Alexander von Ungern-Sternberg
Braune Märchen

[9] Vorwort.

Diese kleine Sammlung Märchen hat die Nachsicht des geneigten Lesers und Beurteilers hauptsächlich aus zwei Gründen zu beanspruchen. Erstlich, daß diese Spiele eines fesselfreien Scherzes in einer Zeit erscheinen, die für ihr Teil ernste und große Gegenstände zu bearbeiten hat, zweitens, daß sie einem, für manche Leser, wohl zu fessellosen Scherze sich hingeben. Was den ersten Grund betrifft, so kann vielleicht gerade der Gegensatz diesem Büchlein behilflich sein, und die »Gedankenmüden« der Zeit geben sich, eben weil ihr Tagewerk der Ernst ist, dem Scherze für ein Mußestündchen des Abends hin. Was aber den zweiten Grund betrifft, so sei es erlaubt, hierüber einige Worte zu sagen.

Wenn wir der Entwicklungsgeschichte dieser Gattung der Poesie, nämlich des Märchens, folgen, so gewahren wir, daß gerade die Zeiten der Produktion die günstigsten waren, die ihr die meisten Freiheiten gewährten. [9] Das Märchen ist eine ungemein geschmeidige Dichtungsform; sie kann dienen, den einfachen Sinn des Kindes zu erquicken, sie kann aber auch dienen, den feinsten Schmelz über die Produkte der Zivilisation zu bringen. Wir sehen sie überall angewendet, wo keine andere Dichtungsart mehr hinreicht. Mit Bewunderung sehen wir sie in der Hand des Politikers zu einer so haarscharfen und vergifteten Waffe werden, daß ganze Reiche und Staatssysteme den Stich empfinden; wir sehen aber auch mit nicht geringerer Bewunderung diese selbe – anscheinend so harmlose – Dichtungsart der Schönheit und dem Reiz noch einen, und zwar den vollendeten krönenden Schmuck hinzufügen. –

Wir Deutschen haben von jeher das Märchen liebgehabt, allein wir haben vorzüglich nur immer eine Richtung desselben gepflegt, es ist dies das einfache Naturmärchen, wie es in den Sammlungen der Gebrüder Grimm zu finden ist. Es ist nicht zu leugnen, daß ein tiefer und gleichsam unerforschlicher Bronnen in diesen Naturmärchen enthalten, und es daher allen Völkern und allen Zeiten wert bleiben wird. Allein man würde dieser lieblichen Tochter der Mutter Poesie sehr unrecht tun, wenn man ihr zumuten wollte, immer nur in diesem Gewande zu erscheinen. Sie hat deren eine Menge. An dieses Naturmärchen anbauend haben [10] Tieck und Brentano schon verfeinerte, kultiviertere Märchen gegeben, der erstere mischte in den Volkston, den er beizubehalten strebte, die mittelalterlichen Klänge der Andacht, des Geheimnisvollen, der Sage; der zweite tat das rein Skurrile und Phantastische hinzu. Tiecks Märchen sind von einer großen Schönheit; einige derselben werden in einer unvergänglichen Jugend leben; so z.B. der blonde Eckbert u.a. Von dem Naturmärchen sich völlig lossagend, gab Hoffmann seine Phantasiegebilde, indem er in das Gebiet des Märchens das Gespenstische und Nächtliche hineinmischte. Neuerdings haben wir von dem Deutschdänen Andersen Märchen erhalten, die sich einen Ruf erworben und gleichsam als Mustermärchen angepriesen worden sind. Sie haben als Grundton das »Kindlich-Tändelnde« und gefallen sich in einer etwas faden und läppischen Unschuldswelt. Ihre edlen Züge haben sie in einem schalkhaften Humor und in der leichten Skizzierung und Zierlichkeit der Bilder. Allein dem gesunden Sinne des Kindes behagen sie nicht, und das wahrhaft Kindliche geht ihnen ab. Wenn wir nun diese Folge der Verwandlung des Märchens betrachten, so bemerken wir, daß zwei wesentliche Formen fehlen und beharrlich wegbleiben, es sind dies »das politischsatirische« und das »frivol-witzige« Märchen. Beide [11] Gattungen kultivierte das achtzehnte Jahrhundert, und mit großem Glück. In der ersteren war bekanntlich Swift hervorragend, in der zweiten Voltaire, Diderot, Hamilton, Crebillon und noch manche andere. Es ist die Frage, ob wir Deutschen, bei unserem jetzigen politischen Aufleben, nicht einen Swift erhalten werden; ebenso könnte es sein, daß, wenn die Prüderie, die auf unserer schöngeistigen Literatur wie ein Alp bis jetzt gelegen, zu weichen beginnt, wir auch das frivolwitzige Märchen bekommen. Zu wünschen wäre es. Allein, wie gesagt, der Alp muß erst vollkommen weichen. Man wird sich darüber verständigen müssen, was wahre Sittlichkeit, und was nur deren Scheinbild ist. Wir haben in neuerer Zeit Romane erscheinen sehen, die das Wort vermeiden, aber die Sache geben, und die Sache um so stärker geben, je sorgfältiger sie das anstößige Wort zu vermeiden verstanden. Ist damit der echten, wahren Sittlichkeit gedient, oder ist nur der Heuchelei, der Prüderie Vorschub getan? Und bis zum Vermeiden des Worts kann es eben auch nur eine Zensur bringen. Die Poesie ist allmächtig, sie fordert gebieterisch die Freiheit, die ihr zukommt. So fordert sie denn auch die Freiheit, den sinnlichen Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern so zu schildern, wie die Natur ihn ihr vorbildet. Besteht aber die [12] Poesie auf ihr gutes Recht, wenn sie ernsthaft spricht, so wird sie ebenfalls, und nicht minder darauf bestehn, wenn sie scherzt. – Sie wird immer das sagen wollen, was einen wahrhaften Scherz, nicht einen künstlichen, in sich birgt, und gerade wieder dieses sinnliche Verhältnis unter den Geschlechtern gibt wie dort zum Ernst, hier zum Scherz die willkommenste und ungesuchteste Gelegenheit. Man muß auf den »Nerv« des Lebens zu tasten verstehen: aus dieser Quelle und immer nur aus dieser sprudelt die ewige Jugend dem Leben, also auch dem Abbild des Lebens, der Poesie.

Wenn wir auf diese Sätze – als auf dem Fundament unserer Ästhetik – beharren, so kommt es uns nur zu, mit denen uns zu verständigen, die die konventionellen Anstandsformen nicht beleidigt wissen wollen. Diesen rufen wir nun eben zu: »Gerade diese konventionellen Anstandsformen müssen erweitert werden!« So wie sie bis jetzt sind, schnüren sie der Poesie den Hals zu. Wenn die echte, wahre Sitte nur nicht beleidigt wird, was kümmert es uns, ob die falsche Sitte, die prüde konventionelle Form, verletzt wird. Im Interesse der Poesie, des wahren, freien Scherzes treten wir in die Schranken. Hätte ein Goethe die römischen Elegien, hätte ein Ariost seine Märchen, ein Boccaz seine Novellen dichten dürfen, wenn jene konventionellen [13] Anstandsformen nicht zum Segen der Poesie und der Menschheit immer und immer wieder über den Haufen geworfen würden, wenn sie sich zu unverschämt geltend machten? Und hat die wahre Sittlichkeit bei diesem Triumph der Poesie irgendwie gelitten? Gewiß nicht! – Seit einiger Zeit hört man mit bedenklicher Miene, wenn von einem neuen Buche die Rede ist: »Aber wird auch eine Mutter es ihrer Tochter in die Hand geben dürfen?« Es klingt fast, als wenn nur Mütter und Töchter in der Welt existierten. Gibt es nicht auch Männer, ihr Poeten? Und werdet ihr nicht endlich die Männer völlig von der Literatur wegscheuchen, wenn ihr bei diesen kläglichen, prüden und unwahren Darstellungen beharrt? Wehe der feigen Posie, die sich des Anteils am Beifall der Männer begibt! Und dann sind ja auch Frauen da, edle Frauen, die, das Leben kennend, mit keuschem Sinn einem freien Scherze gern sich hingeben. Sind jene Männer, sind diese Frauen für euch außerhalb der Literatur? Dann seid ihr zu beklagen, und eure Bücher sind's noch mehr. Ihr werdet beide schnell vergessen sein. –

Was diese vorliegenden Märchen nun betrifft, so machen sie keine Ansprüche. Will man sie für frei spielende Geister der Muse gelten lassen, so wird man ihnen ein Stündchen der Muße gern vergönnen. Sie[14] dienen, ohne alle weitere Absicht, nur freier Heiterkeit. Bekannte Märchenkörper sind hier und da genommen, aber ihnen besondere Kleidchen umgehängt; die meisten Produktionen sind jedoch als eigne Erfindungen zu betrachten.

[15] [17]Der gläserne Löffel.

Es war einmal ein Bäcker, der hatte eine wunderschöne Tochter, die war sechs Jahre alt und hieß Fräulein Adeline Honigkuchen. Man konnte nichts Schöneres sehen, als dieses allerliebste Kind. Sie war so fein und zierlich gebaut, als hätte ein Künstler ihr kleine Glieder aus Elfenbein gedrechselt, und der Ausdruck ihres Gesichtes war die Unschuld und Fröhlichkeit selbst. Wenn der Bäcker buk, stand sie gewöhnlich am Troge, und wenn es grade recht feines Backwerk gab, so teilte der Vater der Tochter etwas von dem Teige mit, und sie fertigte ihrerseits was sie wollte, Brezeln, Sterne, Blumen, Körbchen, Vögel. Einstmals sagte sie: »Nun will ich aber mein Meisterstück machen, damit die ehrliche Bäckerzunft sieht, daß ich alle Tage, wenn es mir gefällt, in ihre Reihen treten kann.« »Nun, was wird's denn werden?« fragte der Vater begierig. »Ich will mir einen Mann backen«, entgegnete das kleine Mädchen. [17] Und sogleich fing sie an, zog den Teigklumpen in die Länge, machte dann bis in die Hälfte, der Länge nach einen Einschnitt, so daß es zwei stattliche Beine gab, und die Brust machte sie hoch und breit, so wie sie es an ihrem Vater sah, und das Gesicht rund und voll. Als der Mann im Groben fertig dalag, ging sie mit besonderer Mühe an die Einzelheiten. Sie gab ihm Haare von dem feinsten Mandelkern in unbeschreiblich feine Streifchen geschnitten, in einen zierlichen Scheitel geteilt, so daß rechts etwas Locken und links ein ganzer Büschel sich zusammenfanden. Kleine getrocknete Weinbeeren machten die schwarzen Augen, ein Mantelschnitt die Nase, und eine rote Hagebuttenhälfte den Mund. Keine Schnittchen Mandelkern bildeten auf der Operlippe einen blonden Bart. Die Ohren setzte sie etwas leichtfertig an die Seiten des Kopfes an, denn für die Ohren interessierte sie sich nicht sehr, ebensowenig Sorge machte ihr der ganze übrige Körper. »Er muß ja doch Kleider anziehen,« sagte sie, »also wär's unnütz, wenn ich viel an dem Mühe verschwendete, was man doch nicht sieht. Eins, zwei, – drei! und mein Mann ist fertig.« Sie ging nun zum Vater und bat ihn, daß er ihren Mann in den Ofen schieben möchte, denn sie werde noch heute abend mit ihm irgendwo in Gesellschaft gehen, und da müßte [18] er notwendig schon gar sein, und fix und fertig, und nicht mehr heiß, damit man sich nicht die Finger an ihm verbrenne. Der Vater nahm den Mann, betrachtete ihn mit Lächeln und sagte: »Du hast dir ja einen recht hübschen Jungen gemacht!« – »O, er ist nicht übel!« entgegnete das Kind – »und wie wird er erst schmecken! Ich werde Nachbars Tinchen auch ein Stück von ihm geben.« – »Ei, das würdest du nicht tun, wenn er lebte!« sagte der Bäcker. »Kein Weib teilt ihren Mann mit einem andern Weibe.« Und als der Bäcker dies sagte, streute er schönen, weißen Zucker auf den Mann und schob ihn in den Ofen. Adeline setzte sich an den Ofen und wartete ruhig, bis er fertig sein würde. Nebenbei dachte sie an die Worte ihres Vaters und rief schmerzlich: »Ja, wenn er lebte! Aber er lebt nicht! Wenn er lebte, würde ich ihn aufs innigste liebes und gewiß nicht das kleinste Stück von ihm weggeben.«

»Fräulein Adeline Honigkuchen!« rief hier plötzlich eine feine Stimme.

»Was ist's?« fragte sie erstaunt.

»Machen Sie gefälligst ein wenig die Ofentür auf. Es ist hier innen gar zu heiß, ich möchte etwas Luft schöpfen.«

Adeline sprang hinzu und riß die Tür auf, und heraus trat, etwas gebückt, damit er sich oben an der [19] berußten Wand nicht den Kopf einstoße, ein junger schmucker Herr von etwa siebzehn Jähren. Er ergriff des Bäckers abgelegte Schürze, band sie sich vor und machte dann gegen das junge Mädchen eine sehr zierliche Verbeugung.

»Ei, wer sind Sie?« fragte diese.

»Das ist grausam«, entgegnete er, stockend und errötend. »Sie haben mich geschaffen und kennen mich jetzt nicht mehr.«

Als er dies sagte, wischte er sich mit der Schürze des Bäckers eine Träne aus den hübschen dunkeln Augen, und der purpurrote Mund verzog sich unter dem zierlich gekräuselten, blonden Schnurrbart zum Weinen.

Adeline weinte sogleich mit. Sie konnte niemand weinen sehen, ohne sogleich mitzuweinen.

»Aber was ist denn das alles?« fragte sie endlich. »Ich habe einen Mann aus Zuckerbrezelteig in den Ofen geschoben.« –

»Nun ja doch!« rief der junge Mann immer noch weinend. »Das bin ich ja! Der alte häßliche Ofen hier steht auf einem Platze, wo vor grauen Jahren einst der Palast einer sehr mächtigen Fee gestanden hat. Diese hat den Ausspruch getan: was an dieser Stelle gewünscht wird, soll in Erfüllung gehen; und Sie, mein [20] wunderschönes Fräulein Honigkuchen, haben gewünscht, daß ich leben soll und – ich lebe und bete sie an!«

Hiermit sank er auf ein Knie und berührte mit seinen Lippen die Spitze des roten Pantöffelchens, das die kleine Bäckertochter an ihren kleinen Füßchen trug.

»O Herr!« – rief diese ganz beschämt – »aber wie – wie heißen Sie?« –

»Das haben Sie zu bestimmen, mein Fräulein«, entgegnete er voll Ehrerbietung und immer noch auf dem einen Knie liegend.

»Ach seien Sie still – wie soll ich das bestimmen? Mein Herr, Sie sind gar zu spaßhaft! I je! und da haben Sie ja die Schürze meines Vaters um den Leib! Hören Sie, Männchen, lassen Sie das bleiben. Der Papa ist sehr eigen mit seinen Sachen und liebt nicht, daß etwas von dem Orte, wo er es hingelegt, weggenommen wird. Ich will Ihnen hier mein seidnes Schürzchen geben. Da!«

Er legte mit Vergnügen das seidne Schürzchen um.

»Da ist noch etwas Zuckerstaub auf Ihrer Nase!« rief sie. »Kommen Sie her, ich puste es weg.«

Und er legte seinen Kopf in ihren Schoß, und sie blies ihm die Zuckerrestchen weg, die hier und da auf der Nase, den roten Wangen und den Hagebuttlippen zurückgeblieben waren.

[21] »Können Sie mit diesen Lippen, die ich Ihnen gemacht, auch küssen?« fragte sie treuherzig.

»Warum nicht?« antwortete er lächelnd. »Probieren Sie's mal.«

Und sie gab ihm einen herzhaften Kuß, bei welcher Gelegenheit sie bemerkte, daß der hübsche, blonde Bart so weich wie Seide war, und gar nicht so stach wie des Vaters Bart, wenn der sie manchmal küßte.

»Jetzt gehen Sie, kaufen Sie sich Kleider«, hob sie an; »hier ist das Geld aus meiner Sparbüchse. Der Nachbar nebenan verkauft Kleider. Sie können sagen, Sie hätten im Flusse bei der Mühle gebadet, und man hätte Ihnen die Kleider gestohlen. Nun, haben Sie mich verstanden, Sie, Baron Mandelkern?«

»Erlauben Sie mir, mein engelschönes Fräulein,« fragte der junge Mensch verlegen, »daß ich diesen Namen behalte?«

»Welchen Namen?«

»Mandelkern.«

»Ei, meinethalben!« sagte das kleine Mädchen lachend. »Ich hab' ihn zwar so hingesprochen, ohne allen Grund, allein, gefällt er Ihnen, so behalten Sie ihn. Nun werde ich Sie wie unsern hübschen ersten Gesellen nennen, nämlich Fritz. Also Fritz Mandelkern – auf Wiedersehn!«

Und damit klatschte sie lustig in die Hände und[22] hüpfte fort, indem sie vor sich hin rief: »Jetzt hab' ich einen hübschen Mann, der heißt Fritz Mandelkern, und ich hab' ihn mir selbst gemacht! Das können nicht alle Frauen von ihren Männern sagen. Wenn er mir einmal böse Streiche macht, werde ich ihm zurufen: Hör mal du! Du hast mir an Zuckerteig, Mandeln und Rosinen soundso viel gekostet – sei artig; oder ich sage es dem Vater, was für ein Patron du bist, und er wirft dich wieder in den Backtrog und backt dich um, so wie wir es mit den altgewordnen Brezeln tun, die niemand mehr haben mag.«

Aber Mandelkern machte keine bösen Streiche, er war der artigste, gefälligste junge Mann wohl zwanzig Meilen in der Runde. Auf den Wink gehorsam, und der kleinen Adeline wie ihr Schatten auf Tritt und Schritt nachfolgend. Das war aber der kleinen Bäckertochter nicht recht und sie sagte eines Tages: »Geh in die Fremde. Ich werde dir ein Stück Geld mitgeben, und du kannst dein Glück versuchen. Hier will es nicht recht passen, daß du mir immer so zur Hand bist. Die Leute fragen, wer du eigentlich seiest, und wo du hergekommen. Diese Fragen bin ich überdrüssig. Wenn ich ihnen auch hundertmal sage, es ist ein Vetter vom Lande, so kommen sie gleich mit der Frage: ja, von welchem Lande? Und warum hat er so schwarze [23] Augen und dabei einen so blonden Bart? Und warum kann er keinen Backofen ansehen, ohne daß ihm schaudert, und warum ist dies, und warum ist das? – Kurz, es ist besser, du gehst. In der Fremde kannst du wie ein Prinz auftreten, denn ich gebe dir alles Geld, was ich erspart seit vielen Jahren. Vielleicht kannst du eine reiche Partie machen, was gar nicht so übel für dich wäre.«

Und so zog der junge Mensch in die Fremde.

Nach einer Weile kam er wieder und rief traurig: »Es geht nicht. Ich werde ewig nicht mein Glück machen!«

»Und weshalb nicht?« fragte sie.

Da stand er auf und rief zornig:


»Adeline Honigkuchen,
Soll ich ewig etwas suchen?
Adeline Honigkuchen!
Soll erzählen ich mit Fluchen:
Adeline Honigkuchen,
Hat gemacht mich zum Eunuchen!«

»Was ist das, ein Eunuch?« fragte die kleine Bäckertochter ganz erstaunt.

»Ach, ich kann Ihnen das nicht erklären, mein liebstes Fräulein«, entgegnete er wehmütig. »Kurz gesagt, wie [24] Sie mich schufen, haben Sie aus unbegreiflicher Nachlässigkeit etwas an mir vergessen.«

»Ei, was denn? Ich habe doch an alles gedacht.«

»Nicht an alles.«

»Und an was hätte ich nicht gedacht?« fragte sie.

»Gräßliches Schicksal!« rief er, die Hände ringend und außer sich fortstürzend. »Sie versteht mich nicht, und mir verbietet das Zartgefühl, mich deutlicher auszudrücken. Und wenn ich es ihr sagte, wer weiß, ob sie dann selbst mich verstände; sie ist so verzweifelt unschuldig.«

Und drei Nächte kam er und sang vor Adelinens Fenster, halb zornig, halb wehmütig:


»Adeline Honigkuchen
Soll ich ewig etwas suchen?«

»Ich weiß nicht, was du suchest,« rief sie ganz aufgebracht, und warf das Fenster zu. »Alberne Zuckerteigpuppe, geh mir aus den Augen und komm mir nie wieder in mein Haus.«

»Alberne Backtrogprinzeß!« schrie er dagegen. »Du selbst bist an deinem und meinem Unglück schuld. Einfältiges Naseweis! nimmt sich vor, Männer zu schaffen und vergißt an ihnen das Wichtigste. Hab ich jemals eine so dumme Gans gesehn! Pfui, zum Kuckuck! Ich [25] hätte die Mädchen auf dem Lande verständiger mir gedacht.«

Damit gingen die beiden bitterbös voneinander und sahen sich nie wieder.

Zwei Jahre drauf lebte in der benachbarten Residenz ein sehr reicher, schöner Mann, der Herr Graf Mandel von Mandelkern, der freite um die jüngste Tochter des Königs, und erhielt sie auch. Alle Welt sagte: »Was für ein schönes Paar!«

Die Hochzeitnacht kam, da blieb der Herr Graf weg. Die Prinzessin Braut schickte nach ihm, und der Page brachte die Antwort: »Der Herr Graf haben unleidliches Zahnweh und lassen sich entschuldigen.«

Die Nacht drauf brachte der Page die Antwort: »Der Herr Graf haben ganz fürchterliches Nasenbluten und lassen sich entschuldigen.«

Die Prinzessin dachte: So soll es die dritte Nacht sein, wo ich endlich unter die Haube komme; aber auch in der dritten Nacht ließ der Graf sich entschuldigen, und der Page brachte die Antwort: »Daß er heftiges Leibschneiden bekommen, well er unvorsichtigerweise am Mittag einen Melonenkern verschluckt.«

Da wurde die Prinzessin böse, und der König wurde böse, und der ganze Hof wurde böse. Der Graf erfuhr unter der Hand, daß man beabsichtige, ihn mit Schimpf [26] und Schande aus dem Lande zu jagen, wenn er fortführe, an Zahnweh, Nasenbluten und Leibschneiden zu leiden.

Der Graf Mandel von Mandelkern war in einer sehr üblen Lage. »Du dumme Bauerndirne! Du Kröte! Du Seifenschaumgesicht!« rief er und ballte die Faust nach dem Orte zu, wo der Bäcker wohnte. Aber sein Schimpfen half ihm zu nichts und machte nur, daß seine zarte Hautfarbe eine fleckige, unangenehme Röte annahm. Er setzte sich darum hin, beruhigte sich wieder und beschäftigte sich, seinen blonden Bart zu kräuseln und seine goldgelben Locken in gehörige Ordnung zu legen. Da trat sein Kammerdiener herein und meldete, »es sei draußen eine alte Bettlerin, die eine kleine Gabe fordere.«

»Ei,« rief der Graf unwillig, »sag ihr, ich gebe ihr, was ich nicht habe.«

Der Diener ging hinaus und kam mit der Antwort wieder, »die Alte bedanke sich, sie hätte es nicht nötig, allein sie wolle dem Herrn Grafen schenken, was sie nicht habe.«

Mandelkern sprang auf und rief: »Haltet sie fest. Bringt sie herein! Das ist eine kostbare Person! Ich werde sie bei ihrem Wort halten. Sie soll mir aus der Patsche helfen.«

[27] Aber die Alte war fort. Niemand mußte sie zu finden. Der Graf Mandel von Mandelkern war außer sich, er ließ in die Zeitungen setzen: wer ihm diejenige Person brächte, die ihm schenken wolle, was sie selbst nicht habe, solle eine Tonne Goldes erhalten.

Jedermann war über diesen seltsamen Aufruf befremdet. Wie kann man schenken, was man nicht hat? fragten sich die Leute. Der Herr Graf muß verrückt sein. Wir begreifen es nicht.

Und die Prinzessin begriff es nicht, und der ganze Hof begriff es nicht.

Der Graf, da die Bettlerin nicht zu finden war, wurde schwermütig und trieb sich ganze Tage und Nächte lang in den Wäldern und in der Einöde herum. Eines Abends betrat er einen finstern Wald, von dem die Sage ging, daß es darin nicht geheuer sei, und daß Zauberer und Hexen daselbst hausten. Dem Grafen war es ganz gleichgültig. Das Leben war ihm zur Last; wenn er die Bettlerin nicht fände, wollte er sterben.

Mitten im Walde stand eine Hütte, daraus schimmerte ein Licht, und ein Gesang tönte hervor. Dieser Gesang lautete:


Ich bin die Frau von Lumpenstich
Und lebe hier ganz königlich.
[28]
Die Flöhe sind mir Hofmamsellen.
Die Mäus' hab'n Kammerherrnstellen,
Mein Kater
Ist Intendant vom Hoftheater.
Um acht Uhr abends tanzen nett
Die Mücken mir ein Hofballett;
Dann gibt's ein Feuerwerk, ein Kranz
Irrlichter rings im Feuertanz,
Mein maître de plaisir,
Der grüne Frosch, bereitet's mir;
Dann geh' beim Quinkelieren
Der Unken ich am Teich spazieren.
Zu Nacht gibt es Souper und Schmaus
So ruh' ich von dem Tagwerk aus.

