Sergius, der diesem Sport leidenschaftlich ergeben war, begleitete ihn häufig; und wieviel man sich zwischen zwei Schüssen sagen kann! Die Ebenen waren sehr wildreich. Es gab Hafen genug, um eine ganze Karawane zu ernähren. Und die Nützlichkeit derselben beschränkte sich nicht auf ihre Eigenschaft als Nährmittel.

»Es laufen da nicht nur Braten und Ragouts herum, sondern auch Mäntel, Boas, Muffs und Decken!« sagte Herr Cascabel eines Tages.

»So ist's, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »wenn sie unter einer Gestalt in der Küche figuriert haben, werden sie nicht minder vorteilhaft unter einen andern in Ihrer Garderobe figurieren. Man kann sich nicht genug gegen die Strenge des sibirischen Klimas vorsehen!«


Herr Sergius hörte dies mit tiefer Bewegung an. (Seite 114.)

Daraufhin sammelte man diese Felle und sparte zugleich die Konserven [114] für den Zeitpunkt auf, wo der Winter das Wild der Polargegenden in die Flucht jagen würde.

Und wenn die Jäger weder Rebhühner noch Hafen heimbrachten, verschmähte Cornelia es nicht, nach indianischer Gepflogenheit einen Raben oder eine Krähe in den Kochtopf zu thun, und die Suppe war darum nicht weniger vorzüglich.

[115] Hin und wieder zog Herr Sergius oder Jean auch einen prächtigen Auerhahn aus der Jagdtasche, und man kann sich leicht vorstellen, wie gut sich ein solcher Braten auf der Tafel ausnahm.

Die Belle-Roulotte hatte also keine Hungersnot zu befürchten. Aber freilich befand sie sich noch auf der leichtesten Strecke ihres abenteuerlichen Weges.

Großes Unbehagen aber, ja sogar eine Qual, die man erdulden mußte, verursachte die Zudringlichkeit der Moskitos. Nun Herr Cascabel sich nicht mehr auf englischem Boden wußte, fand er dieselben sehr unangenehm. Und ohne Zweifel würde ihr Gewimmel alles Maß überschritten haben, wenn die Schwalben sie nicht in außerordentlichen Mengen verzehrt hätten. Aber diese Schwalben würden sehr bald nach Süden ziehen, denn ihr Aufenthalt an den Grenzen des Polarkreises ist von äußerst kurzer Dauer.

Am 9. Juli kam die Belle-Roulotte an die Stelle, wo sich der Lewis-River durch eine weite Uferbresche in den Youkon ergießt. Wie Kayette bemerkte, trägt letzterer in seinem obern Laufe auch den Namen Pelly-River. Von der Mündung des Lewis an fließt er entschieden gegen Nordwesten, bevor er sich ganz nach Westen wendet, um seine Wasser in eine Bucht des Beringmeeres zu ergießen.

An der Mündung des Lewis erhebt sich ein Posten, Fort Selkirk, weniger bedeutend als das cirka hundert Meilen weiter thalwärts auf dem rechten Flußufer gelegene Fort Youkon.

Seit der Abfahrt von Sitka hatte die junge Indianerin wertvolle Dienste geleistet, indem sie die kleine Truppe mit merkwürdiger Sicherheit führte. Schon während ihres Nomadenlebens hatte sie diese, von dem großen alaskischen Flusse durchströmten Ebenen durchstreift. Von Herrn Sergius über ihre Kindheit befragt, hatte sie von ihrem ganzen, mühseligen Leben erzählt, von den Zeiten, wo die Indgeletenstämme von einem Ende des Youkonthales zum andern zogen, von der darauf folgenden Zerstreuung des Stammes, der Zerstreuung ihrer Familie. Und wie sie dann, gänzlich verwaist, sich notgedrungen entschlossen habe, bei irgend einem Sitkaer Beamten oder Agenten in Dienst zu gehen. Jean hatte sie wiederholt zur Erzählung ihrer traurigen Geschichte bewogen und war jedesmal tief gerührt davon.

In der Umgebung des Fort Selkirk begegnete man einigen jener Indianer, welche an den Ufern des Youkon umherschweifen, besonders solcher, welche Kayette als Birches oder Birkmänner bezeichnete. In der That wächst eine große Anzahl von Bäumen dieser Gattung unter den Kiefern, den Douglasfichten und Ahornen, welche die mittleren Gebiete der alaskischen Provinz bedecken.

Das von einigen Beamten der russisch-amerikanischen Gesellschaft bewohnte Fort Selkirk ist eigentlich bloß eine Pelz- und Kürschnerwaren-Niederlage,[116] welche die Händler der Ufergegenden zu bestimmten Zeiten aufsuchen, um ihre Einkäufe zu besorgen.

Die Beamten, froh über einen Besuch, welcher die Eintönigkeit ihres Daseins unterbrach, empfingen das Personal der Belle-Roulotte so gut, daß Herr Cascabel sich zu einer vierundzwanzigstündigen Rast entschloß.

[117] Indessen kam man überein, daß die Belle-Roulotte an dieser Stelle über den Youkonfluß setzen solle, um ihn nicht später und vielleicht unter weniger günstigen Umständen passieren zu müssen. In der That nahm sein Bett an Breite und seine Strömung an Schnelligkeit zu. je weiter er sich gegen Westen ausdehnte.

Es war Herr Sergius, der hierzu riet, nachdem er den Lauf des Youkon, welcher die Reiseroute zwei hundert Meilen vor Port-Clarence durchschnitt, auf der Karte studiert hatte.


Eine Fähre brachte die Belle-Roulotte auf das rechte Ufer. (Seite 118.)

So brachte denn eine Fähre mit Hilfe der Agenten und der in der Umgebung des Fort Selkirk ansässigen, vom Fischfang lebenden Indianer die Belle-Roulotte auf das rechte Flußufer hinüber.

Die Ankunft der Familie erwies sich diesen Indianern als sehr nützlich; denn sie vermochte deren Hilfeleistungen durch einen Dienst zu vergelten, dessen Größe dieselben zu würdigen wußten.

Der Häuptling des Stammes war gerade schwer erkrankt – oder schien es wenigstens zu sein. Als Arzt und Arzneien aber standen ihm nur der traditionelle Zauberer und die bei den Eingeborenen üblichen Wundermittel zur Verfügung. So lag der Häuptling denn schon eine Weile auf dem Dorfplatze, wo Tag und Nacht ein großes Feuer brannte. Die um ihn versammelten Indianer beschworen den großen Manitu in Chorgesängen, während der Zauberer seine besten Künste probierte, um den in den Körper des Kranken gefahrenen bösen Geist zu verjagen. Um des besseren Erfolges willen suchte er den genannten Geist in seinen eigenen Körper zu locken; dieser aber war zäher Natur und wollte nichts von dem Wohnungswechsel hören.

Zum Glück konnte Herr Sergius, der sich ein wenig auf Medizin verstand, dem Indianerhäuptling eine Behandlung angedeihen lassen, welche seinem Zustand entsprach.

Als Herr Sergius den erlauchten Patienten untersucht hatte, stellte er seine Diagnose ohne große Mühe und nahm die kleine Reise-Apotheke in Anspruch, um ihm ein energisches Vomitiv einzugeben, welches alle Beschwörungen des Zauberers nicht ersetzt hätten.


Während der Zaubermann seine größten Beschwörungen machte. (Seite 118.)

Um die Wahrheit zu sagen, hatte der Häuptling sich nämlich eine Magenverstimmung ersten Ranges zugezogen, und die Menge Thee, die er konsumierte, erwies sich als machtlos dagegen.

So aber blieb er zur großen Befriedigung seines Stammes am Leben, – was die Familie Cascabel um den Anblick der Ceremonien brachte, welche die Beerdigung eines Herrschers begleiten. Nebenbei gesagt, ist das Wort Beerdigung nicht zutreffend, wenn es sich um eine indianische Totenfeier handelt. Denn der Tote wird einige Fuß über der Erde in der Luft aufgehängt. Auf dem Grunde seines Sarges liegen, als sollten sie ihm im Jenseits dienen, [118] seine Pfeife, sein Bogen, seine Pfeile, seine Schneeschuhe und die mehr oder weniger kostbaren Pelze, die er im Winter trug. Und der Wind schaukelt ihn während seines ewigen Schlafes wie ein Kind in der Wiege.

Die Familie Cascabel verbrachte nur vierundzwanzig Stunden bei Fort Selkirk, verabschiedete sich dann von den Indianern und den Beamten und nahm eine ausgezeichnete Erinnerung an jenen ersten Aufenthalt am Ufer des [119] Flusses mit sich fort. Sie mußte längs des Pelly-River stromaufwärts ziehen, auf einem ziemlich schwierigen Wege, den das Gespann nicht ohne Anstrengung zurücklegte. Endlich, am 27. Juli, siebzehn Tage nachdem sie Fort Selkirk verlassen, erreichte die Belle-Roulotte Fort Youkon.

13. Capitel
XIII. Ein Einfall Cornelia Cascabels.

Die Belle-Roulotte hatte die Fahrt vom Fort Selkirk nach Fort Youkon auf der rechten Seite des Flußufers zurückgelegt. Sie hatte sich in häufig wechselnder Entfernung von seinem Laufe gehalten, um den Umwegen zu entgehen, zu welchen das vielfach zerklüftete und von unwegsamen Lagunen unterbrochene Ufer sie genötigt haben würde. Wenigstens gilt dies von der rechten Flußseite, denn auf der linken säumen mittelhohe, nach Nordwesten ziehende Hügel das Thal ein. Vielleicht wäre es auch unbequem gewesen, gewisse kleine Nebenflüsse des Youkon, unter anderen den Stewart, auf dem keine Fähre den Dienst versieht, zu passieren, wenn nicht während der heißen Jahreszeit eine Furt mit blos knietiefem Wasser den Übergang gestattet hätte. Und ohne Kayettens Hilfe wären Herr Cascabel und die Seinigen auch da noch in großer Verlegenheit gewesen. Kayette kannte dieses Flußthal gut und konnte ihnen somit die Übergänge zeigen.

Es war wirklich ein glücklicher Zufall, der ihnen diese junge Indianerin zur Führerin gegeben. Und sie ihrerseits war so froh, ihren neuen Freunden dienen zu können, so zufrieden, sich im Kreise dieser neuen Familie zu sehen, so gerührt von jenen mütterlichen Liebkosungen, deren sie sich schon auf ewig beraubt geglaubt hatte.

Das Land hatte in seinem mittleren Teile noch Wälder und hie und da kleine Anhöhen aufzuweisen, aber es konnte sich hier nicht mehr mit der Umgegend von Sitka messen.

In der That läßt die Strenge eines Klimas, welches acht Monate lang einem Polarwinter ausgesetzt ist, keine rechte Vegetation mehr aufkommen. Die in diesen Regionen anzutreffenden Baumgattungen gehören, mit Ausnahme einiger verkümmerter Pappeln, zur Familie der Fichten und Birken... Und dann findet man einige seltene Gruppen jener trübseligen, dünnen und farblosen Weiden, welche die vom Eismeere herwehenden scharfen Winde so rasch entblättern.

[120] Da die Jagd auf dem Wege vom Fort Selkirk nach dem Fort Youkon ziemlich ausgiebig gewesen, hatte man die mitgenommenen Vorräte nicht zum Zwecke der täglichen Verköstigung anzurühren gebraucht. Hafen, soviel man wollte! Vielleicht begannen die Gäste sogar insgeheim derselben müde zu werden. Indessen hatte man vermittelst gebratener Gänse und Wildenten Abwechslung in den Speisezettel zu bringen vermocht, gar nicht zu reden von den Eiern dieses Geflügels, welche Xander und Napoleone geschickt aufzuspüren wußten. Und Cornelia verstand es – sie war sogar stolz darauf –, die Eier auf so viele Arten zuzubereiten, daß sie immer einen neuen Leckerbissen bildeten.

»Hierzulande lebt sich's wirklich gut!« rief Clou-de-Girofle eines Tages aus, indem er ein großes Gansgerippe abnagte. »Schade, daß die Gegend nicht im Centrum von Europa oder Amerika liegt!«

»Wenn sie inmitten von bewohnten Ländern läge,« antwortete Herr Sergius, »so würde das Wild wahrscheinlich seltener darin sein...«

»Wenn nicht etwa...« erwiderte Clou.

Ein Blick seines Gönners ließ ihn verstummen und ersparte ihm die Dummheit, die er sicher gesagt haben würde.

Wenn die Ebene wildreich war, so muß man auch erwähnen, daß die Creeks, die Rios, die sich in den Youkon ergossen, vorzügliche Fische lieferten insbesondere prächtige Hechte, welche Xander und Clou mit der Angel fingen. Es kostete sie nur die Mühe oder vielmehr das Vergnügen, ihrer Leidenschaft fürs Fischen zu fröhnen, ohne daß sie je einen Sou oder Cent dafür auszugeben brauchten.

Aber die Ausgaben beunruhigten den jungen Xander überhaupt nicht sonderlich. War doch die Zukunft der Cascabels dank seiner Umsicht gesichert! Besaß er doch seinen kostbaren Goldklumpen! Hatte er ihn doch in einem nur ihm bekannten Winkel des Wagens versteckt, jenen wertvollen Kiesel, den er im Cariboo- Thale gefunden! Ja, und bisher hatte der Bursche Selbstbeherrschung genug besessen, um nichts davon zu sagen und geduldig auf den Tag zu warten, wo er seinen Klumpen in schöne Goldstücke verwandeln konnte! Welche Freude es dann sein würde, seinen Reichtum zur Schau zu stellen! Nicht etwa, als ob er den selbstsüchtigen Gedanken gehabt hätte, ihn für sich zu behalten! Bewahre! Er gedachte ihn seinen Eltern zu übergeben; es war ein Vermögen, welches den in der Sierra Nevada erlittenen Verlust reichlich ersetzen würde!

Als die Belle-Roulotte nach einer Reihe sehr heißer Tage Fort Youkon erreichte, waren ihre sämtlichen Bewohner gründlich ermüdet, weshalb man beschloß, daß die Rast an diesem Orte eine volle Woche währen solle.

[121] »Es ist das um so thunlicher,« bemerkte Herr Sergius, »als das Fort nicht über zweihundert Meilen von Port-Clarence entfernt ist. Heute haben wir erst den siebenundzwanzigsten Juli, und es wird nicht vor zwei, vielleicht nicht einmal vor drei Monaten möglich sein, die Meerenge auf dem Eise zu passieren.

»So ist's,« antwortete Herr Cascabel, »und da wir somit Zeit dazu haben: Halt!«

Dieser Entschluß wurde mit ebensoviel Befriedigung von dem zwei-, wie von dem vierfüßigen Personal der Belle-Roulotte aufgenommen.

Die erste Gründung des Fort Youkon datiert vom Jahre 1847 her. Dieser Posten, welcher der entfernteste von allen westlichen Besitzungen der Hudsonbai-Gesellschaft ist, liegt dicht unterm Polarkreise. Da er sich indessen auf alaskischem Gebiete befindet, ist die Gesellschaft genötigt, ihrer Rivalin, der russisch-amerikanischen Gesellschaft eine jährliche Entschädigung zu zahlen.

Erst im Jahre 1864 unternahm man die gegenwärtigen Bauten, welche von einer Palissade umgeben sind; dieselben waren noch kaum vollendet, als die Cascabels Fort Youkon erreichten und einige Tage dort zu verweilen beschlossen.

Die Agenten boten ihnen bereitwilligst ihre Gastfreundschaft innerhalb ihrer Befestigungen an. In den Höfen und Schuppen fehlte es nicht an Raum. Indessen dankte Herr Cascabel ihnen mit einigen pomphaften und sehr verbindlichen Phrasen; er zog es vor, seine bequeme Belle-Roulotte nicht zu verlassen.

Im ganzen genommen bestand die Besatzung des Forts blos aus cirka zwanzig Agenten, zumeist Amerikanern, nebst einigen zu ihrem Dienste bestimmten Indianern, während die Eingebornen an den Ufern des Youkon nach Hunderten zählten.

In der That befindet sich dort, im Mittelpunkte Alaskas, der gesuchteste Markt für Pelz- und Kürschnerwaren, wo die verschiedenen Stämme der Provinz zusammenkommen: die Kotch-a-Koutchins, die An-Koutchins, die Tatanchoks, die Tananas, und besonders auch jene Indianer, welche den wichtigsten Teil der Bevölkerung bilden, die an den Ufern des Flusses wohnhaften Co-Youkons.

Wie man sieht, ist die Lage des Forts sehr vorteilhaft für den Warenaustausch, da es sich in dem Winkel erhebt, welchen der Youkon an seinem Vereinigungspunkt mit dem Porcupine bildet. Dort teilt der Fluß sich in fünf Kanäle, die den Handeltreibenden das Innere des Gebietes zugänglich machen und ihnen sogar durch den Lauf des Mackenzie den Verkehr mit den Eskimos ermöglichen.

Diese flüssigen Straßen sind denn auch mit kleinen Fahrzeugen besäet, [122] insbesondere mit zahlreichen »Baidarren«, einer Art leichter Kähne aus geölten Häuten, welche man an den Nähten mit Fett bestreicht, um sie wasserdichter zu machen. In diesen unsicheren Booten wagen die Indianer sich auf ganz bedeutende Reisen und scheuen sich dabei keineswegs, sie auf ihren Schultern fortzutragen, wenn irgend eine Stromschnelle oder ein anderes Hindernis die Schiffahrt erschwert.

[123] Indessen sind diese Fahrzeuge höchstens drei Monate lang benützbar. Während der übrigen Zeit des Jahres sind die Gewässer unter einem dicken Eispanzer begraben. Dann wird die Baidarre zum Schlitten. Dieses Gefährt, an dessen kielförmig gebogenem Vorderteil Hunde oder Renntiere mit Riemen aus Elenhaut gespannt sind, ist von großer Geschwindigkeit. Was die Fußgänger betrifft, so fliegen sie auf ihren langen Schneeschuhen noch schneller dahin.


Auf diese gebrechlichen Fahrzeuge wagen sich die Indianer.

Immer vom Zufall begünstigt, dieser Cäsar Cascabel! Er traf zur geeignetsten Zeit bei Fort Youkon ein, da der Pelzmarkt gerade jetzt in vollem Gange war und demzufolge mehrere hundert Indianer in der Umgebung der Faktorei lagerten.

»Hol mich der Teufel,« rief er, »wenn wir keinen Nutzen daraus ziehen! Es ist das ein regelrechter Jahrmarkt und da dürfen wir nicht vergessen, daß wir Jahrmarktskünstler sind! Das ist der Augenblick, wenn es je einen gegeben hat, wo wir unsern Geschäftssinn bethätigen müssen!... Sie haben doch keine Einwendung dagegen, Herr Sergius?...«

»Nicht die geringste, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »aber ich zweifle, ob Sie hier gute Einnahmen erzielen werden!«

»Pah! sie werden immerhin unsere Kosten decken, nachdem wir keine Kosten haben!«

»Sehr wahr,« erwiderte Herr Sergius. »Aber ich möchte doch wissen, wie diese wackern Eingeborenen ihre Plätze bezahlen sollen, da sie weder amerikanisches noch russisches Geld besitzen...«

»Nun, sie werden mit Häuten von Bisamratten und Bibern oder was sie sonst haben mögen, bezahlen. Auf jeden Fall werden diese Vorstellungen uns die Muskeln ein wenig dehnen, denn ich fürchte immer, daß unsere Glieder ihre Geschmeidigkeit einbüßen könnten! Da wir unsern Ruf in Perm, in Nischni behaupten sollen, will ich meine Truppe keinem Fiasko in Ihrem Geburtslande aussetzen. Ich würde ein solches nicht überleben, Herr Sergius; nein! ich würde es nicht überleben!«

Das Fort Youkon, der bedeutendste Handelsplatz der Gegend, nimmt einen ziemlich ausgedehnten Raum auf dem rechten Ufer des Flusses ein. Es bildet ein längliches Quadrat mit vier Ecktürmen, welche einigermaßen an jene auf Pfählen ruhenden Mühlen erinnern, die man im nördlichen Europa antrifft. Im Innern erheben sich verschiedene, von den Beamten der Gesellschaft und deren Familien bewohnte Gebäude und zwei große Lagerhäuser, wo Häute und Pelze in bedeutenden Mengen aufgestapelt sind – Marder-, Biber-, schwarze und graue Fuchsfelle, gar nicht zu reden von den minder wertvollen Sorten.

Es ist ein eintöniges und sogar entbehrungsvolles Leben, das die Beamten dort führen. Ihre Nahrung besteht gewöhnlich aus geröstetem, gebratenem [124] oder gekochtem Elenfleische, seltener auch aus Renntierfleisch. Was anderweitige Lebensmittel betrifft, so muß man dieselben aus der im Hudsonbaigebiete gelegenen Yorkfaktorei kommen lassen, also aus einer Entfernung von sechs- bis siebenhundert Meilen, welche keine häufigen Sendungen gestattet.

Nachmittags, als ihr Lager aufgeschlagen war, besuchten Herr Cascabel und die Seinigen die zwischen den Ufern des Youkon und des Porcupine gelagerten Indianer.

Wie verschieden diese provisorischen Wohnungen je nach dem Stamme, dem sie angehören, von einander sind! Hütten aus Baumrinde und Tierfellen, von Pfählen gehalten, mit Ast- und Laubwerk gedeckt; Zelte aus jenem Baumwollzwillich, welcher als indianisches Fabrikat bekannt ist; Bretterbaracken, die man jeden Augenblick aufstellen und wieder auseinander nehmen kann.

Und welches amüsante Durcheinander von Trachten! Die einen in Tierfelle, die andern in Baumwollstoffe gekleidet; alle mit Laubgewinden um den Kopf, um sich gegen den Biß der Moskitos zu schützen. Die Frauen in bunten karrierten Röcken, das Gesicht mit Muscheln verziert. Die Männer mit Räumnadeln geschmückt, die während des Winters zum Feststecken ihres langen Kleides aus Elenfell dienen, dessen haarige Seite nach innen gekehrt ist. Überdies prunken beide Geschlechter mit Fransen aus Glasperlen, welche ausschließlich nach ihrer Größe geschätzt werden. Unter den verschiedenen Stämmen ragen die Tananas hervor, kenntlich an ihren mit schreienden Farben bemalten Gesichtern, den Federn ihres Kopfputzes, ihren mit angereihten roten Thonstückchen verzierten Haarbüscheln, ihren Lederjoppen und Renntierfellhosen, ihren langen Steinschloßflinten und äußerst zierlich geschnitzten Pulverflaschen.

Als Münzen bedienen diese Indianer sich der Dentaliummuscheln, welche man sogar bei den Bewohnern der Vancouverinselgruppe antrifft; sie hängen dieselben an ihren Nasenknorpel und nehmen sie davon herab, wenn sie irgend eine Ware bezahlen wollen.

»Das nenne ich eine ökonomische Börse,« sagte Cornelia; »und die verliert man gewiß nicht!«

»Wenn einem nicht etwa die Nase abfällt!« bemerkte Clou-de-Girofle weise.

»Was während der großen Winterkälte schon geschehen könnte!« versetzte Herr Cascabel.

Mit einem Worte, diese Ansammlung von Eingeborenen bot ein merkwürdiges Schauspiel.

Selbstverständlich sprach Herr Cascabel mit mehreren dieser Indianer, deren Chinoukdialekt er einigermaßen verstand, während Herr Sergius sich in russischer Sprache mit ihnen unterhielt.

Mehrere Tage hindurch war der Verkehr zwischen den Pelzverkäufern und den Vertretern der Gesellschaft ein sehr lebhafter; aber bisher hatten die [125] Cascabels ihre Talente noch nicht in einer öffentlichen Vorstellung nutzbar gemacht.

Trotzdem brachten die Indianer bald in Erfahrung, daß diese Familie französischen Ursprungs sei und daß ihre verschiedenen Mitglieder sich eines bedeutenden Rufes als Athleten und Taschenspieler erfreuten.

Sie kamen jeden Abend in großer Anzahl herbei, um die Belle-Roulotte zu bewundern. Niemals hatten sie einen ähnlichen, so glänzend bemalten Wagen gesehen! Er gefiel ihnen vor allem, weil er so leicht beweglich war – was von besonderem Interesse für Nomaden sein mußte. Und vielleicht wird man sich eines Tages nicht wundern dürfen, von Indianerhütten auf Rädern zu hören. Nach den rollenden Häusern rollende Dörfer!

Unter diesen Umständen ist es selbstverständlich, daß der Gedanke an eine außerordentliche Vorstellung sich den Neuangekommenen aufdrängte. Man beschloß denn auch, daß diese Vorstellung »auf allgemeines Verlangen der Indianer von Fort Youkon« stattfinden solle.

Einer der Indianer, deren Bekanntschaft Herr Cascabel gleich in den ersten Tagen gemacht hatte, war ein »Tyhi«, das heißt der Häuptling eines Stammes. Ein schöner Mann von etwa fünfzig Jahren, schien er sehr intelligent und sogar scharfsinnig. Er hatte die Belle-Roulotte mehrmals besucht und Herrn Cascabel zu verstehen gegeben, wie glücklich die Eingeborenen sich schätzen würden, den Leistungen der Familie anzuwohnen.

Der Tyhi war zumeist von einem Indianer Namens Fir-Fu begleitet, einem seinen anmutigen Manne von dreißig Jahren, dem Zauberer des Stammes. einem vorzüglichen Gaukler, der in der ganzen Provinz Youkon wohl gekannt war.

»Also ein Kollege!« antwortete Herr Cascabel, als der Tyhi ihm denselben zuerst vorstellte.

Und nachdem sie einige im Lande produzierte Liköre zusammen getrunken, hatten alle drei die Friedenspfeife geraucht.

Infolge dieser Gespräche, in deren Lauf der Tyhi sehr lebhaft darauf bestand, daß Herr Cascabel eine Vorstellung geben möge, wurde diese auf den dritten August anberaumt. Man kam überein, daß die Indianer dabei mitwirken sollten, da sie großes Verlangen trugen, ihre Kraft, ihre Geschicklichkeit und Gewandtheit mit der der Europäer zu messen.

Es darf das nicht in Erstaunen setzen; im Far-West wie in der alaskischen Provinz sind die Indianer große Liebhaber gymnastischer und akrobatischer Belustigungen sowohl, als der damit verbundenen Possen und Maskeraden in denen sie erstaunliches leisten.

Als daher am festgesetzten Tage ein zahlreiches Publikum versammelt war, erblickte man eine Gruppe von sechs bis sieben Indianern, deren Gesichter [126] hinter großen hölzernen Masken von unvergleichlicher Scheußlichkeit versteckt waren. Wie bei den »großen Köpfen« in Zauberstücken wurden Mund und Augen dieser Masken durch Bindfäden in Bewegung gesetzt – wodurch diese gräßlichen, meist in Vogelschnäbel ausgehenden Gesichter lebendig schienen. Man stellt sich nicht leicht vor, welche Vollkommenheit in Grimassen sie zu erreichen vermochten. Der Affe John Bull hätte da manches lernen können.

Überflüssig zu erwähnen, daß Herr und Frau Cascabel, Jean, Xander, Napoleone und Clou-de-Girofle bei dieser Gelegenheit ihre Jahrmarktskostüme angelegt hatten.

Der ausersehene Schauplatz war eine weite, von Bäumen umgebene Wiese, deren Hintergrund die Belle-Roulotte wie eine Theaterdekoration einnahm. Im Vordergrunde saßen die Agenten des Fort Youkon mit ihren Frauen und Kindern. Zu beiden Seiten bildeten mehrere Hundert Indianer und Indianerinnen einen Halbkreis und warteten rauchend auf den Beginn der Vorstellung.

Die maskierten Eingeborenen, welche an den Leistungen teilnehmen sollten, hielten sich ein wenig abseits.

Zur bestimmten Zeit erschien Clou auf der Plattform des Gefährtes und hielt seine gewohnte Anrede:

»Meine Herren Indianer und meine Damen Indianerinnen, Sie werden hier sehen, was Sie sehen werden, u. s. w., u. s. w.«

Aber da er sich nicht der Chinouksprache bediente, ist es höchst wahrscheinlich, daß seine phantastischen Tiraden wenig Gefallen bei den Zuschauern erregten.

Was man indessen verstand, das waren die traditionellen Ohrfeigen, die sein Gönner ihm freigebig verabreichte, sowie die bekannten Fußtritte, von denen er die gewohnte Anzahl mit dem Gleichmute eines zu diesem Zwecke engagierten Hanswurstes entgegennahm.

Als dieser Prolog zu Ende war, sagte Herr Cascabel, nachdem er das Publikum begrüßt hatte:

»Jetzt die Tiere!«

Die Hunde Wagram und Marengo wurden auf den vor der Belle-Roulotte reservierten Platz geführt und riefen großes Erstaunen unter den Eingeborenen hervor, welchen diese auf die Bethätigung tierischer Intelligenz gerichteten Leistungen neu waren. Und als nun John Bull herbeikam, um seine Voltigierkünste auf dem Rücken des Pudels und des Wachtelhundes auszuführen, da brachten seine behenden Sprünge und drolligen Stellungen selbst die indianische Ernsthaftigkeit zum Wanken.

Unterdessen blies Xander mit aller Macht das Horn, während Cornelia die Hand- und Clou die große Trommel schlug. Wenn die Alasker daraufhin[127] nicht von dem gewaltigen Effekt erbaut waren, den man mit einem europäischen Orchester erzielen kann, so fehlte es ihnen einfach an Kunstsinn.

Bisher hatte die maskierte Gruppe sich nicht gerührt, da sie den Augenblick zu ihrem Auftreten offenbar noch nicht für gekommen hielt. Sie sparte ihr Können auf.

»Fräulein Napoleone, Seiltänzerin!« schrie Clou durch ein Sprachrohr.

Und von ihrem berühmten Vater geführt, trat das kleine Mädchen vor das Publikum.

Sie tanzte zuerst mit einer Anmut, welche ihr großen Beifall eintrug, der sich indessen nicht durch Rufe oder Händeklatschen, sondern durch einfaches, aber darum ebenso bedeutsames Kopfschütteln kund gab. Desgleichen, als man sie ein zwischen zwei Gerüsten aufgespanntes Seil betreten und darauf mit einer Leichtigkeit gehen, laufen und springen sah, welche besonders von den Indianerinnen bewundert wurde.

»Jetzt bin ich an der Reihe!« rief der junge Xander.

Und da tritt er vor, grüßt, indem er sich auf den Nacken schlägt, wirst sich hin und her, windet, verdreht und verrenkt sich, ergeht sich in Verzerrungen und Purzelbäumen, bis seine Arme zu Beinen und seine Beine zu Armen werden, bald als Eidechse, bald als Frosch, und beendet seine Leistungen mit dem doppelt großen Sprung.

Auch diesmal hatte er den gewohnten Erfolg. Aber kaum hatte er sich vor den Zuschauern bis auf die Erde verneigt, als ein Indianer seines Alters die erwähnte Gruppe verließ, seine Maske abnahm und vor trat.

Und dieser junge Eingeborene führte sämtliche Künste, die Xander soeben gemacht, mit einer Biegsamkeit des Rückgrats und einer Sicherheit der Bewegung aus, welche nichts zu wünschen übrig ließ. Wenn er weniger anmutig als der jüngere Cascabel war, so war er doch nicht weniger erstaunlich. Er erntete denn auch äußerst begeistertes Kopfschütteln seitens der Eingeborenen.

Man kann versichert sein, daß das Personal der Belle-Roulotte den guten Geschmack besaß, in den Beifall des Publikums einzustimmen. Aber da er nicht zurückbleiben wollte, gab Herr Cascabel Jean ein Zeichen, seine Taschenspielerkünste zu beginnen, in welchen er ihn für unerreichbar hielt.

Jean fühlte, daß er die Ehre der Familie aufrecht zu erhalten habe. Durch eine Handbewegung des Herrn Sergius und ein Lächeln Kayettens ermutigt, ergriff er nach der Reihe seine Flaschen, seine Teller, Kugeln, Messer Wurfscheiben und Stäbchen, und man kann sagen, daß er sich selber übertraf.

Herr Cascabel konnte nicht umhin, den Indianern einen befriedigten und gewissermaßen herausfordernden Blick zuzuwerfen. Es war, als wolle er der maskierten Gruppe sagen:


[128]
Auch er hatte seinen Ruf aufrecht zu erhalten.

»Nun, Ihr andern, macht ihm das nach!«

Ohne Zweifel wurde er verstanden, denn auf einen Wink des Tyhi nahm ein zweiter Indianer die Maske ab und trat aus der Gruppe hervor.

Es war der Zauberer Fir-Fu; auch er hatte seinen Ruf zu Ehren der eingeborenen Rasse aufrecht zu erhalten.

Er ergriff die Utensilien, deren Jean sich bedient hatte und wiederholte [129] der Reihe nach die Leistungen seines Rivalen, ließ Messer und Flaschen, Wurfscheiben und Ringe, Kugeln und Stäbchen durcheinander schwirren und das mit einer Eleganz der Haltung und Sicherheit des Griffes, welche derjenigen Jean Cascabels nichts nachgab. Clou, der daran gewöhnt war, nur seinen Gönner und dessen Familie zu bewundern, war ganz verdutzt und »sperrte Mund und Augen auf.«

Herr Cascabel applaudierte nur mehr aus Höflichkeit, mit den Fingerspitzen.

»Potztausend!« murmelte er, »sie sind anstellig, diese Rothäute!... Da sehe man!... Leute ohne Bildung! Nun wir werden ihnen etwas zeigen!«

Im Grunde brachte es ihn stark aus der Fassung, Konkurrenten zu finden, wo er blos auf Bewunderer gerechnet hatte. Und was für Konkurrenten. Einfache Eingeborene von Alaska, sozusagen Wilde! Sein Künstlerstolz litt seltsam darunter. Was Teufel! man ist Gaukler oder man ist es nicht!

»Vorwärts Kinder,« rief er mit Donnerstimme, »die lebendige Pyramide!«

Und alle stürzten wie zu einem Angriffe auf ihn zu. Er hatte sich fest aufgepflanzt, mit gespreizten Beinen, eingebogenen Lenden und aufgeworfener Brust. Jean schwang sich leicht auf seine rechte Schulter und reichte dem auf seine linke Schulter springenden Clou die Hand. Xander stellte sich auf den Kopf seines Vaters und über ihm krönte Napoleone den Bau, indem sie zierlich die Arme bog, um der Menge Kußhändchen zuzusenden.

Die französische Pyramide war kaum vollendet, als sich ihr gegenüber eine zweite, die eingeborene Pyramide erhob. Ohne die Masken abzulegen, türmte der nicht aus fünf, sondern aus sieben Teilen bestehende Bau sich empor und überragte die Familie Cascabel um ein Stockwerk. Pyramide wider Pyramide!

Und diesmal brachen die Indianer zu Ehren ihrer Stämme in Geschrei und Hurrarufe aus. Das alte Europa war durch das junge Amerika besiegt, und welches Amerika!... Das der Co-Youkons, der Tananas und der Tatancsoks!

Beschämt und verwirrt zuckte Herr Cascabel unwillkürlich zusammen und hätte beinahe seine ganze Familie zu Boden geworfen.

»Ah, so geht es einem!« sagte er, als er sich seiner lebenden Bürde entledigt hatte.

»Beruhigen Sie sich, mein Freund!« meinte Herr Sergius. »Es ist nicht der Mühe wert, sich darüber...«

»Nicht der Mühe wert!... Man sieht, daß Sie kein Künstler sind, Herr Sergius!«

Dann wandte er sich zu seiner Frau:


[130]

[131] »Vorwärts, Cornelia; den Ringkampf mit flachen Händen!« rief er. »Wir wollen doch sehen, welcher von diesen Wilden es wagt, sich mit der »Siegerin von Chicago« zu messen!«

Aber Frau Cascabel rührte sich nicht.

»Nun, Cornelia?...«

»Nein, Cäsar.«

»Du willst nicht mit diesen Affen ringen und die Ehre der Familie retten?...«

»Ich werde sie schon retten,« begnügte Cornelia sich zu erwidern. Laß mich gewähren... Ich habe einen Einfall!«

Wenn diese erstaunliche Frau einen Einfall hatte, so war es am besten, sie denselben ohne Widerrede ausführen zu lassen. Sie fühlte sich durch den Erfolg der Indianer ebenso tief gedemütigt, wie ihr Mann, und es stand zu vermuten, daß sie ihnen irgend einen Streich nach ihrer Weise spielen werde.

Cornelia hatte sich in die Belle-Roulotte begeben, während ihr Mann trotz seines Vertrauens zu ihrer Intelligenz und Erfindungsgabe etwas beunruhigt zurückblieb.

Binnen zwei Minuten erschien Frau Cascabel wieder und stellte sich vor der Gruppe der Indianer auf, die alsbald einen Kreis um sie bildeten.

Dann wandte sie sich an den obersten Beamten des Forts und bat ihn, den Eingeborenen das, was sie sagen werde, zu verdolmetschen.

Und nun wurde folgende Rede Wort für Wort in die eigentliche Sprache der alaskischen Provinz übertragen.

»Indianer und Indianerinnen! Ihr habt bei diesen Kraft- und Geschicklichkeitsproben Talente an den Tag gelegt, welche eine Belohnung verdienen, und diese Belohnung biete ich Euch...«

Allgemeines Stillschweigen und rege Aufmerksamkeit der Versammlung.

»Ihr seht meine Hände?« fuhr Cornelia fort. Sie sind mehr als einmal von den erhabensten Persönlichkeiten der alten Welt gedrückt worden! Ihr seht meine Wangen? Sie haben oft die Küsse der mächtigsten Herrscher Europas empfangen! Nun! diese Hände, diese Wangen biete ich Euch dar... Indianer Amerikas, kommt herbei sie zu fassen, sie zu küssen!«

Und meiner Treu! Die Eingeborenen dachten nicht daran, sich lange bitten zu lassen. Würden sie doch schwerlich wieder Gelegenheit haben, die Hände einer so prächtigen Frau zu küssen.

Einer von ihnen, ein schöner Tanana, trat vor und ergriff Cornelias dargebotene Rechte...

Aber welch ein Schrei entfuhr ihm infolge einer Erschütterung, die all seine Glieder durchzuckte!

[132] »Ah, Cornelia!« rief Herr Cascabel. »Cornelia, ich verstehe und ich bewundere dich!«

Unterdessen vergingen Herr Sergius, Jean, Xander, Napoleone und Clou vor Lachen über den köstlichen Streich, welchen diese außerordentliche Frau den Eingeborenen spielte.

»Ein anderer,« sagte sie, die Arme noch immer gegen das Publikum ausgestreckt, »ein anderer!«

Die Indianer zauderten, da sie irgend eine übernatürliche Erscheinung vermuteten.

Indessen entschloß der Tyhi sich zu dem Wagnis; er ging langsam auf Cornelia zu, blieb zwei Schritte vor ihrer imposanten Erscheinung stehen und betrachtete sie mit einer nichts weniger als behaglichen Miene.

»Vorwärts, Alter!« rief Herr Cascabel ihm zu. »Vorwärts, Mut gefaßt!... Umarme die Dame!... Es ist nicht sehr schwer, und ist äußerst angenehm!«

Der Tyhi streckte die Hand aus und begnügte sich damit den Finger der schönen Europäerin zu berühren.

Neue Erschütterung, Geheul des Tyhi, der beinahe auf den Rücken gefallen wäre, und starres Staunen des ganzen Publikums. Wenn es einem bei der bloßen Berührung ihrer Hand so schlimm erging, was würde erst geschehen, wenn man diese wunderbare Frau, deren Wangen die Küsse der mächtigsten Herrscher Europas empfangen hatten, zu umarmen wagte?

Und dennoch fand sich ein Tollkühner, der diese Gefahr laufen wollte. Es war der Zauberer Fir-Fu. Er mußte sich doch wohl gegen jeden Zauber gefeit glauben! So trat er denn vor Cornelia hin. Durch die Zurufe der Eingeborenen aufgemuntert, umkreiste er sie, nahm sie dann plötzlich in seine Arme und drückte einen herzhaften Kuß auf ihre Wange.

Die Folge davon war, daß er sich mehrmals überschlug. Der Gaukler war plötzlich zum Akrobaten geworden. Nach zwei ebenso großen als unabsichtlichen Sprüngen fiel er inmitten seiner bestürzten Genossen zu Boden.

Und um diese Wirkung auf den Zauberer sowohl, als auf die anderen Eingeborenen hervorzubringen, hatte Cornelia nur auf den Knopf einer kleinen galvanischen Säule zu drücken gebraucht, die sie in ihrer Tasche verborgen hatte. Jawohl! eine kleine, tragbare galvanische Säule, welche ihr dazu diente, die »elektrische Frau« vorzustellen!

»Ah, Frau!... Frau!...« rief ihr Gatte, indem er sie vor den Augen der staunenden Indianer ungestraft in seine Arme schloß. »Wie schlau sie ist... wie schlau!«

»Ebenso schlau als elektrisch!« fügte Herr Sergius hinzu.

In der That, was konnten die Eingeborenen anders denken als daß [133] diese übernatürliche Frau nach Belieben über die Kräfte des Himmels verfüge? Brauchte man doch bloß nach ihrer Hand zu greifen, und man war vom Donner gerührt! Es konnte entschieden keine andere als die Gefährtin des großen Geistes sein, welche huldvoll zur Erde herabgestiegen war, um sich in zweiter Ehe mit Herrn Cascabel zu verbinden!

14. Capitel
XIV. Von Fort Youkon nach Port-Clarence.

Am Abend jener denkwürdigen Vorstellung beschloß man in einem Rate, dem die ganze Familie anwohnte, daß die Abreise am folgenden Tage stattfinden solle.

Herr Cascabel stellte die weise Betrachtung an, daß er, wenn er seiner Truppe neue Kräfte zuführen gewollt hätte, offenbar nur die Qual der Wahl unter den Eingeborenen von Alaska gehabt haben würde. Wenn seine Eigenliebe auch darunter litt, so mußte er doch gestehen, daß diese Indianer wunderbares Geschick zu akrobatischen Leistungen hätten. Als Gymnastiker, Athleten Clowns, Equilibristen und Gaukler würden sie in jedem beliebigen Lande große Erfolge erzielt haben. Freilich mochte der Fleiß bedeutenden Anteil an ihrer Befähigung haben; aber die Natur hatte doch noch mehr dazu beigetragen, indem sie sie kräftig, geschmeidig und geschickt schuf. Es wäre ungerecht gewesen, zu leugnen, daß sie sich den Cascabels ebenbürtig gezeigt. Zum Glück hatte die Familie, dank der Geistesgegenwart der »Königin unter den elektrischen Frauen«, das letzte Wort behalten!

Die Beamten des Forts – zumeist sehr unwissende arme Teufel – waren bei den bewußten Vorgängen nicht weniger erstaunt, als die Eingeborenen gewesen. Und so kam man überein, das man ihnen das Geheimnis dieser Naturerscheinung nicht enthüllen werde, um Cornelia ihren vollen Ruhmesglanz zu lassen. Als sie ihr daher am folgenden Morgen wie gewöhnlich ihre Aufwartung machen kamen, wagten sie sich nicht sehr nahe an die blitzbewehrte Dame heran, welche sie mit ihrem bezauberndsten Lächeln empfing. Sie zögerten auch sichtlich, ihre Hand zu berühren. Ebenso der Tyhi und der Zauberer, welche aber gern ein Geheimnis gekannt hätten, aus dem sie Nutzen ziehen gekonnt – das ihr Ansehen bei den Indianerstämmen erhöht haben würde.

[134] Da die Reisevorbereitungen vollendet waren, nahmen Herr Cascabel und die Seinen am Morgen des sechsten August von ihren Wirten Abschied und das gehörig ausgeruhte Gespann schlug die westliche Richtung längs des rechten Flußufers ein.

Herr Sergius und Jean hatten sorgfältig die Karte studiert und sich dabei die speziellen Weisungen zu Nutze gemacht, welche die junge Indianerin ihnen gab. Kayette kannte die meisten Dörfer, die man passieren mußte, und versicherte, daß keinerlei Gewässer die Fahrt der Belle-Roulotte ernstlich behindern werde.

Übrigens war noch nicht die Rede davon, das Youkonthal zu verlassen. Man würde vorerst auf dem rechten Flußufer bis zu dem Posten Neku vordringen und das Dorf Nuclakayette passieren; von Nuclakayette bis ans Fort Noulato würde man dann noch achtzig Meilen zurückzulegen haben. Dort erst würde das Gefährt den Youkon verlassen, um sich direkt nach Westen zu wenden.

Die Jahreszeit war noch immer günstig; die Tage waren warm, wenngleich man nachts ein fühlbares Sinken der Temperatur konstatierte. Somit hatte Herr Cascabel, wenn nicht etwa unvorhergesehene Verzögerungen eintraten, die Gewißheit, Port-Clarence zu erreichen, bevor der Winter ihm unüberwindliche Hindernisse in den Weg legte.

Man wird sich vielleicht wundern, daß eine solche Reise verhältnismäßig so leicht von statten ging. Aber ist das nicht immer der Fall in ebenen Ländern, wenn die schöne Jahreszeit, die Länge des Tages, die Milde des Klimas die Reisenden begünstigt? Jenseits der Beringstraße würde das anders werden, wenn die sibirischen Steppen ringsum mit dem Horizont verschwammen, wenn der Winterschnee sie unabsehbar bedeckte und der Nordsturm darüber hinfegte. Als man eines Abends von den kommenden Gefahren sprach, rief der zuversichtliche Cascabel:

»Ei! wir werden schon damit fertig werden!«

»Ich hoffe es,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich rate Ihnen, sich, sowie Sie die sibirische Küste betreten, nach Südwesten zu wenden, um die südlicheren Gebiete zu gewinnen, wo die Belle-Roulotte weniger von der Kälte zu leiden haben wird.«

»Das ist unsere Absicht, Herr Sergius,« antwortete Jean.

»Und Sie werden um so vernünftiger daran thun, meine Freunde, als die Sibirier nicht zu fürchten sind, wenn man sich nicht etwa... wie Clou sagen würde... unter die Stämme der Nordküste wagt. In der That wird die Kälte Ihr größter Feind sein.«

»Wir sind darauf vorbereitet,« sagte Herr Cascabel, »und wir werden die Reise schon überstehen. Wir hegen nur ein Bedauern, Herr Sergius; nämlich, daß Sie nicht mit uns reisen werden!«

[135] »Ja,« fügte Jean hinzu, »ein tiefes Bedauern!«

Herr Sergius fühlte, wie lieb die Familie ihn gewonnen hatte und wieviel Freundschaft er selber für sie empfand. Je länger ihr vertrauter Umgang währte, desto inniger wurde ihre gegenseitige Zuneigung. Die Trennung würde eine schmerzliche sein; und würden die Zufälligkeiten ihrer so verschiedenen Existenzen sie je wieder zusammenführen? Dann würde Herr Sergius auch Kayette mit sich fort nehmen, und er hatte Jeans Freundschaft für die junge Indianerin schon lange wahrgenommen. Hatte Herr Cascabel dies in dem Herzen seines Sohnes bereits so rege Gefühl bemerkt? Herr Sergius wußte es nicht zu sagen. Was Cornelia betrifft, so glaubte er, da die vortreffliche Frau sich nie über dies Thema geäußert hatte, dieselbe Zurückhaltung beobachten zu sollen. Wozu hätte auch eine Auseinandersetzung gedient? Es war eine andere Zukunft, welche der Adoptivtochter des Herrn Sergius harrte, und der arme Jean gab sich unerfüllbaren Hoffnungen hin.

Schließlich ging die Reise ohne große Hindernisse oder Anstrengungen von statten. Port-Clarence würde erreicht sein, bevor der Winter die Beringstraße passierbar machte, und man würde dort eine gewisse Zeit zubringen müssen. Folglich war keine Notwendigkeit vorhanden, Menschen und Tiere übermäßig anzustrengen.

Indessen mußte man doch immer auf einen möglichen Zwischenfall gefaßt sein. Ein verletztes oder krankes Pferd, ein gebrochenes Rad konnte die Belle-Roulotte ernstlich in Verlegenheit bringen. Aus diesen Gründen mußte man die strengste Vorsicht beobachten.

Während der ersten drei Tage zog die Reiseroute sich an dem gen Westen fließenden Strome hin; als der Youkon aber nach Süden abzubiegen begann, schien es ratsam, die Richtung des fünfundsechzigsten Breitegrades 1 einzuhalten

An dieser Stelle war der Fluß sehr geschlängelt und das Thal verengte sich merklich zwischen mittelhohen Hügelreihen, welchen die Karte auf Grund ihrer basteiähnlichen Formation den Namen »Wälle« beilegt.

Es war mit einigen Schwierigkeiten verbunden, aus diesem Labyrinth hinauszugelangen, und man traf alle möglichen Vorsichtsmaßregeln, um dem Gefährte einen Unfall zu ersparen. In den steileren Pässen lud man es zum Teile ab; man schob an den Rädern, »und das mit um so mehr Grund,« bemerkte Herr Cascabel, »als die Wagner in dieser Gegend sehr selten zu sein scheinen!«

Man hatte auch einige Creeks zu passieren, unter anderen den Nocolocarguot, den Shetchaut, den Klakencot. Zum Glück waren dieselben in dieser Jahreszeit nicht sehr tief, und so fiel es nicht schwer, erträgliche Furten zu entdecken.

[136] Was die Indianer betrifft, so gab es deren wenige, oder keine in diesem Teile der Provinz, der ehemals von zahlreichen, zu den »Leuten der Mitte« gehörigen und jetzt beinahe gänzlich ausgestorbenen Stämmen durchstreift wurde. Von Zeit zu Zeit kam eine Familie vorüber, welche dem südwestlichen Küstengebiete zustrebte, um sich dort während des Herbstes mit Fischerei zu befassen.

[137] Manchmal begegnete man auch einigen Händlern, die von der Mündung des Youkon kamen und die verschiedenen Posten der russisch-amerikanischen Gesellschaft zum Reiseziel hatten. Sie betrachteten sehr erstaunt den bunt bemalten Wagen und dessen Insassen. Und nachdem man einander glückliche Reise gewünscht, setzten sie ihren Weg gen Osten fort.


Herr Sergius und Jean unterließen nicht die Jagd. (Seite 138.)

Am dreizehnten August langte die Belle-Roulotte vor dem hundertzwanzig Meilen vom Fort Youkon entfernten Dorfe Nuclakayette an. Es ist dies eigentlich bloß eine Faktorei, in welcher der Pelzhandel betrieben wird und über welche die moskowitischen Beamten selten hinausgehen. Von den verschiedenen Punkten Russisch-Asiens und der alaskischen Küste kommend, treffen sie hier zusammen, um den Käufern der Hudsonbai-Gesellschaft Konkurrenz zu machen.

So ist Nuclakayette denn ein Sammelpunkt, wohin die Eingeborenen das Pelzwerk bringen, das sie während der Winterzeit eingeheimst haben.

Nachdem er sich von dem Flusse entfernt hatte, um den zahlreichen Windungen desselben zu entgehen, näherte Herr Cascabel sich ihm wiederum bei diesem Dorfe, welches sehr angenehm inmitten kleiner Hügel und freundlicher Bäume lag. Einige Holzhütten gruppierten sich um die Palissade, die das Fort schützte. Bäche rieselten durch die grasige Ebene. Zwei bis drei kleine Fahrzeuge schaukelten am Ufer des Youkon. Das Ganze bot einen gefälligen Anblick und lud zur Ruhe ein. Was die in der Umgegend lebenden Indianer betrifft, so waren dieselben Tananas, die, wie gesagt, dem schönsten Eingeborenen-Typus von Nord-Alaska angehören.

So anziehend der Ort auch war, so verweilte die Belle-Roulotte doch nur vierundzwanzig Stunden darin. Man fand das genug für die sowieso sehr geschonten Pferde. Herr Cascabel beabsichtigte, sich länger in Noulato aufzuhalten, einem ziemlich bedeutenden und besser mit Vorräten versehenen Fort, wo man einige Einkäufe im Hinblick auf die Reise durch Sibirien machen würde.

Überflüssig, zu erwähnen, daß Herr Sergius und Jean, manchmal in Begleitung des jungen Xander, unterwegs der Jagd oblagen. Das Wild bestand noch immer aus Elen- und Renntieren, welche sich in den Ebenen umhertrieben und ihre Lager in den Wäldern, oder vielmehr unter den hier ziemlich spärlichen Baumgruppen hatten. In den sumpfigen Gegenden boten auch Wildgänse, Enten und Wasserschnepfen Anlaß zu hübschen Schüssen, und die Jäger vermochten sogar einige jener Reiher zu erlegen, welche im allgemeinen keine sehr geschätzte Speise bilden.

Und doch versicherte Kayette, daß der Reiher von den Indianern sehr gern gegessen werde – besonders wenn sie nichts anderes zu beißen hätten. Am dreizehnten August machte man beim Frühstück einen Versuch damit.

[138] Aber trotz Cornelias ganzem Talente – und man weiß, wie wunderbar sie sich aufs Kochen verstand – fand man das Fleisch hart und zäh. Es mundete nur Wagram und Marengo, welche sich bis auf den letzten Knochen daran gütlich thaten.

Allerdings begnügen die Eingeborenen sich in Zeiten der Hungersnot auch mit Eulen, Falken und sogar mit Mardern; aber doch nur, weil sie dazu gezwungen sind.

Am vierzehnten August mußte die Belle-Roulotte sich durch die Krümmungen einer engeren Schlucht zwischen sehr abschüssigen Hügeln hindurchwinden. Dieser Paß war so steil, so holprig, dem Bette eines Sturzbaches so ähnlich, daß sich trotz aller angewandten Vorsicht ein Unfall ereignete. Zum Glücke brach nicht ein Rad, sondern nur eine der Deichselstangen. Die Reparatur nahm denn auch nicht viel Zeit in Anspruch; einige Stricke genügten, die Sache wieder in stand zu setzen.

Als man das Dorf Suquongilla auf der einen, und das am gleichnamigen Creek erbaute Dorf Newleargout auf der anderen Seite des Flusses hinter sich gelassen hatte, bot der Weg keine Schwierigkeiten mehr. Die Hügel waren zu Ende. Eine unabsehbare Ebene breitete sich vor den Reisenden aus. Die in dieser regenarmen Jahreszeit ausgetrockneten Bette von drei bis vier Rios durchfurchten sie. Zur Zeit der Winterstürme und Schneewehen wäre es nicht möglich gewesen, in dieser Richtung vorzudringen.

Indem sie einen der erwähnten Creeks, den Milocargout, überschritten, in welchem sich kaum fußhoches Wasser befand, bemerkte Herr Cascabel, daß derselbe von einem Dammwege durchschnitten sei.

»Ei!« meinte er, »wenn man einen Dammweg durch diesen Creek bauen konnte, so hätte man ebenso gut eine Brücke aufführen können. Das wäre bei Hochwasser nützlicher gewesen...«

»Ohne Zweifel, Vater,« antwortete Jean. »Aber die Ingenieure, welche diesen Weg bauten, wären nicht im stande gewesen, eine Brücke herzustellen...«

»Weshalb nicht?«

»Weil es vierfüßige Ingenieure, nämlich Biber waren.«

Jean täuschte sich nicht; man hatte allen Grund, die Arbeit dieser fleißigen Tiere zu bewundern, welche beim Bau ihrer Deiche sorgfältig der Strömung Rechnung tragen und auch deren Höhe dem gewöhnlichen Wasserstande der Creeks anzupassen wissen; ist doch sogar die Abdachung ihrer Deiche auf den wirksamsten Widerstand gegen den Anprall der Flut berechnet.

»Und doch,« rief Xander, »sind diese Biber nicht zur Schule gegangen, um zu lernen...«

»Sie bedurften keiner Schule,« antwortete Herr Sergius. »Wozu die Wissenschaft, die manchmal irre geht, wenn man einen untrüglichen Instinkt [139] besitzt? Diesen Deich, mein Junge, haben die Biber aufgeführt wie die Ameisen ihre Haufen bauen, wie die Spinnen ihre Netze weben, wie die Bienen ihre Zellen anlegen, endlich wie die Bäume und Sträucher Blüten und Früchte hervorbringen. Sie kennen kein unsicheres Herumtappen, aber auch keinen Fortschritt. Übrigens läßt diese Art Arbeit auch keinen solchen zu. Der Biber von heutzutage baut ebenso vollkommen wie der erste Biber, der je auf dem Erdboden erschienen ist. Die Vervollkommnungsfähigkeit ist nicht Sache der Tiere; sie ist dem Menschen eigen; er allein kann auf dem Gebiete der Künste, der Wissenschaften und der Industrie von Fortschritt zu Fortschritt steigen. So können wir denn den merkwürdigen Instinkt der Tiere, welcher denselben die Schaffung solcher Werke gestattet, rückhaltlos bewundern; aber wir dürfen dieselben nur als Werke der Natur betrachten.«

»So ist's, Herr Sergius,« sagte Jean; »ich verstehe Ihre Bemerkung wohl. Darin liegt der Unterschied zwischen Instinkt und Vernunft. Im ganzen genommen, ist die Vernunft über den Instinkt erhaben, wenngleich sie Täuschungen unterworfen ist...«

»Unstreitig, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »und diese Täuschungen, der Reihe nach erkannt und berichtigt, sind nur so viele Mittel zum Fortschritt.«

»Jedenfalls,« versetzte Xander, »bleibe ich bei dem, was ich gesagt habe! Die Tiere brauchen nicht zur Schule zu gehen...«

»Zugegeben; aber die Menschen sind auch nur Tiere, wenn sie nicht zur Schule gegangen sind,« antwortete Herr Sergius.

»Nun!... Nun!« sagte die stets praktische Cornelia. »Sind diese Biber eßbar?«

»Gewiß,« antwortete Kayette.

»Ich habe sogar gelesen,« fügte Jean hinzu, »daß der Schwanz jener Tiere vortrefflich ist.«

Man vermochte die Wahrheit dieser Behauptung nicht festzustellen; denn entweder gab es keine Biber in dem Creek, oder dieselben waren nicht zu fangen.

Nachdem sie das Bett des Milocargout verlassen hatte, passierte die Belle-Roulotte das mitten im Lande der Co-Youkon-Indianer gelegene Dorf Sacherteloutain. Kayette riet hier zu einiger Vorsicht im Verkehre mit den Eingeborenen, von wegen ihres starken Hanges zum Stehlen. Da sie etwas dicht an das Gefährt herankamen, wachte man darüber, daß sie nicht etwa ins Innere desselben drängen. Übrigens erzielten hübsche Glaswaren, mit welchen man die Hauptanführer des Stammes freigebig beschenkte, eine heilsame Wirkung, und so zog man sich ohne Unannehmlichkeit aus der Sache.

[140] Weiterhin wurde die Reise längs des schmalen Randes der neu auftauchenden Bergwälle durch mancherlei Schwierigkeiten kompliziert, denen man nicht entgehen konnte, ohne sich in eine noch gebirgigere Gegend zu wagen.

Die Schnelligkeit des Marsches litt darunter, und es war doch ratsam, sich nicht zu lange aufzuhalten. Die Temperatur begann, wenn nicht während [141] des Tages, so doch während der Nacht frischer zu werden – was derzeit normal war, da die Gegend nur wenige Grade vom Polarkreise entfernt lag.


Es gab Gelegenheit, die Arbeit dieser geschickten Tiere zu bewundern. (Seite 139.)

Die Familie Cascabel war an einen Punkt gelangt, wo der Fluß sich jählings nach Norden wendet. Man mußte seinem Laufe bis an die Mündung des Co-Youkon folgen, der ihm seine Wasser in zwei geschlängelten Armen zuführt. Es bedurfte fast eines ganzen Tages, um eine passierbare Furt zu finden, die Kayette infolge des bereits höheren Wasserstandes nicht ohne Mühe erkannte.

Als dieser Nebenfluß überschritten war, schlug die Belle-Roulotte wieder eine südliche Richtung ein und zog durch eine ziemlich unebene Gegend nach dem Fort Noulato.

Dieser Posten, dessen kommerzielle Wichtigkeit eine große ist, gehört der russisch-amerikanischen Gesellschaft. Es ist die nördlichste Faktorei, die in Westamerika errichtet worden, da sie den Beobachtungen Frederic Whimpers gemäß unter 64°42' nördlicher Breite und 155° 36' westlicher Länge liegt.

In diesem Teile der alaskischen Provinz fiel es schwer, sich unter einem so hohen Breitegrade zu glauben. Der Boden ist dort unstreitig fruchtbarer als in der Umgebung des Fort Youkon. Überall schön gewachsene Bäume, überall Prairien mit üppigem Grase, gar nicht zu reden von den weiten Ebenen, welche die Kultivierung lohnen würden, da eine dicke Humusschicht den lehmigen Boden bedeckt. Überdies ist die Gegend, dank dem nach Südwesten fließenden Noulato und jenem Netze von Creeks oder Cargouts, das sich gegen Nordosten hinzieht, sehr wasserreich. Aber trotzdem ist die vegetabilische Produktion auf einige Sträucher mit wilden Beeren beschränkt, welche den Launen der Natur anheimgegeben sind.

Das Fort Noulato selber ist folgendermaßen angelegt: die Baulichkeiten umgiebt eine von zwei Türmen geschützte Palissade, welche die Indianer während der Nacht, und selbst am Tage, falls sie in größerer Anzahl erscheinen, nicht passieren dürfen; die Hütten, Schuppen und Warenlager im Innern des Forts sind aus Holz, statt Fensterscheiben dienen Seehundsblasen. Wie man sieht, giebt es kaum etwas Primitiveres, als diese Posten im äußersten Nordamerika.

Herr Cascabel und die Seinen wurden hier sehr herzlich aufgenommen. Ist doch die Ankunft von Gästen in diesen weltverlorenen Winkeln des neuen Festlandes, fern von jedem regelmäßigen Verkehr nicht nur eine Zerstreuung, sondern eine wahre Freude, und sind sie doch mit ihren von so weither gebrachten Neuigkeiten stets willkommen!

Das Fort Noulato war von cirka zwanzig Beamten russischen und amerikanischen Ursprungs bewohnt, welche sich der Familie zur Verfügung stellten, um sie mit allem Notwendigen zu versehen. Durch die Sorgfalt der [142] Gesellschaft regelmäßig verproviantiert, finden diese Beamten während der schönen Jahreszeit noch andere Hilfsquellen, teils in der Jagd auf Renn-und Elentiere, teils im Fischfang in den Wassern des Youkon. Letzterer ist reich an gewissen Fischen, dem »Nalima« insbesondere, der meist nur zur Ernährung der Hunde dient, dessen Leber aber auch von Leuten, die sie öfter essen, geschätzt wird.


Ankunft vor dem Fort Noulato. (Seite 142.)

Selbstverständlich erstaunten die Bewohner von Noulato ein wenig, als sie die Belle-Roulotte ankommen sahen, und noch mehr, als Herr Cascabel sie mit seinem Plane bekannt machte, über Sibirien nach Europa zurückzukehren. Wahrlich, man mußte Franzose sein, um soviel Zuversicht zu hegen! Was den ersten [143] Teil der Reise betraf, der mit Port-Clarence abschließen sollte, so versicherten sie, daß er ohne Hindernisse ausgeführt werden würde, und zwar bevor die ersten Fröste über die Ebenen von Alaska hereinbrechen würden.

Auf den Rat des Herrn Sergius hin beschloß man, einige der zur Reise durch die Steppen nötigen Gegenstände anzukaufen. Vor allem mußte man mehrere jener Brillen anschaffen, welche beim Passieren weiter Schneeflächen unerläßlich sind. Die Indianer verstanden sich dazu, ein Dutzend solcher Brillen gegen einige Glaswaren einzutauschen. Diese Brillen waren ganz aus Holz und bedeckten das Auge vollständig, während der Blick nur durch eine enge Ritze drang. Das genügte, um sich ohne allzu große Mühe zurechtzufinden, und man entging dadurch den Augenentzündungen, welche der grelle Widerschein des Schnees unfehlbar hervorrufen würde. Das ganze Personal probierte dies Schutzmittel und konstatierte, daß es sich leicht daran gewöhnen werde.

Nachdem so für die Augen gesorgt war, mußte man an die Fußbekleidung denken; denn man geht nicht in dünnen Stiefeletten oder Schuhen durch die den sibirischen Unwettern ausgesetzten Steppen spazieren.

Das Warenlager von Noulato lieferte mehrere Paare hohe Stiefeln von Seehundsfell, welche sich am besten zu langen Reisen auf gefrorener Erde eignen und mittelst Bestreichens mit Fett wasserdicht gemacht werden.

Herr Cascabel sah sich hierdurch bewogen, mit großem Nachdruck folgende sehr richtige Bemerkung zu machen:

»Es gereicht immer zum Vorteil, sich so zu kleiden, wie die Tiere des Landes, in dem man gerade weilt, gekleidet sind. Da nun Sibirien das Land der Seehunde ist... so kleiden wir uns als Seehunde...«

»Als bebrillte Seehunde!« antwortete Xander, dessen Einwurf die väterliche Billigung erlangte.

Die Familie blieb zwei Tage im Fort Noulato, zwei Tage der Ruhe, welche ihrem mutigen Gespann genügten. Sie hatten Eile, nach Port-Clarence zu kommen. Früh am einundzwanzigsten August setzte die Belle-Roulotte ihre Fahrt fort, indem sie hier das rechte Ufer des großen Stromes endgültig verließ.

Der Youkon macht nämlich an dieser Stelle eine bedeutende Schwenkung nach Südwesten, um sich schließlich in den Norton-Sund zu ergießen. Indem man seinem Laufe folgte, hätte man die Reise nutzlos verlängert, da seine [144] Mündung sich unterhalb der Beringstraße befindet. Von dort hätte man gegen Port-Clarence hinausfahren müssen, über ein von Fjorden, Buchten und Kanälen durchschnittenes Küstengebiet, wo Gladiator und Vermout sich unnütz übermüdet hätten.

Die Kälte machte sich bereits recht fühlbar. Wenn auch die sehr schrägen Strahlen der Sonne noch helles Licht verbreiteten, so gaben sie doch wenig Wärme mehr. Dichte, graue Wolkenmassen drohten, sich in Schnee aufzulösen. Das kleinere Wild wurde selten und die Zugvögel begannen vor dem Winter südwärts zu flüchten.

Bis zu diesem Tage hatten Herr Cascabel und die Seinigen nicht allzu sehr unter den Anstrengungen der Reise gelitten – ein Ergebnis, zu dem man sich aufrichtig gratulieren konnte! In der That mußten sie mit einer eisernen Gesundheit ausgestattet sein – was offenbar ihrem Wanderleben, ihrer Abhärtung gegen jedwedes Klima, ihrer durch körperliche Übung gestählten Konstitution zuzuschreiben war. Demzufolge war die Hoffnung gerechtfertigt, daß sie alle heil und gesund in Port-Clarence eintreffen würden.

Und so geschah es denn auch unterm Datum des fünften September, nachdem sie fünfhundert Meilen von Sitka und gegen elfhundert Meilen von Sakramento aus – also cirka sechzehnhundert Meilen durch Westamerika im Laufe von sieben Monaten zurückgelegt hatten.

Fußnoten

1 Die Breite von Droutheim in Norwegen.

15. Capitel
XV. Port-Clarence.

Port-Clarence ist der am weitesten gegen Nordwesten vorgerückte Hafen, welchen Nordamerika an der Beringstraße besitzt. Südlich vom Prince-of-Wales-Kap gelegen, nimmt es eben den Teil des Ufergebietes ein, welcher die Nase des durch die alaskische Küste dargestellten Profils bildet. Der Hafen bietet vorzüglichen Ankergrund und ist daher von den Seefahrern und besonders von den Walfischfängern, deren Schiffe ihr Glück im Polarmeere suchen, hoch geschätzt.

Die »Belle-Roulotte« hatte an dem steilen Ufer des inneren Hafens, nächst der Mündung eines kleinen Flusses, im Schutze hoher, von mageren Birken gekrönter Felsen Posto gefaßt. Dort sollte der längste Aufenthalt der ganzen Reise genommen werden. Dort sollte die Rast der kleinen Truppe sich in die Länge ziehen, – eine erzwungene Rast, bedingt durch den Zustand der Meerenge, welche um diese Jahreszeit noch nicht zugefroren war.

[145] Überflüssig, zu erwähnen, daß der Wagen nicht auf einem jener kleinen Fahrzeuge hinübergeschafft werden konnte, welche in Port-Clarence den Seedienst versehen und eigentlich nur Fischerkähne von sehr geringem Tonnengehalte sind. Man mußte bei dem Plane bleiben, erst dann nach der asiatischen Küste aufzubrechen, wenn das Meer in ein ungeheures Eisfeld verwandelt sein würde.

Die Rast war nicht unwillkommen, bevor man den zweiten Teil der Reise antrat, wo man ernsten physischen Schwierigkeiten, dem Kanipse gegen Kälte und Schneestürme, ausgesetzt sein würde, – wenigstens so lange, bis die Belle-Roulotte die wirtlicheren Gebiete Südsibiriens erreichte. Bis dahin würde man einige sehr schwere Wochen, vielleicht Monate, durchzumachen haben, und man konnte sich nur dazu Glück wünschen, daß man Zeit behielt, die Vorbereitungen zu einer so mühseligen Fahrt zu vollenden. Denn wenn man auch gewisse Gegenstände bei den Indianern des Fort Noulato anzukaufen vermocht hatte, so fehlten doch andere noch, welche Herr Cascabel entweder bei den Kaufleuten oder bei den Eingeborenen in Port-Clarence zu finden hoffte.

Demzufolge empfand sein Personal große Befriedigung, als er sein gewohntes:


»Halt!... Beim Fuß!... Ruht!«


erschallen ließ.

Und diesem, bei militärischen Märschen oder Manövern immer günstig aufgenommenen Kommando folgte sofort ein zweites, welches der junge Xander mit lauter Stimme erteilte:

»Auseinander!«


Man kann sich denken, wie schnell der Befehl ausgeführt wurde.

Selbstverständlich konnte die Ankunft der Belle-Roulotte in Port-Clarence nicht unbemerkt bleiben. Noch niemals hatte ein ähnliches Fuhrwerk sich soweit – bis an die äußerste Grenze Nordamerikas – vorgewagt. Zum erstenmal erschienen französische Gaukler vor den verwunderten Blicken der Eingeborenen.

Eben zu jener Zeit befand sich außer der gewöhnlichen, aus Eskimos und Kaufleuten bestehenden Bevölkerung, eine gewisse Anzahl russischer Beamten in Port-Clarence. Es waren diejenigen, welche nach der Annektierung Alaskas durch die Vereinigten Staaten den Befehl erhalten hatten, sich über die Meerenge zurück entweder auf die Tschuktschen-Halbinsel an der asiatischen Küste, oder aber nach Petropawlowsk, der Hauptstadt von Kamtschatka, zu begeben. Diese Beamten schlossen sich der ganzen Bevölkerung an, um der Familie Cascabel einen guten Empfang zu bereiten; und man muß gestehen, daß die Aufnahme insbesondere seitens der Eskimos eine sehr herzliche war.

[146] Es waren dies dieselben Eskimos, welchen der berühmte Seefahrer Nordenskjöld zwölf Jahre später, zur Zeit seiner kühnen Entdeckung der nordöstlichen Durchfahrt, in diesen Landstrichen begegnen sollte. Damals waren einige dieser Eingeborenen bereits mit Revolvern und Schnellfeuergewehren, den ersten Gaben der amerikanischen Civilisation, bewaffnet.

Da die Sommersaison kaum beendet war, hatten die Einwohner von Port-Clarence ihre Winterwohnungen noch nicht bezogen. Sie hausten in kleinen Zelten, die aus dickem, buntem Baumwollenzeuge elegant hergestellt und durch Kräutergeslechte gefestigt waren. Im Innern derselben fand sich mancherlei Küchengeräte aus Kokosnüssen vor.

Als Clou-de-Girofle dies Geräte zum erstenmal erblickte rief er:

»Sieh da! in den Wäldern des Eskimolandes wachsen Kokospalmen!«

»Wenn...« antwortete ihm Herr Sergius, »diese Nüsse nicht etwa durch die Walfischfänger, die Port-Clarence anlaufen, von den Inseln des Stillen Oceans herübergebracht und hier gegen andere Waren ausgetauscht worden sind.«

Und Herr Sergius hatte recht. Überhaupt war der Verkehr zwischen Amerikanern und Eingeborenen zu dieser Zeit bereits ein sehr reger. Es vollzog sich eine Fusion zwischen ihnen, welche der Entwicklung der Eskimorasse zum großen Vorteil gereichen sollte.

Mit Bezug auf letztere ist zu bemerken und wird späterhin ersichtlich sein, daß keine Ähnlichkeit in Typus oder Sitten zwischen den Eskimos amerikanischen Ursprungs und den Eingeborenen Sibiriens besteht. Die alaskischen Stämme verstehen nicht einmal die Sprache, welche westlich von der Beringstraße gesprochen wird. Da ihr Idiom indessen stark mit englischen und russischen Wörtern versetzt ist, fiel es nicht allzu schwer, sich mit ihnen zu unterhalten.

So kam es denn, daß die Familie Cascabel schon in den ersten Tagen nach ihrer Ankunft mit den um Port-Clarence verstreut lebenden Eingeborenen in Verbindung zu treten suchte. Und als sie in den Zelten dieser wackeren Leute gastfreundlich aufgenommen wurde, zögerte sie nicht, ihnen die Pforten der Belle-Roulotte zu öffnen – was sie nicht zu bereuen hatte.

Diese Eskimos sind übrigens auch viel civilisierter, als man im allgemeinen annimmt. Auf Grund der Kleidung, welche sie besonders während der kalten Jahreszeit tragen, stellt man sie sich als eine Art redender Seehunde, als Amphibien mit Menschengesichtern vor. Aber da irrt man sehr; und in Port-Clarence sind Repräsentanten der Eskimorasse weder abstoßend in ihrer Erscheinung, noch unangenehm im Umgang. Einige von ihnen treiben ihre Achtung vor der Mode sogar soweit, sich beinahe europäisch zu kleiden. Die meisten gehorchen einer gewissen Koketterie, welche den Anzug aus Renntier- [147] oder Seehundsfell, den »Pask« aus Murmeltierpelz, die Tätowierung des Gesichts, das heißt einige leichte, Farbenzeichnungen auf dem Kinn, zuläßt. Die Männer haben kurze oder gar keine Bärte; in den Mundwinkeln gestatteten ihnen drei kunstvoll gestochene Löcher, kleine Ringe aus geschnitztem Bein zu tragen; der Nasenknorpel erhält ebenfalls einige Zieraten dieser Art.

Kurz, die Eingeborenen, welche der Familie Cascabel ihre Aufwartung zu machen kamen, hatten kein widerliches Aussehen – wie es bei den Samojeden oder anderen Bewohnern des asiatischen Küstengebiets nur zu oft der Fall ist. Die jungen Mädchen trugen Perlenschnüre in den Ohren und recht sein gearbeitete Armbänder von Eisen oder Kupfer an den Armen.

Auch waren es ehrliche Leute, rechtlich in ihrem geschäftlichen Verkehr, wenngleich sie übermäßig zu feilschen und zu betteln pflegten. Aber schließlich würde man zu streng verfahren, wenn man den Bewohnern der Polarregion diesen Fehler zum Vorwurf machen wollte.

Die vollkommenste Gleichheit herrscht unter ihnen. Sie haben nicht einmal Stammesoberhäupter. Was ihre Religion betrifft, so ist sie eine heidnische. Als Gottheiten beten sie geschnitzte, rot angestrichene Pfosten an, welche verschiedenartige Vögel mit weit ausgebreiteten Flügeln vorstellen. Sie haben reine Sitten, sehr entwickeltes Familiengefühl, Achtung vor den Eltern, Liebe zu den Kindern, Ehrfurcht vor den Toten, deren der Luft ausgesetzte Leichen in Festgewänder gehüllt sind und Waffen und Kähne bei sich haben.

Die Cascabels fanden diese täglichen Spaziergänge in der Umgebung von Port-Clarence sehr anziehend. Öfters besuchten sie auch eine alte, seinerzeit von Amerikanern gegründete Ölmühle, die damals noch in Betrieb war.

Das Land ist nicht arm an Bäumen und Pflanzen und bietet daher einen ganz andern Anblick, als die Tschuktschen-Halbinsel jenseits der Meerenge. Das rührt daher, daß eine aus den heißen Strichen des Stillen Oceans kommende warme Strömung längs der Küste von einer, dem nördlichen Polarmeere entstammenden, kalten Strömung bespült wird.

Selbstverständlich hegte Herr Cascabel nicht die Absicht, den Einwohnern von Port-Clarence Vorstellung zu geben. Er traute der Sache nicht, und das mit Grund. Man bedenke: Wenn sich unter ihnen ebenso bedeutende Akrobaten, Gaukler, Clowns, wie unter den Indianern vom Fort Youkon befunden hätten!

Es war besser, den Ruf der Familie nicht ein zweites Mal auf's Spiel zu setzen.

Inzwischen vergingen die Tage, und es wurden deren wirklich mehr, als die kleine Truppe zum Ausruhen benötigte. In der That wären alle nach einwöchentlichem Aufenthalte in Port-Clarence imstande gewesen, den Anstrengungen einer Reise auf sibirischem Boden zu trotzen.


Die Familie Cascabel wollte sich mit den Eingeborenen in Verbindung setzen. (Seite 147.)

Aber die Meerenge war noch immer unwegsam für die Belle-Roulotte. Wenn die Temperatur zu Ende [148] September und in diesen Breiten auch bereits unter Null gesunken war, so fror der Meerarm, welcher Asien von Amerika trennt, doch noch nicht zu. Zahllose Eisschollen trieben vorüber, welche sich an den Grenzen des Beringmeeres gebildet hatten und von der aus dem Stillen Ocean kommenden Strömung an der alaskischen Küste hin nach Norden [149] getragen wurden. Aber man mußte warten, bis diese Schollen, gefestigt und aneinander gefroren, ein einziges ungeheures, unbeweglich und fahrbar zwischen beiden Kontinenten eingekeiltes Eisfeld ausmachten.

Es war offenbar, daß die Belle-Roulotte und ihr Personal auf dieser Eisfläche, die widerstandsfähig genug wäre, um den Übergang eines Artillerie-Trains auszuhalten, keinerlei Gefahr laufen würde. Überdies betrug die Entfernung am schmalsten Punkte der Meerenge zwischen dem ein wenig oberhalb von Port-Clarence befindlichen Prince-of-Wales-Kap und dem an der sibirischen Küste gelegenen kleinen Hafen von Numana höchstens zwanzig Meilen.

»Teufel!« sagte Herr Cascabel eines Tages, »es ist wirklich ärgerlich, daß die Amerikaner keine Brücke gebaut haben!«

»Eine Brücke von zwanzig Meilen!« rief Xander.

»Warum nicht?« meinte Jean. »Die kleine Insel Diomedes inmitten der Meerenge könnte ihr als Stützpunkt dienen...«

»Es wäre nicht unmöglich,« bemerkte Herr Sergius, »und wir dürfen immerhin glauben, daß es eines Tages dazu kommen wird, wie zu allem, was von der Intelligenz der Menschen abhängt.«

»Man denkt ja doch daran, eine Brücke über den Pas-de-Calais zu bauen,« sagte Jean.

»Allerdings, mein Freund,« antwortete Herr Sergius. »Aber wir müssen doch zugeben, daß die Brücke über die Beringstraße weniger nützlich als die Brücke von Calais nach Dover sein würde. Sie würde sich entschieden nicht bezahlt machen!«

»Wenn sie den Reisenden im allgemeinen wenig Nutzen brächte,« versetzte Cornelia, »so wäre sie doch wenigstens für uns sehr bequem...«

»Das sollt' ich meinen!« erwiderte Herr Cascabel. »Aber während zwei Dritteilen des Jahres existiert unsere Brücke ja, eine Eisbrücke, die ebenso solid, wie irgend eine beliebige Brücke von Stein oder Eisen ist. Nach ihrem Zusammensturze baut Frau Natur sie alljährlich von neuem auf; und sie verlangt keinen Brückenzoll!«

Mit seiner Gewohnheit, die Dinge von der guten Seite zu betrachten, sprach Herr Cascabel die Wahrheit. Wozu eine Brücke, die Millionen kosten würde, wenn man nur den günstigen Augenblick abzuwarten brauchte, um zu Fuß wie zu Wagen sicher hinüberzukommen.

Es konnte ja nicht mehr lange anstehen. Man mußte nur ein wenig Geduld haben.

Zu Anfang Oktober war der Winter in diesen hohen Breiten endgiltig eingezogen. Es schneite häufig. Jede Spur von Vegetation war verschwunden. Die wenigen Bäume des Küstengebietes verloren ihre letzten Blätter und bedeckten sich mit Reis. Man sah nichts mehr von den verkümmerten der Polargegenden, [150] deren Gattungen so nahe verwandt mit denen Skandinaviens sind, und auch keine jener Linaria 1, welche fast ausschließlich den Kräuterschatz der Polarflora bilden. Und wenn die Eisschollen auch, von der schnellen Strömung getragen, noch immer durch die Meerenge trieben, so nahmen sie doch an Größe und Dicke zu. Wie es nur einer kurzen Erhitzung bedarf, um Metalle anzuschweißen, so würde es auch hier nur einer kurzen Erkaltung bedürfen, um die Eisstücke zu verbinden. Es konnte jeden Tag dazu kommen.

Aber wenn die Familie Cascabel auch Eile hatte Port-Clarence zu verlassen, und wenn es ihr auch große Freude machen würde, endlich das alte Festland zu betreten, so hatte diese Freude trotz alledem eine Beimischung von Trauer. Handelte es sich doch um die Trennungsstunde. Gewiß würde man Alaska verlassen; aber Herr Sergius würde dort zurückbleiben, da er nicht weiter nach Westen vorzudringen gedachte. Sobald der Winter vorüber war, würde er seine Ausflüge in jenem Teil von Amerika, dessen Erforschungen er zu vollenden wünschte, wieder aufnehmen, indem er die nördlich vom Youkon und jenseits der Berge gelegenen Gebiete besuchte.

Eine grausame Trennung für die einen, wie für die andern, denn sie waren alle nicht allein durch gegenseitige Sympathie, sondern auch durch eine innige Freundschaft verbunden.

Man wird unschwer erraten, daß Jean am allerbetrübtesten war. Konnte er doch nicht vergessen, daß Herr Sergius Kayette mit sich fortnehmen werde! Aber lag es nicht im Interesse der jungen Indianerin, daß ihre Zukunft der Sorge ihres neuen Vaters anheimgestellt blieb? Bei wem konnte sie besser aufgehoben sein, als bei Herrn Sergius? Er hatte sie an Kindesstatt angenommen; er würde sie nach Europa bringen, sie unterrichten lassen, ihr eine Stellung sichern, wie sie ihr eine arme Gauklerfamilie niemals bieten könnte. Hätte man angesichts solcher Vorteile zögern dürfen? Nein, gewiß nicht! und Jean war der Erste, es einzusehen. Aber er empfand trotzdem einen Kummer darüber, der sich in seiner wachsenden Traurigkeit verriet. Wie hätte er sich auch zu beherrschen vermocht? Sich von Kayette trennen – sie nicht mehr sehen – nicht einmal auf ein Wiedersehen mit ihr hoffen dürfen, wenn sie ihm physisch und moralisch so weit entrückt sein, wenn sie ihren Platz in der eigenen Familie des Herrn Sergius eingenommen haben würde – die süße Gewohnheit, mit einander zu plaudern, zu arbeiten, stets beisammen zu sein, aufgeben müssen – es war zum Verzweifeln!

Wenn Jean sehr unglücklich war, so konnten seine Eltern und Geschwister sich auch ihrerseits nicht in den Gedanken finden, ihre innig geliebte Kayette und Herrn Sergius verlieren zu sollen. Sie hätten, wie Herr Cascabel sagte, [151] viel darum gegeben, Herrn Sergius bis ans Ziel ihrer Reise zum Gefährten zu haben. Da könnte man noch einige Monate mit ihm verbringen und dann... hernach... würde man ja sehen...

Wie bereits erwähnt, hatten die Einwohner von Port-Clarence die Familie sehr liebgewonnen. Sie sahen nicht ohne Besorgnis den Augenblick herannahen, wo sie sich wirklich ernsten Gefahren in den Steppen aussetzen würden. Aber wenn die Eingebornen diesen in so große Ferne ziehenden Franzosen Sympathie bezeigten, so waren dagegen einige der vor kurzem an der Meerenge eingetroffenen Russen geneigt, dem Personal der Truppe und insbesondere Herrn Sergius aus ganz anderen Gründen Aufmerksamkeit zu schenken.

Man wird sich erinnern, daß eben damals eine gewisse Anzahl jener Beamten in Port-Clarence weilte, welche die Annexion von Alaska nötigte, sich nach Sibirien zurückzubegeben.

Unter diesen Beamten waren zwei mit einer ganz speziellen Mission auf den der moskowitischen Verwaltung unterstehenden amerikanischen Gebieten betraut gewesen. Dieselbe bestand in der Überwachung der politischen Flüchtlinge, welchen Neu-England ein Asyl gewährte, und die versucht sein könnten, die alaskische Grenze zu überschreiten. Nun erschien ihnen dieser Russe, welcher der Gefährte und Gast einer Gauklerfamilie geworden war, dieser Herr Sergius, der knapp an der Grenze des Zarenreichs Halt gemacht hatte, ein wenig verdächtig. Sie verloren ihn denn auch nicht aus den Augen, vermieden aber sorgfältig, sich etwas anmerken zu lassen.

Herr Sergius ahnte demzufolge nicht, daß er der Gegenstand eines gewissen Mißtrauens sei. Er fürchtete ebenfals nichts, als die nahe Trennung. War er unschlüssig, ob er seine Forschungsreise durch Westamerika wieder aufnehmen, oder aber seine neuen Freunde nach Europa begleiten solle? Es wäre schwer gewesen, das zu entscheiden. Indessen beschloß Herr Cascabel, da er ihn ziemlich nachdenklich sah, eine Auseinandersetzung über diesen Gegenstand herbeizuführen.

Eines Abends, am elften Oktober, wandte er sich nach dem Nachtmahl zu Herrn Sergius und bemerkte, als ob er etwas Neues vorbrächte:

»Nebenbei gesagt, Herr Sergius, Sie wissen, daß wir bald nach Ihrem Vaterlande aufbrechen werden?«

»Allerdings, meine Freunde... Das ist eine abgemachte Sache...«

»Jawohl... Wir gehen nach Rußland... und werden Perm passieren..., wo Ihr Vater wohnt, wenn ich nicht irre...«

»Und ich sehe Sie nicht ohne Bedauern und ohne Neid dahin abreisen!«

»Herr Sergius,« sagte Cornelia, »gedenken Sie noch lange in Amerika zu bleiben?«

»Lange?... Ich weiß es kaum...«

[152] »Und welchen Weg werden Sie einschlagen, wenn Sie nach Europa zurückkehren?«

»Den Weg durch den Far West... Meine Forschungsreise wird mich unfehlbar in die Nähe von New-York führen und dort werde ich mich mit Kayette einschiffen...«

»Mit Kayette!« murmelte Jean mit einem Blick auf die junge Indianerin, welche den Kopf senkte.

Ein sekundenlanges Schweigen entstand. Dann begann Herr Cascabel mit unsicherer Stimme:

»Hören Sie, Herr Sergius... ich werde mir erlauben, Ihnen einen Vorschlag zu machen... Oh, ich weiß wohl, daß die Reise durch jenes verteufelt große Sibirien sehr beschwerlich sein wird... Aber mit Mut und Willenskraft...«

»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »seien Sie versichert, daß mich weder Gefahren noch Anstrengungen erschrecken und daß ich sie gern mit Ihnen teilen würde, wenn...«

»Warum sollten wir die Reise nicht zusammen beenden?« fragte Cornelia.

»Wie nett das wäre!« fügte Xander hinzu.

»Ich würde Ihnen einen Kuß geben, wenn Sie Ja sagten!...« rief Napoleone.

Jean und Kayette sprachen kein Wort und ihre Herzen pochten heftig.

»Mein lieber Cascabel,« sagte Herr Sergius, nachdem er einige Sekunden nachgedacht, »ich möchte Sie und Ihre Frau um eine Unterredung bitten.«

»Wir stehen zu Diensten... sofort...«

»Nein... morgen,« antwortete Herr Sergius.

Daraufhin suchte jedermann, sehr unruhig und sehr gespannt zugleich, sein Lager auf.

Worüber wünschte Herr Sergius eine Unterredung zu haben? Dachte er seine Pläne zu ändern, oder wollte er die Familie nur in den Stand setzen, ihre Reise unter günstigeren Bedingungen anzutreten, indem er sie zwang eine kleine Geldsumme von ihm anzunehmen?

Jean und Kayette schlossen die ganze Nacht kein Auge.

Am folgenden Morgen fand die Unterredung statt. Nicht aus Mißtrauen gegen die Kinder, sondern aus Furcht, von den Eingeborenen oder anderen Leuten, welche ein- und ausgingen, belauscht zu werden, hatte Herr Sergius Herrn und Frau Cascabel gebeten, ihn in einige Entfernung von dem Lager zu begleiten. Ohne Zweifel war das, was er ihnen zu sagen hatte, etwas Wichtiges, das geheim bleiben sollte.

Alle drei schlugen den Weg nach der Ölfabrik ein und nun entspann sich folgende Unterredung.

[153] »Meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »hören Sie mich an und überlegen Sie wohl, bevor Sie auf den Vorschlag antworten, den ich Ihnen machen werde. Ich zweifle nicht an Ihren guten Herzen, und Sie haben mir bewiesen, wieweit Ihre Opferwilligkeit gehen kann. Aber in dem Augenblick, wo Sie eine endgiltige Entscheidung treffen sollen, müssen Sie wissen, wer ich bin...«

»Wer Sie sind?... Ei! ein wackerer Mann,« rief Herr Cascabel.

»Sei's drum... ein wackerer Mann,« antwortete Herr Sergius, »aber ein wackerer Mann, der die Gefahren Ihrer sibirischen Reise nicht durch seine Gegenwart vergrößern will.«

»Ihre Gegenwart... eine Gefahr... Herr Sergius?« antwortete Cornelia.

»Ja, denn ich heiße Graf Sergius Narkine... Ich bin ein politischer Flüchtling!«

Und Herr Sergius erzählte in kurzen Worten seine Geschichte.

Graf Sergius Narkine gehörte einer reichen Familie des Gouvernements von Perm an.

Für Wissenschaften und geographische Entdeckungen schwärmend, hatte er, wie er schon früher erwähnt, seine Jugendjahre auf Reisen in sämtliche Weltteile verwendet.

Unglücklicherweise blieb er nicht bei diesen kühnen Zügen, welche ihm wahre Berühmtheit hätten eintragen können. Die Politik griff in sein Leben ein, und im Jahre 1857 wurde er in einer geheimen Gesellschaft, in welche seine Beziehungen ihn geführt hatten, kompromittiert. Um es kurz zu sagen: die Mitglieder dieser Gesellschaft wurden arretiert, mit aller der moskowitischen Verwaltung eigenen Energie zur Verantwortung gezogen und größtenteils zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt.

Auch Sergius Narkine befand sich unter den Verurteilten. Er mußte nach Jakutsk, dem ihm angewiesenen Verbannungsorte, aufbrechen und seinen einzigen lebenden Verwandten, seinen Vater, den Fürsten Wassili Narkine, verlassen, der jetzt achtzig Jahre zählte und auf seiner Besitzung Walska in der Nähe von Perm wohnte.

Nachdem er fünf Jahre in Jakutsk verbracht hatte, gelang es dem Gefangenen zu entkommen und Okholsk an der Küste des gleichnamigen Meeres zu er reichen. Dort vermochte er sich auf einem eben abgehenden Fahrzeuge einzuschiffen und in einem kalifornischen Hafen zu landen.


Ich bin ein politisch Verbannter. (Seite 154.)

So hatte Graf Sergius Narkine denn seit sieben Jahren teils in den Vereinigten Staaten, teils in Britisch-Amerika gelebt und sich immer wieder Alaska genähert, wohin er zu gehen dachte, sobald es amerikanisch geworden wäre. Ja! er [154] [156]hegte die geheime Hoffnung, durch Sibirien nach Europa zurückzukehren, – genau dasselbe, was Herr Cascabel geplant hatte und that. Man kann sich vorstellen, was er empfand, als er hörte, daß diese Familie, der er seine Rettung verdankte, auf dem Wege nach der Beringstraße sei, um nach Asien hinüber zu gehen.

Begreiflicherweise empfand er den lebhaftesten Wunsch, sie zu begleiten. Aber durfte er sie den Repressalien der russischen Regierung aussetzen? Was würde geschehen, wenn man entdeckte, daß sie die Rückkehr eines politischen Verurteilten nach Rußland begünstigt habe? Und doch, sein Vater war sehr bejahrt, er sehnte sich, ihn wiederzusehen...

»Kommen Sie, Herr Sergius, kommen Sie mit uns!« rief Cornelia.

»Ihre Freiheit, meine Freunde, vielleicht Ihr Leben steht auf dem Spiele, wenn man erfährt...«

»Was liegt daran, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel., Jeder von uns hat da oben eine laufende Rechnung, nicht wahr? Nun denn, sehen wir zu, daß möglichst viele gute Handlungen darin eingetragen werden!... Das hebt die schlechten auf!«

»Mein lieber Cascabel, bedenken Sie wohl...«

»Und übrigens wird man Sie nicht erkennen, Herr Sergius! Wir sind auch schlau, und hol mich der Henker, wenn wir die Späher der russischen Polizei nicht zum Narren halten!«

»Trotzdem...« erwiderte Herr Sergius.

»Und am Ende... falls es nötig ist... werden Sie sich als Gaukler kleiden... wenn Sie sich dessen nicht etwa schämen...«

»O!... mein Freund!...«

»Und wer wird je auf den Gedanken kommen, daß Graf Narkine unter dem Personal der Familie Cascabel figuriere?«

»Sei es denn; ich willige ein, meine Freunde!... Ja!... ich willige ein!... Und ich danke Ihnen...«

»Schon gut! schon gut!« rief Herr Cascabel. »Dank!... Glauben Sie etwa, daß wir Ihnen nicht ebensoviel zu danken haben?... Also, Herr Graf...«

»Nennen Sie mich nicht Graf!... Für alle Welt... selbst für Ihre Kinder... muß ich einfach Herr Sergius bleiben...«

»Sie haben recht... Die Kinder brauchen nichts davon zu wissen... So ist es denn abgemacht, wir nehmen Sie mit, Herr Sergius!... Und ich, Cäsar Cascabel, mache mich anheischig, Sie nach Perm zu führen; ich setze meinen Namen daran, – und Sie werden zugeben, daß es ein unersetzlicher Verlust für die Kunst wäre, wenn ich ihn einbüßte!«

[156] Was die Aufnahme betrifft, welche Herrn Sergius bei seiner Rückkehr in die Belle-Roulotte zuteil wurde, als Jean, Kayette, Xander, Napoleone und Clou vernahmen, daß er sie nach Europa begleiten werde, so kann man sich dieselbe auch ohne nähere Beschreibung vorstellen.

Fußnoten

1 Linaria = Leinkraut.

16. Capitel
XVI. Der Abschied vom neuen Festlande.

Jetzt erübrigte es nur noch, den verabredeten Plan zur Ausführung zu bringen.

Genau betrachtet, gewährte dieser Plan viele Aussichten auf Erfolg. Da die Zufälligkeiten ihres Wanderlebens die Familie Cascabel durch Rußland und noch dazu gerade durch das Gouvernement Perm führten, so konnte Graf Sergius Narkine wirklich nichts besseres thun, als sich ihnen anzuschließen.

Wer sollte ahnen, daß der politisch Verurteilte, der aus Jakutsk Entflohene, sich unter den Genossen einer Gauklerbande befinde? Wenn keine Indiskretion begangen wurde, so war der Erfolg sicher; und wenn er einmal in Perm war und den Fürsten Wassili Narkine wiedergesehen hatte, so würde Herr Sergius seinen Interessen entsprechend handeln. Wenn er über Asien hinaus kam, ohne irgend eine Spur zu hinterlassen, deren die Polizei sich bedienen konnte, so würde er einen den Umständen entsprechenden Entschluß fassen.

Sollte er wider alle Wahrscheinlichkeit auf seiner Reise durch Sibirien erkannt werden, so konnte das allerdings schreckliche Folgen für ihn und auch für die Familie nach sich ziehen. Indessen wollte weder Herr Cascabel noch seine Frau dieser Gefahr Rech nung tragen. und wenn sie ihre Kinder darüber befragt hätten, so würden diese ihr Vorgehen gebilligt haben. Aber das Geheimnis des Grafen Narkine sollte streng bewahrt werden; es war einfach Herr Sergius, der auch fernerhin ihr Reisegefährte sein wollte.

Später würde Graf Narkine die Ergebenheit dieser ehrlichen Franzosen gewiß anerkennen, wenngleich Herr Cascabel keinen anderen Lohn wollte als das Vergnügen, ihn verpflichtet und dabei die moskowitische Polizei genasführt zu haben.

Unglücklicherweise war, was keiner von ihnen ahnte, ihr Plan von Anbeginn ernstlich gefährdet. Sobald sie die andere Küste der Meerenge erreichten,[157] würden sie unfehlbar den größten Gefahren ausgesetzt sein und von den russischen Beamten Sibiriens arretiert werden.

In der That, schon an dem Tage, nachdem jener Plan gefaßt worden war, besprachen sich zwei Männer miteinander, welche am äußersten Ende des Hafens, wo niemand ihr Gespräch belauschen konnte, spazieren gingen.

Es waren jene beiden bereits erwähnten Polizeibeamten, welche die Anwesenheit des Herrn Sergius unter den Insassen der Belle-Roulotte überrascht und neugierig gemacht hatte.

Seit mehreren Jahren in Sitka lebend und mit der Überwachung. der Provinz in politischer Hinsicht betraut, bestand ihre Mission bekanntlich darin, die Bewegungen der Geflüchteten an der kolumbischen Grenze zu beobachten, dem Gouverneur von Alaska darüber zu berichten und die Arretierung derer, welche sich auf russisches Gebiet wagten, zu bewerkstelligen. Das Bedenklichste dabei war, daß sie zwar den Grafen Narkine nicht persönlich kannten, sich aber im Besitze seiner Personalbeschreibung befanden, welche ihnen nach seiner Entweichung aus der Citadelle von Jakutsk zugestellt worden war. Als die Familie Cascabel in Port-Clarence anlangte, waren sie sehr erstaunt über die Erscheinung dieses Russen gewesen, der weder die Haltung noch die Manieren eines Jahrmarktskünstlers hatte. Was hatte er bei dieser Gauklerbande zu suchen, die von Sakramento kommend, eine so seltsame Reiseroute verfolgte, um nach Europa zurückzukehren?

Ihr Verdacht wurde rege und sie erkundigten sich, sie beobachteten – geschickt genug, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken; – sie verglichen Herrn Sergius mit der Personalbeschreibung des Grafen Narkine, und ihre Ahnung wurde zur Gewißheit.

»Ja! es ist wirklich Graf Narkine!« sagte einer von ihnen., Offenbar trieb er sich an der Grenze von Alaska herum, der Vollziehung der Annexion harrend, als er jener Marktschreierfamilie begegnete, die ihm zu Hilfe kam und mit der er sich jetzt anschickt, nach Sibirien hinüber zu gehen!«

Die Annahme war richtig, und wenn Herr Sergius auch anfangs nicht die Absicht gehabt hatte, sich über Port-Clarence hinaus zu wagen, so verspürten die beiden Beamten doch kein Erstaunen, als sie erfuhren, daß er sich zu der Reise nach Sibirien entschlossen habe.

»Das ist eine gute Chance für uns!« meinte der Beamte. »Der Graf hätte hier, nämlich auf amerikanischem Gebiete, bleiben können, und wir hätten nicht das Recht gehabt ihn zu arretieren...«

»Während er, sowie er den Fuß auf die jenseitige Küste der Meerenge setzt,« fuhr der erstere fort »auf russischem Boden steht und uns nicht mehr entgehen kann; denn wir werden auf seinen Empfang vorbereitet sein!...«

[158] »Es ist eine Arretierung, die uns Ehre und Vorteil bringen wird!« versetzte der zweite Beamte. »Welch ein Meisterstreich bei unserer Heimkehr!...« Aber wie fangen wir die Sache an?«

»Nichts einfacher als das! Die Familie Cascabel wird baldmöglichst aufbrechen; und da sie den kürzesten Weg einschlagen wird, so ist es kein Zweifel, daß sie sich nach dem Hafen von Numana begiebt. Nun, wir werden [159] dort vor oder zugleich mit dem Grafen Narkine eintreffen und brauchen dann nur mehr Hand an ihn zu legen.«

»Wohl, aber ich möchtelieber vor ihm in Numana sein, um die Küstenpolizei zu verständigen, damit sie uns nötigenfalls bewaffneten Beistand leiste!«


Zwei Männer unterhielten sich am Ende des Hafens. (Seite 158)

»Das werden wir thun, wenn keine unvorhergesehenen Ereignisse dazwischen kommen,« versetzte der erste Beamte. »Jene Gaukler werden warten müssen, bis das Eis stark genug ist, um ihren Wagen zu tragen; somit wird es uns leicht sein, ihnen einen Vorsprung abzugewinnen. Bleiben wir also in Port-Clarence und fahren wir fort, den Grafen Narkine zu beobachten, ohne seinen Verdacht zu erregen. Wenn er den aus Alaska heimkehrenden russischen Beamten auch nicht trauen mag, so kann er doch nicht vermuten, daß wir ihn erkannt haben. Er wird die Reise antreten; wir arretieren ihn in Numana und brauchen ihn dann nur mehr unter sicherer Bedeckung nach Petropawlowsk oder Jakutsk zu bringen...«

Und wenn jene Marktschreier ihn verteidigen wollten...« bemerkte der zweite Beamte.

»Es würde sie teuer zu stehen kommen, die Heimkehr eines politischen Flüchtlings nach Rußland begünstigt zu haben!«

Dieser sehr einfach entworfene Plan mußte gelingen, da Graf Narkine nicht wußte, daß man ihn erkannt habe, und da die Familie Cascabel nicht wußte, daß sie ein Gegenstand spezieller Überwachung geworden. So lief denn diese so glücklich begonnene Reise Gefahr, ein schlechtes Ende für Herrn Sergius und seine Gefährten zu nehmen.

Und während dieser Anschlag ersonnen wurde, waren alle von dem Gedanken erfüllt, daß sie sich nicht trennen, daß sie zusammen nach Rußland ziehen sollten. Welche Freude besonders Jean und Kayette darüber empfanden!

Selbstverständlich behielten die beiden Polizeibeamten das Geheimnis, das sie auszubeuten gedachten, für sich. In Port-Clarence ahnte niemand, daß sich eine so bedeutende Persönlichkeit, wie Graf Sergius Narkine unter den Insassen der Belle-Roulotte befinde.

Es war noch immer schwer, den Tag der Abreise festzusetzen. Man beobachtete mit außerordentlicher Ungeduld die Schwankungen der wahrhaft anormalen Temperatur, und Herr Cascabel erklärte, daß er sich noch nie so lebhaft nach einem unbarmherzigen Froste gesehnt habe.

Zudem war es von Wichtigkeit, die andere Seite der Meerenge vor Anbruch des tiefen Winters zu erreichen. Da er nicht vor den ersten Wochen des November seine volle Strenge entfalten würde, blieb der Belle-Roulotte voraussichtlich Zeit, die südlichen Gegenden Sibiriens zu erreichen. Dort würde man in irgend einem Flecken die günstige Jahreszeit abwarten, um den Weg nach dem Uralgebirge einzuschlagen.

[160] Auf diese Weise würden Vermout und Gladiator ohne allzu große Anstrengung die Fahrt durch die Steppe bewältigen können. Die Familie Cascabel würde rechtzeitig eintreffen, um sich im Juli des kommenden Jahres an der Messe von Perm zu beteiligen.

Und noch immer trieben die Eisschollen unter der Einwirkung der warmen Strömung aus dem Stillen Ocean gegen Norden! Noch immer glitt eine Flottille von Eisbergen zwischen den Ufern der Meerenge dahin, statt ein unbewegliches und festes Eisfeld zu bilden!

Indessen konstatierte man am dreizehnten Oktober, daß das Eis langsamer trieb. Sehr wahrscheinlich hatte der Stoß sich weiter nordwärts gestaut und hielt die nachdrängenden Schollen auf. In der That erschien am äußersten Horizont eine ununterbrochene Linie von weißen Spitzen, welche auf das vollständige Zufrieren des Polarmeeres schließen ließ. Der fahle Wiederschein der Eisfläche erfüllte den Luftraum, und die völlige Festigung stand nahe bevor.

Unterdessen fragten Herr Sergius und Jean die Fischer von Port-Clarence um Rat. Schon mehrmals hatten beide geglaubt, daß man den Übergang versuchen könne; aber die Seeleute, die »ihre Meerenge gründlich kannten«, rieten zur Geduld.

»Übereilen Sie sich nicht,« sagten sie. »Lassen Sie die Kälte ihre Arbeit thun!... Sie ist noch nicht stark genug gewesen, um ein Eisfeld herzustellen!... Und selbst wenn das Meer auf dieser Seite der Meerenge zufröre, so würde doch nichts beweisen, daß es auch drüben so sei, besonders in der Umgebung der Insel Diomedes!«

Und der Rat war weise.

»Der Winter ist dieses Jahr nicht voreilig!« bemerkte Herr Sergius eines Tages gegen einen alten Fischer.

»Ja, er verspätet sich,« antwortet dieser. »Um so mehr Grund, sich nicht hinauszuwagen, bevor Sie der Möglichkeit des Überganges gewiß sind. Überdies ist Ihr Wagen schwerer als ein Fußgänger und bedarf einer festeren Straße. Warten Sie, bis ein tüchtiger Schneefall die Eisschollen gleichmäßig deckt; dann können Sie wie auf einer Landstraße darüber hinfahren. Auf diese Weise werden Sie die verlorene Zeit bald einbringen und sich nicht der Gefahr aussetzen, inmitten der Meerenge stecken zu bleiben.«

Diesen, von praktischen Leuten kommenden Vernunftgründen mußte man sich gewiß fügen, Herr Sergius bemühte sich denn auch, Herrn Cascabel zu beruhigen, der von der ganzen Truppe am meisten Ungeduld verriet. Das Wichtigste blieb doch immerhin, die Reise und die Reisenden nicht durch allzu große Eile zu gefährden.

»Hören Sie,« sagte er ihm, »ein wenig Geduld! Ihre Belle-Roulotte [161] ist kein Boot; wenn sie in einen Eisbruch hineingeriete, so würde sie mit Mann und Maus zu Grunde gehen. Die Familie Cascabel hat es nicht nötig, ihren Ruf durch einen Untergang in den Wassern der Beringstraße zu vergrößern!«

»Und würde er dadurch vergrößert werden?« antwortete der ruhmreiche Cäsar lächelnd.

Zum Überflusse erhob auch Cornelia Einspruch gegen irgend welche Unbesonnenheit.

»Ei! wir haben Ihretwegen Eile, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel.

»Wohl, aber ich habe keine Ihrethalben!« antwortete Graf Narkine.

Trotz der allgemeinen Ungeduld fanden Jean und Kayette die Tage nicht zu lang. Jean fuhr fort, Kayette zu unterrichten. Sie verstand und sprach französisch bereits mit Leichtigkeit. Es fiel ihnen nicht mehr schwer, sich miteinander zu verständigen. Und dann fühlte Kayette sich auch so glücklich inmitten dieser Familie, so glücklich bei Jean, der sie mit so vieler Sorgfalt umgab! Herr und Frau Cascabel hätten geradezu blind sein müssen, um nicht zu erkennen, welches Gefühl sie ihrem Sohne einflößte. Sie begannen auch wirklich, sich zu beunruhigen. Sie wußten, was Herr Sergius war und was Kayette eines Tages sein würde. Sie war nicht mehr die arme Indianerin, die irgend einen Dienst in Sitka suchen ging; sie war die Adoptivtochter des Grafen Narkine. Und Jean ging großem zukünftigen Kummer entgegen!

»Schließlich,« sagte Herr Cascabel, »hat Herr Sergius seine Augen; er sieht, was da vorgeht. Nun, und wenn er nichts sagt, Cornelia, so haben wir auch nichts zu sagen.«

Eines Abends fragte Jean das junge Mädchen:

»Bist du's zufrieden, kleine Kayette, nach Europa zu gehen?«

»Nach Europa?... Ja!...« antwortete sie. »Aber es wäre mir noch viel lieber, wenn ich nach Frankreich ginge!«

»Du hast recht!... Unser Land ist ein schönes und ein gutes Land! Wenn es je deine Heimat werden könnte, so würdest du dich darin wohl fühlen...«

»Ich würde mich überall wohl fühlen, wo deine Familie wäre, Jean, und es ist mein größter Wunsch, euch niemals zu verlassen!«

»Teure, kleine Kayette!«

»Ist es sehr weit nach Frankreich?«

»Alles ist weit, Kayette, besonders wenn man Eile hat, hinzukommen! Aber wir werden es schon erreichen... vielleicht zu früh...«

»Warum das, Jean?«

»Weil du bei Herrn Sergius in Rußland bleiben wirst!... Wenn wir uns hier nicht trennen, so werden wir uns dort trennen müssen!... Herr [162] Sergius wird dich bei sich behalten, kleine Kayette!«... Er wird ein schönes Fräulein aus dir machen... und wir werden dich nicht mehr sehen!«

»Warum sagst du das, Jean?... Herr Sergius ist gut und erkenntlich!... Nicht ich habe ihn gerettet, sondern ihr, ihr allein!... Was hätte ich für ihn thun können, wenn ihr nicht dagewesen wäret!... Wenn er lebt, so verdankt er das deiner Mutter, euch allen!... Meinst du, Herr Sergius könne [163] das vergessen?«... Warum, Jean, warum willst du glauben, daß wir uns auf ewig trennen müßten?«


Jean hatte Kayettens Hand erfaßt.(Seite 164.)

»Kleine Kayette... ich will es nicht!« antwortete Jean, der seine Bewegung nicht bemeistern konnte. »Aber... ich fürchte es!... Dich nicht mehr sehen, Kayette!... wenn du wüßtest, wie unglücklich ich sein würde!... Und dann, es ist nicht nur, daß ich dich sehen möchte!... Ach! warum kann meine Familie dir nicht genügen, wo du doch keine eigenen Verwandten mehr hast!... Meine Eltern lieben dich so sehr...«

»Nicht inniger, als ich sie liebe, Jean!«

»Und meine Geschwister ebenfalls!... Ich hatte gehofft, daß sie dir Bruder und Schwester sein würden!«

»Sie werden es immer sein... Und du, Jean?...«

»Ich... ich auch... kleine Kayette... Ja!... ein Bruder... aber ergebener... liebevoller!...«

Jean ging nicht weiter. Er hatte Kayettens Hand ergriffen, er drückte sie... dann entfloh er, um nicht mehr zu sagen. Kayette war sehr bewegt; sie fühlte ihr Herz heftig pochen und ihre Augen feucht werden.

Man schrieb den fünfzehnten Oktober, als die Seeleute von Port-Clarence Herrn Sergius benachrichtigten, daß er sich zum Aufbruch rüsten könne. Die Kälte war seit einigen Tagen sehr stark geworden. Die Temperatur stieg jetzt durchschnittlich nicht über zehn Grad Celsius unter Null. Das Eisfeld schien absolut unbeweglich. Man hörte nicht einmal mehr jenes bedeutsame Krachen, welches öfter entsteht, wenn das Eis noch nicht vollständig ineinander gefroren ist

Wahrscheinlich würde man bald einige jener asiatischen Eingeborenen eintreffen sehen, welche während des Winters über die Meerenge kommen und eine Art Handelsverbindung zwischen Numana und Port-Clarence herstellen. Es ist dies sogar eine manchmal sehr besuchte Straße. Nicht selten fahren mit Hunden oder Renntieren bespannte Schlitten von einem Festlande zum anderen, indem sie die zwanzig Meilen betragende Entfernung zwischen den nächstgelegenen Punkten der Meerenge in zwei bis drei Tagen zurücklegen. Es befindet sich dort also ein natürlicher Verkehrsweg, der zu Anfang des Winters eröffnet und zu Ende desselben verschlossen wird, also über sechs Monate lang benützbar ist. Nur darf man ihn weder zu früh, noch zu spät betreten, wenn man den furchtbaren Katastrophen entgehen will, welche ein Eisbruch mit sich bringen würde.

Im Hinblick auf die Reise durch Sibirien bis zu dem von der Belle-Roulotte aufzusuchenden Winterquartier, hatte Herr Sergius verschiedene unentbehrliche Gegenstände angeschafft, unter anderem mehrere Paar jener Schneeschuhe, welche den Eingeborenen die schnelle Bewegung auf großen [164] Eisflächen ermöglichen. Es bedurfte keiner langen Lehrzeit, um Gauklerkinder im Gebrauche derselben zu unterrichten. Indem sie sich auf den zugefrorenen Buchten längs des Strandes übten, waren Jean und Xander binnen wenigen Tage geschickte, »Schneeschuhläufer« geworden.

Herr Sergius hatte auch den im Fort Youkon gekauften Pelzvorrat vervollständigt.


Sie hatten endgültig die amerikanische Küste verlassen. (Seite 167.)

Es handelte sich nicht nur darum, sich durch Anlegen warmer Pelzkleider vor der Kälte zu schützen, man mußte auch die Abteilungen im Innern der Belle-Roulotte mit Pelzwerk ausstaffieren, Lagerstätten, [165] Wände und Fußboden damit bedecken, um die vom Küchenofen entwickelte Wärme darin zu erhalten. Übrigens, wie mehrfach erwähnt, gedachte Herr Cascabel, sobald die Meerenge überschritten sein würde, die strengsten Wintermonate in einem jener Marktflecken zuzubringen, an welchen in den südlichen Distrikten Südsibiriens kein Mangel ist.

Endlich wurde die Abreise für den einundzwanzigsten Oktober anberaumt. Seit vierundzwanzig Stunden hatte der sehr nebelige Himmel sich in Schnee aufgelöst. Eine dicke weiße Schneeschicht machte das weite Eisfeld zur einförmigen Fläche. Die Fischer von Port-Clarence erklärten, daß die Festigung sich von Ufer zu Ufer erstrecken müsse.

Übrigens ward dies bald zur vollen Gewißheit. Mehrere Handelsleute trafen aus der Hafenstadt Numana ein, und ihre Reise war ohne Hindernisse und ohne Gefahren von statten gegangen.

Am neunzehnten erfuhr Herr Sergius, daß zwei von den in Port-Clarence harrenden russischen Polizeibeamten ihren Übergang nach der sibirischen Küste nicht länger aufschieben gewollt. Sie seien an jenem Morgen aufgebrochen, mit der Absicht, auf der Insel Diomedes Rast zu halten und Numana am zweitfolgenden Tage zu erreichen.

Was Herrn Cascabel zu der Betrachtung veranlaßte:

»Die Kerle scheinen es noch eiliger zu haben als wir. Was Teufel, sie hätten schon warten können, wir hätten sie gern mitgenommen!«

Dann sagte er sich aber, daß die Beamten ohne Zweifel gefürchtet hätten, durch die Belle-Roulotte aufgehalten zu werden, die in jener Schneeschichte nicht schnell vorwärts kommen konnte.

In der That, obgleich Vermout und Gladiator scharf beschlagen worden waren, würde das schwere Gefährt mehrerer Tage bedürfen, um die jenseitige Küste zu gewinnen, um so mehr, da man auf der Insel Diomedes Rast halten mußte.

In Wahrheit hatten die beiden Beamten dem Grafen Narkine zuvorkommen wollen, um alle nötigen Maßregeln zu seiner Arretierung zu treffen.

Man beschloß, die Reise bei Sonnenaufgang anzutreten. Man mußte die wenigen lichten Stunden benützen, welche die Sonne noch gab. In sechs Wochen, um die Sonnenwende des einundzwanzigsten Dezember, würde ewige Nacht jene unter dem Polarkreise liegenden Gegenden einhüllen.

Am Vorabend der Abreise versammelte ein von Herrn und Frau Cascabel in einem wohl verschlossenen und zu diesem Feste hergerichteten Schuppen gegebener »Thee« die Notabeln von Port-Clarence, Beamte und Fischer sowohl, [166] als auch einige Oberhäupter von Eskimo-Familien, die sich für die Reisenden interessierten. Die Versammlung war sehr fröhlich und Clou-de-Girofle erheiterte sie durch die drolligsten Pantomimen seines Repertoires. Cornelia hatte heißen Punsch gebraut, an dem sie zwar mit Zucker, aber nicht mit Branntwein gespart hatte. Dieses Getränk mundete den Gästen um so besser, als sie auf dem Heimwege dem heftigsten Froste ausgesetzt sein würden – einem jener Fröste, welche in gewissen Nächten von der äußersten Grenze des Sternenraumes herüberzuziehen scheinen.

Die Amerikaner brachten ein Hoch auf Frankreich, die Franzosen ein Hoch auf Amerika aus. Dann trennte man sich mit herzlichem Händeschütteln.

Am folgenden Morgen um acht Uhr wurden die Pferde eingespannt. Der Affe John Bull hatte in dem Hängekorbe Platz genommen, wo er bis an die Schnauze im Pelzwerk vergraben lag, während Wagram und Marengo lustig um die Belle-Roulotte herumsprangen. Cornelia, Napoleone und Kayette hatten sich hermetisch ins Innere des Wagens eingeschlossen, um ihren gewohnten, Beschäftigungen der Haushaltung, der Heizung des Ofens, der Zubereitung der Mahlzeiten obzuliegen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou, die einen an der Spitze des Zuges marschierend, die andern als Pfadfinder vorauseilend, sollten über die Sicherheit des Fuhrwerks wachen, indem sie gefährlichen Stellen auswichen.

Endlich wurde das Zeichen zum Aufbruch gegeben und im selben Augenblick erschollen die Hurra-Rufe der Bevölkerung von Port-Clarence.

Gleich darauf knirschten die Räder der Belle-Roulotte auf der Schneedecke des Eisfeldes.

Herr Sergius und die Familie Cascabel hatten den amerikanischen Boden für immer verlassen.

[167]

2. Teil

1. Capitel
I. Die Beringstraße.

Er bildet eine ziemlich enge Durchfahrt, dieser Beringkanal, welcher das gleichnamige Meer mit dem Polarmeere verbindet. Dem zwischen La Manche und der Nordsee gelegenen Pas-de-Calais ähnelnd, besitzt er eine dreimal so große Ausdehnung als dieser; denn während die Entfernung vom Kap Gris-Nez an der französischen bis zum South-Foreland an der englischen Küste höchstens sechs bis sieben Meilen beträgt, trennen cirka zwanzig Meilen Port-Clarence von Numana.

Und diesem Numana, als dem nächstgelegenen Punkte an der asiatischen Küste, strebte die Belle-Roulotte zu, nachdem sie ihren letzten Aufenthalt' in Amerika verlassen hatte.

Ohne Zweifel würde eine das Beringmeer schräg durchschneidende Reiseroute Cäsar Cascabel gestattet haben, unter einem wesentlich südlich vom Polarkreise gelegenen Breitegrade zu reisen. In diesem Falle würde man in südwestlicher Richtung bis zur St. Laurentius-Insel vorgedrungen sein – einer ziemlich bedeutenden Insel, deren aus zahlreichen Eskimostämmen bestehende Bevölkerung nicht weniger gastfreundlich ist wie die Einwohner von Port-Clarence. Jenseits des Golfes von Anadir wäre die kleine Truppe dann beim Kap Navarin ans Land gestiegen, um ihr Heil in den Gebieten Südsibiriens zu versuchen. Aber dadurch würde man den auf dem Meere, oder vielmehr auf jenem Eisfeld zurückzulegenden Teil der Reise verlängert und sich somit den auf Eisfeldern drohenden Gefahren länger ausgesetzt haben. Begreiflicherweise hatte die Familie Cascabel Eile, auf festen Boden zu gelangen. Es schien daher geboten, keinerlei Abänderungen des ursprünglichen Planes vorzunehmen, sondern über die inmitten der Meerenge gelegene Insel Diomedes, die auf ihrer felsigen Basis keinem Punkte des Festlandes an Solidität nachsteht, nach Numana zu reisen.

Hätte Herrn Sergius ein Schiff zur Beförderung der kleinen Karawane zur Verfügung gestanden, so hätte er eine andere Reiseroute gewählt. Er [168] würde das Fahrzeug nach der Beringinsel, einem südlicher gelegenen, sehr beliebten Überwinterungsorte der Seehunde und anderer Säugetiere des Meeres, und von dort nach irgend einer Hafenstadt Kamtschatkas, vielleicht gar nach Petropawlowsk, der Hauptstadt dieses Gouvernements, gelenkt haben. Aber in Ermangelung eines Schiffes mußte man den kürzesten Weg wählen, um das asiatische Festland je eher zu betreten.

Die Beringstraße ist nirgends sehr tief. Infolge der seit der Eisperiode konstatierbaren Anschwemmungen wäre es sogar möglich, daß sich in sehr ferner Zukunft eine Vereinigung Asiens und Amerikas an diesem Punkte vollzöge. Das wäre dann die von Herrn Cascabel geträumte Brücke, oder, genauer gesagt, ein den Reisenden zugänglicher Dammweg. Aber wenn auch nützlich für letztere, wäre er doch den Schiffern und besonders den Walfischfängern sehr unbequem, da er ihnen die Einfahrt ins Polarmeer wehren würde. So müßte dann schließlich ein neuer Lesseps kommen, um diesen Isthmus zu durchschneiden und den ursprünglichen Stand der Dinge wieder herzustellen. Die Erben unserer Urenkel werden sich mit dieser Eventualität zu befassen haben.

Auf Grund der an verschiedenen Punkten der Meerenge vorgenommenen Messungen konstatierten die Hydrographen, daß man längs der asiatischen Küste, in der Nähe der Tschuktschen-Halbinsel, im Bereiche der von Norden kommenden kalten Strömung, das tiefste Fahrwasser findet, während die warme Strömung durch die minder tiefe Durchfahrt an der amerikanischen Küste aufwärts fließt.

Im Norden dieser Halbinsel, bei der Koliutschin-Insel, in der gleichnamigen Bai, sollte zwölf Jahre später Nordenskjölds Schiff, die »Vega,« nachdem er die nordöstliche Durchfahrt entdeckt, während eines Zeitraumes von neun Monaten, vom sechsundzwanzigsten September 1878 bis zum fünfzehnten Juli 1879, im Eise gefangen liegen.

Die Familie Cascabel war also am einundzwanzigsten Oktober bei recht gutem Befinden aufgebrochen. Es herrschte strenge trockene Kälte. Der Schneefall hatte aufgehört; der schwächer werdende Wind blies aus Norden. Der Himmel war in mattes, einförmiges Grau gehüllt. Man ahnte die Sonne kaum hinter jenen Nebelschleiern, welche die infolge ihrer Schrägheit sehr geschwächten Strahlen nicht zu durchbrechen vermochten. Mittags, auf dem höchsten Punkte ihres Laufes, stand sie nur um drei bis vier Grade über dem südlichen Horizonte.

Vor der Abreise von Port-Clarence hatte man sich einstimmig für eine sehr vernünftige Maßregel entschieden: man würde nicht im Dunkeln fahren. Das Eisfeld zeigte hie und da große Risse, welche, wenn man sie nicht sah und vermied, irgend eine Katastrophe herbeiführen konnten. Man war übereingekommen, Halt zu machen, sobald der Gesichtskreis auf hundert Schritte weit beschränkt erschien. Besser, die zwanzig Meilen der Meerenge in fünfzehn [169] Tagen zurückzulegen, als bei ungenügender Beleuchtung blindlings vorwärts zu streben.

Der Schnee, der vierundzwanzig Stunden lang gefallen war und einen ganz dicken Teppich bildete, hatte sich unter der Einwirkung der Kälte krystallisiert. Diese Schicht erleichterte die Bewegung auf der Oberfläche des Eisfeldes. Wenn nicht etwa ein neuer Schneefall eintrat, würde der Übergang keine Schwierigkeiten bieten. Indessen stand zu befürchten, daß dort, wo die beiden in entgegengesetzter Richtung fließenden Strömungen einander begegneten, die während des Eistreibens zusammengestoßenen Eisschollen sich übereinander getürmt haben und die Reise durch zahlreiche Umwege verlängern würden.

Wie bereits erwähnt, hatten Cornelia, Kayette und Napoleone im Wagen Platz genommen. Um ihn möglichst wenig zu belasten, sollten die Männer ihn zu Fuß begleiten.

Der festgestellten Marschordnung gemäß war Jean als Vorhut mit der Rekognoscierung des Eisfeldes betraut; man durfte sich auf ihn verlassen. Er war mit einem Kompaß versehen und obgleich er dabei nicht sehr genau verfahren konnte, hielt er die westliche Richtung doch präcis genug ein.

Clou hielt sich bei den Pferden, bereit, Vermout und Gladiator beizuspringen, falls sie straucheln sollten, wovor sie übrigens auch der scharfe Beschlag ihrer Hufeisen und die absolute Ebenheit der Eisfläche schützte.

Neben dem Wagen schritten Herr Sergius und Cäsar Cascabel, mit Brillen versehen und gleich ihren Gefährten wohl vermummt, plaudernd einher.

Was den jungen Xander betrifft, so wäre es keine leichte Sache gewesen, ihm einen Platz anzuweisen, oder vielmehr, ihn zum Ausharren darauf zu bestimmen. Er ging und kam, lief und sprang wie die beiden Hunde, und gestattete sich sogar das Vergnügen langer Schleifpartieen. Indessen erlaubte sein Vater ihm nicht, die Eskimo-Schneeschuhe anzulegen, was ihn arg verdroß.

»Mit jenen Schlittschuhen,« sagte er, »könnte man in einigen Stunden über die Meerenge gelangen!«

»Was hilft uns das,« antwortete Cascabel, »da unsere Pferde sich nicht aufs Schlittschuhlaufen verstehen!«

»Ich werde sie's lehren müssen!« meinte der Junge, indem er einen Purzelbaum schlug.

Unterdessen waren Cornelia, Kayette und Napoleone in der Küche beschäftigt und ein leichter, vielverheißender Rauch stieg aus dem kleinen Ofenrohr in die Luft. Wenn sie im Innern der hermetisch verschlossenen Abteilungen nicht von der Kälte litten, so mußten sie um so sorglicher an die draußen Befindlichen denken. Das thaten sie denn auch, indem sie stets einige Schalen heißen Thees mit einem Zusatze von Wódka, jenem russischen Branntwein, der einen Toten neubeleben würde, bereit hielten.


[170]
Die zwei Bunde scheuchten Tausende von Vögeln auf. (Seite 172.)

Was die Pferde angeht, so war ihre Ernährung während des Überganges durch eine genügende Anzahl von Heubündeln gesichert, welche man sich von den Eingeborenen in Port-Clarence verschafft hatte. Wagram und Marengo erhielten reichlich Elentierfleisch, mit dem sie sich zufrieden zeigten.

Übrigens war das Eisfeld nicht so arm an Wild, als man glauben würde. Bei ihren Wettläufen stöberten die Hunde Tausende von Schnee- und [171] Wasserhühnern und anderen, der Polarregion angehörenden Vögel auf. Sorgfältig zubereitet und seines öligen Geschmackes entledigt, vermag dieses Geflügel noch immer ein eßbares Gericht zu liefern. Da Cornelias Speisekammer aber reichliche Vorräte barg, wäre es mehr als überflüssig gewesen, dasselbe zu erlegen, und so beschloß man, die Flinten während der Reise nach Numana ruhen zu lassen.

Was die in diesen Breiten sehr zahlreichen Amphibien, Seehunde und ähnliche Tiere betrifft, so erblickte man während des ersten Tagemarsches kein einziges Exemplar davon.

Wenn die Abreise bei froher Laune vor sich gegangen war, so empfanden Herr Cascabel und seine Gefährten doch bald jene undefinierbare Wehmut, welche über grenzenlosen Ebenen, über unabsehbaren Schneeflächen schwebt. Schon gegen elf Uhr waren die hohen Felsen von Port-Clarence und sogar die Spitzen des Prince-of-Wales-Caps ihren Blicken in dunstiger Ferne entschwunden. Man vermochte nicht über eine halbe Meile hinaus zu sehen und folglich würde es lange dauern, bevor man die Höhen des Ostkaps auf der Tschuktschenhalbinsel erblickte. Und doch würden gerade diese Höhen einen vorzüglichen Orientierungspunkt für die Reisenden gebildet haben.

Die beinahe im Centrum der Meerenge gelegene Insel Diomedes wird von keiner felsigen Anhöhe beherrscht. Da ihre Masse sich kaum über die Meeresfläche erhebt, würde man sie erst in dem Augenblicke gewahr werden, wo die Räder durch die Schneeschicht hindurch auf dem felsigen Boden knirschten. Indessen lenkte Jean, seinen Kompaß zur Hand, die Belle-Roulotte ohne große Mühe, und wenn sie nicht schnell von der Stelle kam, so drang sie doch wenigstens in vollster Sicherheit vor.

Unterwegs plauderten Herr Sergius und Cäsar Cascabel mit Vorliebe über ihre gegenwärtige Lage. Dieses Überschreiten der Meerenge, das vor dem Aufbruche so einfach erschien, das nach der Ankunft nicht minder einfach erscheinen würde, war recht gefährlich, nun man darin begriffen war.

»Unser Unternehmen ist denn doch ein bißchen stark!« sagte Herr Cascabel.

»Ohne Zweifel,« antwortete Herr Sergius, »mit einem schweren Wagen über die Beringstraße setzen, das ist eine Idee, die nicht jedem gekommen wäre!«

»Ich glaub's, Herr Sergius! Aber was wollen Sie? Wenn man sich einmal in den Kopf gesetzt hat, in sein Vaterland zurückzukehren, so kann einen nichts zurückhalten. Ah! Wenn es sich bloß darum handelte, Hunderte von Meilen durch den Far-West oder Sibirien zu ziehen, so würde ich kein Wort darüber verlieren!... Man geht auf festem Boden und riskiert nicht, daß er einem unter den Füßen einstürzt!... Aber zwanzig Meilen Eismeer mit Gespann, Material und allem möglichen passieren!... Teufel! Ich möchte,


Die Eisfläche zeigte große Risse. (Seite 174.)

wir wären schon drüben!... Dann hätten wir den schwierigsten oder doch wenigstens den gefährlichsten Teil der Reise hinter uns.«

[172]

»Gewiß, mein lieber Cascabel, besonders wenn die Belle-Roulotte jenseits der Meerenge die südlichen Gebiete Sibiriens schnell zu erreichen vermag. Der Versuch, während der großen Winterkälte längs der Küste vorzudringen, wäre ein sehr unvernünftiger. So werden wir uns denn gleich von Numana [173] aus nach Südwesten wenden müssen, um in einem der Marktflecken, die wir dort antreffen, ein gutes Winterquartier zu wählen.«

»Das ist unser Plan! Aber Sie müssen ja das Land kennen, Herr Sergius?«

»Ich kenne nur die Gegend zwischen Jakutsk und Ochotsk, durch die ich auf meiner Flucht gekommen bin. Was den Weg von der europäischen Grenze nach Jakutsk betrifft, so habe ich davon nur die Erinnerung an die entsetzlichen Anstrengungen behalten, welchen die Gefangenentransporte Tag und Nacht ausgesetzt sind! Welche Leiden!... Ich würde sie meinem ärgsten Feinde nicht wünschen!«

»Herr Sergius, haben Sie jede Hoffnung aufgegeben, in voller Freiheit, mit Bewilligung der Regierung, in Ihr Vaterland zurückzukehren?«

»Dazu müßte der Zar,« erwiderte Herr Sergius, »eine Amnestie proklamieren, die sich auf den Grafen Narkine und alle mit ihm verurteilten Patrioten erstreckte. Werden politische Ereignisse eintreten, welche einen derartigen Beschluß ermöglichen?... Wer weiß, mein lieber Cascabel!«

»Es ist doch traurig, in der Verbannung zu leben!... Man glaubt, aus seinem eigenen Hause gejagt worden zu sein!...«

»Jawohl!... fern von allen, die man liebt!... Und mein Vater, der schon sehr bejahrt ist... und den ich wieder sehen möchte...«

»Sie werden ihn wiedersehen, Herr Sergius! Glauben Sie einem alten Jahrmarktsfahrer, der beim Wahrsagen oft die Zukunft prophezeit hat! Sie werden mit uns in Perm einziehen!... Gehören Sie doch zu der Truppe Cascabel!... Es wird sich sogar bei Gelegenheit als nützlich erweisen, wenn ich Sie einige Taschenspielerstückchen lehre – abgesehen von dem, der moskowitischen Polizei durch die Finger zu schlüpfen!«

Und Cäsar Cascabel konnte nicht umhin, in schallendes Gelächter auszubrechen. Man denke doch! Graf Narkine, ein russischer Aristokrat, der Gewichte hebt, mit Flaschen jongliert, den Clowns repliziert – und damit Einnahmen erzielt!