Als die Bewohnerin der Hütte dies gesungen hatte, trat sie heraus, um die Nachtkühle zu genießen, und da erkannte der Graf mit großer Freude, daß er die Bettlerin vor sich habe, denn der Diener hatte sie ihm so genau beschrieben, daß er unmöglich auch nur einen Augenblick zweifelhaft sein konnte. Die Frau von Lumpenstich ihrerseits erkannte ihren Gast ebenfalls, gab sich aber das Ansehen, als wäre er ihr wildfremd. Beide machten einander eine sehr anständige Verbeugung, und Frau von Lumpenstich nötigte den jungen Mann, in die Hütte zu treten.

[29] »Mit wem hab' ich die Ehre?« – fragte der Graf.

»Frau von Lumpenstich ist mein Name.«

»Ach – Madame; Sie gehn manchmal betteln?«

»Ja, mein Herr Graf, zu meinem Vergnügen. Ich habe nun einmal diese Passion.«

»Genieren Sie sich nicht, meine Gnädigste«; entgegnete der Graf. »Jeder von uns hat seine Liebhabereien. Waren Sie nicht auch schon bei mir?«

»Es ist möglich!« bemerkte die Dame. »Wenn ich einmal auf meiner Wanderung bin, kehre ich bald in dieses, bald in jenes Haus ein.«

»Und boten mir etwas an, was Sie selbst nicht besaßen?«

»Ganz recht; ich bot Ihnen Reichtum, und den besitze ich selbst nicht; und Sie boten mir an, was Sie selbst nicht besitzen, nämlich Armut, und da bemerkte ich, daß ich die nicht brauchen könne.«

»So ist's nicht gemeint, alte Hexe!« rief der Graf Mandelkern, jetzt in hellen, lichten Zorn ausbrechend. »Entweder du gibst mir, was ich, wie du weißt, nicht habe, oder du hast deine letzte Stunde gelebt!«

Damit stürzte er sich auf sie, faßte sie an der Kehle und schüttelte sie so gewaltig, daß sie auf der Stelle des Todes zu sein vermeinte. »Laß los! laß los, Ungeheuer!« schrie sie. »Ich will sehen, was sich in meiner Rumpelkammer für dich findet.«

[30] »Ah – nun sprechen Sie vernünftig, Frau von Lumpenstich«, sagte Mandelkern, die Kehle der Alten freilassend.

Sie nahm ihren Bund Schlüssel und schloß eine kleine Kammer auf, durch deren Tür sie und Mandelkern gebückt eintraten. In dieser Kammer lag eine Menge des seltsamsten Krams durcheinander. Alte Schränke, die auf drei Beinen standen, und deren Türen lose in den Angeln hingen, zeigten im Strahl der Lampe, die die Alte in der Hand hielt, ihre schwarze, von Würmern zerfressene Kruste. Morsche Koffer und halbzerfallene Kisten ließen einen wirren Wust von Lumpen aller Art blicken, die, wenn man sie anrührte, einen modrigen Dunst aushauchten. Auf dem Boden standen Spinnräder, die längst nicht mehr in Gang zu bringen waren, und neben diesen Gerüste und Maschinen, deren Zweck niemand erriet. Sie sahen alt und grau aus, wie alles, was in dieser Kammer stand, aber doch leuchtete noch hier und da ein Messingbeschlag oder ein kleines Stück eingelegten Glases. Auch Teller und Schüsseln standen da, von einer Form, wie man sie nirgends sah.

»Ei!« rief Mandelkern; »hier werd' ich doch nicht finden, was ich brauche.«

»Geduld, mein Sohn – Geduld!« entgegnete die Alte. [31] »Man sieht oft einem Dinge nicht an, wozu es gut ist. Wie gefällt euch zum Exempel dieser Löffel? Aber nehmt ihn in acht, laßt ihn nicht fallen. Ihr seht, er ist von Glas.«

»Ich seh' es; und dabei ist er ziemlich plump gearbeitet, mit einem dicken Stiele«, antwortete Mandelkern.

»Hasch – hasch!« rief die Alte, indem sie einen Sprung tat. »Seht, da habt Ihr ihn fallen lassen.«

Mandelkern fing den Löffel im Schoße auf, und als er ihn fortnehmen wollte, war er dort angewachsen.

Die Alte schlug ein lautes Gelächter auf, nahm den Grafen am Arm, tanzte mit ihm in der Stube und sang dazu:


Herr Ritter sein aus Zuckerteig,
Das nenn' ich einen lust'gen Streich!
Nun endlich mal seid Ihr komplett,
Braucht nicht zu scheun ein Jungfernbett.
Die Suppe war wohl da, du Wicht,
Doch hatt'st du keinen Löffel nicht.
Jetzt hast du beid's, drum sätt'ge dich,
Dies wünschet dir Frau Lumpenstich!

Mandelkern sang dagegen:

Es dankt der Frau von Lumpenstich
Graf Mandelkern gar inniglich,
[32]
Bei jeder Suppe, die er speist,
Er künftig ihr den Dank erweist.

»Nun, mehr verlang' ich nicht,« sagte die Alte. »Nur eine Lehre muß ich hinzufügen. Nehmen Sie sich in acht, Herr Graf, wenn Sie in das Land des Glaskönigs kommen. Dort wird man den Betrug entdecken, und es könnte Ihnen das Leben kosten; denn die Glasprinzessin scherzt nicht. Also vorgesehen! und nun gute Nacht.«

Mandelkern ließ jetzt seiner Prinzessin Braut sagen, daß er nicht mehr an Zahnweh, Nasenbluten und Leibschneiden litte, und nun war alles in rechtem Gleise. Die beiden Eheleute lebten miteinander wie im Paradiese.

Nach und nach fing jedoch Mandelkern der Ehrgeiz an zu stacheln. Dieser rief ihm zu: »Du mußt dir ein Königreich erwerben, damit deine Frau nichts vor dir voraus hat.« Gesagt, getan; er zog aus, um sich ein Königreich zu erwerben.

Als er auf der Reise über einen Fluß setzte, sah er auf einem Strohhalm auf dem Wasser schwimmen eine Zikade, eine Schnecke und eine Mücke, der die Flügel versengt waren. Alle drei suchten sich aus Ufer zu retten, aber es wäre ihnen nicht gelungen, denn die Flut trieb zu heftig; Mandelkern zog den Strohhalm[33] zu sich ins Boot, und so kamen die Bedrängten glücklich aus Land. Sie vereinigten sich alle drei vor Mandelkern und sangen:


Wir werden uns bedanken,
Wir bleiben den Dank nicht schuldig.
Sei nicht ungeduldig!
Unsre Treu ist ohne Wanken,
Unser Wort ist heilig,
Jetzt sind wir eilig,
Wir müssen fort,
Wir sehn uns wieder – auf unser Wort!

Damit verschwanden die drei Wanderer. Die Schnecke war noch am längsten zu sehen, denn sie kam nicht so rasch vorwärts wie ihre Gefährten.

Mandelkern wünschte ihnen glückliche Reise, indem er ihnen lächelnd nachrief: »Ihr braucht mir nicht zu danken, es ist gern geschehen.« Allein sie hörten ihn nicht mehr.

Nun kam der Wanderer in das Reich des Glaskönigs. Hier waren der König und sämtliche Untertanen aus Glas gebildet; sie waren darum auch sehr zerbrechlich und gingen miteinander so höflich und vorsichtiglich um, daß sie die geringste Berührung vermieden. Tritte, Stöße oder gar Schlägereien fanden[34] gar nicht statt, selbst die Küsse und Umarmungen der Liebenden wurden mit einer Zärtlichkeit und Vorsicht ausgeführt, die nichts zu wünschen übrigließ. Freilich gab es auch Leute, die von sehr grobem Glase, sogenannten Bouteillenglase, geformt waren, und die konnten schon einen Puff vertragen. Wenn es einen Krieg gab, so stellten sich die Parteien einander in langen Reihen gegenüber, nahmen einen Anlauf und rannten mit den Köpfen gegeneinander, von denen unzählige zerbrachen und wodurch das Schlachtfeld fußhoch mit Glasscherben bedeckt wurde. Zum Glück waren aber solche mörderischen Kriege selten. Der Glaskönig liebte den Frieden.

Der Glaskönig hatte eine wunderschöne Tochter, die noch Kind war. Aus dem feinsten, rosenroten Glase gebildet, und bekleidet mit einem aus goldgelben Glasfäden gesponnenen Gewande, erschien sie als das Vollkommenste, was man sehen konnte. Sie war so zierlich, daß der Vater, der sich ganz in sie verliebt hatte, sie immer auf dem Kaminsims in seiner Schreibstube stehen hatte, um sie in jeder Minute des Tages vor Augen zu haben. Um sie vor jedem Staubfäserchen zu schützen, und den Angriff einer unverschämten Fliege abzuhalten, hielt er sie unter einer Glasglocke, und jedesmal, wenn die Prinzessin ihrem Vater ein Wort [35] sagen wollte, schlug sie mit einem kleinen gläsernen Hammer an die Wand der Glocke, und das gab einen so himmlisch süßen Harmonikaton, daß alle Welt davon entzückt war. Mandelkern, der die Prinzessin sah, war ebenfalls bezaubert von ihrer Schönheit.

Es war ein Gesetz im Lande, daß jeder Fremde, der die Grenzen des Glaskönigreichs überschritten hatte, nichts bei sich führen durfte, was von Glas war. Nicht einmal einen Glasknopf durfte er am Kleide haben. Wenn es dennoch geschah, so war dies ein Kapitalverbrechen und wurde mit dem Tode bestraft. Das Glas war heilig, und nur im Lande selbst sah man es überall; ein Fremder durfte sich nicht anmaßen, das Landesprodukt irgendwie an seiner Person oder seiner Umgebung zu entheiligen. Man kann sich denken, wie Mandelkern einen gewissen Teil seines Körpers versteckte.

Es gelang ihm, die Gunst des Glaskönigs sich in so hohem Grade zu erwerben, daß dieser gar nicht mehr ohne ihn leben konnte. In jeder Stunde des Tages mußte Mandelkern um ihn sein, und in der Nacht, während alles im Palaste schlief, mußte er ihm Geschichten erzählen. Dies erweckte den Neid des ganzen Hofes. Aber seine Feinde wußten nicht, wie sie Mandelkern ankommen sollten, da er nichts tat, [36] was irgendeinen Vorwurf ihm hätte zuziehen können. Allein der Zufall war ihnen behilflich.

Eines Tages badete Mandelkern im Meere, da hörte er am Ufer einen Vogel singen:


Er hat doch etwas von Glas!
Ich seh' es klar.
Er sprach nicht wahr.
Er hat doch etwas von Glas!

Mandelkern sprang ans Ufer, fing den Vogel und tötete ihn. Allein den Gesang hatte noch jemand gehört, nämlich der Hofnarr des Königs, der in einiger Entfernung am Ufer spazierengegangen. Dieser war Mandelkerns erbitterster Feind, weil, seitdem jener am Hofe war, der König seine Märchen und Geschichten nicht mehr hören wollte. Der Hofnarr hatte eine schöne Frau, die war so klug und verschmitzt, als ihr Mann einfältig und albern. Zu der sagte der Narr: »Hör mal, der unverschämte Fremdling hat das Landesgebot überschritten und führt etwas von Glas bei sich. Was es ist, weiß ich nicht; allein ein Zaubervogel hat's mir verkündet. Such herauszukriegen, was es ist, damit wir ihn dem Gesetz übergeben können, und er zu unser aller Freude sein Leben verliere.«

[37] »Gut«, sagte das schlaue Weibchen; »ich werde es schon herausbringen. Laß mich nur machen.«

Und nun schmeichelte sie Mandelkern, erzeigte ihm allerlei Gutes und nannte ihn öffentlich den schönsten Mann, den sie jemals gesehen. Sie ging noch weiter, sie lud ihn ein, in verschwiegener Stille eine Nachtstunde bei ihr zuzubringen. Mandelkern ging in die Falle. Als sie sein Geheimnis erraten hatte, überantwortete sie ihn ihrem Manne, dieser führte ihn vor den König, und der König, so leid es ihm tat, mußte seinen früheren Liebling zum Tode verurteilen. Fürs erste wurde der Arme in ein tiefes Gefängnis geworfen.

Während er so elend dem Tode entgegenschmachtete, geschah es, daß ein Riese, der sich an der Grenze des Glaskönigreichs gelagert hatte, dem Könige sein höchstes Gut, seinen kostbarsten Schatz, seine kleine wunderschöne Tochter stahl. Es war dem Bösewicht gelungen, heimlich seine Boten in den Palast dringen zu lassen und die Prinzessin vom Kaminsims zu rauben, ohne daß der Vater, der im Nebenzimmer schlief, auch nur das leiseste Geräusch vernahm.

Das ganze Königreich war in Verzweiflung. Es wurde verkündet, wer die Prinzessin wiederbrächte, sollte die Hälfte des Königreichs und dazu noch große Schätze erhalten; allein es fand sich niemand. Um in[38] die Burg des Riesen zu gelangen, galt es fast unübersteigliche Hindernisse und Gefahren zu besiegen.

Als Mandelkern das Schicksal der Prinzessin erfuhr, erbot er sich mit kühnem Mute, sie zu befreien. Alle Welt war über diese Vermessenheit erstaunt, und niemand glaubte, daß das Unternehmen gelingen werde. Es war auch über alle Maßen schwierig. Denn erstlich mußte Mandelkern, um in die Burg des Riesen zu gelangen, einen Weg von anderthalb Stunden mit bloßen Füßen über eine Fläche machen, die ganz mit Glasscherben bedeckt war, zweitens hatte der Riese nur ein Auge, und war ganz von Eisen, und man konnte ihm nichts anhaben, und drittens war es gar nicht möglich, in die Riesenburg zu gelangen, denn sie war ringsum von Wachen umstellt.

Alle diese Schwierigkeiten überdachte Mandelkern uns war fast in Verzweiflung im Gedanken, daß er sein Unternehmen nicht werde ausführen können, als man ihm meldete, es seien im Gasthofe der Residenz drei vornehme Fremde angekommen, die ihn zu sprechen wünschten. Als er nach den Namen der Ankömmlinge fragte, sagte man ihm, es sei eine Dame, die sich Frau Schneck von Schneckendorf nenne und eine große Anzahl grau gekleideter Diener und Kammerfrauen bei sich habe; der Herr hieße Herr von Mückenstein [39] und die andere Dame werde von ihrer Umgebung eine berühmte Sängerin genannt, mit Namen Pimpernille Zikada. Mandelkern wußte nicht, was er aus diesen drei Fremden machen sollte; als er sie aber sah und sprach, erkannte er gar wohl die drei Reisenden auf dem Strohhalm, die er einst vom Untergange gerettet, und die nun kamen, ihm ihren Dank abzustatten.

Frau Schneck trat auf ihn zu, machte ihm eine Verbeugung und sagte:


Ich bin Frau von Schneck;
Beschreite nur keck
Die gläsernen Scherben;
Ich bin dabei –
Du sollst nicht verderben.

Er erwiderte die Verbeugung und sagte:

Wohl denn! es sei!

Dann trat der Herr von Mückenstein auf ihn zu, und sprach mit feiner Stimme:

Mein Liebster mein,
Ich heiß' Mückenstein,
Steh' ganz zu Ihrer Verfügung,
Sie sollen sehn,
Mit des Riesen Besiegung
Soll es trefflich gehn.

[40] Er gab den Gruß zurück und sagte sehr artig:

Ich danke gar schön!

Und nun kam die Sängerin, machte eine tiefe Verbeugung und sang:

Hoff' auf die Gnade
Der göttlichen Zikade,
Die nie noch sang,
Ohn' daß sie unsterbliche
Lorbeern errang!
Dieses verderbliche
Spiel wird sie wenden
Von deinem Haupte ab.

Worauf Mandelkern der Sängerin mit einem gefühlvollen Ausdruck in Stimme und Gebärde erwiderte:

Ich werd' ihr spenden,
Dank bis ins Grab.

Und nun unternahm er das Wagstück, und es gelang. Die tausend und abertausend Diener der Frau Schneck überzogen die Glasscherbenstraße mit einem zähen Schleim, der an der Sonne trocknete, und auf diese Weise eine ebne Kunststraße bildete, auf der Mandelkern gemächlich dahinschritt. Als er zur Burg des Riesen kam, fand er sämtliche Dienerschaft in Schlaf gesunken, denn eine große Anzahl Zikaden hatten so [41] süß und verführerisch gesungen, daß auch kein Auge wach geblieben, ausgenommen das eine Auge des Riesen, der in seiner Burg auf der Lauer lag, denn er hatte Mandelkern schon kommen sehen. Wütend raffte er sich auf, um den Eindringling mit einem Todesstreich zu empfangen, und wirklich wäre es um den armen Mandelkern geschehen gewesen, wenn nicht in diesem Augenblick eine Mücke dem Riesen ins Auge geflogen wäre und ihn daher blind machte. So konnte denn Mandelkern ihn töten und die Prinzessin befreien.

Der König der Glasmonarchie war so entzückt über dieser wundersame Ereignis und über die Besiegung seines hartnäckigsten Feindes, daß er Mandelkern sogleich sein Königreich und die Hand seiner Tochter anbot, die zwar noch sehr jung war, dennoch aber sich gern in den Willen ihres Vaters zu fügen versprach. Mandelkern lehnte dies großmütige Anerbieten ab, indem er dem König mitteilte, daß er bereits vermählt sei. Allein die Hälfte des Königreichs nahm er an, machte daraus ein eigenes Reich und wählte sich selbst zu dessen König. So hatte er erreicht, was er wünschte, und kam unter Freude und Jubel heim. Die boshafte Frau des Hofnarren strafte er jedoch vorher noch, indem er sie in hunderttausend kleine Glasstücke zerschlug und diese ins Meer streute.

[42] Bis in sein hundertachtzigstes Jahr regierte König Mandelkern mit dem gläsernen Löffel, da geschah es, daß er einst einem Backofen zu nahe kam, in welchem gerade Zuckerteig gor. Er konnte dem Zug nicht widerstehen und schlüpfte in den Ofen. Es blieb nichts von ihm übrig als der gläserne Löffel, der in die königliche Kunstkammer gebracht wurde. Der Hof legte auf drei Jahre und drei Monate Trauer an.

Dies ist die Geschichte von dem gläsernen Löffel.

[43] [45]Die rosenrote Fliege.

Es waren einmal drei hübsche junge Feen, die saßen beisammen, lachten und plauderten, und die eine rief: »Ich habe doch den schönsten kleinen Fuß, den es auf der Welt gibt;« »und ich«, sagte die andere: »habe den wohlgeformtesten Busen«, und die dritte setzte hinzu: »und ich den allerreizendsten Hintern.« Wie sie das gesagt hatten, ging ein junger Bauer vorbei, der reife Kürbisse zu Markte trug, der lachte die drei übermütigen jungen Feen aus, indem er rief: »Mein Mädchen Fifine hat einen viel kleinern Fuß, einen weit wohlgeformtern Busen und einen tausendmal schönern Hintern. Das muß ich wissen, denn ich bin Mistifax, ihr Geliebter.«

Die Feen wurden über die Dreistigkeit des jungen Bauern wütend. Sie wollten ihn sogleich auf der Stelle umbringen oder verwandeln; allein die älteste und mithin klügste und besonnenste bemerkte: »Wir [45] wollen ihn nicht töten, auch ihm kein Leid zufügen, sonst sähe es aus, als achteten wir uns überwunden, wir wollen ihn jedoch dazu zwingen, zu beweisen, was er gesagt. Er soll uns sagen, welch einen Fehler dein Fuß besitzt, und was deinem Busen und meinem Hintern abgeht, um vollkommen schön zu sein; kann er das nicht – und beim Lilienstab unserer großen Königin! –, er wird es nicht können, so wird er beim nächsten Mondwechsel hier am Baume aufgehängt, an jedem Beine ein großer Kürbis, der ihn niederzieht.«

»So sei es!« riefen die beiden andern Feen. »Wir wollen ihn lästern lehren! Und seine Braut Fifine verwandeln wir in eine häßliche, stinkende Kröte.«

»Und wenn ich nun meine Sach' gewinne?« fragte der junge Bauer, der den Mut nicht sinken ließ.

»So baue ich dir einen Palast,« rief die älteste, »in welchem alle Möbel aus Seide, Gold und Sammet bestehen sollen.«

»Und ich«, fügte die zweite hinzu, »erbaue dir ein Bett, dessen Decke ganz von Perlen gestickt sein soll.«

»Und ich«, nahm die dritte das Wort, »gebe dir ein Nachtgeschirr, auf dessen Boden ein ungeheurer Diamant eingefügt sein soll, von dem Werte eines Königsreichs.«

»Ich bins zufrieden!« sagte der Bauer. »Wenn ich[46] gewinne, werde ich also mit meiner Geliebten sehr hübsch wohnen, werde mit ihr unter einer Decke schlafen, wie sie kein Prinz und keine Prinzessin haben, und dann werde ich ein Nachtgeschirr besitzen, auf dessen Boden ein Königreich liegt. Und das alles soll kommen in der Zeit von einer vollen Mondscheibe zur andern. Nun ich danke euch – ihr hübschen Hexen!«

»Denke vielmehr daran, du Unverschämter, wie du dich ausnehmen wirst, am Baume hängend, mit einem Kürbis an jedem Beine, und wie übel deiner Fifine der ekelhafte Krötenpanzer passen wird.«

»Aber«, hub der Bauer wieder an: »die Gerechtigkeit fordert, daß ich vorher die Schönheiten sehe und genau betrachte, um deren Wert es sich hier handelt. Ihr werdet mir doch nicht zumuten, die Katze im Sack zu kaufen.«

Die Feen mußten sich, wohl oder übel, dazu verstehen, dem jungen Bauer die Füße, den Busen und den Hintern entblößt zu zeigen, und er fand diese Körperteile von einer so wunderbaren Schönheit, von einer solchen Zierlichkeit und einer so überirdischen Vollendung, daß ihm bange wurde um sein Versprechen. Er konnte sich an diesen Reizen nicht satt sehen und vergaß ganz den Markt und seine Kürbisse. Endlich erinnerten die Feen daran, daß es Zeit sei, sich auf [47] den Weg zu machen. Sie ihrerseits schwangen sich auf Rosenblättern, die sie in drei Wolkenwagen verwandelten, in die Luft, nachdem sie vorher mit dem Bauer festgesetzt hatten, daß sie sich an diesem Orte nach Monatsfrist wieder treffen wollten.

Mistifax hätte nicht ein so kluger Bursche sein müssen, wie er war, wenn ihn nicht sein unvorsichtiges Versprechen im Kopfe hätte wurmen sollen. Er dachte hin und her, wie er sich aus dem Handel ziehen sollte, allein ihm wollte kein Rettungsmittel einfallen. »Sie haben wirklich keinen Makel!« rief er unzählige Male vor sich hin, und meinte damit den Fuß, den Busen und den Hintern; »wie soll ich es machen, daß sie einen Makel bekommen, den sie nicht haben? Es ist, beim Himmel, nichts natürlicher, als daß ich mein Spiel verliere und beim nächsten Mondwechsel mit meinen eignen Kürbissen an den Beinen am Baume hänge! O Fifine! Fifine! in welche Torheit hat mich die närrische Liebe zu dir gebracht! Mit vornehmen Damen ist nicht gut Kirschen essen, und mit Feen nun ganz besonders nicht!«

Diese Worte sprach er laut vor sich hin, als er schon auf dem Markte stand und eine Anzahl Leute um ihn her, die seine Kürbisse musterten. Unter der Menge befand sich auch ein Herr, der gleichsam aus[48] nichts als aus einer ungeheuren Nase bestand. Das übrige an diesem Herrn war nicht der Rede wert. Seine Beine waren so sein und dünn, daß ein Spinnenfuß dagegen mehr an Schenkel und Wade vorweisen konnte, und seine Ärmchen waren so kurz geraten, daß sie mit den magern Händchen nicht bis zum Knie, geschweige denn bis zur Nase hinreichten. Neben der Nase hatte er zwei kleine funkelnde Augen, die wie Mäuseaugen glitzten und flimmerten. Sein Scheitel war ganz kahl, und nur ganz am Hinterhaupte hing ein Schopf dünner, grauer Haare hinab. Er war van Kopf bis zu Fuß in roten Sammet gekleidet mit Goldborten, und ein Heer von Dienern folgte ihm nach, wie er über den Marktplatz schritt. Diese Männer waren alle mit großen Fliegenwedeln bewaffnet und unablässig bemüht, von der Nase ihres Gebieters die lästigen Insekten fernzuhalten, welche eine boshafte Freude daran zu haben schienen, sich gerade an diesem verbotnen Platze zu versammeln. Mistifax bedauerte den armen kleinen Herrn von Herzen. »Es lohnt sich auch,« rief er, »eine so prächtige große Nase zu haben, wenn man dadurch das Geschmeiß veranlaßt, sie sich zum Tummelplatz seiner Lüste zu nehmen.«

Der kleine Herr hörte das und kam an Mistifax[49] heran. Seine Nase warf einen solchen Schatten, daß alle Kürbisse davon bedeckt wurden.