Gegen drei Uhr nachmittags mußte die Belle-Roulotte Halt machen. Obgleich es noch nicht Nacht war, beschränkte ein dichter Nebel den Gesichtskreis. Jean kehrte um und riet zum Anhalten, da das Fahren unter diesen Umständen äußerst prekär erschien.

Zudem machten sich, wie Herr Sergius vorausgesehen hatte, in diesem von der östlichen Strömung beeinflußten Teile der Meerenge die Unebenheiten des Eisfeldes, die Kanten der Eisschollen unter dem Schnee bemerkbar. Das Fuhrwerk wurde von den heftigsten Stößen erschüttert. Die Pferde stolperten fast bei jedem Schritte. Ein halber Tagemarsch hatte genügt, sie der Ruhe bedürftig zu machen.


Jeder richtete sich für die Nacht ein. (Seite 176.)

[174]

[175] Im ganzen genommen, hatte die kleine Karawane an diesem ersten Tage höchstens zwei Meilen zurückgelegt.

Sowie der Wagen hielt, kamen Cornelia und Napoleone heraus – von Kopf zu Fuß sorgfältig vermummt, um sich vor den Folgen des jähen Überganges aus einer inneren Temperatur von zehn Grad über Null in eine äußere Temperatur von zehn Grad unter Null zu schützen. Was Kayette betrifft, so hatte sie, an die Rauheit des alaskischen Winters gewöhnt, nicht daran gedacht, sich in ihre warmen Pelze zu hüllen.

»Du mußt dich besser verwahren, Kayette!« sagte Jean zu ihr. »Du läufst Gefahr, dich zu erkälten!«

»O!« meinte sie, »ich fürchte die Kälte nicht; man ist im Youkonthale daran gewöhnt!«

»Trotzdem Kayette!«

»Jean hat recht,« mischte Herr Cascabel sich ein. »Geh ein tüchtiges Oberkleid anlegen, mein Vöglein. Und merke dirs, wenn du dich erkältest, so werde ich dich kurieren, und das wird schrecklich sein!... Ich werde nötigenfalls so weit gehen, dir den Kopf abzuschneiden, um dich am Niesen zu hindern!...«

Angesichts einer solchen Drohung blieb dem jungen Mädchen nichts übrig, als zu gehorchen, und das that es denn auch.

Dann beschäftigten sich alle mit den Vorbereitungen für die Nacht. Dieselben waren bald getroffen. Man brauchte kein Holz im Walde zu hacken, da kein Wald vorhanden war, kein Wachtfeuer anzuzünden, da es an Brennmaterial dazu fehlte, nicht einmal Gras für die Tiere zu schneiden. Die Belle-Roulotte war zur Stelle, mit ihrer gewohnten Behaglichkeit, ihren bereitstehenden Ruhelagern, ihrem gedeckten Tische, ihrer permanenten Gastfreundschaft.

Man brauchte nur Vermout und Gladiator mit einer Portion der von Port-Clarence mitgebrachten Fourage zu versehen. Dann hüllte man die beiden Pferde in dicke Decken ein und überließ sie bis zum morgigen Tage der Ruhe. Der Papagei in seinem Käfig, der Affe in seinem Hängekorbe wurden ebenso wenig vergessen wie die beiden Hunde, welche sich an gedörrtem Fleische gütlich thaten.

Endlich, als die Tiere versorgt waren, setzten Herr Sergius und seine Gefährten sich mit gutem Appetit zu Tische.

»Ei, ei!...« rief Herr Cascabel, »es ist vielleicht das erste Mal, daß Franzosen ein so trefflich serviertes Mahl inmitten der Beringstraße einnehmen!«

»Sehr wahrscheinlich,« antwortete Herr Sergius. »Aber ich rechne darauf, daß wir binnen drei bis vier Tagen wieder einmal auf festem Boden zu Tische gehen werden.«

[176] »In Numana?...« fragte Cornelia.

»Nein, auf der Insel Diomedes, wo wir uns ein, zwei Tage aufhalten werden. Unser Gespann geht so langsam, daß es mindestens einer Woche bedürfen wird, um die asiatische Küste zu erreichen.«

Obgleich es erst fünf Uhr war, als man die Tafel aufhob, weigerte sich niemand, schlafen zu gehen. Eine lange Nachtruhe unter den Decken eines guten Bettes war nicht zu verachten nach dem mühseligen Marsche über Schnee und Eis. Herr Cascabel hielt es nicht einmal für nötig, über die Sicherheit des Lagers zu wachen. In einer solchen Einöde stand kein feindlicher Angriff zu befürchten. Auch würden die Hunde ihres Hüteramtes walten und Lärm schlagen, wenn etwaige Landstreicher – falls es deren gab – sich der Belle-Roulotte näherten.

Indessen erhob Herr Sergius sich zwei- bis dreimal, um den Zustand des Eisfeldes zu ermitteln, welchen ein jäher Temperaturwechsel immerhin verändern konnte: vielleicht war dies seine ernstlichste Sorge. Das Wetter schien sich gleich zu bleiben und eine kleine Brise aus Nordosten wehte über die Eisfläche.

Am folgenden Morgen wurde die Reise unter denselben Umständen fortgesetzt. Sie bot eigentlich keine Schwierigkeiten außer der Ermüdung. Bis zur Ruhestunde legte man drei Meilen zurück und traf dann dieselben Vorkehrungen wie am ersten Abend.

Am nächsten Tage – dem fünfundzwanzigsten Oktober – konnte man erst um neun Uhr morgens aufbrechen und auch da war es noch kaum hell.

Herr Sergius konstatierte, daß die Kälte weniger streng sei. Ein paar verworrene Wolken ballten sich am südöstlichen Horizonte zusammen. Das Thermometer zeigte eine gewisse Tendenz zu steigen, und der Luftdruck begann schwächer zu werden.

»Das gefällt mir nicht, Jean!« sagte Herr Sergius. »Solange wir uns auf dem Eisfelde befinden, dürfen wir nicht klagen, wenn eine noch so strenge Kälte eintritt. Aber leider beginnt das Barometer bei dem umspringenden Winde zu sinken. Was wir am meisten zu befürchten haben, ist ein Steigen der Temperatur. Beobachte wohl den Zustand des Eises, Jean; übersehe keinerlei Wahrzeichen, und kehre unverzüglich um, wenn du eine Veränderung bemerkst!«

»Rechnen Sie auf mich, Herr Sergius!«

Offenbar hätten die von Herrn Sergius befürchteten Veränderungen während des folgenden Monats und bis Mitte April, also im tiefen Winter, nicht eintreten können. Aber der heuer ohnehin verspätete Anbruch des Winters brachte Schwankungen zwischen Kälte und Tauwetter mit sich, die einen teilweisen Bruch des Eisfeldes herbeiführen konnten. Gewiß! es wäre besser gewesen, [177] während dieses Überganges über die Meerenge einer Temperatur von fünfundzwanzig bis dreißig Grad unter Null ausgesetzt zu sein.

Man machte sich im Halbdunkel auf den Weg. Die schwachen, sehr schräg fallenden Sonnenstrahlen vermochten den dichten Nebelschleier nicht zu durchbrechen. Dabei begann der Himmel sich mit langen, niederen Wolkenstreifen zu bedecken, welche der Wind ziemlich schnell gen Norden trieb.

Der voranschreitende Jean beobachtete sorgfältig die Schneedecke, die seit gestern ein wenig aufgeweicht war und unter jedem Schritte des Gespanns nachgab. Nichtsdestoweniger bewältigte man eine Etappe von zwei Meilen und die Nacht verlief ohne Zwischenfall.

Am folgenden Tage – dem siebenundzwanzigsten Oktober – fand der Aufbruch um zehn Uhr statt. Herr Sergius empfand lebhafte Unruhe, als er ein neues Steigen der Temperatur konstatiert hatte – eine wirklich anormale Erscheinung in dieser Jahreszeit und unter dieser Breite.

Da die Kälte weniger empfindlich war, wollten Cornelia, Napoleone und Kayette zu Fuße gehen! Mit Eskimo-Stiefeln versehen, schritten sie ganz munter einher. Alle hatten ihre Augen hinter indianischen Brillen verborgen und gewöhnten sich, durch die darin angebrachten engen Ritze zu sehen. Das machte dem mutwilligen Xander Spaß, der sich, keine Ermüdung scheuend, wie ein Zicklein in Luftsprüngen er ging.

Der Wagen kam durchaus nicht schnell von der Stelle. Die Räder sanken tief in den Schnee ein, was das Ziehen sehr mühsam machte. Wenn die Radfelgen an die Auswüchse und holperigen Kanten der Schollen ankamen, so entstanden Stöße, denen man nicht auszuweichen vermochte. Zuweilen versperrten auch ungeheure, über einander getürmte Blöcke den Weg und nötigten die Reisenden, sie in weitem Bogen zu umgehen. Aber das war bloß eine Verlängerung der Fahrt und man mußte sich glücklich schätzen, auf Unebenheiten statt auf Risse zu stoßen. Wenigstens wurde dadurch die Festigkeit des Eisfeldes nicht verringert.

Unterdessen stieg das Thermometer und sank das Barometer noch immer mit regelmäßiger Langsamkeit. Herr Sergius wurde immer besorgter. Kurz vor Mittag mußten die Frauen sich wieder in den Wagen zurückziehen. Der Schnee begann dicht zu fallen, in kleinen, durchsichtigen Flocken, als wäre er auf dem Punkte, sich in Wasser aufzulösen. Es war, als ob Tausende von Vögeln einen Schauer von leichten, weißen Flaumfedern herabgeschüttelt hätten.

Cäsar Cascabel forderte Herrn Sergius auf, in der Belle-Roulotte Schutz zu suchen; aber dieser weigerte sich. Konnte er nicht ebenso viel ertragen, wie seine Gefährten? Dieser in halbgeschmolzenem Zustande fallende Schnee beunruhigte ihn aufs äußerste; indem er zerfloß, würde er schließlich die Auflösung [178] des Eisfeldes nach sich ziehen. Man mußte sich schleunigst auf den unerschütterlichen Boden der kleinen Insel Diomedes retten.

Und dennoch gebot die Vernunft, nur mit allergrößter Behutsamkeit vorzudringen. Demzufolge schloß Herr Sergius sich Jean hundert Schritte weit vor dem Fuhrwerk an, während Herr Cascabel und Clou bei den häufig stolpernden Pferden blieben. Wenn dem Gefährt ein Unfall zustieß, so würde nichts anderes übrig bleiben, als es mitten auf dem Schneefeld im Stiche zu lassen – ein unersetzlicher Verlust.

Während er neben Jean herschritt, versuchte Herr Sergius, mit seinem Fernrohr bewaffnet, den im Schneegestöber verschwimmenden westlichen Horizont zu erforschen. Der Gesichtskreis war außerordentlich beschränkt. Man konnte die Richtung nur mehr erraten und Herr Sergius würde sicher das Zeichen zum Halten gegeben haben, wäre ihm die Festigkeit des Eisfeldes nicht ernstlich gefährdet erschienen.

»Koste es, was es wolle,« sagte er, »wir müssen die Insel Diomedes noch heute erreichen und dann dort den Eintritt neuer Fröste abwarten!«

»Wie weit glauben Sie, daß wir davon entfernt sind?« fragte Jean.

»Etwa anderthalb Meilen, Jean. Da wir noch zwei Stunden lang Tageslicht oder vielmehr jenes Halbdunkel haben werden, welches uns gestattet, die Richtung einzuhalten, so müssen wir unser möglichstes thun, um vor völliger Dunkelheit dort einzutreffen.«

»Herr Sergius, soll ich vorauseilen, um die Lage der Insel zu ermitteln?...«

»Nein, Jean, nein!« Du würdest Gefahr laufen, dich in diesem Schneegestöber zu verirren, und das wäre eine noch ärgere Verwicklung! Suchen wir uns nach dem Kompaß zu orientieren. Denn wenn wir die Insel Diomedes verfehlen sollten, so weiß ich nicht, was aus uns werden würde...«

»Hören Sie, Herr Sergius?« rief Jean, der sich gebückt hatte.

Herr Sergius folgte seinem Beispiel und vernahm ebenfalls das dumpfe, dem Brechen von Glas ähnliche Krachen, welches über das Eisfeld hinlief. War es der Vorbote eines Eisbruches oder doch einer teilweisen Auflösung? Trotzdem durchschnitt kein Riß die Fläche, soweit man sehen konnte.

Die Lage war äußerst gefährlich geworden. Wenn die Nacht sie unter diesen Umständen überraschte, so liefen die Reisenden Gefahr, irgend einer Katastrophe zum Opfer zu fallen. Die kleine Insel Diomedes war der einzig mögliche Zufluchtsort und man mußte um jeden Preis dort an Land gehen. Wie tief Herr Sergius bedauern mochte, sich nicht noch einige Tage in Port-Clarence geduldet zu haben!

Jean und Sergius kehrten zum Fuhrwerk zurück und Herr Cascabel wurde von der Sachlage unterrichtet. Es war überflüssig, die Frauen mit [179] der etwaigen Gefahr bekannt zu machen. Man würde sie unnütz erschreckt haben. Man beschloß also, sie im Wagen zu belassen, und die Männer stemmten sich an die Räder, um die erschöpften, im Winde schwitzenden Pferde zu unterstützen.

Gegen zwei Uhr ließ der Schneefall merklich nach. Bald fielen nur mehr einzelne Flocken, die der Wind durch die Luft wirbelte. So fiel es leichter, das Gefährt zu lenken. Man trieb die Pferde kräftig an. Herr Sergius war fest entschlossen, nicht eher Halt zu machen, als bis die Belle-Roulotte auf dem Felsen der Insel Diomedes ruhen würde.

Seiner Berechnung gemäß mußte die Insel jetzt kaum mehr eine halbe Meile gen Westen entfernt sein; und vielleicht würde man, wenn das Gespann tüchtig anzog, binnen einer Stunde das Ufer derselben erreichen.

Zum Unglück wurde das bereits unsichere Licht immer schwächer, bis kaum mehr ein matter Widerschein übrig blieb. War man auf dem rechten Wege oder nicht?... Sollte man die eingeschlagene Richtung verfolgen?... Wie konnte man's wissen?

In diesem Augenblick schlugen die Hunde heftig an. Meldeten sie die Nähe einer Gefahr? Hatten sie etwa eine auf dem Übergang begriffene Eskimo- oder Tschuktschenbande aufgespürt? In diesem Falle würde Herr Sergius nicht zögern, die Hilfe dieser Eingeborenen in Anspruch zu nehmen, sich wenigstens von der genauen Lage der kleinen Insel zu unterrichten.

Inzwischen hatte sich eines der Wagenfensterchen geöffnet und man hörte Cornelia fragen, warum Wagram und Marengo so wütend bellten.

Man antwortete ihr, daß man es noch nicht wisse, daß aber kein Grund zu Besorgnis vorhanden sei.

»Sollen wir aussteigen?« fügte sie hinzu.

»Nein, Cornelia!« antwortete Herr Cascabel. »Ihr seid da drinnen am besten geborgen!... Bleibt wo ihr seid!«

»Aber wenn die Hunde irgend ein Tier... zum Beispiel einen Bären... wittern?«

»Nun, dann werden wir es schon erfahren! Halte die Flinten in Bereitschaft! Aber steigt nicht aus!«

»Schließen Sie Ihr Fenster, Frau Cascabel,« sagte Herr Sergius. »Es ist keine Minute zu verlieren.... Wir fahren gleich weiter!«

Das Gespann, das beim ersten Gekläff der Hunde stehen geblieben war, setzte seinen mühseligen Weg fort.

Eine halbe Stunde konnte die Belle-Roulotte etwas schneller vorwärts kommen, da die Oberfläche des Eismeeres weniger holperig war. Die wirklich überarbeiteten Pferde zogen aus allen Kräften, mit gesenktem Kopfe und [180] gespanntem Knie. Man fühlte, daß das eine letzte Anstrengung war und daß sie bald unterliegen würden, wenn die Sache noch länger dauerte.

Es war fast ganz finster. Was noch von Licht durch den Luftraum zitterte, schien eher von der Eisfläche als vom Himmel herzurühren.

Und die beiden Hunde bellten unaufhörlich, indem sie vorausliefen, mit vorgestreckter Schnauze und unbeweglich erhobenem Schweife stehen blieben, und dann wieder zum Gespann zurückkamen.

»Es muß jedenfalls etwas Außerordentliches vor uns sein!« bemerkte Herr Cascabel.

»Die Insel Diomedes!« rief Jean.

Und er wies auf eine Felsenmasse, die einige hundert Schritte vor ihnen undeutlich emporragte.

Und den Beweis, daß Jean sich nicht irrte, lieferten zahllose schwarze Punkte, deren Farbe sich lebhaft von der Eisdecke der Felsen abhob.

»Es muß in der That die Insel sein,« sagte Herr Sergius.

»Ich meine, ich sehe die schwarzen Punkte sich bewegen!« rief Herr Cascabel.

»Sich bewegen?...«

»Jawohl!«

»Ohne Zweifel sind es mehrere Tausend Seehunde, die sich auf die Insel geflüchtet haben...«

»Mehrere Tausend Seehunde?« wiederholte Herr Cascabel.

»Ah! Herr Direktor,« rief Clou-de-Girofle aus, »welch ein Glücksfall, wenn wir uns derselben bemächtigen könnten, um sie auf den Märkten zu zeigen!«

»Und wenn sie Papa sagten!« fügte Xander hinzu.

War das nicht der Herzensschrei eines jungen Gauklers?

2. Capitel
II. Zwischen zwei Strömungen.

Die Belle-Roulotte befand sich endlich auf festem Boden und brauchte das Zusammenbrechen des Eisfeldes nicht mehr zu fürchten. Man kann sich vorstellen, wie die Familie Cascabel den Vorteil, unerschütterlichen Grund unter den Füßen zu spüren, würdigen mußte.

[181] Die Dunkelheit war völlig hereingebrochen. Man traf dieselben Vorkehrungen wie gewöhnlich, indem man das Lager fünf- bis sechshundert Schritte vom Ufer entfernt aufschlug. Dann befaßte man sich mit den Tieren und zuletzt mit den »Leuten von Geist«, wie Cäsar Cascabel sich auszudrücken pflegte.

Es war nicht gerade kalt. Die Quecksilbersäule wies nur mehr vier Grad unter Null auf. Eigentlich war das nicht so wichtig. Während des hiesigen Aufenthaltes hatte man nichts von einem Steigen der Temperatur zu fürchten. Man würde eben warten, bis eine niedere Temperatur das Eisfeld endgültig gefestigt haben würde. Die strenge Winterkälte konnte nicht lange auf sich warten lassen.

Da die Dunkelheit undurchdringlich war, verschob Herr Sergius die Besichtigung der Insel auf den nächsten Tag. Man war vor allem darauf bedacht, das erschöpfte, der Nahrung und Ruhe bedürftige Gespann möglichst gut zu versorgen. Als dann das Nachtmahl aufgetragen war, verlangte jeder schnell seinen Teil, denn man hatte Eile, sich nach so harten Anstrengungen auf bequemem Lager auszustrecken.

Die Insassen der Belle-Roulotte waren bald in Schlaf versunken, und in jener Nacht träumte Cornelia weder von Eisbrüchen, noch Meeresschlünden, in denen ihr rollendes Haus versänke.

Am nächsten Morgen – dem achtundzwanzigsten Oktober –, sobald es hell genug wurde, machten Herr Sergius, Cäsar Cascabel und seine beiden Söhne sich auf, um die Insel in Augenschein zu nehmen.

Was sie zunächst überraschte, war die unglaubliche Menge von Seehunden, sogenannten Biberseehunden, die sich dahin geflüchtet hatten.

In der That trifft man in diesem Teile des Beringmeeres, der im Süden vom fünfundfünfzigsten Grade nördlicher Breite begrenzt wird, die fraglichen Tiere meist in größerer Anzahl an.

Wenn man die Karte betrachtet, so wird einem gewißlich die Formation und besonders die beiderseitige Ähnlichkeit der amerikanischen und der asiatischen Küste auffallen. Sie zeigen beide dasselbe, klar ausgeprägte Profil: das Land beim Prince-of-Wales-Cap bildet ein Gegenstück zu der Tschuktschen-Halbinsel, der Norton-Sund zum Golf von Anadir; die Spitze der alaskischen Halbinsel krümmt sich wie die Halbinsel Kamtschatka und das Ganze ist durch die Inselkette der Aleuten verbunden. Und doch kann man daraus nicht schließen, daß Amerika durch irgend eine plötzliche, prähistorische Umwälzung von Asien losgerissen worden wäre, wodurch sich dann die Beringstraße gebildet hätte; denn die Vorsprünge der einen Küste decken sich nicht mit den Buchten der anderen.

In diesen Seestrichen liegen zahlreiche Inseln: die bereits erwähnte St. Laurentius-Insel, Noumivak an der amerikanischen, Karaghinskii an der [182] asiatischen Küste; dann, nächst dem Ufer von Kamtschatka, die Beringinsel mit dem kleinen Kupfereiland, und in geringer Entfernung vom alaskischen Strande die Pribyloff-Inseln. Die Ähnlichkeit der Küsten wird also durch eine identische Anlage der Inselgruppen vervollständigt.

Die Pribyloff-Inseln und die Beringinsel dienen den in diesem Meere hausenden Seehunden ganz besonders zur Wohnstätte. Sie zählen hier nach [183] Tausenden. Und so sind diese Inseln denn auch der Versammlungsort der Berufsjäger auf Robben und Seeottern, welch letztere noch vor einem Jahrhundert sehr zahlreich waren, jetzt aber infolge übermäßiger Tötung selten geworden sind.

Hingegen kommen die Robben – ein Gattungsname, welcher zur allgemeinen Bezeichnung der Seehunde, Seebären und Seelöwen dient – hier in so unzähligen Trupps zusammen, daß ihre Rasse niemals erlöschen zu sollen scheint.


Höchst überraschend war ihnen die unglaubliche Anzahl von Seehunden. (Seite 184.)

Und doch! welche Jagd man während der heißen Jahreszeit auf sie macht! Die Jäger verfolgen sie ohne Gnade bis in die »Rookeries«, jene Art natürlicher Gehege, wo die Familien sich gruppieren. Namentlich die ausgewachsenen Tiere werden unbarmherzig aufgespürt, und die Rasse würde schließlich verschwinden, wenn sie nicht so außerordentlich fruchtbar wäre.

Nach angestellten Berechnungen sind von 1867 bis 1880 in den Gehegen der Beringinsel allein 388982 Robben getötet worden. Auf den Pribyloff-Inseln haben die alaskischen Fischer im Laufe des Jahrhunderts 3500000 Felle gesammelt, und noch heute liefern sie jährlich mindestens 100000.

Und wie viele bleiben nicht noch auf den übrigen Inseln des Beringmeeres! Herr Sergius und seine Gefährten konnten sich einen Begriff davon machen nach dem, was sie auf der Insel Diomedes sahen. Das ganze Ufer wimmelte von Seehunden, die so dicht gedrängt lagen, daß man nichts von der Schneedecke unter ihnen gewahrte.

Wenn man sie indessen betrachtete, so betrachteten auch sie die Besucher der kleinen Insel. Regungslos, unruhig, vielleicht gereizt über diese Besitzergreifung ihrer Domäne, suchten sie nicht zu fliehen und stießen hin und wieder eine Art langgezogenes Blöken aus, dem man eine gewisse Wut anhörte. Dann richteten sie sich in die Höhe und schlugen heftig mit ihren fächerförmig ausgespreizten Schwimmflossen.

Ah! wenn diese Tausende von Seehunden, wie der junge Xander gewünscht, die Gabe der Rede besessen hätten, welch ein Donner von Papas von ihren bärtigen Lippen erschollen wäre!

Selbstverständlich kam es weder Herrn Sergius, noch Jean in den Sinn, auf dieses Heer von Seehunden zu schießen. Zwar lief dort, wie Herr Cascabel sagte, »ein Vermögen an Fellen herum«. Aber es wäre ein nutzloses und sogar gefährliches Gemetzel gewesen. Die Tiere, furchtbar durch ihre Anzahl, hätten die Lage der Belle-Roulotte sehr bedenklich gestalten können. Herr Sergius empfahl denn auch die äußerste Vorsicht.

Andererseits aber enthielt die Anwesenheit so vieler Seehunde auf der kleinen Insel einen Fingerzeig, den man nicht unbeachtet lassen durfte. Mußte man sich doch fragen, warum die Tiere diese Felsenriffe aufgesucht hatten, die ihnen keinerlei Hilfsquellen boten.

[184] Diesbezüglich fand eine sehr ernste Erörterung zwischen Herrn Sergius, Cäsar Cascabel und dessen ältestem Sohne statt. Sie hatten sich in die Mitte der Insel begeben, während die Frauen ihren häuslichen Pflichten oblagen und Clou und Xander die Tiere versorgten.

Herr Sergius leitete die Erörterung mit den Worten ein:

»Meine Freunde, wir müssen ermitteln, ob es besser wäre, die Insel Diomedes zu verlassen, sobald das Gespann ausgeruht hat, oder unsere Rast hier zu verlängern!...«

»Herr Sergius,« antwortete Cäsar Cascabel »ich glaube, wir sollten uns nicht aufhalten, um auf diesem Felsen Robinson zu spielen!... Ich gestehe, ich habe Eile, ein Stück sibirischer Küste unter meiner Ferse zu spüren!«

»Das ist begreiflich, Vater,« versetzte Jean; »und doch ist es nicht ratsam, sich Gefahren auszusetzen, wie wir's bisher gethan haben. Was wäre aus uns geworden ohne diese kleine Insel? Es ist noch etwa zehn Meilen Weges bis Numana...«

»Nun, Jean, mit einiger Anstrengung könnten die Pferde das in zwei bis drei Etappen überwinden...«

»Das ginge schwer,« antwortete Jean, »selbst wenn der Zustand des Eisfeldes es gestattete!«

»Ich glaube, Jean hat recht,« bemerkte Herr Sergius. »Es ist selbstverständlich, daß wir Eile haben, über die Meerenge zu kommen; aber da die Temperatur so unvermutet mild geworden, scheint es mir nicht recht weise, das feste Land zu verlassen. Wir sind zu früh von Port-Clarence aufgebrochen, sehen wir zu, daß wir nicht zu früh von der Insel Diomedes aufbrechen! So viel ist gewiß, die Meerenge ist nicht in ihrer ganzen Ausdehnung fest zugefroren...«

»Und daher jenes Krachen, das ich noch gestern hörte,« fügte Jean hinzu. »Es rührt offenbar von der ungenügenden Verbindung der Schollen her...«

»Ja, das ist ein Beweis,« antwortete Herr Sergius; und es giebt noch einen...«

»Welchen?...« fragte Jean.

»Einen, der mir nicht minder überzeugend scheint: es ist die Anwesenheit dieser Tausende von Seehunden, welche ihr Instinkt auf die Insel Diomedes getrieben hat. Ohne Zweifel waren diese Tiere auf der Wanderung aus den nördlicheren Seestrichen nach der Beringinsel oder den Aleuten begriffen, als sie irgend ein nahes Unheil witterten. Sie werden gefühlt haben, daß sie nicht auf dem Eisfeld bleiben durften. Bereitet sich unter dem Einfluß der Temperatur ein Umschwung vor, oder droht irgend eine unterseeische Naturerscheinung, welche das Eisfeld unsicher macht? ich weiß es nicht. Aber wenn [185] wir Eile haben, die sibirische Küste zu gewinnen, so werden diese Tiere nicht weniger Eile haben, ihre Rookeries auf der Beringinsel oder den Pribyloffinseln zu erreichen; und wenn sie auf der Insel Diomedes Halt machen, so müssen sie triftige Gründe dazu haben.«

»Und was ist also ihre Meinung, Herr Sergius?« fragte Herr Cascabel.

»Meine Meinung ist, daß wir solange hier bleiben sollen, bis die Seehunde uns durch ihren eigenen Aufbruch anzeigen, daß wir ohne Gefahr weiter reisen können.«

»Teufel!... Das ist ein höllisches Mißgeschick!«

»Kein sehr ernstes, Vater,« versetzte Jean; »hoffen wir, daß wir nie ein schlimmeres erfahren werden!«

»Zudem kann dieser Zustand nicht lange anhalten,« fügte Herr Sergius hinzu. »So lange der Winter auch heuer auf sich warten läßt, so sind wir doch bald zu Ende Oktober, und wenngleich das Thermometer augenblicklich auf Null steht, so kann es doch von einem Tage auf den andern um 20 Grad sinken. Sobald der Wind nach Norden umspringt, wird das Eisfeld so zuverlässig wie das Festland sein. Folglich ist es meine wohlerwogene Meinung, daß wir warten sollen, wenn wir nicht zum Aufbruch gezwungen werden.«

Das war zum mindesten vernünftig. Und so beschloß man denn, daß die Belle-Roulotte solange auf der Insel Diomedes verweilen solle, bis der Übergang über die Meerenge infolge eines intensiven Frostes gefahrlos geworden sei.

Im Laufe des Tages besichtigten Herr Sergius und Jean einen Teil jener Granitmasse, die ihnen so volle Sicherheit gewährte. Die Insel hatte einen Umfang von drei Kilometern. Selbst im Sommer mußte sie absolut unfruchtbar sein. Eine Anhäufung von Felsen, nichts weiter. Aber trotzdem würde sie eine genügende Unterlage für die Pfeiler der von Frau Cascabel gewünschten Beringsbrücke bilden können, falls die russischen und amerikanischen Ingenieure je daran denken sollten, die beiden Kontinente zu vereinen – im Gegensatze zu dem, was Herr v. Lesseps so gern thut.

Auf ihrem Spaziergange hüteten die Besucher sich wohl, die Seehunde zu erschrecken. Und dennoch war es augenscheinlich, daß die Gegenwart menschlicher Wesen diese Tiere in einem mindestens eigentümlichen Zustande der Aufregung erhielt. Es waren große Männchen unter ihnen, welche heisere Töne ausstießen und ihre Familien um sich versammelten – meist sehr zahlreiche Familien, denn sie sind Polygamisten und vierzig bis fünfzig ausgewachsene Seehunde erkennen gewöhnlich einen Vater an.

Diese ziemlich unfreundliche Stimmung beunruhigte Herrn Sergius, besonders als er eine gewisse Neigung der Seehunde bemerkte, sich dem Lager zu nähern. Einzeln waren sie nicht zu fürchten; aber es würde schwer, sogar [186] unmöglich sein, solchen Massen zu widerstehen, wenn ihre Stimmung sie veranlaßte, die Eindringlinge zu vertreiben, welche ihnen den Besitz der Insel Diomedes streitig machten. Auch Jean fiel diese Absonderlichkeit auf, und er und Herr Sergius kehrten ziemlich beunruhigt zurück.

Der Tag verlief ohne Zwischenfall, nur daß die von Südosten wehende Brise stärker ward. Offenbar war irgend ein großer Sturm im Anzuge, vielleicht [187] einer jener heftigen Polarstürme, die mehrere Tage hindurch wüten, – darauf deutete das jähe Sinken der Barometersäule, die zweiundsiebzig Centigrade aufwies.


Wenn sie uns angreifen, so ist jeder Widerstand nutzlos. (Seite 198.)

Wenn sie uns angreifen, so ist jeder Widerstand nutzlos. (Seite 198.)


Die Nacht ließ sich also sehr schlecht an. Und dazu hatten die Reisenden sich noch kaum ins Innere der Belle-Roulotte zurückgezogen, als ein tausendstimmiges Geheul, über dessen Natur man sich nicht täuschen konnte, den Lärm der Windstöße vergrößerte. Die Seehunde hatten sich dem Gefährt genähert und begannen auf dasselbe einzudringen. Die Pferde schnaubten vor Angst, einen Angriff dieser Massen gewärtigend, welche Wagram und Marengo in ohnmächtiger Wut anbellten. Man mußte wieder aufstehen, hinauseilen und Vermout und Gladiator dicht zum Wagen bringen, um über sie wachen zu können. Revolver und Flinten wurden geladen. Indessen riet Herr Sergius, sich derselben nur im äußersten Notfalle zu bedienen. Die Nacht war schwarz. Da man in der tiefen Dunkelheit nichts sehen konnte, zündete man die Wagenlaternen an. Bei ihrem Scheine erblickte man Tausende von Seehunden, welche die Belle-Roulotte umringten und zweifelsohne nur auf den Tag warteten, um sie anzugreifen.

»Wenn sie sich auf uns stürzen, so wird kein Widerstand möglich sein,« sagte Herr Sergius; »wir laufen Gefahr, unter ihren Massen erdrückt zu werden.«

»Was thun?...« fragte Jean.

»Wir müssen fort!«

»Wann?...« fragte Herr Cascabel.

»Augenblicklich!« antwortete Herr Sergius.

Hatte Herr Sergius angesichts dieser gewiß sehr ernsten Gefahr recht, die Insel verlassen zu wollen? Ja, es war der einzig mögliche Ausweg. Sehr wahrscheinlich wollten die Seehunde die auf ihrem Gebiete Obdach suchenden Menschen bloß vertreiben und würden sie nicht über das Eisfeld verfolgen. Andererseits wäre der Versuch, sie mit Gewalt zu zerstreuen, mehr als unvorsichtig gewesen. Was vermochten Flinten und Revolver wider diese Tausende von Tieren?

Die Pferde wurden eingespannt; die Frauen zogen sich in ihre Abteilungen zurück; und die Männer schritten, zur Verteidigung bereit, auf beiden Seiten des Gefährtes einher, welches sich von neuem gen Westen bewegte.

Die Nacht war so stichfinster, daß die Wagenlaternen die Fläche kaum zwanzig Schritt weit zu beleuchten vermochten. Inzwischen brach der Sturm in voller Wut los. Es schneite nicht; die Flocken, welche durch die Luft flatterten, hatte der Wind von der Oberfläche des Eisfeldes aufgewirbelt.

Wäre das Eis nur völlig fest gewesen! Aber das war es nicht. Man fühlte die Schollen mit lang gezogenem Krachen nachgeben. Spalten entstanden, durch welche das Meerwasser emporspritzte.

[188] So ging es während einer Stunde weiter, unter beständiger Furcht, daß man einbrechen werde. Es war nicht mehr möglich, eine genaue Richtung einzuhalten, wenngleich Jean dieselbe wohl oder übel nach der Magnetnadel zu bestimmen suchte. Zum Glück hatte man auf dem Marsche nach der Westküste nicht so, wie bei der Insel Diomedes zu befürchten, daß man sie links oder rechts von sich liegen lassen werde, ohne sie zu bemerken. Die sibirische [189] Küste dehnte sich zehn Meilen weit am Horizonte aus und war somit nicht zu verfehlen.


Der Windstoß entfesselte sich mit erneuter Macht. (Seite 190.)

Der Windstoß entfesselte sich mit erneuter Macht. (Seite 190.)


Aber man mußte sie erreichen, und die erste Bedingung dazu war, daß die Belle-Roulotte nicht in den Tiefen des Beringmeeres versinke!

Wenn diese Gefahr aber auch die drohendste war, so war sie doch nicht die einzige. Dem Anprall des wütenden Sturmes von der Seite ausgesetzt, drohte das Gefährt jeden Augenblick umzuschlagen. Vorsichtshalber hatte man sogar Cornelia, Napoleone und Kayette aussteigen lassen müssen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou klammerten sich an die Räder und mühten sich, den Wagen aufrecht zu halten. Man kann sich denken, wie langsam die Pferde unter diesen Umständen weiterkamen und wie schwer sie sich auf den Beinen hielten.

Gegen halb sechs Uhr morgens – am neunundzwanzigsten Oktober – inmitten einer ebenso dichten Finsternis wie die, welche die Räume zwischen den Sternen erfüllt, war man gezwungen, Halt zu machen. Das Gespann kam nicht weiter. Die Eisfläche hob und senkte sich unter dem Einfluß der Wogen, welche der Sturm aus den südlicheren Strichen des Beringmeeres herauftrieb.

»Was ist da zu machen?...« fragte Jean.

»Wir müssen auf die Insel zurückkehren!« rief Cornelia, der es nicht gelang, die tödlich erschrockene Napoleone zu beruhigen.

»Das ist jetzt nicht mehr möglich!« antwortete Herr Sergius.

»Warum nicht?« entgegnete Herr Cascabel. »Ich schlage mich noch immer lieber mit Seehunden herum, als...«

»Ich wiederhole Ihnen, daß es uns jetzt unmöglich ist, auf die Insel zurückzukehren!« erklärte Herr Sergius. »Wir müßten gegen den Sturm gehen und unser Wagen könnte ihm keinen Widerstand leisten! Er wird zertrümmert, wenn er nicht vor dem Sturm flieht!...«

»Wenn wir nur nicht gezwungen werden, ihn im Stiche zu lassen!...« sagte Jean.

»Ihn im Stiche lassen!« rief Herr Cascabel. »Und was soll ohne unsere Belle-Roulotte aus uns werden?...«

»Wir werden alles thun, um es nicht dazu kommen zu lassen!« antwortete Herr Sergius. »Ja!... Dieser Wagen ist unser Heil und wir werden ihn um jeden Preis zu retten suchen...«

»Also ist es nicht möglich umzukehren?...« fragte Herr Cascabel.

»Nein; wir müssen vorwärts zu kommen suchen!« erwiderte Herr Sergius. »Nur Mut, kaltes Blut und wir werden Numana schon erreichen!«

Diese Worte wirkten neubelebend auf alle. Es war nur allzu klar, daß der Sturm die Rückkehr nach der Insel Diomedes unmöglich machte. Er blies mit solchem Ungestüm aus Südosten, daß weder Tier noch Menschen wider ihn anzukämpfen vermochten.


Die beiden unglücklichen Tiere verschwanden. (Seite 192.)

Die Belle-Roulotte konnte nicht einmal mehr stehend verharren. Der bloße Versuch, den Luftdruck auszuhalten, hätte sie zu Falle gebracht.

Gegen zehn Uhr war der Tag teilweise angebrochen – ein grauer, uebliger Tag. Die niedrigen, zerrissenen Wolken fegten wie Dunst über die Meerenge [190] hin. Schnee und Eissplitter wirbelten durch die Luft. Unter so ungünstigen [191] Umständen legte man in anderthalb Stunden nur eine halbe Meile zurück, da man auch noch die Wasserlachen und die auf dem Eisfeld angehäuften Schollen umgehen mußte. Der vom offenen Meere herrollende Wogenschlag ließ die ganze Fläche unaufhörlich schwanken und krachen.

Plötzlich, gegen drei Viertel auf Eins, verspürte man eine heftige Erschütterung. Ein weites Netz von strahlenförmigen Rissen wurde rings um das Gefährt sichtbar... Unter den Hufen des Gespanns that sich ein Spalt von dreißig Fuß Breite auf.

Ein Warnungsruf des Herrn Sergius brachte seine Gefährten wenige Schritte vor diesem Spalt zum Stehen.

»Unsere Pferde!... Unsere Pferde!...« schrie Jean. »Vater, retten wir unsere Pferde!...«

Es war zu spät. Die armen Tiere verschwanden unter den einbrechenden Eistafeln. Wären die Deichsel und die Stränge nicht abgerissen, so würde die Belle-Roulotte ebenfalls in die Tiefen des Meeres gestürzt sein.

»Unsere armen Tiere!« rief Herr Cascabel verzweifelt.

Ja! Die alten Freunde des Gauklers, mit denen er die Welt durchstreift hatte, die treuen Gefährten, die sein Wanderleben solange geteilt, sie waren vom Meer verschlungen! Große Thränen netzten die Augen des Herrn Cascabel, seiner Frau und seiner Kinder.

»Zurück!... Zurück!« schrie Herr Sergius.

Und indem man sich mit aller Kraft gegen die Räder des Wagens stemmte, gelang es, denselben von dem Spalt zu entfernen, der durch das Schwanken des Feldes immer weiter wurde. So schob man das Gefährt einige zwanzig Schritte zurück, aus dem Bereiche des Eisbruchs.

Aber die Lage war trotzdem sehr bedenklich. Was sollte man jetzt thun? Die Belle-Roulotte inmitten der Meerenge zurücklassen, um sie später, nachdem man Numana erreicht, mit einem Renntiergespann abholen zu kommen?... Es schien wirklich nichts anderes übrig zu bleiben. Plötzlich schrie Jean auf:

»Herr Sergius, Herr Sergius!... Sehen Sie nur!... Wir treiben!...«

»Treiben?...«

Es war nur allzu wahr.

Augenscheinlich hatte ein allgemeiner, jäher Eisbruch die Schollen zwischen den beiden Ufern der Meerenge in Bewegung gesetzt. Im Verein mit dem Steigen der Temperatur hatten die wütenden Windstöße das in der Mitte ungenügend gefestigte Eisfeld zertrümmert. Indem die brechenden Schollen teils auf, teils unter dasselbe geschleudert wurden, entstanden breite Kanäle, durch welche das schwimmende Eiland, das die Belle-Roulotte trug, vor dem Sturme gegen Norden trieb. Einige festsitzende Eisberge bildeten [192] Orientierungspunkte, nach denen Herr Sergius die Richtung ihrer unfreiwilligen Fahrt zu bestimmen vermochte.

Man sieht, wie sehr die schon durch den Verlust des Gespanns bedenklich gewordene Lage sich noch verschlimmert hatte. Selbst wenn man den Wagen zurücklassen wollte, würde man Numana nicht mehr erreichen können. Es handelte sich nicht mehr um Risse, die man zu umgehen vermochte, sondern um zahlreiche, absolut unpassierbare Kanäle, deren Richtung sich nach den Launen des Wogenschlages jeden Augenblick veränderte. Und dann, wie lange würde die Eistafel, welche die Belle-Roulotte trug und deren Fortbewegung man nicht hindern konnte, dem Anprall der gegen ihre Ränder schlagenden Wellen Widerstand leisten?

Nein, es war nichts zu machen! Jeder Versuch, die Fahrt nach der sibirischen Küste hin zu lenken, wäre fruchtlos gewesen. Der schwimmende Eisblock würde weiter treiben, bis irgend ein Hindernis ihn aufhielt, und wer wußte, ob dies Hindernis nicht die Eisbarriere an den Grenzen des Polarmeeres sein würde!

Gegen 2 Uhr nachmittags war die Dunkelheit, durch die windgepeitschten Nebelstreifen vergrößert, bereits so dicht, daß der Ausblick sehr beschränkt er schien. Auf der Nordseite der Belle-Roulotte gegen den Sturm geschützt, verharrten Herr Sergius und seine Gefährten in tiefem Schweigen. Was hätten sie sagen sollen, wo kein Versuch zur Abhilfe möglich war? In Decken gehüllt, kauerten Cornelia, Kayette und Napoleone dicht beisammen. Der junge Xander, mehr erstaunt als geängstigt, pfiff eine Arie. Clou beschäftigte sich damit, die durch die Erschütterung durcheinander geworfenen Gegenstände im Innern der Abteilungen wieder an Ort und Stelle zu bringen. Herr Sergius und Jean hatten ihre Kaltblütigkeit bewahrt, nicht aber Herr Cascabel, der sich die bittersten Vorwürfe machte, seine Leute in eine so gewagte Lage gebracht zu haben.

Es war jetzt vor allem von Wichtigkeit, sich über die Situation klar zu werden. Man wird sich erinnern, daß zwei Strömungen in entgegengesetzter Richtung, die eine nach Süden, die andere nach Norden, durch die Beringstraße fließen Wenn die mit dem Personal und dem Material der Belle-Roulotte belastete Eistafel von der ersteren ergriffen wurde, so wandte sie sich unfehlbar zurück und konnte möglicherweise an die sibirische Küste geschwemmt werden. Geriet sie aber in die nördliche Strömung, so würde sie ins Eismeer hinauf treiben, wo sie weder auf festes Land, noch auf Inselgruppen treiben konnte.

Unglücklicherweise drehte der Orkan sich immer mehr nach Süden, je stärker er wurde. In dem durch die Meerenge gebildeten Trichter entstand eine Luftströmung, deren Gewalt man sich kaum vorstellen kann.

[193] Soviel vermochten Herr Sergius und Jean zu konstatieren. Sie sahen auch, daß jede Möglichkeit schwand, von der südlichen Strömung ergriffen zu werden. Der Kompaß wies auf eine nördliche Richtung des Eistreibens. Durste man also hoffen, daß die Eistafel an der alaskischen Küste beim Prince-of-Wales-Kap, in der Nähe von Port-Clarence, stranden werde? Das würde wirklich ein segensreicher Ausgang sein. Aber die Meerenge endet in einer so weiten Öffnung zwischen dem Ostkap und dem Prince-of-Wales-Kap, daß es unvernünftig gewesen wäre, sich dieser Hoffnung hinzugeben.

Es wurde fast unmöglich, seinen Platz auf der Eistafel zu behaupten, da niemand in dem rasenden Sturme aufrecht stehen konnte. Jean, der den Zustand des Meeres auf der Südseite ermitteln wollte, wurde umgeworfen und würde ins Wasser geschleudert worden sein, wenn Herr Sergius ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre.

Welche Nacht sie verbrachten, die armen Schiffbrüchigen – denn sie waren wirklich in der Lage von Leuten, die sich aus einem Schiffbruch gerettet haben. Welche unaufhörliche Todesangst! Bald prallten Eisberge von beträchtlicher Größe an ihr schwimmendes Eiland an, so daß es schwankend zu zerschellen drohte. Bald fegten schwere Sturzwellen darüber hin und schienen es verschlingen zu wollen. Alle erstarrten unter diesen Douchen, die der Wind über ihren Häuptern zerstäubte. Man hätte denselben nur ausweichen können, indem man wieder in den Wagen stieg; aber derselbe schwankte so heftig unter den Windstößen, daß weder Herr Sergius noch Herr Cascabel ihn als Zufluchtsort zu empfehlen wagten.

So verflossen endlose Stunden. Da die Kanäle aber immer breiter wurden, war das Treiben nicht mehr mit so großen Erschütterungen verbunden. Hatte die Eistafel den engen Teil der Beringstraße passiert und näherte sie sich der wenige Meilen davon entfernten Öffnung ins Eismeer? War sie über den Polarkreis hinaus gekommen? Kurz, hatte die nördliche Strömung den Sieg über die südliche davon getragene Und mußte dann die Tafel, falls die amerikanische Küste sie nicht aufhielt, nicht bis an die ungeheure Eisbarriere getrieben werden?

Wie langsam der Tag herankam – der Tag, welcher ihnen wenigstens gestatten würde, ihre Lage genau zu übersehen. Die armen Frauen beteten... Die Rettung konnte ihnen nur mehr von Gott kommen.

Endlich brach der Tag an – der dreißigste Oktober. Er brachte keine Ausgleichung der atmosphärischen Strömungen mit sich. Die Wut des Sturmes schien sich nach Sonnenaufgang sogar zu verdoppeln.

Den Kompaß zur Hand, prüften Herr Sergius und Jean den Horizont; vergeblich suchten sie im Osten oder Westen Land zu entdecken.


Nicht endenwollende Skunden verflossen. (Seite 194.)

Die Eistafel – das war nur allzu gewiß – war von [194] der nördlichen Strömung nach Norden getragen worden.

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Man kann sich denken, daß dieser Sturm die Bewohner von Port-Clarence in die größte Besorgnis wegen des Schicksals der Familie Cascabel [195] versetzte. Aber wie hätten sie derselben zu Hilfe kommen können, da der Eisbruch jeden Verkehr mit der asiatischen Küste abschnitt?...

Ebenso machtlos waren die beiden russischen Polizisten in Numana, welche achtundvierzig Stunden früher über die Meerenge gekommen waren und die Abfahrt der Belle-Roulotte gemeldet hatten. Allerdings war es nicht aus Mitgefühl, daß sie sich um die kleine Truppe sorgten. Bekanntlich erwarteten sie den Grafen Narkine an der sibirischen Küste, um sich seiner Person zu bemächtigen... Und nun war Graf Narkine aller Wahrscheinlichkeit nach mit der ganzen Familie Cascabel im Eise umgekommen.

Drei Tage später schwand der letzte Zweifel daran; denn die Strömung warf zwei Pferdeleichen in einer kleinen Bucht bei Numana ans Land. Es waren die Kadaver Vermouts und Gladiators, welche das alleinige Gespann der Gaukler gebildet hatten.

»Meiner Treu!« sagte einer der Polizeibeamten, »wir haben wohl daran gethan, die Meerenge vor unserem Manne zu passieren!...«

»Ja,« antwortete der andere, »aber es ist doch ärgerlich, um einen so guten Fang gekommen zu sein!«

3. Capitel
III. Im Treibeis.

Man weiß jetzt, in welcher Lage die Schiffbrüchigen sich am dreißigsten Oktober befanden. Konnten sie sich irgend einer Täuschung über ihr Schicksal hingeben, sich an eine noch so schwache Hoffnung anklammern?... Durch die Beringstraße treibend, hätten sie besten Falls von der südlichen Strömung erfaßt und an die asiatische Küste geführt werden können... Die nördliche Strömung trieb sie ins offene Meer hinaus.

Was sollte dort aus der Eistafel werden, wenn anders sie nicht zerschmolz oder zerschellte? Würde sie irgend ein arktisches Land erreichen? Würde sie von den um diese Zeit herrschenden Ostwinden Hunderte von Meilen weit getrieben und schließlich auf die Klippen Spitzbergens oder Nowaja-Semljas geworfen werden? Und würde es in letzterem Falle den Schiffbrüchigen, wenn auch um den Preis furchtbarer Anstrengungen, gelingen, das Festland zu erreichen?

[196] Es waren die Folgen dieser letzten Hypothese, an die Herr Sergius dachte. Er sprach mit Herrn Cascabel davon, während sein forschender Blick über den in Nebeln verschwimmenden Horizont hinschweifte.

»Meine Freunde,« sagte er, »wir befinden uns ohne Zweifel in großer Gefahr, da die Eistafel jeden Augenblick unter uns zusammenbrechen kann und wir dieselbe nicht zu verlassen vermögen...«

»Ist das die größte Gefahr, die uns droht?« fragte Herr Cascabel.

»Augenblicklich ja!« antwortete Herr Sergius; »aber beim Eintritt neuer Kälte wird diese Gefahr sich verringern und schließlich sogar schwinden. Und in dieser Jahreszeit, unter dieser Breite ist es unmöglich, daß die Temperatur sich länger als einige Tage auf dieser Höhe erhalte.«

»Sie haben recht, Herr Sergius,« sagte Jean. »Aber... wohin wird die Eistafel gehen, wenn sie erhalten bleibt?«

»Meiner Ansicht nach wird sie keinesfalls sehr weit treiben, sondern bald an irgend ein Eisfeld stoßen und anfrieren. Sowie das Meer endgültig dann zufriert, werden wir das Festland zu erreichen suchen, um unsern alten Reiseplan wieder aufzunehmen...«

»Und wie werden wir unser versunkenes Gespann ersetzen?« rief Herr Cascabel. »Ach! meine armen Tiere! meine armen Tiere!... Herr Sergius, diese wackeren Tiere gehörten zur Familie und es ist meine Schuld, wenn...«

Herr Cascabel war untröstlich. Sein Kummer kannte keine Grenzen mehr. Er klagte sich an, jene Katastrophe herbeigeführt zu haben. Mit Pferden über ein Meer setzen – hatte man je so etwas gehört?... Und er dachte vielleicht mehr an die Tiere selber, als an die Verlegenheit, die ihr Verschwinden ihm bereitete.

»Ja, es ist ein unersetzlicher Verlust in der Lage, in welche jener Eisbruch uns versetzt hat,« sagte Herr Sergius. »Wir Männer können die Entbehrungen und Anstrengungen, die er nach sich zieht, noch allenfalls ertragen. Aber was werden Frau Cascabel, was werden Kayette und Napoleone, die beide fast noch Kinder sind, anfangen, wenn wir die Belle-Roulotte zurücklassen?«

»Zurücklassen!...« schrie Herr Cascabel auf.

»Es wird dahin kommen, Vater!«

»Wahrhaftig,« sagte Herr Cascabel, sich selber mit der Faust drohend »es hieß Gott versuchen, daß ich eine solche Reise unternahm!... Einen solchen Weg einzuschlagen, um nach Europa zurückzukehren!«

»Seien Sie nicht kleinmütig, mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »Blicken wir der Gefahr ohne Zagen ins Auge! Das ist das sicherste Mittel sie zu überwinden!«

»Siehst du, Vater,« fügte Jean hinzu, »was geschehen ist, ist geschehen, [197] und wir waren alle einverstanden, daß es geschehen solle. Klage dich also keiner allzu großen Unbesonnenheit an und sei so energisch wie früher.«

Aber trotz dieser ermutigenden Reden war Herr Cascabel niedergeschlagen; sein Selbstvertrauen, seine natürliche Philosophie hatten einen rauhen Stoß erhalten.

Inzwischen suchte Herr Sergius mit allen ihm zu Gebote stehenden Behelfen, Benützung des Kompasses und aller möglichen Orientierungspunkte, die Richtung der Strömung zu ermitteln. Dieser Art der Beobachtung widmete er sogar die wenigen Tagesstunden, welche den Horizont erhellten.

Es war keine leichte Arbeit, denn die Orientierungspunkte verschoben sich unaufhörlich. Überdies schien das Meer jenseits der Meerenge weit und breit eisfrei zu sein. Man sah, daß das arktische Eisfeld bei der anormalen Temperatur noch gar nicht völlig gebildet gewesen war. Wenn es einige Tage so geschienen, so war es, weil die unter dem Einflusse der bewußten Strömungen von Süden und von Norden kommenden Schollen sich in der engen Straße zwischen beiden Festländern gestaut hatten.

Auf Grund seiner vielfachen Beobachtungen glaubte Herr Sergius behaupten zu können, daß die verfolgte Richtung sich sehr merklich gegen Nordwesten wende. Das rührte zweifellos daher, daß die Strömung, nachdem sie die Beringstraße hinter sich gelassen, in weitem Bogen, über den Polarkreis hinaus, um die sibirische Küste herumfloß.

Zugleich konnte Herr Sergius konstatieren, daß der noch immer wütende Sturm voll aus Südost blies. Wenn er kurze Zeit hindurch aus Süden zu kommen schien, so war das, weil die Anlage der Küsten seine allgemeine Richtung beeinträchtigt hatte, bis er nun auf hoher See dazu zurückkehrte.

Sobald dieser Sachverhalt ermittelt worden, begab Herr Sergius sich zu Cäsar Cascabel und erklärte ihm, daß man sich unter den obwaltenden Verhältnissen nichts besseres wünschen könne. Diese gute Nachricht beruhigte das Familienoberhaupt ein wenig.

»Ja,« erwiderte er; »es ist immerhin etwas, gerade in der Richtung fortzukommen, welche man einschlagen gewollt!... Aber, welch ein Umweg, großer Gott, welch ein Umweg!«

Die Schiffbrüchigen gingen nun daran, sich möglichst gut einzurichten, als ob ihr Aufenthalt auf dem schwimmenden Eiland von langer Dauer sein sollte. Vor allem beschloß man, auch fernerhin in der Belle-Roulotte zu wohnen, die weniger dem Umwerfen ausgesetzt war, da sie dem Anprall des Orkans nachgab.

Cornelia, Kayette und Napoleone durften sie wieder besteigen und sich mit der Küche befassen, die vierundzwanzig Stunden lang absolut vernachlässigt worden war. Das Mahl war bald bereitet; man setzte sich zu Tische; und [198] wenn die Speisen auch nicht wie gewöhnlich durch frohe Reden gewürzt wurden, so stärkten sie doch die seit ihrem Aufbruch von der Insel Diomedes so schwer geprüften Tischgenossen.

So endete dieser Tag. Die Windstöße fuhren noch immer mit furchtbarer Gewalt herab. Der Raum belebte sich mit schwirrenden Vögeln, Schneehühnern und jenen anderen, welche man so richtig als Sturmvögel bezeichnet.

Die folgenden vier Tage brachten keinen Umschwung. Der Wind wehte noch immer aus Osten und veränderte den Zustand der Atmosphäre nicht.

Herr Sergius hatte die Form und Ausdehnung der Eistafel sorgfältig untersucht. Sie bildete ein ungleichmäßiges Viereck und war dreihundertfünfzig bis vierhundert Fuß lang und etwa hundert Fuß breit. Dieses Viereck, dessen Kanten mindestens eine halbe Klafter aus dem Wasser emporragten, war in seiner Mitte leicht gewölbt. Die Oberfläche zeigte keinen Riß, wenngleich ein dumpfes Krachen zuweilen darüber hinlief. Seine Festigkeit schien also – wenigstens bisher – nicht durch den Anprall von Wind und Wellen gelitten zu haben.

Die Belle-Roulotte war nicht ohne große Anstrengungen in die Mitte der Eistafel gebracht worden. Dort hatte man sie mit den Seilen und Stangen des bei früheren Jahrmarktsvorstellungen benützten Zeltes so stark befestigt, daß sie nicht mehr Gefahr lief, umgestürzt zu werden.

Am beunruhigendsten aber waren die heftigen Zusammenstöße mit großen Eisbergen, die sich mit ungleicher Schnelligkeit fortbewegten, je nachdem sie in Strömungen oder Wirbel hineingerieten. Einige dieser Eisberge, von fünfzehn bis zwanzig Fuß Höhe, schienen sich wie beim Entern auf die Eistafel stürzen zu wollen. Man gewahrte sie von weitem, man sah sie kommen und vermochte ihrer brutalen Berührung doch nicht auszuweichen, es gab welche, die lärmend umschlugen, wenn die Verschiebung ihres Schwerpunktes ihr Gleichgewicht störte; aber wenn sie anstießen, so war die Erschütterung äußerst bedenklich. Die Stöße waren oft so stark, daß alles im Innern des Wagens zerbrochen wäre, wenn man nicht rechtzeitig gewisse Vorsichtsmaßregeln getroffen hätte. Man sah sich immerwährend der Gefahr einer möglichen und jähen Katastrophe ausgesetzt. Sobald daher das Nahen irgend eines großen Blockes gemeldet wurde, versammelten Herr Sergius und seine Gefährten sich um die Belle-Roulotte und klammerten sich an einander an. Jean suchte in Kayettens Nähe zu kommen. Die schrecklichste von allen Möglichkeiten wäre die gewesen, getrennt, auf verschiedenen Trümmern der Eistafel fortgeschwemmt zu werden. Übrigens gewährte die Tafel weniger Sicherheit an ihren Rändern, als in der Mitte, wo ihr Durchmesser bedeutender war.

Während der Nacht hielten Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean und Clou abwechselnd Wache. Sie verwandten ihre ganze Sorgfalt auf die Erforschung[199] der tiefen Dunkelheit, in welcher ungeheure weiße Gebilde wie Gespenster vorüberglitten. Obgleich der Raum von Nebeln erfüllt war, die der endlose Sturm vor sich her trieb, goß der sehr niedrig am Horizont schwebende Mond einen blassen Schein darüber aus und machte die Eisberge in ziemlicher Entfernung kenntlich. Dann scheuchte der Ruf des eben Wachenden die übrigen empor und sie erwarteten vereint die Folgen des Stoßes.

Häufig änderte der Eisberg seinen Kurs und trieb in einiger Entfernung vorüber; aber manchmal gab es Zusammenstöße, daß die Seile rissen und die Stangen der Belle-Roulotte nachgaben. Es war, als ob alles brechen sollte; man mußte sich glücklich schätzen, die Kollision ausgehalten zu haben.

Und noch immer war die Temperatur anormal! Und in der ersten Woche des November war das Meer noch nicht zugefroren! Noch immer war die See, mehrere Grade oberhalb des Polarkreises, schiffbar! Es war wirklich ein Verhängnis! Und wäre wenigstens ein auf seiner Jagd verspäteter Walfischfahrer in Sicht gekommen! man hätte ihm Signale geben, seine Aufmerksamkeit durch Schüsse erregen können! Er würde die Schiffbrüchigen aufnehmen und in irgend einem amerikanischen Hafen, nach Viktoria, San Francisco, San Diego, oder an die sibirische Küste, nach Petropawlowsk oder Okholsk gebracht haben... Aber nein! kein einziges Schiff! Nichts als treibende Eisberge! Nichts als das ungeheure, öde Meer, das im Norden von der unübersteiglichen Eisbarriere begrenzt war!«

Zum Glück bot die Nahrungsfrage, wenn die klimatische Anomalie nicht etwa unwahrscheinlich lange fortdauerte, für die nächsten Wochen keinen Grund zu Besorgnis. Im Hinblick auf eine lange Reise durch die asiatischen Gebiete, wo man nicht leicht Nahrungsmittel bekam, hatte man einen reichlichen Vorrat von Konserven, Mehl, Reis, Schmalz und so weiter mitgenommen. Um die Ernährung des Gespanns hatte man sich – leider! – nicht mehr zu kümmern. Man muß gestehen, wenn Vermout und Gladiator den Eisbruch überlebt hätten, so hätte man jetzt ihren Bedürfnissen kaum zu entsprechen vermocht.

Bis zum sechsten November ereignete sich nichts Neues; höchstens daß der Wind ein wenig schwächer wurde und sich unbedeutend nach Norden drehte. Der Tag währte jetzt kaum zwei Stunden – was die Schrecken der Situation noch vergrößerte. Trotz der unaufhörlichen Beobachtungen des Herrn Sergius wurde es sehr schwer, den zurückgelegten Weg zu kontrollieren und da man kein Besteck machen konnte, wußte man nicht mehr, wo man war.

Indessen vermochte man am siebenten November einen Orientierungspunkt zu ermitteln und ziemlich genau zu fixieren.

An jenem Tage hatten Herr Sergius und Jean, von Kayette begleitet, gerade als die schwachen Lichtstrahlen durch den Raum zitterten, sich auf die vordere Spitze der Eistafel begeben.


Laute Rufe dessen, der wachte... (Seite 200.)

Unter dem Jahrmarktsgeräte befand sich ein ziemlich gutes Fernrohr, dessen Clou sich zu bedienen pflegte, [200] um einfältigen Zuschauern den durch einen quer über die Linse gespannten Faden repräsentierten Äquator und die durch im Tubus befindlichen Insekten dargestellten Mondbewohner zu zeigen. Nachdem er dieses Fernrohr sorgfältig gereinigt hatte, hob Jean dasselbe ans Auge, um nach Land auszuspähen.

[201] Er prüfte bereits seit einigen Sekunden aufmerksam den Horizont, als Kayette die Hand gen Norden ausstreckte.

»Herr Sergius,« sagte sie, »ich glaube, ich sehe da drüben... Ist es nicht ein Berg?...«

»Ein Berg?...« entgegnete Jean. »Nein... wahrscheinlich nur ein Eisberg!«

Er richtete sein Fernrohr auf den von der jungen Indianerin bezeichneten Punkt.

»Kayette hat recht!« sagte er gleich darauf.

Und er reichte das Instrument Herrn Sergius, der es seinerseits auf die bezeichnete Stelle richtete.

»Ja!« sagte er. »Es ist sogar ein ziemlich hoher Berg!... Kayette hat sich nicht getäuscht!«

Nach einer neuen Besichtigung konstatierte man, daß sich in nördlicher Richtung, in einer Entfernung von cirka fünf bis sechs Meilen, Land befinden müsse.

Das war eine Thatsache von ungeheurer Wichtigkeit.

»Um von einem so hohen Berge überragt zu wer den,« bemerkte Jean, »muß das Land schon eine bedeutende Ausdehnung haben...«

»Allerdings, Jean,« antwortete Herr Sergius, »und sowie wir in die Belle-Roulotte zurückkehren, werden wir die Lage desselben auf der Karte zu finden suchen. Das wird uns ermöglichen, unsere eigene Position zu ermitteln.«

»Jean... es sieht so aus, als ob von diesem Berge Rauch aufstiege,« sagte Kayette.

»Also sollte er ein Vulkan sein?« versetzte Herr Sergius.

»Ja!... ja!...« fügte Jean hinzu, der das Fernrohr wieder ans Auge gesetzt hatte. »Man sieht deutlich Rauch...«

Aber schon begann der Tag zu erlöschen und trotz der Hilfe des Vergrößerungsglases entschwanden die Umrisse des Berges langsam dem Blick.

Hingegen erschien eine Stunde später, als es fast völlig dunkel geworden, ein heller Lichtschein in der Richtung, die man sich vermittelst einer in den Schnee gezogenen Linie gemerkt hatte.

Und alle drei kehrten ins Lager zurück.

»Gehen wir die Karte studieren,« sagte Herr Sergius.

Jean schlug in seinem Atlas die Karte auf, welche die jenseits der Beringstraße gelegenen nördlichen Regionen zur Anschauung brachte, und man stellte folgendes fest.

Da Herr Sergius bereits erkannt hatte, daß einerseits die Strömung, die anfangs nach Norden geflossen war, cirka fünfzig Meilen außerhalb der Meerenge nach Nordwesten abbog, und daß andererseits die Eistafel diese neue [202] Richtung bereits seit Tagen verfolgte, mußte man nachsehen, ob sich im Nordwesten Land befände. In der That zeigte die Karte, etwa zwanzig Meilen vom Festlande entfernt, das Vorhandensein einer großen Insel an, welcher die Geographen den Namen Wrangel-Land beigelegt haben und deren Umrisse auf der Nordseite noch kaum ermittelt sind. Übrigens war es sehr wahrscheinlich, daß die Eistafel nicht daran landen, sondern daß die Strömung sie noch weiter durch den breiten Meerarm tragen werde, der die genannte Insel von der sibirischen Küste trennte.

Herr Sergius hegte keinerlei Zweifel über die Identität des Wrangel-Landes. Dasselbe wird wirklich zwischen dem Hawan- und dem Thomas-Kap von einem thätigen Vulkan beherrscht, der auf den neuesten Karten angegeben ist. Das konnte nur der von Kayette bemerkte Vulkan sein, dessen Schein bei sinkender Nacht sichtbar geworden war.

Daraufhin war es leicht, den von der Eistafel seit ihrem Austritt aus der Beringstraße verfolgten Weg zu erkennen. Die Küste links von sich liegen lassend, hatte sie das Serdtse-Kamen-Kap, die Kolioutchni-Bai, das Vorgebirge Wank-Rem, das Nordkap umschifft; dann war sie in den Long-Kanal geraten, der das Wrangel-Land vom Küstengebiete der Tschuktschenprovinz trennt.

In welche Seestriche würde die Tafel gerissen werden, wenn die Strömung sie durch den Long-Kanal getragen hätte? Unmöglich, das vorauszusehen. Was Herrn Sergius besonders beunruhigen mußte, das war, daß die Karte im Norden kein anderes Land verzeichnet. Die Eisbarriere dehnt sich über jenen ungeheuren Raum aus, dessen Mittelpunkt der Pol selber bildet.