»Mein Sohn«, hub der Herr an; »du scheinst einen magern Handel zu haben. Das Geschäft wirft sicherlich nicht viel ab.«

»Nicht gar zuviel, ehrwürdiger Herr!« entgegnete der junge Bauer, indem er seinen Strohhut lüftete und sich tief dabei verbeugte.

»Warum nennst du mich ehrwürdig?« fragte der Herr.

»Ei, wer im Besitz einer solchen Nase,« antwortete Mistifax ehrerbietig, »verdient wenigstens Papst zu sein.«

Der Kleine lächelte, allein man konnte davon wenig sehen, weil die Nase den Mund überschattete, wie ein Frachtwagen einen Strohhalm überragt, der am Wege liegt.

»Wärest du wohl geneigt, in meine Dienste zu treten?« fragte der Kleine weiter.

»Ei, warum nicht.«

»Du sollst guten Lohn haben.«

»Ich zweifle nicht.«

»Du gefällst mir.«

»O und Sie, mein Herr, gefallen mir ebenfalls.«

»Man sagt, daß ich nicht häßlich sei«, sagte der[50] Kleine mit einer so eitlen und zuversichtlichen Miene, daß Mistifax, der sich soviel Eitelkeit bei soviel Mißgestalt nicht zusammenreimen konnte, nahe daran war, in ein Gelächter auszuplatzen. Es gelang ihm jedoch, sich zu bezwingen, sonst hätte er ohne Zweifel sein Glück verscherzt.

Er folgte nun dem Kleinen mit den andern Dienern, nachdem er seine Kürbisse einem vertrauten Freunde einstweilen zur Aufbewahrung gegeben hatte. Der Weg, den die kleine Gesellschaft nahm, war ziemlich beschwerlich; er führte entweder über langgedehnte Ebenen, über die die Sonne ihre brennenden Strahlen Wache halten ließ, oder durch undurchdringliche Wälder, wo oft umgeworfene Baumstämme den Pfad versperrten. Endlich kam man in einer Felsschlucht an, in deren Tiefe ein kleiner Palast gebaut war, auf das köstlichste eingerichtet, doch rund umher mit einem dichten Netz umsponnen, so daß es den Anschein hatte, als hätte eine Riesenspinne den Palast wie eine Fliege eingefangen und eingesponnen. Die Säulen und Wände des Palastes waren mit einem goldglänzenden, klebrigen Safte bestrichen, so daß ein Insekt, das dennoch Mittel und Wege gefunden, durch das Netz zu dringen, sicherlich an den klebrigen Säulen und Wänden hängenblieb. Mit großer Vorsicht ging der Zug über eine [51] Art Zugbrücke, über die schöne Marmortreppe in den Palast. Mistifax wurde von den andern Dienern ausgelacht, weil er, noch nicht an die Vorsicht gewöhnt, hier und da mit seinen Kleidern hängen blieb.

Der Kleine machte sich's bequem, setzte sich auf ein purpurrotes Seidensofa und schien willens zu sein, ein Schläfchen zu halten. Allein dazu ließ ihn sein Mißgeschick nicht kommen. Er hatte kaum sein Haupt auf das Kissen gelegt, als sich ein feines Summen und Brummen in einem entfernten Winkel des Gemachs hören ließ. Das Summen und Brummen kam näher, und endlich ließ sich ein kleiner geflügelter Gast auf die Nase nieder, die wie ein großes weißes Gebirge auf dem roten Polstergrunde lag. Der Kleine fuhr auf, schrie, zappelte mit den Beinchen und Ärmchen und rief: »Da ist wieder ein vermaledeiter Satan! Ihr Hunde! wartet, ich werde euch prügeln lassen, daß eure Knochen zu Staub werden; warum gebt ihr nicht besser acht!«

Und damit ließ er die sechs Knechte, die grade mit den Fliegenwedeln am Bette den Dienst hatten, auf das kläglichste peinigen und schlagen. Mistifax dachte bei sich: Ei, der Dienst ist doch nicht so ganz leicht! –

Sechs andere Diener mußten nun eintreten, und die, bevor sie ihr Amt antraten, durchspähten jeden Winkel [52] des Gemachs, durchstöberten jede Falte und klopften jedes Polster auf, um nach Fliegen zu spüren. Als sie keine fanden, setzten sie sich am Sofa nieder und begannen zu wedeln. Aber es nutzte ihre Vorsicht wenig; er fand sich auch hier wieder eine Fliege, uns dieselbe Strafe kam auch über diese sechs.

Der Kleine warf sich hin und her und heulte vor Schmerz und Verdruß. »Mistifax!« rief er; » sei du der erste treue Diener, den ich habe, und ich will dich mit Gold überschütten. Halte mir die Fliegen fern, und du sollst mein Sohn und Erbe sein! Mistifax! Mistifax! rette mich! O ich könnte so glücklich sein! ich besitze Schönheit, Reichtum, Macht! Nur die Fliegen, die verdammten Fliegen! Wenn die nicht wären! Ich komme um, ich gehe unter – ich tue mir ein Leid an – nur wegen der Fliegen!«

So jammerte der kleine Herr, und es fehlte wenig, daß er sich nicht die spärlichen grauen Haare ausriß, die er noch besaß.

Mistifax hatte so seine Gedanken über die ganze Sache. Erstlich kam es ihm schon ganz unerklärlich vor, wo die Fliegen immer wieder herkamen, da doch alle nur erdenklichen Mittel angewendet wurden, sie zu vertreiben, und dann zweitens erschienen ihm die Fliegen gar nicht wie gewöhnliche alltägliche Fliegen, [53] sondern er dachte von ihnen, daß sie zu Zeiten etwas ganz anderes sein könnten wie Fliegen. Allein er behielt hübsch vorsichtig und klug seine Betrachtungen für sich und wartete nur auf die Zeit, wo er sein Amt antreten würde. Die Stunde kam, und in der Nacht vorher verkroch er sich im Zimmer in einen Winkel, um zu sehen, was aus der Gesellschaft würde, die alle Abende kam, um dem kleinen Herrn die Zeit zu vertreiben.

Diese Gesellschaft bestand aus einer Anzahl sehr hübscher junger Mädchen, die im Saal tanzten, sangen, spielten und eine große Portion Zucker vernaschten und dazu süßen Wein tranken. Eine von diesen hübschen leichtfertigen Dingern setzte sich dem kleinen Herrn auf den Schoß, streichelte ihm Kinn und Wangen und ließ die ungeheure Nase auf ihrem Busen ruhen. Dies gewährte dem kleinen Herrn ein unbeschreibliches Vergnügen. Dabei hatten die Mädchen ganz dünne Kleidchen an, von Flor und Schleiertüchelchen, wie von Spinnenweb gemacht, und wenn sie durch den Saal tanzten und flatterten, gab es ein feines Geknister und Gewisper, als summten Fliegen um eine Zuckerschale. Die Gesellschaft blieb gewöhnlich bis Mitternacht, bis der kleine Herr, ganz betrunken, in sein Kabinett gebracht wurde, dann dauerte es noch eine kleine Weile, wo die Mädchen in dem verschlossenen [54] Saale allein blieben, und dann waren sie plötzlich alle fort, und niemand wußte, wohin.

Kaum befand sich also Mistifax mit den Mädchen im Saal eingeschlossen, als er gewahrte, daß sie in einen Kreis zusammentraten, sich an den Händen faßten, rundum tanzten und dazu folgendes sangen:


Wir sind Fliegen:
Wir lieben zu naschen,
Wir lieben zu haschen,
An süßes Geschleck
Zu rühren keck,
In verschlossene Töpfe
Zu stecken die Köpfe.
Wir sind Fliegen:
Wir tanzen gern
Mit luftigem Leibe
Auf der Fensterscheibe;
In kristallner Schale
Sitzen in Menge
Wir im Gedränge,
Wie in köstlichem Saale.
Wir sind Fliegen:
Wir lieben uns zu putzen,
Uns zuzustutzen,
Bei der Toilette die Zeit zu verlieren,
[55]
Zu musizieren,
Zu parlieren.
Wir sind Fliegen:
Wir lieben zu necken;
Sind listig, gewandt,
Mit tollkühnem Necken,
Angriffen zu schrecken,
Und wenn die Hand
Zornig nach uns schnappt,
Sind wir fort in alle Weite,
Werden niemals ertappt.
So machten's wir gestern,
So machen's wir heute,
Zum Werk denn! ihr Schwestern!

Und nun hielten sie inne, sahen sich lachend an und tanzten noch ein paarmal in der Runde.

»Ja,« rief die eine, die Mistifax für die hübscheste erklärte, »wir führen ein Leben, wie sich's lustige Fliegen nur wünschen können. Wir beschmausen einen alten, reichen Narren und trillen und schrauben und necken ihn noch dazu recht tüchtig für all das Gute, das er uns erzeigt.«

»Es geschieht ihm recht, der häßlichen Großnase!« sagte die zweite, die noch in einem Glase ein Restchen Likör fand, das sie ausnippte. »Ich habe in [56] meinem Leben viele alte häßliche, verliebte Herren kennengelernt, aber keinen von einer so grauenvollen Widerlichkeit. Hat er mir doch heute, wie er mit seiner Nase auf meinem Busen herumschnüffelte, ordentlich Krämpfe verursacht.«

»Ei, desto ärger mußt du jetzt als Fliege diese Nase kitzeln!« rief eine dritte.

»Ja, das werde ich!« entgnete die Klagende. »Ihr braucht nicht zu sorgen; schonen werde ich ihn wahrlich nicht. O, ich will mit wahrer Mordlust auf seiner Nase herumkrabbeln. Er soll nicht wissen, ob es eine Fliege oder ein Drache ist, der ihm plötzlich ins Gesicht gekommen.«

»Gut, gut!« riefen die andern. »Du bleibst also diesmal hier.«

»Ich bleibe. Macht nur, daß ihr fortkommt. Der Tag bricht an.« Damit öffnete sie ein Fenster, und in Fliegen verwandelt nahmen sämtliche Mädchen, bis auf die eine, die zurückblieb, ihren Weg durchs Fenster. Die hübsche Kleine sah den Schwestern lange nach, dann schloß sie den Fensterflügel und trat in den Saal zurück.

»Nun will ich auch meine Toilette machen«, rief sie.

Dabei setzte sie eine Schale mit Wasser hin, goß aus einer Kristallphiole etwas Jasminessenz hinein, setzte einen großen, in Silber gefaßten Toilettespiegel zurecht, [57] zwei Kerzen an jede Seite, und nun streifte sie alle ihre seinen Florgewänder ab, und stand da, völlig so nackt, wie man nur nackt sein kann.

Da konnte Mistifax sich nicht halten, und rief: »Sapperment! das ist die hübscheste Fliege, die ich je gesehen.«

Den Schreck der armen Fliege, als sie diese Worte hörte, kann niemand beschreiben. Sie lief, was sie laufen konnte, zu ihrem Schleier, wickelte sich hinein, drehte sich im Kreise, schnell und immer schneller, wobei ein sonderbarer, summender Ton gehört wurde, und dann war sie plötzlich fort und verschwunden, ohne daß Mistifax, der aus seinem Verstecke hervorsprang, entdecken konnte, wo sie geblieben. Nur der Spiegel, das Waschbecken und die Lichter gaben ihm Zeugnis, daß er nicht geträumt, denn er mußte sich schon bequemen, selbst die Sacken fortzuräumen und den Saal in Ordnung zu bringen. Er tat es, denn er sagte bei sich selbst: »Ich will das Geheimnis der Fliegen nicht verraten, vielleicht kann ich's zu meinem Vorteil nutzen. Ein kluger Mann verwirft den Beistand selbst des geringsten Geschöpfes nicht, so ich auch nicht den einer Fliege.«

Der Tag, der auf diese Nacht folgte, verging ruhig. Zum ersten Male konnte der kleine Herr sein Nachmittagschläfchen vollkommen ungestört hinbringen. Er [58] schob dieses erfreuliche Ereignis auf die Wachsamkeit seines neuen Dieners, und überhäufte diesen mit Liebkosungen und Danksagungen. Mistifax verbeugte sich und sagte, daß er nur seine Pflicht getan habe.

Als der Abend kam, erwartete der kleine Herr seine »Damen«, aber sie blieben aus. Es rührte sich kein Fußtritt im Saal, obgleich alle Kerzen angezündet, und die Tische mit Wein und Zuckerwerk zum Brechen belastet waren. Der Hausherr ging unruhig auf und ab und rief immer: »Wo bleiben meine Damen! Wo bleiben meine Damen?« Aber es kam niemand.

Mistifax allein wußte das Geheimnis dieses Ausbleibens. Zur gewohnten Stunde waren die neunzehn Fliegen angelangt und hatten zu ihrer Verwunderung das Fenster verschlossen gefunden, welches sonst immer die zurückgebliebene zu öffnen pflegte. Aber die Arme hatte sich nicht hinausgetraut: sie saß in einem tief versteckten Winkel, hoch oben an der Decke, und kam den ganzen Tag von dort nicht herab. Die Fliegen, als niemand öffnete, schöpften ihrerseits Verdacht und machten, daß sie fortkamen. So ging denn die Nacht höchst trübselig für den kleinen Herrn dahin, der nicht wußte, was er in der Einsamkeit und Stille machen sollte. Um ihn zu unterhalten, erzählte ihm Mistifax die Geschichte mit den drei Feen.

[59] Der kleine Herr belustigte sich daran und sagte dann: »Wie töricht diese Weiber sind. Hat wohl eine von der Schönheit ihrer Nase gesprochen? Keine. Und doch ist und bleibt eine Nase der wichtigste und bedeutendste Teil am menschlichen Leibe. Ist die Nase schön – ist alles schön. Was soll das heißen – den schönsten Fuß haben! Kinderei! Was ist ein Fuß? und nun ein Busen? und gar einen Hintern! Wie kann ein irgend anständiges Frauenzimmer auf ihren Hintern sich etwas zugute tun. Aber diese Feen sind preisgegebene Geschöpfe, die in den Tag hineinleben ohne Sitte und Ordnung. Es lohnt sich nicht, daß ein Mann von guter Lebensart sich mit ihnen abgibt, und ich verarge es dir, Mistifax, daß du dich in einen so leichtfertigen und abgeschmackten Handel eingelassen hast.«

»Gleichwohl, gnädiger Herr, stecke ich doch nun einmal in der Verlegenheit,« erwiderte der junge Bauer bescheiden.

»Sieh zu, wie du dich herauswickelst,« sagte der Hausherr. »Mich geht übrigens, wie du wohl siehst, die ganze Sache nichts an.« Hiermit war die Unterhaltung zu Ende. Die Fliege aber in ihrem Winkel oben hatte alles mit angehört.

Als der kleine Herr zu Bette gegangen, und Mistifax sich allein im Saale befand und, das Haupt auf beide [60] Arme gestützt, sich eben seinen traurigen Gedanken hingab die darin bestanden, zu untersuchen, wie es ihm wohl möglich sein werde, die Bedingungen der drei Feen zu lösen und sich und Fifine dabei reich und vornehm zu machen, und er dabei immer wieder fand, daß ihm dies unmöglich sein werde, besonders, da schon dreiviertel der Zeit vergangen war, die die Feen zur Entscheidung der Angelegenheit festgesetzt – da fühlte er plötzlich eine weiche, kleine Hand auf seiner Schulter. Er blickte auf, und die verwandelte Fliege stand vor ihm. »Guten Abend, mein liebes Fräulein«, sagte er.

»Guten Abend, Mistifax«, entgegnete sie.

»Ei, mein schönstes Fräulein, wie wissen Sie meinen Namen.«

»O, ich weiß noch mehr von dir,« sagte sie lächelnd. »Ich weiß, daß du eben jetzt nachdenkst, wie dir in einer mißlichen Lage geholfen werden soll.«

»Wahrhaftig, so ist es.«

»Nun, Mistifax, laß uns offen reden. Ich weiß, daß du es warest, der mich und meine Schwestern gestern belauscht hat. Unser Schicksal ist in deiner Hand. Verrätst du uns dem garstigen, alten Gebieter dieses Palastes, so läßt er uns alle zur Strafe, daß wir ihn betrogen, und weil er die Fliegen wie den Tod haßt, der großen Spinne ausliefern, die hier in der Nähe [61] wohnt, und eine weitläufige Verwandte von ihm ist. Dieses Schicksal wäre schrecklich.«

»Aber wie könnt Ihr nur glauben, daß ich so etwas tun werde?« rief Mistifax?.

»O, ihr Menschen seid zu allem fähig;« rief die Fliege, »ihr bestreicht Weidenruten mit Leim, damit wir daran kleben bleiben und elend verschmachten mögen; ihr stellt unter allerlei lockenden Außenseiten Gift aus, damit unser argloses Geschlecht, das in eure Wohnungen als Gast kommt, auf das grausamste umkommt. Am ehrlichsten seid ihr noch, wenn ihr geradezu als Mörder auftretet und mit der Fliegenklappe nach uns schlagt.«

»Es liegt etwas Wahres in dieser Anklage,« sagte der junge Bauer nachdenklich. »Aber, mein Fräulein, seid Ihr hier in der Nacht zu mir gekommen, um mit mir über Leimruten und Fliegenklatschen zu sprechen?«

»Nicht doch; ich habe dir einen Vorschlag zu machen.«

»Und der ist?«

»Wenn du,« hub die Fliege an und stockte etwas vor innerer Angst und Beklommenheit, »die Kenntnis unseres Geheimnisses nicht zu unserem Untergang benutzen, sondern im Gegenteil uns hier unser Wesen nach wie vor treiben lassen willst, so sollst du eine Gabe von uns empfangen, die dir von großem Nutzen sein soll. Wir Fliegen halten Wort.«

[62] »Einen Kuß darauf, liebes Fräulein!« rief Mistifax, und als er den Kuß erhalten, machte er die Bemerkung, daß er nimmer geglaubt, daß die Fliegen so gut küssen könnten.

»Aber der arme kleine Herr!« rief jetzt der Bauer, »seine Qual wird ewig dauern.«

»Glaub' das nicht,« entgegnete die Fliege, »wenn wir ihn vollkommen arm gespeist haben, so lassen wir ihn in Ruh und ziehen anderswohin. So lange er aber noch eine Flasche süßen Sekt im Keller und ein Brosamen Zuckerbrezel im Schranke hat, kommen wir und schmausen. Für soviel Lustigkeit in der Nacht ist das bißchen Gekrabbel am Tage eben auch keine so entsetzliche Sache. Mancher alte Lüstling hat ganz andere Pein und Nachweh seiner lustigen Stunden zu erdulden.«

»Im Grunde haben Sie ganz recht, mein Fräulein.«

»Nun denn, du schweigst?«

»Ich schweige, stumm wie das Grab.«

Die Fliege war damit zufrieden, und Mistifax und das hübsche Mädchen belustigten sich miteinander ganz wohl die Nacht hindurch. Der Bauer dachte: meine teure Fifine ist fern von mir; sie erfährt nichts – und überdies, mit einer Fliege kann man ja unmöglich sündigen.

Nun kamen in der nächsten Nacht die neunzehn[63] Fliegen und wurden eingelassen. Die zwanzigste wußte sie zu beruhigen, ohne daß sie ihnen die Wahrheit mitteilte. Der kleine Herr war sehr erfreut, als er seine »Damen« wieder hatte. Er trank aus lauter Freude so unmäßig, daß er früher wie gewöhnlich zu Bette gebracht werden mußte.

Als er fort war, tanzten nun die hübschen Mädchen wie gewöhnlich und sangen:


Wir sind Fliegen:
Wir lieben zu naschen,
Wir lieben zu haschen, usw.

»Ach!« rief Mistifax bei sich, »wenn ich mich nur in eine Leimrute verwandeln könnte, daß alle diese lieben Geschöpfchen an mir kleben blieben! Mein Wort gebe ich, daß ich keine verschmachten lassen wollte.«

Aber sie verschwanden alle bis auf eine; und diesmal war es eine kleine Brünette mit großen schwarzen Augen; die summte noch ein paarmal im Saale herum und dann, hutsch, war sie oben an der Decke.

»Die scheint zu schläfrig zu sein, um noch Toilette zu machen,« murmelte Mistifax. »Schade darum, denn gerade die würde sich, ohne Schleier, ganz aller liebst ausgenommen haben.«

Er hütete sich wohl seine Gegenwart zu verraten.

So ging es denn noch ein paar Wochen – es [64] waren gerade die letzten, die der Bauer noch übrig hatte, da trat der Haushofmeister zu dem kleinen Herrn und sagte mit betrübter Miene: »Gnädiger Herr, wir haben hier ausgewirtschaftet. Küch' und Keller sind leer. Die Juden, denen Sie den Palast verpfändet haben, wollen nicht länger warten und werden uns morgen früh hinauswerfen. Wir haben nicht, wohin wir unser Haupt hinlegen sollen.«

»Lege Er das seine meinethalben des Teufels Großmutter in den Schoß!« polterte der kleine Herr zu dem Haushofmeister. »Was mich betrifft, so bin ich ein schöner junger Kavalier und werde überall mein Glück machen, wo ich mich nur zeige. Darum ist mir nicht bange. Man packe mir meine Sachen; ich werde morgen früh mich auf die Reise begeben.«

Die Fliegen, wie sie es vorher gesagt, blieben weg, als sich zeigte, daß Küch' und Keller leer seien; die eine jedoch vergaß nicht ihr Versprechen zu erfüllen. Als alle fort waren, kehrte sie allein zurück und händigte Mistifax eine kleine Schachtel von Elfenbein und Gold ein. Sie sagte dabei: »Ein dienstbarer Geist ist in diesem Gehäuse verschlossen, dem du die gefahrvollsten Aufträge geben kannst, er wird sie pünktlich erfüllen. Lebe wohl, gedenke zuweilen deiner dankbaren Freundinnen, der Fliegen.«

[65] Mistifax nahm die Schachtet, legte sie zu seinem übrigen spärlichen Reisegerät und wanderte aus. Er brauchte drei Tage und drei Nächte, ehe er wieder in seine Heimat kam. Als er seine Hütte erblickte, stand gerade der Mond darüber, und dieses helle Himmelsgesicht mahnte ihn an seine Schuld. »Morgen,« sagte er bei sich selbst, »morgen erwarten mich die Feen, und ich weiß noch kein Sterbenswörtchen von dem, was ich ihnen sagen soll. O Fifine, der Tod ist mir und dir gewiß!«

Bei diesem Seufzer kam die Bäuerin hervor, herzte und liebkosete ihren wiedergefundenen Schätz, tröstete ihn und brachte aus seinem Reisesacke all die Dinge hervor, die er bei sich trug. So kam sie auch an das Kästchen.

»Ei, was ist das?« fragte sie.

»Was wird es sein!« rief er verdrießlich. »Eine Fliege hat's mir gegeben. Es soll einen dienstbaren Geist enthalten, der alle meine Befehle vollziehen wird. Allein ich bin kein Narr, daß ich's glaube. Was kann ein armes Insekt, das selbst nichts hat, Großes verschenken!«

»Wollen wir's dennoch öffnen«, sagte die Bäuerin.

»Tu's!« entgegnete er.

Und sie schob den Deckel von der Schachtel, da kroch [66] eine kleine rosenrote Fliege heraus, setzte sich auf den Deckel und fing an, sich Beinchen und Flügel zu putzen.

»Ach, wie niedlich! wie wunderhübsch!« rief das junge Weib und schlug in die Hände. »Wer hat wohl je eine so köstliche Fliege gesehn!«

»Ich wollte,« rief der Bauer, »sie machte sich sogleich auf den Weg und flöge zu den drei Feen und untersuchte, ob sich wirklich kein Fehler fände auf den drei angegebenen Körperteilen.«

Die Fliege, als diese Worte gesprochen wurden, setzte sich auf die Hinterbeine, gerade so, als wollte sie besser hören, und als Mistifax geendet, war die Fliege auf und davon.

Sie blieb die ganze Nacht weg und kehrte erst am andern Tage wieder. Als Mistifax aufwachte, saß sie auf seinem Kopfpfühl, und eine feine Stimme sprach:


»Die erste ist ein hübsches Schneckchen
Doch auf dem Busen ist ein Fleckchen.
Die zweite hat – o weh! –
Ein Wärzchen an dem kleinen Zeh –
Die dritte hat zur Stund'
Ein Härchen auf dem linken Rund.«

»Potztausend!« rief der junge Bauer und sprang auf, »das ist mir sehr lieb zu erfahren. Aber, wie zum[67] Teufel hast du das herausgebracht? Ich, meiner Treu, hab' davon nichts bemerkt.«

»Weil du nicht hundert Augen hast wie ich –«, sagte die Fliege.

»Es ist wahr, ich habe nur zwei Augen,« rief Mistifax, »und dazu, wenn ich gewisse Dinge so recht in der Nähe sehe, so flimmert es mir vor diesen zwei Augen, so bekommen diese zwei Augen eine gewisse Schwäche, eine gewisse Undeutlichkeit – in der Tat, ich kann es nicht erklären.«

»Gib dir auch keine Mühe,« sagte die Fliege, »sondern nutze die Mitteilungen, die ich dir eben gemacht. Schon versammelen sich die Feen, um dir das Todesurteil zu sprechen.«

»Gemach, gemach!« rief der Bauer, »soweit ist es doch noch nicht. Also wie war es?« Ich bitte noch einmal, damit ich's nicht verwechsle, und der einen, die die Warze hat, das Haar gebe und umgekehrt.