Die einzige Rettung, auf die man noch hoffen durfte, war, daß das Meer unter der Einwirkung intensiverer Kälte in seiner ganzen Ausdehnung zufröre – was nicht mehr lange anstehen konnte, was schon vor mehreren Wochen geschehen sein sollte! Dann würde das Treibeis sich am Rande des Eisfeldes stauen, und indem sie gen Süden hinab zogen, konnten die Schiffbrüchigen das sibirische Festland zu erreichen suchen. Aber was sollten sie auf der langen Reise anfangen, wenn sie sich in Ermanglung von Zugtieren gezwungen sahen, die Belle-Roulotte im Stiche zu lassen?

Der Wind blies noch immer, wenn auch nicht ganz so heftig wie zuvor, aus Osten. In diesen abscheulichen Seestrichen rollten lange Wogen mit großem Geräusch heran und prallten von den Kanten des schwimmenden Blockes ab, um sich dann emporschlagend darüber zu ergießen, wie über das Verdeck eines beilegenden Schiffes, und solche Erschütterungen hervorzurufen, daß die Eistafel über und über schwankte und die Befürchtung wachrief, sie werde sich plötzlich spalten. Dabei drohten große Wassermassen, bis zur Belle-Roulotte hinschlagend, alle draußen Befindlichen hinwegzuschwemmen.

[203] Auf den Rat des Herrn Sergius hin wurden denn auch einige Vorsichtsmaßregeln getroffen. Da während der ersten Novemberwoche reichlich Schnee gefallen war, fiel es nicht schwer, nach der dem Wellenschlage am meisten ausgesetzten Seite hin eine Art Damm auf der Eistafel herzustellen. Alle gingen ans Werk, und als der gehörig gepreßte und hartgestampfte Schnee in einer Höhe und Breite von vier bis fünf Fuß aufgeschichtet worden, bildete er einen Schutzwall, über dessen Kamm höchstens der Gischt herüberspritzte.

Während der Arbeit geschah es hin und wieder, daß Xander und Napoleone einander mit Schneeballen bewarfen und auch Clou-de-Girofles Rücken nicht verschonten. Aber wiewohl die Umstände nicht gerade zur Belustigung angethan waren, schalt Herr Cascabel nicht mit allzu strenger Stimme, bis eines schönen Tages ein Ball sein Ziel verfehlte und Herrn Sergius an den Hut flog.

»Wer war so erbärmlich ungeschickt?...« rief Herr Cascabel.

»Ich, Vater!« antwortete die kleine Napoleone ganz erschrocken.

»Schäme dich!« sagte Herr Cascabel. »Herr Sergius, entschuldigen Sie das schlimme Kind...«

»Lassen Sie doch, Freund Cascabel!« antwortete Herr Sergius. »Sie soll mir einen Kuß geben und damit ist die Sache erledigt!«

Und so geschah es.

Man hatte nicht nur auf einer Seite der Eistafel einen Damm errichtet; bald war die Belle-Roulotte allenthalben von einer Art Eiswall umgeben, welcher sie noch wirksamer zu schützen vermochte, während ihre bis an die Nabe eingegrabenen Räder ihr absolute Unbeweglichkeit sicherten. Der Wall reichte zur oberen Galerie hinan, aber ein schmaler Gang war an seiner Innenseite, rings um den Wagen, belassen worden. Das Gefährt glich einem inmitten von Eisbergen überwinternden Schiffe, dessen Rumpf durch einen Schneepanzer gegen Frost und Sturmwind geschützt ist. Wenn die Eistafel nicht zerschellte, so hatten die Schiffbrüchigen nichts mehr vom Wellenschlage zu befürchten, und so würde man vielleicht den Augenblick abwarten können, wo der arktische Winter endgültigen Besitz von diesen hyperboreischen Regionen ergriff.

Aber sobald dieser Augenblick kam, würde man nach dem Festlande aufbrechen, würde dem rollenden Hause, das seine Inwohner durch die ganze neue Welt geführt hatte, dem festen und sicheren Obdach der Familie den Rücken kehren müssen! Inmitten des Polarkreises verlassen, würde die Belle-Roulotte im Eistreiben der heißen Jahreszeit zu Grunde gehen!

Wenn Herr Cascabel, der doch sonst so philosophisch, so optimistisch veranlagt war, daran dachte, so hob er die Hände zum Himmel empor und verfluchte sein Mißgeschick; er maß sich die Schuld von all diesem Unglück [204] [206]bei und vergaß, daß es jenen Schurken zuzuschreiben sei, die ihn in den Schluchten der Sierra Nevada bestohlen hatten und also eigentlich für die ganze Situation verantwortlich waren!

Umsonst suchte Cornelia ihn, erst mit guten Worten, dann mit heftigem Tadel, seinen düstern Gedanken zu entreißen. Umsonst machten seine Kinder und sogar Clou ihren Anteil an jenem verhängnißvollen Entschlusse geltend. Umsonst wiederholten sie immer wieder, daß jener Reiseplan die Zustimmung der ganzen Familie gehabt habe! Umsonst suchten Herr Sergius und das »Vöglein« den untröstlichen Cäsar zu trösten!... Er wollte von nichts hören.

»Du bist also kein Mann mehr?...« sagte Cornelia eines Tages zu ihm, indem sie ihn derb schüttelte.

»Keinesfalls in demselben Grade wie du!« antwortete er, während er sein durch diese eheliche Mahnung gestörtes Gleichgewicht wieder zu erlangen suchte.


Der Schneewall glich einer Schutzwehr. (Seite 204.)

Im Grunde war Frau Cascabel voll Besorgnis wegen der Zukunft; aber sie empfand die Notwendigkeit, gegen den Kleinmut ihres sonst so widerstandsfähigen Mannes zu reagieren.

Inzwischen begann die Nahrungsfrage Herrn Sergius zu beschäftigen. Vor allem war es wichtig, daß die Verköstigung bis zu dem Tage gesichert sei, wo man sich einen Weg über das Eisfeld zu bahnen vermochte oder aber bis die Belle-Roulotte die sibirische Küste erreichte. Es wäre unnütz gewesen, auf die Jagd zu rechnen in einer Jahreszeit, wo die Schwärme von Meervögeln nur mehr selten durch den Nebel vorbeizogen. Folglich gebot die Vernunft, die Vorräte im Hinblick auf einen vielleicht langwierigen Übergang in Rationen einzuteilen.

Unter diesen Umständen langte die Eistafel, von unwiderstehlichen Strömungen fortgetragen, auf der Höhe der nördlich von der asiatischen Küste gelegenen Anjou-Inseln an.

4. Capitel
IV. Vierzehn Tage.

Es war auf Grund der von ihm angestellten Berechnungen, daß Herr Sergius sich auf der Höhe jener Inselgruppe zu befinden glaubte. Bei seinen täglichen Beobachtungen hatte er dem Treiben der Eistafel Rechnung getragen, dessen durchschnittliche Geschwindigkeit er auf cirka fünfzehn Meilen per vierundzwanzig Stunden schätzte.

[206] Jene für ihn nicht sichtbare Inselgruppe liegt laut den Seekarten unter dem einhundertfünfzigsten Länge- und dem fünfundsiebzigsten Breitegrade etwa hundert Meilen vom Festlande entfernt.

Herr Sergius täuschte sich nicht. Am sechzehnten November befand die Eistafel sich im Süden von den Anjou-Inseln. Aber in welcher Entfernung? Selbst mit Zuhilfenahme der Instrumente, deren die Seefahrer sich zu bedienen pflegen, hätte man das höchstens annähernd zu bestimmen vermocht. Im Anschluß an die Sonne, deren Scheibe bloß wenige Minuten lang durch die Nebel des Horizonts sichtbar wurde, hätte die Beobachtung zu keinem Ergebnis geführt Man war jetzt von der langen Nacht der Polarregion umgeben.

Das Wetter war abscheulich, wenn auch zu strengerer Kälte neigend. Die Thermometersäule schwankte ein wenig unter Null. Aber diese Temperatur war noch nicht niedrig genug, um das Aneinanderfrieren der über die Meeresfläche verstreuten Eisberge zu bewirken; folglich wurde die schwimmende Eistafel durch kein Hindernis aufgehalten.

Indessen bildeten sich in den Ufereinschnitten bereits jene vereinzelten Eisstöße, welchen die in der Polarregion Überwinternden den Namen »Bayices« beilegen, falls sie ihren Ursprung in engen Buchten nehmen. Im Vereine mit Jean beobachtete Herr Sergius unermüdlich diese Formationen, die sich bald über die ganze Oberfläche des Meeres ausbreiten sollten. Dann würde die Eisperiode völlig eingetreten sein und die Lage der Schiffbrüchigen sich bessern – wenigstens hofften sie es.

Während der letzten vierzehn Tage des November fiel der Schnee unaufhörlich und in außerordentlicher Menge.

Von den Stürmen getrieben, lagerte er sich in dichten Massen gegen den um die Belle-Roulotte aufgeführten Wall und hatte denselben bald beträchtlich erhöht.

Übrigens bildeten diese Anhäufungen keinerlei Gefahr und boten der Familie Cascabel sogar noch besseren Schutz gegen die Kälte. Cornelia konnte in der That mit dem Petroleum sparen, es gänzlich für die Erfordernisse der Küche aufheben. Das war gewiß ernster Beachtung wert; wie sollte man diese Mineralflüssigkeit ersetzen, wenn sie aufgebraucht sein würde?

Übrigens blieb die Temperatur glücklicherweise im Innern der Abteilungen erträglich – drei bis vier Grad über Null. Sie stieg sogar, als die Belle-Roulotte von Schneemassen eingehüllt wurde. Unter diesen Umständen war es nicht die Wärme, welche ihren Bewohnern abzugehen drohte, sondern vielmehr die Luft, der bald jeder Eingang verwehrt sein würde.

Da mußte man sich denn ans Schneeschaufeln begeben, und alle, beteiligten sich an dieser ermüdenden Arbeit.

[207] Herr Sergius begann damit, daß er den auf der Innenseite des Walles belassenen Gang freimachen ließ. Dann wurde ein Weg gebahnt, um den Ausgang ins Freie zu sichern. Man trug Sorge, die Achse desselben gen Westen zu richten. Denn ohne diese Vorsicht würde er von dem östlichen Schneetreiben verweht worden sein.

Trotzdem aber war nicht alle Gefahr beseitigt, wie man bald sehen wird.

Selbstverständlich verließen die Schiffbrüchigen die Belle-Roulotte weder bei Nacht noch bei Tage. Sie bot ihnen ein sicheres Obdach gegen die Winterstürme und gegen die Kälte, die sich, wie das langsame und stetige Sinken des Thermometers bewies, immer strenger anließ.

Nichtsdestoweniger stellten Herr Sergius und Jean nach wie vor ihre täglichen Beobachtungen in dem Augenblicke an wo ein undeutlicher Schein jenen Horizont färbte, hinter welchem die Sonne bis zur Sonnenwende am einundzwanzigsten Dezember immer tiefer hinabgehen würde. Und immer wieder jene getäuschte Hoffnung, irgend einen Walfischfahrer zu erspähen, der in diesen Strichen überwinterte, oder einem Hafen in der Beringstraße zustrebte! Immer wieder jene getäuschte Hoffnung, die Eistafel endgültig an irgend ein Eisfeld stoßen zu sehen, das mit der sibirischen Küste in Verbindung stände! Dann kehrten sie beide ins Lager zurück und suchten auf der Karte die vermutliche Richtung ihrer Fahrt in Evidenz zu halten.

Wie bereits erwähnt, hatte die Jagd seit dem Aufbruche von Port-Clarence aufgehört, die Küche der Belle-Roulotte mit frischem Wildbret zu versorgen. Was hätte Cornelia mit jenen Schneevögeln anfangen sollen, deren öliger Beigeschmack so schwer zu beheben ist? Ihrer kulinarischen Begabung zum Trotze würden die Gäste Schneehühnern und Sturmvögeln keinen guten Empfang bereitet haben. Jean hütete sich denn auch, sein Pulver und Blei an jenes Geflügel von allzu arktischer Herkunft zu vergeuden. Indessen unterließ er es nie, seine Flinte mitzunehmen, wenn sein Dienst ihn ins Freie rief; und eines Tages, am Nachmittag des sechsundzwanzigsten November, hatte er Gelegenheit, sich derselben zu bedienen. Der Schall eines Schusses drang in das Lager und gleich darauf ertönte Jeans Ruf um Hilfe.

Das erregte natürlich ein gewisses, mit Besorgnis vermischtes Staunen. Herr Sergius und Herr Cascabel, Xander und Clou stürmten, von den beiden Hunden gefolgt, hinaus.

»Herbei!... Herbei!...« schrie Jean.

Dabei lief er hin und her, als wolle er irgend einem Tier den Rückzug abschneiden.

»Was giebt's?« rief Herr Cascabel.

»Ich habe einen Seehund verwundet und er wird uns entkommen, wenn wir ihn das Meer erreichen lassen!«

[208] Es war wirklich ein Tier von großem Umfang, das, in die Brust getroffen, den Schnee mit seinem Blute rötete und das ohne Zweifel entkommen sein würde, wären Herr Sergius und seine Gefährten nicht rechtzeitig herbeigeeilt. Clou stürzte sich tapfer auf das Tier, welches den jungen Xander gleich zu Anfang mit einem Schlage seines Schwanzes umgeworfen hatte. Der Seehund wurde, nicht ohne Mühe, überwältigt, und Jean tötete ihn, indem er ihm den Lauf seiner Flinte an den Kopf setzte, durch einen zweiten Schuß.

Das war nun zwar auch kein leckerer Bissen für Cornelias Stammgäste, aber es war doch ein bedeutender Reservevorrat an Fleisch für Wagram und Marengo. Hätten die beiden Hunde die Gabe der Rede besessen, sie würden Jean für diesen willkommenen Zuschuß gedankt haben.

»Warum reden die Tiere eigentlich nicht?« fragte Herr Cascabel aus diesem Anlasse, als alle um den Mittagstisch versammelt waren.

»Aus dem sehr einfachen Grunde, weil sie nicht intelligent genug dazu sind,« antwortete Herr Sergius.

»Also glauben Sie,« fragte Jean, »daß der Mangel der Sprache einem Mangel an Intelligenz zuzuschreiben ist?«

»Allerdings, mein lieber Jean, wenigstens bei den höheren Tierarten. So besitzt zum Beispiel der Hund einen Kehlkopf, der mit dem des Menschen identisch ist. Er könnte also sprechen, und wenn er es nicht thut, so ist es, weil seine Intelligenz nicht hinreichend entwickelt ist, um seine Eindrücke in Worte zu kleiden.«

Eine zum mindesten diskutierbare These, die Herr Sergius da aufstellte! – die aber von einigen modernen Physiologen zugestanden wird.

Es ist erwähnenswert, daß sich allmählich eine günstige Wandlung im Geiste des Herrn Cascabel vollzog. Wenn er sich auch noch immer die Schuld an der Situation beimaß, so gewann seine Philosophie doch wieder die Oberhand. Gewöhnt, sich aus den ärgsten Verlegenheiten zu ziehen, konnte er nicht recht daran glauben, daß sein guter Stern erloschen sein sollte.... Nein! höchstens ein wenig umwölkt. Überdies war die Familie Cascabel bisher nicht stark von physischen Prüfungen heimgesucht worden. Allerdings aber konnte, wenn die Gefahren, wie zu erwarten stand, dringender wurden, ihre moralische Stimmung darunter leiden.

Herr Sergius war denn auch im Hinblick auf die Zukunft unablässig bestrebt. den kleinen Kreis bei gutem Mute zu erhalten. Während der langen Mußestunden saß er beim Lampenschein am Tische, plauderte, lehrte, erzählte die verschiedenen Einzelheiten seiner Reisen in Europa und Amerika. Neben einander sitzend, hörten Jean und Kayette ihm zu und zogen vielfachen Vorteil aus seinen belehrenden Antworten auf ihre Fragen. Zum [209] Schlusse entlehnte er seiner Erfahrenheit dann die Berechtigung zu tröstlichen Aussprüchen.

»Sehen Sie, meine Freunde,« sagte er eines Tages, »es ist kein Grund zum Verzweifeln da. Der Eisblock, der uns trägt, ist solid; und nun die Kälte regelrecht eingetreten ist, wird er nicht mehr zerbrechen. Beachten Sie überdies, daß er die Richtung einhält, in welcher wir reisen wollten, und daß wir ohne Ermüdung, wie auf einem Schiffe, fortkommen. Ein wenig Geduld und wir fahren in einen sicheren Hafen ein.«

»Wer von uns verzweifelt denn, wenn ich bitten darf?« antwortete Herr Cascabel. »Wer nimmt sich denn die Freiheit, zu verzweifeln, Herr Sergius? Wer ohne meine Erlaubnis verzweifelt, der wird auf trockenes Brot gesetzt.«

»Es ist kein Brot da!« warf der schelmische Xander ein.

»Nun, dann auf trockenen Zwieback, abgesehen davon, daß ihm das Ausgehen untersagt wird!«

»Man kann ohnehin nicht hinaus!« bemerkte Clou-de-Girofle.

»Still!... Ich habe gesprochen!«

Während der letzten Novemberwoche hatte der Schneefall fabelhafte Dimensionen angenommen. Die Menge der Flocken war so ungeheuer, daß man keinen Schritt weit vor die Thür gehen konnte – was eine ernste Katastrophe herbeiführte.

Als er am dreißigsten November zu sehr früher Stunde erwachte, gewahrte Clou mit Erstaunen, daß er nur sehr mühsam zu atmen vermöge, als wäre die Luft ungeeignet für seine Lungenthätigkeit.

Die übrigen lagen noch in ihren Abteilungen in so schwerem und peinlichem Schlafe, als ob sie dem Ersticken nahe wären.

Clou wollte die äußere Thür öffnen, um frische Luft einzulassen... Es gelang ihm nicht.

»Holla! Herr Direktor!« schrie er mit so lauter Stimme, daß er die ganze Einwohnerschaft der Belle-Roulotte weckte.

Herr Sergius, Herr Cascabel und dessen beide Söhne fuhren empor und Jean rief:

»Man erstickt hier!... Wir müssen die Thür öffnen!«

»Ich habe es vergebens versucht...« antwortete Clou.

»Nun, dann die Fensterläden?...«

Aber da diese Läden nach außen zu öffnen waren, leisteten sie ebenfalls Widerstand.

In wenigen Minuten hatte man die Thür ausgehängt, und nun begriff man, warum man sie nicht zu öffnen vermochte.

Der um die Belle-Roulotte ausgeschaufelt gewesene Gang war mit vom

[210] Winde hineingewehten Schneemassen angefüllt; desgleichen der Gang. welcher über den Eiswall hinüber ins Freie geführt hatte.

»Sollte der Wind sich gedreht haben?« fragte Herr Cascabel.

»Das ist nicht wahrscheinlich,« antwortete Herr Sergius. »Es würde nicht soviel Schnee gefallen sein, wenn der Wind aus Westen wehte.«

»Dann muß die Eisscholle sich gedreht haben,« bemerkte Jean.


Man grub einen zweiten Gang aus. (Seite 212.)

»Ja... so wird es sein,« erwiderte Herr Sergius. »Aber denken wir vor allem an das dringendste... Es handelt sich darum, nicht aus Mangel an atembarer Luft zu ersticken.«

Sofort gingen Jean und Clou, mit einer Hacke und einer Schaufel bewaffnet, daran, den Gang frei zu machen. In der That eine schwere Arbeit, denn der hart [211] gefrorene Schnee füllte ihn gänzlich aus und mochte sogar die Belle-Roulotte bedecken.

Um schnell zu arbeiten, mußte man sich ablösen. Da man den Schnee nicht nach außen befördern konnte, war es notwendig, ihn in die erste Abteilung des Wagens zu schaufeln, von wo er, unter der Einwirkung der Temperatur in Innern fast augenblicklich zerschmelzend, nach außen abfloß.

Nach Verlauf einer Stunde hatte die Hacke die kompakte Masse im Gange noch nicht durchbrochen. Es war unmöglich, hinaus zu gelangen, unmöglich, das Innere des Wagens zu lüften, und das Atmen wurde dort immer schwerer durch den Mangel an Oxygen und das Übermaß von Kohlensäure.

Vergeblich rangen alle keuchend nach einem Hauche reiner Luft in dieser unerträglichen Atmosphäre. Kayette und Napoleone fühlten sich dem Erstickungstode nahe. Frau Cascabel schwebte sichtlich in der größten Gefahr. Kayette überwand ihr Mißbehagen und versuchte, ihr Erleichterung zu verschaffen. Aber das einzig Wirksame wäre gewesen, eines der Fenster zu öffnen, um frische Luft einzulassen, und das machte der draußen aufgeschichtete Schnee unmöglich.

»Mut!... Mut!« wiederholte Herr Sergius. »Wir sind schon sechs Fuß weit durch die Masse gedrungen... die Schicht kann jetzt nicht mehr sehr dick sein!«

Nein, sie konnte es nicht sein, wenn der Schneefall aufgehört hatte... Aber vielleicht dauerte er auch jetzt noch fort!

Da kam Jean auf den Gedanken, in die oberhalb des Ganges befindliche, vielleicht nicht mehr dicke und wahrscheinlich weniger harte Schneedecke ein schachtähnliches Loch zu hauen.

In der That ging diese Arbeit leichter von statten und eine Viertelstunde später – es war die höchste Zeit! – drang durch die hergestellte Öffnung frische Luft ein.

Die Inwohner der Belle-Roulotte fühlten sich augenblicklich erleichtert.

»Ah! wie gut!« rief die kleine Napoleone, tief aufatmend.

»Ja!« antwortete Xander, der seine trockenen Lippen mit der Zunge befeuchtete. »Es ist noch besser als Konfekt!«

Es vergingen mehrere Minuten, bevor Cornelia, die bereits einer Ohnmacht nahe gewesen, sich einigermaßen zu erholen vermochte.

Dann erweiterte man die Öffnung und die Männer kletterten an die [212] Oberfläche hinaus. Es schneite nicht mehr, aber alles war weiß bis an die äußersten Grenzen des Gesichtskreises. Die Belle-Roulotte war ganz und gar unter ihrer Schneehülle verschwunden, die einen ungeheuren Höcker im Centrum des schwimmenden Eisblockes bildete.

Mit Hilfe des Kompasses konstatierte Herr Sergius, daß der Wind noch immer aus Westen blies, daß aber die Eisscholle sich gedreht hatte, – wodurch die weniger geschützte Seite der Belle-Roulotte dem Schneetreiben ausgesetzt worden und die Verwehung des Ganges herbeigeführt worden war.

Das Thermometer zeigte im Freien nur sechs Grad unter Null und das Meer war nicht zugefroren, soweit man das inmitten der fast völligen Dunkelheit beurteilen konnte. Übrigens ist zu erwähnen, daß die Eisscholle sich zwar, wahrscheinlich unter dem Drucke irgend einer Gegenströmung, halb gedreht hatte, aber darum doch in unverändert westlicher Richtung weiter trieb.

Da dieser Zufall sich wiederholen und solch bedenkliche Folgen nach sich ziehen konnte, glaubte Herr Sergius, eine neue Vorsichtsmaßregel ergreifen zu sollen. Auf seinen Rat wurde auf der dem Gange entgegengesetzten Seite ein zweiter Gang durch den Eiswall gegraben. Wie sich also auch die Lage der Eisscholle gestalten mochte, die Verbindung mit dem freien Raume blieb gewahrt und man hatte keinen Luftmangel mehr zu befürchten.

»Es ist denn doch ein vermaledeites Land,« sagte Herr Cascabel, »ein ganz vermaledeites Land... höchstens gut für Seehunde, und mit einem Klima, das sich nicht mit dem der Normandie vergleichen kann!«

»Das gebe ich gern zu,« antwortete Herr Sergius. »Aber was wollen Sie; man muß es eben nehmen wie es ist.«

»Ich nehme es gar nicht, Herr Sergius... nicht einmal geschenkt!«

Nein, wackerer Cascabel, es ist nicht einmal das Schwedens, Norwegens, Finnlands während ihrer Wintersaison. Es ist das Klima des Pols, mit seiner vier Monate währenden Nacht, seinen wütenden Stürmen, seinen endlosen Schneefällen und dichten, alle Umrisse tilgenden Nebelschleiern.

Und wie beängstigend die Zukunft aussah! Welchen Entschluß sollte man fassen, wenn nun das Treiben ein Ende erreichte, die Eistafel festlag und das Meer ein einziges ungeheures Eisfeld bildete? Sollte man die Belle-Roulotte verlassen und die Strecke von mehreren Hundert Meilen bis an die sibirische Küste ohne sie zurücklegen? Der Gedanke war wahrhaft schrecklich! Herr Sergius fragte sich, ob es nicht ratsam sein würde, an dem Orte, wo der schwimmende Block stehen blieb, zu überwintern, um wenigstens bis zur Rückkehr der milden Jahreszeit den Schutz jenes rollenden Hauses zu genießen, das zweifelsohne nie mehr rollen würde. Ja! im schlimmsten Falle würde es nicht unmöglich sein, die Zeit der großen Kälte auf solche Weise zu verbringen! Aber ehe die Temperatur wieder stiege, ehe das Eisfeld in Trümmer [213] ging, würde man das Winterquartier räumen und die tauende Eisdecke überschreiten müssen.

Übrigens waren die Schiffbrüchigen noch nicht so weit und man würde gegen Ende des Winters hinlänglich Zeit haben, sich darüber zu beraten. Man würde mit der Entfernung rechnen müssen, in der man sich vom asiatischen Festlande befand, – wenn es nämlich gelang, diese Entfernung zu schätzen. Herr Sergius hoffte, daß sie nicht sehr bedeutend sein werde, da die Eisscholle eine unverändert westliche Richtung eingehalten hatte, nachdem sie die Kaps Kekurnii, Scheliagskoi und Baranoff, die Long-Straße und den Golf von Kolyma hinter sich gelassen.

Warum hatten sie nicht am Eingange dieses Meerbusens Halt gemacht! Von dort aus wäre es noch immerhin leicht gewesen, die Provinz der Jukaghiren zu erreichen, in welcher Kabatschkowa, Nischni-Kolymsk und andere Marktflecken die Schiffbrüchigen gastlich aufgenommen haben würden. Man hätte mit einem Renntiergespann zurückkehren und die Belle-Roulotte aufs Festland herüberbringen können. Aber angesichts der starken Strömung begriff Herr Sergius wohl, daß man längst an dieser Bucht, sowie auch an den Mündungen der Tschukotschia und Alazeja vorübergekommen sein müsse. Die Karte wies kein anderes Hindernis mehr auf, als jene Inselgruppen, welche unter den Namen Anjou-Inseln, Liakhoff-Inseln und Long-Inseln bekannt sind. Und wie sollte man auf diesen zumeist unbewohnten Inseln Mittel zur Überführung des Personals und des Materials finden? Aber schließlich würde es doch besser sein, als sich in die äußersten Striche der Polarregion zu verirren!

Der November war zu Ende. Neununddreißig Tage waren vergangen, seit die Familie Cascabel von Port-Clarence aufgebrochen, um sich über die Beringstraße zu wagen. Wäre der Eisbruch nicht dazwischen gekommen, so würde sie schon vor fünf Wochen in Numana gelandet sein und jetzt in irgend einem Marktflecken Südsibiriens ein sicheres Obdach gegen den arktischen Winter gefunden haben.

Indessen konnte das Treiben nicht mehr lange dauern. Die Kälte wurde allmählich strenger und das Thermometer sank ohne Schwankungen. Eine von Herrn Sergius vorgenommene Besichtigung der Eisinsel ergab, daß sie täglich infolge des Anfrierens von Schollen, durch die sie sich einen Weg bahnte, an Umfang zunahm. Ihre Oberfläche hatte sich um ein Dritteil vergrößert und in der Nacht vom dreißigsten November auf den ersten Dezember fror sogar ein ungeheurer Eisblock an sie an. Der Block hatte einen ziemlich bedeutenden Tiefgang und die Strömung verlieh ihm eine so große Geschwindigkeit, daß die Eistafel eine halbe Wendung machen mußte und wie im Schlepptau hinter ihm herschwamm.

Seit dem Eintritt strengerer und trockenerer Kälte war der Himmel vollkommen klar geworden.


Es erregte ihre höchste Verwunderung. (Seite 216.)

Der Wind blies jetzt aus Nordosten – ein günstiger Umstand, da er auf die sibirische Küste zu wehte. Die funkelnden Sterne des nördlichen Himmels erhellten die langen Polarnächte und häufig überflutete das [214] Nordlicht mit seinem fächerförmigen Strahlenschimmer den Raum. Der Blick flog bis an den äußersten Horizont, der von den ersten Staffeln der Eisbarriere gesäumt war. Von dem helleren Hintergrunde hob sich jene ewige [215] Eiskette mit ihren Zacken und Kuppeln, ihren Wäldern von Spitzen und Rissen lebhaft ab. Es war ein herrlicher Anblick und die Schiffbrüchigen vergaßen auf Augenblicke ihre kritische Lage, um jene dem hohen Norden eigene Naturerscheinung anzustaunen.

Seit der Wind sich gedreht hatte und das Eis nur der Strömung gehorchte, trieb es langsamer vorwärts. Es war also wahrscheinlich, daß die Eistafel nicht mehr viel weiter nach Westen getragen werden würde, denn das Meer war stellenweise mit Eisbergen besäet. Allerdings gab dieses »youngice«, wie die Walfischfänger es nennen, zur Zeit noch dem geringsten Stoße nach. Und wenn die Eistafel auch in den von den verstreut schwimmenden Blöcken freigelassenen, engen Kanälen manchmal an bedeutende Massen anstieß, so setzte sie nach mehrstündiger Unbeweglichkeit doch wieder ihren Weg fort. Indessen war ein sehr naher Stillstand vorauszusehen, der dann den ganzen Winter dauern würde.

Am dritten Dezember hatten Herr Sergius und Jean sich gegen Mittag an den vorderen Rand der Eistafel begeben. Durch große Pelze gegen die empfindliche Kälte verwahrt, hatten Kayette, Napoleone und Xander sie begleitet. Im Süden deutete ein kaum merklicher Schimmer an, daß die Sonne den Meridian durchschnitt. Die ungewisse Helle, die durch den Raum flutete, rührte ohne Zweifel von einem fernen Nordlicht her.

Da lenkten die Bewegungen der Eisberge, ihre bizarren Formen, ihr Aneinanderprallen und auch das Umschlagen einiger Blöcke, die durch das vom Meerwasser bewirkte Abbröckeln ihrer Grundfläche das Gleichgewicht verloren, die gespannteste Aufmerksamkeit auf sich.

Plötzlich schwankte ein höchstens zwei Tage alter Eisberg, stürzte um und zerschlug in seinem Falle den Rand der Eistafel, die er mit einem ungeheuern Wasserschwall übergoß.

Alle waren jählings zurückgewichen; aber im nächsten Augenblick erscholl ein Ruf:

»Hilfe!... Hilfe!... Jean!«

Es war Kayette... Sie befand sich auf dem abgebrochenen Eisstück, welches die schäumende Flut davontrug.

»Kayette!... Kayette!...« schrie Jean.

Aber das Eisstück trieb, von einer Seitenströmung ergriffen, immer weiter, während die Eistafel unter der Wirkung des Zusammenstoßes still stand. Noch einige Sekunden und Kayette würde inmitten der nach drängenden Eisberge verschwunden sein.

»Kayette!... Kayette!...« schrie Jean.

»Jean!... Jean!« wiederholte die junge Indianerin zum letztenmale.


»Zu Hilfe!... Zu Hilfe!... Jean!« (Seite 216.)

Auf diese Rufe waren Herr Cascabel und Cornelia herbeigeeilt.... Nun [216] standen sie schreckensstarr neben Herrn Sergius, der nicht wußte, was er zur Rettung des unglücklichen Kindes thun sollte.

Auf einen Augenblick brachte die unaufhörliche Verschiebung der Eisblöcke unter einander Kayettens Scholle wieder näher heran; da nahm Jean einen Anlauf und sprang, bevor man ihn zurückhalten konnte, mit einem gewaltigen Satze zu ihr hinüber...

[217] »Mein Sohn!... Mein Sohn!...« jammerte Frau Cascabel.

Es war unmöglich, die beiden zu retten. Jeans Sprung hatte der Eisscholle einen heftigen Stoß gegeben. Er und Kayette verschwanden zwischen den Eisbergen und bald verhallten auch ihre Rufe im unendlichen Raume.

Nach langen Stunden des Harrens in der vollends hereingebrochenen Dunkelheit mußten Herr Sergius, Herr Cascabel, Cornelia und ihre Kinder in das Lager zurückkehren. Welche Nacht die armen Leute verbrachten! Sie irrten ruhelos um die Belle-Roulotte umher, während die Hunde kläglich winselten.

Jean und Kayette... von den Wellen fortgerissen, obdachlos, ohne Nahrung... verloren! Cornelia war in Thränen aufgelöst; Xander und Napoleone weinten mit ihr. Von diesem neuen Schlage niedergeschmettert, vermochte Herr Cascabel nur unzusammenhängende Worte auszustoßen, in denen er sich die bittersten Vorwürfe machte, all dies Unglück über seine Familie gebracht zu haben. Und Herr Sergius wußte ihnen keinen Trost zu spenden, da er selber untröstlich war.

Am folgenden Tage, dem vierten Dezember, setzte die Eistafel sich wieder in Bewegung. Zwar verfolgte sie dieselbe Richtung, in welcher Jean und Kayette verschwunden waren; aber letztere hatten einen Vorsprung von achtzehn Stunden, und so mußte man jeder Hoffnung entsagen, sie einzuholen oder aufzufinden. Auch waren sie von zu vielen Gefahren umringt, als daß sie denselben heil und ganz entrinnen konnten; wie sollten sie der heftigen Kälte, dem nicht zu stillenden Hunger, dem Anprall der Eisberge, deren leichtester Stoß ihre Scholle zertrümmern mußte, Trotz bieten?...

Der Schmerz dieser unglücklichen Cascabels läßt sich nicht schildern. Trotz des Sinkens der Temperatur mochten sie nicht in ihre Zimmer zurückkehren, sondern riefen draußen nach Jean, nach Kayette, die sie nicht hören konnten....

Der Tag verging, ohne daß die Lage sich gebessert hätte; dann kam die Nacht und Herr Sergius bestand darauf, daß Vater, Mutter und Kinder in der Belle-Roulotte Obdach suchten, wo aber niemand eine einzige Sekunde den Schlummer fand.

Plötzlich, gegen drei Uhr morgens, erschütterte ein so furchtbarer Stoß den Wagen daß er beinahe umgestürzt wäre. Was bedeutete das?... War irgend ein großer Eisberg an die Eistafel angefahren?... hatte er sie vielleicht gar zertrümmert?...

Herr Sergius stürzte hinaus.

Ein schwacher Nordlichtschein erhellte den Raum und man vermochte die Dinge auf eine halbe Meile im Umkreis zu unterscheiden.

Herr Sergius spähte nach allen Seiten aus.

[218] Weder Jean noch Kayette waren in Sicht.

Der Stoß aber war durch das Anfahren der Eistafel an ein Eisfeld verursacht worden. Dank dem neuerlichen Sinken der Temperatur – auf nahezu zwanzig Grad Celsius unter Null – war die Meeresfläche gänzlich zugefroren.

Dort, wo noch am vergangenen Tage alles in Bewegung gewesen, war starre Ruhe eingetreten. Mit dem letzten Stoße hatte das Wandern der Eistafel sein Ende erreicht.

Herr Sergius kehrte sofort in den Wagen zurück und verkündete der Familie, daß die Eistafel endgültig festliege.

»Also ist das ganze Meer vor uns zugefroren?« fragte Herr Cascabel.

»Ja,« antwortete Herr Sergius; »auf allen Seiten.«

»Nun, so machen wir uns denn auf den Weg, um Jean und Kayette zu suchen!... Es ist kein Augenblick zu verlieren...«

»Gehen wir!« antwortete Herr Sergius.

Da Cornelia und Napoleone nicht in der Belle-Roulotte bleiben wollten, wurde diese in Clous Obhut zurückgelassen, und alle eilten über das Eisfeld dahin, während die beiden Hunde spähend vorausliefen.

Man ging schnellen Schrittes über den granitharten Schnee gen Westen hin. Wenn Wagram und Marengo auf die Fußspuren ihres jungen Herrn stießen, so würden sie dieselben gewiß erkennen. Aber nach Verlauf einer halben Stunde hatten sie noch immer nichts gefunden. Man mußte schließlich Halt machen, denn die intensiv eisige Luft erschwerte das Atemholen.

Das Eisfeld, das sich gegen Norden, Süden und Osten unabsehbar ausdehnte, war im Westen von einigen Höhen begrenzt, welche nicht die Form gewöhnlicher Eisberge hatten. Waren es etwa die Küstenumrisse irgend einer Insel oder eines Festlandes?

Plötzlich schlugen die Hunde heftig an und rannten auf eine weißliche Anhöhe zu, von der sich eine gewisse Anzahl schwarzer Punkte abhob.

Man eilte wieder vorwärts und bald sah Xander, daß jene Punkte menschliche Wesen waren und daß zwei von ihnen winkten.

»Jean!... Kayette!...« schrie er, hinter Wagram und Marengo herstürmend.

Es waren wirklich Jean und Kayette, heil und unversehrt!...

Sie waren nicht allein. Ein Trupp von Eingeborenen umgab sie, und diese Eingeborenen waren Bewohner der Liakhoff-Inseln.

[219]
5. Capitel
V. Die Liakhoff-Inseln.

Im nördlichen Eismeere befinden sich drei Inselgruppen, welche unter dem allgemeinen Namen »Neusibirien« bekannt sind und aus den Long-, den Anjou-und den Liakhoff-Inseln bestehen. Der letztere, dem asiatischen Festlande am nächsten gelegene Inselkomplex erstreckt sich zwischen dem dreiundsiebzigsten Grad und fünfundsiebzigsten Grad nördlicher Breite und dem einhundertfünfunddreißigsten Grad und einhundertvierzigsten Grad östlicher Länge insgesamt über einen Raum von neunundvierzigtausend Quadratkilometer und umfaßt unter andern die Kotelnii-, die Blinii-, die Malii- und die Belkoff-Insel.

Unfruchtbare Gebiete; kein Baum, kein Bodenprodukt, kaum ein schwacher Ansatz zur Vegetation während der wenigen Sommerwochen; nichts als seit der geologischen Formationsperiode angehäufte Walfisch- und Mammutknochen, eine Unmasse fossiles Holz – so sind die neusibirischen Inseln beschaffen.

Die Liakhoff-Inseln wurden zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts entdeckt.

Es war auf Kotelnii, der bedeutendsten und am südlichsten gelegenen Insel der Liakhossgruppe, daß die Belle-Roulotte nach einer Eisfahrt von vierzig Tagen, in denen sie eine Strecke von sechs- bis siebenhundert Meilen zurückgelegt hatte, gelandet war. Im Südwesten, an der sibirischen Küste, öffnete sich die weite Lenabucht, ein breiter Einschnitt, durch welchen die Wasser der Lena, eines der bedeutendsten Ströme Nordasiens, sich ins nördliche Eismeer ergießen.

Wie man sieht, ist diese Liakhossgruppe die Ultima Thule der Polar-Region unter diesen Längegraden. Jenseits derselben haben die Seefahrer bis an die unübersteigliche Grenze der Eisbarriere kein Land mehr erblickt. Fünfzehn Breitegrade höher hinauf liegt der Nordpol. Die Schiffbrüchigen waren also an die Grenzen der Welt getrieben worden, wenngleich sie sich unter einem minder hohen Breitegrad befanden, als es die Grade sind, unter welchen Spitzbergen und die nördlichsten Gegenden Amerikas liegen.

Im ganzen genommen hatte die Familie Cascabel, wenn ihr Weg auch ein viel nördlicherer als der anfangs geplante gewesen war, sich beständig dem europäischen Rußland genähert. Die seit der Abfahrt von Port-Clarence zurückgelegten Hunderte von Meilen hatten ihr weniger Anstrengung als Gefahr bereitet. Die Eisfahrt, die sie unter den gegebenen Verhältnissen gemacht, hatte ihr eine Reise durch Gegenden erspart, welche während des [220] Winters fast unüberwindliche Schwierigkeiten boten. Und vielleicht würde man keinen Grund zur Klage gehabt haben, wenn ein letztes Mißgeschick Herrn Sergius und seine Gefährten nicht in die Gewalt der Liakhoff-Insulaner gebracht hätte. Würden sie ihre Freiheit bewahren, oder dieselbe später wieder zu erlangen vermögen? Das war zweifelhaft. Jedenfalls würden sie es bald erfahren, und wenn sie in dieser Hinsicht aufgeklärt waren, würde es noch immer Zeit sein, einen den Umständen entsprechenden Plan zu schaffen.

Die Kotelnii-Insel ist von einem Stamm finnischen Ursprungs bewohnt, der, Weiber und Kinder mit eingerechnet, zweihundertfünfzig bis dreihundert Seelen zählt. Diese Eingeborenen sind von widerlichem Äußern und gehören zu den am wenigsten civilisierten Völkerschaften des Küstengebietes, den Tschuktschen, Jukaghiren und Samojeden. Ihre Götzenverehrung spottet jeder Beschreibung, trotz der aufopfernden Bemühungen der Herrnhuter Missionäre, welche den grenzenlosen Aberglauben und die räuberischen Instinkte der Neusibirier nimmer zu besiegen vermochten.

Die Hauptindustrie auf den Liakhoff-Inseln bildet der Fang der in diesen Seestrichen sehr zahlreichen Walfische und die Seehundsjagd, die hier fast ebenso ausgiebig wie auf der Beringinsel während der heißen Jahreszeit ist.

Der neusibirische Winter ist außerordentlich rauh und kalt. Die Eingeborenen wohnen oder verkriechen sich vielmehr in dunklen Löchern, die sie sich in die Schneemassen graben. Diese Löcher sind manchmal in Stuben abgeteilt, in denen es nicht schwer fällt, eine ziemlich hohe Temperatur zu erhalten. Was man hier brennt, ist fossiles, der Steinkohle ähnliches Holz, von dem sich auf diesen Inseln beträchtliche Lager vorfinden, abgesehen von den Walfischknochen, die ebenfalls als Brennmaterial benützt werden. Eine im Dache dieser Troglodytenhöhlen angebrachte Öffnung dient dem Rauche der äußerst primitiven Feuerstätten zum Ausgang. Auf den ersten Anblick scheint die Schneefläche über solchen Wohnungen Dämpfe emporzusenden wie eine Solfatara.

Was die Nahrung der Eingeborenen betrifft, so bildet das Fleisch von Renntieren deren Hauptbestandteil. Diese Wiederkäuer werden auf den Inseln und Inselchen der Liakhossgruppe in großen Rudeln gehegt. Auch die Elentiere dienen vielfach zur Nahrung; desgleichen die getrockneten Fische, von denen man einen großen Vorrat für den Winter aufzuspeichern pflegt. Auf diese Weise haben die Neusibirier keine Hungersnot zu fürchten.

Damals herrschte gerade ein Häuptling über die Liakhoff-Inseln, der sich Tschu-Tschuk nannte und bei seinen Unterthanen eines unbestrittenen Ansehens genoß. Einer absolutistisch-monarchischen Herrschaft unterworfen, weichen diese Eingeborenen wesentlich von den Eskimos Russisch-Amerikas ab, die in einer Art republikanischer Freiheit und Gleichheit leben. Auch stehen sie auf einer [221] viel niedrigeren Stufe hinsichtlich ihrer wilden Sitten und unwirtlichen Gebräuche, über welche die Walfischfänger sich häufig zu beklagen haben. Ja! man würde mit herzlichem Bedauern an sie zurückdenken, die wackeren Leute von Port-Clarence!

Soviel ist gewiß, die Familie Cascabel hätte nicht schlechter ankommen können. Nach der Katastrophe in der Beringstraße gerade auf die Liakhoff-Inseln zuzutreiben und jenen so gar nicht gastfreundlichen Stämmen in die Hände zu fallen, das hieß wirklich alle Grenzen des Mißgeschicks überschreiten!

Herr Cascabel verbarg denn auch nicht seine Enttäuschung, als er sich von etwa hundert Eingeborenen umringt sah, welche die Schiffbrüchigen, die der Zufall der Reise in ihre Gewalt gab, heulend und gestikulierend bedrohten.

»He! was wollen sie denn, diese Affen?« schrie er, indem er die ihn am nächsten Bedrängenden zurückstieß.

»Uns ergreifen, Vater,« antwortete Jean.

»Sonderbare Manier, Gäste zu empfangen!... Haben sie etwa Lust, uns zu verspeisen?...«

»Nein; aber sehr wahrscheinlich beabsichigten sie, uns auf ihrer Insel gefangen zu halten!«

»Gefangen?...«

»Ja, wie sie es bereits mit zwei Matrosen gemacht haben, die vor uns hierher verschlagen wurden...«

Jean hatte keine Zeit zu ausführlichen Erklärungen. Ein Dutzend Eingeborener faßten Herrn Sergius und seine Gefährten bei den Armen. Wohl oder übel mußte man sich mit denselben in das Dorf Turkef, eigentlich die Hauptstadt der Inselgruppe, begeben.

Unterdessen brachen einige zwanzig andere nach der Belle-Roulotte auf, deren seine Rauchsäule noch eben im dämmerigen Osten sichtbar war. Eine Viertelstunde später hatten die Gefangenen Turkef erreicht und wurden in das Innere einer geräumigen Höhle unterm Schnee geführt.

»Ohne Zweifel der Kerker des Ortes!« bemerkte Herr Cascabel, sobald man sie allein gelassen und sie sich um das in der Mitte des Raumes angezündete Feuer versammelt hatten.

Und nun mußten vor allem Jean und Kayette ihre Erlebnisse erzählen. Die Scholle, auf der sie zwischen den Eisbergen verschwunden, war in westlicher Richtung weitergetrieben... Jean hielt die junge Indianerin in seinen Armen, aus Furcht, daß sie durch die Stöße zu Boden geschleudert werden könnte... Sie hatten keine Lebensmittel, sie würden Stunde um Stunde obdachlos sein, aber sie waren doch wenigstens beisammen... An einander geschmiegt, würden sie vielleicht weder Kälte noch Hunger spüren... Die Nacht brach an... Wenn sie sich auch nicht sehen konnten, so hörten sie sich doch...


Die Stunden vergingen in beständigem Bangen. (Seite 222.)

[222] Die Stunden vergingen in beständigem Bangen. (Seite 222.)


Die Zeit verrann unter immerwährender Todesangst, da das Meer sie jeden Augenblick verschlingen konnte... Dann erschienen die bleichen Schimmer des Tages wieder, und fast gleichzeitig stießen sie an das Eisfeld... Jean und Kayette wagten sich auf die ungeheure Eisfläche; sie schritten lange vorwärts, bis sie die Kotelnii-Insel erreichten und den Eingeborenen in die Hände fielen.

[223] »Und du sagst, Jean,« fragte Herr Sergius, »daß sie hier noch andere Schiffbrüchige gefangen halten?«

»Ja, Herr Sergius,« antwortete Jean.

»Ihr habt sie gesehen?«

»Nein, Herr Sergius,« erwiderte Kayette, »aber ich verstand die Eingeborenen, da sie russisch sprechen, und sie erwähnten zweier Matrosen, die in ihrem Dorfe zurückgehalten werden.«

In der That ist das Idiom der nordsibirischen Stämme das Russische, und so würde Herr Sergius sich mit den Liakhoff-Insulanern verständigen können. Aber was stand von diesen Räubern zu hoffen, die, aus den ziemlich volkreichen Provinzen an den Flußmündungen verdrängt, sich auf die neusibirischen Inseln zurückgezogen haben, wo die moskowitische Verwaltung keine Macht über sie besitzt.

Herr Cascabel war ganz außer sich seit seiner Gefangennehmung. Er sagte sich, nicht ohne Grund, daß die Belle-Roulotte von diesen Schurken entdeckt, geplündert, vielleicht gar zerstört werden würde. In der That, es war kaum der Mühe wert, dem Eisbruch in der Beringstraße zu entrinnen, um diesem »Polarge sindel« in den Weg zu laufen!

»Höre, Cäsar,« sagte Cornelia zu ihm; »beruhige dich!... Es hilft nichts, sich aufzuregen!... Schließlich hätte uns noch Ärgeres begegnen können!«

»Ärgeres... Cornelia?«

»Ohne Zweifel, Cäsar! Was würdest du sagen, wenn wir Jean und Kayette nicht wiedergefunden hätten? Nun, sie sind beide hier, und wir sind alle, alle am Leben!... Denke an die Gefahren, denen wir ausgesetzt waren und denen wir entronnen sind... es ist ja ein Wunder!... So denke ich denn, statt mit der Vorsehung zu hadern, solltest du ihr danken...«

»Ich danke ihr auch, Cornelia, ich danke ihr aus dem Grunde meines Herzens! Aber darum wird es mir doch wohl gestattet sein, dem Teufel zu fluchen, der uns jenen Lumpen in die Hände gespielt hat!... Sie sehen ja mehr wie Tiere als wie Menschen aus!«

Und Herr Cascabel hatte recht, aber Cornelia hatte darum nicht unrecht. Von den Inwohnern der Belle-Roulotte fehlte keiner. Genau so, wie sie Port-Clarence verlassen hatten, sahen sie sich jetzt im Dorfe Turkef beisammen.

»Jawohl... in einem Iltis- oder Maulwurfsloche!« murmelte Herr Cascabel. »Eine Grube, welche ein einigermaßen wohlgeleckter Bär um keinen Preis zur Höhle haben möchte!«

»Ach... aber Clou?« schrie Xander auf.

In der That, was war aus dem wackeren Burschen geworden? Man [224] hatte ihn zum Schutze der Belle-Roulotte zurückgelassen. Hatte er das Eigentum seines Herrn mit Lebensgefahr zu verteidigen gesucht?... Befand er sich jetzt in der Gewalt der Wilden?

Nun Xander seine Familie an Clou-de-Girofle erinnert hatte, sagte Cornelia:

»Und Jako!...«

»Und John Bull!...« sagte Napoleone.

»Und unsere Hunde!« fügte Jean hinzu.

Selbstverständlich galt ihre Besorgnis vor allen Clou-de-Girofle. Der Affe, der Papagei, Wagram und Marengo kamen erst in zweiter Reihe.

In diesem Augenblick erscholl draußen Lärm. Es war ein Durcheinander von Flüchen und Hundegebell. Gleich darauf wurde der Verschluß der Höhle heftig aufgerissen. Herein stürzten Wagram und Marengo und hinter ihnen erschien Clou-de-Girofle.

»Da bin ich, Herr Direktor,« schrie der arme Teufel, »wenn es nicht etwa jemand anderes ist... denn ich weiß gar nicht mehr, woran ich bin!«

»Du bist genau ebenso daran wie wir,« antwortete Herr Cascabel, ihm die Hand drückend.

»Und die Belle-Roulotte?« fragte Cornelia lebhaft.

»Die Belle-Roulotte?...« antwortete Clou. »Ei nun, diese Gentlemen haben sie unterm Schnee entdeckt, sich wie Tiere davor gespannt und sie in ihr Dorf gezogen.«

»Und Jako?« sagte Cornelia.

»Jako ebenfalls.«

»Und John Bull?...« fiel Napoleone ein.

»John Bull desgleichen!«

Schließlich, wenn die Familie Cascabel in Turkef zurückgehalten wurde, so war es besser, daß auch das rollende Haus sich dort befinde, wenngleich es von Plünderung bedroht war.

Indessen begann der Hunger sich fühlbar zu machen, und die Eingeborenen schienen sich nicht um die Ernährung ihrer Gefangenen zu kümmern. Zum großen Glücke hatte der umsichtige Clou die Vorsicht gehabt, seine Taschen mit Lebensmitteln zu versehen. Er zog einige Büchsen mit Konserven hervor, welche vorderhand hinreichen würden. Dann rollten sich alle in ihre Pelze und schliefen so gut es ging in einer Atmosphäre, welche der Rauch des Herdfeuers fast unatembar machte.

Am nächsten Morgen – fünften Dezember – wurden Herr Sergius und seine Gefährten aus ihrem Gelasse hervorgezogen; es war ihnen eine unaussprechliche Erleichterung, sich in frischer Luft zu befinden, wenngleich die Kälte äußerst streng war.

[225] Man führte sie vor den Häuptling.

Dieser Potentat, ein Mann von listiger und nicht eben anziehender Physiognomie, hatte eine Art unter irdischer Wohnung inne, welche geräumiger und bequemer als die Erdnester seiner Unterthanen war. Diese Hütte war in den Fuß eines großen, felsigen Hügels gegraben, der in Schnee gehüllt war und dessen Gipfel ziemlich genau dem Kopfe eines Bären glich.

Tschu-Tschuk mochte etwa fünfzig Jahre zählen. Sein glattes, von kleinen, funkelnden Äuglein erhelltes Gesicht bekam durch die scharfen Fangzähne, die seine Lippe hinauszogen, etwas sozusagen tierisches. Auf einem Pelzhaufen sitzend, in Renntierfell gekleidet, Stiefel aus Seehundsleder an den Füßen und eine Pelzmütze auf dem Kopfe, wiegte er sich langsam hin und her.

»Sieht der wie ein alter Gauner aus!« murmelte Herr Cascabel.

Zu seinen Seiten standen zwei, drei Vornehme des Stammes. Draußen harrten etwa fünfzig Eingeborene, die ungefähr ebenso wie ihr Häuptling gekleidet waren und deren Geschlecht in der einförmigen Tracht der neusibirischen Männer und Frauen nicht zu unterscheiden war.

Tschu-Tschuk wandte sich zuerst zu Herrn Sergius, dessen Nationalität er zweifelsohne erraten hatte und fragte ihn in sehr verständlichem Russisch:

»Wer bist du?«

»Ein Unterthan des Zars,« antwortete Herr Sergius in der Hoffnung, daß dieser kaiserliche Titel vielleicht Eindruck auf den Inselherrscher machen werde.

»Und diese da?« fuhr Tschu-Tschuk fort, auf die Mitglieder der Familie Cascabel deutend.

»Franzosen!« antwortete Herr Sergius.

»Franzosen?...« wiederholte der Häuptling.

Und es schien, daß er nie etwas von einem Volke oder einem Stamme dieses Namens gehört habe.

»Nun ja!... Franzosen... Franzosen... aus Frankreich, Canaille!« rief Herr Cascabel.

Aber er sagte das in seiner eigenen Sprache und mit der Freimütigkeit eines Mannes, welcher die Gewißheit hat, nicht verstanden zu werden.

»Und jene dort?« fragte Tschu-Tschuk, auf Kayette deutend, denn es war ihm nicht entgangen, daß das junge Mädchen von fremdartiger Rasse sein müsse.

»Eine Indianerin,« antwortete Herr Sergius.

Und nun entwickelte sich ein ziemlich lebhaftes Gespräch zwischen Tschu-Tschuk und ihm – ein Gespräch, dessen Hauptinhalt Herr Sergius der Familie Cascabel verdolmetschte.

[226] [228]Schließlich ergab sich aus diesem Gespräche, daß die Schiffbrüchigen sich als Gefangene zu betrachten hätten und solange auf der Kotelnii-Insel bleiben müßten, bis sie ein Lösegeld von dreitausend Rubel in guter russischer Münze erlegten.

»Und wo will er, daß wir die hernehmen, dieser Polarbär?« rief Herr Cascabel. »Die Lumpen haben sicher alles gestohlen, was noch von Ihrem Gelde übrig war, Herr Sergius!...«


Sie wurden vor den Häuptling geführt. (Seite 226.)

Tschu-Tschuk gab ein Zeichen und die Gefangenen wurden hinausgeführt. Man gestattete ihnen, frei im Dorfe umherzugehen, unter der Bedingung, daß sie sich nicht daraus entfernen würden; und sie gewahrten vom ersten Tage an, daß man sie sorgfältig bewachte. Übrigens wäre es ihnen um diese Jahres, zeit, im tiefsten Winter, sowieso unmöglich gewesen, sich auf das Festland hinüber zu flüchten.

Herr Sergius und seine Gefährten hatten sich sofort zur Belle-Roulotte begeben. Dort drängte sich eine dichte Menge in hellem Entzücken um John Bull, der sie mit seinen prächtigsten Grimassen regalierte. Da sie nie einen Affen gesehen hatten, bildeten sie sich wahrscheinlich ein, daß dieses vierhändige rothaarige Geschöpf zur menschlichen Rasse gehöre.

»Gehören sie doch dazu!« bemerkte Cornelia.

»Jawohl... und gereichen ihr zur Schande!« versetzte Herr Cascabel.

Dann besann er sich.

»Ich habe sogar unrecht gehabt,« fügte er hinzu, »diese Wilden Affen zu nennen! Sie stehen denselben in jeder Hinsicht nach und ich bitte dich deshalb um Verzeihung, mein kleiner John Bull!«

John Bull bedankte sich mit einem Purzelbaum. Aber als einer der Eingeborenen seine Hand ergreifen wollte, biß er ihn bis aufs Blut.

»Bravo, John Bull!... Beiße sie!... Beiße sie gehörig!« rief Xander.

Indessen hätte die Sache ein schlimmes Ende für den Affen nehmen können und sein Biß wäre ihm vielleicht teuer zu stehen gekommen, wenn die Aufmerksamkeit der Wilden nicht durch Jakos Erscheinen abgelenkt worden wäre, dessen Käfig man geöffnet hatte und der gravitätisch einherwatschelte.

In Neusibirien waren die Papageien ebensowenig bekannt wie die Affen. Nie hatte man einen Vogel dieser Art erblickt, einen Vogel mit solch buntem Gefieder, solch runden, schneebrillenförmigen Augen und so hakenartig gekrümmtem Schnabel.

Und welchen Eindruck Jako erst machte, als einige deutlich artikulierte Worte aus seinem Schnabel erklangen! Das ganze Repertoire des gesprächigen Vogels wurde erschöpft – zum starren Erstaunen der Eingeborenen. Ein redender Vogel!... Abergläubisch wie sie waren, warfen sie sich so erschrocken [228] zur Erde, als ob diese Worte aus dem Munde ihrer Götzen gekommen wären. Und Herr Cascabel belustigte sich damit, seinen Papagei anzueifern.

»Nur zu, Jako!« rief er ermunternd. »Geniere dich nicht, Jako; sag diesen Dummköpfen deine Meinung!«

Und Jako gehorchte mit Vergnügen. Und er stieß ein solches Trompetengeschmetter aus, daß die Eingeborenen mit den Zeichen des größten Schreckens davonliefen. Wie herzlich da die »Familie«, wie ihr berühmtes Oberhaupt sie nannte, trotz ihrer Besorgnisse lachte!

»Ja!... ja!« sagte Herr Cascabel, ein wenig von seiner guten Laune wiederfindend; »es müßte doch mit dem Teufel zugehen, wenn es uns nicht gelingen sollte, mit dieser Herde von Einfaltspinseln fertig zu werden!«

Die Gefangenen waren allein geblieben, und da Tschu-Tschuk die Belle-Roulotte zu ihrer Verfügung zu lassen schien, konnten sie nichts besseres thun, als sich wieder in ihrer alten Wohnung zu installieren. Ohne Zweifel fanden die Neusibirier, daß dieselbe sich nicht mit ihren Löchern unterm Schnee messen könne.

Um die Wahrheit zu sagen, waren nur einige Gegenstände von geringerer Bedeutung aus dem Gefährt geraubt worden, aber auch das noch übrige Geld des Herrn Sergius, – eine Beute, welche Herr Cascabel nicht gesonnen war, selbst in der Form eines Lösegeldes fahren zu lassen. Einstweilen konnte man von Glück sagen, daß man den Salon, das Speisezimmer, die Schlafkammern der Belle-Roulotte wieder bewohnen durfte, statt sich in den ungesunden Raubtierhöhlen von Turkef aufhalten zu müssen. Von der Einrichtung fehlte nichts. Bettzeug, Küchengeräte und Konservenvorrat schienen nicht das Glück gehabt zu haben, den eingeborenen Herren und Damen zu gefallen. Wenn man, einer Gelegenheit zur Flucht harrend, auf der Kotelnii-Insel überwintern mußte, nun, so hatte man während der Zeit wenigstens ein freundliches Obdach.

Da man sie unbehindert gehen und kommen ließ, beschlossen Herr Sergius und seine Gefährten, sich mit den beiden Matrosen in Verbindung zu setzen, welche ein Schiffbruch auf die Liakhoff-Inseln verschlagen haben mochte. Vielleicht konnten sie irgend eine Verabredung mit denselben treffen, um Tschu-Tschuks Aufmerksamkeit zu täuschen und, sobald die Umstände sich günstiger anließen, die Flucht zu bewerkstelligen.

Man verwendete den Rest des Tages darauf, im Innern der Belle-Roulotte wieder alles an Ort und Stelle zu bringen. Ein tüchtiges Stück Arbeit! Und wie Cornelia, die ordnungliebende Hausfrau, sich ärgerte! Kayette, Napoleone und Clou-de-Girofle hatten bis zum späten Abend die Hände voll zu thun.

[229] Nebenbei ist zu bemerken, daß Herr Cascabel, seitdem er bei sich beschlossen, Seiner Majestät Tschu-Tschuk einen schlimmen Streich zu spielen, all seine frühere, durch die letzten Schicksalsschläge so hart mitgenommene gute Laune wiedererlangt hatte.

Am nächsten Morgen machten Herr Sergius und er sich auf die Suche nach den beiden Matrosen. Letztere genossen vermutlich derselben Freiheit, welche man den neuen Ankömmlingen ließ. Sie waren in der That nicht eingekerkert und die Begegnung fand vor dem Eingang des von ihnen bewohnten Gelasses am äußersten Ende des Dorfes statt, ohne den geringsten Widerstand seitens der Eingeborenen hervorzurufen.

Diese Matrosen, von denen der eine fünfunddreißig, der andere vierzig Jahre zählte, waren moskowitischen Ursprungs. Ihre zerfetzten Pelzhüllen und Seemannskleider, ihre durch Hunger und Kälte verzerrten, hohläugigen Gesichter und langen, wirren Haare und Bärte gaben ihnen ein sehr elendes Aussehen. Trotzdem waren es gesunde, kräftig gebaute Männer, die gelegentlich tüchtige Dienste zu leisten vermocht hätten. Indessen schienen sie nicht sehr geneigt, mit den Fremden, deren Ankunft auf der Kotelnii-Insel sie bereits erfahren hatten, in Verbindung zu treten. Und doch hätte die Gleichheit ihrer Lage, der gemeinsame Wunsch, sich mit vereinten Kräften daraus zu befreien, sie der Familie Cascabel näher bringen müssen.

Herr Sergius redete die beiden Männer auf russisch an. Der ältere erklärte Ortik zu heißen, der jüngere Kirschef. Nach einigem Zaudern ließen sie sich herbei, ihre Geschichte zu erzählen.

»Wir sind Matrosen aus der Hafenstadt Riga,« sagte Ortik. »Vor einem Jahre schifften wir uns an Bord des Walfischfahrers »Seraski« ein, um dem Fange im nördlichen Eismeer obzuliegen. Zum Unglück vermochte unser Schiff zu Ende der günstigen Jahreszeit die Beringstraße nicht rechtzeitig zu erreichen, sondern blieb im Eise stecken, welches es nördlich von den Liakhoff-Inseln zertrümmerte. Die ganze Mannschaft, mit Ausnahme von Kirschef und mir, ging zu Grunde. Wir waren in ein Boot gesprungen und der Sturm schleuderte uns auf die neusibirischen Inseln, wo wir in die Gewalt der Eingeborenen gerieten.«

»Um welche Zeit?« fragte Herr Sergius.

»Vor zwei Monaten!«

»Und was für einen Empfang hat man Ihnen bereitet?«...

»Zweifellos einen ähnlichen wie Ihnen,« antwortete Ortik. »Wir sind die Gefangenen Tschu-Tschuks und er will uns nur gegen ein Lösegeld entlassen...«

»Und woher sollen wir eines nehmen?« warf Kirschef ein.

Ortik fügte in ziemlich rauhem Tone hinzu:

[230] »Wenn Sie nicht etwa Geld haben... für sich und für uns... denn wir sind Landsleute, wenn ich nicht irre?...«

»Das sind wir,« antwortete Herr Sergius. »Aber das Geld, das wir besaßen, ist von den Eingeborenen gestohlen worden, und wir sind so völlig von Hilfsmitteln entblößt, wie Sie es nur immer sein können!«

»Um so schlimmer!« versetzte Ortik.

Darauf schilderten die beiden ihre Lebensweise. Jene enge, dunkle Höhle diente ihnen zur Wohnung und man ließ ihnen eine gewisse Freiheit, bewachte sie aber doch. Ihre Kleidung war zersetzt und sie hatten keine andere Nahrung als die gewöhnliche Nahrung der Eingeborenen, die ihnen kaum genügte. Im übrigen glaubten sie, daß die Überwachung beim Anbruch der milderen Jahreszeit, wo ein Entweichen möglich wäre, viel schärfer werden würde.

»Da man sich dann bloß eines Fischerkanoes zu bemächtigen braucht, um das Festland zu gewinnen. so werden die Eingeborenen sicher mißtrauischer werden und uns vielleicht gar einsperren...«

»Aber die mildere Jahreszeit,« antwortete Herr Sergius, »die bricht erst in vier bis fünf Monaten an; wenn wir bis dahin gefangen bleiben...«

»Also haben Sie ein Mittel zu entkommen?...« fragte Ortik lebhaft.

»Augenblicklich noch nicht,« antwortete Herr Sergius. »Inzwischen ist es ganz natürlich. daß wir einander zu helfen suchen. Sie scheinen viel gelitten zu haben, meine Freunde, und wenn wir Ihnen nützlich sein können...«

Die beiden Matrosen dankten Herrn Sergius mit einer gewissen Zurückhaltung. Wenn er ihnen von Zeit zu Zeit etwas bessere Nahrung zukommen lassen wolle, so würden sie ihm erkenntlich sein. Sonst verlangten sie nichts, wenn man ihnen nicht etwa einige Decken schenken wolle. Aber mit den Neuangekommenen beisammen wohnen, nein! Sie zogen es vor, in ihrem Loche zu bleiben. Indessen versprachen sie, die Familie zu besuchen.

Herr Sergius und Herr Cascabel, der hin und wieder etwas von dem Gespräche verstanden hatte, verabschiedeten sich von den beiden Matrosen. Wenngleich die Physiognomie dieser Leute keine sehr sympathische war, so war das kein Grund, ihnen nicht beizustehen. Schiffbrüchige sind einander Hilfe und Unterstützung schuldig. Man würde ihre Lage also nach Möglichkeit erleichtern und wenn sich eine Gelegenheit zur Flucht bot, so würde Herr Sergius sie nicht verlassen. Waren es doch Landsleute von ihm... Waren es doch Menschen wie er!