Die Fliege wiederholte ihren Spruch:


Die erste ist ein hübsches Schneckchen,
Doch auf dem Busen ist ein Fleckchen.
Die zweite hat – o weh! –
Ein Wärzchen an dem kleinen Zeh!
Die dritte hat zur Stund'
Ein Härchen an dem linken Rund.

[68] »Gut!« sagte der Bauer, »nun weiß ich's. Du mußt übrigens viel herumspaziert sein auf den besagten Teilen, daß du so genau Bescheid weißt.«

Und nun ging er, und sagte den drei hochmütigen jungen Feen die Wahrheit, die sie nicht ableugnen konnten, obgleich sie durchaus nicht begriffen, wie der Bauer das alles habe erfahren können. Sie hielten nun ihrerseits ihr Versprechen und gaben Mistifax die drei wertvollen Geschenke.

Er richtete sich im Palast herrlich ein, schlief ganz vortrefflich in dem prächtigen Bett mit seiner Fifine, und den Diamant auf dem Boden des Nachtgeschirrs verkaufte er, erhandelte sich dafür ein Königreich, in welchem er sehr weise herrschte und regierte. Die Fliege blieb bei ihm und besorgte für ihn allerlei kleine Geschäfte.

Eines Tages schickte er sie aus, um nach einem Manne zu suchen, der an einer ungeheuren Nase kenntlich sei. Sie sollte sich erkundigen, wie es ihm ginge, und ihn womöglich gleich mitbringen, damit er im Königreiche wohne und ein sorgenfreies Alter habe. Die Fliege fand den kleinen Herrn in einem ungeheuren Walde, in einer Höhle versteckt, wo er Wurzeln aß und reines klares Wasser dazu trank. So her unter war der kleine Herr gekommen. Er kam nun an den [69] Hof des Mistifax, und dieser machte ihn zu seinem ersten Minister, gab ihm einen Palast, der wieder mit einem Netz umsponnen wurde, und einige »Damen« zur Gesellschaft, die diesmal keine Fliegen waren, und wo der kleine Herr keine unangenehmen Nachempfindungen seiner Freuden spürte.

[70] Königin Ratte.

Eine Königin hatte zur Freundin eine Ratte, mit der sie in vertraulichem Umgang lebte. Gewiß war auch diese Ratte die edelste ihres Geschlechts. Sie war zierlich gebaut, ihr Fell war glatt, und da sie sprechen und denken konnte, so dachte sie immer edel und sprach immer gut. Fünf Jahre hatte diese Freundschaftsverbindung zwischen der Königin und der Ratte gedauert, als plötzlich ein widriger Umstand die Einheit der Gemüter in einen heftigen und ärgerlichen Zwiespalt wandelte. Die Ratte kam eines Abends vor einem sehr langen, einsamen Spaziergang nach Hause, äußerst erhitzt, und mit Merkmalen überstandener großer Aufregung. Der Königin entging dieses nicht, und sie fragte ihre Freundin auf das zärtlichste über den Grund der Veränderung in ihrem Wesen. Die Ratte schwieg. Nach einiger Zeit offenbarten sich gewisse Anzeichen, die die Königin über den Zustand ihrer Freundin vollkommen [71] ins klare setzten. Eines Morgens, als die Ratte wie gewöhnlich kam, der Königin die Hand zu küssen, sagte diese: »Ratte, auf ein Wort! Können Sie leugnen, daß Sie sich in anderen Umständen befinden?«

»Ich leugne es nicht, gnädige Frau«, antwortete die Ratte mit niedergeschlagenen Augen und mit einem höchst sittsamen Ausdrucke im Gesichte.

»Wie,« rief die Königin, »Ratte, hab' ich recht gehört? Ratte, Sie? Vergaßen Sie also unsere Gespräche, die wir oft über Tugend und eine ideale Lebensauffassung führten?«

»Ich habe sie nicht vergessen«, erwiderte die Ratte.

»Aus meinen Augen, Unverschämte!« rief die Königin zornig. »Ich kann mit einem Wesen, das sich tief erniedrigt hat, nicht länger unter einem Dache leben!«

Mit diesen Worten warf sie einen schweren silbernen Löffel nach ihrer ehemaligen Freundin und verwundete diese fast tödlich. Die Ratte nahm alle ihre Kräfte zusammen und sagte mit funkelnden Augen und einem edlen Stolze zur Königin: »Du selbst bist die Unverschämte, denn ohne Scham ergibst du dich einem niedern Zorn. Wer hat dich zu meiner Richterin bestellt? Wenn ich fehlte, so fehlte ich aus Liebe, und nur die Liebe darf mich richten!« – Diese letzten Worte sagte die Ratte mit einem so unnachahmlich schönen Ausdrucke [72] von gekränkter Weiblichkeit, daß die Königin auf einen Augenblick an dem leichtfertigen Charakter ihrer ehemaligen Freundin irre wurde, allein ihr Abscheu kehrte sogleich wieder zurück, und sie hob einen zweiten silbernen Löffel auf.

»Halt ein!« schrie die Ratte; »unser Bund ist zerrissen. Ich verlasse dich auf immer, du Weib ohne Schonung, doch sollst du ohne Strafe nicht bleiben Werde von dieser Stunde an das, was ich bin und beharre auf dieser Gestalt, bis ein Mann sich findet, der deine Tochter in denselben Zustand versetzt, den du eben an mir so arg gelästert hast.«

Die Königin wurde jetzt zu ihrem großen Schrecken inne, daß die Ratte eine mächtige Fee war, und daß bei ihrem Zorn kein Entrinnen möglich. Sie fühlte, wie sie zusehends zusammenschrumpfte, und ehe die Schokolade in ihrer Morgentasse kalt geworden, hatte sie ihre schmachvolle Verwandlung beendet und sprang als langgeschwänzte Ratte vom Sofa.

Die Bedingung, die die Ratte gestellt hatte, war deshalb so schwer zu erfüllen, weil die Tochter der Königin eine Person von einer abschreckenden Häßlichkeit war. Man konnte nicht leicht ein widerwärtigeres Geschöpf finden, wenn man auch darnach in Hütten und Palästen gesucht. Sie hatte nur ein Auge, das [73] andere war mit einem großen schwarzen Pflaster verklebt; dann hatte sie rotes, struppiges Haar, und von derselben Farbe auch einen kleinen Bart am Kinn und an der Oberlippe. Dazu war sie klein, schief und hatte ein lahmes Bein. Bei alledem hätte sie doch noch einen Freier gefunden, denn eine Prinzessin mit einer großen Mitgift würde schon einem armen Burschen, der nichts als seine gefunden Glieder hatte, als ein sehr annehmbarer Preis in die Augen geleuchtet haben, allein die Königin, die über alles Maß stolz war, wollte nur einen Prinzen zum Eidam, und selbst unter den Prinzen wollte sie noch wählen, da war es denn natürlich, daß sich keiner fand. Die Prinzessin hatte sich auch bereit erklärt, unvermählt zu bleiben. Die Umstände hatten sich jedoch jetzt geändert. Die Königin, wenn sie nicht als Ratte sterben wollte, mußte daran denken, um jeden Preis ihre häßliche Tochter an den Mann zu bringen. Sie ließ darum alle Prinzen der Nachbarschaft zu sich einladen, und gab große Feste, an denen die Oberhofmeisterin präsidierte, da sie selbst unmöglich als Ratte bei Tafel sitzen konnte. Es hieß, die Königin sei unwohl und liege in ihrer Kammer. Die Prinzessin trug einen Schleier, weil sie, wie behauptet wurde, das Licht nicht vertragen könne.

So ging alles ganz gut. Die jungen Prinzen aßen[74] und zechten und ließen sich's im Schlosse wohl sein, allein – ans Heiraten dachte keiner. »Ei, wo werde ich ein solches Erbsenschneckchen in mein Haus führen!« sagte einer immer zum andern. »Ich bekäme Bauchgrimmen, wenn ich ihr einen Kuß anböte«, sagte der andere. »Es gibt der schönen Prinzessinnen noch genug«, bemerkte der dritte, und der vierte und fünfte sagte etwas Ähnliches. Die Königin, die unterm Tisch saß, hörte diese Äußerungen, und wollte vor Wut ersticken.

Endlich aber fand sich doch ein Prinz, der Lust hatte, die Prinzessin heimzuführen. Er war aus weiter Fremde und mußte von der schreckbaren Häßlichkeit der Dame nichts. Die Königin veranstaltete schnell ein Hochzeitsfest, und als dies beendet war, und der Prinz mit seiner jungen Gemahlin sich allein in der Brautkammer befand, war die Königin unter dem Bette gegenwärtig, um sogleich, wenn die Verwandlung vor sich gehen würde, in ihrer wahren Gestalt hervorzutreten.

Der Prinz, bevor er seine Braut in die Arme schloß, bat sie, den Schleier abzunehmen. Die Königin hörte diesen Wunsch und dachte sogleich bei sich: Wenn er sie in ihrer ganzen Häßlichkeit sieht, so wird am Ende aus der ganzen Sache nichts; ich will eilen, die Lampe auszulöschen. Im Dunkeln sind alle Katzen grau.

[75] Sie lief damit auf die Lampe zu, die auf dem Tische vor dem Bette stand, da sie jedoch nicht vermochte, die Flamme selbst zu berühren, so begnügte sie sich damit, das Öl auszutrinken, wo die Lampe von selbst verlöschen mußte. Sie trank aus Leibeskräften. Es wurde immer dunkler im Zimmer, und der Prinz ging in seinem Angriff immer weiter. Da plötzlich wurde der armen Ratte von dem vielen Öl übel, und sie mußte sich auf das kläglichste erbrechen. Kaum sah der Prinz die Ratte, die gekrümmt auf dem Tische saß und sich erbrach, als er in ein so unauslöschliches Gelächter verfiel, daß er darüber die Prinzessin, und alle Dinge um sich her, vergaß. Die Prinzessin, die da glaubte, er lache darüber, daß es immer dunkler wurde, und daß man so schlechte Lampen in einer königlichen Haushaltung habe, stand geschwind auf, zündete mehr Lichter an, und sagte: »Nun, mein Prinz, jetzt ist es hell genug.« –

»Damit ich Ihre Häßlichkeit sehe, meine Teure!« rief der Prinz verwundert; »ja dazu ist's allerdings jetzt hell genug.« Und damit wandte er ihr den Rücken und ging fort.

Die Königin blieb aber Ratte, ihr lebelang.

[76] Abenteuer des Pagen Bip.

An eines Königs Hofe lebte ein sehr lustiger Page, der, so jung er noch war, doch schon sehr weit in der Welt sich herumbewegt hatte. Der König und die Königin, wenn sie Langeweile hatten, ließen ihn kommen, und er erzählte ihnen seine Abenteuer.

»Bist du nicht auch bereits einmal im Lande der Riesen gewesen?« fragte der König eines Abends, als sich der Hof in einem vertraulichen Kreise versammelt hatte, und der Page, wie gewöhnlich, in der. Mitte des Gemachs stand und. seine Geschichten vortrug.

»Eurer Majestät zu Befehl«, erwiderte der junge Mann mit einer respektvollen Verbeugung. »Ich war im Lande der unermeßlich Großen und der unbeschreiblich Kleinen.«

»So erzähle uns denn zuerst von den Riesen, und auf welche Weise du in ihr Land gelangtest«, befahl der König.

»Es war grade am Geburtstage Eurer Majestät,«[77] hub der Page an, »als wir Pagen eine Bowle Punsch uns gebraut hatten, und eine große Anzahl von uns sich in später Nachtstunde außerstande befand, ihre Betten aufzusuchen.«

»Oh« – rief die Königin – »trinken also meine Pagen auch! das hab' ich mir nicht denken können.«

»Madame,« sagte der König »man muß bei der Jugend einige kleine Fehler und Gebrechen entschuldigen. Wir waren alle, als wir jung waren, nicht so weise, wie wir jetzt sind. Nun fahre fort, mein Lieber. Also du hattest auf meine Gesundheit getrunken?«

»Zu Befehl, Eure Majestät! und das reichlich«, erwiderte der Page. »Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich die Nacht auf den Marmorstufen des Palastes zubrachte, wohin mich meine Kameraden gebracht und dort liegen gelassen hatten. Ich erwachte von einem seltsamen Glanze, der mir in die Augen fiel und gleichsam wider meinen Willen die schweren Decken derselben in die Höhe schob. Mein Schrecken war groß, denn ich dachte, es sei die Morgensonne, und ich hatte grade den Dienst für Ihro Majestät, die Königin, die Schokolade zu servieren. Als ich in die Höh' taumelte und mein seltsames Lager betrachtete und das noch viel seltsamere Wesen, das ich für die Morgensonne gehalten hatte, wußte ich in der Tat[78] nicht, was ich aus all den Dingen um mich her machen sollte. In dem Augenblick tat das Ding, das ich für die Sonne gehalten hatte, einen Sprung und setzte plötzlich von Osten nach dem äußersten Westen über. Aha! dachte ich, hab' ich zuviel getrunken, so hat diese Sonne offenbar noch tiefer ins Glas geguckt. Es ist wahrlich gar nicht übel, das ganze Tagewerk in einer Sekunde abzumachen. Jedenfalls ist diese Sonne ein sehr eilfertiges, raschblütiges Geschöpf. Es war aber keine Sonne, sondern – Eure Majestät werden erstaunen – eine Schuhschnalle. Eure Majestät werden sich nun vorstellen, wie groß das Bein war, an dessen Fuß diese Schnalle befestigt war. In Wahrheit, dieses Bein reichte, wie eine große Nebelsäule, in den Himmel hinein. ›Ihr Götter!‹ rief ich, ›wenn dieses Bein nicht allein für sich herumspaziert, sondern einen Körper trägt, wie groß muß dieser sein.‹ Ich faßte den Entschluß, mich aus dem Bereiche der Tätigkeit dieses Beines zu entfernen; allein das war nicht so leicht getan. Ehe ich's mir versah, wischte der ungeheure Fuß über mich hin, und ich blieb an der Sohle haften. Ich wurde in die Luft gezogen, machte eine unbeschreiblich schnelle Reise, und befand mich – im Lande der Riesen.«

»Auf welchem Planeten warst du denn da angelangt?« fragte der König.

[79] »Ich will hoffen, nicht auf der Venus!« setzte die Königin hinzu.

»Vergeblich strengte ich meinen Scharfsinn an,« erwiderte der Page, »den Namen meines neuen Wohnortes zu erforschen. Die Bewohner, wenn sie unter sich sprachen, nannten nie den Planeten, auf dem sie sich befanden, mit Namen: sie sagten immer nur ›hier‹ oder ›bei uns‹ oder›in dieser Welt‹, alles sehr unbestimmte Äußerungen für einen Fremden, der seine Kenntnisse bereichern will. Mein Riese, der mich hinaufgebracht, war, wie ich bald erfuhr, ein Tafeldecker oder eigentlich ein Pastetenbäckerjunge, den man über die Straße geschickt hatte, um aus der Hofküche, die sich nebenbei auf dem Ringe des Planeten befand, frische Pasteten für die Tafel zu bringen. Der ungeschickte Bursche, indem er über die Wolkenbrücke lief, hatte einen Schritt in einen Spalt getan und war so mit einem Bein auf unsere Welt hinabgeraten. Ehe er in den Saal des Königs trat, säuberte er an dem kostbaren Teppich seine Schuhe, und so geschah es, daß ich in einem Wald von haushohen grünen, roten und gelben Wollenfäden hängenblieb, in welchem Versteck ich nur von ferne die Riesen an der Tafel sitzen sah und das ohrbetäubende Geräusch der zusammengestoßenen Gläser und der Trinksprüche vernahm, die [80] man daselbst ausbrachte. Denn es wurde die Vermählung der jüngsten Prinzessin des Hauses mit einem bereits alternden Könige aus der Nachbarschaft der königlichen Staaten gefeiert.«

»Ach!« – rief die Königin, »wie sah diese junge Prinzessin aus? Gewiß ein Wunder von Schönheit.«

»Ihre Majestät«, sagte der Page in einem ganz besonders unterwürfigen und bescheidenen Tone, »wollen mir gestatten, zu bemerken, daß unsere Begriffe von Schönheit nach den Umständen eine große Umgestaltung zu erleiden haben. Kann man eine Nase noch schön nennen, wenn sie zweimal so groß als unsre Turmspitze? Und ein Mund, darf man ihn noch lieblich nennen, wenn auf seiner Unterlippe Ihre Majestät und der sämtliche Hofstaat sich lagern können. Ich wage in der Tat, diese Fragen nicht geradezu zu bejahen. Dennoch war die Prinzessin schön, wenigstens für ein Riesenauge, denn sie hatte einen blendend frischen Teint, und ihre großen blauen Augen, von unermeßlich langen, blonden Wimpern beschattet, waren in ihrem Ausdrucke zugleich sanft und verschmitzt; zwei Charaktereigenschaften, die, wie die Folge meiner Geschichte lehren wird, sich sehr eng verbunden in diesem liebenswürdigen Riesenkinde fanden. Man blieb ziemlich lange an der Tafel, denn der alte König speiste gerne gut und anhaltend, [81] er stand nie auf, ohne eine Indigestion sich auf den Hals geladen zu haben. Endlich erhob man sich aber doch, und die Prinzessin und ihr Verlobter nahmen von dem Könige Abschied, um in die Brautkammer zu gehen. Auf der Schwelle derselben machte jedoch der alte Bräutigam rechtsum kehrt und trollte sich von dannen, indem er wohl sehr richtig urteilen mochte, daß es ein gefährliches Ding sei, die Schwelle dieses Gemaches zu überschreiten. Die Prinzessin ging allein hinein. Ich hatte Mittel gefunden, mich an die Schleppe ihres Kleides zu hängen, und so gelangte ich in das jungfräuliche Heiligtum, das zierlich aufgeputzt war und von einer großen an der Decke herabhängenden Mondlampe matt erleuchtet wurde. Die junge Riesin setzte sich an ihre Toilette und fing an, ein Stück nach dem andern von ihrem kostbaren Putze abzulegen. Ich stieß einen Schrei der Bewunderung aus, als ich diese Reize, die so ungeheuer an Umfang waren, einen nach dem andern hervorkommen sah. Allein dieser Schrei war sehr unvorsichtig. Die Prinzessin sah sich erschreckt um, und indem sie ihrer Kammerfrau klingelte, befahl sie dieser, das Zimmer zu durchspähen, weil sie fürchte, daß sich Mäuse hier eingefunden hätten.

›O Mäuse! Mäuse!‹ rief ich zornig. ›Ist denn in [82] deinem Ohr, du Ungeheuer! ein Ausruf männlichen Enthusiasmus und ein Mausepfiff ein und dasselbe?‹

Man suchte nach, fand mich aber nicht, da ich schnell in den abgelegten Seidenschuh meiner Dame geschlüpft war. Als alles wieder ruhig war, kam ich hervor, und sah nun, daß meine Schöne schon im Bette lag. Himmel, welch ein Gebirge streckte sich dort aus! Eine Hügelkette von Reizen! Ein unermeßliches Durcheinander von wogenden und pulsierenden Vorgebirgen, Gebirgen, Buchten, Schluchten, Engen, Vorsprüngen, Felsenplatten, Erker, Belvederes, Panorama-Turmplatten – und alles das nur mit einer dünnen Decke umhüllt, wegen der Wärme der Julinacht. Und ich – beim Gefühl meiner Kleinheit – ein Be wußtsein zum Rasendwerden! – ich erkletterte die Bettpfosten, und sah von der äußersten Spitze des Kopfpfühles hin auf das gesegnete Land zu meinen Füßen, und meine Knie schwankten, meine Sinne taumelten. ›Das alles mein!‹ rief ich, und streckte meine Arme weit über diese hunderttausend Morgen Landes Mädchenreize aus –›und doch wieder nicht mein, denn es fehlt mir die Kraft, auch nur ein Tausendteilchen im Genuß zu umklammern! Teufel, welch eine Marter ist das!‹

Indem ich dies sagte, stützte ich mich melancholisch auf meinen Degen und sah den Brandungen [83] dieses Riesenbusens zu, der unter mir seine Wellen schlug.

So verging die Nacht.

Gegen Morgen schlief ich etwas in dem Pantoffel meiner Angebeteten, allein es war kein erquickender Schlaf, er ermüdete mich mehr, als daß ich mich stärkte. In den ersten Morgenstunden ließ sich die Oberhofmeisterin melden und fragte, wie die Prinzessin sich befinde. Diese antwortete der ehrwürdigen Dame, daß sie nie besser geschlafen. Die Duenna hörte dies mit einem kleinen boshaften Lächeln, das sie hinter ihrem Fächer zu verbergen wußte. Man ging jetzt zum Könige. Seine Majestät saßen da und hatten sich erbärmlich den Magen verdorben. Der Leibarzt befand sich bereits im Vorgemach und wartete ab, bis das angewendete Medikament seine Schuldigkeit werde getan haben. Seine Majestät nahmen ihr Töchterchen auf den Schoß, schaukelten es auf den etwas gebrechlichen Knien und erlaubten sich einige Zärtlichkeiten, die nicht ganz nach dem Maßstabe väterlicher Liebe zugemessen schienen. Diese Tändelei dauerte ziemlich lange, ich hatte unterdessen Zeit gehabt, von dem rosenroten Musselin des Kleides der Tochter auf die alte schwarze Sammet-Morgenhose des gestrengen Papas niederzurutschen. Ich gedachte auf diesem Wege nach und nach [84] wieder zu ebner Erde zu gelangen; allein meine Reise fand Schwierigkeiten. Als ich im Schoß des alten Herrn angelangt war, wurde ich von einem braunen Regen überschüttet, dessen feinster Staub mir in die Nase drang und mich zu einem anhaltenden konvulsivischen Niesen nötigte. Es war der Tabak, den der alte Herr in seiner Westentasche aufbewahrte, und von dem er eben eine reichliche Provision in die königliche Nase geschoben hatte. Um nicht Lärm und Aufsehen zu erregen, hielt ich mich soviel wie möglich ruhig und nieste unaufhaltsam in die Hosenfalten hinein. Zuletzt lag ich, fast ohnmächtig, in einer dieser Falten, als ich den Patienten aufstehen und mit mir wegwandern fühlte. Wer beschreibt meinen Schreck! Ich war zu schwach, um irgend etwas zu meiner Rettung zu unternehmen; geduldig mußte ich das Schicksal über mich verfügen lassen, was es zu verfügen Lust hatte. Es war grade in seiner grausamsten Laune.«

»Hm!« bemerkte hier die Königin, »ich will nicht hoffen, mein Lieber, daß du etwas erlebst, was in der Erzählung zu unserm Ohr gebracht, nicht ganz schicklich zu hören wäre.«

»Alsdann«, sagte der Page, »muß ich hier meinen Bericht abbrechen und schweigen.«

»Nicht doch!« rief der König unwillig. »Was wird[85] es denn sein? Ich liebe die bunten Abenteuer und will, daß er fortfahre.«

»Eurer Majestät zu Befehl!« entgegnete der gehorsame Erzähler. »Als ich aus meiner Ohnmacht erwachte, befand ich mich in einem runden Pavillon, dessen Wände von Porzellan waren, mit einem goldnen Rande oben geziert. Ich saß auf diesem Rande. Ein unerträglicher Duft stieg aus der Tiefe des Pavillons auf. Dieser Duft belehrte mich, daß mein Gefängnis ein sehr unsaubres Gefäß war. Bald nachdem ich diese Entdeckung gemacht, kam der Leibmedikus und brachte den Pavillon samt seinem Inhalt in sein Laboratorium, wo er eine chemische Analyse der gesetzten Stoffe anstellte. Ich übergehe, was sich auf dem Laboratoriumtisch ereignete, nur will ich den erschreckten Ausruf des gelehrten Mannes beifügen, der, als er durch die Lupe meine Wenigkeit ansichtig geworden, seinen Diszipeln zurief: ›Teufel! Die Majestät geruhen kleine bewaffnete Husaren im Leibe zu haben. Ist es da möglich, gesund zu bleiben? Und welche Tücke, Ihrem pflichtgetreuesten Arzte und Diener nichts davon zu sagen, daß er eine solche Patrouille in seinen Eingeweiden angestellt hat! Der Kuckuck kuriere die Vornehmen! Sie haben immer etwas Besonderes an ihrem Leibe!‹

Die Schüler kamen nun herbei, um mich in Augenschein [86] zu nehmen. Ich wanderte von dem Finger des einen zum Finger des andern, und alle riefen laut bei meinem Anblick: ›Das ist die niedlichste Krankheit, die es je gegeben!‹ Der gelehrte Meister schlug in seinen Büchern nach, um einen Namen für dieses neue interessante Übel zu finden, allein er entdeckte keinen der beschriebenen Krankheitsfälle, die ein solches Kennzeichen an sich getragen. Ich wurde in eine Glaskapsel getan, über die eine große helle Kristallglocke gestülpt wurde. Das war nun ein Palast gar prachtvoller Art, und ich befand mich in demselben ganz wohl; leider sollte ich nicht lange darin bleiben.