Vierzehn Tage vergingen, während deren man sich allmählich in die neue Lage hineinfand. Jeden Morgen war man verpflichtet, vor dem eingeborenen Herrscher zu erscheinen und seine Nergeleien wegen des geforderten Lösegeldes über sich ergehen zu lassen. Er brauste auf, stieß Drohungen aus, schwor bei seinen Götzen... Nicht für sich selber, für sie verlange er den Befreiungstribut.

[231] »Alter Schelm!« rief Herr Cascabel. »Fang einmal damit an, daß du uns das gestohlene Geld zurückgiebst!... Dann sehen wir weiter!«

Überhaupt war die Zukunft besorgniserregend. Man mußte immer fürchten, daß er seine Drohungen ausführen könnte, dieser Tschu-Tschuk, oder vielmehr Tuck-Tuck, wie Herr Cascabel ihn nannte, obgleich ein Kosename, ihm ungefähr so gut stehe, wie ein Schäferhut einem gelbhaarigen Englishman!«

Und er sann noch immer auf irgend ein Mittel, ihm einen Streich nach seinem Geschmack zu spielen. Was für einen?... Er sann und fand nichts. Schließlich fragte er sich, ob sein Sack denn leer sei; unter diesem Sacke verstand er sein Gehirn. In der That, der Mann, welcher sich den schönen, ebenso kühnen als bedauerlichen Einfall gestattet hatte, aus Amerika über Asien nach Europa zu reisen, hatte allen Grund, sich jetzt nur mehr für einen Dummkopf anzusehen.

»Nicht doch, Cäsar, nicht doch!« sagte Cornelia wiederholt zu ihm. »Du wirst schließlich schon einen seinen Kniff ersinnen!... Du wirst in einem Augenblick darauf verfallen, wo du am wenigsten daran denkst!«

»Glaubst du?...«

»Ich bin dessen gewiß!«

War es nicht rührend, das unerschütterliche Vertrauen zu sehen, welches Frau Cascabel trotz jenes unglückseligen Reiseplanes nach wie vor in das Genie ihres Mannes setzte?

Überdies war Herr Sergius zur Stelle, um ihnen allen Mut einzuflößen, wenngleich seine Versuche, Tschu-Tschuk von seinen Ansprüchen abzubringen, keinen Erfolg hatten. Übrigens war kein Grund zu allzu großer Ungeduld vorhanden. Selbst wenn der eingeborene Häuptling sich dazu verstanden hätte, ihr die Freiheit zu schenken, so hätte die Familie Cascabel die Kotelnii-Insel nicht im tiefen Winter, bei einer Temperatur von vierzig Grad unter Null, verlassen können.

Der fünfundzwanzigste Dezember kam heran und Cornelia wollte Weihnachten mit einigem Glanze gefeiert sehen. Der Glanz sollte einfach darin bestehen, daß sie ihren Gästen ein sorgfältiger zubereitetes und reicheres Mahl als gewöhnlich vorsetzte, bei dem die Konserven die Hauptkosten zu tragen hatten. Da es ihr überdies weder an Mehl, noch an Reis und Zucker fehlte, so verwendete die vortreffliche Hausfrau ihre ganze Sorgfalt darauf, einen riesigen Kuchen zu backen, dessen Erfolg im voraus gesichert war.

Die beiden russischen Matrosen wurden zu diesem Schmause entboten und leisteten der Einladung Folge. Es war das erste Mal, daß sie das Innere der Belle-Roulotte betraten.

Sowie der eine von ihnen – der sich Kirschef nannte – sprach, fiel der Klang seiner Stimme Kayetten auf. Diese Stimme schien ihr nicht unbekannt. [232] Aber wo sie dieselbe schon einmal gehört, das hätte sie nicht zu sagen vermocht.

Übrigens fühlten sich weder Cornelia, noch Napoleone, noch auch Clou zu diesen beiden Menschen hingezogen, welche sich in der Gegenwart von ihresgleichen unbehaglich zu fühlen schienen.

Gegen Ende der Mahlzeit erzählte Herr Sergius auf Ortiks Bitte die Erlebnisse der Familie Cascabel in der alaskischen Provinz, – wie dieselbe ihn halbtot aufgefunden und gerettet habe, als einige Spießgesellen der Karnossschen Bande einen Mordversuch an ihm verübt. Wären ihre Gesichter im vollen Lichte gewesen, so hätte man sehen können, wie die beiden Matrosen bei der Erwähnung jenes Verbrechens einen eigentümlichen Blick tauschten. Aber dieser Blick blieb unbemerkt und nachdem sie ihren gehörigen Anteil an dem Kuchen bekommen hatten, der reichlich mit Wódka benetzt wurde, verließen Ortik und Kirschef die Belle-Roulotte.

Sobald sie draußen waren, sagte der eine:

»Ein nettes Zusammentreffen!... Es ist der Russe, den wir an der Grenze angegriffen haben und den wir ohne die Dazwischenkunft jener verdammten Indianerin umgebracht...«

»Und beraubt hätten!« fiel der andere ein.

»Jawohl!... jener Tausende von Rubeln, die sich jetzt in Tschu-Tschuks Händen befinden!«

Also waren die beiden vermeintlichen Matrosen Mitglieder der Karnossschen Bande, deren Missethaten in ganz Westamerika Schrecken verbreitet hatten. Nach ihrem vereitelten Attentat auf Herrn Sergius, dessen Züge sie in der Dunkelheit nicht zu erkennen vermocht, hatten sie ihren Weg nach Port-Clarence genommen. Einige Tage später hatten sie den Versuch gemacht, in einem gestohlenen Boote über die Beringstraße zu setzen. Aber die Strömungen hatten sie mit sich gerissen, bis sie nach unsäglichen Gefahren an der Hauptinsel der Liakhossgruppe scheiterten und von den Eingeborenen gefangen genommen wurden.

6. Capitel
VI. Überwinterung.

So war die Lage des Herrn Sergius und seiner Reisegefährten beschaffen, als man den ersten Januar 1868 schrieb. Schon sehr beunruhigend durch die Gefangenschaft bei den Liakhoff-Insulanern, wurde dieselbe durch die [233] Anwesenheit Ortiks und Kirschefs noch bedenklicher. Wer wußte, ob die beiden Bösewichter nicht den Versuch machen würden, aus dieser unerwarteten Begegnung Nutzen zu ziehen? Zum Glück wußten sie nicht, daß der von ihnen an der alaskischen Grenze Angegriffene Graf Narkine sei, ein politischer Flüchtling, der aus der Festung Jakutsk entwichen war und nun, unter das Personal einer Jahrmarktstruppe gemischt, nach Rußland zurückzukehren suchte. Hätten sie das gewußt, sie würden sicher nicht gezögert haben, sich das Geheimnis zu nutze zu machen, dem Grafen Narkine Geld zu erpressen, ihn sogar gegen eine ihnen zu gewährende Belohnung oder Prämie den moskowitischen Behörden auszuliefern. Aber mußte man nicht fürchten, daß der Zufall das Geheimnis enthüllen könnte, von dem bis jetzt nur die Eheleute Cascabel Kenntnis hatten?«

Übrigens setzten Ortik und Kirschef ihr abgeschiedenes Leben fort, wenngleich sie fest entschlossen waren, sich im gegebenen Falle den Bemühungen des Herrn Sergius anzuschließen, um ihre Freiheit wieder zu erlangen.

So viel war klar, während der Winterperiode des Polarjahres konnte man nichts unternehmen. Die Kälte war so außerordentlich geworden, daß der Atem sich in der Luft in Schnee verwandelte Das Thermometer sank zuweilen auf vierzig Grad Celsius unter Null herab. Selbst bei windstillem Wetter wäre es unmöglich gewesen, eine solche Temperatur zu ertragen. Cornelia und Napoleone wagten nicht mehr, die Belle-Roulotte zu verlassen, und übrigens würde man sie auch daran verhindert haben. Wie endlos ihnen diese Tage ohne Sonne, oder vielmehr diese vierundzwanzigstündigen Nächte schienen!

An das nordamerikanische Klima gewöhnt, scheute Kayette sich nicht, der Kälte draußen Trotz zu bieten. Dasselbe thaten die einheimischen Frauen. Sie gingen ihrer gewohnten Arbeit nach, in ein doppeltes Gewand aus Renntierfell gekleidet, in den Palsk aus Pelzwerk gehüllt, Pelzstrümpfe und Mokassins aus Seehundsleder an den Füßen, eine mit Hundsleder gefütterte Mütze auf dem Kopf. Nicht einmal ihre Nasenspitze war sichtbar – was übrigens nicht bedauerlich erschien.

Herr Sergius, Herr Cascabel, dessen beide Söhne und Clou-de-Girofle machten, fest in ihre Pelze gewickelt, täglich ihre obligatorische Aufwartung bei Tschu-Tschuk; desgleichen die beiden russischen Matrosen, die man mit warmen Decken versehen hatte.

Die Bewohner von Neusibirien gehen bei jedem Wetter ins Freie. Sie jagen auf der hartgefrorenen Oberfläche der weiten Ebenen, stillen ihren Durst mit Schnee und nähren sich vom Fleische der unterwegs getöteten Tiere. Ihre sehr leichten, aus Walfisch-Barten, -Rippen und -Kinnbacken angefertigten Schlitten ruhen auf Kufen, die sie kurz vor der Abfahrt durch Anfeuchtung [234] mit einer Eisschicht überziehen. Ihr Gespann besteht aus Renntieren, welche ihnen vorzügliche Dienste leisten. Was die samojedischen Hunde betrifft, so gleichen dieselben Wölfen an Gestalt und Wildheit; sie sind hochbeinig und mit dichtem, schwarzweißem oder gelbbraunem Pelze bedeckt.

Wenn die Neusibirier zu Fuße reisen, so legen sie den »Ski«, ihren langen Schneeschuh an, mit dem sie schnell über weite Strecken dahinfliegen, am Rande[235] der Kanäle, welche die verschiedenen Inseln von einander trennen, längs der, »Tundras«, Landstreifen, die man häufig vor die arktischen Meeresufer gelagert sieht.

In der Waffenfabrikation können die Liakhoff-Insulaner sich nicht im entferntesten mit den nordamerikanischen Eskimos messen. Bogen und Pfeile sind alles, was ihr offensives und defensives Arsenal aufzuweisen hat. Von Fischereigeräten besitzen sie Harpunen, mit welchen sie die Walfische angreifen und Netze, die sie unter den »Grundis«, einer Art Grundeis, wo die Seehunde sich fangen lassen, aufspannen. Sie benützen auch Lanzen und Messer in ihren Kämpfen mit den Walrossen – nicht ganz ungefährlichen Kämpfen, denn diese Säugetiere sind furchtbare Gegner.


Diese Einheimischen gaben Proben ihrer Tapferkeit. (Seite 236.)

Diese Einheimischen gaben Proben ihrer Tapferkeit. (Seite 236.)


Aber das Wild, dessen Nähe oder Angriff sie am meisten zu fürchten haben, ist der Eisbär, den die intensive Winterkälte und die Notwendigkeit, sich nach tagelangem Fasten ein wenig Nahrung zu verschaffen, manchmal bis in die Dörfer der Inselgruppe treibt. Man muß gestehen, daß die Eingeborenen sich bei solchen Anlässen tapfer zeigen; sie fliehen nicht vor dem gewaltigen Tiere, dessen unfreiwillige Enthaltsamkeit es nur noch grimmiger macht; sie werfen sich ihm entschlossen, mit dem Messer in der Hand, entgegen und der Kampf endigt meistens zu ihren Gunsten.

In der That waren die Cascabels mehrmals Zeugen eines derartigen Angriffes, bei welchem der Polarbär, nachdem er mehrere Männer schwer verwundet hatte, der Übermacht unterlag. Da eilte dann der ganze Stamm zusammen und das Dorf feierte ein Freudenfest. Welch ein Leckerbissen das Bärenfleisch für sibirische Magen zu sein schien! Die besten Stücke wanderten nach Gebühr auf den Tisch oder vielmehr in den Napf Tschu-Tschuks. Was seine ergebenen Unterthanen betrifft, so bekam jeder einen kleinen Teil von dem, was er ihnen zu überlassen geruhte. Das war eine gute Gelegenheit zu langmächtigen Trankopfern und der daraus entstehenden allgemeinen Trunkenheit – eine Trunkenheit, an welcher ein Getränk die Schuld trug, das man aus jungen Salix- und Rhodiolatrieben, Preißelbeeren und den in den wenigen Sommerwochen reichlich eingeernteten gelben Sumpfbeeren braute.

Eigentlich sind die Bären auf diesen Inselgruppen selten und so kann man nicht auf dieses Wild rechnen, dessen Erlegung überdies immer mit großer Gefahr verbunden ist. Darum bildet denn auch das Renntierfleisch den Hauptbestandteil der einheimischen Nahrung, und die Frauen bereiten aus dem Blute dieser Tiere eine Suppe, welche die Cascabels stets mit größtem Widerwillen erfüllte.

Fragt man, wie die Renntiere während des Winters zu leben vermögen, so erhält man die einfache Antwort, daß es ihnen keine Verlegenheit bereitet, ihre vegetabilische Nahrung selbst unter einer dicken Schneedecke zu suchen.

[236] Überdies werden ungeheure Futtervorräte vor dem Eintritte der Kälte eingeheimst, und das genügt, um die Tausende von Wiederkäuern zu ernähren, welche die Gebiete Neusibiriens umschließen.

»Tausende!... Und wenn man bedenkt, daß zwanzig hinreichen würden, um uns aus jeder Verlegenheit zu befreien!« sagte Herr Cascabel wiederholt, indem er nachsann, wie er sein Gespann ersetzen solle.

Hier ist nochmals zu betonen, daß die Liakhoff-Insulaner nicht nur Götzenanbeter, sondern auch äußerst abergläubisch sind, daß sie alles auf ihre Gottheiten beziehen und ihren mit eigenen Händen angefertigten Götzen blindlings gehorchen. Diese Götzenanbetung übersteigt jeden Begriff, und allen voran gab der große Häuptling Tschu-Tschuk sich seiner Religion mit einem Fanatismus hin, den seine Unterthanen bereitwillig teilten.

Tag für Tag begab Tschu-Tschuk sich in eine Art Tempel, oder vielmehr an eine heilige Stätte, welche den Namen »Vorspük« (Gebetgrotte) trug. Die einfach durch bemalte Pfosten dargestellten Götzen waren im Hintergrunde einer felsigen Höhle aufgepflanzt, in welcher die Eingeborenen sich der Reihe nach auf den Boden warfen. Sie trieben die Intoleranz nicht so weit, den Fremden den Eintritt ins Vorspük zu wehren; im Gegenteil, sie luden sie dahin ein. So konnten denn Herr Sergius und seine Gefährten ihre Neugierde befriedigen, indem sie den neusibirischen Götzen einen Besuch abstatteten.

Am oberen Ende dieser Pfosten grinsten abscheuliche Vögelköpfe mit runden, roten Augen, mächtigen, weit aufgesperrten Schnäbeln und knochigen, hornartig gebogenen Kämmen. Die Gläubigen legten sich vor diesen Pfosten auf die Erde, hielten ihr Ohr daran, verrichteten ihre Gebete; und obgleich die Gottheit ihnen niemals geantwortet hatte, gingen sie doch in der Überzeugung fort, ihre Antwort vernommen zu haben – eine Antwort, welche gewöhnlich mit den geheimen Wünschen der Anbeter im Einklang stand. Wenn es sich um irgend eine neue Abgabe handelte, welche Tschu-Tschuk seinen Unterthanen auferlegen wollte, so verfehlte der Schlaukopf nie, die himmlische Zustimmung einzuholen und kein einziger seiner Unterthanen würde sich einem so hohen Befehle widersetzt haben.

Einmal in der Woche fand eine wichtigere religiöse Ceremonie statt, zu welcher die Eingeborenen sich in großem Staate begaben. Mochte die Kälte noch so groß sein, der Schneesturm noch so heftig über die Ebenen hinrasen, niemand zögerte, Tschu-Tschuk ins Vorspük zu folgen. Und weiß man, wie Männer und Frauen sich seit der Ankunft der Belle-Roulotte zu diesen Feierlichkeiten herausstaffierten? Mit dem der Familie entwendeten Flitterstaate, den sie über ihren Kleidern trugen, den verblichenen Trikots des Herrn Cascabel, den zerknitterten Röcken Cornelias, den weiten Mänteln ihrer Kinder, dem federbuschgeschmückten Helm Clou-de-Girofles! Und das Klappenhorn, [237] in das einer von ihnen blies, bis ihm der Atem ausging, die Posaune, welcher ein anderer höchst unwahrscheinliche Töne entlockte, die Handtrommel, die große Trommel, sämtliche Instrumente des Jahrmarkts-Orchesters mußten mit ihrem betäubenden Lärm den Glanz des Festes erhöhen!

Da zeterte Herr Cascabel dann gegen diese Schurken, diese Räuber, die sich die Freiheit nahmen, seine Kostüme zu tragen, seine Instrumente zu ruinieren!

»Canaillen!.. Canaillen!« sagte er immer wieder, und selbst Herrn Sergius gelang es nicht, ihn zu beruhigen.

Indem sie sich derart in die Länge zog, begann die Situation entnervend zu wirken, die Tage und Wochen schlichen so langsam dahin! Und dann, wie würde das Ende sein, wenn es überhaupt ein Ende gab? Indessen ging die Zeit, die man nicht mehr auf Übungen verwenden konnte, – und Herr Cascabel fürchtete, daß sein Personal arg eingerostet nach Perm kommen werde, – diese Zeit ging nicht ganz nutzlos vorüber. Um der Entmutigung der Familie vorzubeugen, fesselte Herr Sergius seine Zuhörer unermüdlich mit Erzählungen und Belehrungen.

Dagegen hatte Herr Cascabel ihm mehrere Taschenspielerstückchen beigebracht – zu seinem Vergnügen, sagte er. Aber in Wahrheit konnte das Herrn Sergius nützlich werden, wenn er je die Rolle eines Gauklers spielen wollte, um die moskowitische Polizei zu täuschen. Was Jean betrifft, so war er damit beschäftigt, die Erziehung der jungen Indianerin zu vollenden. Unter der Anleitung ihres jugendlichen Lehrmeisters übte die Schülerin sich im Schreiben und Lesen. Kayette besaß einen so lebhaften Verstand und Jean war so eifrig bemüht, ihn auszubilden! War es denn vom Geschick bestimmt, daß dieser wackere Junge, der das Studieren so leidenschaftlich liebte, der so reich begabt war, nie etwas anderes als ein armer Jahrmarktsgaukler sein sollte, daß es ihm nie gelingen sollte, auf der gesellschaftlichen Stufenleiter höher emporzuklimmen? Ah, das war ein Geheimnis, welches die Zukunft lösen würde; und welche Zukunft stand dieser Familie bevor, die sich an den äußersten Grenzen der bekannten Welt in der Gewalt eines wilden Stammes befand?

In der That schienen Tschu-Tschuks Forderungen nicht mäßiger werden zu wollen. Er würde seine Gefangenen nicht ohne Lösegeld ziehen lassen und es hatte nicht den Anschein, als ob ihnen von außen Hilfe kommen könnte. Wie aber sollte man sich das von dem habgierigen Beherrscher der Liakhoff-Inseln geforderte Geld verschaffen?

Freilich besaßen die Cascabels einen Schatz – ohne es selber zu wissen. Das war der Goldklumpen, der kostbare Goldklumpen des jungen Xander – wenigstens hegte der Bursche keinen Zweifel hinsichtlich seines Wertes. Wenn [238] ihn niemand sah, zog er das Erz aus seinem Versteck hervor, betrachtete es, rieb es, glättete es. Gewiß, er würde nicht gezögert haben, es zu opfern, um Tschu-Tschuk umzustimmen und seine Familie loszukaufen. Aber ein Stück Gold in Form eines Kiesels würde der Tuck-Tuck seines Vaters nie statt barer Münze annehmen. Dann hing auch Xander an seiner Idee, die Ankunft in Europa abwarten zu wollen. Dort würde er seinen Goldklumpen [239] schon gegen gemünztes Gold eintauschen und damit die in Amerika geraubten Dollars vorteilhaft ersetzen können!


Xander zog das Erz aus seinem Versteck.

Ein vortrefflicher Plan, wenn man nur die Ankunft in Europa zu bewerkstelligen vermochte. Es hatte wirklich nicht den Anschein, als ob es bald dazu kommen würde. Und mit dieser Frage beschäftigten sich auch die beiden Missethäter, welche die Mißgunst des Schicksals der Familie Cascabel in den Weg geführt hatte.

Eines Tages – am dreiundzwanzigsten Januar – erschien Ortik in der Belle-Roulotte, um sich mit Herrn Sergius, Jean und dessen Vater über ihre Rückkehr in die Heimat zu besprechen. Sein eigentlicher Zweck aber war, in Erfahrung zu bringen, was die Gefangenen zu thun gedächten, falls Tschu-Tschuk sie von der Insel entließe.

»Herr Sergius,« fragte er vor allem, »war es Ihre Absicht, als Sie Port-Clarence verließen, in Sibirien zu überwintern?«

»Ja,« antwortete Herr Sergius;»wir wollten irgend einen Marktflecken zu erreichen suchen, wo wir bis zum Anbruch der schönen Jahreszeit Aufenthalt genommen hätten. Warum fragen Sie das, Ortik?«

»Weil ich wissen möchte, ob Sie zu Ihrem anfänglichen Reiseplane zurückzukehren gedenken, falls diese verwünschten Eingeborenen uns freigeben...«

»Nein,« erwiderte Herr Sergius?« denn das hieße einen ohnedies langen Weg nutzlos verlängern. Meiner Ansicht nach wäre es besser, die Richtung nach der russischen Grenze zu nehmen, um einen der Uralpässe zu gewinnen...«

»Im Norden der Bergkette?...«

»Freilich, da wir den kürzesten Weg durch die Steppe einschlagen würden.«

»Und Ihr Wagen, Herr Sergius?« fuhr Ortik fort. »Würden Sie den zurücklassen?...«

Herr Cascabel hatte diese Frage augenscheinlich verstanden, denn er beeilte sich, zu erwidern:

»Die Belle-Roulotte zurücklassen!... Nein, gewiß nicht, wenn ich mir ein Gespann verschaffen kann; und in kurzem... hoffe ich...«

»Haben Sie einen Einfall?...« fragte Herr Sergius.

»Nicht den Schatten von einem Einfall; aber Cornelia sagt mir unaufhörlich, daß mir schon einer kommen wird, und Cornelia täuscht sich nie. Das ist eine hervorragende Frau, und sie kennt mich gut, Herr Sergius!«

Immer derselbe, dieser erstaunliche Cäsar Cascabel, immer seinem Sterne vertrauend und der entschiedenen Ansicht, daß vier Franzosen und drei Russen doch mit einem Tschu-Tschuk fertig werden müßten.

Herr Sergius hatte Ortik die Meinung des Herrn Cascabel in Bezug auf die Belle-Roulotte mitgeteilt.

[240] »Aber um Ihren Wagen mitzunehmen,« begann der russische Matrose wieder, beharrlich auf diesen Punkt zurückkommend, »werden Sie eines Renntiergespanns bedürfen...«


Herr Cascabel kraute sich den Kopf so, daß er sich beinahe die Haare ausraufte. (Seite 242.)

»Allerdings.«

»Und Sie glauben, daß Tschu-Tschuk Sie mit einem solchen versehen werde?«

[241] »Ich glaube, daß Herr Cascabel ein Mittel finden wird, ihn dazu zu zwingen.«

»Und dann werden Sie die sibirische Küste zu er reichen suchen, indem Sie über das Eisfeld fahren?«

»So ist's.«

»In diesem Falle wäre es notwendig, Herr Sergius, vor dem Eintritt von Tauwetter aufzubrechen, also vor Ablauf von drei Monaten...«

»Offenbar.«

»Und wie?«

»Vielleicht werden die Eingeborenen sich dann dazu verstehen, uns ziehen zu lassen...«

»Ich glaube nicht, da es unmöglich sein wird, das geforderte Lösegeld zu bezahlen.«

Herr Cascabel, dem Ortiks Bemerkung verdolmetscht wurde, antwortete sogleich:

»Wenn anders die Dummköpfe nicht dazu gezwungen werden!«

»Gezwungen?... Durch wen?« fragte Jean.

»Durch die Umstände!«

»Die Umstände, Vater?«

»Ja! Davon hängt alles ab... Die Umstände, mein Sohn, die Umstände!«

Und er kratzte sich den Kopf so heftig, daß er sich beinahe das Haar ausriß; aber es gelang ihm nicht, demselben einen Gedanken zu entlocken.

»Sehen Sie, meine Freunde,« sagte Herr Sergius, »die Hauptsache ist, für den Fall vorbereitet zu sein, wo die Eingeborenen uns nicht freigeben wollen. Werden wir nicht versuchen, ohne ihre Einwilligung ans Ziel zu gelangen?«

»Wir werden es versuchen, Herr Sergius,« antwortete Jean. »Aber dann werden wir gezwungen sein, unsere Belle-Roulotte im Stiche zu lassen!«

»Sprich nicht so, Jean!« rief Herr Cascabel. »Sprich nicht so; du brichst mir das Herz!«

»Aber bedenke, Vater...«

»Nein!... Die Belle-Roulotte ist unser wanderndes Haus!... Sie ist das Dach, unter welchem du das Licht der Welt erblickt haben könntest, mein Sohn!... Wir dürfen sie nicht der Willkür dieser Amphibien überlassen...«

»Mein lieber Cascabel,« versetzte Herr Sergius, »wir werden alles thun, was in unserer Macht liegt, um die Eingeborenen dazu zu bestimmen, daß sie uns die Freiheit schenken. Da sie sich aber aller Wahrscheinlichkeit nach weigern werden, dies zu thun, so bleibt die Flucht unser einziger Ausweg. Nun, und wenn es uns gelingen soll, Tschu-Tschuks Wachsamkeit zu täuschen, so geht das nur, indem wir den Wagen preisgeben...«

[242] »Das Haus der Cascabels!« rief das Familienoberhaupt mit Donnerstimme.

»Vater,« meinte Jean, »vielleicht giebt es noch einen anderen Ausweg, um die Sache zu schlichten...«

»Welchen denn?«

»Warum sollte nicht einer von uns den Versuch machen, sich auf das Festland hinüberzuflüchten und die russischen Behörden zu verständigen?.. Herr Sergius, ich wäre gern bereit...«

»Niemals!« sagte Herr Cascabel lebhaft.

»Nein... thun Sie das nicht!« entgegnete Ortik nicht minder lebhaft als Herr Sergius ihm Jeans Vorschlag mitgeteilt hatte.

Herr Cascabel und der Matrose waren in diesem Punkte einer Meinung; aber während der eine nur an die Gefahr dachte, welche Graf Narkine laufen würde, wenn er mit der moskowitischen Verwaltung in Berührung käme, spürte der andere selbst keine Luft, ihren Beamten zu begegnen.

Übrigens betrachtete Herr Sergius die Sache von einem anderen Gesichtspunkte aus.

»Daran erkenne ich dich, mein wackerer Junge,« antwortete er, »und ich danke dir für dein Anerbieten, dein Leben für uns aufs Spiel zu setzen. Aber deine Opferwilligkeit kann zu keinem Ziele führen. Es wäre Thorheit, sich im tiefen Polarwinter über ein Eisfeld zu wagen, die hundert Meilen zurücklegen zu wollen, welche die Kotelnii-Insel vom Festlande trennen! Du würdest unterwegs umkommen, mein armer Junge! Nein, meine Freunde, trennen wir uns nicht! und wenn es uns auf die eine oder andere Weise gelingen soll, die Liakhoff-Inseln zu verlassen, so verlassen wir dieselben alle zusammen!«

»Das ist wohl gesprochen,« sagte Herr Cascabel; »und Jean muß mir sein Wort geben, daß er nichts ohne meine Erlaubnis unternehmen wird...«

»Ich verspreche dir's, Vater.«

»Und wenn ich sage, daß wir alle zusammen gehen werden,« fuhr Herr Sergius fort, indem er sich zu Ortik wandte, »so meine ich damit, daß auch Sie und Kirschef uns begleiten sollen... Wir werden Sie nicht in den Händen der Eingeborenen zurücklassen.«

»Ich danke Ihnen, Herr Sergius,« erwiderte Ortik; »und Kirschef und ich werden uns auf der Reise durch Sibirien nützlich zu machen wissen. In diesem Augenblick ist nichts zu thun. Aber es ist von Wichtigkeit, daß wir uns bereit halten, vor dem Eisbruch, sobald die große Kälte nachläßt, zu fliehen.«

Mit diesen Worten zog Ortik sich zurück.

»Ja,« bemerkte Herr Sergius, »wir müssen uns bereit halten...«

[243] »Wir werden bereit sein,« erklärte Herr Cascabel. »Wie wir's anfangen werden?... Hol mich der Henker, wenn ich's weiß!«

In der That, die Frage, wie man sich mit oder ohne seine Einwilligung von Tschu-Tschuk verabschieden solle, beschäftigte alle und bildete sozusagen das Tagesgespräch. Die Wachsamkeit der Eingeborenen zu täuschen, würde zum mindesten sehr schwer fallen! Auf eine Umstimmung Tschu-Tschuks war kaum zu rechnen! Es gab also nur einen Ausweg: »ihn dranzukriegen«, wie Herr Cascabel zwanzigmal des Tages sagte.

Ja! das war es, worauf er sann! Aber er mochte sich lange »den Kopf zerbrechen«, wie einer seiner Lieblingsausdrücke lautete; der Januar ging zu Ende und er hatte es noch immer zu keinem Einfall gebracht!

7. Capitel
VII. Ein gelungener Streich des Herrn Cascabel.

Der Februar ist in diesen Breiten so kalt, daß das Quecksilber im Thermometer gefriert. Freilich ist man noch weit von den Temperaturverhältnissen der intrastellarischen Räume entfernt, von jenen zweihundertdreiundsiebzig Grad unter Null, welche die unbeweglich gemachten Moleküle der Körper in einen Zustand absoluter Festigkeit versetzen. Und dennoch hätte man glauben können, daß die Luftmoleküle nicht mehr durcheinander glitten, daß die Atmosphäre erstarrt sei. Die eingeatmete Luft brannte wie Feuer. Das Sinken der Thermometersäule war so bedeutend, daß die Inwohner der Belle-Roulotte sich entschließen mußten, dieselbe nicht mehr zu verlassen. Der Himmel war außerordentlich rein; die Gestirne glänzten so unvergleichlich klar, daß man wähnen mochte, der Blick erreiche die äußersten Tiefen des Himmelsgewölbes. Was das Tageslicht betrifft, so war es selbst um die Mittagsstunde bloß ein fahles Gemisch von Morgen- und Abenddämmerung.

Trotzdem zögerten die Eingeborenen aus alter Gewohnheit nicht, diesen klimatischen Umständen zu trotzen. Aber welche Vorsichtsmaßregeln sie ergriffen, um ihre Füße, ihre Hände, ihre Nase vor plötzlichem Erfrieren zu schützen! Den Körper in Renntierfell gehüllt, den Kopf unter der Pelzmütze verborgen, zeigten sie nichts von ihrer Persönlichkeit, sondern gingen wie wandelnde Pelzbündel umher. Und weshalb wagten sie sich so aus ihren Wohnungen hervor?


Das waren sich bewegende Pelzbündel. (Seite 244.)

Weil Tschu-Tschuk es befahl. Mußte man sich doch vergewissern, ob die Gefangenen, die ihm ihren täglichen Besuch nicht mehr abstatten konnten, nicht [244] etwa das Weite gesucht hätten. Überflüssige Vorsicht bei solcher Witterung!

»Schönen guten Abend, Amphibiengesindel!« rief ihnen Herr Cascabel von innen zu, als er sie durch die kleinen Fenster erblickte, die er auf der Innenseite vom Eise befreit hatte. »Diese Tiere müssen Seehundsblut in den [245] Adern haben!... Sie gehen bei einer Kälte umher, bei der ehrliche Leute in fünf Minuten erfrieren würden!«

In den hermetisch verschlossenen Abteilungen der Belle-Roulotte erhielt die Temperatur sich indessen auf einer erträglichen Höhe. Die Wärme des Küchenofens, den man mit fossilem Holze heizte – wodurch man den Petroleumvorrat zu schonen vermochte – teilte sich sämtlichen Kammern mit, so daß man dieselben sogar von Zeit zu Zeit lüften mußte. Aber wenn die äußere Thür geöffnet wurde, gefror alles Flüssige augenblicklich. Der Unterschied zwischen der inneren und äußeren Atmosphäre betrug nicht weniger als vierzig Grad, – was Herr Sergius konstatiert haben würde, wenn die Thermometer nicht von den Eingeborenen geraubt worden wären.

Gegen Ende der zweiten Februarwoche zeigte die Temperatur eine schwache Tendenz zu steigen. Da der Wind sich nach Süden gedreht hatte, begannen die Schneestürme von neuem mit unvergleichlicher Wut über Neusibirien hinzurasen. Wäre die Belle-Roulotte nicht von hohen Felsblöcken geschützt und bis über die Räder im Schnee vergraben gewesen, sie hätte den Windstößen keinen Widerstand zu leisten vermocht; so aber gab sie keinen Anlaß zu Besorgnissen hinsichtlich ihrer Sicherheit.

Zwar stellten sich noch einige heftige Fröste ein, welche die Atmosphäre jählings herabdrückten; aber gegen die Mitte des Monats sank sie im Durchschnitt nicht mehr über zwanzig Grad unter Null herab.

So wagten Herr Sergius, Herr Cascabel, Jean, Xander und Clou-de-Girofle sich denn wieder ins Freie, indem sie die sorgfältigsten Vorsichtsmaßregeln ergriffen, damit der Übergang nicht allzu brutal erscheine. Vom hygieinischen Standpunkt aus betrachtet war dies die allergrößte Gefahr, der sie sich aussetzen konnten.

Die Umgebung des Lagers war gänzlich unter dem einförmigen weißen Teppich verschwunden; es war unmöglich, die Unebenheiten des Erdbodens zu unterscheiden. Und daran war nicht etwa die Dunkelheit Schuld; denn zwei Stunden des Tages hindurch färbte der südliche Horizont sich mit einem fahlen Schimmer, einem Widerscheine glutloser Strahlen, der mit dem Nahen der Frühlings-Nachtgleiche immer stärker werden würde. Man konnte also einige Spaziergänge unternehmen und sah sich vor allem durch Tschu-Tschuks Aufforderung veranlaßt, in der Wohnung dieses Herrschers vorzusprechen.

Man fand den starrsinnigen Häuptling in unveränderter Stimmung. Er riet den Gefangenen sogar, unverzüglich ein Lösegeld von dreitausend Rubeln herbeizuschaffen; sonst werde er wissen, was er zu thun habe.

»Abscheulicher Lump!«... antwortete ihm Herr Cascabel in jenem reinen Französisch, das Seine Majestät nicht verstand. »Jawohl!... Dreifacher Dummkopf!... Vierfacher Tölpel!... König der Idioten!...«

[246] Allerdings förderten diese Bezeichnungen, die so gut auf den Beherrscher der Liakhossgruppe paßten, die Dinge nicht sonderlich. Die Sache wurde sogar bedenklich, da Tschu-Tschuk mit Gewaltmaßregeln drohte.

Da, unter dem Einflusse konzentrierter Wut, kam Herrn Cascabel eine geniale Inspiration, – was von einem so außerordentlich scharfsinnigen Manne gewiß nicht überraschen wird.

»Bei allen Seehunden!« rief er eines schönen Morgens, »wenn diese Posse, diese köstliche Posse gelänge!... Und warum nicht?... solchen Trotteln gegenüber!«

Obgleich ihm dieser Ausruf entschlüpft war, glaubte Herr Cascabel sein Geheimnis bewahren zu sollen. Er mochte es niemand mitteilen – nicht einmal Herrn Sergius, nicht einmal Cornelia.

Indessen schien die Fertigkeit in der russischen Sprache, deren sich sämtliche Völkerschaften Nordsibiriens bedienen, eine unerläßliche Bedingung für den Erfolg seines Planes zu bilden. Und zwar in dem Grade, daß, während Kayette sich unter der Leitung ihres Freundes Jean in das Studium der französischen Sprache vertiefte, Herr Cascabel sich unter der Leitung seines Freundes Sergius in der russischen zu vervollkommnen beschloß. Und hätte er einen hingebenderen Lehrmeister finden können?

Dementsprechend teilte Herr Cascabel, als er am sechzehnten Februar mit Herrn Sergius in der Nähe der Belle-Roulotte spazieren ging, diesem seinen Wunsch mit, das Russische gründlicher zu erlernen.

»Sehen Sie,« sagte er, »da wir nach Rußland gehen, wird mir das Russische sehr nützlich sein und mir während unseres Aufenthaltes in Perm und Nischnij manche Verlegenheit ersparen.«

»Einverstanden, mein lieber Cascabel,« antwortete Herr Sergius. »Indessen könnten Sie sich mit dem, was Sie bereits von unserer Sprache wissen, beinahe behelfen.«

»Nein, Herr Sergius, nein! Wenn ich auch so ziemlich verstehe, was man mir sagt, so kann ich mich doch nicht meinerseits verständlich machen, und dahin möchte ich's eben bringen.«

»Wie es Ihnen gefällig ist.«

»Und überdies, Herr Sergius, wird es uns immerhin die Zeit vertreiben!«

Schließlich hatte Herrn Cascabels Vorschlag nichts Erstaunliches und man zeigte sich auch nicht überrascht davon.

So lernte er denn von Herrn Sergius mit großem Eifer Russisch; er arbeitete täglich zwei bis drei Stunden – wobei er nicht sowohl auf die Grammatik, als auf die Aussprache Gewicht legte; letztere schien für ihn die Hauptsache zu bilden.

Nun sprechen die Russen zwar sehr leicht und ohne fremdartigen Accent [247] französisch; den Franzosen aber fällt das Russische ziemlich schwer. Man wird sich daher kaum einen Begriff von der Mühe machen, welche Herr Cascabel sich gab, von den anstrengenden Sprechübungen, denen er sich unterzog, von den schallenden Tönen, mit welchen er die Belle-Roulotte erfüllte, um es zur Vollkommenheit zu bringen.

Und bei seiner natürlichen Begabung für Sprachen machte er Fortschritte, die sein Personal in Erstaunen setzten.

Nach beendigter Lektion ging er dann ans Meeresufer, wo er vor Zuhörern sicher war, und übte sich dort mit schallender Stimme im Aussprechen verschiedener Sätze in verschiedenen Tonarten, wobei er das »r« nach russischer Sitte rollte. Und der Himmel weiß, daß er sich während der Ausübung seines Gauklerberufes eine starke Betonung jenes Buchstabens angewöhnt hatte!

Manchmal begegnete er Ortik und Kirschef, und da die beiden Matrosen keine Silbe französisch konnten, unterhielt er sich russisch mit ihnen und vergewisserte sich so, daß er recht verständlich zu werden beginne.

Übrigens kamen die beiden Männer jetzt häufiger in die Belle-Roulotte. Kayette, auf welche Kirschefs Stimme noch immer Eindruck machte, strengte ihr Gedächtnis an, um sich der Gelegenheit zu erinnern, bei welcher sie dieselbe gehört haben mochte...

Zwischen Ortik und Herrn Sergius drehte sich das Gespräch, an welchem jetzt auch Herr Cascabel teilnahm, unaufhörlich um ein mögliches Mittel zur Flucht; und doch gelangte man zu keinem Resultate.

»Es giebt eine Chance, an die wir nicht gedacht haben und die sich dennoch bieten könnte,« sagte Ortik eines Tages.

»Welche?...« fragte Herr Sergius.

»Wenn das Polarmeer erst wieder eisfrei geworden ist,« antwortete der Matrose, »so ist es nichts seltenes, daß Walfischfahrer an der Liakhossgruppe vorübersegeln. Wäre es in diesem Falle nicht möglich, Signale zu geben, irgend ein Schiff anzurufen?«

»Das hieße, die Mannschaft des Schiffes ebenfalls der Gefangennehmung durch Tschu-Tschuk aussetzen und würde nichts zu unserer Befreiung beitragen,« antwortete Herr Sergius. »Die Mannschaft würde der Übermacht erliegen und in die Hände der Eingeborenen fallen...«

»Dann wird auch das Meer nicht vor drei Monaten eisfrei sein,« warf Herr Cascabel hin; »und solange werde ich mich nie und nimmer gedulden!...«

Nach kurzer Überlegung fügte er hinzu:

»Und dann, wenn es uns selbst mit Zustimmung jenes wackern alten Tuck-Tuck gelänge, uns auf einem Walfischfahrer einzuschiffen, so würden wir gezwungen sein, die Belle-Roulotte zurückzulassen...«

[248] »Das ist ein Opfer, in welches wir uns vermutlich sowieso fügen müssen,« bemerkte Herr Sergius.

»Uns fügen?« rief Herr Cascabel. »Warum nicht gar!«

»Sollten Sie einen Ausweg gefunden haben?...«

»Hm! hm!«

Herr Cascabel äußerte sich nicht weiter. Aber welch ein Lächeln flog über seine Lippen, welch ein Blitz leuchtete in seinen Augen auf!

Als sie von dieser Antwort ihres Mannes hörte, sagte Cornelia denn auch:

»Cäsar hat sicher etwas erdacht!... Was?... ich weiß es nicht! Aber schließlich war das von einem solchen Manne vorauszusehen!«

»Der Vater ist schlauer als Herr Tschu-Tschuk!« versetzte die kleine Napoleone.

»Habt ihr bemerkt,« fragte Xander, »daß er die Gewohnheit angenommen hat, ihn einen wackern Alten zu nennen?... Ein freundschaftlicher Spitzname!«

»Wenn es nicht etwa gerade das Gegenteil ist!...« meinte Clou-de-Girofle.

Während der zweiten Hälfte des Februar stieg die Temperatur sehr fühlbar. Dank dem Südwinde verbreiteten sich einige minder kalte Luftströmungen durch die Atmosphäre.

Es war also keine Zeit zu verlieren. Nachdem man infolge der verspäteten Winterfröste mit dem Eisbruch in der Beringstraße gekämpft hatte, würde es wirklich etwas stark sein, sich durch verfrühtes Frühlingstauwetter denselben Gefahren ausgesetzt zu sehen.

In der That, wenn Herrn Cascabels Plan gelingen sollte, wenn er Tschu-Tschuk dazu bewog, ihn mitsamt seinem Personal und Material ziehen zu lassen, so mußte die Abreise stattfinden, während das gleichmäßig gefrorene Eisfeld sich noch von der Liakhossgruppe bis an die sibirische Küste erstreckte.

Ein gutes Renntiergespann würde diesen Teil der Reise unter verhältnismäßig günstigen Umständen zurücklegen können und die Reisenden brauchten keine neue Eiskalamität zu befürchten.

»Sagen Sie, mein lieber Cascabel,« fragte Herr Sergius eines Tages, »Sie hoffen also, daß jener alte Schelm von einem Tschu-Tschuk Ihnen die Renntiere stellen werde, die Sie zur Beförderung Ihres Wagens auf das Festland brauchen?«

»Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel ernst »Tuck-Tuck ist kein alter Schelm. Er ist sogar ein würdiger und vortrefflicher Mann! Wenn er sich dazu versteht, uns ziehen zu lassen, so wird er uns erlauben, die Belle-Roulotte mitzunehmen, und wenn er das erlaubt, so kann er nicht weniger [249] thun, als uns zwanzig, fünfzig, hundert, tausend Renntiere anzubieten – falls ich es verlange!«

»Also sind Sie Ihrer Sache gewiß?...«

»Ob ich meines Tuck-Tuck gewiß bin?... Jawohl, so gewiß, als hielte ich seine Nasenspitze zwischen meinen Fingern, Herr Sergius!... Und ich habe einen festen Griff!«

Noch immer jene sichere Haltung, noch immer jenes selbstzufriedene Lächeln! Und an jenem Tage legte er noch obendrein Zeige- und Mittelfinger an die gekräuselten Lippen und sandte einen Kuß an die Adresse Seiner einheimischen Majestät ab. Da Herr Sergius indessen sah, daß er die absoluteste Zurückhaltung bezüglich seiner Pläne zu beobachten wünschte, so hatte er den guten Geschmack, nicht weiter in ihn zu dringen.

Inzwischen begannen die Unterthanen Tschu- Tschuks, dank der milderen Temperatur, wieder ihren gewohnten Beschäftigungen, der Jagd auf Vögel und auf die von neuem auf der Eisfläche erscheinenden Seehunde, nachzugehen. Auch die während der großen Fröste unterbrochenen religiösen Ceremonien wurden wieder aufgenommen und riefen die Andächtigen, wie früher, in die Götzengrotte.

Es war am Freitag einer jeden Woche, wo das Zusammenströmen des ganzen Stammes diesen Ceremonien den größten Glanz verlieh. Die Freitage scheinen die Sonntage Neusibiriens zu sein. Der neunundzwanzigste Februar – das Jahr eintausendachthundertachtundsechzig war ein Schaltjahr – war ein solcher Freitag und sollte mit einer allgemeinen Prozession der Eingeborenen gefeiert werden.

Am Vorabend dieses Festes begnügte Herr Cascabel sich, beim Schlafengehen einfach zu sagen: »Morgen werden wir der Ceremonie im Vorspük in Gesellschaft unseres Freundes Tuck-Tuck anwohnen.«

»Wie?... Das willst du Cäsar?...« antwortete Cornelia.

»Ich will es!«

Was hatte dieser so kategorisch formulierte Vorschlag zu bedeuten? Hoffte Herr Cascabel etwa den Inselherrscher zu besänftigen, indem er sich an seinen abergläubischen Andachtsübungen beteiligte? Gewiß, Tschu-Tschuk würde es gern sehen, wenn die Gefangenen den Göttern des Landes huldigten. Aber es war etwas viel verlangt, daß sie dieselben anbeten und sich zur einheimischen Religion bekennen sollten; Herr Cascabel würde schwerlich bis zur Apostasie gehen, um Seine neusibirische Majestät zu ködern!... Pfui!...

Wie dem auch sein mochte, am nächsten Morgen war der ganze Stamm schon bei Tagesanbruch in Bewegung. Ein herrliches Wetter; höchstens zehn Grad Kälte. Und dann war es bereits vier bis fünf Stunden lang hell, mit [250] einer Vorahnung von Sonnenstrahlen, deren Spitzen über den Horizont herausglitten.

Die Einwohner waren aus ihren Erdlöchern hervorgekommen. Männer, Frauen, Kinder, Greise und Jünglinge hatten ihre schönsten Kleider angelegt, lange Röcke aus Seehundsfell, Palske aus Renntierhaut, alles mit dem Pelz nach außen. Es war eine unvergleichliche Schaustellung von weißem und [251] schwarzem Rauhwerk, von glasperlenbestickten Mützen, bunt verzierten Brustlatzen, ledernen Stirnbinden, Ohrgehängen, Armringen und aus Walroßbein geschnitzten, im Nasenknorpel befestigten Schmucksachen.

Und doch schien dies alles bei einer solchen Feierlichkeit nicht zu genügen; denn einige Vornehme des Stammes hatten es für angezeigt gehalten, sich noch reicher zu schmücken; und es waren die verschiedentlichen, aus der Belle-Roulotte entwendeten Gegenstände, welche die Kosten dieser Ausschmückung zu tragen hatten.


Die Unterthanen Tschu-Tschuks nahmen ihre Beschäftigung wieder auf. (Seite 250.)

In der That, gar nicht zu reden von dem Flitterstaat der Gaukler, den sie angelegt, den Cirkushelmen und Clownhüten, die sie aufgesetzt hatten, trugen einige einen als Bandelier umgehängten Strick, an welchem die beim Jonglieren benützten Ringe klapperten, während andere eine aus Kugeln und Hanteln bestehende Kette am Gürtel trugen; endlich prunkte der große Häuptling Tschu-Tschuk mit einem Aneroid-Barometer, den er wie einen frisch geschaffenen neusibirischen Orden auf der Brust befestigt hatte.

Und die Instrumente des Jahrmarktsorchesters vereinten ihre Töne zu einem furchtbaren Konzert, einem tollen Getöse, in dem das Klapphorn mit der Posaune, die Handtrommel mit der großen Trommel um den Vorrang stritt!

Cornelia war ebenso außer sich wie ihre Kinder, als sie diese betäubenden Mißklänge vernahm. Sie hatten alle Luft, die Künstler auszupfeifen, die nach Clou-de-Girofles Ansicht »wie Seehunde« spielten.

Nun und – es war unglaublich! – Herr Cascabel lächelte diesen barbarischen Musikanten zu; er geizte weder mit Komplimenten noch mit Hurrarufen; er klatschte in die Hände; er schrie »Bravo! Bravo!« und erklärte wiederholt:

»Diese wackern Leute setzen mich wahrhaftig in Erstaunen!... Sie sind außerordentlich begabt für Musik, und wenn sie meiner Truppe beitreten wollen, so stehe ich ihnen für einen durchschlagenden Erfolg auf der Messe von Perm, wie auch später auf dem Kirchweihfeste von Saint-Cloud gut!«

Inzwischen wälzte der Zug sich unter entsetzlichem Getöse durch das Dorf auf die heilige Stätte zu, wo die Götzen der Huldigung ihrer Anbeter harrten. Tschu-Tschuk führte den Zug an. Herr Sergius und Herr Cascabel, dessen Familie und die beiden russischen Matrosen schritten dicht hinter ihm drein, gefolgt von der ganzen Bevölkerung Turkefs.

Der Zug hielt vor der Felsengrotte, in deren Hintergrunde die einheimischen Gottheiten emporragten, die zu Ehren des Festes frisch bemalt waren.

Nun betrat Tschu-Tschuk das Vorspük mit emporgehobenen Händen, beugte dreimal den Kopf und kauerte auf einem Teppich aus Renntierfell, der auf dem Boden ausgebreitet lag, nieder. So kniete man hierzulande.

[252] [254]Herr Sergius und seine Gefährten beeilten sich, dem Herrscher nachzuahmen und das Publikum warf sich hinter ihnen zu Boden.

Als eine andächtige Stille eingetreten war, richtete Tschu-Tschuk im Tone eines anglikanischen Predigers eine halb gesungene, halb gesprochene Rede an die drei Götzen, die in ihrem hieratischen Prunke herrlich dastanden...

Plötzlich antwortete ihm eine Stimme, – eine mächtige, wohltönende Stimme, die bis in die entlegensten Winkel der Grotte hallt.


Plötzlich antwortete ihm eine Stimme. (Seite 254.)

O Wunder! Diese Stimme kommt aus dem Schnabel einer der Gottheiten, der rechts stehenden, und sie sagt in russischer Sprache:

»Ani sviati, éti innostranzi, katori ote zapada prichli! Zatchéme ti ikhe podirjaïche?«

Das bedeutet:

»Diese aus Westen gekommenen Fremdlinge sind heilig! Warum hältst du sie zurück?«

Diese Worte, welche alle Gläubigen deutlich vernahmen, riefen starres Erstaunen hervor.

Es ist das erste Mal, daß die Götter Neusibiriens mit ihren An betern zu konversieren geruhten.

Und nun dringt eine zweite, nachdrücklichere, eine befehlende Stimme aus dem Schnabel des links aufgepflanzten Götzen und spricht in vibrierendem Tone:

»Ja tibié prikajou étote arrestantóf otpoustite. Tvoïe narode doljne dlia ikhe same balchoïe vajestvo imiète i nime addate vcié vieschtchi katori ou ikhe bouili vziati. Ja tibié prikajou ou siberskoïé beregou ikhe lioksché vosvratitcia.«

Drei Sätze, die man folgendermaßen übersetzen mag und die offenbar an Tschu-Tschuk gerichtet waren:

»Du sollst diese Gefangenen in Freiheit setzen! Dein Volk soll ihnen die größte Rücksicht bezeigen, ihnen alles Geraubte zurückgeben! Ihr sollt ihnen die Rückkehr an die sibirische Küste erleichtern!«

Diesmal ging das Erstaunen in Schrecken über. Tschu-Tschuk hatte sich auf seinen zitternden Knieen erhoben, mit verstörtem Auge, aufgerissenem Munde und auseinander gespreizten Fingern, in einem Paroxysmus der Bestürzung. Auch die übrigen Eingeborenen hatten sich halb aufgerichtet, unschlüssig, ob sie sich niederwerfen oder die Flucht ergreifen sollten!

Schließlich nimmt die dritte, die mittlere Gottheit ihrerseits das Wort. Aber ihre Stimme ist schrecklich, zornvoll, drohend! Und mit welch tragischem Nachdruck sie die Silben artikuliert und dieselben wie Donnergerolle dröhnen läßt!

[254] Dies sind die Worte, welche sie unmittelbar an Seine neusibirische Majestät richtete:

»Jesle ti take niè sdièlèle élote toje same diéne, kakda èti s viati tchéloviéki boudoute jelaïte tchorte s'tvoïe oblacte

Nämlich:

»Wenn dies nicht an dem Tage geschieht, wo diese heiligen Männer es wollen, so soll dein Stamm dem himmlischen Zorn verfallen!«

Jetzt röchelten König und Unterthanen vor Entsetzen, und lagen regungslos wie Leichen auf der Erde, während Herr Cascabel seine beiden Arme dankbar gegen die Götzen ausstreckte und ihre mächtige Intervention pries.

Und derweil hielten seine Gefährten sich die Seiten, um nicht in Lachen auszubrechen.

Eine einfache Bauchrednerscene, das war es, was dieser erstaunliche Mann, dieser unvergleichliche Künstler ersonnen hatte, um »seinen wackern Tuck-Tuck« kirre zu machen!

Und in der That bedurfte es keiner weiteren Anstrengung, um die abergläubischen Eingeborenen zum besten zu haben! »Die aus Westen gekommenen Fremdlinge,« – welch eine treffliche Bezeichnung Herr Cascabel da gefunden hatte! – »die aus Westen gekommenen Fremdlinge sind heilig!... Warum hält Tschu-Tschuk sie zurück?«

Nun denn, nein! Tschu-Tschuk würde sie nicht zurückhalten! Er würde sie ziehen lassen, sobald sie Luft dazu verspürten, und die Eingeborenen würden ihnen die Rücksicht bezeigen, welche solchen sichtlich unter himmlischem Schutze stehenden Männern gebührte!

Und während Ortik und Kirschef, die nichts von Herrn Cascabels Begabung zur Bauchrednerei wußten, ihr Staunen nicht verhehlten, sagte Clou begeistert:

»Welch ein Genie der Herr Direktor ist!... Welch ein Gehirn!... Welch ein Mensch!... wenn er nicht etwa...«

»Wenn er nicht etwa ein Gott ist!« fiel Cornelia ein, indem sie sich vor ihrem Manne verneigte.

Der Streich war gespielt. Und er war gelungen, dank der außerordentlichen, jeder Schilderung spottenden Leichtgläubigkeit der Neusibirier. Diese Leichtgläubigkeit hatte Herr Cascabel wohl bemerkt; sie hatte ihm den Gedanken eingegeben, sein Bauchrednertalent zu allgemeinem Nutz und Frommen zu verwenden.

Selbstverständlich wurden er und seine Gefährten mit all den Ehrenbezeigungen ins Lager zurückgeleitet, welche ihnen in ihrer Eigenschaft als heilige Männer gebührten. Tschu-Tschuk erschöpfte sich in Begrüßungen und Komplimenten, denen eine tüchtige Dosis von Furcht und Achtung zu Grunde [255] lag. Er war nahe daran, der Familie Cascabel und den Götzen von Kotelnii eine und dieselbe Anbetung zu zollen. Schließlich, wie hätte die so unwissende Bevölkerung von Turkef auf den Gedanken kommen sollen, daß sie das Opfer einer Mystifikation geworden sei? Kein Zweifel, die Gottheiten des Vorspük hatten wirklich ihre furchtbaren Stimmen erschallen lassen! Jene auf gut Russich erteilten Befehle waren wirklich aus ihren bisher stummen Schnäbeln gekommen! Und übrigens, war nicht bereits ein Präcedenz vorhanden? Sprach der Papagei Jako nicht auch? Hatten die Eingeborenen nicht voller Verwunderung den aus seinem Schnabel kommenden Worten gelauscht? Nun, was ein Vogel konnte, das würden Götter mit Vogelköpfen doch auch wohl im stande sein!

Von diesem Tage an durften Herr Sergius, Herr Cascabel und seine Familie, sowie die beiden Matrosen, die von ihrem Landsmanne reklamiert wurden, sich als frei betrachten. Die strenge Jahreszeit ging bereits zur Neige und die Temperatur begann erträglich zu werden. So beschlossen denn die Schiffbrüchigen, ihre Abreise von den Liakhoff-Inseln nicht länger aufzuschieben. Nicht als ob eine Wandlung in den Gesinnungen der Insulaner zu fürchten gewesen wäre! Dazu waren sie zu tief in ihrem Irrtum befangen. Herr Cascabel stand jetzt auf bestem Fuße mit seinem Freunde Tuck-Tuck, der ihm die Stiefel gewichst haben würde, wenn er es gewollt hätte! Es versteht sich von selber, daß der wackere Mann sofort Befehl gegeben hatte, alle aus der Belle-Roulotte entwendeten Gegenstände zurückzuerstatten. Er selber hatte Cäsar Cascabel knieend das Barometer überreicht, das er als Ordensdekoration getragen, und Cäsar Cascabel hatte geruht, ihm die Hand zu reichen, die Tschu-Tschuk andächtig küßte – diese Hand, der er die Kraft zutraute, Donnerkeile zu schleudern und Stürme zu entfesseln!

Um es kurz zu sagen, am achten März waren die Vorbereitungen zur Abreise beendigt. Herr Cascabel hatte zwanzig Renntiere als Vorspann für seinen Wagen verlangt und Tschu-Tschuk hatte sich beeilt, ihm hundert anzubieten, – wofür sein neuer Freund ihm dankte, indem er sich an die oben genannte Zahl hielt. Des weiteren forderte er nur den nötigen Futtervorrat, um seine Zugtiere während der Fahrt über das Eisfeld ernähren zu können.

Am Morgen des achten März nahmen Herr Sergius, die Familie Cascabel und die beiden russischen Matrosen von den Eingeborenen von Turkef Abschied. Der ganze Stamm hatte sich versammelt, um der Abreise seiner Gäste beizuwohnen und denselben eine glückliche Fahrt zu wünschen.

Allen voran war der »teure Tuck-Tuck« erschienen und zerfloß in sehr aufrichtiger Rührung. Herr Cascabel schritt zu ihm hin, klopfte ihm auf den Bauch und richtete die einfachen Worte in französicher Sprache an ihn:

»Lebewohl, alter Dummkopf!«

[256] Aber die vertrauliche Berührung erhöhte noch das Ansehen, dessen Seine Majestät bei Ihren getreuen Unterthanen genoß.

Zehn Tage später, am achtzehnten März, langte die Belle-Roulotte, nachdem sie das Eisfeld zwischen der Liakhossgruppe und dem Festlande ohne Gefahr oder Ermüdung passiert hatte, an der sibirischen Küste nächst der Lenamündung an.

Nach den vielen Zwischenfällen und Unfällen, Gefahren und Abenteuern, die ihnen seit ihrer Abreise von Port-Clarence begegnet waren, betraten Herr Sergius und seine Gefährten endlich den asiatischen Kontinent.

8. Capitel
VIII. Im Jakutenlande.

Der anfängliche Reiseplan, wie man ihn von der Beringstraße bis zur europäischen Grenze zu verfolgen gedacht hatte, war durch den von der Eistafel beschriebenen Umweg und die Landung an den neusibirischen Inselgruppen notwendigerweise modifiziert worden. Man durfte nicht mehr daran denken, Russisch-Asien im Süden zu durchziehen. Zudem würde die schöne Jahreszeit jetzt bald die klimatischen Verhältnisse bessern und so wurde die Überwinterung in irgend einem Marktflecken überflüssig. Man muß gestehen, daß die neuesten Ereignisse eine ebenso günstige als wunderbare Lösung herbeigeführt hatten.

Jetzt handelte es sich darum, die Richtung zu ermitteln, welche man einschlagen mußte, um das Uralgebirge, die Grenze zwischen Russisch-Asien und Russisch-Europa, auf kürzestem Wege zu erreichen. Herr Sergius gedachte dies zu thun, bevor man das an der Küste aufgeschlagene Lager verließ.

Das Wetter war ruhig und klar. Der Tag währte jetzt in voller Äquinoktialperiode über elf Stunden und verlängerte sich noch durch die helle Morgen-und Abenddämmerung, die unterm siebzigsten Breitegrad von beträchtlicher Dauer ist.

Nun Kirschef und Ortik hinzugekommen waren, bestand die kleine Karawane aus zehn Personen. Obgleich keine große Sympathie zwischen ihnen und ihren Gefährten herrschte, waren die beiden russischen Matrosen die Gäste der Belle-Roulotte geworden; sie nahmen ihre Mahlzeiten dort am gemeinsamen Tische ein; sie mußten sogar dort schlafen, solange die Temperatur ihnen nicht gestattete, im Freien zu übernachten.

[257] In der That stand die Thermometersäule durchschnittlich noch einige Grade unter Null, – was leicht zu erkennen war, da der verbindliche Tschu-Tschuk das Thermometer seinem rechtmäßigen Herrn zurückgestellt hatte. Das ganze Gebiet lag unabsehbar unter einer ungeheuren weißen Decke verborgen, welche die Aprilsonne bald hinwegschmelzen würde. Auf diesem hartgefrorenen Schnee, wie auch auf den grasigen Flächen der Steppe würden die Renntiere das schwere Gefährt schon zu ziehen vermögen.

Was die Ernährung der Tiere betrifft, so war der von den Eingeborenen gelieferte Futtervorrat von der Abfahrt von Kotelnii bis zur Ankunft in der Lenabucht dazu hinreichend gewesen. Nunmehr konnten die Renntiere für sich selber sorgen, indem sie das Moos unterm Schnee hervorgruben und die Blätter jener Standen abfraßen, mit denen der sibirische Boden besäet ist. Im übrigen muß man gestehen, daß das neue Gespann sich während des Eisüberganges sehr gefügig gezeigt und daß Clou-de-Girofle keine Mühe gehabt hatte, es zu lenken.

Die Ernährung der Reisenden war ebenso sicher gestellt durch den Vorrat an Konserven, Mehl, Schmalz, Reis, Thee, Zwieback und Branntwein, den die Belle-Roulotte noch besaß. Zudem verfügte Cornelia auch über eine gewisse Quantität jakutischer Butter, in kleinen Birkenholzkistchen, welche Freund Tuck-Tuck Freund Cascabel verehrt hatte. Hingegen würde man den Petroleumvorrat baldmöglichst in irgend einem sibirischen Marktflecken zu erneuern haben. Schließlich würde die Jagd auch wieder frisches Wild liefern; Herr Sergius und Jean würden manches Mal Gelegenheit haben, ihre Geschicklichkeit zu Nutz und Frommen der Küche zu bethätigen.

Ebenso konnte man auf die Mitwirkung der beiden russischen Matrosen rechnen. Sie erklärten, daß Nordsibirien ihnen zum Teil bekannt sei und schienen sich demgemäß zu Führern zu eignen.

Das war der Gegenstand des Gespräches, das an jenem Tage im Lager stattfand:

»Da Sie bereits in dieser Gegend waren,« sagte Herr Sergius zu Ortik, »so werden Sie unser Führer sein...«

»Das ist wohl das wenigste, was ich thun kann,« antwortete Ortik, »nachdem wir Herrn Cascabel unsere Befreiung verdanken.«

»Mir?... Nicht doch,« entgegnete Herr Cascabel; »nur meinem Bauche, dem die Natur die Gabe der Rede verliehen hat! Er ist es, bei dem Sie sich bedanken müssen!«

»Ortik,« fragte Herr Sergius, »welchen Weg empfehlen Sie uns, von hier aus zu nehmen?«

»Den kürzesten, wenn es Ihnen gefällig ist, Herr Sergius. Wenn er gleich den Nachteil hat, die Hauptstädte der südlicheren Bezirke nicht zu berühren, [258] so wird er uns doch gestatten, direkt auf die Uralkette zuzumarschieren. Überdies fehlt es auch auf dieser Strecke nicht an Dörfern, wo Sie sich neu verproviantieren oder gar Aufenthalt nehmen können, falls es nötig ist.«

»Wozu das?« unterbrach ihn Herr Cascabel. »Wir haben nichts in Dörfern zu suchen. Für uns ist die Hauptsache, daß wir uns nicht aufhalten, sondern schnell vorwärts kommen. Ich glaube nicht, daß die Gegend für Reisende gefährlich ist...«

»Keineswegs,« antwortete Ortik.

»Und dann sind wir ja auch stark; wehe den Schurken, die unsere Belle-Roulotte angreifen wollten!... Sie würden nicht billigen Kaufes davonkommen!«

»Seien Sie ruhig, Herr Cascabel; es steht nichts zu befürchten!« sagte Kirschef.

Man wird bemerkt haben, daß dieser Kirschef sehr selten sprach. Ungesellig, düster und verschlossen, überließ er es seinem Gefährten, an den Besprechungen teilzunehmen. Ortik war augenscheinlich intelligenter als er, ja, sogar sehr intelligent – was Herr Sergius mehrmals in der Lage gewesen war zu konstatieren.

Im ganzen genommen, war der von Ortik vorgeschlagene Reiseplan ein befriedigender. Die Umgehung der großen Städte, wo man auf Militärposten stoßen konnte, mußte dem Grafen Narkine zusagen, wie sie den beiden angeblichen Matrosen zusagte. Daß es schwer sein würde, den bevölkerten Orten auszuweichen, namentlich in der Nähe der Grenze, das war vorauszusehen, und man würde dort einige Vorsichtsmaßregeln zu treffen haben. Bis dahin aber boten die Steppendörfer keine große Gefahr dieser Art.

Sobald dieser Reiseplan im Prinzip angenommen war, hatte man nur mehr die verschiedenen Provinzen zu ermitteln, welche man von der Lena bis zum Uralgebirge in schräger Linie durchziehen mußte.

So schlug Jean denn in seinem Atlas die Karte von Nordsibirien auf und Herr Sergius vertiefte sich in das Studium dieser Territorien, wo die sibirischen Flüsse, statt die Reisen von Ost nach West zu begünstigen, letzteren vielmehr ernste Schwierigkeiten bereiten. Und man beschloß folgendes:

Die Reise sollte vom Lenathale ins Anabarathal, von dort ins Khatanga-, ins Jenisei-, ins Obthal gehen, was eine Strecke von cirka siebenhundertfünfzig Meilen repräsentierte.