Kaum hatten der Meister und die Schüler das Laboratorium verlassen, als die alte Haushälterin des Doktors sich hereinschlich, um sich unter den vielen kosmetischen Salben und Tinkturen ein Mittelchen zu holen, um damit ihre runzliche Haut zu salben, die einzutrocknen begann. Da sie Tritte auf der Treppe vernahm, warf sie in Eile ein paar Büchsen durcheinander, lüftete unnützerweise die Glasglocke, und entfloh endlich mit einem unrechten Büchschen, in welchem eine äußerst starke und wirksame Stimulanz enthalten war, geschaffen, um die erschöpften Kräfte künstlich zu neuem Feuer zu erregen. Ich hatte mich, als sie mein Gefängnis öffnete, an die Manschette der guten Alten gehängt, oder vielmehr [87] mein Degen hatte sich hierein verwickelt; kurz, ich gelangte aus dem Laboratorium in die Kammer der Haushälterin. Auf dem Busentuch der Alten saß ich und sah zu, wie sie törichterweiser ein Mittel in Anwendung brachte, dessen gefährliche Eigenschaft sie sich auch nicht entfernt träumen ließ. Während die Stimulanz wirkte, hatte ich in den Florfalten des Busentuchs einen Kampf mit einem eigentümlichen Feinde zu bestehen. Es war ein scheußlich gestaltetes, mit einem glänzenden braunen Panzer bedecktes Ungeheuer, das, als ich eben um die Ecke biegen wollte, plötzlich aus einer dunkeln Falte mir entgegenstarrte. Ich zog meinen Degen und der Feind rückte an. Wie schmachvoll für mich war es, als ich erkannte, daß es ein ungeheurer Floh war. Ich hätte vor Entrüstung und Verdruß in die Erde sinken mögen. Sollte ich mein jungfräuliches ritterliches Schwert gegen einen solchen Feind, in einem Kampfe, wo so wenig Ruhm einzuernten war, einweihen? O, nimmermehr. Ich bog also schnell um die Ecke und wollte verschwinden; der Floh setzte mir aber nach, und grade im Mittelpunkt des welken Busens meiner Dame kam es zu einem mörderlichen Gefecht, in welchem ich Sieger blieb, und meinen frechen Angreifer in die Flucht trieb.

Mittlerweile hatte das Mittel bei der alten Närrin[88] gewirkt. Sie bekam Wallungen, und das schläfrige Blut betrat wieder Wege, die es bereits seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gegangen. Meine Alte stürzte in das Kabinett ihres Herrn und diesem an den Hals. Welch ein Entsetzen für diesen, der eben mit der großen, grünen Brille auf der Nase, sich einer gelehrten Forschung hingab. Es war ein Kampf auf Leben und Tod, grade so, wie ich ihn eben mit dem Floh gekämpft. Der alte Herr verteidigte seine Unschuld mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen, und zuletzt sah ich ihn in Verzweiflung sogar nach der Klistierspritze greifen. Diesen Hohn und diesen Trotz schien die Dame nicht erwartet zu haben, sie blieb einen Moment stehen und sah das Opfer ihrer Lüste mit einem drohenden und durchbohrenden Blick an. Diesen Augenblick des Waffenstillstandes benutze der Doktor, um durch eine Tapetentüre zu entfliehen, die er fluchend hinter sich zuschloß. Der Lärm hatte die Schüler herbeigelockt, und die rasende Medea sah kaum so viele junge Männer eintreten, als sie sich auch sogleich auf diese stürzte. Hier aber wurde sie bald überwältigt, gefesselt und in einen stark vergitterten Käfig gesetzt, der in der Mitte des kleinen Hofraumes stand, der zur Wohnung des Leibmedikus gehörte.

Diese grausenvolle Begebenheit, von der ich vom[89] Anfang bis zu Ende Zeuge gewesen war, hatte mich lebhaft erschüttert. Ich kann wohl sagen, daß ich von Herzen das arme Geschöpf bemitleidete, das gänzlich ohne Schuld in diese unselige Lage geraten war. Unmöglich war es gewesen, auf dem Körper dieser Rasenden auszuharren, ich hatte daher klug und rasch entschlossen eine Gelegenheit benutzt, wo sie eben am Halse des gequälten Doktors lag, und war vom Busentuche der Dienerin auf die große, knöcherne Nase des Herrn herübervoltigiert. Das Manöver war nicht ganz leicht auszuführen, doch gelang es vollkommen. Ich saß auf der Nase, wie auf der Spitze eines erhabenen Vorgebirges ziemlich sicher, und als der Kampf mit den jungen Schülern begann, steckte der Meister die Nase durch die vorsichtig und wenig geöffnete Tapetentüre, und lachte herzlich über die Szenen, die sich seinem Auge hier boten. Er konnte gut lachen, da er in Sicherheit war. Es war kein ganz hübscher Zug in seinem Charakter. Er hätte seinen Schülern zu Hilfe eilen sollen.

Wie alles getan war, kam er wieder hervor, noch immer lachend, schnaubend und keuchend, und setzte sich zu seinem Buche nieder. Ein Blick auf den Tisch und auf die in Unordnung gebrachten Büchsen überzeugte ihn, welches der Grund dieser sonst unerklärlichen Erscheinung [90] war, und hatte er schon früher gelacht, so lachte er jetzt so unbändig und ohne aufzuhören, daß ich mich mit Länden und Füßen an der harten Knorpelbeugung der Nase anhalten mußte, um bei dem donnerähnlichen Getöse und den heftigen Eruptionen des unter mir befindlichen Kraters nicht herabzufallen. Endlich ging die Krisis vorüber, und der gelehrte Herr zog seine Uhr hervor, um zu sehen, ob ein gewisser Krankenbesuch, den er durchaus nicht versäumen wollte, nicht schon durch die Zeit geboten werde. Es fehlten nur wenige Minuten, und diese verwendete der Doktor, um seine gelehrte Toilette ein wenig neumodischer und gefälliger umzugestalten. Er nahm die grüne Brille ab und setzte eine weiße mit Silbereinfassung auf, und dann nahm er aus einem Schränkchen ein rotes zierliches Lederkästchen, in welchem, der Himmel weiß, welch ein ärztliches Instrument eingeschlossen lag. Dieses unter den Arm nehmend, ging er ab.

Eure Majestät kann sich denken, mit welcher Neugier ich ihn begleitete. Offenbar galt der Besuch einer Dame, und daß diese Dame jung und hübsch sei, ließ sich ebenfalls aus den Anstalten schließen, die dieser Gang nötig gemacht hatte. Ich irrte mich nicht. Nachdem mein erhabener Träger, wahrscheinlich der Vorsicht halber, um von seinen Schülern oder sonstigen[91] Bekannten nicht auf diesem Gange getroffen zu werden, die einsamsten und verstecktesten Gäßchen eingeschlagen hatte, trat er in ein Haus, dessen Hintertreppe er hinaufschlüpfte, und in welchem eine hübsche Operntänzerin wohnte, die von der ganzen männlichen Jugend des unbekannten Planeten vergöttert wurde. Eine Zofe brachte uns in ein halberleuchtetes kleines Kabinett, mit rosenroter Seide tapeziert, wo auf einem Diwan von derselben Farbe die hübsche Ballkönigin in einem leichten verführerischen Hauskleide ruhte und den alten Diener des Äskulap mit einem Lächeln bewillkommte. Er ließ sich zu ihr nieder auf das Ruhebett und flüsterte ihr, von einem kleinen trocknen Husten unterbrochen, einige Artigkeiten zu. Noch immer mußte ich nicht, um was es sich hier handelte, als der Leibarzt endlich das rotlederne Etui öffnete und eine von Silber zierlich gearbeitete Spritze hervorbrachte. Sogleich fiel die Schöne um, aber nicht aus Schrecken, und nicht in Ohnmacht, sondern sie nahm eine graziöse Positur an, welche dienlich war, die Operation, die jetzt vor sich gehen sollte, ins Werk zu richten. Zu gleicher Zeit ließ sich mein gelehrter Oberpriester auf ein Kissen auf dem Teppich in kniender Stellung nieder, und tauchte die Spitze seines mystischen Instrumentes in ein Dekokt, das in einem silbernen Schälchen neben [92] ihm auf dem Tische stand. Eine feierliche Stille herrschte im Gemach, während der seidene Flor aufrauschte und zwei wundervoll gebildete Hüften sehen ließ. In der Tat, diese kolossalen Alabasterhügel auf dem rosenroten Atlasgrunde übten einen magischen Eindruck auf meine armen Sinne, die bereits im Laufe dieses ereignisvollen Tages übermäßig abwechselnd von entzückenden und peinvollen Eindrücken heimgesucht worden. Der glückliche Äskulapjünger schien das Entzücken mit mir zu teilen, wenigstens dauerte es einige Zeit, bis er zu seinem ärztlichen Bewußtsein zurückkehrte, bis jetzt hatte er seinen Augen und selbst seiner Hand eine Ergötzlichkeit und Freiheit gestattet, die nichts mit seinem Behuf als Heilkünstler gemein hatten. Ihr Götter, das war wohl verzeihlich; was hatte ich getan, wenn ich an dem Platze des alten Gecken gewesen wäre! Wahrlich ich beneidete ihn.«

»Das ist ein sehr unmoralischer Wunsch, mein Lieber«, bemerkte der König. »Man muß nie seinen Nebenmenschen um das Glück, das er genießt, beneiden, denn wir können nicht wissen, ob er nicht durch tugendhafte Handlungen dieses Glück vollkommen verdient hat.«

Der Page machte auf diese Rede des Königs eine tiefe Verbeugung und fuhr dann in seiner Erzählung[93] fort. »Ich hatte die Unvorsichtigkeit begangen, um besser sehen zu können, eine Warze auf der Nase zu erklimmen, um von diesem Rubinhügel hinabzuschauen. Ich hatte dadurch ein kleines unbehagliches Kitzeln veranlaßt, und der Alte fuhr mit der Hand an die Nase, um sich zu reiben. Im Nu haftete ich am Finger und wurde von diesem an das Instrument gebracht und nun saß ich an der verhängnisvollen Elfenbeinspitze, die eben bereit war, den ihr vorgeschriebenen Weg zu machen. Ha, Euer Majestät können sich meine Lage denken! sie war zugleich mit Entsetzen und mit Wonneschauern verbunden. Wohin sollte ich mich retten? Auf dem glatten Elfenbein hielt ich mich nur mit Mühe, noch weniger wäre es mir geglückt, auf dem Silberboden fortzukommen, und hatte das Schicksal mir einmal die wundersamste aller Todesarten bestimmt, wie wollte ich die kühne Hoffnung fassen, ihr zu entgehen? Ich ergab mich daher meinem Geschick, und auf der Elfenbeinspitze niederkniend gelobte ich, wie es einem untadelhaften Ritter ziemlich ist, mein Andenken der Fürsorge meiner Dame und machte mich auf mein letztes Stündlein bereit, indem ich in Gedanken alle diejenigen um Verzeihung bat, die ich vielleicht im Laufe meines kurzen Lebens könnte wider Verschulden beleidigt haben.«

»Das ist rührend«, rief die Königin. »Ich hoffe, daß [94] du auch dabei unser gedacht hast und der vielen Güte, die wir dir zu beweisen geruht haben.«

»Mit dem innigsten Dankgefühle tat ich dies, Ihro Majestät können es Ihrem unwürdigen Diener glauben«, entgegnete der Page in tiefster Ehrfurcht.

»Man unterbreche ihn nicht weiter!« rief der König ungeduldig. »Ich will wissen, welch einen Ausgang dieses Abenteuer nahm, das sich so drohend gestaltet.«

»Eurer Majestät zu Befehl!« entgegnete der Page. »Ich wurde gerettet. Grade als sich die Spitze dem Zielpunkte ihrer Wanderschaft näherte, wurde sehr vernehmlich an die Tür geklopft, und die schöne Tänzerin fuhr in die Höh'. ›Fort! fort!‹ rief sie dem Äskulap zu, ›da ist jemand, den ich nicht abweisen kann. Schlüpfen Sie in jenes Kabinett; er wird nicht lange bleiben.‹

Der Doktor gehorchte der Weisung. Der Dekokt und die Spritze wurden beiseite gebracht, und ein junger Herr trat ein, gefolgt von einem Pagen, der respektvoll an der Türe stehenblieb. Ich sah aus allem, daß es ein sehr vornehmer Besuch war. Die Tänzerin verschwand mit ihm in ein Nebenzimmer und diesen Moment, wo das Gemach leer blieb, benutzte der Page, der seine Blicke in stürmischer Eile über alle Gegenstände in diesen geheiligten Räumen hingleiten ließ, um die Spritze aus ihrem Versteck hervorzuholen. Anfangs [95] hielt ich entrüstet meinen Kameraden einer so unedlen Handlung, wie die des Diebstahls, fähig, bald aber bemerkte ich, daß ich ihm unrecht getan, daß er allerdings etwas stahl, allein etwas ziemlich Wertloses, nämlich die Elfenbeinspitze, die er mit großer Geschicklichkeit abschraubte, und in seine Tasche gleiten ließ. Die Spritze selbst stellte er wieder an die Türe mit einer so unschuldigen Miene, als hätte er kein Wasser getrübt. Überhaupt war unter den Pagen, die den unbekannten Planeten bewohnten, dieser gewiß der allerverschmitzteste und keckste Bursche, das sah ich seinen feurigen Augen an und seinem schelmischen Munde, der, wenn er lächelte, ein paar Reihen der schönsten Zähne zeigte. So befand ich mich nun in der Tasche dieses jungen Vagabunden, der ein schwärmerischer, aber wenig beachteter Verehrer der Tänzerin war. Ich fand in der Tasche einen Spiegel, einen Kamm und ein Stückchen Wachspomade, um den Bart zu schwärzen und zu steifen. Alle diese Dinge war ich schon hier unten gewohnt in der Tasche eines Pagen zu finden, und es befremdete mich daher nicht im mindesten, sie, freilich in einem ungeheuer vergrößerten Maßstabe, auch hier oben zu entdecken.

Es mochte ungefähr eine Stunde vergangen sein, als ich mit meinem neuen Träger den Weg zu dem königlichen [96] Palaste antrat. Das Haus der Tänzerin habe ich nie wiedergesehen, auch weiß ich nicht, wie der Leibarzt den Verlust seiner Elfenbeinspitze verschmerzte, noch weniger ist mir bekannt geworden, ob die arme Haushälterin aus ihrem Käfig befreit wurde, oder ob sie schmählich darin ihren Untergang fand. Es war mittlerweile Abend geworden, und ich sehnte mich nach Ruhe. Aber wo diese finden? Die Verfolgungen, mit denen das Schicksal mich beehrte, hatten noch lange nicht aufgehört, im Gegenteil, sie nahmen jetzt erst eine recht grausame und tückische Natur an. Die Gefahren, die ich bestanden, sollten ein Kinderspiel gegen die sein, die ich noch zu bestehen hatte: so war es im Rate der mir mißgünstigen Götter beschlossen.

Die Pagen auf dem unbekannten Planeten schienen in eben dem Grade Liebhaber von Punschbowlen und von nächtlichen Gelagen zu sein, als sie es leider hier hienieden sind. Davon sollte ich Zeuge sein. Kaum hatte im königlichen Schlosse sich alles dem Schlummer in die Arme geworfen, als ein Dutzend von diesen jungen Nichtsnutzen und Schlemmern sich in einer der untern Hallen zusammenfand und ihre Orgie feierte. Mein zeitweiliger Herr und Gebieter war natürlich auch dabei. Ich wartete noch immer, um zu erforschen, zu welchem Zwecke er die Elfenbeinspitze und mit dieser [97] mich geraubt haben könne. Bald sollte ich hierüber Licht erhalten. O wie verderbt war diese nichtswürdige Rasse! Welche Sitten! Wo blieb da die gerade unserem Stande so nötige Moralität und Sittlichkeit? – Welch ein Ungeheuer von verdorbener Phantasie war dieser Knabe! Ach, Eure Majestät gestatten, daß ich erröte, indem ich mich anschicke zu berichten, zu welchem Gebrauch der Unverschämte die gestohlene Spitze bestimmte.«

»Gut, erröte, mein Sohn, wenn du es durchaus nicht lassen kannst, allein dann wünsche ich, daß du auch schleunigst in deiner Erzählung fortfährst«, sagte der König.

»Als die ersten Gläser Punsch geleert waren, wurde eine Schachte mit Zigarren herumgereicht, denn diese kolossalen jungen Spitzbuben rauchten wie die Teufel« – setzte der junge Page seinen Bericht fort. »Um die Zigarren zu halten, brachten einige dieser Schlemmer elegante Pfeifchen hervor, mein Gebieter zog – die Elfenbeinspitze aus der Tasche. An diese befestigte er seine Zigarre, nachdem er sämtlichen Kameraden erzählt hatte, welchen Ursprungs sein Zigarrenhalter war, und wie und wo er ihn erbeutet. Dieser Bericht brachte ein schallendes Gelächter hervor und ein endloses Bravorufen. Der glückliche Besitzer dieser mysteriösen [98] Spitze wurde von den Rittern, die an dieser Artustafel saßen, beneidet, er wurde ersucht, sie hier und da auszuleihen, allein mit einem grenzenlosen Stolze schob er das Elfenbeinknöpfchen zwischen seine blühenden Lippen und sog mit einem nichts weniger als platonischen Behagen den Rauch seines guten Blattes hierdurch ein. Ich wußte mir nicht an ders zu helfen, als in den kleinen, krausen, schwarzen Bart, der Erstling eines Bartes, hineinzuschlüpfen, grade als die Spitze diesen Bart berührte. Hier in diesem Buschwerk war ich fürs erste sicher, aber Vorsicht war noch immer vonnöten; denn der ungeheure, dampfende Krater der Punschbowle dampfte mir beständig vor der Nase und hüllte mich oft vom Haupte bis zum Scheiten in nasse, heiße, betäubende Wolken ein.

War jedoch irgend etwas imstande, mich aus dem Unbehagen, in dem ich mich befand, herauszureißen, die Gefahr, der ich ausgesetzt war, vergessen zu machen, so war es der Name meiner angebeteten Prinzessin, der jetzt von einem dieser leichtfertigen Vögel genannt wurde. Sogleich war ich ganz Ohr. Man sprach von der Tugend der Prinzessin, und einige behaupteten ziemlich frech, daß es mit dieser nicht weit her sei. Ich war im höchsten Grade entrüstet. Schon wollte ich zugunsten der Angegriffenen ebenfalls meine Stimme[99] erheben, als ich die kleinmütige Betrachtung anstellte, daß ich schwerlich würde gehört werden, und wenn ich gehört würde, ich nicht der Prinzessin nützen, mir aber dafür wesentlich schaden könnte, indem ich die Aufmerksamkeit auf mich zöge. Ich schwieg und ließ die Verleumdungen meinem Ohre vorübergehen. Neben mir saß ein junger Bursche, der dasselbe tat. Er sah so unschuldig aus, daß ich überzeugt war, er schwiege still, weil er nicht nur nicht über die Prinzessin, sondern überhaupt über keine Frau der Welt etwas hierher Bezügliches zu sagen hatte. Wie sehr täuschte ich mich. Die Folgezeit belehrte mich, daß grade dieses keusche Josephgesicht den ärgsten Schalk barg, der je sich in einem Pagenherzen eingenistet. Das Gelage erreichte sein Ende. Man erhob sich taumelnd, und mein Herr Kamerad, der das seinige tüchtig geleistet hatte, raubte beim Heraustreten auf den Korridor der Kammerfrau der Prinzessin, die zufällig oder mit Absicht hier vorbeischlüpfte, einen Kuß. Dieser Kuß wurde so derb gegeben, daß ich dabei von dem Bart des jungen Mannes auf das Busentuch der Zofe niederfiel. Ich konnte mir zu dieser neuen Wendung meines Schicksals nur Glück wünschen, denn dadurch gelangte ich von neuem zu dem Ort, wohin mich meine stete Sehnsucht trieb, und von wo ich meine abenteuerliche Wanderung angetreten,[100] nämlich in das Schlafkabinett meiner angebeteten Prinzessin.«

»Ah,« rief der König, »du machtest also einen Kreislauf, oder vielmehr das Schicksal ließ dich einen machen, denn deinem eignen Willen war wohl hierin sehr wenig überlassen. Es soll mich nur verlangen zu erfahren, wie sich dieser merkwürdige Tag, den du auf dem unbekannten Planeten, in der Welt der Riesen, zubrachtest, endete.«

»Eure Majestät werden erfahren«, hub der Page an, »daß meine Abenteuer sich hier mit dem wunderbarsten und gefährlichsten schlossen, und noch, wenn ich daran denke, welchen bösen Zufälligkeiten ich unterlag, muß ich staunen, wie es mir möglich war, mit gesunden Gliedern zu entrinnen. So viel ist gewiß, daß ich kein Verlangen trage, meine schöne Prinzessin, die für mich eine Art Walfisch wurde, wiederzusehen oder überhaupt die Welt der Riesen wieder zu betreten. Ich habe an dem, was ich dort erlebt hatte, völlig genug.

Meine kolossale Schöne lag, als ich in ihr Zimmer gelangte, bereits schon im Bette; allein sie schlummerte nicht. Ich bemerkte dies deutlich, denn ihre Augenwimper zuckten, und von Zeit zu Zeit warf sie einen blinzelnden, forschenden Blick auf die Türe. Es war [101] Mitternacht, als diese sich leise öffnete und – o Eure Majestät geruhen zu erraten, wer sich hereinschlich.« –

»Wer?« rief der König. »Ich will hoffen, daß es niemand anders als der Bräutigam der Prinzessin war.«

»Leider nicht,« entgegnete der Erzähler, »es war jener sanfte, stille und schweigsame Page, den ich eine Stunde vorher bei dem Gelage zu beobachten Gelegenheit hatte. Wie erstaunte ich beim Anblick dieses Heuchlers! Ich wähnte anfangs, er sei irregegangen und werde sich erschreckt zurückziehen, wenn er bemerke, wo er sei, allein ich mußte gewahren, daß er tat, als sei er hier zu Hause. Meine Entrüstung überstieg vollends alles Maß, als ich die Prinzessin sich halb von ihrem Lager erheben und dem Eintretenden die Arme entgegenbreiten sah. ›O du Schändliche!‹ rief ich. ›Macht man hier solche Streiche? Hast du dazu einen solchen Riesenkörper erhalten, damit du auch nicht ein Plätzchen frei behältst, wo du ein bißchen Tugend und Ehrbarkeit aufbewahrst? Abscheulich! Was soll aus uns Kleinen werden, wenn nicht einmal so kolossale Kräfte dem Laster widerstehen? Aber warte! ich eile zu dem König, zu deinem Verlobten hin und teile ihm mit, was hier geschieht! Ich fordere ihn auf, unverzüglich herzukommen und seine Ehre zu retten.‹

In meinem tugendhaften Eifer hatte ich nicht bemerkt, [102] daß einer der seidnen Strümpfe meiner Schönen gerade mir im Wege lag, und kam so tief in die Irrgänge des Labyrinths, daß ich mehrere Minuten brauchte, ehe ich wieder zum Vorschein kam. Indessen hatte mein Herr Kamerad seinen Platz im Bette eingenommen. Es war zu spät, dem Könige jetzt eine so gehässige Meldung zu tun, und ich beschränkte meinen Eifer auf bloße Beobachtung der Dinge, die geschehen sollten, um nötigenfalls als Zeuge vor Gericht aufzutreten, wenn gewisse Dinge zur Sprache kämen. Mit unglaublicher Geschwindigkeit erkletterte ich den Bettpfosten und nahm meine alte Stelle auf dem Kopfpfühle ein. Diese war aber unter den jetzt obwaltenden Umständen gar nicht so sicher wie damals. Mir wurde sogleich die Notwendigkeit klar, mir einen festen Standpunkt zum Beobachten auszusuchen, und ich kam auf den Einfall, auf das Tischchen mich zu stellen, das dicht neben dem Bette stand und dazu diente, eine kleine Kristallvase zu tragen, in welcher die Nachtlampe hinter einem Schirm von rosenroter Seide brannte. Beim Schimmer dieses köstlichen Lichtes konnte ich alles sehen, was zwanzig Schritt im Umkreise geschah; zugleich hatte ich den Vorteil, mich hinter die Kristallvase retten zu können, im Falle mir Gefahr drohte. Auch lag eine abgestreifte Papierpapillote auf dem Tischchen; diese [103] stellte ich wie ein Zelt zurecht und machte auch hieraus eine Zufluchtstätte. Ich Kurzsichtiger, ich ahnte nicht, daß das böse Ungefähr mit einem Striche alle meine Vorsichtsmaßregeln zunichte machen könne. Ein unvorsichtiger Stoß vom Arm des Pagen warf die Lampe um, und nun war tiefe Finsternis im Zimmer, und was für mich das peinvollste war, ich schwamm in einem Meere von Öl. Die Prinzessin verhielt sich ganz ruhig; sie hatte eine guten Grund, die Kammerfrau nicht herbeizuzitieren. Aber, o Himmel! was sollte aus mir werden! Der Ölsee verlief sich zwar mit großer Schnelligkeit, allein immer noch war er so tief, daß ich bis zum halben Schenkel darin stand, und pestilenzialischer Duft von dem ausgehenden Dochte brachte mir unleidliches Kopfweh. Dabei die Finsternis, dabei drohende Gefahren aller Art, deren Natur ich nicht kannte, und denen ich daher nicht vorbeugen konnte! Es war eine Situation, die den Mutvollsten erschüttern konnte! Aber es sollte noch viel ärger kommen. Ich fühlte zwei Finger auf dem Tische herumtappen, die Kristallschale wurde aufgerichtet, und an den Fingern, die sich jetzt wieder zurück, und zwar unter die Decke zogen, blieb ich – triefend von Öl, wie ich war, haften. O ihr Götter, wo gelangte ich jetzt hin! Vergebens trachte ich, auch nur eine ungefähre Beschreibung des [104] Orts, an dem ich mich jetzt befand, zu geben. Ich sah nichts, ich fühlte nichts, als rund um mich weiche, elastische, heiße Wände. Diese Wände erweiterten sich und rückten aneinander in steter Bewegung, nirgends ein Punkt, wo ich mich festsetzen und mich auf ungefähre Beobachtungen einlassen konnte. Alles in diesem gefährlichen Verbleib schien ungewiß und trügerisch zu sein, jede neue Sekunde konnte unbekannte Gefahren heraufbeschwören, und sie tat es auch. Ich hätte die größten Schätze hergeben mögen für einen einzigen Strahl Lichts. Aber es blieb finster, es blieb heiß und beengend, mir fehlte die Luft, ich fiel zu Boden und meine Sinne verließen mich. Nur ganz dunkel wie der Begebenheiten in einem Fiebertraume weiß ich mich dessen zu besinnen, was weiter mit mir geschah. Es war mir, als wenn ich bei einem Schiffbruch auf die Spitze eines ungeheuren Balkens mich gerettet hätte, und als wenn dieser Balken mit mir in eine unermeßne grausenvolle Tiefe gefahren wäre. Finsternis, Heulen, Gedränge – alle Schrecken zugleich wüteten und tobten um mich her; eine Glut wie in einem Höllenrachen umfing mich. In den kurzen Momenten, wo mein Bewußtsein zurückkehrte, fühlte ich mich zusammengedrängt, erdrückt, zerquetscht, an allen Gliedern geklemmt, zugleich durchnäßt und halb versenkt, und umgewendet, hin [105] und her geschleudert, in hunderttausend Atome aufgelöst. Das war eine Nacht! ich werde ewig an sie denken! wie ich gerettet wurde, ich weiß es nicht; als ich erwachte, war es heller, lichter Tag und ich lag in der Kaminecke neben dem Bette, mit zerquetschten Gliedern, keiner Empfindung fähig, mehr tot als lebendig.

Meine Prinzessin saß an ihrem Putztische.

Von dem Pagen war keine Spur zu sehen.

Ich kroch an einen Tropfen Wasser hervor, der für mich schon ein ganz geräumiges Waschbecken bildete, hier säuberte ich mich, so gut ich konnte und setzte meine Kleidung, die gewaltig gelitten hatte, instand. Nach und nach kamen auch meine Kräfte wieder; das frische Wasser hatte sie belebt. Meine Jugend und meine gute Natur taten das übrige.«

»Hm« – bemerkte der König; »bei alledem weiß ich doch eigentlich nicht recht, was geschehen war.«

»Euer Majestät setzen mich in die unbeschreiblichste Verlegenheit,« stotterte der Page, »denn ich weiß es auch nicht. Jedenfalls war es ein entsetzliches Abenteuer.«

»Ja, das war es«, setzte die Königin hinzu.

»Als ich diese Gefahr bestanden hatte,« fuhr der Erzähler fort, »schien das Schicksal mit seinen Angriffen [106] auf mich sich erschöpft zu haben. Ich gelangte wieder auf die Erde zurück und zwar, indem ich mich an einen Spielball anklammerte, den ein Knabe im Hofe warf. Dieser Ball geriet in eine Lücke des Wolkenpflasters, und stürzte mit mir zur Erde hinab. Ich fiel gerade drei Monate, drei Tage, drei Stunden. Als ich hier anlangte bemerkte ich mit Freuden, das ich nur eine kurze Wegstrecke von Euer Majestät Palaste entfernt zur Erde gekommen war.«

Der König, die Königin und die Damen und Herren des Hofes bezeigten sich sehr zufrieden mit dieser Erzählung, und der König ließ sogleich einige Leckerbissen und Wein bringen, damit der Page sich erfrische und neue Kraft sammle, um nun auch den zweiten Teil seiner Reiseabenteuer vorzutragen. Dies war die Reise zu den unbeschreiblich Kleinen.

Der Page dankte für die Güte der beiden Majestäten auf die graziöseste Weise und schickte sich dann an, weiterzuerzählen. Der König gab das Zeichen, daß man aufmerksam sein solle. Alle waren still, und der Erzähler nahm wieder seinen Platz in der Mitte der Stube ein.

»Die unbeschreiblich Kleinen« – hub der Page an.

»Ach« – unterbrach ihn der König, »ich will hoffen, daß du sie doch wirst beschreiben können.«

[107] »Euer Majestät zu Befehl!« entgegnete der junge Mann ehrerbietig. »Ich werde versuchen, eine Anschauung von diesen wundersamen Geschöpfen zu geben. Euer Majestät wird ein Insekt bekannt sein, das man eine Mücke nennt?«

»Ein solches Insekt ist mir bekannt«, antwortete der König lächelnd.

»Nun«, sagte der Page, »so werden Euer Majestät sich vorzustellen geruhen, von welchen Dimensionen ein Geschöpf sein muß, von denen fünfzig an der Zahl unter dem Flügel einer Mücke Platz haben.«

Der König und die Königin sahen sich lächelnd an. »Wunderbar!« riefen beide. »Von solcher Kleinheit ist uns noch kein Wesen in der Schöpfung vorgekommen.«

»Und doch«, setzte der Page hinzu, »waren es die niedlichsten kleinen Männer und Frauen, die man sehen konnte, vollkommen ebenmäßig gewachsen, und mit allem ausgestattet, was uns ziert. Selbst die Kleidung war völlig wie die unsrige, von den Schuhschnallen der Herren an bis zum Ohrschmuck der Damen. Das kleine Krönchen, das die Prinzessin trug, von der ich eben zu sprechen die Ehre haben werde, war von einer solchen Kleinheit und doch dabei von einer solchen Zierlichkeit, daß die Phantasie, die sich mit derlei Gegenständen beschäftigt, sich nichts Köstlicheres ausdenken [108] kann. Das allerfeinste Frauenhaar war viel zu dick, um durch dies Krönchen gezogen zu werden, und doch umspannte es das Haupt der kleinen Prinzessin, vollkommen angepaßt. Von den Pantöffelchen der Prinzessin konnte man zwei durch ein Nadelöhr schieben, und ihre Ringe, die waren in der Tat von einer Kleinheit, die sich nicht beschreiben läßt.«

»Das ist alles recht schön,« sagte der König etwas ungeduldig, »allein du hast uns noch nicht erzählt, auf welche Weise du mit der Welt dieser unbeschreiblich Kleinen in Berührung kamst.«

»Euer Majestät«, hub der Page in einem flüchtigen Erröten an, »werden mir erlauben, daß ich hier, um zu dem vorgeschriebenen Zweck zu gelangen, etwas von meinen persönlichen Angelegenheiten einflechte.«

»Wie!« rief der König, »du hättest doch nicht wieder im Weine des Guten zuviel getan?«

»Allerdings nicht im Weine,« entgegnete der Page – »allein ich hatte mich in einem andern feurigen Elemente berauscht, und dies war – die Liebe.«

»Ach« – sagten der König und die Königin zusammen – »du warst verliebt.«

»Eure Majestäten zu Befehl!« erwiderte der Page mit einer sehr tiefen und sehr ehrfurchtsvollen Verbeugung.

[109] »Nun, und in wen? das möchten wir doch wissen.«

Der Page schlug mit einem tiefen Seufzer die Augen gen Himmel und rief: »Ach, in ein Wesen, das viel zu vollkommen war, als daß es mir, oder irgendeinem andern niedern Sterblichen erlaubt hätte sein können, den Blick dorthin zu richten. Ich hätte das wissen sollen. Genug, Kummer und Leid waren die Früchte, die der bittre Zweig dieses Liebesbaumes mir bot. Eure Majestäten mögen die Gnade haben, nicht weiter mit Fragen in mich zu dringen.«

»Das ist sonderbar!« sagte der König zur Königin gewendet, »indes da man nicht wissen kann, welche von unsern bekannten Damen mit in dies Geheimnis verflochten ist, die uns der Härte und Grausamkeit zeihen könnte, wenn wir ihren Namen vor aller Welt aufdeckten, so wollen wir ihm schon seinen Willen tun.« Die Königin, die unterdessen ihre Hofdamen betrachtet und eine darunter entdeckt hatte, die lebhaft errötete, neigte sich zu ihrem Gemahl und flüsterte ihm etwas ins Ohr, worauf beide taten, als hätten sie nichts bemerkt und dem Pagen befahlen, in seiner Erzählung weiter fortzufahren.

»Um mich von meinem Liebeskummer zu erholen« – setzte dieser seine Rede fort –, »entschloß ich mich, auf eine sehr ernsthafte Weise mit den Wissenschaften [110] abzugeben. Zu diesem Zwecke schloß ich mich unserm alten Hofgelehrten an und machte mit ihm weitläufige Spaziergänge. Eines Tages gingen wir durch eine enge, kleine Gasse, und der Gelehrte, der seine Augen überall hatte, entdeckte in einer stinkenden Gosse neben uns ein Ding, das wie ein Garnknäuel aussah, aber in der Tat kein Garnknäuel war. Er hob es auf, säuberte es ein wenig von dem daran haftenden Unrat und steckte es in die Tasche, nachdem er es vorher mit einiger Vorsicht in ein Stück altes Zeitungspapier eingewickelt hatte. Ich lachte ihn darüber aus, daß er ein so wertloses Ding so sorgfältig aufhebe, er aber kümmerte sich über meinen Spott wenig, und wir gingen unsres Weges fürbaß.

Zu Hause angelangt, nahm er den Knäuel und setzte ihn unter ein Glas, das, ich weiß nicht wieviel tausendmal, vergrößerte. Er rief mich herbei und ließ mich durchschauen, indem er sich lächelnd zurückbog. Himmel, was entdeckte ich! – In eine volkreiche Stadt fiel mein Blick, in deren Straßen es von buntgekleideten Spaziergängern wimmelte, wo es Kirchen und Paläste und weitläufige Plätze, verziert mit Springbrunnen und Statuen, gab. Nichts konnte lustiger sein, als dieses Treiben anzusehen. Ich sah kleine Männer, die mit allem Anstand, den sie nur immer auftreiben konnten, [111] ihre Frauen in die Kirche begleiteten, und anderswo sah ich wieder lustige Vögel, die haufenweise in ein winzig kleines Wirtshaus stürmten, aus dem – wie Mückengesumme so sein – Fidelklang und Trompetenschall hervortönte. In dem Schloßgarten sah ich aber ein allerliebstes kleines Mädchen sitzen, ganz in Goldbrokat gekleidet und mit Diamanten und Perlen überdeckt. Sie steckte wie ein kleines Leuchtkäferchen im grünen Laube. Es war eine so zarte, liebliche Schönheit, daß ich unwillkürlich meine Lände vor Erstaunen und Entzücken zusammenschlug, und dadurch machte, daß das Glas aus seiner Richtung kam und damit zugleich die ganze kleine Welt vor meinen Augen verschwand. Ich sah stumm und starr den grauen Garnknäuel an, dann wandte ich mich mit tausend Fragen an den Gelehrten, der mir erklären sollte, was ich gesehen.

›Das weiß ich selbst noch nicht,‹ entgegnete er etwas unwillig über meinen Ungestüm, ›in dieser Nacht werde ich mich mit den kleinen Geschöpfen in Korrespondenz setzen und dir dann morgen mitteilen, was ich erforscht habe.‹

Er hielt Wort. ›Ich habe den Hofgelehrten auf dieser kleinsten aller Welten gesprochen,‹ hub er an, ›und in ihm einen sehr humanen Mann gefunden, der nur leider ein gar zu eingefleischter Neptunist ist.‹

[112] ›Was ist das?‹ fragte ich.

›Ich will es dir sogleich erzählen‹, sagte der freundliche Alte. ›Es gibt unter uns Gelehrten, die sich mit dem Bau unsrer Erde beschäftigen und ihre Stoffe zu erklären suchen, eine Abteilung, die sich Vulkanisten, eine andre Abteilung, die sich Neptunisten nennen. Die erstern glauben, daß unsre Welt einst durch Feuer, die andern, daß sie durch Wasser untergehen werde.‹ Jener achtungswerte Gelehrte ist der Meinung, daß seine Welt durch Wasser untergehen werde, und er führt mir dafür an, daß bereits gestern die Hälfte seiner Erdkugel durch unermeßliche Fluten bereit gewesen sei, unterzugehen. Ich machte ihm begreiflich, daß diese Fluten nichts andres gewesen, als die unsaubern Feuchtigkeiten, die sich in der Gosse, wo ich den Knäuel gefunden, angesammelt. ›Wie?‹ rief er mit sehr erklärlichem Stolze – ›meine Welt sollte in einem kleinen schmutzigen Winkel der ihrigen gelegen und ich sollte diese Misere für ein Diluvium gehalten haben? Unmöglich.‹ Ich bewies ihm, daß dem gleichwohl so gewesen. Es dauerte einige Zeit, bis er mir glaubte. Nachher besah ich mit ihm zusammen die interessanten wissenschaftlichen Sammlungen, die auf diesem Miniatur-Planeten angehäuft waren, unter andern auch die Bibliothek, die manche sehr schätzbare und höchst seltne [113] Werke enthielt. Eine kleine Sternwarte war leider durch das Fragment eines Apfelkerns, das daran hängengeblieben, so schadhaft geworden, daß die innere sowohl als äußere Konstruktion nicht mehr herauszuerkennen war.

›Ach!‹ rief ich – ›was geht mich der Gelehrte an; sagen Sie mir lieber, ob Sie die kleine wunderschöne Prinzessin gesprochen haben?‹

›Ich habe mich nicht bei Hofe einführen lassen‹, bemerkte mein ehrlicher Alter etwas verstimmt. ›Dazu wäre die Zeit unpassend gewählt gewesen. Aber wenn du willst, so kann ich dich mit der Prinzessin bekannt machen.‹

Was konnte mir willkommener geschehen, als dies?

Was ich wünschte, geschah.

Vermittelst der optischen und akustischen Instrumente meines väterlichen Freundes kam eine Annäherung zwischen der Prinzessin, ihrem Hofstaat und mir in der Art zustande, daß wir uns gegenseitig verstehen und mit Muße betrachten konnten. Die Prinzessin setzte, wenn sie mit mir in Verkehr trat, ein Verkleinerungsglas ans Auge, demzufolge meine Riesengröße in die ihr so ziemlich zusagenden Dimensionen zusammenschmolz, während ich mich eines Vergrößerungsglases bediente. Mit unsern Augengläsern bewaffnet, genossen wir das Vergnügen, uns öfters unter vier Augen zu [114] sprechen. Die Prinzessin hatte mir das Versprechen abgenommen, daß ich sie nie in diskreter Weise auf ihren Spaziergängen im Garten oder auf dem Felde aufsuchen wolle. Da sie mir mit dem größten Vertrauen entgegenkam, so erfuhr ich sehr vieles, was den Hof meiner kleinen Schönen und ihre eignen Verhältnisse betraf. So mußte ich denn auch, daß sie einen jungen Ritter liebte, den ihr Vater vom Hofe verbannt hatte. Eines Tages gab sie mir mit einem Silberglöckchen das Zeichen, daß sie für mich zu sprechen sei. Ich richtete sogleich ein Glas auf die Umgegend des Palastes und entdeckte meine niedliche Gönnerin in dem entferntesten Winkel des Gartens, trauernd auf einer einsamen Bank sitzen. Ich wußte schon, was diese Stellung bedeutete, es war die Attitüde, die der Liebeskummer annimmt. ›Ach! mein Herr,‹ hub sie an, indem sie langsam ihr Glas ans Auge setzte, und einem teilnehmenden Blicke aus meinem Auge begegnete, ›ich setze meine ganze Hoffnung auf Sie. Wenn irgend jemand mich retten kann, so sind Sie es. Erfahren Sie, daß mein Vater, aufs äußerste erbittert über meinen Widerspruch bei der Wahl eines Prinzen, den er mir zum Gemahl bestimmt hat, entschlossen ist, mich in ein Gefängnis zu sperren, wo ich elend verschmachten soll. Was soll ich Unglückliche tun?‹

[115] ›Fliehen, mein Engel, fliehen!‹ rief ich ihr zu.

›Und wohin?‹ entgegnete sie schwermütig. ›Unser Planet ist nicht sehr groß, und mein Vater besitzt die Hälfte desselben als Eigentum, in die andere Hälfte teilen sich drei befreundete Könige, von denen einer sogar der Vater des mir aufgedrungenen Prinzen ist. Diese Tyrannen werden wahrhaftig nichts zu meiner Rettung tun, viel eher werden sie diese auf jede Weise vereiteln.‹

›Das ist möglich‹, sagte ich.

›Es ist kein anderes Rettungsmittel denkbar,‹ fuhr sie fort, ›als daß Sie mich entführen, mein Herr.‹

›Ich Sie entführen? meine Angebete?‹ rief ich erstaunt. ›Wie soll ich das anfangen? Wenn ich einen Fuß auf Ihren Planeten setzte, würde ich ihn mit allem, was darauf ist, zermalmen.‹

›Sie sollen auch nicht hierherkommen‹, antwortete meine Schöne mit einem sehr anmutigen Erröten. ›Ich werde zu Ihnen kommen, wenn Sie erlauben. Mit einem Worte, Sie nehmen mich von hier fort und bringen mich auf eine Zeitlang in Sicherheit.‹

›Wohin?‹ fragte ich.

›Wohin Sie wollen‹, entgegnete sie entschlossen. ›Wenn ich nur nicht meinem Vater in die Hände falle.‹

Wir verabredeten das übrige. In der Nacht, als alles auf dem kleinen Planeten schlief, setzte ich vorsichtig[116] eine halbe Nußschale, die ich vorher sehr sauber gereinigt hatte, an den Eingang des Parks, und die Prinzessin und fünf von ihren Hofdamen stiegen vorsichtig ein. Auch das Lieblingshündchen, dem man die Schnauze mit einem seidnen Tüchelchen verbunden hatte, damit es nicht belle, kam mit. Als alle in der Schale waren, setzte ich die andre Hälfte darauf, und hatte so eine ganz niedliche kleine Sozietät beisammen. Ich umschloß die Nuß mit einem roten Seidenbändchen und hob sie sorgfältig auf in einem Schränkchen, dessen Schlüssel ich bei mir in der Tasche führte. Alle Morgen und Abende ließ ich die Damen heraus, die auf der grünen Tischdecke ein Stündchen spazieren gingen und frische Luft schöpften. Alle Sonnabende nahm die Prinzessin mit ihren Damen ein Bad, das ich ihr zubereitete, indem ich einige Tropfen gewärmten und wohlriechenden Wassers in einen Fingerhut goß, den ich mir geborgt hatte. Für die Tafel und sonstige Bedürfnisse sorgte ich ebenfalls, auch stattete ich ihr täglich Rapport ab von dem was ich auf ihrem heimatlichen Planeten entdeckte.

Allein ich mußte bald bemerken, daß meine Kameraden nicht ganz ohne Kenntnis von meinem Geheimnis geblieben waren, und daß sie anfingen, die gefangenen Damen durch ihre Besuche zu belästigen, nachdem sie [117] sich einen Nachschlüssel verschafft, mit dem sie das Schränkchen in meiner Abwesenheit öffneten. Ich nahm daher die geheimnisvolle Nuß jedesmal zu mir, wenn ich ausging, und zwar wies ich ihr einen Ehrenplatz an, dicht an meinem Herzen, in meiner linken Westentasche. Eines Tages mußte ich jedoch lebhafte Vorwürfe von der Prinzessin hören. Sie und ihre Damen waren durch ein so furchtbares Pochen und Klopfen dicht an den Wänden der Nuß erschreckt worden, daß sie gefürchtet hatten, die Welt ginge unter. Ach, es war mein Herz gewesen, das durch sein unbescheidnes Pulsieren die Nähe meiner Damen verriet, an deren Fenstern ich eben vorbeiritt. Ich erklärte diesen Umstand der Prinzessin, und sie beruhigte sich, indem sie mit einem sanften Lächeln hinzufügte: daß sie selbst verliebt sei und daher nicht beklagen dürfe, wenn andre Wesen in ihrer Nähe unter dem tyrannischen Szepter der Liebe schmachteten. Doch – setzte sie hinzu – wünschte ich, daß Sie mich in eine andre Tasche übersiedelten. Ich schob die Nuß, da mir bei meiner Pagenjacke keine andere Tasche übrigblieb, in die Beinkleidertasche.

An einem schwülen Sommernachmittage badete ich mich gerade in einem kühlen, versteckten Waldsee, als ich plötzlich das kleine Silberglöckchen der Prinzessin vom Ufer aus vernahm. Ohne zu überlegen, in welchem [118] Zustande ich mich befand, eilte ich hin, und bemerkte jetzt, daß die Nuß aus der Tasche herausgerollt war, sich geöffnet hatte, und daß eben ein großer Waldkäfer im Begriff stand, den Damen einen Besuch abzustatten. Ich überwältigte den Feind, trieb ihn in die Flucht und kehrte zu meiner geängstigten Schönen zurück. Aber wie erschrak ich, als sie bei meinem Anblick alle einen Schrei ausstießen und in Ohnmacht fielen. Die Oberhofmeisterin erwachte zuerst, und, den Fächer vorhaltend, rief sie mir zu: ›Ungeheuer! ist dies eine Manier, sich Damen vorzustellen? Fort, aus unsern Augen!‹ Erst jetzt bedachte ich, was ich längst hätte bedenken sollen, daß ich nämlich so, wie mich Gott geschaffen, vor ihnen stand. Stammelnd brachte ich eine Entschuldigung vor und entschlüpfte.

Um mein Versehen wieder gutzumachen, verdoppelte ich meine Aufmerksamkeit und meinen Diensteifer für die Prinzessin. Unermüdlich war ich, ihr immer neue Nachrichten von ihrer Geburtsstätte zu bringen, und es gelang mir sogar, den Zufluchtsort des edlen Ritters, ihres Geliebten, auszukundschaften. Ihr jungfräuliches Schamgefühl wollte es nicht eingestehn, allein ich merkte nur zu gut, wie sie nichts sehnlicher wünschte, als mit dem angebeteten Gegenstande ihrer Neigung vereint zu sein. Was sollte ich tun? [119] mich gegen die zarten Wünsche unempfindlich zeigen? Diese schmachtenden Blicke und versteckten Seufzer übersehen und überhören? Dazu hätte eine unempfindlichere Natur gehört, als ich sie besaß. ›Schöne Prinzessin,‹ sagte ich eines Tages, ›ich besitze noch eine Nutz, die ich gerade so eingerichtet, gereinigt und tapeziert, auch mit den nötigsten Möbeln versehen habe, wie die Ihrige, soll ich dem Ritter den Vorschlag machen, sich hineinzubegeben, und so in meinem Schutz sich mit Ihnen, Holdseligste Ihres Geschlechts, zu vereinigen?‹ Die Prinzessin wollte weder ja noch nein sagen, allein aus ihrem Erröten konnte ich genügend erfahren, was sie wollte. Ich fing also den Ritter, der sich in der Irre herumtrieb, mit einigen seiner Gefährten in meine Nuß ein, und wies dieser den Platz in meiner zweiten Hosentasche an. So ging ich mit einem Roman in Miniatur in beiden Taschen herum. Kam ich nach Hause, so wurden beide Nüsse geöffnet, und die Herrschaften spazierten auf der Platte des Tisches herum, sich die artigsten Komplimente machend und sich die schönsten Dinge sagend.