Vom Ob sollte man dann über eine Strecke von einhundertfünfundzwanzig Meilen ins Uralgebirge gelangen, welches das europäische Rußland begrenzt.

Schließlich sollte man vom Ural aus hundert Meilen weit gegen Südwesten nach Perm ziehen.

[259] Es waren also im ganzen an die tausend Meilen zurückzulegen.

Wenn man unterwegs auf kein Hindernis stieß, wenn man sich nicht notgedrungen in irgend einem Marktflecken aufhalten mußte, so konnte die Reise in weniger als vier Monaten ausgeführt werden. In der That waren sieben bis acht Meilen pro Tag nicht zu viel für die Renntiere; und so würde die Belle-Roulotte denn gegen Mitte Juli in Perm und dann in Nischnii eintreffen, also zu der Zeit, wo der berühmte Jahrmarkt in vollem Gange war.

»Werden Sie uns bis Perm begleiten?...« fragte Herr Sergius Ortik.

»Das ist nicht wahrscheinlich,« antwortete der Matrose. »Wenn wir die Grenze überschritten haben, gedenken wir unsern Weg über Petersburg nach Riga zu nehmen.«

»Wohl,« sagte Herr Cascabel, »aber erreichen wir vor allen Dingen die Grenze!«

Man war übereingekommen, eine vierundzwanzigstündige Rast zu halten, sobald man das Festland betreten haben würde – eine durch die schnelle Fahrt über das Eisfeld mehr als gerechtfertigte Rast. So war denn jener Tag der Ruhe geweiht.

Die Lena ergießt sich in einem regellosen Netze von Mündungen, Kanälen und Pässen in den gleichnamigen Golf. Es ist nach einem Laufe von fünfzehnhundert Meilen, daß dieser schöne Strom, durch zahlreiche Nebenflüsse geschwellt, sich in die Tiefen des nördlichen Eismeeres verliert. Sein Gebiet wird auf mindestens hundertundfünf Millionen Hektaren geschätzt.

Nachdem die Karte gründlich studiert worden, meinte Herr Sergius, es werde rätlich sein, am inneren Rande der Bai entlang zu fahren und so den zahlreichen Mündungen der Lena auszuweichen. Obgleich ihre Wasser noch zugefroren waren, würde der Weg durch dieses Labyrinth ein sehr mühseliger sein. Der Eisstoß bildete dort eine ungeheure Schranke von Blöcken, die von wirklichen, sehr pittoresken, aber schwer zu umgehenden Eisbergen beherrscht wurden.

Jenseits der Bai begann die ungeheure, kaum von einigen Dünen unterbrochene Steppe, in der die Reise leicht von statten gehen würde.

Augenscheinlich waren Ortik und Kirschef daran gewöhnt, unter diesen hohen Breiten zu reisen. Ihre Gefährten hatten das bereits während der Fahrt über das Eisfeld bemerken können. Die beiden Matrosen verstanden ein Lager aufzuschlagen, nötigenfalls auch eine solide Eishütte zu bauen. Sie kannten den Kunstgriff der Küstenfischer, ihre Kleider zu trocknen, indem sie dieselben in den Schnee graben und so die darin enthaltene Feuchtigkeit herausziehen lassen; sie schwankten nicht, wenn es sich darum handelte, die aus gefrornem Salzwasser entstandenen Eisblöcke von denen aus Süßwasser [260] zu unterscheiden; kurz, sie waren mit den verschiedenen, auf dem Marsche durch nördliche Länder gebräuchlichen Prozeduren bekannt.

An jenem Abend nach dem Nachtmahl drehte das Gespräch sich um die Geographie Nordsibiriens und Ortik ließ sich bewegen, die Umstände zu nennen, unter welchen Kirschef und er dieses Land durchstreift hatten.

Herr Sergius fragte nämlich:

»Wie kommt es, daß Sie als Seeleute die Gelegenheit hatten, diese Gebiete zu bereisen?«

»Herr Sergius,« antwortete Ortik, »vor zwei Jahren befanden Kirschef, zehn andere Matrosen und ich uns im Hafen von Archangel, der Einschiffung an Bord irgend eines Walfischfahrers harrend, als wir zur Rettung eines Schiffes requiriert wurden, das nördlich von der Lenamündung im Eise stak. Nun, von Archangel aus begaben wir uns längs der Nordküste von Sibirien in diese Bai. Als wir die »Vremia« erreichten, gelang es uns, sie wieder flott zu machen, und dann betrieben wir auf diesem Fahrzeuge den Fischfang. Aber wie gesagt, ging dasselbe im Laufe der Saison mit Mann und Maus zu Grunde; nur mein Kamerad und ich blieben am Leben, und der Sturm warf unser Boot auf die Liakhoff-Inseln, wo Sie uns gefunden haben.«

»Und sind Sie nie in den Provinzen von Alaska gewesen?« fragte Kayette, die, wie man weiß, Russisch sprach und verstand.

»Alaska?...« antwortete Ortik. »Liegt das nicht in Amerika?«

»Ja,« sagte Herr Sergius, »es ist ein im Nordwesten des neuen Kontinents gelegenes Land, die Heimat Kayettens... Haben Ihre Fahrten Sie nie bis dahin geführt?...«

»Wir kennen jenes Land nicht,« antwortete Ortik in völlig ungezwungenem Tone.

»Wir sind nie über die Beringstraße hinausgekommen,« fügte Kirschef hinzu.

Die Stimme dieses Mannes brachte noch immer dieselbe Wirkung auf die junge Indianerin hervor, ohne daß sie sich zu erinnern vermochte, wo sie deren Klang schon gehört. Es konnte doch nur in den alaskischen Provinzen gewesen sein, da sie immer dort gelebt hatte.

Nach der so deutlichen Entgegnung Ortiks und Kirschefs enthielt die junge Indianerin sich mit der ihrer Rasse eigenen Zurückhaltung jeder weiteren Frage. Aber es blieb ihr doch ein unbehagliches Gefühl, sogar ein instinktives Mißtrauen gegen die beiden Matrosen zurück.

Während der erwähnten Rast von vierundzwanzig Stunden hatten die Renntiere sich genugsam von ihren Anstrengungen erholen können. Zwar waren ihre Vorderfüße mit Spannstricken gefesselt, aber das hinderte sie nicht, um das Lager herumzustreifen, die Stauden abzunagen und das Moos unterm Schnee hervorzuwühlen.

[261] Am zwanzigsten März brach die kleine Karawane um acht Uhr morgens auf. Trockenes, klares Wetter bei Nordostwind. Soweit der Blick reichte, nichts als schneeweiße Steppe, noch hinreichend hart gefroren, daß das Fuhrwerk leicht darüber hinrollen konnte. Die Renntiere waren nach einem wohlersonnenen System in fünf Reihen zu je Vieren und Vieren eingespannt und wurden auf einer Seite von Ortik, auf der anderen von Clou-de-Girofle gelenkt.

So reisten die Wanderer sechs Tage lang, ohne daß ihnen etwas Erwähnenswertes begegnet wäre. Herr Sergius und Herr Cascabel, Jean und Xander gingen meist zu Fuß, manchmal auch von Cornelia, Napoleone und Kayette begleitet, wenn die häuslichen Pflichten es gestatteten.

Jeden Vormittag legte die Belle-Roulotte ungefähr ein »Koes« zurück, ein sibirisches Längenmaß, welches gleich zwanzig Werft ist, also etwa zwei und eine halbe Meile repräsentiert. Nachmittags drang sie in demselben Grade vor – was fünf tüchtige Meilen per Tag ausmachte.

Am neunundzwanzigsten März erreichten Herr Sergius und seine Gefährten, nachdem sie den kleinen Fluß Olenek auf dem Eise überschritten hatten, den zweiundvierzig Meilen im Südwesten von der Lenabucht gelegenen Marktflecken Maksimova.

Es war nichts dagegen einzuwenden, wenn Herr Sergius sich vierundzwanzig Stunden in dieser Ortschaft aufhalten wollte, die weltverloren an der äußersten Grenze der nördlichen Steppe liegt. Es gab dort weder einen Stadthauptmann, noch einen mit Kosaken besetzten Militärposten. Folglich hatte Graf Narkine nichts zu befürchten.

Man befand sich mitten im Jakutenlande und die Familie fand eine vortreffliche Aufnahme bei den Einwohnern von Maksimova.

Dieses Land, gebirgig und bewaldet in seinen östlichen und südlichen Teilen, weist im Norden nur weite, kahle Ebenen mit wenigen Baumgruppen auf, deren Laub die warme Jahreszeit demnächst entwickeln sollte. Die Heuernte ist dort äußerst ergiebig. Das rührt daher, daß die Temperatur in Nordsibirien, so streng der Winter auch ist, in den Sommermonaten überaus hoch steigt.

Dort gedeiht eine Bevölkerung von hunderttausend Jakuten, welche die Formen des russischen Ritus beobachten. Fromm, gastfreundlich, von guten Sitten, sind diese Leute sehr dankbar für die Wohlthaten der Vorsehung und sehr ergeben, wenn letztere ihnen herbe Prüfungen auferlegt.

Auf der Fahrt von der Lenabucht nach Maksimova war man einer gewissen Anzahl sibirischer Nomaden begegnet. Es waren dies kräftige Männer von mittelgroßer Statur, mit platten, bartlosen Gesichtern, schwarzen Augen [262] und dichtem Haarwuchs. Dieselben Typen fanden sich in Maksimova, dessen Einwohner gesellig, friedliebend, intelligent, fleißig und nicht leicht zu täuschen sind.

Jene Jakuten, welche, stets zu Pferde, und stets bewaffnet, unstät umherschweifen, sind Besitzer zahlreicher, über die Steppe verstreuter Herden. Diejenigen, welche in Dörfern oder Marktflecken seßhaft sind, beschäftigen sich [263] hauptsächlich mit Fischfang und beuten jene zahllosen fischreichen Wasseradern aus, welche der große Strom in seinem Laufe aufnimmt.

Aber wenn diese Jakuten auch mit allen öffentlichen und häuslichen Tugenden geziert sind, so muß man doch gestehen, daß sie dem Tabak und – was ernster ist – dem Branntwein und sonstigen alkoholhaltigen Getränken übertrieben gern zusprechen.


Die Renntiere waren zu je Vieren angespannt. (Seite 262.)

»Indessen ist das bis zu einem gewissen Grade verzeihlich,« bemerkte Jean. »Während ganzer drei Monate haben sie nichts als Wasser zu trinken und Baumrinde zu essen.«

»Brotrinde wollen Sie sagen, Herr Jean?« fragte Clou-de-Girofle.

»Nein; Baumrinde. Nach solchen Entbehrungen ist dann eine kleine Unmäßigkeit verzeihlich!«

Während die Nomaden in Jurten wohnen, einer Art konisch geformter Zelte aus weißem Stoffe, haben die Ansässigen Holzhäuser inne, die nach dem Geschmacke und den Bedürfnissen eines jeden gebaut sind. Diese sorgfältig gehaltenen Häuser werden von sehr steilen Dächern überragt, deren Abschüssigkeit das Schmelzen des Schnees an der Aprilsonne begünstigt. Der Marktflecken Maksimova bietet einen lachenden Anblick. Die Bewohner sind von angenehmem Typus, freimütigem Gebaren, klarem Blick und etwas stolzem Gesichtsausdruck. Die Frauen erscheinen anmutig und ziemlich hübsch, trotzdem ihre Gesichter tättowiert sind. Sehr zurückhaltend, sehr streng von Sitten, lassen sie sich niemals barfuß oder barhaupt sehen.

Die Familie wurde von den Jakutenhäuptlingen, welche den Namen, »Kinoes« führen, und den Ältesten, »Starsynas«, der Stadt sehr herzlich aufgenommen. Diese wackeren Leute stritten sich um die Ehre, sie unentgeltlich beherbergen und bewirten zu dürfen. Aber nachdem sie ihnen gedankt, bestand Cornelia darauf, ihre Anschaffungen bar zu bezahlen, unter anderem einen Petroleumvorrat, welcher die Heizung des Küchenofens auf längere Zeit hinaus sicherstellte.

Übrigens erzielte die Belle-Roulotte auch hier ihre gewohnte Wirkung. Noch nie war ein Gauklerwagen in dies Land gekommen. Eine Menge Jakuten beiderlei Geschlechts besuchte sie und man fand keinen Anlaß, sein vertrauensvolles Entgegenkommen zu bereuen. In dieser Provinz wird selten ein Diebstahl begangen – selbst zum Nachteile Fremder nicht. Und wenn es vorkommt, so folgt die Strafe unmittelbar dem Vergehen. Sowie das Vergehen konstatiert worden ist, wird der Dieb öffentlich mit Ruten gezüchtigt. Und dieser physischen Strafe folgt die moralische: für sein ganzes Leben geschändet, ist er aller bürgerlichen Rechte verlustig und kann nie wieder für einen »ehrlichen Mann« gelten.

Am dritten April erreichten die Reisenden die Ufer des Oden, eines [264] Flüßchens, das sich nach einem Laufe von fünfzig Meilen in den Golf von Anabara ergießt.

Das bisher sehr günstige Wetter begann sich zu verändern. Bald stellten sich reichliche Regengüsse ein, deren erste Wirkung es war, den Schnee zum Schmelzen zu bringen. Das währte acht Tage, während deren der Wagen an sumpfigen Stellen nur mühsam und manchmal sogar unter ernstlichen Gefahren[265] vorwärts kam. So kündigte sich der Frühling in diesen hohen Breiten an, – bei einer Durchschnittstemperatur von zwei bis drei Grad über Null.


Diese Fahrt verursachte große Beschwerden. (Seite 266.)

Diese Fahrt verursachte große Beschwerden. Aber man konnte sich zu der Mitwirkung der beiden russischen Matrosen nur Glück wünschen, denn sie zeigten sich sehr ergeben und sehr brauchbar.

Am achten April machte die Belle-Roulotte am rechten Ufer des Anabaraflusses Halt, nachdem sie seit ihrer Abfahrt von Maksimova eine Strecke von vierzig Meilen zurückgelegt hatte.

Es war noch eben Zeit, diesen Fluß auf dem Eise zu passieren, obgleich der Eisstoß sich weiter unten bereits in Bewegung gesetzt hatte. Man hörte das dumpfe Krachen der Eisblöcke, welche die Strömung donnernd auf den Golf zuwälzte.

Eine Woche später hätte man nach irgend einer Furt suchen müssen, – was nicht leicht gewesen wäre, da die Wasser beim Schmelzen der Schneemassen jählings anschwellen.

Die wiederum grünende Steppe bedeckte sich mit frischem Grase, welches den Zugtieren trefflich mundete. Die Stauden knospeten. Binnen drei Wochen würden sich die ersten Blätter an ihren Zweigen entfalten. Der aufsteigende Saft verjüngte auch die mageren Baumskelette, welche die Winterkälte ausgedörrt hatte.

Hie und da bogen kleine Gruppen von Birken und Lärchenbäumen sich geschmeidiger im Windhauch. Die ganze Natur des hohen Nordens belebte sich an der Sonnenwärme.

Je weiter man sich vom Küstengebiet entfernte, desto volkreicher wurde die Landschaft. Manchmal begegnete die kleine Truppe einem Steuereinnehmer, der von Dorf zu Dorf zog, um den Tribut zu beheben. Dann machte man wohl Halt, tauschte einige Worte mit dem wandernden Beamten und bot ihm ein Glas Wódka an, das er gern entgegennahm, und trennte sich mit beiderseitigen guten Wünschen für die Reise.

Eines Tages kreuzte die Belle-Roulotte einen Gefangenentransport. Diese Unglücklichen, welche zum Salzsieden verurteilt worden, waren auf dem Wege nach Ostsibirien und erfuhren keine glimpfliche Behandlung von den sie eskortierenden Kosaken. Selbstverständlich fiel die Anwesenheit des Herrn Sergius dem Anführer der Kosakentruppe nicht weiter auf; aber der noch immer mißtrauischen Kayette schien es, als ob die russischen Matrosen ihr möglichstes thäten, um unbemerkt zu bleiben.

Am neunzehnten April, nachdem sie eine Strecke von fünfundsiebzig Meilen zurückgelegt, hielt die Belle-Roulotte auf dem rechten Ufer der Khatanga, die sich in den nach ihr benannten Golf ergießt. Diesmal gab es keine Eisbrücke mehr, über die man ans jenseitige Ufer gelangt wäre.

[266] Nur wenige treibende Eisblöcke kennzeichneten noch das Ende des Eisganges. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, eine passierbare Furt zu finden – was zweifellos mit großem Zeitverlust verbunden gewesen wär, wenn Ortik nicht eine halbe Werst stromaufwärts eine solche entdeckt hätte. Der Übergang wurde nicht ohne Schwierigkeiten bewerkstelligt, da das Wasser bis an die Achsen des Wagens hinanreichte. Dann ließ man den Fluß hinter sich; noch [267] fünfundzwanzig Meilen und die Reisenden schlugen ihr Lager am Jegesee auf.


Es war wie eine Vase. (Seite 268.)

Welch ein Gegensatz zu dem eintönigen Anblick der Steppe! Es war wie eine Oase im Sandmeer der Sahara. Man stelle sich einen durchsichtig klaren Wasserspiegel vor, umrahmt von immergrünen Bäumen, von Fichten und Tannen, von lustig grünendem Strauchwerk, Heidelbeer-, Rauschbeer-, Stachelbeer-und Hagebuttensträuchern, welche der Frühling mit knospenden Blüten besäte.

In dem dichten Unterholz, das sich östlich und westlich vom See hinzog, würde es Wagram und Marengo nicht schwer fallen, zahlreiches Haar- oder Federwild aufzuspüren, falls Herr Cascabel ihnen gestattete, sich dort ein paar Stunden lang herumzutreiben.

Überdies schwammen Scharen von Gänsen, Enten und Schwänen auf dem See umher. Kraniche und Störche zogen, aus den mittelasiatischen Gegenden kommend, in langgestrecktem Fluge durch die Luft. Beim Anblick dieser reizenden Landschaft war man versucht, in die Hände zu klatschen.

Auf Herrn Sergius Vorschlag hin beschloß man, hier einen Aufenthalt von achtundvierzig Stunden zu nehmen. Das Lager wurde an der Spitze des Sees aufgeschlagen, im Schutze hoher Tannen, deren Wipfel sich über das Wasser neigten.

Dann gingen die Jäger der Truppe, von Wagram gefolgt, mit ihren Flinten davon, nachdem sie versprochen hatten, sich nicht zu weit zu entfernen. Kaum eine Viertelstunde später vernahm man bereits Schüsse.

Unterdessen beschlossen Herr Cascabel und Xander, Ortik und Kirschef, ihr Glück mit Fischen am Seeufer zu versuchen. Ihr Gerät beschränkte sich auf einige Angelleinen und Haken, welche sie bei den Eingeborenen von Port-Clarence gekauft hatten. Aber was braucht ein tüchtiger Fischer anderes, wenn er intelligent genug ist, um die Kniffe des Fisches zu durchschauen, und geduldig genug, um zu warten, bis er anbeißt!

In Wahrheit aber war die Geduld an jenem Tage überflüssig. Kaum hatte man die Angeln an passenden Stellen ausgeworfen, so zuckten auch schon die Korkschiffchen auf dem Wasserspiegel. Die Fische waren längs den Ufern in solchen Mengen vorhanden, daß man in einem halben Tage genug gefangen hätte, um die großen Fasten auszuhalten. Das war eine Freude für den jungen Xander. Als Napoleone sich zu ihm gesellte und nun ihrerseits die Angelrute halten wollte, mochte er sich denn auch nicht dazu zu verstehen. Infolge dessen Streit und Dazwischenkunft Cornelias. Da ihr das Ergebnis der Fischerei sowieso hinreichend schien, gebot sie den Kindern wie dem Vater, ihr Gerät zusammen zu packen; und wenn Frau Cascabel gebot, so blieb nichts übrig als zu gehorchen.

[268] Zwei Stunden später kehrten Herr Sergius und sein Freund Jean mit Wagram zurück, der – thatsächlich und figürlich – die Ohren hängen ließ: so sehr bedauerte er, die wildreichen Gehölze verlassen zu müssen.

Die Jäger waren nicht minder glücklich gewesen als die Fischer. Der Speisezettel würde einige Tage lang ebenso abwechslungsreich als angenehm sein. Die Fische des Jege-Sees und das vortreffliche Wild des sibirischen Hochlandes würden die Kosten desselben tragen.

Unter anderen hatten die Jäger einige jener »Karallys« mitgebracht, die man in Scharen antrifft, und auch mehrere Paar »Dikoutas«, dumme Vögel, kleiner als die Haselhühner, deren Fleisch sehr schmackhaft ist.

Man kann sich vorstellen, welch ein gutes Mahl an jenem Tage aufgetragen wurde. Der Tisch war unter den Bäumen gedeckt worden und keiner der Gäste bemerkte, daß es doch vielleicht ein wenig zu kalt zu einem Festgelage unter freiem Himmel sei. Cornelia hatte sich im Rösten der Fische und im Braten des Wildbrets selber übertroffen. Da der Vorrat an Mehl sowohl, als auch an jakutischer Butter im letzten Dorfe erneuert worden, war es nicht erstaunlich, wenn der gewohnte Kuchen, goldig und mürbe, beim Dessert erschien. Jeder trank ein paar tüchtige Züge Branntwein, dank gewissen Flaschen, zu deren Veräußerung die Einwohner von Maksimova sich herbeigelassen hatten, und der Tag verging, ohne daß die glückliche Muße irgend welche Störung erlitten hätte.

Man konnte wahrhaftig wähnen, daß die Prüfungszeit zu Ende sei und daß die berühmte Reise einen der Familie Cascabel zur Ehre und zum Vorteil gereichenden Abschluß finden werde!

Auch der folgende Tag war ein Ruhetag, den das Gespann benützte, um sich gewissenhaft auf der Weide gütlich zu thun.

Am einundzwanzigsten April brach die Belle-Roulotte wieder um sechs Uhr morgens auf und erreichte vier Tage später die westliche Grenze des Jakutenlandes.

9. Capitel
IX. Bis an den Ob.

Es ist von Wichtigkeit, auf die Stimmung der beiden Russen zurückzukommen, welche ein böser Zufall in den Kreis der Familie Cascabel geführt hatte.

Man sollte denken, daß Ortik und Kirschef, dankbar für die ihnen zu teil gewordene Aufnahme, auf bessere Gedanken gekommen wären. Nichts dergleichen. [269] Diese Elenden, deren Vergangenheit schon so viele, mit der Karnossschen Bande begangene Verbrechen zählte, dachten nur daran, wie sie neue Missethaten begehen könnten. Sie sannen auf nichts geringeres, als sich der Belle-Roulotte und des von Tschu-Tschuk zurückerstatteten Geldes zu bemächtigen, und dann, in Gauklerverkleidung nach Rußland zurückgekehrt, dort ihr Verbrecherleben von neuem zu beginnen. Um diese Pläne in Ausführung zu bringen, mußten sie sich aber vor allem ihrer Reisegefährten entledigen, jener wackeren Leute, denen sie ihre Freiheit verdankten, – und auch davor schraken sie nicht zurück.

Diesen Plan konnten sie indessen nicht allein ausführen. Das war der Grund, weshalb sie die Richtung nach einem der Uralpässe genommen hatten, wo sich zahlreiche Missethäter, frühere Spießgesellen von ihnen, herumtrieben; dort dachten sie die nötige An zahl Banditen zu dingen, um das Personal der Belle-Roulotte anzugreifen.

Und wer würde sie dieses abscheulichen Komplotts verdächtigt haben? Sie stellten sich, als wollten sie sich nützlich machen, und gaben niemand Anlaß zu Tadel. Wenn sie keine Sympathie einflößten, so flößten sie auch kein Mißtrauen ein, – außer Kayetten, welche noch immer an ihnen zweifelte. Einen Augenblick war ihr der Gedanke gekommen, daß sie Kirschefs Stimme in jener Nacht gehört habe, wo Herr Sergius an der alaskischen Grenze überfallen worden war. Aber wie konnte man annehmen, daß die Urheber jenes Verbrechens gerade die beiden Matrosen seien, die man zwölfhundert Meilen vom Schauplatze desselben entfernt, auf einer der Liakhoff-Inseln aufgefunden hatte? Während sie dieselben im stillen beobachtete, hütete Kayette sich denn auch, irgend etwas von ihren allzu unwahrscheinlichen Zweifeln verlauten zu lassen.

Und nun muß man noch folgendes beachten: wenn Ortik und Kirschef der jungen Indianerin verdächtig vorkamen, so fanden sie dagegen die Stellung des Herrn Sergius sonderbar. Nach seiner gefährlichen Verwundung an der Grenze von Alaska hatte die Familie Cascabel ihn nach Sitka gebracht und dort gepflegt. Nichts natürlicher als das. Aber warum war er nach seiner Herstellung nicht in Sitka geblieben? Warum war er diesen Gauklern nach Port-Clarence gefolgt? Warum begleitete er sie durch Sibirien? Die Anwesenheit eines Russen inmitten einer ausländischen Jahrmarktstruppe war zum mindesten sonderbar.

So hatte Ortik denn eines Tages zu Kirschef gesagt:

»Sucht dieser Herr Sergius etwa insgeheim nach Rußland zurückzukehren und ergreift er diese Vorsichtsmaßregeln, um nicht erkannt zu werden?... Ei! vielleicht könnte man aus diesem Umstande Nutzen und Vorteil ziehen?... Halten wir die Augen offen!

[270] Und ohne daß er es ahnte, wurde Graf Narkine von Ortik bewacht, der sein Geheimnis zu ergründen suchte.

Am dreiundzwanzigsten April verließen die Reisenden das Jakutenland und betraten den Grund und Boden der Ostjaken. Diese Sibirier sind ein ziemlich elendes und ungebildetes Volk, wenngleich ihr Gebiet einige reiche Bezirke – unter anderen den von Berezow – umfaßt.

[271] Auf der Fahrt durch die Dörfer dieses Gebietes konnte man sehen, wie auffällig sie sich von den pittoresken und anziehenden Jakutenflecken unterschieden! Ungesunde Hütten, kaum zur Unterbringung von Tieren geeignet, mit einer inneren Atmosphäre, in der man nur schwer zu atmen vermag!


Diese Schlitten mit den Renntieren bespannt. (Seite 272.)

Und wo kann man abstoßendere Wesen finden, als diese Eingeborenen, in Bezug auf welche Jean eine Stelle aus der allgemeinen Geographie citierte:

»Die Ostjaken in Hochsibirien tragen eine doppelte Gewandung, um sich vor der Kälte zu schützen: eine Schmutzschicht und darüber ein Renntierfell.«

Was ihre Nahrung betrifft, so besteht dieselbe fast ausschließlich aus halbrohem Fisch und gänzlich ungekochtem Fleische.

Indessen sind die Nomaden, deren Herden in der Steppe verstreut weiden, wesentlich verschieden von den Bewohnern der Hauptmarktflecken. So fanden die Reisenden zum Beispiel in der Ortschaft Starokhantaskii eine etwas ansehnlichere Bevölkerung, wenn dieselbe auch weder gastfreundlich noch zuvorkommend gegen Fremde war.

Die Frauen, mit bläulichen Mustern tättowiert, trugen den »Vakocham«, einen roten, mit blauen Streifen verzierten Schleier, den grellfarbigen Rock und lichteren Leib, dessen Schnitt ihre Taille entstellt, und den mit kleinen Schellen verzierten Gürtel, der bei jeder Bewegung wie das Sattelzeug eines spanischen Maultieres klingelt.

Was die Männer betrifft, so sehen sie während des Winters – und teilweise auch im Sommer – wie Tiere aus, da sie in Felle mit nach außen gekehrtem Haar gekleidet sind. Ihr Kopf verschwindet unter der »Maltza« oder Kapuze und der »Parka«, in welcher Ritze für die Augen, den Mund und die Ohren angebracht sind. Unmöglich, ihre Züge zu sehen, was vermutlich nicht zu beklagen ist.

Unterwegs begegnete die Belle-Roulotte manchmal einigen jener Schlitten, die als »Narken« bekannt sind. Mit drei Renntieren bespannt, welche mittelst eines einfachen, unter ihrem Bauche hergezogenen Riemens daran befestigt sind und durch ein an ihr Geweih gebundenes Leitseil gelenkt werden, können diese Nacken sieben bis acht Meilen zurücklegen, ohne daß das Gespann Halt machen müßte, um Atem zu schöpfen.

Man durfte nicht daran denken, den vor den Wagen gespannten Renntieren eine solche Leistung zuzumuten. Aber man hatte darum keinen Grund zu Klagen; sie leisteten treffliche Dienste.

Als Herr Sergius daher eines Tages bemerkte, daß es vielleicht weise sein werde, sie durch Pferde zu ersetzen, sobald man sich welche verschaffen könne, antwortete Herr Cascabel:

»Sie ersetzen?... Weshalb denn, ich bitte Sie? Glauben Sie, daß sie nicht die Kraft haben werden, uns bis nach Rußland zu ziehen?«

[272] »Wenn wir auf dem Wege nach dem nördlichen Rußland wären, so würde ich nichts dagegen sagen,« antwortete Herr Sergius; »aber in Südrußland ist die Sache anders. Die Renntiere vertragen keine Hitze; dieselbe erschöpft sie und macht sie arbeitsunfähig. Daher sieht man auch gegen Ende April zahlreiche Rudel von Renntieren nach den nördlichen Gebieten, insbesondere nach den mit ewigem Schnee bedeckten Hochebenen der Uralkette ziehen.«

»Nun wohl! sobald wir die Grenze erreicht haben, werden wir uns zu dem Tausche entschließen, Herr Sergius. Aber es wird wirklich ein großes Opfer sein, uns von diesem Gespann zu trennen! Stellen Sie sich nur den Effekt vor, wenn ich mit zwanzig vor den Wagen der Familie Cascabel gespannten Renntieren auf dem Jahrmarkt von Perm erschiene!... Welch ein Effekt und welch eine Reklame!«

»Das wäre gewiß prächtig!« antwortete Herr Sergius lächelnd.

»Triumphal... Sagen Sie triumphal!... Nebenbei gesagt,« fügte Herr Cascabel hinzu, »es ist abgemacht, nicht wahr, daß Graf Narkine zu meiner Truppe gehört und sich im Notfalle nicht weigern wird, vor dem Publikum zu arbeiten?...«

»Ja, das ist abgemacht.«

»Dann vernachlässigen Sie Ihre Lektionen in der Taschenspielerei nicht, Herr Sergius. Da man glaubt, daß Sie zu Ihrem Vergnügen lernen, so werden weder meine Kinder noch die beiden Matrosen sich darüber wundern. Ah!... wissen Sie, daß Sie bereits sehr geschickt sind?«

»Wie sollte ich es nicht sein, Freund Cascabel, mit einem Lehrmeister wie Sie!«

»Bitte sehr um Verzeihung, Herr Sergius, aber ich versichere Ihnen, daß Sie auffallend viel natürliches Talent dazu besitzen!... Mit ein wenig Übung würden Sie ein unvergleichlicher Taschenspieler werden und sicher gute Einnahmen erzielen!«

Am sechsten Mai Ankunft der Belle-Roulotte am Ufer des Jenisei, hundert Meilen westwärts vom Jegesee.

Der Jenisei ist einer der Hauptströme des sibirischen Festlandes und ergießt sich durch den nach ihm benannten, unterm siebzigsten Breitegrad gelegenen Golf ins nördliche Eismeer.

Zu jener Zeit war der mächtige Fluß schon vollkommen eisfrei. Eine große Fähre, welche den Verkehr von Wagen und Reisenden zwischen beiden Ufern vermittelte, brachte die kleine Karawane, Personal und Material, gegen Entrichtung eines recht beträchtlichen Schiffszolles, hinüber.

Nun dehnte sich wieder die Steppe mit ihren endlosen Horizonten vor ihnen aus. Zu wiederholten Malen stießen sie auf Gruppen von Ostjaken, welche ihren religiösen Pflichten oblagen. Obgleich die Mehrzahl derselben [273] getauft ist, hat die christliche Religion wenig Gewalt über sie und hegen sie nach wie vor die tiefste Verehrung für ihre heidnischen Shaïtanbilder. Es sind dies aus großen Holzklötzen geschnitzte Götzen mit menschlichen Gesichtern, von denen jedes Haus, ja sogar jede Hütte eine kleine, mit einem Kupferkreuzchen gezierte Kopie besitzt.

Anscheinend ziehen die ostjakischen Priester, die Schamans, einen hübschen Vorteil aus jener Doppelreligion, abgesehen davon, daß sie großen Einfluß auf die zugleich christlichen und götzendienerischen Fanatiker ausüben. Man glaubt kaum, mit welcher Überzeugung diese Besessenen sich vor ihren Götzen herumwälzen und in was für epileptischen Verzerrungen sie sich ergehen.

Als man zum erstenmal ein halbes Dutzend solcher Tollhäusler erblickte, wandelte den jungen Xander die Lust an, mit ihnen zu wetteifern; er ging auf den Händen herum, bog sich in den Hüften, warf den Rumpf zurück, machte Luftsprünge wie ein Clown und beendete die Übung mit einer Reihe von Purzelbäumen.

Was seinen Vater zu der Bemerkung veranlaßte:

»Ich sehe Kind, daß du nichts von deiner Geschmeidigkeit eingebüßt hast!... Das ist recht gut!... Aber vernachlässigen wir uns nicht!... Denken wir an den Jahrmarkt von Perm!... Es handelt sich um die Ehre der Familie Cascabel!«

Im ganzen genommen, war die Reise ohne allzu große Anstrengungen vor sich gegangen, seitdem die Belle-Roulotte die Lenamündungen verlassen hatte. Manchmal mußte sie dichte Fichten- und Birkenwälder umgehen, welche einige Abwechslung in die Eintönigkeit jener Ebenen brachten und durch die sie sich keinen Weg zu bahnen vermocht hätte.

Im allgemeinen war das Land fast unbewohnt. Man reiste meilenweit, ohne auf ein Dörfchen oder ein Gehöft zu stoßen. Die ganze Gegend ist außerordentlich schwach bevölkert und der Bezirk von Berezów, der reichste von allen, zählt nur fünfzehntausend Einwohner in einem Umkreis von dreitausend Kilometern. Dagegen und vielleicht eben deshalb wimmelt es dort von Wild.

Herr Sergius und Jean konnten sich also ihrer vollen Leidenschaft für die Jagd hingeben und zugleich die Speisekammer der Frau Cascabel verproviantieren. Ortik begleitete sie zumeist und legte Proben einer merkwürdigen Geschicklichkeit ab. Die Hafen hausen zu Tausenden in der Steppe, gar nicht zu reden vom Federwild, dessen Schwärme unzählbar sind. Es gab auch Elentiere, Damhirsche, wilde Renntiere, sogar riesige Eber, sehr gefährliche Tiere, welche die Jäger sich wohlweislich enthielten aufzustöbern.

Was die Vögel betrifft, so sah man Enten, Tauchenten, Gänse, Krammetsvögel, Birkhühner, Haselhühner, Störche und weiße Rebhühner. Man hatte reiche Auswahl. Wenn ein Schuß sich zu irgend einem unverdaulicheren [274] [276]Wild verirrt hatte, so überließ Cornelia dasselbe denn auch den beiden Hunden, die sich gern damit abfanden.

Diesem Reichtum an frischem Wildbret zufolge speiste man vorzüglich – sogar zu gut! Was Herrn Cascabel bewog, seinen Künstlern Genügsamkeit zu predigen.


Der Polarkreis wurde mit einer guten Flasche Branntwein begossen. (Seite 276.)

Der Polarkreis wurde mit einer guten Flasche Branntwein begossen. (Seite 276.)


»Kinder, hütet euch vor dem Fettwerden!...« sagte er wiederholt. »Das Fett ist der Ruin für die Gelenkigkeit!... Es ist die Geißel des Akrobaten!... Ihr eßt zu viel!... Was Teufel, Mäßigkeit!... Xander, mir scheint, du wirst korpulent!... Pfui!... In deinem Alter!... Daß du dich nicht schämst!«

»Vater, ich versichere dir...«

»Versichere mir nichts!... Ich habe große Lust, dich allabendlich zu messen und gegebenen Falls fasten zu lassen... Clou macht es ebenso!... Er wird zusehends fetter!«

»Ich, Herr Direktor?«

»Ja, du, und es schickt sich nicht, daß ein Hanswurst dick sei... am allerwenigsten, wenn er Clou heißt!... Du wirst schließlich so rund wie ein Bierfaß werden...«

»Wenn ich nicht etwa auf meine alten Tage zur Hopfenstange zusammenschrumpfe!« antwortete Clou, seinen Gürtel fester anziehend.

Bald darauf hatte die Belle-Roulotte den Tas, der seine Fluten in die Jeniseibucht ergießt, ungefähr an dem Punkte zu passieren, wo die Marschroute den nördlichen Polarkreis durchschnitt, um in die gemäßigte Zone hinüberzugehen. Man sieht, welch schräge Linie sie seit der Abfahrt von der Liakhossinselgruppe gen Südwesten beschrieben hatte.

Aus diesem Anlasse glaubte der stets als Autorität betrachtete Herr Sergius, seinem gewohnheitsmäßigen Auditorium erklären zu sollen, was der Polarkreis sei, jenseits dessen die Sonne sich im Sommer niemals auf mehr als dreiundzwanzig Grad über dem Horizont erhebe.

Jean, der bereits einen Begriff von der Kosmographie hatte, verstand die von Herrn Sergius gegebene Erklärung. Aber Herr Cascabel spannte vergeblich alle Federn seiner Intelligenz an, es gelang ihm nicht, sich das eigentliche Wesen des Polarkreises vorzustellen.

»Was Kreise betrifft,« sagte er, »so kenne ich nur die Reisen, durch welche Kunstreiter und Reiterinnen zu springen pflegen. Aber schließlich ist dies kein Grund, jenen Kreis nicht anzufeuchten!«

Und der Polarkreis wurde mit einer Flasche guten Branntweins angefeuchtet, wie die Matrosen an Bord der Fahrzeuge, welche von einer Hemisphäre in die andere fahren, den Äquator anzufeuchten pflegen.

Der Übergang über den Tas wurde nicht ohne einige Schwierigkeiten [276] zuwege gebracht. Der Verkehr zwischen den beiden Ufern dieses Flüßchens wurde durch keine Fähre erleichtert und so mußte man eine passierbare Furt suchen, was mehrere Stunden in Anspruch nahm. Die beiden Russen legten großen Eifer an den Tag; zu wiederholten Malen mußten sie bis an den Gürtel ins Wasser steigen, um die Räder des Fuhrwerks frei zu machen.

Mit weit weniger Mühe setzte man am sechzehnten Mai über den Pur, einen schmalen Fluß, der weder reißend noch tief ist.

Zu Anfang Juni war die Hitze überaus groß geworden – was immer anormal erscheint, wenn es sich um Gegenden unter so hohen Breitegraden handelt. Während der zweiten Hälfte des Monats Mai zeigte das Thermometer fünfundzwanzig bis dreißig Grad. Da es in der Steppe absolut keinen Schatten gab, so litten Herr Sergius und seine Gefährten sehr unter dieser Temperatur. Selbst die Nacht mildert die Tagesglut nicht sonderlich, da die Sonne in dieser Jahreszeit kaum unter den Horizont jener langen Ebenen hinabsinkt. Nachdem sie denselben fast im Norden gestreift hat, steigt ihre weißglühende Scheibe sogleich wieder empor, um ihren täglichen Lauf von neuem zu beginnen.

»He!... Diese verwünschte Sonne!« sagte Cornelia immer wieder, indem sie ihr Gesicht mit einem nassen Schwamme betupfte. »Welch ein Ofenloch!... Und wenn es noch im Winter wäre.«

»Wenn es im Winter wäre,« antwortete Herr Sergius, »so würde der Winter eben zum Sommer.«

»Richtig!« versetzte Herr Cascabel. »Aber was mir schlecht kombiniert erscheint, das ist, daß wir kein einziges Stückchen Eis zu unserer Erfrischung haben, nachdem wir Monate lang solchen Überfluß daran gehabt!«

»Sehen Sie, Freund Cascabel, wenn wir Eis hätten, so hätten wir's infolge von Kälte, und wenn es kalt wäre...«

»So wäre es nicht warm!... Alles sehr richtig...«

»Wenn die Luft nicht etwa die Mitte hielte,« glaubte Clou-de-Girofle hinzufügen zu sollen.

»Immer richtiger!« antwortete Herr Cascabel; »aber darum ist es doch verteufelt heiß!«

Indessen hatten die Jäger ihren Sport nicht aufgegeben. Nur zogen sie sehr früh zu Felde und hatten es nicht zu bedauern. Eines Tages wurde sogar ein schöner Schuß abgegeben, welcher Jean zur Ehre gereichte. In der That wurde das von ihm erlegte Wild nicht ohne Mühe heimgebracht. Es war ein Tier mit kurzem, vorn rötlichem Haar, das aber während der Winterperiode grau gewesen sein mußte. Über seinen Rücken lief ein gelblicher Streif, wie man deren bei Maultieren sieht. Seine langen Hörner bogen sich zierlich über [277] seinem Haupte, was darauf hinwies, daß es ein männliches Exemplar dieser Art von Wiederkäuern sei.

»Ist das ein schönes Renntier!« rief Xander.

»O!« sagte Napoleone vorwurfsvoll zu ihrem älteren Bruder, »warum hast du ein Renntier getötet?...«

»Um es zu essen, Schwesterchen!«

»Ich liebe sie doch so sehr!«

»Nun, wenn du sie so sehr liebst,« versetzte Xander, »so kannst du dir daran gütlich thun, denn es wird für uns alle reichen.«

»Tröste dich, mein Herzchen!« sagte Herr Sergius. »Dieses Tier ist kein Renntier.«

»Was ist es denn?« fragte Napoleone.

»Es ist ein Argalischaf.«

Herr Sergius täuschte sich nicht; diese Tiere, welche im Winter in den Bergen und im Sommer auf der Ebene hausen, sind in Wahrheit nur ungeheure Schafe.

»Nun denn, Cornelia,« bemerkte Herr Cascabel; »da es ein Schaf ist, so wirst du uns seine Koteletten auf dem Roste braten!«

So geschah es, und da das Fleisch des Argali äußerst schmackhaft ist, so steht zu vermuten, daß Cäsar Cascabel an jenem Tage selber etwas mehr Fleisch ansetzte, als es sich mit den Erfordernissen seines Berufes vertrug.

Von hier aus hatte die Belle-Roulotte eine lange Strecke durch ein fast unfruchtbares Land zurückzulegen, um den Lauf des Ob zu erreichen. Die Ostjakendörfer wurden immer seltener; kaum daß man noch einigen wandernden Trupps begegnete, die nach den östlichen Provinzen zogen. Überdies hatte Herr Sergius seine Gründe, die mindest bevölkerten Teile des Bezirkes zu durchreisen. Es war geraten, die bedeutende Stadt Berezów zu umgehen, welche in geringer Entfernung jenseits des Ob liegt.

Von einem herrlichen Cedernwalde umrahmt, staffelweise auf einem steilen Hügel erbaut, von den Glockentürmen ihrer beiden Kirchen beherrscht, von der Sosva bespült, durch welche Kähne und Handelsschiffe unaufhörlich Furchen ziehen, ist diese Stadt mit ihren zweihundert Häusern der Mittelpunkt eines sehr lebhaften Handels, ein Sammelplatz für die Produkte Nordsibiriens.

Offenbar hätte die Ankunft der Belle-Roulotte in Berezow die öffentliche Neugier rege gemacht und die Polizei würde sich die Familie Cascabel sehr genau angesehen haben. Es war also besser, Berezow und sogar den gleichnamigen Bezirk zu umgehen. Gendarmen sind immer Gendarmen; und namentlich wenn sie Kosaken sind, ist es gescheiter, nichts mit ihnen zu schaffen zu haben.

[278] Bei dieser Gelegenheit merkten Ortik und Kirschef sehr wohl, daß es Herrn Sergius nicht paßte, Berezow zu berühren. Das bestärkte sie in ihrer Vermutung, daß dieser Russe insgeheim nach Rußland zurückzukehren wünsche.

Es war in der zweiten Juniwoche, daß die Marschroute eine kleine Abänderung erfuhr, um sich nördlich vom Bezirk Berezow hinzuziehen. Es war das ein Umweg von höchstens zehn Meilen, und am sechzehnten Juni lagerte die kleine Truppe am rechten Ufer eines mächtigen Stromes, neben dem sie eine Zeit lang thalwärts gefahren war.

Dieser Strom war der Ob.

Vom Purthale bis hierher hatte die Belle-Roulotte ungefähr hundertachtzig Meilen zurückgelegt. Sie befand sich jetzt nur mehr hundert Meilen weit von der europäischen Grenze. Die Uralkette, welche zwischen diesen beiden Weltteilen emporragt, würde bald den Horizont begrenzen.

10. Capitel
X. Vom Obstrom bis zum Uralgebirge.

Der Ob, ein mächtiger Strom, der im Westen von den Gewässern des Ural und im Osten von reichlichen Nebenflüssen gespeist wird, durchmißt eine Strecke von viertausendfünfhundert Kilometern, während sein Gebiet nicht weniger als dreihundertdreißig Millionen Hektare umfaßt.

Geographisch gesprochen, hätte der Ob als natürliche Grenze zwischen Asien und Europa dienen können, wenn das Uralgebirge sich nicht etwas westlich von seinem Laufe erhoben hätte. Vom sechzigsten Breitegrad aus entwickeln der Fluß und das Gebirge sich beinahe parallel. Und während der Ob sich in den weiten Golf des gleichen Namens ergießt, senkt der Ural seine letzten Ausläufer ins Karameer hinab.

Auf dem rechten Ufer haltend, betrachteten Herr Sergius und seine Gefährten den Fluß und dessen zahlreiche, weidenbeschattete Inseln. Am Fuße der steilen Ufer wiegten die Wasserpflanzen ihre schmalen Blätter und frischen Blüten. Stromaufwärts und abwärts durcheilten zahlreiche Fahrzeuge das frische, durchsichtige Wasser, das auf seinem Laufe durch die Filter seiner heimatlichen Berge gereinigt worden.

Da die Überfuhr hier regelrecht organisiert worden, so vermochte die Belle-Roulotte ohne große Mühe den Marktflecken Muji auf dem linken Flußufer zu erreichen.

[279] Dieser Marktflecken ist eigentlich bloß ein Dorf und gefährdete die Sicherheit des Grafen Narkine in keiner Weise, da es nicht als Militärposten diente. Indessen war es doch ratsam, seine Angelegenheiten in Ordnung zu bringen, da man im Begriffe stand, den Fuß des Uralgebirges zu erreichen, und da die russische Verwaltung jeden vom Auslande Kommenden nötigt, seine Papiere vorzuzeigen. So beschloß Herr Cascabel denn, die seinigen durch den Bürgermeister von Muji visitieren zu lassen. War das geschehen, so konnte Herr Sergius, als zum Personal der Truppe gehörig, die Grenze des Moskowitenreiches überschreiten, ohne den Verdacht der Polizei zu erregen.

Weshalb mußte ein beklagenswerter Zufall diesen so leicht ausführbaren Plan gefährden? Weshalb waren Ortik und Kirschef zur Stelle, entschlossen, ihn zu vereiteln? Warum auch wollten sie die Belle-Roulotte durch die gefährlichsten Pässe des Ural führen, wo sie alsbald mit Banden von Übelthälern, ihren früheren Spießgesellen, zusammentreffen würden?

Aber Herr Cascabel, der diese Lösung nicht voraussehen und also auch nichts dagegen thun konnte, frohlockte unaufhörlich, sein tollkühnes Unternehmen gut zu Ende geführt zu haben. Nun sie ganz Westamerika, ganz Nordasien durchzogen hatten, würden kaum hundert Meilen Weges sie an die Grenze von Europa bringen! Seine Frau und Kinder waren vollkommen gesund und spürten nichts von den Anstrengungen jener langen Reise. Wenn Herrn Cascabels Thatkraft zur Zeit der Katastrophe in der Beringstraße und während des Treibens auf dem Eismeere nachgelassen, so hatte er doch wenigstens jenen Dummköpfen auf den Liakhoffinseln zu entgehen gewußt und die Belle-Roulotte in den Stand gesetzt, ihre Reise auf dem Festland fortzusetzen.

»Wahrlich, was Gott thut, ist gewöhnlich wohlgethan!« wiederholte er gern.

Herr Sergius und seine Gefährten hatten beschlossen, vierundzwanzig Stunden lang in Muji zu verweilen, wo die Einwohner ihnen einen vorzüglichen Empfang bereiteten.

Indessen erhielt Herr Cascabel den Besuch des Gorodintschy, – des Bürgermeisters von Muji. Diese, in Bezug auf Fremde etwas mißtrauische Persönlichkeit betrachtete es als ihre Pflicht, das Oberhaupt der Familie einem Verhör zu unterziehen. Herr Cascabel wies ohne Zögern seine Papiere vor, in welchen Herr Sergius als einer der Künstler der Jahrmarktstruppe aufgeführt war.

Den ehrsamen Beamten, welchem der moskowitische Ursprung des Herrn Sergius nicht entgehen konnte, nahm es Wunder, einen Landsmann von sich unter französischen Gauklern zu sehen, und er lieh diesem Erstaunen Worte.

Aber da gab Herr Cascabel ihm zu bedenken, daß sich neben dem Russen [280] auch ein Amerikaner in der Person Clou-de-Girofles und eine Indianerin in der Person Kayettens unter ihnen befinde. Er kümmere sich nur um die Begabung seiner Künstler, nicht um ihre Nationalität. Er fügte hinzu, daß diese Künstler sich glücklich schätzen würden, wenn »der Herr Maire« – nun und nimmer hätte Cäsar Cascabel das Wort Gorodintschy auszusprechen vermocht –, wenn der Herr Maire ihnen gestatten wolle, in seiner Gegenwart zu arbeiten!

Das machte dem besagten Maire großes Vergnügen; er nahm den Vorschlag des Herrn Cascabel an und versprach ihm, nach der Vorstellung seine Papiere zu visieren.

Was Ortik und Kirschef betrifft, so waren sie als zwei auf der Heimreise befindliche russische Schiffbrüchige bezeichnet worden und stießen auf keinerlei Schwierigkeiten.

Der Verabredung gemäß begab die ganze Truppe sich am selbigen Abend in die Wohnung des Gorodintschy.

Es war das ein ziemlich geräumiges Haus, in Erinnerung an Alexander I., der diese Farbe liebte, schön gelb angestrichen. An den Wänden des Salons hing ein Bild der heiligen Jungfrau, umgeben von mehreren russischen Heiligenbildern, die sich in ihren Rahmen aus Silberstoff recht gut ausnahmen. Bänke und Schemel dienten dem Bürgermeister, seiner Frau und seinen drei Töchtern zu Sitzen. Ein halbes Dutzend Honoratioren war geladen worden, um an den Vergnügungen dieses Abends teilzunehmen, während die einfachen Steuerzahler von Muji dicht gedrängt um das Haus standen und sich damit begnügten, bei den Fenstern hineinzugucken.

Die Familie Cascabel wurde sehr zuvorkommend empfangen. Sie begann ihre Kunstübungen, welchen man nicht allzu sehr anmerkte, daß sie seit Wochen vernachlässigt worden waren. Die Verrenkungen des jungen Xander fanden großen Beifall; desgleichen die Anmut Napoleonens, welche, da sie kein straffes Seil zur Verfügung hatte, sich mit einer Tanzleistung begnügte. Im Spiele mit Flaschen, Tellern, Ringen und Kugeln setzte Jean das ganze Publikum in Erstaunen. Dann zeigte Herr Cascabel sich mit seinen Kraftproben als der würdige Gatte Cornelias, welche einen großen Erfolg damit errang, daß sie zwei Honoratioren mit ausgestreckten Armen in die Höhe hob.

Was Herrn Sergius betrifft, so entledigte er sich seiner Aufgabe sehr geschickt mit einigen Karten- und Taschenspielerkunststücken, welche sein gewandter Lehrmeister ihm beigebracht hatte, – nicht ohne Grund, wie man sieht. Daraufhin konnte im Geiste des Bürgermeisters kein Zweifel darüber entstehen, daß dieser Russe wirklich bei der Jahrmarktstruppe angestellt sei.

Dann wurde Konfekt, Korinthenkuchen und vorzüglicher Thee herumgereicht. Und als der Abend zu Ende ging, visierte der Gorodintschy ohne [281] Zögern die Papiere, welche Herr Cascabel ihm unterbreitete. Damit war die Belle-Roulotte den moskowitischen Behörden gegenüber legitimiert.

Es ist auch zu erwähnen, daß der Bürgermeister, der sich einer gewissen Wohlhabenheit erfreute, Herrn Cascabel zwanzig Rubel als Honorar für seine Vorstellung anbieten zu sollen glaubte.

Herr Cascabel war anfangs geneigt, diese Belohnung zurückzuweisen; aber das würde seitens des Direktors einer Wandertruppe vielleicht Aufsehen gemacht haben.

»Zwanzig Rubel sind schließlich immerhin zwanzig Rubel!« sagte er sich.

Und so steckte er unter vielen Danksagungen seine Einnahme ein.

Der folgende Tag wurde der Ruhe gewidmet. Man hatte einige Einkäufe an Mehl, Reis, Butter und verschiedenen Getränken zu besorgen, welche Cornelia sich zu mäßigen Preisen verschaffen konnte. Was den Konservenvorrat betrifft, so durfte man nicht daran denken, ihn in diesem Dorfe zu erneuern; aber zwischen dem Ob und der europäischen Grenze würde kein Mangel an Wild sein.

Vor dem Mittag waren die Einkäufe beendet. Man speiste recht fröhlich, obgleich es Jean und Kayetten schwer ums Herz war. Sahen sie doch die Trennungsstunde herannahen!...

In der That, was würde Herr Sergius thun, wenn er seinen Vater, den Fürsten Narkine, wiedergesehen hatte? Würde er, da er ja nicht in Rußland bleiben konnte, nach Amerika zurückkehren oder sich irgendwo in Europa niederlassen? Begreiflicherweise beschäftigte Herr Cascabel sich viel mit dieser Frage. Er hätte gern gewußt, woran er in dieser Hinsicht sei. Daher fragte er Herrn Sergius an jenem Tage nach dem Essen, ob er keine Lust habe, einen Spaziergang um das Dorf zu machen. Da letzterer sah, daß Herr Cascabel im geheimen mit ihm zu reden wünschte, beeilte er sich, die Einladung anzunehmen.

Auch die beiden Matrosen verabschiedeten sich von der Familie, um, wie sie sagten, den Tag in irgend einer Schenke von Muji zu beschließen.

So verließen denn Herr Sergius und Herr Cascabel die Belle-Roulotte, gingen einige hundert Schritte weit und setzten sich dann außerhalb des Dorfes am Rande eines kleinen Waldes nieder.

»Herr Sergius,« sagte hierauf Herr Cascabel, »wenn ich Sie um Ihre Begleitung bat, so war es, weil ich mit Ihnen allein sein wollte... Ich möchte mit Ihnen über Ihre Lage sprechen...«

»Über meine Lage, mein Freund?«


»Es handelt sich um Euer Leben.« (Seite 284.)

»Ja, Herr Sergius, oder vielmehr über das, wozu diese Lage Sie nötigen wird, wenn Sie erst in Rußland sind!...«

»In Rußland?«

[282] »Ich täusche mich nicht, nicht wahr, wenn ich sage, daß wir den Ural binnen zehn Tagen überschritten haben und acht Tage später in Perm eintreffen werden?«

»Ich halte das für wahrscheinlich, falls uns kein Hindernis aufhält,« antwortete Herr Sergius.

»Hindernis!... Wir werden auf keine Hindernisse stoßen!...« entgegnete [283] Herr Cascabel. »Sie werden die Grenze ohne einen Schatten von Schwierigkeiten passieren. Unsere Papiere sind in Ordnung; Sie gehören zu meiner Truppe und kein Mensch wird auf den Gedanken kommen, daß einer meiner Künstler Graf Narkine sei!...«

»Gewiß nicht, mein Freund, da niemand außer Ihnen und Frau Cascabel das Geheimnis kennt, und da es bewahrt worden ist...«

»So getreulich, als ob meine Frau und ich es mit uns ins Grab genommen hätten!« antwortete Herr Cascabel würdevoll. »Und würde es jetzt indiskret sein, Herr Sergius, zu fragen, was Sie nach der Ankunft der Belle-Roulotte in Perm zu thun gedenken?...«

»Ich werde mich schleunigst nach Schloß Walska begeben, um meinen Vater wiederzusehen!« antwortete Herr Sergius.»Das wird ihm eine große Freude sein, eine ganz unverhoffte Freude; es sind jetzt dreizehn Monate her, daß ich weder von ihm gehört, noch auch ihm zu schreiben vermocht habe; was muß er sich denken!...«

»Beabsichtigen Sie,« fragte Cascabel, »sich längere Zeit im Schlosse des Fürsten Narkine aufzuhalten?«

»Das wird von Umständen abhängen, die ich unmöglich voraussehen kann. Wenn meine Anwesenheit ruchbar wird, so werde ich vielleicht gezwungen sein, meinen Vater zu verlassen!... Und doch... in seinem Alter...«

»Herr Sergius,« antwortete Herr Cascabel, »ich habe Ihnen keinen Rat zu erteilen... Sie wissen besser als irgend jemand, was Sie thun müssen... Aber ich möchte Ihnen zu bedenken geben, daß Sie sich sehr ernsten Gefahren aussetzen, wenn sie in Rußland bleiben!... Werden Sie entdeckt, so steht Ihr Leben auf dem Spiele...«

»Ich weiß es, mein Freund; und ich weiß auch, daß Sie und die Ihrigen ebenfalls ernstlich bedroht sein würden, wenn die Polizei erführe, daß Sie meinen Übertritt auf moskowitisches Gebiet begünstigt haben!«

»O!... wir!... Das zählt nicht!...«

»Doch, mein lieber Cascabel; und ich werde auch niemals vergessen, was Ihre Familie für mich gethan hat...«

»Nun... nun... Herr Sergius!... Wir sind nicht hier her gekommen, um schöne Reden zu tauschen!... Sehen Sie, wir müssen uns über den Entschluß verständigen, welchen Sie in Perm zu fassen gedenken...«

»Nichts einfacher als das,« antwortete Herr Sergius. »Da ich zu Ihrer Truppe gehöre, so werde ich bei Ihnen bleiben, um keinen Verdacht zu erregen.«

»Aber Fürst Narkine?...«

»Schloß Walska liegt bloß sechs Werft von der Stadt entfernt und so [284] wird es mir ein leichtes sein, mich allabendlich nach der Vorstellung unbemerkt dahin zu begeben. Unsere Diener würden sich eher umbringen lassen, als daß sie ihren Herrn verrieten oder kompromittierten. So werde ich also einige Stunden bei meinem Vater verbringen und vor Tagesanbruch wieder nach Perm zurückkehren können.«

»Vortrefflich, Herr Sergius; und solange wir in Perm bleiben, wird die Sache hoffentlich ganz von selber gehen! Aber wenn nun der Jahrmarkt zu Ende ist, wenn die Belle-Roulotte nach Nischni und später nach Frankreich aufbricht...«

Das war offenbar der heikle Punkt. Wozu würde Graf Narkine sich entschließen, wenn die Familie Cascabel Perm verlassen hatte?... Würde er sich auf Schloß Walska verbergen?... Würde er, auf die Gefahr hin, entdeckt zu werden, in Rußland bleiben?... Herrn Cascabels Frage traf den Nagel auf den Kopf.

»Mein Freund,« antwortete ihm Herr Sergius »ich habe mich öfter gefragt, was ich thun werde... Ich kann Ihnen nichts anderes sagen, als daß ich es selber nicht weiß! Mein Thun wird sich nach den Umständen richten...«

»Wohl,« erwiderte Herr Cascabel. »Wenn Sie sich aber gezwungen sehen sollten, Schloß Walska zu verlassen; wenn Sie nicht in Rußland bleiben könnten, wo Ihre Freiheit, ja sogar Ihr Leben bedroht wäre... gestatten Sie mir die Frage, Herr Sergius... würden Sie dann daran denken, nach Amerika zurückzukehren?...«

»Ich habe in dieser Hinsicht noch keinen Plan gefaßt,« antwortete Graf Narkine.

»Nun denn, Herr Sergius – verzeihen Sie meine Beharrlichkeit – warum sollten Sie dann nicht mit uns nach Frankreich ziehen?... Indem Sie auch weiterhin in meiner Truppe figurierten, könnten Sie die westliche Grenze Rußlands ohne Gefahr erreichen!... Wäre das nicht der sicherste Ausweg?... Und so würden wir Sie noch einige Zeit bei uns haben... und mit Ihnen unsere teure kleine Kayette... O! nicht um sie Ihnen zu rauben!... Sie ist... sie bleibt Ihre Adoptivtochter, und das ist etwas mehr wert, als wenn sie die Schwester Jeans, Xanders und Napoleonens, der Kinder eines Gauklers, wäre!«

»Mein Freund,« antwortete Herr Sergius, »reden wir nicht von dem, was die Zukunft für uns birgt Wer weiß, ob sie uns nicht alle zufrieden stellen wird?... Befassen wir uns mit der Gegenwart; das ist die Hauptsache. Ich kann Ihnen nur so viel sagen – aber sprechen Sie noch mit niemand davon –, daß ich, wenn ich Rußland verlassen müßte, mich sehr gern nach Frankreich zurückziehen würde, bis irgend ein politisches Ereignis meine Lage günstiger gestaltete... Und da Sie in Ihre Heimat zurückkehren...«

[285] »Bravo!... so reisen wir zusammen!« erwiderte Herr Cascabel.

Er hatte die Hand des Herrn Sergius ergriffen; er drückte und preßte sie, als wolle er sie an die seinige festnieten.

Sie kehrten mit einander in das Lager zurück, wo die beiden Matrosen erst am folgenden Morgen wieder erschienen.

Das Gespann brach frühzeitig auf und schlug eine westliche Richtung ein.

Während der folgenden Tage war die Hitze außerordentlich groß. Die ersten Unebenheiten des Uralgebirges machten sich bereits fühlbar und das ansteigende Terrain ermüdete die Renntiere außerordentlich, da die Temperatur ihre Kräfte arg mitnahm. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie durch Pferde zu ersetzen; aber Herr Cascabel hatte sich's bekanntlich in den Kopf gesetzt, seinen triumphalen Einzug in Perm mit einem Gespann von zwanzig Renntieren zu halten.

Am achtundzwanzigsten Juni erreichte die Belle-Roulotte, siebzig Meilen diesseits des Ob, die kleine Ortschaft Verniky. Dort obligatorisches Vorzeigen der Papiere – eine Förmlichkeit, welche zu keiner Einwendung führte. Dann setzte der Wagen seinen Weg nach dem Uralgebirge fort, welches die eintausendzweihundert bis eintausendsechshundert Meter hohen Gipfel des Telyoes und des Nintschur am Horizont emporstreckte. Man kam nicht sehr schnell vorwärts; und doch hatte man keine Zeit mehr zu verlieren, wenn die kleine Truppe in dem Augenblick in Perm eintreffen wollte, wo der Jahrmarkt dort in vollem Gange war

Übrigens verlangte Herr Cascabel jetzt im Hinblick auf die Vorstellungen, die er dort zu geben gedachte, daß jedermann, »sich übe«. Es galt, den Ruf der französischen Akrobaten, Gymnastiker, Equilibristen und Clowns im allgemeinen und den der Familie Cascabel im besonderen aufrecht zu erhalten. Daher nötigte er seine Künstler, sobald man abends Halt machte, sich zu trainieren. Sogar Herr Sergius suchte sich in den Karten- und Taschenspielerkunststücken zu vervollkommnen, zu welchen er wirkliches Talent bekundete.

»Was für ein Jahrmarktskünstler Sie geworden wären!« sagte sein Lehrer immer wieder zu ihm.

Am dritten Juli machte die Belle-Roulotte mitten in einer Lichtung Halt, welche von Birken, Fichten und Lärchenbäumen umsäumt war und von den hohen Spitzen der Uralkette beherrscht wurde.

Am nächsten Tage sollten die Reisenden, von Ortik und Kirschef geführt, den Aufstieg durch einen der Gebirgspässe antreten; und sie sahen, wenn nicht ernstliche Anstrengungen, so doch wenigstens beschwerliche Tagemärsche voraus, bis der höchste Punkt der Kette erreicht sein würde.

Da dieser Teil der Grenze durch die dort häufig verkehrenden Schmuggler [286] und Deserteure ziemlich unsicher gemacht wurde, mußte man auf die eigene Verteidigung bedacht sein und einige Maßregeln in diesem Sinne treffen.

Im Laufe des Abends drehte sich das Gespräch um die Schwierigkeiten, welche der Übergang über den Ural bieten mochte. Ortik versicherte, daß der von ihm empfohlene Paß – der sogenannte Petschorapaß – einer der wegsamsten des ganzen Höhenzuges sei. Er kenne denselben, da er ihn bereits einmal passiert habe, als Kirschef und er sich von Archangel ans Eismeer begaben, um die Vremia flott zu machen.

Während Herr Sergius und Ortik sich von diesen Dingen unterhielten, beschäftigten Cornelia, Napoleone und Kayette sich mit der Zubereitung des Nachtmahls. Ein tüchtiger Damhirschschlegel briet vor einem Feuer unter den Bäumen am Rande der Lichtung, und eine Reistorte bräunte sich langsam auf einer Platte, die auf glühenden Kohlen ruhte.

»Hoffentlich wird man sich heute abend nicht über den Speisezettel beklagen!« sagte die treffliche Hausfrau.

»Wenn nicht etwa Braten und Kuchen anbrennen!« bemerkte Clou-de-Girofle weise.

»Warum sollten sie denn anbrennen, Herr Clou,« versetzte Cornelia, »wenn Sie Sorge tragen, den Spieß mit der einen Hand zu wenden und die Platte mit der anderen zu drehen?«

Auf diesen Wink hin trat Clou den ihm zugewiesenen Vertrauensposten an. Während Wagram und Marengo um das Feuer streiften, leckte John Bull sich in Erwartung seines Anteils an dem vorzüglichen Nachtmahl die Schnauze.

Im gegebenen Augenblick setzte man sich zu Tische und hatte nichts als Lobsprüche für das Mahl, welche Cornelia und ihre Gehilfen mit lebhafter Befriedigung entgegennahmen.

Da die Temperatur zur Zeit des Schlafengehens noch sehr hoch war, wollten Herr Sergius, Cäsar Cascabel, dessen Söhne, Clou und die beiden Matrosen sich mit dem Lager begnügen, welches die Lichtung ihnen im Schutze der Bäume bot. Zudem würde die Überwachung unter diesen Verhältnissen leichter fallen.

So suchten denn nur Cornelia, Napoleone und Kayette ihre Schlafstätten im Innern der Belle-Roulotte auf.

Mit der Julidämmerung, deren Dauer sich unter diesem sechsundsechzigsten Breitegrade ins Unbestimmte hinauszieht, war die elfte Stunde vorüber, bevor die Nacht völlig hereinbrach, – eine Nacht ohne Mondschein, deren Sterne im Dunste der hohen Zone verschwammen.

Auf das Gras hingestreckt und in wollene Decken gewickelt, fühlten Herr Sergius und seine Gefährten bereits, wie der erste Schlaf ihre Augenlider [287] schwer machte, als die beiden Hunde verschiedene Zeichen der Erregung von sich gaben. Sie schnupperten mit vorgestreckter Schnauze in der Luft und ließen ein dumpfes Knurren hören, welches auf außerordentliche Unruhe deutete.

Jean richtete sich zuerst auf und blickte in der Lichtung umher.

Das Feuer war am Erlöschen und tiefe Finsternis lagerte unter den dichten Bäumen. Jean blickte aufmerksamer hin und glaubte bewegliche Punkte zu sehen, die wie glühende Kohlen funkelten. Wagram und Marengo schlugen heftig an.

»Aufgepaßt!« rief Jean, emporspringend; »aufgepaßt!«

Im nächsten Augenblick waren sämtliche Schläfer auf den Füßen.

»Was giebts?« fragte Herr Cascabel.

»Sieh... dort... Vater!« antwortete Jean, indem er auf die leuchtenden Punkte deutete, die jetzt unbeweglich im Schatten des Gehölzes glühten.

»Was ist denn das?«

»Wolfsaugen!«

»Jawohl!... Wölfe!...« fiel Ortik ein.

»Sogar ein ganzes Rudel!« fügte Herr Sergius hinzu.

»Teufel!« sagte Herr Cascabel.

Das Wort Teufel war zweifellos lingenügend, um den Ernst der Situation zu kennzeichnen. Vermutlich hatten die Wölfe sich zu Hunderten um die Lichtung angesammelt und diese Raubtiere werden äußerst gefährlich, wenn sie in großer Anzahl beisammen sind.

Eben erschienen Cornelia, Kayette und Napoleone in der Wagenthür.

»Nun, Vater?...« fragte das kleine Mädchen.

»Es ist nichts,« antwortete Herr Cascabel. Nur Wölfe, die beim Sternenschein herumspazieren!... Bleibt in euren Kammern und reicht uns unsere Waffen, damit wir sie in Respekt halten können!«

Einen Augenblick später befanden sich Flinten und Revolver in den Händen des Herrn Sergius und seiner Gefährten.

»Ruft die Hunde zurück!« sagte er.

Wagram und Marengo, die am Waldrande umherstrichen, kamen auf Jeans Ruf zurück, in einer Wut, die nicht leicht zu bändigen war.

Nun wurde eine allgemeine Salve in der Richtung jener leuchtenden Punkte abgefeuert und ein entsetzliches Geheul bewies, daß die Schüsse getroffen hatten.

Aber die Zahl der Wölfe mußte beträchtlich sein, denn der Kreis schloß sich enger zusammen und einige fünfzig Wölfe drangen in die Lichtung vor.

»In die Roulotte!... In die Roulotte!...« schrie Herr Sergius. »Sie greifen uns an!... Wir werden uns nur von dort aus verteidigen können!«

[288] »Und die Renntiere?...« sagte Jean.

»Wir können nichts zu ihrer Rettung thun.«

Es war wirklich zu spät. Schon waren einige der Zugtiere hingewürgt worden, während die anderen ihre Spannstricke zerreißend, durch die Wälder davonflohen.

Auf den Befehl des Herrn Sergius zogen sich alle in die Belle-Roulotte zurück und man verschloß die äußere Thür.

[289] Es war die höchste Zeit! Im Scheine der Abenddämmerung sah man die Wölfe auf die Belle-Roulotte eindringen und bis zu den Fenstern emporspringen.

»Was werden wir ohne Gespann anfangen?«...« sagte Cornelia unwillkürlich.

»Entledigen wir uns vorerst dieser Bande!« antwortete Herr Sergius.

»Beim Teufel, wir werden schon mit ihnen fertig werden!« rief Herr Cascabel.


»Aufgepaßt!« schrie Jean. (Seite 288.)

»Jawohl... wenn sie nicht allzu zahlreich sind!« meinte Ortik.

»Und wenn uns die Munition nicht ausgeht!« fügte Kirschef hinzu.

»Einstweilen Feuer!« rief Herr Sergius.

Und nun begannen Flinten und Revolver durch die halb geöffneten Fenster das Werk der Vernichtung. Beim Aufleuchten der zu beiden Seiten und im Fond des Wagens knallenden Schüsse sah man bereits an die zwanzig Wölfe tot oder schwer verwundet auf der Erde liegen.

Aber nichts hemmte die Wut dieser Raubtiere und ihre Zahl schien fortwährend zu wachsen. Mehrere Hundert füllten jetzt die Lichtung mit beweglichen Schatten.

Etwelche von ihnen krochen unter den Wagen und versuchten die Bretter des Fußbodens mit ihren Pfoten herauszureißen. Andere sprangen auf den Kutschersitz und drohten die vordere Thür einzustoßen, die man tüchtig verbarrikadieren mußte. Einige liefen sogar auf die obere Galerie, bogen sich bis an die Fenster herab, schlugen mit den Pfoten darauf und verschwanden erst, wenn ein Schuß sie zu Boden streckte.

Die sehr erschrockene Napoleone schrie vor Angst. Die Furcht vor Wölfen, die bei Kindern so intensiv zu sein pflegt, war hier nur allzu gerechtfertigt. Kayette, welche ihre Kaltblütigkeit bewahrt hatte, versuchte vergeblich das kleine Mädchen zu beruhigen. Man muß gestehen, daß auch Frau Cascabel dem Ausgang des Kampfes nicht sehr zuversichtlich entgegensah.

In der That, wenn das sich in die Länge zog, so wurde die Situation immer gefährlicher. Wie sollte die Belle-Roulotte dem Angriff dieser Unmasse von Wölfen standhalten?... Und wenn sie umgeworfen wurde, so war das Verderben aller jener unausbleiblich, welche darin Schutz gefunden hatten.

Die Sache dauerte schon ungefähr eine halbe Stunde, als Kirschef rief:

»Die Munition geht zu Ende!«

Einige zwanzig Patronen waren alles, was noch zum Laden der Flinten und Revolver übrig blieb.

»Schießen wir nur mehr, wo wir die Gewißheit haben zu treffen!« sagte Herr Cascabel.

Zu treffen?... Als ob inmitten dieser Masse von Angreifern nicht alle [290] Schüsse getroffen hätten! Aber die Wölfe waren zahlreicher als die Kugeln; sie erneuerten sich unaufhörlich, während die Feuerwaffen bald zum Schweigen verurteilt sein würden... Was thun?... Den Tag abwarten?... Und wenn nun der Tag die Bande nicht in die Flucht schlug?...

Da rief Herr Cascabel, indem er seinen nutzlos werdenden Revolver schwenkte:

[291] »Ich habe einen Einfall!«

»Einen Einfall?...« wiederholte Herr Sergius.

»Jawohl... und einen guten dazu!... Wir müssen nur einen oder zwei von jenen Lumpen einfangen!«


Nichts hielt die Wut dieser Bestien auf. (Seite 290.)

»Wie machen wir das?...« fragte Cornelia.

»Wir werden die Thür ein wenig öffnen und die zwei ersten, welche sich hereindrängen, ergreifen...«

»Das wollen Sie, Cascabel?«

»Was riskieren wir, Herr Sergius? Einige Bisse?... Pah! ich will lieber gebissen als zerrissen werden!«

»Gut!... Thun wir's, aber thun wir's schnell!« antwortete Herr Sergius, der nicht recht wußte, wo Herr Cascabel hinaus wollte.

Dieser ging, von Ortik, Clou und Kirschef gefolgt, in die erste Abteilung, während Jean und Xander die Hunde im Hintergrunde der letzten zurückhielten, wo sich auch die Frauen befanden.

Die Möbel, welche die Thür verbarrikadierten, wurden weggeräumt und Herr Cascabel öffnete dieselbe so, daß er sie schnell wieder schließen konnte.

In diesem Augenblick belagerte ein Dutzend Wölfe, auf dem Kutschersitz und den beiden Trittbrettern zusammengedrängt, die vordere Wagenwand.

Sowie die Thür nachgab, flog einer der Wölfe ins Innere und Kirschef warf dieselbe wieder ins Schloß. Herr Cascabel und Ortik stürzten sich auf das Tier und es gelang ihnen, ihm ein bereit gehaltenes Stück Leinwand über den Kopf zu werfen und fest um den Hals zu binden.

Wieder öffnete sich die Thür... Ein zweiter Wolf zwängte sich herein und erfuhr dieselbe Behandlung wie der erste. Es kostete Clou, Ortik und Kirschef keine geringe Mühe, die starken und wütenden Bestien zu halten.

»Vor allen Dingen, tötet sie nicht,« rief Herr Cascabel, »und haltet sie fest!«

Sie nicht töten?... Was wollte er denn damit machen?... Sie seiner Truppe für den Permer Jahrmarkt einverleiben?...

Was er damit wollte, was er damit that, das erfuhren seine Gefährten allsogleich.

Eine Flamme schlug in der Abteilung auf, welche von Geheul und Schmerzenslauten widerhallte. Dann wurde die Thür geöffnet und schloß sich von neuem hinter den beiden hinausgeschleuderten Wölfen.

Welch eine Wirkung ihr Erscheinen inmitten des Rudels hervorbrachte! Man konnte das um so besser wahrnehmen, als die Lichtung sich mit beweglichem Feuerschein füllte.

Die beiden Wölfe waren mit Petroleum übergossen worden, welches Herr Cascabel angezündet hatte, und in diesem Zustande rasten sie unter den Angreifern umher.

[292] Nun! er war vortrefflich, der Einfall des Herrn Cascabel, wie alles, was das Hirn dieses wunderbaren Mannes erzeugte. Die Wölfe flohen entsetzt vor den beiden flammenden Tieren. Und welch ein Geheul sie ausstießen, – viel gräßlicher als das, welches man seit dem Beginn des Angriffs vernommen hatte! Umsonst suchten die beiden Petrolierten, durch ihre Leinwandkapuze geblendet, ihren brennenden Pelz zu löschen! Umsonst wälzten sie sich [293] auf der Erde und schnellten zwischen den übrigen Raubtieren empor, sie brannten noch immer!

Endlich floh die ganze Bande, von Panik ergriffen, aus der Umgebung der Belle-Roulotte und verschwand in den Tiefen des Forstes.

Bald verhallte das Heulen und es wurde still im Lager.


Die Wölfe flohen entsetzt.

Vorsichtshalber empfahl Herr Sergius, das erste Tagesdämmern abzuwarten, bevor man auf Kundschaft ausginge. Aber er und seine Gefährten hatten keinen neuen Angriff zu fürchten. Der Feind war zersprengt... Er floh unaufhaltsam.

»Ah!... Cäsar!...« rief Cornelia, in die Arme ihres Mannes eilend.

»Ah! mein Freund!...« sagte Herr Sergius.

»Ah! Vater!...« riefen die Kinder.

»Ah! Herr Direktor!...« seufzte Clou.

»Nun!... Was denn?... Was habt ihr?...« antwortete Herr Cascabel ruhig. »Wenn man nicht schlauer als solche Tiere wäre, so wäre es ja nicht der Mühe wert, ein Mensch zu sein!«

11. Capitel
XI. Das Uralgebirge.

Die Uralkette lohnt den Besuch von Touristen in mindestens ebenso hohem Grade wie die Pyrenäen und die Alpen. Das Wort »Ural« bedeutet auf Tatarisch »Gürtel«, und es ist auch wirklich ein Gürtel, der sich vom Kaspisee bis ans Eismeer in einer Ausdehnung von zweitausendneunhundert Kilometern hinzieht, – ein mit Edelsteinen und kostbaren Metallen, Gold, Silber, Platina geschmückter Gürtel – ein Gürtel, welcher den alten Kontinent in der Mitte, an der Grenze zwischen Asien und Europa, umspannt. Ein ungeheures Bergsystem, speist er mit seinen Gewässern und den im Frühjahr schmelzenden Schneemassen den Ural, die Kara, die Petschora, die Kama und zahlreiche Nebenflüsse. Eine herrliche Schranke aus Granit und Quarz, reckt er seine Spitzen und Risse in einer Durchschnittshöhe von zweitausenddreihundert Metern über dem Meeresspiegel empor.

»Das kann man wirklich eine Rutschbahn nennen!« meinte Herr Cascabel gutgelaunt. »Nur rutscht sich's hier nicht von selber, wie bei der Porte Maillot oder auf der Kirmeß von Neuilly!«

In der That »rutschte es sich hier nicht von selber!«

[294] Auch würde es beim Übersteigen des Höhenzuges schwer sein, die »Zavodys« zu umgehen, jene zahlreichen Dörfer, deren Bevölkerung noch von den alten, zur Ausbeutung der Minen verwendeten Arbeitern abstammt.


Fünfzig Wölfe bedeckten die Strecke. (Seite 296.)

Indessen hatte die Truppe des Herrn Cascabel beim Passieren dieser großartigen Engpässe keine Militärposten zu fürchten, da ja ihre Papiere in Ordnung waren. Hätte ihr Weg über den mittleren Teil des Gebirges [295] geführt, so würde sie denn auch nicht gezögert haben, die schöne, sehr frequentierte Jekaterinburger Straße zu benützen, um in das gleichnamige Gouvernement zu gelangen. Aber da Ortiks Reiseplan sich weiter nordwärts gelenkt hatte, so war es besser, den Petschorapaß zu erklimmen und dann gegen Perm hinabzusteigen.

Dazu wollte man sich am folgenden Tage anschicken.

Als der Tag kam, konnte man konstatieren, wie bedeutend die Masse der Angreifer gewesen war. Wäre es ihnen gelungen, in das Innere der Belle-Roulotte zu dringen, so würde keiner ihrer Insassen das Gemetzel überlebt haben.

Fünfzig Wölfe lagen auf der Erde, – von jenen großen Wölfen, welche den Steppenreisenden so gefährlich sind. Die anderen hatten die Flucht ergriffen, als ob der Teufel sie ritte – eine hier absolut gerechtfertigte Metapher. Was die beiden verbrannten Tiere betrifft, so fand man ihre Überreste einige hundert Schritte weit von der Lichtung.

Und nun drängte sich die Frage auf: Am Eingang des Petschorapasses war die Belle-Roulotte sehr weit von den Zavodys entfernt, welche an den östlichen Abhängen des Ural seltener sind.

»Was werden wir thun?...« fragte Jean. »Unser Renntiergespann ist entflohen...«

»Wäre es nur entflohen,« antwortete Herr Cascabel, »so würde es vielleicht nicht unmöglich sein, es wiederzufinden! Aber wahrscheinlich sind unsere Renntiere von den Wölfen zerrissen worden!«

»Arme Tiere!« sagte Napoleone. »Ich liebte sie, wie ich Vermout und Gladiator liebte...«

»Welche durch die Wölfe umgekommen sein würden, wenn sie nicht da unten ertrunken wären!« fügte Xander hinzu.

»Ja, das wäre ihnen wirklich zugestoßen!...« sagte Herr Cascabel mit einem tiefen Seufzer. »Aber wie sollen wir jetzt unser Gespann ersetzen?«

»Ich werde mich ins nächste Dorf begeben und um Geld und gute Worte einige Pferde zu erstehen suchen,« antwortete Herr Sergius. »Wenn Ortik mir zum Führer dienen kann...«

»Wir gehen sobald Sie wollen, Herr Sergius,« antwortete Ortik.

»Offenbar,« fügte Herr Cascabel hinzu, »bleibt uns nichts anderes übrig.«

Und man würde diesen Plan noch desselben Tages ausgeführt haben, wenn sich gegen acht Uhr morgens nicht zum allgemeinen Erstaunen zwei Renntiere am Rande der Lichtung gezeigt hätten.

Xander bemerkte dieselben zuerst.

[296] »Vater!... Vater!...« rief er. »Da sind sie!... Sie kommen zurück!...«

»Lebend?...«

»Wenigstens sehen jene dort nicht danach aus, als ob sie stark aufgefressen worden wären; denn sie gehen...«

»Wenn es nicht etwa nur ihre Beine sind...« meinte Clou.

»Ach, die guten Tiere!...« rief Napoleone. »Ich muß sie küssen!«

Sie lief auf die beiden Renntiere zu, schlang die Arme um ihren Hals und küßte sie herzhaft.

Aber zwei Renntiere wären nicht im stande gewesen, die Belle-Roulotte zu ziehen. Zum Glück zeigten sich bald noch mehrere am Waldrand. Eine Stunde später waren vierzehn von den zwanzig beisammen, welche von den Liakhossinseln gekommen waren.

»Hoch die Renntiere!« rief der junge Xander begeistert.

Es fehlten nur mehr sechs von diesen Tieren, – nämlich diejenigen, welche die Wölfe angegriffen hatten, bevor sie ihre Spannstricke zu zerreißen vermocht, und deren Überreste man später am Waldrande fand. Die vierzehn anderen hatten gleich zu Anfang die Flucht ergriffen und jetzt führte ihr Instinkt sie in das Lager zurück.

Man kann sich vorstellen, wie gut diese vortrefflichen Tiere empfangen wurden. Mit ihnen würde das Fuhrwerk seinen Marsch durch den Uralpaß wieder aufnehmen können. Wo die Abhänge zu steil anstiegen, würde alle Welt mit an den Rädern schieben; und so würde Herr Cascabel im stande sein, einen effektvollen Einzug auf dem Marktplatze von Perm zu halten.

Was ihn indessen betrübte, das war, daß die Belle-Roulotte ihren einstigen Glanz einigermaßen eingebüßt hatte. Ihre Bretterwände waren von den wilden Raubtieren arg zerkratzt und zerbissen worden, nachdem schon früher Sturm und Unwetter und die Unbilden einer so anstrengenden Reise sie entfärbt und beinahe unkenntlich gemacht hatten. Die Schneewehen hatten das Wappen der Cascabels halb verwischt. Wie vieler Farbe und Vergoldung würde es bedürfen, um ihr ihren ursprünglichen Glanz zurückzugeben! Inzwischen blieben die gründlichsten Reinigungen seitens Clous und Cornelias erfolglos.

Um zehn Uhr wurden die Renntiere angespannt und man setzte seinen Weg fort. Da der Paß fühlbar aufwärts stieg, folgten die Männer zu Fuß.

Das Wetter war schön und die Hitze in diesem hochgelegenen Teil der Bergkette ziemlich erträglich. Aber wie oft man dem Gespann zu Hilfe kommen, wie oft man die bis an die Naben im Geleise versinkenden Räder freimachen mußte! Bei jeder jähen Wendung der Schlucht mußte man die Belle-Roulotte stützen und vor dem Anprall an die Felsenkanten zu bewahren suchen.

[297] Diese Pässe des Ural sind nicht von Menschenhänden angelegt. Die Natur allein hat den Bergwassern ene Bahn durch diese gewundenen Schluchten erschlossen. Ein kleiner Nebenfluß der Sosva rieselte hier gen Westen hinab. Hie und da breitete sein Bett sich soweit aus, daß nur ein schmaler und regelloser Pfad an seinem Rande übrig blieb. Bald stiegen die Böschungen steil empor und ließen das felsige Erdreich durch einen Schleier von Moosen und Steinpflanzen hindurchblicken. Bald waren die sanft abfallenden Bergländen mit Fichten und Tannen, Birken und Lärchenbäumen und anderen, den nordeuropäischen Gegenden eigenen Baumgattungen besäet. Und in der Ferne, von Wolken umgeben, hoben sich die schneebedeckten Kämme ab, welche die Sturzbäche dieses Bergsystems speisten.

Am ersten Tage, während dessen sie diesen augenscheinlich wenig frequentierten Paß verfolgte, begegnete die kleine Truppe keinem Menschen. Ortik und Kirschef schienen den Weg ganz gut zu kennen. Indessen mochten sie doch an zwei oder drei Stellen, wo die Straße sich teilte, schwanken. Denn sie machten dort Halt und besprachen sich leise mit einander, – was nicht verdächtig erscheinen konnte, da niemand den geringsten Grund hatte, an ihrer Zuverlässigkeit zu zweifeln.

Trotzdem beobachtete Kayette sie unermüdlich, ohne daß sie es wahrnahmen. Jene geheimen Gespräche sowohl als gewisse Blicke, die sie mit einander tauschten, erregten ihren Argwohn immer mehr. Sie aber ahnten nicht im entferntesten, daß die junge Indianerin einen Beweggrund habe, ihnen zu mißtrauen.

Als der Abend kam, wählte Herr Sergius einen Rastplatz am Ufer des Flüßchens. Nach beendigtem Mahle übernahm Herr Cascabel, Kirschef und Clou-de-Girofle die von der Vorsicht gebotene Aufgabe, abwechselnd Wache zu halten. Nach den Anstrengungen des Tages und der Schlaflosigkeit der vorhergehenden Nacht war es einigermaßen verdienstlich von ihnen, nicht auf ihrem Posten einzuschlafen.

Am folgenden Morgen nahmen sie ihren Marsch durch die gleichzeitig steiler und enger werdende Schlucht wieder auf. Dieselben Schwierigkeiten wie am gestrigen Tage, welche dieselben Anstrengungen erheischten. Demzufolge legte man in vierundzwanzig Stunden nur zwei bis drei Meilen zurück. Aber man hatte das für den Uralübergang vorausgesehen und damit gerechnet.

Mehr als einmal waren Herr Sergius und sein Freund Jean versucht, irgend ein schönes Stück Wild durch die Laubgänge zu verfolgen, die aus der Schlucht abzweigten. Im Dickicht sah man ganze Rudel von Elentieren, Damhirschen und Hafen vorüberziehen. Cornelia würde frisches Wildbret nicht verachtet haben.


Der Bär schüttelte zum letztenmal seinen dicken Kopf. (Seite 300.)

Aber wenn es auch nicht an Wild mangelte, so war doch, wie man weiß, die Munition während des Kampfes mit den Wölfen gänzlich erschöpft worden und konnte erst im nächsten Marktflecken erneuert [298] werden. Einstweilen waren die Flinten zum Schweigen verurteilt und Wagram blickte seinen jungen Herrn umsonst so fragend an, als ob er sagen wolle:

»Ei, ei!... man jagt also nicht mehr?«

[299] Und doch ereignete sich ein Zwischenfall, welcher den Gebrauch von Feuerwaffen vollkommen gerechtfertigt haben würde.

Es war drei Uhr nachmittags, die Belle-Roulotte bewegte sich einen felsigen Abhang hinan, als ein Bär auf dem jenseitigen Ufer des Flüßchens erschien.

Es war ein großes Tier, auf welches man durch das bedeutsame Bellen der beiden Hunde aufmerksam wurde. Aufrecht sitzend, wiegte es seinen mächtigen Kopf und schüttelte seinen braunen Pelz, indem es die vorüberziehende Karawane betrachtete.

Verspürte es Luft, dieselbe anzugreifen? War es ein Blick der Neugier oder der Begehrlichkeit, welchen es auf das Gespann und seine Führer warf?

Jean hatte Wagram und Marengo Schweigen auferlegt; da man unbewaffnet war, fand er es überflüssig, dieses furchtbare Tier zu reizen. Warum sollte man Gefahr laufen, seine vielleicht friedfertige Stimmung in eine feindselige zu verwandeln, wo es ihm ein Leichtes sein würde, das diesseitige Flußufer zu erreichen?

So betrachtete man einander dann ruhig, wie Reisende, deren Wege sich kreuzen; und Herr Cascabel beschränkte sich darauf, zu bemerken:

»Wie schade, daß wir diesen prächtigen Meister Petz vom Ural nicht in unsere Gewalt bekommen können! Welch eine Rolle er unter unserem Personal spielen würde!«

Aber es hätte seine Schwierigkeiten gehabt, diesem Bären eine Anstellung bei der Truppe anzubieten. Ohne Zweifel zog er das Waldleben dem Jahrmarktsleben vor; denn er stand auf, schüttelte nochmals seinen dicken Kopf und trabte von dannen.

Da indessen ein Gruß des anderen wert ist, schwenkte Xander höflich den Hut, eine Aufmerksamkeit, welche Jean gern durch einen Flintenschuß ersetzt hätte.

Um sechs Uhr abends machte man ungefähr unter denselben Umständen wie am vorhergehenden Tage Halt. Am nächsten Morgen um fünf Uhr Aufbruch und mühsamer Tagemarsch. Fortwährende Anstrengungen, aber keine Unfälle.

Jetzt war das schwerste gethan, denn die Belle-Roulotte befand sich auf dem höchsten Punkte des Passes. Der Weg senkte sich thalwärts und führte über die westlichen Abhänge hinunter gen Europa.

An jenem Abend – dem sechsten Juli – hielt das sehr ermüdete Gespann am Eingange einer stark gewundenen Schlucht, die zur Rechten von einem dichten Walde begrenzt war

Der Tag war erstickend schwül gewesen. Im Osten hoben sich große [300] Wolken, in ihren unteren Teilen von einem langen Streifen durchschnitten, scharf von dem fahlen Dunstkreis des Horizonts ab.

»Da zieht ein Gewitter herauf,« sagte Jean.

»Das ist ärgerlich,« versetzte Ortik, »denn die Gewitter sind manchmal fürchterlich im Ural.«

»Nun, wir werden uns unter Dach und Fach begeben!« antwortete Herr Cascabel. »Ein Gewitter ist mir immer lieber als ein Rudel Wölfe!«

»Kayette,« fragte Napoleone die junge Indianerin »fürchtest du dich vor dem Donner?«

»Nein, meine Teure,« antwortete Kayette.

»Da hast du recht, kleine Kayette,« sagte Jean. »Man soll sich vor nichts fürchten.«

»Ach!« rief Napoleone achselzuckend, »als ob man etwas dafür könnte!...«

»O!... das feige Ding!« neckte Xander. »Aber, Närrchen, der Donner ist ja nur ein Kegelspiel mit großen Kugeln.«

»Jawohl.... mit Feuerkugeln, die einem zuweilen auf den Kopf fallen!« erwiderte das kleine Mädchen, die Augen vor einem grellen Blitze schließend.

Man beeilte sich, das Lager einzurichten, um sich vor dem Ausbruch des Gewitters in Sicherheit bringen zu können. Dann, nach dem Nachtmahl, beschloß man, daß die Männer, wie in den vorhergehenden Nächten, abwechselnd wachen sollten.

Herr Sergius wollte sich eben erbieten, den Anfang zu machen, als Ortik ihm mit den Worten zuvorkam:

»Wollen Sie, daß Kirschef und ich zuerst Wache halten?...«

»Wie Sie wollen,« antwortete Herr Sergius. »Um Mitternacht werden Jean und ich Sie ablösen.«

»Abgemacht, Herr Sergius,« versetzte Ortik.

Dieser doch eigentlich sehr natürliche Vorschlag schien Kayetten verdächtig; ohne sich ganz klar darüber zu sein, hatte sie ein Gefühl, als ob irgend ein geheimer Anschlag dahinter verborgen wäre.

In diesem Augenblick brach das Gewitter mit außerordentlicher Heftigkeit los. Die Blitze warfen grelle Lichter auf die Baumkronen und der Donner rollte durch den Raum, vom Widerhall der Berge geschwellt. Napoleone hatte sich, um Augen und Ohren besser verhüllen zu können, bereits auf ihr Schlaflager gekauert. Jeder suchte eiligst in sein Bett zu gelangen und gegen neun Uhr lagen sämtliche Insassen der Belle-Roulotte trotz des Krachens des Donners und des Pfeifens des Sturmes in tiefem Schlafe.

Nur Kayette schlief nicht. Sie hatte sich nicht entkleidet und vermochte, obgleich sie sehr ermüdet war, keine Sekunde des Schlummers zu finden. Eine tiefe Unruhe bemächtigte sich ihrer, wenn sie daran dachte, daß die Sicherheit [301] ihrer Gefährten der Obhut jener zwei russischen Matrosen anvertraut sei. Um das Thun dieser Leute zu beobachten, zog sie eine Stunde später den Vorhang von dem kleinen Fenster über ihrer Schlafstätte zur Seite und blickte beim Schein der Blitze hinaus.

Ortik und Kirschef, die zusammen geplaudert haben mochten, brachen eben ihr Gespräch ab und schritten auf den Eingang der Schlucht zu, wo in diesem Augenblick ein Mann auftauchte.

Ortik machte diesem Manne sofort ein Zeichen, sich wegen der Hunde nicht weiter vorzuwagen. Wenn Wagram und Marengo sein Nahen nicht gemeldet hatten, so war es, weil sie sich bei der erstickenden Gewitterschwüle unter die Belle-Roulotte verkrochen hatten.

Ortik und Kirschef gingen zu dem Fremden hin, wechselten einige Worte mit ihm, und Kayette sah beim Aufleuchten eines Blitzes, wie sie ihm unter die Bäume folgten.

Jetzt galt es, um jeden Preis zu wissen, wer dieser Mann war und weshalb die beiden Matrosen sich mit ihm in Verbindung gesetzt hatten.

Kayette glitt von ihrem Lager herab, so leise, daß sie niemand weckte. Als sie bei Jean vorüberkam, hörte sie ihren Namen nennen... Hatte Jean sie bemerkt?...

Nein! Jean träumte... und träumte von ihr!

Kayette erreichte die Thür, öffnete sie vorsichtig und schloß sie geräuschlos hinter sich.

»Vorwärts!« murmelte sie, sobald sie draußen war.

Sie zauderte nicht; sie empfand keine Furcht. Und doch stand vielleicht ihr Leben auf dem Spiele, wenn man sie entdeckte!

Kayette glitt in den Wald, der wie im Widerschein eines Brandes aufleuchtete, so oft ein breiter Blitz die Wolken zerriß. Durch Gehölz und hohes Gras kriechend, erreichte sie den Stamm eines großen Lärchenbaumes, wo ein aus geringer Entfernung zu ihr herüber dringendes Stimmengeflüster sie Halt machen ließ.

Sieben Männer waren unter den Bäumen gruppiert, zu denen Ortik und Kirschef sich eben gesellt hatten.

Und nun vernahm Kayette folgendes, von jenen verdächtigen Männern auf Russisch geführte Gespräch:

»Meiner Treu,« sagte Ortik, »ich that sehr wohl daran, den Petschora-Paß zu wählen!... Man ist dort immer gewiß, alte Kameraden anzutreffen, wie, Rostof?«

Rostof war der Mann, den Ortik und Kirschef am Waldrande bemerkt hatten.

»Schon seit zwei Tagen,« antwortete Rostof, »folgen wir diesem Wagen, indem wir uns sorgfältig verborgen halten.


Sieben Männer waren da. (Seite 302.)

Da wir euch beide, Kirschef und dich, erkannt hatten, dachten wir gleich, daß es sich hier um einen guten Fang handle.«

»Einen... und vielleicht auch zwei!« erwiderte Ortik.

»Aber wo kommt ihr her?«... fragte Rostof.

»Mitten aus Amerika, wo wir zur Karnoff'schen [302] Bande gehörten.«

[303] »Und wer sind die Leute, die ihr begleitet?«

»Französische Gaukler, eine Familie Cascabel, die nach Europa zurückkehrt... Wir werden euch unser Reiseabenteuer später erzählen... Besprechen wir jetzt das dringendste!«

»Ortik,« fragte einer der Gefährten Rostofs, »befindet sich in diesem Wagen Geld?«

»Zwei- bis dreitausend Rubel.«

»Und ihr habt euch noch nicht von diesen wackern Leuten getrennt?« bemerkte Rostof ironisch.

»Nein; denn es handelt sich um ein Geschäft von ganz anderer Bedeutung als einen erbärmlichen kleinen Diebstahl, ein Geschäft, bei dem ich einiger Unterstützung bedarf!«

»Und das ist?...«

»Hört mich an, Freunde,« fuhr Ortik fort. »Wenn Kirschef und ich ungefährdet durch Sibirien kommen und die russische Grenze erreichen konnten, so verdanken wir das dieser Familie Cascabel. Aber was wir unter ihrem Schutze thaten, das that auch ein anderer, in der Hoffnung, daß man ihn nicht inmitten einer Gauklerfamilie suchen werde. Es ist dies ein Russe, der ebensowenig wie wir das Recht hat, nach Rußland zurückzukehren, wenn auch aus anderen Gründen, – ein politischer Sträfling von hoher Geburt und großem Vermögen. Nun ist es uns gelungen, sein Geheimnis, das nur dem Meister Cascabel und dessen Frau bekannt war, zu entdecken....«

»Und auf welche Weise?«

»Eines Abends, in Muji, belauschten wir ein Gespräch zwischen Cascabel und dem Russen!«

»Und er heißt?...«

»Herr Sergius für alle Welt. In Wahrheit aber Graf Narkine; und sein Leben steht auf dem Spiele, wenn er auf moskowitischem Gebiete erkannt wird.«

»Halt!« sagte Rostof. »Ist dieser Graf Narkine nicht der Sohn des Fürsten Narkine, derselbe, der nach Sibirien deportiert wurde und dessen Flucht vor einigen Jahren so großes Aufsehen machte?«

»Derselbe,« antwortete Ortik. »Nun denn! Graf Narkine besitzt Millionen und ich denke, er wird nicht zögern, uns wenigstens eine davon zu geben... wenn wir ihm mit einer Anzeige drohen!«

»Gut ausgedacht, Ortik! Aber weshalb hast du uns zur Ausführung dieses Planes nötig?« fragte Rostof.

»Weil es von Wichtigkeit ist, daß Kirschef und ich, im Falle des Mißlingens, nicht bei diesem ersten Geschäfte figurieren, damit wir noch immer auf das zweite zurückkommen können. Wenn letzteres gelingen soll, wenn wir [304] uns des Cascabelschen Geldes und Wagens bemächtigen wollen, so müssen wir nach wie vor die beiden russischen Schiffbrüchigen bleiben, die ihnen ihre Rettung und Heimkehr verdanken. Wenn wir uns dann der Familie entledigt haben, können wir durch Stadt und Land ziehen, ohne daß es der Polizei in den Sinn kommt, uns im Gauklergewande zu suchen.«

»Ortik, willst du, daß wir noch heute Nacht zum Angriff schreiten, uns des Grafen Narkine bemächtigen und ihm zu wissen thun, unter welchen Bedingungen man seine Rückkehr nach Rußland nicht bei der Polizei anzeigen wird?...«

»Geduld... Geduld!« antwortete Ortik. »Da Graf Narkine nach Perm zu gehen gedenkt, um dort seinen Vater wiederzusehen, so ist es besser, ihn Perm erreichen zu lassen. Einmal dort, wird er ein Briefchen erhalten, welches ihn – in sehr dringender Angelegenheit – ersucht, sich zu einer Unterredung einzufinden, wo ihr das Vergnügen haben werdet, seine Bekanntschaft zu machen.«

»Also ist augenblicklich nichts zu unternehmen?«

»Nichts,« sagte Ortik; »aber seht zu, daß ihr uns ungesehen vorauseilt und ein wenig vor uns zu dem Stelldichein in Perm eintrefft.«

»Abgemacht!« antwortete Rostof.

Und die Übelthäter trennten sich, ohne eine Ahnung davon zu haben, daß ihr Gespräch von Kayette belauscht worden war.

Ortik und Kirschef kehrten wenige Minuten nach ihr in das Lager zurück, überzeugt, daß niemand ihre Abwesenheit bemerkt habe.

Nun kannte Kayette die Absichten dieser Elenden. Zugleich hatte sie auch erfahren, daß Herr Sergius ein Graf Narkine sei und daß sein Leben ebenso wie das seiner Gefährten in Gefahr schwebe! Sein Inkognito würde enthüllt werden, wenn er sich nicht dazu verstand, einen Teil seines Vermögens preiszugeben!

Entsetzt über das Gehörte, bedurfte Kayette einiger Sekunden, um ihre Fassung wiederzugewinnen. Sie war entschlossen, Ortiks Anschläge zu vereiteln; sie überlegte, wie dies Ziel zu erreichen sei. Welch eine Nacht sie verbrachte, voll der lebhaftesten Besorgnis, sich fragend, ob das Ganze nicht ein schlimmer Traum gewesen sei...

Nein! es war Wirklichkeit.

Sie konnte nicht mehr daran zweifeln, als Ortik am folgenden Morgen zu Herrn Cascabel sagte:

»Sie wissen, daß Kirschef und ich die Absicht hatten, Sie auf der andern Seite des Ural zu verlassen, um nach Riga zu gehen. Jetzt haben wir aber überlegt, daß es besser wäre, Ihnen bis nach Perm zu folgen und dort den Gouverneur zu bitten, unsere Heimsendung bewerkstelligen zu wollen... Werden Sie uns gestatten, die Reise mit Ihnen fortzusetzen?«

[305] »Mit Vergnügen, meine Freunde,« antwortete Herr Cascabel. »Wenn man zusammen aus so weiter Ferne gekommen ist, so muß man sich möglichst spät trennen: es wird auch dann noch immer zu früh sein!«

12. Capitel
XII. Eine trotz der Ankunft unbeendete Reise.

So war der abscheuliche Anschlag beschaffen, der gegen den Grafen Narkine und die Familie Cascabel geplant worden war! Und das in einem Augenblick, wo ihre lange Reise nach so vielen Beschwerden und Gefahren ein glückliches Ende nehmen sollte! Noch zwei bis drei Tage und die Uralkette war überschritten und die Belle-Roulotte brauchte nur mehr hundert Meilen auf ebener Erde zurückzulegen, um gegen Südwesten hin Perm zu erreichen!

Wie man weiß, gedachte Cäsar Cascabel sich einige Zeit in dieser Stadt aufzuhalten, damit Herr Sergius sich allnächtlich ohne Schwierigkeit und unerkannt nach Schloß Walska begeben könne. Dann würde dieser, je nach den Umständen, im väterlichen Schlosse bleiben, oder seine Gefährten nach Nischni... vielleicht gar nach Frankreich begleiten!

Ja! aber falls Herr Sergius in Perm zu bleiben beschloß, würde man sich von Kayetten trennen müssen, die er dort behalten würde!...

Das war es, was Jean sich immer wieder sagte, was ihn quälte, was ihm das Herz zerriß. Und diesen so aufrichtigen, so tiefen Kummer teilten seine Eltern und seine Geschwister. Keiner von ihnen konnte sich in den Gedanken hinein finden, Kayette nicht mehr sehen zu sollen!

An jenem Morgen suchte Jean, trostloser denn je, die junge Indianerin auf und als er sie bleich, niedergeschlagen, mit von der Schlaflosigkeit geröteten Augen erblickte, fragte er besorgt:

»Was fehlt dir, Kayette?«

»Nichts, Jean,« antwortete sie.

»Doch!... Du bist krank!... Du hast nicht geschlafen!... Du siehst aus als ob du geweint hättest, kleine Kayette!«

»Das ist die Folge des gestrigen Gewitters... Ich konnte die ganze Nacht kein Auge schließen.«

»Die Reise hat dich sehr ermüdet, nicht wahr?«

»Nein, Jean!... Ich bin ja stark!... Bin ich doch an jegliches Elend gewöhnt!... Es wird schon vorübergehen!«

[306] »Was fehlt Dir, Kayette?... Sag es mir... ich bitte dich!...«

»Nichts, Jean!«

Und Jean beharrte nicht weiter.

Als sie den armen Jungen so unglücklich gesehen, war Kayette auf dem Punkte gewesen, ihm alles zu sagen! Es schmerzte sie so sehr, ein Geheimnis vor ihm zu haben! Aber da sie seinen entschlossenen Charakter kannte, sagte sie sich, daß er sich in Gegenwart Kirschefs und Ortiks schwerlich beherrschen werde. Vielleicht würde er sich hinreißen lassen!... Eine Unbesonnenheit aber konnte dem Grafen Narkine das Leben kosten. Und so schwieg Kayette.

Nachdem sie die Sache lange erwogen hatte, beschloß sie, Herrn Cascabel von ihrer Entdeckung in Kenntnis zu setzen. Aber dazu mußte sie mit ihm allein sein und das würde sich während des Uralüberganges schwer erreichen lassen, denn es war von Wichtigkeit, daß die beiden Russen keinen Verdacht schöpften.

Übrigens drängte die Zeit nicht, da jene Elenden ja vor der Ankunft der Familie in Perm nichts zu unternehmen gedachten. Ihr Mißtrauen konnte nicht rege werden, solange Herr Cascabel und die Seinigen sie genau so wie früher behandelten. Hatte Herr Sergius ihnen doch ebenfalls seine Befriedigung kundgethan, als er hörte, daß Ortik und Kirschef bis Perm mitreisen wollten.

Um sechs Uhr morgens – am siebenten Juni – brach die Belle-Roulotte von neuem auf. Eine Stunde später gelangte sie an die Quellen der Petschora, nach welcher der Engpaß benannt ist. Jenseits der Kette zu einem der großen Ströme Nordrußlands geworden, ergießt die Petschora sich nach einem Laufe von eintausenddreihundertfünfzig Kilometern ins Eismeer.

Auf jener Höhe des Passes war diese Petschora erst ein Gießbach, der in einem zerklüfteten und ungleichen Bette am Fuße der Tannen-, Birken- und Lärchenwälder hinfließt. Man braucht bloß ihrem linken Ufer zu folgen, um den Ausgang des Passes zu erreichen. Wenn man auch an den steilen Abhängen gewisse Vorsichtsmaßregeln ergreifen mußte, so würde die Thalfahrt doch schnell von statten gehen.

Während dieses Tages fand Kayette keine Gelegenheit, insgeheim mit Herrn Cascabel zu reden. Übrigens bemerkte sie, daß die beiden Russen sich nicht mehr abgesondert besprachen oder sich während der Raststunden in verdächtiger Weise entfernten. Wozu hätte das auch jetzt gedient? Ihre Spießgesellen waren ihnen sicherlich vorausgeeilt und die Bande würde erst bei dem Stelldichein in Perm wieder zusammenkommen.

Der folgende Tag war ein günstiger für die Reise. Die Schlucht erweiterte sich und bildete einen bequemeren Durchgang für den Wagen. Man hörte die stark zwischen ihren Ufern eingezwängte Petschora über die Felsen [307] dahinrauschen. Der Engpaß, der bereits einen minder wilden Anblick bot, war nicht mehr so einsam. Man begegnete Händlern, welche aus Europa nach Asien wanderten, das Hausierbündel auf dem Rücken, den eisenbeschlagenen Stock in der Hand. Einige Trupps von Bergleuten, auf dem Wege aus oder nach den Minen begriffen, tauschten einen Gruß mit den Reisenden. Am Ausgang der Hohlwege erschien hie und da ein Gehöfte oder ein noch unbedeutendes Dorf. Im Süden beherrschten der Denejkin und der Kontschakow diesen Teil des Uralgebirges.

Nach einer zur Rast benützten Nacht erreichte die Belle-Roulotte gegen Mittag das äußerste Ende des Petschorapasses. Endlich hatte die kleine Karawane den Höhenzug überstiegen und befand sich in Europa.

Noch dreihundertfünfzig Werst – hundert Meilen – und Perm würde wie Herr Cascabel sich ausdrückte, »ein Haus und eine Familie mehr in seinen Mauern zählen!«

»Uf!...« fügte er hinzu. »Ein hübscher Trab, den wir da zu stande gebracht haben, meine Freunde!... Nun denn, hatte ich nicht rechts... Alle Wege führen nach Rom!... Statt von der einen, sind wir von der anderen Seite nach Rußland gekommen; und was thut das, da Frankreich nicht mehr fern ist!«

Und wäre man ein wenig in ihn gedrungen, so hätte der treffliche Mann behauptet, daß die Luft des Normannenlandes über ganz Europa zu ihm herüberwehe und daß er dieselbe an ihrem Seeduft erkenne!

Am Ausgang des Engpasses befand sich ein Zavody, welches etwa fünfzig Häuser und mehrere Hundert Einwohner umfaßte.

Man beschloß, sich dort bis zum nächsten Tage auszuruhen und gewisse Vorräte zu erneuern – unter anderem Mehl, Thee und Zucker.

Zu gleicher Zeit vermochten Herr Sergius und Jean sich Pulver und Blei zum Ersatze ihrer völlig erschöpften Munition zu verschaffen.

Als sie damit zurückkehrten, rief Herr Sergius:

»Zur Jagd, mein Freund Jean! Wir werden nicht mit leeren Jagdtaschen heimkehren!... zur Jagd!...«

»Wie Sie wünschen,« antwortete Jean, mehr aus Pflicht als Jagdlust.

Der arme Junge! Der Gedanke an die so nahe Trennung verleidete ihm alles.

»Begleiten Sie uns, Ortik?« fragte Herr Sergius.

»Gern,« antwortete der Matrose.

»Suchen Sie mir gutes Wild zu bringen,« empfahl ihnen Frau Cascabel; »dann mache ich mich anheischig, Ihnen ein gutes Mahl zu bereiten.«

Da es erst zwei Uhr nachmittags war, blieb den Jägern Zeit, die umliegenden Wälder zu durchstreifen. Und wenn ihnen das Wild in diesen [308] dichten Gehölzen nicht von selber vor den Schuß lief, so bewies es wenig Zuvorkommenheit.

Während Herr Sergius, Jean und Ortik sich entfernten versorgten Kirschef und Clou die Renntiere. Dieselben wurden unter den Bäumen auf einer kleinen Wiese untergebracht, wo sie nach Herzenslust weiden und wiederkäuen konnten.

[309] Unterdessen wandte Cornelia sich zur Belle-Roulotte, wo es nicht an Arbeit fehlte, zurück, indem sie ihrer Tochter sagte:

»Gehen wir, Napoleone!«


Die Renntiere waren bald unter den Bäumen untergebracht.

»Hier bin ich, Mutter.«

»Und du, Kayette?...«

»Sogleich, Frau Cascabel!«

Aber das war die Gelegenheit, welche Kayette suchte, um mit dem Oberhaupt der Familie unter vier Augen zu reden.

»Herr Cascabel...« sagte sie, auf ihn zugehend.

»Mein Vöglein?«

»Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Mit mir sprechen?..«

»Insgeheim.«

»Insgeheim?«

Und im Geiste sagte er sich:

»Was will sie von mir, meine kleine Kayette?... Sollte es sich um meinen armen Jean handeln?«

Sie wandten sich dem linken Rande des Zavody zu, während Cornelia in der Belle-Roulotte beschäftigt war.

»Nun, mein teures Kind,« fragte Herr Cascabel, »was willst du von mir und warum thust du so geheimnisvoll?«

»Herr Cascabel,« antwortete Kayette, »ich wünsche schon seit drei Tagen mit Ihnen zu sprechen, ohne daß jemand anderes es höre oder auch nur bemerke.«

»Also hast du mir etwas sehr Ernstes zu sagen?«

»Herr Cascabel, ich weiß, daß Herr Sergius eigentlich Graf Narkine heißt.«

»Wie!... Graf Narkine!...« rief Herr Cascabel. »Das weißt du?... Und wie hast du es erfahren?...«

»Durch Leute, welche Sie belauschten, während Sie mit Herrn Sergius plauderten... neulich abends... im Dorfe Muhi.«

»Ist es möglich!«

»Und da ich meinerseits ihr Gespräch über Sie und den Grafen Narkine belauscht habe, ohne daß sie es ahnten...«


»Alsdann ist Herr Sergius verloren und Sie vielleicht auch!« (Seite 312.)

»Wer sind diese Leute?«

»Ortik und Kirschef.«

»Was!... sie wissen?...«

»Ja, Herr Cascabel; und sie wissen auch, daß Herr Sergius ein politischer Sträfling ist, der nach Rußland zurückkehrt, um seinen Vater, den Fürsten Narkine wiederzusehen!«

[310] Betäubt von Kayettens Mitteilung, stand Herr Cascabel mit schlaff herabhängenden Armen und offenem Munde da. Nach einiger Überlegung sagte er:

»Ich bedauere, daß Ortik und Kirschef dieses Geheimnis kennen. Aber da der Zufall es ihnen ausgeliefert hat, so bin ich überzeugt, daß sie es nicht verraten werden!«

[311] »Es ist kein Zufall, der es in ihre Gewalt gegeben hat,« sagte Kayette, »und sie werden es verraten.«

»Sie!... Ehrliche Seeleute!...«

»Herr Cascabel,« erwiderte Kayette, »Graf Narkine schwebt in größter Gefahr!«

»Wie?«

»Ortik und Kirschef sind zwei Verbrecher, welche der Karnossschen Bande angehört haben. Sie sind es, die den Grafen Narkine an der alaskischen Grenze überfielen. Als sie sich in Port-Clarence nach Sibirien eingeschifft hatten, wurden sie auf die Liakhossinseln verschlagen, wo wir ihnen begegnet sind. Was sie vom Grafen Narkine wollen, dessen Leben gefährdet ist, wenn er auf russischem Gebiete erkannt wird, das ist ein Teil seines Vermögens; verweigert er ihnen denselben, so werden sie ihn anzeigen!... Dann ist Herr Sergius verloren, und Sie vielleicht auch!...«

Während Herr Cascabel, von dieser Enthüllung zu Boden geschmettert, Schweigen bewahrte, setzte Kayette ihm auseinander, wie die beiden Matrosen ihr stets verdächtig vorgekommen seien. Es sei nur zu wahr, daß sie Kirschefs Stimme bereits einmal gehört habe... Sie erinnere sich jetzt... Es sei an der alaskischen Grenze gewesen, in dem Augenblick, wo die beiden Bösewichter den Grafen Narkine überfielen, ohne übrigens zu wissen, daß er ein nach Amerika geflüchteter Russe sei. Und dann, in einer der letzten Nächte, während sie mit der Bewachung des Lagers betraut gewesen, habe Kayette sie mit einem fremden Manne davongehen gesehen; sie sei ihnen gefolgt; sie habe einer Unterredung zwischen ihnen und sieben bis acht von ihren früheren Spießgesellen angewohnt... Ortiks sämtliche Pläne seien ihr klar geworden... Indem er die Belle-Roulotte durch den Petschorapaß führte, wo er gewiß war, einer Anzahl von Banditen zu begegnen, sei er entschlossen gewesen, Herrn Sergius und die ganze Familie Cascabel niederzumetzeln... Aber seit er erfahren, daß Herr Sergius Graf Narkine sei, halte er es für besser, demselben mittelst der Drohung, ihn der moskowitischen Polizei zu verraten, eine bedeutende Geldsumme zu erpressen... Man werde warten, bis er in Perm angelangt sei... Weder Ortik noch Kirschef würden bei dieser Angelegenheit figurieren, um im Falle des Mißlingens ihre Stellung zu bewahren... Ihre Genossen würden Herrn Sergius in einem Briefe warnen, ihn um eine Unterredung ersuchen, und so weiter.

Es gelang Herrn Cascabel nur sehr schwer, seine Entrüstung zu zügeln, während er Kayettens Erzählung lauschte. Solche Schufte, denen er so viele Dienste geleistet, die er befreit, genährt, in ihre Heimat zurückgeführt hatte!... Nun, das war ein hübsches Geschenk, eine schöne Rückerstattung, die er da dem Zarenreiche machte!... Wenn es noch Engländer gewesen wären, so würde er [312] wenigstens kein so großes Bedauern empfinden, sie England zurückzugeben!... Ah, die Elenden!... Ah, die Lumpen!

»Und was werden Sie nun thun, Herr Cascabel?« fragte Kayette.

»Was ich thun werde?... Das ist sehr einfach, kleine Kayette!... Ich werde Ortik und Kirschef beim ersten Kosakenposten, auf den wir stoßen, anzeigen und man wird sie hängen...«

»Überlegen Sie, Herr Cascabel,« erwiderte das junge Mädchen. »Sie können das nicht thun!«

»Weshalb nicht?«

»Weil Ortik und Kirschef dann nicht zögern werden, den Grafen Narkine anzuzeigen und mit ihm diejenigen, welche ihm die Rückkehr nach Rußland ermöglicht haben!«

»Zum Teufel, was mich betrifft!« rief Herr Cascabel. »Wenn es sich nur um mich handelte!... Aber Herr Sergius, das ist etwas anderes!... Du hast recht, Kayette, man muß überlegen!....«

Sehr aufgeregt und ratlos, that er einige Schritte und schlug sich mit der geballten Faust vor den Kopf, um demselben eine Idee zu entlocken... Dann kam er zu dem jungen Mädchen zurück und fragte sie:

»Du sagst, daß Ortik unsere Ankunft in Perm abwarten und dort seine Helfershelfer handeln lassen will?«

»Ja, Herr Cascabel; und er hat ihnen ernstlich anempfohlen, vor diesem Zeitpunkt nichts zu unternehmen. Daher glaube ich, daß man warten und einstweilen die Reise fortsetzen sollte...«

»Das ist aber hart,« rief Herr Cascabel, »sehr hart!... Die Schurken bei sich behalten, sie nach Perm führen, ihnen nach wie vor die Hand drücken und ein freundliches Gesicht zeigen!... Bei meinen Vätern! Ich habe Luft, sie beim Kragen zu packen und gegen einander zu schlagen... so... so!«

Und Herr Cascabel fuchtelte mit seinen kräftigen Händen hin und her, als ob er in einem Jahrmarktsorchester Cymbel spiele.

»Sie werden sich bemeistern müssen, Herr Cascabel,« begann Kayette von neuem. »Sie gelten für ahnungslos...«

»Du hast recht, mein Kind.«

»Ich möchte nur wissen, ob Sie es für ratsam erachten, Herrn Sergius zu warnen?...«

»Nein... meiner Treu... nein!« antwortete Herr Cascabel. »Es scheint mir vernünftiger, zu schweigen!... Was könnte Herr Sergius machen?... Nichts!... Ich bin da, um für ihn zu wachen... und ich werde wachen!... Überdies, ich kenne ihn!... Um uns nicht weiter zu kompromittieren, wäre er im stande, links abzubiegen, während wir rechts gingen!... Nein!... entschieden nein!... Ich werde schweigen!...«

[313] »Und werden Sie,« fragte Kayette, »Jean nichts davon sagen?...«

»Jean... kleine Kayette?... Ebensowenig!... Er ist feurig!... Er würde sich in Gegenwart jener zwei abscheulichen Banditen nicht bemeistern können!... Er besitzt nicht die Kaltblütigkeit seines Vaters!... Er würde sich gehen lassen!... Nein!... Jean ebensowenig wie Herrn Sergius!«

»Und Frau Cascabel, werden Sie sie nicht in Kenntnis setzen?« fragte Kayette noch.

»Frau Cascabel?... O, das ist etwas anderes!... Eine so hervorragende Frau, die so guten Rat zu erteilen weiß... und bei Gelegenheit auch eine feste Hand hat!... Ich habe nie ein Geheimnis vor ihr gehabt; und dann weiß sie auch so gut wie ich, daß Herr Sergius Graf Narkine ist... ein Flüchtling...«

»Also Frau Cascabel?...«

»Ja, ich werde mit ihr sprechen!... Jener Frau könnte man ein Staatsgeheimnis anvertrauen!... Sie würde sich eher die Zunge abbeißen, als es verraten, und das ist das größte Opfer, dessen eine Frau fähig ist!... Ja!... ich werde mit ihr sprechen!...«

»Kehren wir jetzt in die Belle-Roulotte zurück,« sagte Kayette. »Man darf unsere Abwesenheit nicht bemerken...«

»Du hast recht, kleine Kayette, du hast immer recht!«

»Vor allem, Herr Cascabel, beherrschen Sie sich in Gegenwart von Ortik und Kirschef!«

»Das wird schwer sein; aber fürchte nichts, man wird ihnen ein freundliches Gesicht schneiden! Ah! die Schufte!... Daß wir uns durch ihre unreine Nähe besudelt haben!... Also darum teilten sie mir mit, daß sie nicht direkt nach Riga gehen wollten!... Darum erwiesen sie uns die Ehre, uns bis Perm zu begleiten!... Diese Landstreicher!... Diese Papavoines!... Diese Lacenaires!... Diese Troppmans!...«

Und Herr Cascabel zählte alle Verbrechernamen auf, die ihm ins Gedächtnis kamen.

»Herr Cascabel,« bemerkte Kayette, »wenn das die Art und Weise ist, wie Sie sich bemeistern wollen!...«

»Nein, kleine Kayette, fürchte nichts!... Ich habe mir nur Luft gemacht!... Ich erstickte daran!... Ich konnte es nicht hinabwürgen!... Aber ich werde ruhig sein!... Ich bin es bereits!... Laß uns in die Belle-Roulotte zurückkehren!... Die Canaillen!«

Und sie wandten sich wieder dem Zavody zu. Sie sprachen nicht mehr... Sie waren in ihre Betrachtungen versunken!... Eine so wunderbare Reise, die so nahe dem Ziele war und durch jene abscheuliche Verschwörung zu nichte gemacht werden sollte!

[314] Als sie in die Nähe des Wagens kamen, machte Herr Cascabel Halt.

»Kleine Kayette?« sagte er.

»Herr Cascabel.«

»Ich ziehe es doch entschieden vor, Cornelia nichts zu sagen!«

»Warum?«

»Was willst du!... Ich habe gefunden, daß eine Frau ein Geheimnis gewöhnlich um so besser bewahrt, wenn sie nichts davon weiß!... Also, laß dies unter uns bleiben!...«

Einen Augenblick später war Kayette in der Belle-Roulotte verschwunden und Herr Cascabel winkte dem wackern Kirschef im Vorübergehen freundlich zu, indem er zwischen den Zähnen murmelte:

»Welch ein Spitzbubengesicht!«

Und als zwei Stunden später die Jäger wieder erschienen, machte Herr Cascabel Ortik ein begeistertes Kompliment über den prächtigen Damhirsch, den er auf seinen Schultern heimbrachte. Herr Sergius und Jean hatten ihrerseits zwei Hafen und einige Paar Rebhühner geschossen. So konnte Cornelia ihren hungrigen Gästen denn ein vorzügliches Diner vorsetzen, welches Herr Cascabel sich ganz besonders schmecken ließ. Dieser Mann war wirklich, »großartig«. Er verriet seine geheimen Gedanken nicht! Er schien nicht einmal zu ahnen, daß er zwei Mörder an seinem Tische habe, zwei Bösewichter, deren Trachten dahin ging, seine Familie zu ermorden! Ja! Er war von hinreißender Laune, von ansteckender Heiterkeit, und als Clou eine Flasche guten Weines herbeigebracht hatte, trank er auf die Rückkehr nach Europa, die Rückkehr nach Rußland, die Rückkehr nach Frankreich!

Am nächsten Morgen – dem zehnten Juli – schlug das Gespann die Richtung nach Perm ein. Von der Mündung des Engpasses an würde die Reise wahrscheinlich ohne Schwierigkeiten oder Zwischenfälle vor sich gehen. Die Belle-Roulotte fuhr längs des rechten Ufers der Vischera hinab, welche am Fuße des Uralgebirges hinfließt. Man kam an Marktflecken, Dörfern, Gehöften vorüber; allerwärts sehr gastfreundliche Einwohner, Wild in Überfluß, gute Aufnahme. Das Wetter war zwar sehr heiß, aber der Hauch einer leichten Nordostbrise bot Erfrischung. Die Renntiere marschierten tapfer einher und wiegten ihre hübschen Köpfe. Übrigens hatte Herr Sergius ihnen zwei Pferde zugesellt, die er im letzten Zavody gekauft und so vermochten sie bis zu zehn Meilen pro Tag zurückzulegen.

Wahrhaftig, die kleine Truppe debutierte recht glücklich auf dem Boden des alten Europa. Und Herr Cascabel wäre in jeder Hinsicht befriedigt gewesen, wenn er sich nicht gesagt hätte, daß er zwei Schurken mit sich führe.

»Und wenn man bedenkt, daß ihre Bande uns folgt, wie Schakale einer [315] Karawane! Vorwärts, Cäsar Cascabel, du wirst auch diesem Gelichter einen gehörigen Streich spielen müssen!«

Im Grunde war es sehr ärgerlich, daß diese Verwicklung einen so geschickt ersonnenen Plan störte. Die Papiere des Herrn Cascabel waren in Ordnung; Herr Sergius figurierte unter seinem Personal und die russischen Behörden ließen ihn ohne Mißtrauen passieren. In Perm angelangt, würde es ihm keinerlei Schwierigkeiten bereitet haben, sich nach Schloß Walska zu begeben. Nachdem er den Fürsten Narkine umarmt, nachdem er einige Tage in seiner Nähe geweilt, hätte er Rußland in Gauklerkleidern durchreisen und sich nach Frankreich flüchten können, wo er völlig sicher gewesen wäre. Und dann keine Trennung mehr!... Kayette und er würden die Familie nicht verlassen!... Und wer weiß, ob nicht später dieser arme Jean!... Ah, wahrhaftig, der Galgen war noch viel zu gut für die Schufte, die eine solche Zukunft vernichten wollten! Herr Cascabel brauste manchmal in einer Weise auf, die seinen Gefährten unbegreiflich war.

»Was hast du nur, Cäsar?« fragte ihn Cornelia.

»Nichts!« antwortete er.

»Warum rasest du dann so?«

»Ich rase, Cornelia, um nicht rasend zu werden!«

Und die vortreffliche Frau vermochte sich die Stimmung ihres Mannes nicht zu erklären.

Vier Tage vergingen; dann erreichte die Belle-Roulotte, sechzig Meilen südwestlich vom Ural, das Städtchen Solikamsk.

Ohne Zweifel waren Ortiks Spießgesellen vor ihm dort eingetroffen; aber vorsichtshalber suchten weder er noch Kirschef sich mit ihnen in Verbindung zu setzen.

Indessen waren Rostof und die übrigen wirklich dort und gedachten ihren Weg in der Nacht fortzusetzen, um das fünfzig Meilen weiter westwärts gelegene Perm zu gewinnen. Und dann würde nichts die Ausführung des abscheulichen Planes aufhalten können.

Beim nächsten Morgendämmern verließ man Solikamsk und am siebzehnten Juli setzte man auf einer Fähre über die Koswa. Wenn keine Verzögerung eintrat, würde die Belle-Roulotte binnen drei Tagen in Perm sein. Dort würde die Familie Cascabel eine Reihe von Vorstellungen geben, bevor sie nach dem Jahrmarkt von Nischni aufbrach. So lautete wenigstens das Programm dieser »Künstler-Tournée«.

Was Herrn Sergius betrifft, so würde er seine Vorkehrungen treffen, um sich allnächtlich auf Schloß Walska einzufinden.

Man kann sich seine Ungeduld und auch die sehr gerechtfertigte Besorgnis vorstellen, mit welcher er seinem Freunde Cascabel von diesen Dingen sprach!

[316] Seit seiner Rettung, während der dreizehnmonatlichen Dauer jener merkwürdigen Reise von der alaskischen bis zur europäischen Grenze hatte er keinerlei Nachrichten vom Fürsten Narkine empfangen. Mußte er angesichts des hohen Alters seines Vaters nicht alles befürchten – sogar, ihn nicht mehr zu finden?...

»Gehen Sie doch!... Gehen Sie doch, Herr Sergius!« antwortete Cäsar [317] Cascabel. »Fürst Narkine befindet sich so wohl wie Sie und ich, sogar noch wohler!... Sie wissen, ich wäre eine prächtige Somnambule geworden!... Ich lese in der Vergangenheit und in der Zukunft!... Fürst Narkine erwartet Sie... in trefflicher Gesundheit... und binnen wenigen Tagen werden Sie ihn wiedersehen!...«

Und Herr Cascabel würde unbedenklich einen Eid auf die Richtigkeit seiner Prophezeiung abgelegt haben, wenn die Verwicklung mit jenem Schufte von einem Ortik nicht gewesen wäre.


Rostof schrieb einen Brief. (Seite 318.)

Er sagte sich:

»Ich bin nicht böse von Natur, aber wenn ich ihm die Gurgel durchbeißen könnte, so thäte ich's... ohne weiteres!«

Inzwischen wuchs Kayettens Angst in demselben Maße, als die Belle-Roulotte sich Perm näherte. Was für einen Entschluß würde Herr Cascabel fassen? Wie würde er Ortiks Pläne vereiteln, ohne die Sicherheit des Herrn Sergius preiszugeben? Das schien ihr geradezu unmöglich. Es fiel ihr schwer, ihre Besorgnisse zu verhehlen; und Jean, der nicht in das Geheimnis eingeweiht war, litt schrecklich darunter, sie manchmal so gequält und niedergeschlagen zu sehen.

Am Morgen des zwanzigsten Juli setzte man über die Kama und gegen fünf Uhr abends langten Herr Sergius und seine Gefährten auf dem großen Marktplatze von Perm an und trafen ihre Vorkehrungen zu einem mehrtägigen Aufenthalte.

Eine Stunde später hatte Ortik sich mit seinen Helfershelfern ins Einvernehmen gesetzt und Rostof schrieb einen Brief, welcher Herrn Sergius abends übergeben werden sollte – in welchem Briefe man ihn in dringender Angelegenheit um eine Unterredung ersuchte und ihm eine Schenke der Stadt als Begegnungsort bezeichnete. Sollte er dort nicht erscheinen, so werde man sich seiner Person zu bemächtigen wissen, und müßte man ihn auch auf der Straße nach Walska arretieren.

Als dieser Brief in der Abenddämmerung von Rostof überbracht wurde, war Herr Sergius bereits nach Schloß Walska aufgebrochen. Herr Cascabel, der gerade allein war, glaubte sich über das Eintreffen dieses Briefes sehr erstaunt stellen zu sollen. Indessen übernahm er es, denselben dem Adressaten zuzustellen, und hütete sich wohl, irgend jemand davon zu sprechen.

Die Abwesenheit des Herrn Sergius verdroß Ortik. Er würde es lieber gesehen haben, wenn der Erpressungsversuch vor der Zusammenkunft des Fürsten mit dem Grafen Narkine stattgefunden hätte. Indessen ließ er seinen Unmut nicht merken und begnügte sich größerer Verstellung halber, als man sich zum Abendessen setzte, mit der Frage:

»Herr Sergius ist nicht hier?...«

[318] »Nein,« antwortete Herr Cascabel. »Er macht die nötigen Schritte bei den Behörden, um die Bewilligung zu unseren Vorstellungen zu erlangen.«

»Und wann wird er zurück sein?«

»Ohne Zweifel im Laufe des Abends.«

13. Capitel
XIII. Ein langer Tag.

Das Gouvernement Perm sitzt sozusagen rittlings auf dem Rücken des Ural, einen Fuß in Asien, den andern in Europa. Es wird von den Gouvernements Vologdia im Nordwesten, Tobolsk im Osten, Viatka im Westen und Orenburg im Süden begrenzt. Dank dieser Lage bildet seine Bevölkerung ein merkwürdiges Gemisch von asiatischen und europäischen Typen.