Es blieb nicht lange so. Der Ritter hatte den sehr natürlichen Wunsch, mit seiner Dame vereinigt zu sein. Ich war ihm behiflich. And wahrlich, nie ward einem Gelegenheitsmacher die Arbeit so leicht gemacht; ich [120] brauchte nur in die Tasche zu greifen und flugs war eine Partei zu der andern gebracht. Die Prinzessin, die darauf ausging, ihrem Ritter Vergnügungen zu bereiten, veranstaltete ein kleines Souper, wobei gesungen, deklamiert und kleine Spiele vorgebracht werden sollten. Alles dies in meiner linken Hosentasche. Ich wußte davon nichts, und als diese Festlichkeiten begannen, befand ich mich grade unter dem Fenster meiner Dame, wohin ich mich bei eintretender Dunkelheit geschlichen hatte, um einen Blick, vielleicht gar einen Gruß zu erhaschen. Die Vorhänge waren geschlossen, allein doch nicht so ganz fest, daß mein Auge nicht einen Teil des Gemachs hätte erschauen können. Was sah ich! Götter, ich konnte zu keiner gelegenern Zeit hier eintreffen! Meine Dame machte gerade ihre Abendtoilette. Sie stand vor ihrem Pfeilerspiegel und die Zofe legte ihr ein blauseidnes Gewand an, das mit Perlen gestickt war. Mein lauschendes Auge kam zur rechten Zeit, um noch einen Teil des schönsten Busens, den jemals der Strahl der Lichter im Königssaale beschienen, frei in seiner göttlichen Vollendung zu erspähen.«

Als der Page diese Worte sprach, unterließ die Königin nicht, nochmals ihren Blick auf die Hofdamen zu richten, und sie entdeckte dasselbe und ein noch viel [121] heftigeres Erröten wie das erstemal. Sie machte den König darauf aufmerksam, der dem Pagen lächelnd drohte, welches gnädige Zeichen den jungen Mann so verwirrt machte, daß er kaum imstande war, seine Erzählung fortzusetzen.

»Ich stand«, setzte er zögernd hinzu, »wohl eine Stunde, ganz in dem Anschauen dieser himmlischen Reize vertieft, und konnte mich nicht satt an ihnen sehen. Ich befand mich in einem Zustand der Aufregung, der unbeschreiblich war. Das Bett der Geliebten stand dicht am Fenster, und ich bildete mir ein, es wäre geschaffen, um auch einst einen Platz für mich herzugeben, Schon wähnte ich mich dieses Platzes teilhaftig, und indem ich auf dem weichen Pfühl die Arme ausstreckte, fühlte ich den reizenden Körper an meinem Busen, und unsere Lippen vereinigten sich in einem langen, heißen Kusse. Taumelnd vor Begier hielt ich mich an den Mauerpfeiler und drückte meine fieberheiße Wange und Stirn an die äußere kalte Steinwand des Fensters.

In diesem Augenblick fühlte ich einen stechenden Schmerz an einem Teile meines Körpers. Ich achtete nicht sehr darauf, allein dieser Schmerz wiederholte sich in kleinen Zwischenräumen. Endlich blieb er aus. Es wäre mir unmöglich gewesen, den Grund dieser Erscheinung zu erspähen, wenn ich ihn nicht noch denselben [122] Abend als ich nach Hause kam, auf eine seltsame Weise erfahren hätte. Meine Prinzessin ließ mich kommen und machte mir die lebhaftesten Vorwürfe. ›Wie,‹ rief sie, ›heißt das das Amt eines Beschützers ausüben? Werden so arglose Gäste betrogen, die sich mit Vertrauen ergeben haben?‹

›Aber meine Gnädigste,‹ rief ich bestürzt; ›was ist denn geschehen?‹

›Was geschehen ist?‹ wiederholte sie mit Hohn und Zorn in der Stimme. ›And Sie wüßten es nicht, da es an Ihrem Leibe selbst vorging? das ist unmöglich.‹

›Was ist unmöglich?‹ rief ich immer noch ganz bestürzt. ›Ich weiß von nichts; dies schwör' ich bei meiner Ehre.‹

›Schweigen Sie‹, sagte die Prinzessin unwillig. ›Die Sache ist die: Kaum hatten wir unser Souper beendet und saßen noch am Tische, als dieser Tisch mit allem, was drauf stand, umgeworfen wurde. Eine furchtbare Erschütterung des Bodens fand statt; es bildete sich gleichsam unter unsern Füßen ein Berg, der immer höher anwuchs und die ganze Nußschale, in der wir uns befanden, zu zertrümmern drohte. Wir befanden uns in einer unbeschreiblichen Gefahr. Ein Teil meiner Hofdamen lag samt dem Gläser- und Tellerhaufen unterm Tisch, und die Ritter taumelten, als wenn sie [123] bezecht wären. Mein Geliebter, tapfer und unerschrocken, wie er immer ist, ergriff seinen Degen und, indem er die Ursache der Erschütterung des Bodens zu ergründen strebte, stieß er mehrmals mit seinem tapfern Schwerte hinein. Nun frage ich, was war das? Sie müssen's wissen, denn man hat nicht Taschen, ohne daß man weiß, was sich in ihnen oder unter ihnen zuträgt. Wenn Ihre Tasche für irgendeinen fremden Gegenstand zugänglich ist, so hätten Sie sie uns gar nicht als sichern Wohnort zuweisen sollen; vor allen Dingen war es unpassend, mich zu veranlassen, mein Souper auf einem so trügerischem Boden zu veranstalten. Was soll der Ritter davon denken, daß ich ihn einlade, damit er in eine Lebensgefahr gerate? Tun Sie nun Ihr mögliches, die Sache wieder gutzumachen; in keinem Fall kehre ich in die Tasche zurück.‹

Ich war während dieser ganzen Rede der Prinzessin wie mit Blut übergossen. Es wäre eine Unwahrheit, wenn ich behaupten wollte, ich hätte nicht gewußt, welcher Grund der Beschwerde meiner erzürnten Schönen Veranlassung gab. Ich erriet, gleich beim Beginn ihrer Erzählung, diesen Grund gar zu wohl; allein durfte ich wohl ein Wort davon äußern? And welche andere glaubwürdige Erklärung konnte ich dem Ereignis unterschieben? Meine Phantasie zermarterte [124] sich zwar, eine solche Erklärung zu finden, allein es gelang ihr nicht. Zum Glück für mich ließ sich die Prinzessin mit allgemein gehaltenen Tröstungen beruhigen. Ich traf Anstalten, sie anderswo unterzubringen, und erfand zu dem Ende ein eigenes Täschchen, das sich verschließen ließ, und das ich um den Hals hängen wollte, wenn ich ausging. Das Schicksal aber wollte, daß die Prinzessin meines weiteren Schutzes nicht mehr bedurfte. Ich brachte ihr eines Tages die Nachricht, daß ihr Vater, der König, gestorben sei, und so betrübt sie, als gute Tochter, über diesen Schmerzensfall war, so erfreute sie dabei doch die Hoffnung, nun in ihre Heimat zurückkehren zu dürfen. Ich brachte sie selbst mit allen ihren Damen sicher in den Palast zurück. Sie dankte mir in den zierlichsten Worten, und alle böse Laune gegen mich war verschwunden.

Wie sie ihren Hofstaat überzählte, merkte sie, daß der Hofastronom fehlte. Da sie diesen berühmten Gelehrten schätzte, war sie über sein Verschwinden untröstlich. Niemand wußte, wo er hingekommen war, und ich durchspähte den ganzen Planeten auf das sorgsamste, jedoch vergeblich. Meinem väterlichen Freunde teilte ich dieses Ereignis mit, und er gestand mir, daß er ebenfalls nicht wisse, wo sein Kollege sich hinverloren; zuletzt habe er noch auf der äußersten Spitze [125] des Turms der Sternwarte mit ihm gesprochen, und sehr interessante Belehrungen empfangen. Werden Euer Majestät raten können, wo dieser berühmte Gelehrte sich derzeit befand?«

»Wahrscheinlich in seiner Studierstube, oder im Monde, oder, der Himmel weiß, wo«, entgegnete der König.

»Er befand sich in dem hohlen Zahne unsres Hofgelehrten«, erwiderte der Page.

»Das ist belustigend,« rief der König, »ein Gelehrter in dem andern. And wie kam er in den hohlen Zahn meines Hofgelehrten?«

»Auf die natürlichste Weise«, nahm der Page das Wort. »Während des Gesprächs, das ziemlich eifrig geführt wurde, holte der Gelehrte etwas hastig Atem, und durch diesen Strom der Luft wurde jener von der Zinne des Turmes, auf der er sich befand, emporgerissen, und gelangte in den offnen Mund, und dort in einen der hohlen Backenzähne seines Kollegen. Er konnte von Glück sagen, daß er nicht in den Schlund hinabglitt, wo dann schwerlich für ihn Rettung gewesen wäre. Unser Gelehrte wußte aber nichts davon, daß er seinen Freund, der plötzlich vor seinen Augen verschwand, bei sich beherbergte. Erst den andern Morgen nach einer durch lebhafte Schmerzen im hohlen Zahn schlaflosen Nacht brachte er vermittelst eines goldenen Zahnstochers [126] den Verschwundenen wieder ans Tageslicht. Der Gerettete war eben so erstaunt, wie der Retter. Der erstere hatte geglaubt, einer jener heftigen Äquinoktialstürme, mit deren Beobachtung er sich ebenfalls beschäftigte, habe ihn erfaßt und in irgendeine Untiefe geschleudert. Im Zahne angelangt, hielt er diesen Zahn für eine Felsengrotte und richtete sich darin so gut wie möglich ein. Als ein Philosoph und als ein Gelehrter von sehr frugaler Lebensart und einfachen Sitten bekümmerte ihn die Wildheit und Einsamkeit seines neuen Aufenthalts wenig. Da er nicht wußte, wie lange sein Schicksal ihn hier lassen würde, beschloß er, jedenfalls seine kostbare Zeit nicht zu verlieren. Er zündete eine kleine Wachskerze an, die er immer bei sich führte, setzte sich auf einen Felsenriff der Grotte und zog einen Folianten hervor, der über algebraische Berechnungen handelte und trigonometrische Tafeln enthielt. So saß er die ganze Nacht und studierte, während das heiße Wachs in die Höhlung des Zahns tröpfelte und sehr erklärlich jene Schmerzen verursachte, von denen unser Gelehrter gepeinigt wurde, und die ihn die Nacht nicht schlafen ließen.

Beide Freunde verständigten sich leicht über den Unglücksfall und schieden, indem sie sich einander die herzlichste Teilnahme versicherten.

[127] Die Prinzessin, als sie ihren Hofgelehrten wiederbekam, war sehr erfreut. Bald darauf feierte sie auch ihre Vermählung mit dem schönen Ritter. Ich war froh, daß dieses Fest nicht in meiner Hosentasche gefeiert wurde, denn ich sah damals alle Abende meine Dame. Sie ließ für mich das Fenster offen und plauderte mit mir, indem sie sich hinauslehnte, und somit ihren schönen Busen meinen Augen und Lippen so nahe brachte, daß mehr wie ein Kuß in der verschwiegenen Stille der Nacht geraubt wurde.«

Hier schwieg der Page und machte eine tiefe Verbeugung.

»Ist deine Erzählung nun zu Ende?« fragte der König.

»Sie ist's – Euer Majestät zu Befehl!« entgegnete der Gefragte.

»Nun wohl«, sagte der König sehr gnädig. »Zur Belohnung für das Vergnügen, das du uns bereitet schenke ich dir die Hand deiner Dame und zugleich ein Haus, einen Garten und fünfzig Beutel Goldes. Ist dir das recht?«

»Euer Majestät«, antwortete der dankbare Page, »belieben Ihre Großmut für mich nach dem Maßstabe abzumessen, der im Lande der Riesen herrscht, während leider mein Verdienst kaum hinreicht, um es mit der [128] Elle zu messen, die im Reiche der unbeschreiblich Kleinen im Gebrauch ist.«

»Ich werde Zeit meines Lebens«, sagte die Königin mit heiterer Miene, »an den kleinen Gelehrten denken, der beim Lichte der Wachskerze im hohlen Zahne sitzt und studiert.«

»Und ich,« rief eine der Hofdamen, »wenn Ihre Majestät erlauben, werde stets mit Vergnügen an die lustige Szene denken, wie das Erdbeben die Nußschale um und um schleudert und Tisch und Bänke übereinanderfallen.«

Und jeder und jede im Kreise hatte ein Abenteuer, das ihm besonders gefiel. Der Page hatte es allen zu Danke gemacht.

[129] [131]Liebesgeschichte eines alten Messingleuchters.

In einer Rumpelkammer stand neben einem Waschbecken von Kupferblech ein alter Messingleuchter, den die Jahre krumm gebogen und ihn mit Beulen und Flecken überdeckt hatten. Der alte Leuchter erzählte dem Waschbecken seine Geschichte.

»Vor langen, langen Jahren ging ich eines schönen Tages, glänzend wie Gold und stramm und straff von Gestalt, mit allem versehen, was eines Leuchters Glück in dieser Welt machen kann, aus der Werkstätte meines Meisters hervor. Die Köchin in einem vornehmen Hause kaufte mich und rief, als sie mich in der Hand hielt:


›Welch herrlicher Leuchter!
Welch prächtiges Stück!
Sicherlich bringt er
In unser Haus Glück.
[131]
Nun will ich nur gehn
Und ein Licht mir ersteh,
Ein Lichtlein so sauber und sein,
Das paßt für meines Leuchters goldnen Schein.‹

Und so trat sie denn in den Laden, wo man Kerzen feilbot, Kerzen von allermöglichen Größe und von dem verschiedensten Gehalt. Ich fühlte mich auf das heftigste bewegt. Der große Moment war gekommen; ich sollte mich vermählen, ich sollte ein zartes Wesen finden, das für mich paßte, das ich heißliebend mit meinen Armen umschließen sollte, das seine Tränen an meinem Busen weinen, das bis an den letzten Hauch seines Lebens ganz und völlig mein sein sollte. ›Welche von euch allen –‹ rief ich den Hunderten von schlanken weißen Kerzen zu, die ich oberhalb dem Ladentische in Reih' und Glied hängen sah – ›welche von euch allen wird die meine werden?‹ Es war mir, als ginge ein Geflüster unter den Lichtern, als sie mich eintreten sahen. In der Tat, ich war ein Mann, wie sich manches dieser hübschen Kinder einen wünschen mochte. Eine dicke Unschlittkerze stieß ihre Nachbarin an und sagte:


›Siehst du, wer da eintritt?
Wie männlich sein Schritt,
Wie stolz seine Haltung!
An der Hüfte welch ein Schwung!
[132]
Im Blick welche Strenge!
Doch fürcht' ich, ist er zu enge‹

Die Nachbarin erwiderte:

›Für uns ist das kein Mann!
Ich brauche Platz,
Dort steht mein Schatz,
Die Stallaterne.
Wir liebäugeln schon lange
Ganz aus der Ferne.
Bei dem ist mir nicht bange,
Daß ich was verderbe,
Oder – daß ich sterbe
In allzu enger Umarmung.‹

Eine andere Kerze sagte zu ihren sechs Töchtern:

›Jetzt stramm euch gehalten!
Recht sein getan!
Es müßte mit dem Teufel zugehn
Verschafft' ich euch heute keinen Mann!
Ihr fangt schon an einzugehn.
Ihr werdet winzig,
Ihr werdet bitter,
Ihr werdet maulig,
Ihr werdet faulig.
[133]
Es hatte zwanzig
Töchter meine Nachbarin,
Für alle fanden sich Ritter,
So muß es gehn,
Will eine Mutter bestehn!
Ihr aber bleibt mir sitzen.
Das kann nichts nützen.‹

Eine einsam für sich hängende Kerze seufzte leise:

›Soll ich mich entschließen,
In Liebestränen zu zerfließen?
Soll ich einem Mann gehören?
Ich, die da schwur,
Ewig nur
Als reines, jungfräuliches Talg
Mich in Andacht zu verzehren?‹

Eine alte Kerze sagte zu ihrer einzigen schiefen und gelben Tochter:

›Du Balg!
Wird's einmal? Werd' ich dich los?
Mein Jammer ist groß!‹

Und alle diese Damen richteten ihre Blicke uns Hoffnungen auf mich. Allein ich hatte mein Herz schon verschenkt. Ein Blick und mein Geschick war entschieden. Diese oder keine. Jene holde, edle Wachskerze [134] mußte es sein, die ich dort hinter der Glasscheibe des Eckschränkchens leuchten sah. Ich wußte wohl, dieses edle Wesen war über meinem Stande; es war für einen silbernen Leuchter geboren – allein, mein Fehler war nicht übertriebene Demut, ich war stolz; ich war so sehr Aristokrat, wie es ein silberner Leuchter nur sein konnte. Zum Glück für mich – an welchem Haar hing hier mein Schicksal! – hatte meine Köchin so viel Geld bei sich, daß sie die Wachskerze kaufen konnte, und so kam denn eine der glücklichsten Ehen zustande, die je hier unterm Monde geschlossen worden sind.


Sie war so weiß, sie war so zart,
Und meine Brust war eisenhart,
So geschah denn, daß sich paarte
Das Starke und das Zarte.

Mein Weib war ganz Unschuld und süße Unbefangenheit; sie sagte mir einmal:

›Wir Kerzen haben ein Gedächtnis,
Wir brennen ab, wir schlummern still,
Der Gott, der uns durchleuchten will,
Gibt nur ein spärliches Vermächtnis;
Der Funke sprüht,
Der Docht verglüht,
Und was wir schauten, schnell stirbt es fort,
Wir fassen wenig nur von Zeit, von Bild, von Wort.‹

[135] Und so lebte das holde Wesen in meinen Armen fast bewußtlos fort. Sie leuchtete, sie wärmte – mehr wollte sie nicht: das echte, edle Weib, das für die Außenwelt tot ist und nur für ihren Gatten lebt.

Wir zogen in das Haus eines alten Mannes ein, der ein hübsches, junges Weib geheiratet hatte. Die Köchin ließ mir merken, daß ich in diesem Hause ein langes, bequemes Dasein haben würde, denn jedes Möbel wurde dergestalt geschont, daß es das Greisenalter erreichte. Es war ein Haus der Ordnung. In der Tat, so lange der alte Hausherr in diesen Räumen waltete, hatte ich über keine Unbill zu klagen; aber, als er fort war, da hatte auch mein Glück, meine Ruhe, meine Sicherheit ein Ende, und ich geriet bald in den Zustand, in welchem du mich jetzt siehst, Aber ich will dir den ersten Abend beschreiben, wo ich in das Haus eingeführt wurde. Es war Schlafenszeit – in einem kleinen Zimmer, in welchem ein Bett stand, und der Kamin eine treffliche Glut spendete, saß der Alte und das junge Weib. Sie waren schon fünf Wochen vermählt, und jetzt endlich kamen gewisse Dinge zur Sprache, die sonst wohl zwischen jungen feurigen Liebesleuten noch vor der Hochzeit abgehandelt werden. Die Sache war die, daß der Alte sich etwas zugetraut hatte, was er, wie er nunmehr merkte,[136] nicht durchzuführen imstande war. Ich und mein junges Weib hatten unsere Freude davon an dem Gespräch, das jetzt stattfand. Sie saß auf ihrem Polsterstühlchen in lieblicher, schmollender Stellung zusammengekauert und spielte mit ihrem silber- und goldgestickten Pantöffelchen, das sie vom nackten Fuß bald abzog, bald wieder anlegte. Die rote Flamme spielte auf ihren runden Schultern und warf feurige Glut auf die quellenden weißen Brüste, die über dem grünen Sammet des abgestreiften Kleides hinwogten, ihr blondes Haar hing in langen Ringen über die helle weiße Stirn und an den geröteten Wangen hinab. Er saß auf einem Lehnstuhl und ließ die Daumen übereinanderrollen, indem er den Blick vor sich hin in die Glut des Kamins heftete:


O wie töricht, wenn ein alter
Nachtfalter
Sich mit einer hüpfenden Libelle,
Die schön wie der Morgen
Und flüchtig wie die Welle
Zusammengibt zum Ehebunde;
Das gibt Angst und Sorgen
Zu jeder Stunde.

›Nun, mein Kind, wie gefällt dir der schöne, große Spiegel mit dem silbernen Rahmen, den ich dir geschenkt?‹ fragte der Alte.

[137] ›Ganz wohl‹, entgegnete sie. ›Er zeigt mir nur, was ich schon weiß, ein trauernd Angesicht.‹

›Aber der neue Gürtel, in Form einer goldenen Schlange‹, fragte er weiter. ›Keine Prinzessin hat ihn schöner.‹

›Der Gürtel sagt mir nur,‹ entgegnete sie ›daß mein Leib verfällt, und daß ich mager werde.‹

›Ei Kind, und wovon wirst du denn mager und worüber machst du ein trüb' Gesicht? Bist du nicht mein Weibchen? Leben wir nicht wie die Turteltäubchen zusammen? Kann es eine bessere und vergnügtere Ehe auf Erden geben?‹


O du böser Bube,
Wie magst du so sprechen,
So nahe der Grube
Wagst du eine Rose zu brechen?
Und kannst ihr doch nicht geben Tau, Wärme und Licht?
Geh, alter Tor,
Verbirg dein runzlich Angesicht,
Zieh die Schlafmütze übers Ohr!

›Ob es eine bessre Ehe gibt, als die unsre,‹ hub das junge Weibchen an, ›weiß ich nicht, aber eine vergnügtere gibt's sicherlich. Schon unser Nachbar, der junge Seifenfabrikant, wie tändelt er mit seiner Frau,[138] so Tag wie Nacht, und wie blühend sieht sie aus und wie guter Dinge! Und ich hab's gemerkt:


Sie schläft nicht allein –
Bei des Nachtlichts Schein
Schleicht sich was ins Zimmer hinein.
Es ist der Mann,
Er kommt so sacht,
Er kommt so leis,
Und sie – sie erwacht!
Sie stellt sich an,
Als schliefe sie, doch ich weiß,
Sie wacht – sie wacht.
Sie hat ihn erwartet,
Es war abgekartet
Zwischen den beiden,
Ich weiß es bestimmt.
Und daß das Spiel der Freuden
Jetzt seinen Anfang nimmt.
Ich steh' hier im Dunkeln,
Die Sterne funkeln,
In meiner Kammer ist's hell,
Niemand, der mich erfreuen will.‹

›O was das betrifft,‹ hub der Alte an, ›so gib nur acht, auch deine Kammertür wird sich einmal öffnen, und wie dort der Seifenfabrikant, so komm' ich hier[139] hereingeschlichen. Da ich aber ein frommer Mann bin, so müssen wir abwarten, bis von den dreihundertundfünfundsechzig Heiligen, die jedem Tage im Jahre vorstehen, zufällig einer verreist ist. Denn du siehst wohl ein, daß während der Heilige da ist, solch ein eitles und irdisches Werk nicht wohl vor sich gehen kann. Es würde ihn beleidigen.‹

›Gut, ich werde warten, bis ein Heiliger verreist‹, sagte sie.

Er rief:


›Der erste ist der heilige Ziprian,
Dem sah ich schon die Luft zu reisen an,
Auch Kordula, die heil'ge Frau,
Hat ihr Pilgerhütchen grau,
Den Pilgerstab und das Muschelkleid
Zur Wanderung gelegt bereit.
In nächster Woche, kannst du hoffen,
Stehn zwei Freudentag' dir offen.‹

Sie stand auf, machte ein helles, freundliches Gesicht, zugleich eine schalkhafte tiefe Verbeugung und sagte lachend:


›Ich wünsche gutes Reisewetter,
Der frommen Frau und ihrem Vetter!‹

Aber der Alte konnte nicht Wort halten. Es ging nicht – es ging durchaus nicht! Und als die Tage [140] Ziprianus und Kordula kamen, ging er niedergeschlagen und betrübt zu seinem Weibchen und sagte: ›Denk dir nur, mein Kind! Kordula hat ihren Entschluß geändert, sie bleibt fürs erste noch zu Hause.‹

›Und Ziprianus?‹ sagte die Frau.
Er erwiderte:

›Ein Heil'ger hat oft tolle Grillen,
Der will ein neues Reisekleid.
Ich muß ein alt' Gelübd' erfüllen,
Das ich ihm tat vor langer Zeit,
Goldstoffe und Borden einzukaufen,
Muß ich jetzt in Eile laufen.

Aber die heilige Anna wird verreisen, und sie nimmt, wie ich ganz gewiß weiß, ihre Muhmen, die heilige Portiunkula und die heilige Petronella mit. Da hast du drei Freudentage am Anfang des nächsten Monats zu erwarten‹, sagte der Alte.

So erhob sie sich wieder, trocknete schnell die paar Tränchen, die ihr aus Ärger und Verdruß über die rote Wange hinabgelaufen waren und sagte, indem sie sich lächelnd verbeugte:


›Wenn die drei Damen reisen wollen,
Soll'n sie sich in Gottes Namen trollen!
Das Wetter ist schön, die Wege eben,
Ich wünsche ihnen, wohl zu leben!‹

[141] Als aber der Annen-, der Portiunkula- und der Petronellen-Tag kam, hieß es: o weh! die drei Heiligen reisen doch nicht! Es ist wieder abbestellt.


Petronellen ist das Häubchen naß,
Portiunkula hat dies und das,
Was sie ab vom Reisen hält,
Bei Annen hat sich Migräne eingestellt.