Die an der Kama gelegene Hauptstadt Perm zählt sechstausend Einwohner und treibt einen bedeutenden Metallhandel. Vor dem achtzehnten Jahrhundert ein einfacher Marktflecken, bereicherte sie sich durch die eintausendsiebenhundertdreiundzwanzig erfolgte Entdeckung einer Kupfermine und wurde eintausendsiebenhunderteinundachtzig zur Stadt erklärt.

Rechtfertigt sie diese Bezeichnung? Um die Wahrheit zu sagen: kaum! Keine Monumente, meist enge und schmutzige Gassen, unbequeme Häuser, Gasthöfe, deren Lob den Reisenden nie in den Sinn gekommen zu sein scheint.

Schließlich waren bauliche Fragen von geringer Wichtigkeit für die Familie Cascabel. War doch ihr rollendes Haus jedem andern vorzuziehen! Sie würde es weder mit dem Saint-Nikolashotel in Newyork, noch mit dem Grandhotel in Paris vertauscht haben.

»Man bedenke!« sagte er wiederholt. Die Belle-Roulotte ist von Sakramento bis Perm gefahren!... Nichts geringeres, wenn's gefällig ist!... Man zeige mir doch ein Pariser, Londoner, Wiener oder Newyorker Hotel, das je etwas ähnliches vollbracht hätte!«

Was kann man auf Argumente dieser Art erwidern?

An jenem Tage hatte Perm sich also um ein Haus vermehrt, welches mitten auf seinem Marktplatze stand, und zwar mit Erlaubnis des Civilgouverneurs, einer Persönlichkeit, deren Funktionen denen eines französischen Departementspräfekten gleichkommen. Diese Persönlichkeit hatte nichts Verdächtiges in den Papieren der Truppe Cascabel gefunden.

Die Ankunft der Belle-Roulotte hatte sofort die öffentliche Neugier erregt. Französische Gaukler, die mitten aus Amerika kamen, in einem von [319] Renntieren gezogenen Wagen!... Der geschickte Direktor hoffte denn auch großen Vorteil aus der Begeisterung des Publikums zu ziehen.

Der Jahrmarkt zu Perm war in vollem Gange und sollte noch einige Tage währen. Da waren also ein paar reichliche Einnahmen gesichert. Aber man durfte keine Zeit verlieren, da es sich darum handelte, erst in Perm und dann in Nischni das zur Rückkehr nach Frankreich nötige Geld zu verdienen. Später würde man schon sehen. Man stellte das der Gnade des Himmels anheim, der sich ohnehin der Familie Cascabel gegenüber immer äußerst gnädig erwiesen hatte.

Demzufolge war alle Welt zu sehr früher Morgenstunde auf den Beinen. Jean, Xander, Clou und die beiden russischen Matrosen wetteiferten mit einander in gutem Willen bei den Vorbereitungen zur Vorstellung. Was Herrn Sergius betrifft, so war er nicht zurückgekehrt, wie er versprochen – was Ortik lebhaft verdroß und Herrn Cascabel sehr beunruhigte.

Gleich anfangs hatte man die Vorstellung durch nachstehendes Plakat angekündigt – ein nach dem Diktate des Herrn Sergius mit großen Buchstaben in russischer Sprache geschriebenes Plakat:


Familie Cascabel.


Französische Truppe auf der Rückkehr aus Amerika.

Gymnastik. Taschenspielerei, Equilibristik, Kraft-und Geschicklichkeitsproben, Tanz, Grazie und Sinnenreize.


Personen:


Herr Cascabel, Herkules ersten Ranges in allen Genres. Frau Cascabel, Ringkämpferin ersten Ranges in allen Genres, Besitzerin des großen Preises vom internationalen Wettringen zu Chicago. HerrJean, Equilibrist in allen Genres. Herr Xander, Clown in allen Genres. Fräulein Napoleone, Tänzerin in allen Genres. Herr Clou-de-Girofle, Hanswurst in allen Genres. Jako, Papagei in allen Genres. John Bull, Affe in allen Genres. Wagram und Marengo, Hunde in allen Genres.


Große Attraktion.


Die Räuber des Schwarzwaldes.


Pantomime mit Verlobung, Hochhzeit, Überraschungen und Lösung. Ungeheuerer Erfolg, erwiesen durch 3177 Aufführungen in Frankreich und im Ausland.


Zur Beachtung: Da die gesprochene Rede aus dieser Pantomime verbannt und durch Gebedenspiel in allen Genres ersetzt ist, so ist dieses Meisterwerk der dramatischen Kunst selbst für Personen, welche an beklagenswerter Taubheit leiden, verständlich.

Zur Bequemlichkeit des Publikums ist der Eintritt gratis gestattet. Der Preis der Plätze wird erst behoben werden, nachdem dieselben besetzt worden sind.


Preis: 40 Kopeken ohne Unterschied.


[320]
Die Vorstellung ward solcherart angekündigt. (Seite 320.)

[321] Gewöhnlich gab Herr Cascabel seine Vorstellungen unter freiem Himmel, nachdem er eine kreisförmige Zeltleinwand vor der Belle-Roulotte aufgespannt hatte. Aber es fand sich, daß der große Platz von Perm einen aus Brettern gezimmerten Cirkus besaß, welcher zu Reiterei-Übungen diente. Obgleich dieser Bau ziemlich verwittert war und Wind und Regen ein ließ, stand er noch fest und konnte zweihundert bis zweihundertundfünfzig Zuschauer fassen.

So wie er eben war, paßte er Herrn Cascabel doch besser, als die Zeltleinwand. Er ersuchte daher den Bürgermeister um die Ermächtigung, ihn während seines Aufenthaltes in der Stadt benützen zu dürfen, und diese Ermächtigung wurde ihm gnädigst erteilt.

Die Russen waren wirklich wackere Leute – wenn sich auch Ortiks und andere Banditen seines Schlages unter ihnen befanden! und in welchem Lande giebt es deren nicht!? Was den Permer Cirkus betrifft, so würde er durch die Vorstellungen der Truppe Cascabel nicht erniedrigt werden. Dem Direktor derselben war nur eines leid: daß Se. Majestät Zar Alexander II. nicht auf der Durchreise durch diese Stadt begriffen war. Da er sich aber in Petersburg befand, würde es ihm schwer gefallen sein, an jenem Abend der Antrittsvorstellung beizuwohnen.

Indessen dachte Herr Cascabel mit einiger Besorgnis daran, daß sein Personal hinsichtlich der Purzelbäume, Tänze, Kraftproben und anderer Spiele ein wenig eingerostet sein dürfte. Die bei der Einfahrt der Belle-Roulotte in den Uralpaß unterbrochenen Übungen waren während des letzten Abschnittes der Reise nicht wieder aufgenommen worden. Pah! wahre Künstler müssen immer bereit sein, mit ihrer Kunst zu glänzen!

Was das Stück betrifft, so bedurfte es keiner Probe. Man hatte es so oft gespielt – und ohne Souffleur –, daß die leitenden Persönlichkeiten keine Besorgnis darüber empfanden.

Indessen hatte Ortik einige Mühe, die Unruhe zu verbergen, welche die verlängerte Abwesenheit des Herrn Sergius ihm verursachte. Da die für gestern anberaumte Unterredung nicht stattgefunden, hatte er seine Helfershelfer verständigen müssen, daß die Angelegenheit um vierundzwanzig Stunden verschoben sei. Dabei fragte er sich, warum Herr Sergius nicht nach Perm zurückgekehrt sein möge, wo Herr Cascabel doch seine Rückkehr für denselben Abend angekündigt hatte.... War er auf Schloß Walska geblieben? Wahrscheinlich; denn er war ohne Zweifel dahin gegangen. Ortik hätte also weniger Ungeduld an den Tag legen sollen. Aber er war nicht Herr über sich und konnte sich nicht enthalten, Herrn Cascabel zu fragen, ob er keine Nachrichten von Herrn Sergius bekommen habe.

»Keine,« antwortete Herr Cascabel.

[322] »Ich glaubte,« fuhr Ortik fort, »daß Sie Herrn Sergius gestern Abend erwartet hätten.«

»Allerdings,« antwortete Herr Cascabel, »und er muß durch irgend etwas aufgehalten worden sein!... Es wäre recht ärgerlich, wenn er unserer Vorstellung nicht anwohnen könnte!... Sie wird einfach wunder voll sein!... Sie werden schon sehen, Ortik!...«

Aber wenn Herr Cascabel auch wie ein Mann sprach, der keinerlei Besorgnis hegt, so war er doch im Grunde ernstlich beunruhigt.

Gestern Abend hatte Herr Sergius, mit dem Versprechen, vor Tagesanbruch zurück zu sein, sich auf den Weg nach Schloß Walska gemacht. Sechs Werft hin und sechs Werft zurück, das war keine Entfernung. Nun er nicht zurückkehrte, waren drei Hypothesen möglich: entweder war Herr Sergius vor seiner Ankunft in Walska arretiert worden, oder er war dort angelangt und wurde durch den Zustand des Fürsten Narkine im Schlosse zurückgehalten, oder aber er war in der Nacht wieder aufgebrochen und man hatte ihn auf dem Heimwege arretiert. Hingegen war die Vermutung, daß es Ortiks Helfershelfern gelungen sein könnte, ihn in irgend eine Falle zu locken, nicht zulässig, und als Kayette dieselbe aussprach, antwortete Herr Cascabel:

»Nein! Denn dann wäre der Schurke Ortik nicht so außer sich, wie er es zu sein scheint!... Er hätte mich nicht nach Herrn Sergius gefragt, wenn seine Genossen denselben in ihrer Gewalt hielten!... Ah, der Schuft!... Solange ich ihn nicht mit seinem Freunde Kirschef an einem Galgen baumeln gesehen, wird etwas zu meinem irdischen Glücke fehlen!«

Herr Cascabel verheimlichte seine Besorgnisse ziemlich schlecht, so daß Cornelia, obgleich sie nicht weniger geängstigt als ihr Mann war, zu ihm sagte:

»Höre, Cäsar, fasse dich!... Du regst dich zu sehr auf!... Du mußt Vernunft annehmen!«

»Man nimmt keine Vernunft an, Cornelia; man bedient sich deren, die man hat, und richtet sich nach ihren Eingebungen. Soviel ist gewiß, daß Herr Sergius zu dieser Stunde längst zurück sein sollte, und daß wir ihn noch immer vergeblich erwarten!...«

»Wohl, Cäsar,« sagte Cornelia, »aber kein Mensch ahnt, daß er Graf Narkine ist.«

»Nein, niemand, wahrhaftig, niemand... wenn nicht etwa...«

»Was bedeutet das?... Wenn nicht etwa?... Jetzt fängst du an, wie Clou-de-Girofle zu reden!... Was willst du damit sagen?... Du und ich, wir sind die einzigen, welche das Geheimnis des Herrn Sergius kennen... Glaubst du etwa, ich wäre im stande gewesen, es zu verraten?...«

»Du, Cornelia, niemals!... So wenig wie ich!...«

»Nun, dann...«

[323] »Nun, es giebt Leute in Perm, welche früher mit dem Grafen Narkine verkehrt und ihn jetzt erkannt haben mögen!... Es muß auffallen, daß sich ein Russe bei unserer Truppe befindet!... Kurz, Cornelia, es ist ja möglich, daß ich übertreibe; aber die Zuneigung, die ich für Herrn Sergius hege, gestattet mir nicht, mich ruhig zu verhalten!... Ich muß gehen und kommen...«

»Cäsar, gieb acht, daß du nicht deinerseits Verdacht erregst!« bemerkte Cornelia sehr richtig. »Und vor allem, kompromittiere dich nicht durch unzeitige und unbesonnene Fragen bei den Leuten! Ich finde mit dir, daß dieses Ausbleiben beängstigend ist, und ich sähe Herrn Sergius gern hier! Aber trotzdem fasse ich die Sache nicht so düster auf und denke mir, daß er einfach beim Fürsten Narkine auf Schloß Walska zurückgehalten worden ist. Jetzt, bei hellem Tage, wagt er nicht heimzukehren, das begreife ich; aber er wird im Laufe der nächsten Nacht hier eintreffen. Also, Cäsar, keine Dummheiten! Kaltblütigkeit. Bedenke, daß du die Rolle des Fracassar spielen sollst, welche einen der größten Erfolge deiner Laufbahn bildet!«

Man konnte nicht vernünftiger reden, als diese so einsichtsvolle Frau, und es ist schwer begreiflich, warum ihr Gatte ihr die Wahrheit vorenthielt. Aber schließlich hatte er vielleicht nicht unrecht. Wer weiß, ob die ungestüme Cornelia sich in Gegenwart von Ortik und Kirschef zu beherrschen gewußt hätte, wenn sie erfahren, wer sie seien und was sie zu thun gedächten!

So schwieg Herr Cascabel denn und verließ die Belle-Roulotte, um die Einrichtung des Cirkus in allen Einzelheiten zu überwachen, während Cornelia, von Kayette und Napoleone unterstützt, die Kostüme, Perücken und das übrige Zubehör musterte, welche bei der Vorstellung benützt werden sollten.

Unterdessen waren die beiden Russen, wenn man ihnen glauben wollte, damit beschäftigt, ihre Stellung als heimgekehrte Matrosen zu ordnen, – was eine Menge Schritte, Gänge und Laufereien erforderlich zu machen schien.

Während Herr Cascabel mit Clou arbeitete, die staubigen Cirkusbänke abreibend und die zur Bühne bestimmte Reitbahn kehrend, schleppten Jean und Xander die verschiedenen, bei den Kraft- und Geschicklichkeitsproben unerläßlichen Gegenstände und Utensilien herbei. Dann hatten sie sich mit dem zu beschäftigen, was der Impresario »seine ganz neuen Dekorationen« nannte, »in denen seine unvergleichlichen Künstler das schöne pantomimische Drama: ›Die Räuber des Schwarzwaldes‹ spielten.«

Jean war trauriger als je. Er wußte nicht, daß Herr Sergius Graf Narkine sei, ein politischer Sträfling, der nicht in seinem Vaterlande bleiben konnte. In seinen Augen war Herr Sergius ein reicher Grundbesitzer, der auf seine Güter zurückkehrte, um sich dort mit seiner Adoptivtochter niederzulassen. Wie viel milder sein Kummer gewesen wäre, wenn er gewußt hätte, daß der Aufenthalt im Russenreiche Herrn Sergius untersagt sei, daß er wieder [324] abreisen werde, sobald er seinen Vater, den Fürsten Narkine gesehen, daß er in Frankreich Schutz suchen werde, und zwar in Begleitung Kayetiens! In diesem Falle würde die Trennung wieder um einige Wochen hinausgeschoben werden, und während dieser Wochen durfte man noch bei einander sein.

»Ja!« sagte Jean sich immer wieder »Herr Sergius wird in Perm bleiben... und Kayette mit ihm!... Binnen einigen Tagen setzen wir unsern Weg fort... und ich werde sie nicht mehr sehen!... Teure kleine Kayette, du wirst im Hause des Herrn Sergius glücklich sein... und doch!...«

Dem armen Jungen brach fast das Herz, wenn er an all diese Dinge dachte.

Indessen war Herr Sergius um neun Uhr morgens noch nicht in die Belle-Roulotte zurückgekehrt. Freilich aber konnte man, wie Cornelia bemerkt hatte, ihn jetzt erst in der folgenden Nacht oder doch wenigstens zu so später Abendstunde erwarten, daß er keine Gefahr liefe, unterwegs erkannt zu werden.

»Dann,« dachte Herr Cascabel, »wird er nicht einmal bei unserer Vorstellung zugegen sein können!... Nun, um so besser!... Es wird mir nicht leid sein!... Sie wird ohnedies schön ausfallen, diese Vorstellung... das Debut der Familie Cascabel auf der Permer Bühne!... Über all diesem Verdruß werde ich meine Mittel einbüßen!... Ich werde grauenhaft sein in der Rolle des Fracassar, ich, der ich die Haut dieses Braven so gut ausfüllte!... Und Cornelia, die trotz all ihrem Gerede auf Kohlen stehen wird!... Und Jean, der nur an seine kleine Kayette denkt!... Und Xander und Napoleone, denen bei dem Gedanken an die Trennung das Weinen nahe ist!... Ach, meine Kinder, was für Figuren wir heute abend darstellen werden!... Ich kann eigentlich nur auf Clou rechnen, um die Ehre der Truppe zu retten!«

Und da Herr Cascabel nicht an einem Platze zu bleiben vermochte, kam er auf den Einfall, nach Neuigkeiten auszugehen. In einer Stadt wie Perm erfährt man schnell, was vorgeht. Die Narkines waren sehr bekannt in der Gegend, auch sehr beliebt... Falls Herr Sergius der Polizei in die Hände gefallen wäre, würde das Gerücht von seiner Verhaftung sich augenblicklich verbreitet haben... Man würde allenthalben davon sprechen... Der Gefangene würde sogar schon in die Citadelle von Perm gebracht worden sein, um dort verhört zu werden.

Daher ließ Herr Cascabel Clou-de-Girofle mit der Adaptierung des Cirkus beschäftigt zurück und schweifte ziellos durch die Stadt, längs der Kama dahin, wo die Fährleute ihrer gewohnten Beschäftigung oblagen, in das obere und untere Viertel, wo die Bevölkerung ganz in ihre täglichen Arbeiten vertieft schien. Er mischte sich in die Gespräche... er hörte unbemerkt zu... Nichts!... Nichts, das sich auf den Grafen Narkine bezogen hätte!

Da auch dies ihn nicht hinreichend beruhigte, wandte er sich der Landstraße [325] zu, die von Perm ins Dorf Walska führt und auf welcher die Polizei Herrn Sergius zur Stadt gebracht haben würde, wenn sie seiner habhaft geworden wäre. Und so oft er in der Ferne eine Gruppe von Fußgängern erblickte, bildete er sich ein, daß es der von einem Kosakentrupp eskortierte Gefangene sei.

In seiner Aufregung dachte Herr Cascabel nicht einmal mehr an seine Frau, seine Kinder, sich selber, welche im Falle einer Verhaftung des Grafen Narkine so arg kompromittiert sein würden! In der That, es würde den Behörden nur allzu leicht sein, die Umstände zu ermitteln, unter welchen Herr Sergius auf russisches Gebiet zu gelangen vermocht, und die wackern Leute, welche seine Heimkehr begünstigt hatten. Die Geschichte konnte der Familie Cascabel teuer zu stehen kommen!

Das viele Hin- und Hergehen des Herrn Cascabel und sein häufiges Stehenbleiben auf der Straße nach Walska hatten zur Folge, daß er nicht im Cirkus anwesend war, als gegen zehn Uhr morgens ein Mann dort erschien und ihn zu sprechen verlangte.

Clou-de-Girofle war gerade allein und bewegte sich in einer von der Reitbahn aufsteigenden Staubwolke. Er kam daraus hervor, als er jenen Mann gewahrte, der ganz einfach ein Musik war. Da Clou die Sprache des besagten Musik ebensowenig kannte wie dieser Clous Idiom, so konnten sie sich unmöglich verständigen. Clou begriff denn auch kein Sterbenswörtchen, als der Fremde ihm sagte, daß er mit seinem Herrn zu sprechen wünsche und ihn im Cirkus gesucht habe, bevor er zur Belle-Roulotte gegangen sei. Schließlich that der Musik, was er zu allererst hätte thun sollen: er zog einen an Herrn Cascabel adressierten Brief hervor.

Das verstand Clou. Ein Brief, welcher den berühmten Namen Cascabel trug, konnte nur an das Familienoberhaupt gerichtet sein... wenn er nicht etwa Frau Cornelia, oder Herrn Jean, oder Herrn Xander, oder Fräulein Napoleone vermeint war.

So übernahm denn Clou den Brief, indem er durch eine Geberde zu verstehen gab, daß er ihn seinem Herrn zustellen werde. Dann verabschiedete er den Musik mit vielen Verbeugungen, ohne aber herausgebracht zu haben, von wo er komme und wer ihn gesandt habe.

Eine Viertelstunde später, gerade als Clou sich anschickte, in die Belle-Roulotte zurückzukehren, erschien Herr Cascabel am Eingang der Reitbahn, entnervter und besorgter als zuvor.

»Herr Direktor!« sagte Clou.

»Nun?...«

»Ich habe einen Brief empfangen.«

»Einen Brief?«


Der Mujik hielt einen Brief in seiner Hand. (Seite 326.)

»Ja, einen Brief, der eben hergebracht worden ist...«

[326]

»An mich?«

»An Sie.«

[327] »Wenn es nicht etwa kein Musik war!«

Herr Cascabel griff hastig nach dem Briefe, den Clou ihm bot, und als er die Handschrift des Herrn Sergius auf der Adresse erkannte, wurde er so bleich, daß sein treuer Diener rief:

»Herr Direktor, was haben Sie?«

»Nichts!«

Nichts?... Und doch war, dieser so thatkräftige Mann auf dem Punkte, Clou ohnmächtig in die Arme zu fallen.

Was sagte Herr Sergius in diesem Briefe?... Warum schrieb er an Herrn Cascabel'?... Augenscheinlich, um ihn von den Beweggründen zu unterrichten, aus denen er in der verflossenen Nacht nicht nach Perm zurückgekehrt war'... War er etwa verhaftet?...

Herr Cascabel entfaltete den Brief, rieb sich das rechte, dann das linke Auge, und las ihn in einem Zuge.

Welch ein Schrei ihm da entfuhr – einer jener Schreie, die aus halb erstickter Kehle dringen! Mit zuckendem Gesichte, rollenden Augen und nervös zusammengezogenen Lippen versuchte er zu sprechen und brachte keinen Laut hervor!...

Clou mußte glauben, daß sein Herr ersticken werde, und begann ihm die Krawatte aufzuknüpfen...

Da sprang Herr Cascabel mit einem solchen Satze empor, daß sein mit kräftigem Fuße zurückgestoßener Sessel in die letzten Sitzreihen des Cirkus flog. Er fuhr wie ein Wahnsinniger umher und versetzte Clou-de-Girofle plötzlich den traditionellen Fußtritt, der ihn, da er nicht darauf vorbereitet war, mit voller Wucht traf... War sein Herr verrückt geworden?

»Ei, Herr Direktor!« rief Clou, »wir sind doch nicht auf der Parade!«

»Doch, wir sind wohl auf der Parade!« schrie Herr Cascabel. »Wir sind nie so sehr auf der grrrrroßen Sonntagsparrrrrade gewesen!«

Vor dieser Erklärung konnte Clou sich nur in Demut beugen, – was er denn auch that, indem er sich die Lenden rieb, denn der Fußtritt war wirklich ein – Sonntagsfußtritt gewesen!

Aber nun hatte Herr Cascabel seine Kaltblütigkeit wiedergewonnen und trat zu ihm hin, indem er in geheimnisvollem Tone sagte:

»Clou, du bist ein verschwiegener Bursche?«

»Gewiß, Herr Direktor... Ich habe nie etwas von den Geheimnissen gesagt, die mir anvertraut waren... wenn sie nicht etwa...«

»Still!... Genug!... Du siehst diesen Brief?«

»Den Brief des Mujik?«

»Denselben!... Wenn du dir beikommen lässest, irgend jemand zu sagen, daß ich ihn erhalten habe...«


»Das wird dir niemals begegnen... mit deiner Nase!« (Seite 330.)

»Gut!«

»Jean, Xander oder Napoleonen...«

»Wohl!«

»Vor allem aber Cornelia, meiner Frau, so schwöre ich dir, daß ich dich ausstopfen lasse...«

[328]

»Lebendig?...«

[329] »Lebendig... damit du es fühlst, Dummkopf!«

Angesichts dieser Drohung begann Clou an allen Gliedern zu zittern.

Da ergriff Herr Cascabel ihn bei der Schulter und raunte ihm im Tone hochmütiger und überlegener Stutzerhaftigkeit zu:

»Sie ist nämlich eifersüchtig, meine Cornelia!... Und siehst du, Clou, entweder ist man ein schöner Mann, oder man ist es nicht!... Eine reizende Frau... eine russische Fürstin!... Du verstehst!... Sie schreibt mir!... Ein Stelldichein! Das ist etwas, was dir nun und nimmer begegnen wird... mit deiner Nase!«

»Nun und nimmer,« antwortete Clou, »wenn nicht etwa...«

Aber was Clou sich bei diesem Vorbehalt dachte, das hat die Nachwelt nicht erfahren!

14. Capitel
XIV. Eine von den Zuschauern sehr beifällig aufgenommene Lösung.

Das Stück, welches den ebenso neuen wie verlockenden Titel: »Die Räuber des Schwarzwaldes« trug, war ein bemerkenswertes Werk. Im Einklange mit den klassischen Regeln der dramatischen Kunst verfaßt, fußte es auf der Einheit der Zeit, der Handlung und des Ortes. Seine Introduktion charakterisierte deutlich die handelnden Personen, seine Verwicklung war geschickt durchgeführt und seine Lösung war, wenn auch vorauszusehen, darum nicht minder effektvoll. Es fehlte nicht einmal die kräftige »Inscenierung«, welche von dem zähesten der modernen Kritiker verlangt wird, und dieselbe ließ nichts zu wünschen übrig.

Des Ferneren hätte man von Cäsar Cascabel keines jener Stücke nach heutigem Geschmack verlangen dürfen, in denen alle Einzelheiten des Privatlebens auf die Bühne gebracht werden, – eines jener Stücke, in welchen, wenn schon nicht das Verbrechen siegt, die Tugend doch jedenfalls nicht hinreichend belohnt wird. Nein! im letzten Auftritt der »Räuber des Schwarzwaldes« wurde die Unschuld formell anerkannt und das Laster in geziemendster Weise bestraft. Die Gendarmen erschienen in dem Augenblick, wo man alles verloren wähnte, und als sie den Verbrecher beim Kragen packten, erzitterte der Cirkus vom Applaus.

[330] Unzweifelhaft wäre dieses Stück in einem einfachen, festen, persönlichen Stil geschrieben worden, voller Achtung vor der Grammatik, frei von den hochtrabenden Neologismen, den dokumentarischen Ausdrücken, den realistischen Wörtern der neuen Schule – wenn man es geschrieben hätte. Aber man hatte es nicht geschrieben. Daher konnte diese Pantomime auch an allen Theatern und auf allen Bühnen der beiden Weltteile aufgeführt werden. Ein ungeheurer Vorzug mimischer Darstellungen, abgesehen von der Leichtigkeit, mit welcher man in diesem Genre von Litteratur grammatikalische und anderweitige Fehler vermeiden kann.

Vorstehend hieß es: Man hätte von Cäsar Cascabel keines jener Stücke nach heutigem Geschmacke verlangen dürfen und so weiter.... Cäsar Cascabel war nämlich der Verfasser dieses Jahrmarktsmeisterwerkes. Meisterwerk ist das rechte Wort dafür, da es auf dem alten und neuen Festlande zusammen dreitausendeinhundertsiebenundsiebzig Vorstellungen erlebt hatte. Mit Ausnahme des im Cirkus Franconi gegebenen Stückes: Der Bär und die Schildwache – welches den größten aller in den Annalen des Dramas bekannten Erfolge errungen –, hat kein Stück diese Zahl überstiegen. Aber selbst dieses olympische Werk ist unstreitig von geringerem litterarischen Werte, als »Die Räuber des Schwarzwaldes.«

Zudem war dieses Stück eigens dazu erdacht worden, um die speciellen Talente der Familie Cascabel hervorzuheben, so bedeutende und mannigfaltige Talente, daß ein solches Künstler-Ensemble noch niemals von dem Direktor einer stationären oder ambulanten Truppe dem Publikum vorgeführt worden war.

Die Meister des heutigen Dramas haben sehr richtigerweise den Grundsatz aufgestellt: »Im Theater muß man die Leute immer zum Lachen oder zum Weinen bringen, sonst gähnen sie.« Nun, wenn hierin die ganze Kunst des Dramaturgen liegt, so verdienten die »Räuber des Schwarzwaldes« hundertmal die Bezeichnung als Meisterwerk. Man lachte dort bis zu Thränen und weinte – ebenfalls bis zu Thränen. Es gab dort keine Scene, nicht einmal den geringsten Teil einer Scene, angesichts deren der gleichgültigste Zuschauer das Bedürfnis empfunden hätte, den Mund zum Gähnen zu öffnen. Und hätte ihn selbst infolge irgend einer Verdauungsschwierigkeit ein Gähnen angewandelt, so wäre dasselbe in einem Schluchzen oder Gelächter erstickt.

Wie jedes gut gezimmerte Stück, war dieses klar, kurz gefaßt, einfach erdacht und einfach durchgeführt. Die Thatsachen folgten einander logisch darin. So sehr, daß man sich fragen konnte, »ob das nicht wirklich geschehen sei!«

Man urteile darüber nach dieser Rezension, welche die meisten Kritiker sich zum Muster nehmen könnten.

[331] Es war die stark dramatisierte Geschichte zweier Liebenden, die einander vergötterten. Zum besseren Verständnis des Lesers erwähnen wir, daß Napoleone das junge Mädchen und Xander den jungen Mann spielte. Unglücklicherweise ist Xander arm, und Napoleonens Mutter, die hochmütige Cornelia, will nichts von dieser Heirat wissen.

Ganz neu ist dabei, daß jener Liebe auch das Vorhandensein eines argen Einfaltspinsels, Clou-de-Girofles, im Wege steht, der ebenso reich an Geld als arm an Geist ist und in Napoleone verliebt, dieselbe heiraten will. Und – vielleicht erreicht das erfinderische Genie des Verfassers hier seinen Höhepunkt – die Mutter, welche auf klingende Münze sieht, verlangt nichts besseres, als Clou ihre Tochter zu geben.

Es wäre wirklich schwer, eine Handlung geschickter einzuleiten und interessanter zu gestalten. Selbstverständlich kann der alberne Clou nicht den Mund öffnen, ohne eine Dummheit zu sagen. Er ist lächerlich in seiner Erscheinung, unbeholfen, mit einer ellenlangen Nase, die er in alles hineinzustecken pflegt. Und wenn er mit seinen Hochzeitsgeschenken angezogen kommt, dem gesichterschneidenden John Bull und dem Papagei Jako – dem einzigen unter den Künstlern, der im Stücke spricht –, so ist es rein, um sich zu wälzen.

Indessen verstummt das Gelächter bald vor dem tiefen Schmerz der beiden jungen Leute, die sich nur insgeheim, sozusagen bei »Nacht und Nebel«, sehen können.

Und nun ist gerade der Tag der Hochzeit angebrochen, zu welcher Cornelia ihre Tochter zwingen will. Napoleone hat ihren schönsten Putz angelegt, aber in Thränen zerfließend, in heller Verzweiflung! Und es ist wirklich abscheulich, wenn man bedenkt, daß dies hübsche Hühnchen einem so widerwärtigen Dorfhahn angehören soll!

All das spielt auf dem Kirchenplatze Die Glocke läutet, die Thüren der Kirche sind geöffnet, man braucht bloß hineinzugehen. Xander kniet auf den Stufen der Vorhalle!... Der Weg wird nur über seine Leiche gehen!... Es ist außerordentlich packend!

Plötzlich – und im ganzen dramatischen Repertoire der Comédie Française und des Ambigu ist vielleicht nie ein ähnlicher Theatercoup vorgekommen – plötzlich erscheint ein junger Militär mit solchem Affekt, daß die Leinwand im Hintergrunde zittert. Es ist Jean, der leibliche Bruder der unglücklichen Braut. Er kehrt aus einem Kriege zurück, wo er die Feinde besiegt hat, – Feinde, welche je nach dem Lande variieren können, wo das Stück aufgeführt wird; in Amerika sind es Engländer, in Deutschland Franzosen, in der Türkei Russen, und so weiter.

Der tapfere und sympathische Jean kommt gerade zur rechten Zeit. Er [332] wird seinem Willen Geltung zu verschaffen wissen. Er hat erfahren, daß Xander Napoleone liebt, und Napoleone Xander. Er stößt Clou mit kräftigem Arme zurück; er provoziert ihn zum Zweikampf; und dieser Tropf bekommt eine solche Angst, daß er sich beeilt, der Heirat zu entsagen.

Man sieht, wie packend das Stück ist, wie die Situationen in einander greifen!... Aber es kommt noch besser.

Denn als man Cornelia holt, welcher Clou ihr Wort zurückgeben will, ereignet sich ein Zwischenfall... Cornelia ist verschwunden!... Man eilt hierhin und dorthin!... Niemand!

Plötzlich dringt Geschrei aus den Tiefen des nahen Waldes. Xander erkennt die Stimme der Frau Cascabel, und obgleich es sich um seine zukünftige Schwiegermutter handelt. zögert er nicht... er fliegt ihr zu Hilfe... Offenbar ist die gebieterische Dame von der Fracassarschen Bande, vielleicht von Fracassar, dem berühmten Hauptmann der Räuber des Schwarzwaldes selber, entführt worden.

In der That ist es so, und während Jean bei seiner Schwester bleibt, um sie nötigenfalls zu beschützen, läutet Clou die Glocke und schreit um Hilfe. Ein Schuß fällt... Das Publikum schnappt nach Luft; man kann sich schwer vorstellen, daß die Aufregung im Theater jemals einen höheren Grad zu erreichen vermöchte.

Da erscheint Herr Cascabel im kalabrischen Kostüm des fürchterlichen Fracassar auf der Bühne, gefolgt von seinen Mitschuldigen, welche Cornelia trotz ihres Widerstandes einherschleppen... Aber der heldenmütige erste Liebhaber kommt an der Spitze einer Brigade bis an den Gürtel gestiefelter Gendarmen zurück... Seine Schwiegermutter wird befreit, die Räuber werden gefaßt, und der verliebte Xander heiratet seine Braut Napoleone.

Zu erwähnen ist noch, daß in Ermangelung hinreichenden Personals die Räuber sowohl als die Gendarmen nicht persönlich auf der Bühne erscheinen. Clou hat ihre verschiedenen Schreie in der Coulisse auszustoßen und macht die Sache täuschend. Was Herrn Cascabel betrifft, so ist er genötigt, sich die Handschellen selber anzulegen. Aber, man kann es nicht oft genug wiederholen, der Effekt dieser Lösung ist dank der so klaren Inscenierung ein außerordentlicher.

So war das aus dem mächtigen Schädel Cäsar Cascabels entsprungene Stück beschaffen, welches im Permer Cirkus aufgeführt werden sollte. Ohne Zweifel würde es dort seinen gewohnten Erfolg erzielen, wenn die Darsteller auf der Höhe ihrer Aufgabe standen.

Gewöhnlich war dies der Fall; Herr Cascabel gab sich sehr grimmig. Cornelia sehr eingebildet auf ihre Geburt und ihr Vermögen, Jean sehr ritterlich, Xander sehr sympathisch, Napoleone sehr rührend. Die Rollen trugen, [333] wie man zu sagen pflegt, die Künstler. Aber man muß gestehen, daß die Familie an jenem Tage nicht eben in begeisterter Stimmung war. Sie war sehr traurig und würde es auf der Bühne zu keinem rechten Schwung bringen. Das Mienenspiel würde ungewiß sein, die Gesten nicht hinreichend deutlich... Vielleicht würden die Thräneneffekte sicherer wirken, da jedermann Lust zu weinen hatte, aber mit den Lacheffekten würde es erbärmlich aussehen!

Und als man sich zum Gabelfrühstück setzte und den Platz des Herrn Sergius leer sah – was wie ein Vorgeschmack der nahen Trennung erschien – ward man noch betrübter... Niemand hatte Hunger, niemand hatte Durst... Es war herzzerreißend!

Nun! damit war der Direktor der Truppe nicht einverstanden. Er hatte für vier gegessen. Und nach beendeter Mahlzeit zögerte er nicht, seiner Unzufriedenheit Worte zu leihen.

»Heda!« rief er; »nimmt das kein Ende?... Ich sehe lauter ellenlange Gesichter!... Von dir angefangen, Cornelia, bis zu dir, Napoleone!... Clou ist wirklich der einzige, der etwas annehmbar aussieht!... Teufel! Das paßt mir nicht, Kinder, ganz und gar nicht!... Ich will, daß man heiter sei, daß man lebhaft spiele, daß man sein Bestes thue, daß die Geschichte gefalle; sonst werde ich verflixt böse werden!«

Und wenn Herr Cascabel diesen ihm eigentümlichen Ausdruck gebrauchte, so wagte niemand, sich den Folgen seines Zornes auszusetzen. Da blieb nichts übrig als zu gehorchen... und so gehorchte man.

Übrigens hatte dieser Mann von so erfindungsreichem Geiste einen ausgezeichneten Einfall gehabt, wie ihm deren unter ernsten Umständen immer welche kamen.

Er hatte beschlossen, sein Stück zu vervollständigen, oder eigentlich, seine Inscenierung zu verstärken – man wird schon sehen, wie.

Wir erwähnten, daß sich bisher, aus Mangel an hinreichenden Mitgliedern, die Räuber und Gendarmen nie dem Publikum gezeigt hatten. Wenngleich er nun das Räuberhandwerk ganz allein zu repräsentieren im stande war, so dachte Herr Cascabel sehr richtig, daß das Stück einen tieferen Eindruck machen würde, wenn die Figuranten bei der Lösung vollzählig wären.

So war er auf den Einfall gekommen, einige Gehilfen für diese Vorstellung zu dingen. Richtig! er hatte ja Ortik und Kirschef bei der Hand. Warum sollten diese beiden wackern Matrosen sich weigern, die Rolle der Räuber zu übernehmen?

Als man sich daher vom Tische erhob, wandte Herr Cascabel sich zu Ortik, erklärte ihm die Sachlage und fragte schließlich:

»Würde es Ihnen passen, sich alle beide als Figuranten an der Vorstellung zu beteiligen?... Das wäre mir ein großer Dienst, meine Freunde!«

[334] »Sehr gern!« antwortete Ortik, »Kirschef und ich wünschen uns nichts besseres!«

Da es in ihrem Interesse lag, mit der Familie Cascabel auf gutem Fuße zu stehen, so ist es begreiflich, daß sie diesen Vorschlag bereitwilligst annahmen.

»Vortrefflich, meine Freunde, vortrefflich!« antwortete Herr Cascabel. »Übrigens werden Sie nur mit mir zu erscheinen haben, wenn ich auftrete, nämlich ganz am Ende!... Sie werden es so machen, wie ich, dasselbe Augenrollen, dieselben Geberden, dasselbe Wutgebrüll!... Sie werden sehen, es geht ganz von selber, und ich garantiere Ihnen einen erstaunlichen Erfolg!...«

Nach einigem Nachdenken fügte er hinzu:

»Aber da fällt mir ein, daß Sie zu zweien doch nur zwei Räuber vorstellen können!... Das ist nicht genug!... Nein!... Fracassar hat eine ganze Bande unter sich und wenn ich Ihnen noch fünf bis sechs andere Biedermänner zugesellen könnte, so würde die Wirkung größer sein!... Könnten Sie mir nicht einige beschäftigungslose Herren in der Stadt auflesen, denen eine gute Flasche Wódka und ein halber Rubel annehmenswert erschiene?«

Ortik wechselte einen Blick mit Kirschef und erwiderte:

»Das wird gehen, Herr Cascabel. Gestern sind wir im Wirtshause mit einem halben Dutzend wackerer Leute bekannt geworden...«

»Bringen Sie sie her, Ortik, bringen Sie sie heute Abend und ich stehe für einen effektvollen Abschluß!«

»Abgemacht, Herr Cascabel.«

»Vortrefflich, meine Freunde!... Welch eine Vorstellung!... Welch eine Attraktion für das Publikum!«

Und als die beiden Matrosen davongegangen waren, wurde Herr Cascabel von einem solchen Lachkrampfe ergriffen, daß sein Gürtel in Stücke flog. Cornelia glaubte, er bekomme einen Ohnmachtsanfall.

»Cäsar, es ist nicht vernünftig, nach dem Frühstück so zu lachen!« sagte sie.

»Ich?... lachen, meine Gute?... Aber ich bin ja gar nicht dazu aufgelegt!... Wenn ich lache, so geschieht es unbewußt!... Im Grunde bin ich sehr traurig!... Bedenke doch, es ist ein Uhr, und der treffliche Herr Sergius ist noch immer nicht zurück!... Und er wird nicht zur Stelle sein, um als Taschenspieler der Truppe zu figurieren!... Welches Pech!«

Während Cornelia hierauf zu ihren Kostümen zurückkehrte, ging Cascabel aus, um einige Gänge zu thun, die ihm, wie er kurz sagte, unerläßlich erschienen.

Die Vorstellung sollte um vier Uhr beginnen – wodurch die Beleuchtung [335] überflüssig wurde, die im Permer Cirkus viel zu wünschen übrig ließ. War doch auch die junge Napoleone frisch genug und ihre Mutter selber hinreichend »wohl konserviert«, um das Tageslicht nicht scheuen zu müssen!

Man kann sich kaum vorstellen, welchen Eindruck das Plakat Cäsar Cascabels in der Stadt gemacht hatte, gar nicht zu reden von der Trommel Clou-de-Girofles, der seine erstaunlichsten Wirbel eine volle Stunde lang in allen Straßen erschallen ließ. Er wäre im stande gewesen, sämtliche Reußen auf einmal aus dem Schlafe zu trommeln!

Die Folge davon war, daß zur festgesetzten Stunde eine große Menge von Zuschauern zu den Eingängen des Cirkus strömte: der Gouverneur von Perm und seine Familie, eine gewisse Anzahl von Beamten, Offiziere der Citadelle, einige bedeutende Kaufleute des Ortes und auch viele jener kleinen Händler, welche zum Jahrmarkt gekommen waren, kurz, ein ungeheurer Andrang seitens des Publikums.

Am Eingange lärmten die Musikanten der Truppe, Xander, Napoleone, Clou, mit Klappenhorn, Posaune und Trommel, sowie Cornelia, die in fleischfarbenem Tricot und rosenrotem Gewande auf der großen Trommel polterte. Das gab ein wunderbares Getöse, ganz dazu angethan, die Ohren der Musiks zu entzücken.

Dazwischen schrie Cäsar Cascabel korrekt und verständlich auf Russisch:

»Herein!... Spazieren Sie herein, meine Herren und Damen!... Der Platz kostet vierzig Kopeken... ohne Unterschied!.. Spazieren Sie herein!«

Und sobald die Herren und Damen auf den Cirkusbänken Platz genommen hatten, verschwand das Orchester, um sich seiner programmmäßigen Rolle bei der Vorstellung zu widmen.

Der erste Abschnitt ging vorzüglich. Die kleine Napoleone auf dem straffen Seil, der junge Xander mit seinen Clown-Verrenkungen, die gelehrten Hunde, der Affe John Bull und der Papagei Jako mit ihren ergötzlichen Kunststücken, Herr und Frau Cascabel mit ihren Kraft- und Geschicklichkeitsproben, sie alle erzielten wahrhaft große Erfolge. Bei dem stürmischen Beifall, welcher diesen Künstlern ersten Ranges so gerechterweise zu teil wurde, ging auch Jean nicht leer aus. Vielleicht, da seine Gedanken bei anderen Dingen weilten, zauderte seine Hand, vielleicht waren seine equilibristischen Talente einen Augenblick beeinträchtigt... Aber das war nur dem Auge des Meisters sichtbar und das Publikum merkte nichts davon, daß der arme Junge nicht ganz bei der Sache sei!

Was die lebendige Pyramide betrifft, die dem Zwischenakte voranging, so wurde ihre Wiederholung einstimmig verlangt.

Im übrigen war Herr Cascabel von verblüffender Verve und guter Laune, indem er seine Künstler dem Publikum vorstellte und wohlverdiente [336] Hurrarufe für dieselben erbat. Nie hatte dieser hervorragende Mann glänzender bewiesen, wie weit eine energische Natur sich zu beherrschen vermag. Die Ehre der Familie Cascabel war gesichert Es war ein Name, den die Moskowiten stets mit Bewunderung und Achtung aussprechen würden.

Aber wenn das Publikum diesem Teile des Programms mit Interesse gefolgt war, mit welcher Ungeduld erwartete es nicht den zweiten! Während des Zwischenaktes sprach man in den Couloirs von nichts anderem.

Nach einer Pause von zehn Minuten, welche den Zuschauern gestattet hatte, sich draußen an der Luft zu erfrischen, kehrte die Menge zurück; kein Platz blieb unbesetzt.

Ortik und Kirschef waren bereits vor einer Stunde von ihrem Rundgange zurückgekehrt und hatten ein halbes Dutzend Gehilfen mitgebracht. Man errät, daß es eben jene früheren Spießgesellen von ihnen waren, die sie im Uralpasse wiedergefunden hatten.

Herr Cascabel musterte seine neuen Figuranten sehr aufmerksam.

»Güte Köpfe!...« rief er. »Gute Gesichter!... Schöner Bau!... Vielleicht von etwas zu anständigem Äußeren, um die Rolle von Räubern zu spielen!... Aber mit Hilfe von struppigen Perücken und schauerlichen Bärten werde ich schon etwas aus ihnen machen!«

Und da Herr Cascabel erst am Schlusse des Stückes auftrat, hatte er die nötige Zeit, um die Rekruten vorzubereiten, zu kostümieren, zu frisieren, mit einem Worte, um präsentable Räuber aus ihnen zu machen.

Dann klopfte Clou-de-Girofle dreimal auf den Fußboden. In einem gut eingerichteten Theater würde bei den letzten Klängen des Orchesters der Vorhang in die Höhe gegangen sein. Wenn es hier nicht so geschah, so war es, weil sich auf Reitbahnen keine Vorhänge zu befinden pflegen, selbst wo sie zu Bühnen dienen.

Man möge aber darum nicht glauben, daß es gänzlich an Dekorationen oder doch einem Anschein von Dekorationen fehlte. Rechts stellte ein Schrank mit darauf gemaltem Kreuze die Kirche vor oder vielmehr die Kapelle, deren Glockenturm vermutlich hinter den Coulissen stand; in der Mitte bildete die Reitbahn einen sehr natürlichen Dorfplatz; zur Rechten gaben einige geschickt gruppierte Stauden in Kübeln eine recht klare Idee vom Schwarzwalde.

Das Stück begann unter tiefem Schweigen. Wie niedlich Napoleone war in ihrem gestreiften, ein wenig verblichenen Kleidchen, den hübschen Hut wie eine Blume auf das blonde Haar gesetzt, mit ihrer so treuherzigen und zärtlichen Miene! Der erste Liebhaber, Xander, in orangefarbenem, an den Nähten verschossenem Wamms, hofierte ihr mit solch leidenschaftlichen Gesten, daß ein Dialog die Sache nicht verständlicher gemacht hätte! Und der Eintritt Clou-de-Girofles mit seiner albernen, strohgelben Perücke, den langen, [337] schlenkernden Beinen, der dummen und arroganten Miene, der bebrillten Nase! Und der Affe, der ihm Gesichter schnitt und der Papagei, dessen Geplapper so geistreich schien! Nichts konnte gelungener sein, als dieser Jahrmarktsnarr!

Nun erscheint Cornelia, eine Frau, die schrecklich sein wird, wenn sie einmal Schwiegermutter geworden ist. Sie bescheidet Xanders Werbung um Napoleone abschlägig; und dennoch fühlt man, daß unter ihren vornehmen, mittelalterlichen Flittern ein Herz pocht.

Große Sensation, als Jean als italienischer Carabinier auftritt. Er ist sehr traurig, sehr niedergeschlagen, der arme Junge! Er scheint eher an alles andere als an seine Rolle zu denken! Er möchte lieber an Xanders Stelle sein und Kayette zur Braut haben, so daß er sie direkt zum Altar führen könnte! Und wie viele verlorene Stunden, wo ihnen noch so wenige des Zusammenseins blieben!

Indessen war die dramatische Situation so packend, daß sie den Schauspieler mit sich fortriß. Es wäre unmöglich gewesen, in einer solchen Rolle kein ungeheures Talent an den Tag zu legen. Man bedenke! Ein Bruder, der in Carabinier-Uniform aus dem Kriege zurückkehrt und die Partei einer Schwester gegen die hochmütigen Befehle einer Mutter und die lächerlichen Ansprüche eines Gecken ergreift!

Prächtig, die Herausforderungsscene zwischen Jean und Clou-de-Girofle! Dieser Dummkopf zittert vor Furcht, daß er mit den Zähnen klappert, daß sein Blick unstet und seine Nase übermäßig lang wird, – so lang, als hätte ihm ein Degen den Kopf durchbohrt und stäke ihm beim Gesicht heraus.

Da ertönt diesmal vielstimmiges Geschrei hinter den Coulissen. Der junge Xander, von seinem Mute hingerissen, vielleicht mit der Absicht, den Tod zu suchen, da ihm das Leben zur Last ist, stürzt sich in die Tiefen des in Kübeln steckenden Waldes. Man hört einen sehr heftigen Kampf hinter der Scene, einen Schuß...

Im nächsten Augenblick tritt Fracassar, der Räuberhauptmann, auf. Er ist schrecklich anzusehen mit seinem verblichenen rosa Tricot und seinem rotgewordenen schwarzen Barte. Die ganze Bande von Bösewichtern begleitet ihn gestikulierend. Unter den Räubern figurieren Ortik und Kirschef, unkenntlich in ihren Perücken und Kostümen. Die in ihrer Ehre bedrohte Cornelia wird von dem fürchterlichen Hauptmann gepackt. Xander eilt, sie zu verteidigen und es scheint fast, als ob die gewöhnliche Lösung des Stückes an jenem Tag kompromittiert werden sollte, denn die Situation ist nicht mehr dieselbe.

In der That, als Herr Cascabel allein die ganze Räuberbande des Schwarzwaldes zu repräsentieren hatte, fiel es Jean, Xander, ihrer Mutter, [338] ihrer Schwester, samt Clou-de-Girofle nicht schwer, ihn bis zur Ankunft der fern hinter den Coulissen signalisierten Gendarmen in Respekt zu halten. Aber diesmal kommt der Räuberhauptmann Fracassar an der Spitze von acht Übelthälern in Fleisch und Bein, sichtbar, greifbar, mit denen man kein so leichtes Spiel haben wird... Man hatte also allen Grund, sich zu fragen, wie das enden werde, ohne daß die Wahrscheinlichkeit zu stark darunter litte....

[339] Plötzlich stürzt ein Trupp Kosaken auf die Bühne. Eine höchst unerwartete Wendung...


Plötzlich stürzte ein Trupp Kosaken auf die Bühne. (Seite 340.)

Herr Cascabel hat wirklich nichts versäumt, um dieser Vorstellung außerordentlichen Glanz zu verleihen; seine Figuranten sind vollzählig. Gendarmen oder Kosaken, das ist alles eins! Im Nu sind Ortik, Kirschef und ihre sechs Gefährten zu Boden geworfen, gebunden und das um so leichter, als ihre Rolle sie verpflichtet, sich überwältigen zu lassen...

Aber plötzlich ertönt ein Ruf:

»Ah! nicht mich, wenn's gefällig ist, brave Kosaken!... Die dort so viel ihr wollt!... Ich... ich bin nur als Lacher beteiligt!«

Und wer spricht also?... Es ist Fracassar, oder eigentlich Herr Cascabel, der sich mit freien Armen erhoben hat, während die regelrecht gefesselten Figuranten sich in den Händen der Polizei befinden.

Das war Cäsar Cascabels großartiger Einfall gewesen! Nachdem er Ortik und seine Mitschuldigen gebeten, die Rolle der Räuber zu übernehmen, hatte er sich mit den Behörden von Perm in Verbindung gesetzt und sie davon verständigt, daß sie einen prächtigen Fang machen könnten. Das erklärt das rechtzeitige Erscheinen des Kosakentrupps am Schlusse des Stückes.

Ah! dieser prächtige Streich war gelungen, in hohem Grade gelungen! Ortik und die übrigen waren allen Ernstes von den Agenten der Behörde erwischt worden.

Aber Ortik hat sich aufgerichtet und ruft, auf Herrn Cascabel deutend, dem Anführer der Kosaken zu:

»Ich denunziere diesen Mann!... Er hat einem politischen Sträfling zur Rückkehr nach Rußland geholfen!... Ah, du hast mich ausgeliefert, verfluchter Gaukler; nun liefere ich dich meinerseits aus!«

»Nur zu, mein Freund,« antwortete Herr Cascabel ruhig, indem er mit den Augen blinzelte.


»Das ist er!« sagte Ortik. (Seite 340.)

»Und der Sträfling, der aus der Festung Jakutsk Entflohene, den er hergebracht hat, ist der Graf Narkine!«

»So ist es, Ortik!«

Cornelia, ihre Kinder und die herbeigeeilte Kayette standen wie vom Donner gerührt!...

Da erhebt sich einer der Zuschauer... Es ist Graf Narkine.

»Dort ist er!« schreit Ortik.

»Jawohl! Graf Narkine!« antwortet Herr Sergius.

»Aber der amnestierte Graf Narkine!« ruft Herr Cascabel und bricht in schallendes Gelächter aus.

Welch eine Wirkung auf das Publikum! All diese der Dichtung des Stückes beigemischte Wirklichkeit war von der Art, die ruhigsten Geister zu [340] erregen! Es ist nicht einmal gewiß, ob ein Teil der Zuschauer nicht die Überzeugung mit sich forttrug, daß dieRäuber des Schwarzwaldes nie eine andere Lösung gehabt!

Seit die Familie Cascabel den Grafen Narkine an der alaskischen Grenze aufgenommen, waren dreizehn Monate vergangen, während deren er keinerlei Nachrichten aus Rußland erhalten hatte. Dieselben hätten ihm weder [341] bei den Indianern am Youkon, noch bei den Eingeborenen der Liakhossinseln zugestellt werden können. So ahnte er denn nicht, daß bereits vor sechs Monaten ein vom Zar Alexander II. erlassener Ukas jene politischen Sträflinge amnestiert hatte, welche sich in der Situation des Grafen Narkine befanden. Der Fürst, sein Vater, hatte ihm nach Amerika geschrieben, daß er nach Rußland zurückkehren könne, wo er seiner ungeduldig harre. Da er aber bereits abgereist gewesen, hatte der Graf nichts von diesem Briefe erfahren, und so war letzterer in Ermanglung eines Adressaten nach Schloß Walska zurückbefördert worden. Man begreift, welche Angst Fürst Narkine empfand, als er keine Nachricht mehr von seinem Sohne erhielt. Er wähnte ihn verloren... in der Verbannung gestorben. Seine Gesundheit litt darunter und war schon ernstlich gefährdet, als Herr Sergius im Schlosse eintraf. Welch eine Freude für den Fürsten Narkine, der fast daran verzweifelte, ihn jemals wiederzusehen!... Graf Narkine war frei!... Er hatte nichts mehr von der moskowitischen Polizei zu befürchten!... Und da er seinen Vater in seinem geschwächten Zustande nicht gleich nach dem Wiedersehen von neuem verlassen wollte, hatte er Herrn Cascabel jenen Brief gesandt, der ihm alles sagte und überdies sein Erscheinen im Permer Cirkus gegen Ende der Vorstellung versprach.

Da war Herrn Cascabel der bewußte triumphale Einfall gekommen und er hatte seine Maßregeln ergriffen, um Ortiks Bande am Schlusse des Stückes auszuliefern.

Als das Publikum von dem wahren Sachverhalt unterrichtet worden, brach es in stürmischen Jubel aus. Von allen Seiten erschollen Hurrarufe, während die Kosaken Ortik und seine Mitschuldigen abführten, die, nachdem sie so lange die Rolle von Räubern faktisch gespielt hatten, endlich – ebenfalls faktisch – für ihre Verbrechen büßen sollten.

Herr Sergius wurde sofort von dem Vorgefallenen unterrichtet, wie Kayette den gegen ihn und die Familie Cascabel ersonnenen Anschlag entdeckt hatte, wie sie den beiden russischen Matrosen in der Nacht vom sechsten Juli mit Gefährdung ihres Lebens heimlich gefolgt war, wie sie Herrn Cascabel alles erzählt und wie dieser endlich weder dem Grafen Narkine noch seiner Frau etwas davon sagen gewollt...

»Ein Geheimnis vor mir, Cäsar, ein Geheimnis!« sagte Frau Cascabel in vorwurfsvollem Tone.

»Das erste und das letzte, liebe Frau!«

Cornelia hatte ihrem Manne bereits verziehen und brach unwillkürlich in die Worte aus:

»Ah, Herr Sergius, ich muß Sie küssen!«

Dann sagte sie ganz verwirrt:

»Entschuldigen Sie, Herr Graf...«

[342] »Nein... Herr Sergius für euch, meine Freunde... stets Herr Sergius!... Und auch für dich, meine Tochter!« fügte er hinzu, indem er Kayette in seine Arme schloß.

15. Capitel
XV. Ende.

Sie ist beendet, die Reise des Herrn Cascabel, und glücklich beendet! Die Belle-Roulotte hat nur mehr Rußland und Deutschland zu passieren, um auf französischen Boden zu gelangen, und Nordfrankreich, um das Normannenland zu erreichen! Das ist allerdings noch eine lange Reise. Aber im Vergleich zu dem Wege von zweitausendachthundert Meilen, den sie bereits hinter sich hat, ist es nur mehr eine Spazierfahrt, eine einfache Spazierfahrt – »eine Fiakerfahrt!« sagte Herr Cascabel.

Ja! Die Reise ist beendet und günstiger beendet, als man nach so vielen Abenteuern zu hoffen gewagt hätte! Und nie hatte es eine glücklichere Lösung gegeben, – nicht einmal in jenem wunderbaren Stücke: »Die Räuber des Schwarzwaldes«, das doch einen für das Publikum und die Darsteller – mit Ausnahme Ortiks und Kirschefs – ungeheuer befriedigenden Abschluß gefunden. Letztere wurden wenige Wochen später gehenkt, während ihre Genossen in lebenslängliche Verbannung nach Sibirien wanderten.

Inzwischen trat die Trennungsfrage mit all ihren traurigen Folgen an die Familie heran. Wie würde man sie lösen?

Nun, auf sehr einfache Weise.

Als das Personal am selbigen Abend in der Belle-Roulotte versammelt war, sagte Graf Narkine:

»Meine Freunde, ich weiß, wie viel ich Ihnen schuldig bin und ich wäre ein Undankbarer, wenn ich es je vergäße!... Was kann ich für Sie thun?... Das Herz wird mir schwer bei dem Gedanken an eine Trennung!... Hören Sie!... Würde es Ihnen passen, in Rußland zu bleiben, sich hier niederzulassen, auf dem Besitztum meines Vaters zu leben?...«

Herr Cascabel, der auf einen solchen Vorschlag nicht vorbereitet war, antwortete nach kurzem Besinnen:

»Herr Graf Narkine...«

»Nennen Sie mich nie anders als Herr Sergius!...« sagte Graf Narkine. »Sie werden mir eine Freude damit machen!«

[343] »Nun denn, Herr Sergius, meine Familie und ich, wir sind sehr gerührt... Ihr Anerbieten beweist uns Ihre Zuneigung... Wir danken Ihnen sehr!... Aber da drüben... wissen Sie... liegt die Heimat...«

»Ich verstehe Sie!« antwortete Graf Narkine. »Ja!... ich verstehe Sie!... Und wenn Sie denn nach Frankreich, in Ihre Normandie zurückkehren wollen, so wäre ich glücklich, Sie in Ihrer Heimat ansässig zu wissen... in einem hübschen Landhause... mit einem Meierhofe und einigen Ländereien dabei!... Dort könnten Sie von Ihren langen Reisen ausruhen....«

»Glauben Sie nicht, daß wir ermüdet seien, Herr Sergius!« rief Herr Cascabel.«

»Hören Sie, mein Freund... reden Sie offen mit mir!... Hängen Sie sehr an Ihrem Gewerbe?«

»Ja... da es uns erhält!...«

»Sie wollen mich nicht verstehen,« sagte Graf Narkine, »und damit betrüben Sie mich! Wollen Sie mir die Befriedigung versagen, etwas für Sie zu thun?...«

»Vergessen Sie uns nicht, Herr Sergius,« antwortete Cornelia, »das ist alles, was wir von Ihnen verlangen, da wir Sie ja auch nie vergessen werden... weder Sie... noch Kayette...«

»Meine Mutter!...« rief das junge Mädchen.

»Ich kann nicht deine Mutter sein, mein teures Kind!«

»Warum nicht, Frau Cascabel«? wandte Herr Sergius ein.

»Aber wie könnte ich's denn?...«

»Indem Sie sie Ihrem Sohne zur Frau geben!«

Welche Wirkung diese Worte des Grafen Narkine hervorbrachten – gewiß eine größere Wirkung, als sämtliche Einfälle des Herrn Cascabel während seiner glänzenden Laufbahn erzielt hatten!

Fast verwirrt vor Glückseligkeit küßte Jean die Hände des Herrn Sergius, welcher Kayette an sein Herz drückte. Ja, sie würde Jeans Gattin werden und darum doch die Adoptivtochter des Grafen bleiben! Und Herr Sergius würde ihn bei sich behalten und ihm eine Anstellung in seinem Hause geben! Hätten Herr und Frau Cascabel jemals von einer schöneren Zukunft für ihren Sohn zu träumen vermocht? Davon aber wollten sie alle beide nichts hören, daß sie vom Grafen Narkine etwas anderes als die Versicherung seiner Freundschaft annehmen sollten. Sie hatten ein gutes Gewerbe; sie würden es auch weiter betreiben...

Da trat der junge Xander vor und sagte mit etwas bewegter Stimme, aber mutwillig blitzenden Augen:

»Wozu, Vater?... Wir sind reich und brauchen nicht mehr für unseren Lebensunterhalt zu arbeiten!«

[344] Und der Junge zog triumphierend den Goldklumpen aus der Tasche, den er in den Wäldern des Kariboo aufgelesen hatte.

»Wo hast du das gefunden?« rief Herr Cascabel, indem er nach dem kostbaren Stein griff.

Xander erzählte den Hergang.

»Und du hast uns nichts davon gesagt?« rief Cornelia. »Und du vermochtest dieses Geheimnis zu bewahren?«

[345] »Ja, Mutter... obgleich es mir nicht leicht wurde!... Ich wollte euch damit überraschen, euch erst nach unserer Ankunft in Frankreich mitteilen, daß wir reich seien!«

»Ach, das treffliche Kind!« rief Frau Cascabel. »Nun, Herr Sergius, da haben wir ein Vermögen, das wie gerufen kommt!... Sehen Sie nur!... Es ist wirklich ein Goldklumpen... man braucht ihn bloß gegen klingende Münze umzutauschen...«


Sie besuchten sie jedes Jahr. (Seite 347.)

Graf Sergius nahm den Kiesel, er betrachtete ihn mit Aufmerksamkeit, er wog ihn in der Hand, um seinen Wert zu bemessen, er prüfte die kleinen glänzenden Punkte darauf.

»Ja,« sagte er, »es ist wirklich Gold und wiegt mindestens zehn Pfund...«

»Wie viel ist es wert?« fragte Herr Cascabel.

»Zwanzigtausend Rubel.«

»Zwanzigtausend Rubel!...«

»Aber... unter der Bedingung... daß Sie ihn umtauschen... und zwar sofort umtauschen!... Sehen Sie... so!«

Und als würdiger Schüler Cäsar Cascabels that Herr Sergius einen so geschickten Taschenspielergriff, daß er den berühmten Goldklumpen durch eine Brieftasche ersetzte, die sich unversehens in den Händen des jungen Burschen befand.

»War das geschickt!« rief Herr Cascabel. »Ich sagte Ihnen ja, daß Sie erstaunliches Talent besitzen...«

»Was befindet sich in dieser Brieftasche?« fragte Cornelia.

»Der Kaufpreis für den Goldklumpen... O! nicht mehr als dieser... aber auch nicht weniger!« antwortete Herr Sergius.

In der That enthielt dieselbe einen Check von zwanzigtausend Rubeln auf die Gebrüder Rothschild in Paris.

Was war der Goldklumpen wert? War es wirklich Gold oder nur ein gewöhnlicher Kiesel, was der junge Xander aus dem kolumbischen Eldorado mitgebracht und so sorgfältig gehütet hatte? Diesen Punkt hat man niemals aufzuklären vermocht. Wie dem auch sei, Herr Cascabel mußte wohl oder übel dem Grafen Narkine aufs Wort glauben und hielt sich dafür an die Freundschaft des Herrn Sergius, welche er höher schätzte als den ganzen kaiserlichen Schatz Seiner Majestät des Zars!

Die Familie Cascabel blieb einen Monat lang in Rußland. Es war keine Rede mehr von dem Jahrmarkt zu Perm, noch von dem zu Nischni. Mußten doch die Eltern und Geschwister der Hochzeit Jeans und Kayettens anwohnen, welche mit großem Gepränge auf Schloß Walska gefeiert wurde!... Und niemals waren junge Eheleute von so vielen glücklichen Menschen umgeben.

[346] »Ach, Cäsar!... wer hätte das gedacht!...« sagte Cornelia, als sie aus der Schloßkapelle trat.

»Ich!...« antwortete Herr Cascabel einfach.

Acht Tage später nahmen Herr und Frau Cascabel, Napoleone und Clou-de-Girofle – den man nicht vergessen darf, da er wirklich schon zur Familie gehörte – vom Grafen Narkine sowohl, als von Jean und Kayette Abschied. Sie reisten nach Frankreich, aber per Eisenbahn, und führten die Belle-Roulotte als Eilgut mit sich, wenn's gefällig ist!

Die Rückkehr des Herrn Cascabel in seine Normandie war ein Ereignis. Cornelia und er wurden Großgrundbesitzer in der Umgegend von Pontorson und legten eine hübsche Mitgift für Xander und Napoleone zurück. Graf Narkine, Jean, der sein Sekretär geworden, und Kayette, die glücklichste der Frauen, kamen sie alljährlich auf »ihrem Schlosse« besuchen und wurden stets mit Jubel empfangen. Selbst die Dienstleute des Herrn Cascabel gerieten zu solchen Zeiten außer sich vor Freude.

Dies ist die treue Schilderung jener Reise, welche man zu den erstaunlichsten aller merkwürdigen Reisen zählen kann. Wie man sieht, endete sie gut!... Wie sollte es aber auch anders sein, wo es sich um eine so wackere Familie wie die Familie Cascabel handelte!


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TextGrid Repository (2012). Verne, Jules. Romane. Cäsar Cascabel. Cäsar Cascabel. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7516-3