›Hol' der Kuckuck die Damen!‹ rief das junge Weibchen; ›ich weiß es aus Erfahrung, in meiner Muhme Hause, wo ich aufgezogen wurde, wenn die einmal reisen wollte, kam es auch nie dazu. Immer war noch etwas zu besorgen, und wenn der Tag ankam, war keine fertig. Nein, die Männer sind mobiler. Weißt du denn niemand, der den Fehler des heiligen Ziprianus wieder gutmacht?‹

›Ich weiß von allen nur den heiligen Christoph‹, entgegnete der Alte. ›Der reiset aber auch ganz bestimmt, und zwar schon übermorgen. Das ist ein resoluter Heiliger, der sich in seinen Entschlüssen nicht so leicht abhalten läßt.‹

Die junge Frau machte wieder eine Verbeugung und sagte lächelnd:


›Also Herr Christoph reist über Berg und Tal;
Ich wünsch' im Glück vieltausendmillionenmal!‹

Als aber der Christophorus-Tag kam und das kleine [142] Weibchen sich schon auf die Nacht freute und dachte: Halt, Seidenfabrikant, heute wird auch hier Seide gesponnen! kam ihr Alter atemlos und rief: ›Denk' dir das Unglück! Der heilige Christoph war schon fort, da hat er seinen Regenschirm vergessen und kehrte wieder um. Nun ist er da und – es wird nichts daraus! Das nenne ich Mißgeschick haben!‹

Das Weibchen antwortete nichts darauf; in seinem Sinne nahm es sich vor, nunmehr auf die Abreise keines einzigen Heiligen mehr zu hoffen, Sie gab sich ihrer Trauer hin und gedachte ihr Leben lang Trübsal und Langeweile zu empfinden, da kam eines Tages die Straße herab –


Ein Husarenoffizier,
Ein hübsches Bürschchen,
Schlank wie die Tanne.
Der sah hinauf
Zur kleinen Susanne
Und hemmte seinen Lauf,
Er blieb am Laden
Gegenüberstehn.
Sie saß am Fenster,
Ihr riß der Faden,
Die Nadel zerbrach
Welch Oh! und Ach!
[143]
Der böse Junge,
Das hat er getan!
Mit einem Sprunge
Ist er wieder fort,
Doch morgen um dieselbe Stunde
Ist er wieder am Ort.
Und so geht's die ganze Woche fort.

Ich und mein Weibchen merkten recht wohl, wieviel die Stunde geschlagen. Um elf Uhr nachts, wenn der Alte schlief, wurde meine Kerze angezündet und ich mit ihr in eine gewisse Stellung zwischen Schrank und Fenster gesetzt, was denn ein verabredetes Zeichen bedeutete, daß der junge Husar sicher ins Haus schlüpfen konnte. Soweit war rasch das Einverständnis gediehen, nachdem die gehörige Anzahl Liebesbriefchen vorher waren gewechselt worden.

Das junge Weibchen lebte ganz wieder auf: sie rief frohlockend:


›Dies Leben muß ich preisen!
Bei dem sind die Heiligen
Ewig auf Reisen.‹

Zu ihrem Alten sagte sie, als er ihr einmal mitteilte, daß er glaube, die heilige Katharina werde wohl bald einen kleinen Ausflug in die Ferne machen. ›Ei, rat ihr, daß sie zu Hause bleibe, wir haben jetzt Winters[144] Anfang und böses Wetter, da taugt es nicht, daß alte Personen sich auf der Landstraße umtreiben.‹

›Wie sprichst du jetzt so wunderlich, mein Kind!‹ rief der Alte. ›Es gab eine Zeit, wo du über eine solche Nachricht sehr erfreut gewesen wärest.‹

›Ich habe meinen Sinn geändert‹, sagte sie kurz.

Dem Alten tönte diese Rede seltsam in den Ohren. Er schöpfte Verdacht, daß nicht alles so sei, wie es sein sollte. Dazu war sein hübsches Weib jetzt immer so guter Laune, und dies verdach seine Laune, denn er dachte sehr richtig: wahrlich, durch mich ist sie doch nicht guter Laune gemacht worden, also wahrscheinlich durch einen andern.

In einer Nacht stand er leise auf, nahm mich in die Hand, nachdem er vorerst meine Kerze vorsichtig angezündet und ihr Licht durch einen grünen Schirm gedämpft hatte und schlich sich in die Kammer der Frau. Dort beugte er sich übers Bett.


Da sah er die Bescherung,
Da gab's eine Erklärung,
Da warf der Junge den Alten
Zum Tempel hinaus.
Er mußte entfliehn
Aus dem eignen Haus
Und in die Weite ziehn.
[145]
In der Nacht, der kalten,
Holt er sich den Schnupfen,
Holt er sich den Husten,
Und unter Keuchen und Prusten
Gab er den Geist auf. –
Es heiratete drauf
Das Weibchen ihren Schatz.
Im Hause war nicht Platz
Genug für die Menge
Der Gäste und das Gedränge,
Das jetzo hier brauste.
Die Hoffart, die hier hauste,
Richtete zugrunde
Das Haus; der Wuchrer kam
Und Besitz von der Habe nahm.
Das Pärchen zog vom Ort
In die weite Welt fort.

Was mein Schicksal betrifft, so wurde ich unter anderm alten Geröll in die Polterkammer geworfen. Ein alter Teekessel fiel auf mich und schlug mich schief. Staub und Schmutz überzog mich. Mein liebes Weib war längst dahin. So hatte ich im Leben nur einen kurzen, aber schönen Liebestraum geträumt. Wenn ich das Geschick des armen Alten betrachte, den sein Weib betrog, und dessen Leben verkürzt wurde durch[146] Kummer und Gefahr, so konnte ich mich glücklich preisen.

Dies ist nun meine Geschichte.«

Das Waschbecken versicherte, daß es nie eine interessantere gehört habe.

[147] [149]Das fliegende Sofa.

Es waren einmal drei junge, hübsche Mädchen, die erbten von ihrer alten Großmutter ein Sofa; dieses Sofa war:


Von grünem Plüsch,
Und stand in einer Nisch'
Am Fenster beim Ofen,
An traulichem Plätzchen.
Manch altes Schätzchen
Hatte darauf gehauset,
Zwieback gekauet,
Mustörtchen geschmauset.
Den Nächsten zerzauset,
Und Kaffee in Massen
Gefüllt in die Tassen.
Dann hatten die Alten
Manch lustiges Schläfchen
In den Polstern gehalten.
[149]
Mit knöchernen Nasen
Um die Ecke geblasen,
Und dann wieder saßen
Sie aufrecht und strickten
An langen Strümpfen.
Oder flickten
Die alten mit Schimpfen.
So ging es tagaus, tagein
Bei Sonnen- und bei Lampenschein.
Das Sofa wurde alt
Und runzlich und kalt.
Es bildeten sich Gruben
Und für Insekten Stuben,
Es löste sich manch Band,
Manche Farbe schwand;
Von Schokolade, von Kaffee, von Tee
Bildete sich ein See.
Die Alten nahmens nicht peinlich,
Sie waren nicht reinlich.
Die zitternden Hände,
Die schwabbelnden Lippen
Ließen manches überschippen.
Jetzt, da behende
Man das Sofa vom Ort stieß,
Sich der ganze Schaden wies.
[150]
»Was soll geschehn? –
Soll'n wir das alte Möbel
Auf den Trödlermarkt schicken?«
Sprachen die drei Mädchen schön.
»Das würde sich nicht schicken«,
Sprach die jüngste, Adelgunde.
»Die Großmutter hat ihn
Gebraucht bis zur Stunde.
Wir lassen ihn neu überziehn
Und setzen es, wer wird es sehn?
In unser Schlafgemach, da kann es stehn.«

Und wie die weiße und liebevolle Adelgunde es angeordnet, so geschah es. Das Sofa erhielt einen neuen Überzug, auch wieder grüner Plüsch, aber so funkelnd neu, daß es wie eine im Abendrot schimmernde Wiese aussah. Und nun stand es im Winkel neben dem Bette Adelgundens.

Eines Abends, als diese eben allein im Zimmer war und sich das Haar aufwickelte, denn sie wollte eben ins Bett steigen, hörte sie eine Stimme, die sprach:

»Ich will dir, edles Mädchen, zum Dank dafür, daß du mich nicht hast auf den Trödelmarkt schicken wollen, wie es deine grausamen Schwestern beabsichtigten, mein Geheimnis mitteilen: Ich kann fliegen.«

Adelgunde hüpfte anfangs mit Schrecken weit weg[151] von dem sprechenden Möbel, dann aber blieb sie stehn, legte den Finger an die Nase und sprach in Gedanken vertieft:


»Ein Sofa fliegen!
Dann könnt' ich auf ihm liegen,
Und auch mit fliegen?«

»Gewiß kannst du das. Du brauchst nur an die Feder zu drücken, die hier links unter meinem Seitenpolster verborgen ist, so fliege ich mit dir sogleich fort und bringe dich so hoch du willst. Nur eine Bedingung muß ich machen, du mußt den Anstand und die guten Sitten, während ich dich trage, weder mit Worten noch Werken verletzen.


Ich muß
Recht sehr bitten:
Keinen Kuß –
Oder sonst etwas,
Was man verschweigen muß.«

Adelgunde versprach dem Sofa seine Forderungen zu gewähren, da sie sie sehr billig und angemessen fand. Alsdann rief sie: »Wie wäre es, wenn ich noch zu dieser Stunde einen Versuch machte? Meine Schwestern sind auf dem Ball, und kommen vor Sonnenaufgang nicht wieder, unterdessen kann ich eine kleine Luftfahrt [152] machen.« Gesagt, getan: sie setzte sich aufs Sofa, öffnete die beiden Fensterflügel, drückte an der Feder, und


Ruck – ruck!
Ruck – ruck – ruck!
Knarrend, schnarrend, scharrend
Rumort es im Leder;
Es klirrt eine Feder,
Es spielt eine Haspels,
Es tönt eine Raspel;
Und ruck – ruck!
Das Sofa bewegt sich,
Ruck, ruck, ruck!
Aus der Ecke heraus,
O Wonne! O Graus!
Nun gar ein Beben
In allen Kissen,
Ein Schweben, ein Heben;
Fort, fort, hinaus!
Ins Freie, in die Nacht –
Aus dem Fenster gedrängt,
Rechtsum geschwenkt,
Fort, fort, um die Ecke,
Und nun wirbelnd empor,
Immer höher, immer höher
Zum Wolkenflor!
[153]
Ach – der Atem entweicht,
Die Nachtluft streicht
Um Knie und Wade –
Der Rock aufgeblasen
Schlägt zusammen überm Haupt.
Ha! welch ein Rasen
Hoch in den Lüften!
Wer hätt' das geglaubt!
Das arme Kind
Vor Schrecken blind
Und taub, fährt mit Wimmern
In die Nacht dahin.
Nur flüchtig, wie im Traume,
Sieht sie im Himmelsraume
Den Mond und die Sterne schimmern;
Hört unten tief brausen
Die waltigen Hügel,
Und dann wieder sausen
Ungeheure Flügel
An ihr vorüber, und mit Gier
Schaut auf sie nieder ein Raubgetier.
Endlich hat der Zauber
Sein Werk getan,
Und sie langt wieder an
In sichrer Kammer.
[154]
Zerzaust, o Jammer!
So Nachthäubchen wie Kamisol,
Verloren ist das Chemisettchen,
Verloren das goldne Kettchen
Mit dem Kreuzchen und Ringe.
Wo liegen die Ringe?
Wer kann es sagen,
Vielleicht in Kamtschatka,
Vielleicht bei den Hottentotten;
Denn so entsetzlich schnelle
Ging noch nie eine Reise.
Wie wohl tut die Helle
Im Kämmerlein, wo so leise
Die Uhr tickt – nach solch einer Reise!
Und ruck, ruck, ruck!
Das Sofa begibt sich
Und schiebt sich
Wieder in die Ecke, wie sich gebührt
Und sich nicht weiter rührt.
Niemand sieht ihm an,
Was es getan.

Als die Schwestern nach Hause kamen, lag Adelgunde bereits im tiefem Schlafe.

Wie sie sich entkleideten, und Petronella, die älteste, ihren Arm auf die Sofalehne legte, zog sie ihn schnell [155] zurück, und rief: »Was ist das? Ein Vogel hat hier auf dem Kissen hofiert! Wie kommt ein Vogel in das Zimmer?« Und als Lieschen, die zweite Schwester, ihre rotseidenen Ballschuhe unter das Sofa schieben wollte, rief sie: »Was blitzert da an dem einen Fuße? Wahrhaftig, das ist ein Stück von der Wetterfahne auf dem Turme. Wie kommt dieses Stück zu unserm Sofa?« Und beide Schwestern wunderten sich nicht wenig, als sie diese seltsamen zwei Zeichen fanden. Als sie vollends die zerrissenen Kleider ihrer Schwester sahen, das Häubchen voll Spinnweb und welker Blätter, und dürre Zweiglein daran, riefen sie: »Hier muß etwas Besonderes vorgefallen sein!


Adelgunde, Adelgunde, erklär' uns das!
Adelgunde, warum ist das Sofa naß?
Adelgunde, Adelgunde, erklär' uns das!«

Adelgunde, die nicht willens war, ihr Geheimnis zu verraten, erwiderte schlaftrunken: »Was weiß ich, wie dies zusammenhängt. Vielleicht hat eine von euch den Türmer zum Liebhaber, und der hat zur Sicherheit, während er vom Turme ging, in die Westentasche den Wetterhahn eingesteckt, damit man ihn nicht stehle, und nun hat er ihn hier vergessen. Was den Schmutzfleck betrifft, so hat ihn wohl die Katze gemacht.«


[156]
»Oho! das nenn ich angeführt!
Eine Katze, die wie ein Vogel hofiert!«

Die Schwestern ließen sich mit diesen Erklärungen nicht abfinden, allein da sie nichts weiter erfuhren, müßten sie sich endlich wohl zufriedengeben, und legten sich in ihre Betten. Im Traume rief Adelgunde:


»Nur aufgepaßt
Und links gefaßt!
Da schnappt es ein,
Ha, drück' nur sein
Am silbernen Knöpfelein,
Dann hebt sich das Sofa und fliegt in die Luft!«

»Aha!« riefen die Schwestern, die noch wachten, »da haben wir's!« Und sie winkten einander leise zu, zeigten auf das Sofa, und jede legte sich wieder zum Scheine schlafen, allein keine konnte ein Auge schließen denn das Geheimnis mit dem Sofa beschäftigte sie auf das angelegentlichste. Die eine dachte: Wenn das Sofa fliegt, und ich auf ihm, so will ich dies, und die andere dachte: »so will ich jenes mir recht genau betrachten.« Die erste dachte: »Ich will sehen, ob der Zeiger an der großen Turmuhr wirklich von Gold ist, wie man mir gesagt hat«, und die andere drohte: »Ich will an dem Giebel unseres Hauses nachsehen, wie er[157] dort aussieht.« Und beide riefen, als Adelgunde erwachte: »Wir wissen's!«

»Was wißt Ihr?«

»Das Sofa kann fliegen.«

»Ei, wer hat euch das gesagt?«

»Mein kleiner Finger!

Mein großer Zeh!

Mein linkes Ohrläppchen!

Meine rechte Augenwimper!

Mein Grübchen am Kinn,

Mein Härchen hinterm Ohr,

Mein Wärzchen am Finger,

Mein Mal auf der Wange.«

»Oh!« rief Adelgunde, »wenn ihr so viel Plaudertaschen unter euren nächsten Angehörigen habt, so kann man euch freilich nichts verbergen. Ja, es ist wahr: das Sofa kann fliegen, aber soll ich euch raten, so laßt uns dies Geheimnis vor allen Leuten bewahren, um es ganz ungestört für uns zu nützen.« »Ja, das wollen wir«, riefen die Schwestern, »niemand soll etwas erfahren. Wir wollen nur immer nachts ausfliegen, und zwar wollen wir unsern Weg in recht einsame Gegenden nehmen, wo wir gewiß sein können, nicht erblickt zu werden.«

Sie konnten die nächste Nacht nicht ermatten. Endlich [158] kam die passende Stunde. Als alles im Hause und in der ganzen Stadt schlief, setzten sich die drei Schwestern recht eng zusammen auf das Sofa, denn eigentlich hatte es nur für zwei Platz, schraubten leise die Fensterflügel auf, Adelgunde drückte es am Knöpfelein, und nun ging die Reise an, hinaus aus dem Fenster, und nun immer höher, so hoch, daß die Stadt und die vielen Häuser ganz klein erschienen, wie Kinderspielzeug, und der Wald wie etwas krause, schwarze Wolle. Wie sie so hinschwebten, ging der Mond auf, und stieg wie eine prachtvolle große goldgelbe Kugel an dem tiefdunkeln klaren Himmel hinan. Die Schwestern auf ihrem Sofa glitten an dem Monde dahin, und Adelgunde sang:


»Sieh hier, o Mond,
Drei Mädchen dir nahen,
Drei Schwestern sollst du wissen,
Lieschen, Petronella, Adelgunde,
Wir grüßen dich fein.«

Und dabei nickten die drei mutwilligen, frohen Mädchen dem Monde zu und verneigten sich vor ihm grüßend, und dann umarmten sie einander und lachten und jubelten und wußten nicht, was sie hoch oben in der lauwarmen Sommernacht alles für Tollheit und Schäkerei begehen sollten. Endlich fielen sie [159] darauf, dem Monde ihre Lieblingswünsche vorzutragen. Petronella sang:


»Ich wünsch' mir einen Mann.
Doch mußt du wissen,
Einen Mann zum Küssen.
Nicht zum Schwärmen,
Zum Härmen.
Ich will etwas Festes,
Etwas Derbes,
Vom Besten ein Bestes,
Etwas Rohes, Herbes,
Der, wo er drückt,
Man fühlt sich blau gezwickt.«

Und Lieschen sang:

»Nun höre, Mond,
Auch Lieschens Lied!
Ich will einen Mann,
Einen blonden, feinen,
Nicht allzu kleinen,
Nicht allzu langen.
Bleich von Wangen,
Als hätt' er eben geweint.
Ein Auge, das scheint
Durchsichtig wie Mondlicht.
Ein Bärtchen im Gesicht,
[160]
Nicht allzu kraus,
Grad' so etwas fürs Haus,
Um täglich davon zu küssen.
Die Lippen müssen
Nur halb versteckt sein,
Wie hinter Blättern der Wein.
Dann muß er haben eine warme Hand
Und sonst noch allerhand.«

Adelgunde, als sie ihre Schwestern so singen hörte, erhob auch ihre Stimme und sang:

»Ich bitte um nichts,
Als um Tugend und Verstand!«

Die beiden Schwestern riefen: »O wie einfältig! So etwas versteht sich ja von selbst; dergleichen wünscht man nicht.«

Nach dieser ersten Ausflucht ging es nun fast alle Nächte in die Luft. Lieschen und Petronella befriedigten ihre Neugier in Hinsicht des Hausgiebels und des Uhrzeigers, und als dies geschehen war wüßten sie nicht, was sie noch weiter in Augenschein nehmen sollten. Adelgunde schlug vor, die Sterne zu beobachten, allein die Schwestern riefen: »Das ist langweilig. Wir wollen den Blick auf die Erde richten, da gibt es immer etwas zu sehen. Nur gehört es dazu, daß wir etwas früher ausrücken, in der Dämmerstunde etwa,[161] wo man, die Gestalten und Dinge noch erkennen kann.«

»Mir recht,« entgegnete Adelgunde, »nur seid vorsichtig. Unser Sofa ist nicht unsichtbar, wenn man uns gewahr würde, könnte es uns schlimm gehn.«

»Was kann uns geschehn?« rief die eine der Schwestern. »Erblickt man uns und stellt man uns nach, so fliegen wir rasch noch höher und immer höher, wer will da nachkommen?«

»Jawohl, wer will da nachkommen?« sagte die andere Schwester. Adelgunde mußte wohl schweigen, doch hatte sie ihre Pflicht getan, die Schwestern zu warnen.

Eines Abends flogen sie aus und schwebten über einem schönen, klaren Waldsee, auf dessen Spiegel die letzten Sonnenstrahlen tanzten. Aus dem Walde kamen drei junge Jäger, die warfen ihre Kleider ab und badeten sich im See. Der eine war geradeso, wie Petronella sich einen Mann wünschte, der andre geradeso, wie Lieschen sich einen gewünscht hatte, der dritte war vielleicht geradeso, wie Adelgunde, wenn sie überhaupt einen Wunsch ausgesprochen, einen Mann sich gewünscht hätte. Diese drei jungen Männer sprangen in die Flut und bewegten sich im Wasser nach Herzenslust. Die zwei Schwestern betrachteten alles sehr genau, [162] was ihr Blick erreichen konnte, Adelgunde jedoch mahnte zur Rückkehr. Sie hatte sehr recht, denn ehe die Mädchen es sich versahen, war einer der jungen Männer ans Ufer gesprungen, hatte seine Flinte ergriffen und richtete sie mit dem Ausruf in die Luft: »Seht, was da fliegt! ein Adler, oder was sonst!« Und der Schuß ging los, und


»O weh! – o weh!
Mein Knie – meine Wade!
Ich fleh
Um Gnade!
Ihr tollen Knaben, was habt ihr getan!
Was fällt euch ein?
Das war ja mein Bein!
Das war ja mein Knie!
Das vergeßt auch nie!«

So klagten und jammerten Lieschen und Petronella; Adelgunde hatte nur einige Schrotkörner in ihren Schuh erhalten, die sie ausschüttete, aber die Schwestern bluteten heftig und verlangten sehnlichst nach Hause. »Was hab' ich euch gesagt?« rief Adelgunde; »wir haben die gehörige Vorsicht außer acht gelassen.«

»Nie wieder setz' ich mich auf das verwünschte Sofa!« rief Lieschen.

»Und ich tu's auch nicht mehr!« rief Petronella.

[163] »Welch eine Frechheit von diesen Menschen!« klagte Lieschen.

»Welch eine Abscheulichkeit von diesen Strauchdieben!« setzte Petronella hinzu, indem sie ihre blutende Wade mit wohlriechendem Wasser wusch. Beide weinten heftig.

Die drei Schwestern ließen jetzt einige Zeit vergehen, ehe sie wieder einen Ausflug machten, dann aber trieb es Lieschen und Petronella, ihren Übeltäter aufzusuchen. Da sie schon wußten, daß Adelgunde ihnen die Fahrt widerraten würde, so benutzten sie die Zeit, wo sie beide allein ohne ihre Schwester entschlüpfen konnten. Das Sofa brachte sie wieder zum See, und sie trafen's so glücklich, daß sie am Ufer einen jungen Mann schlafend fanden, den Lieschen sogleich für ihren Bösewicht erkannte, wie sie ihn nannte. Er schlummerte so fest, daß das Sofa ohne Gefahr sich ganz tief niederlassen konnte, und die beiden törichten Mädchen hatten Muße, den jungen Jäger so genau zu betrachten, als sie nur immer wollten. Endlich, nachdem sie das Sofa im Walde in Sicherheit gebracht, erschienen sie sorglos am See und gaben sich die Miene, als gingen sie dort spazieren. Lieschen fing absichtlich so laut zu singen an, daß der Jäger erwachte und nicht wenig erstaunt war, zwei junge Mädchen von großer Schönheit so [164] dicht in seiner Nähe zu sehen. Er war nicht blöde und machte nach Weise kecker, junger Burschen sogleich Bekanntschaft.

»Wo ist dein Freund?« fragte Petronella.

»Ganz in der Nähe«, entgegnete der junge Mann.

»Schläft er etwa auch?«

»O nein. Er steht im Walde versteckt auf der Lauer. Wir haben hier vor einigen Tagen einen sonderbaren Vogel in der Luft bemerkt, ein Untier von einer höchst seltsamen Gestalt. Ich schoß danach und fehlte; nun will mein Freund versuchen, ob er glücklicher ist.«

Die zwei Schwestern riefen:


»Dieser Vogel waren wir!
Dieses Untier steht vor dir!«

»Nicht möglich!« rief der junge Jäger und schlug die Hände über dem Kopfe zusammen, »So allerliebste, zuckersüße Mädchen – ihr wollt ein Untier sein!«

Die Schwestern lachten:


»Und doch ist es so.«
»Ihr glaubt, ich sei ein Tor,
Setzt diesen Floh
Einem andern ins Ohr!«

Die Mädchen zeigten nun ihre Wade und ihr Knie, und der andre Jäger, der nun auch hinzukam, nahm mit seinem Gefährten zusammen den Schaden, den sie [165] angerichtet, sehr genau in Augenschein. Zuletzt bekannten sie sich schuldig und baten um Gnade.

Die leichtsinnigen Mädchen waren froh, zwei so hübsche Liebhaber gefunden zu haben, und teilten den jungen Männern alsobald das Geheimnis mit dem Sofa mit. Sie verabredeten nun, bald sollte Petronella mit ihrem Liebsten, bald Lieschen mit dem ihrigen in die Luft hinaufsteigen, um hoch oben, von niemand belauscht, ungestört miteinander kosen zu können.

Allein das Sofa war nicht dieser Ansicht: so wie Petronella mit dem Jäger in den Lüften sich befand, und er den Arm um ihren Nacken gelegt, ausrief:


»Nun Kuß auf Kuß –
Welch ein Genuß!
Es waltet in Stille,
In lieblicher Fülle,
Um uns die Nacht,
Kein Ohr, kein Auge
Hier oben wacht«,
so erhob sich plötzlich die Stimme im Sofa und sprach ihren bekannten Spruch:
»Ich muß
Recht sehr bitten,
Keinen Küß!
Oder sonst etwas,
Was man verschweigen muß.«

[166] Die Liebenden fuhren entsetzt empor: sie hatten diese unangenehme Dazwischenkunft eines Dritten nicht von fern erwartet. Das Sofa machte überdies seine Warnung noch dadurch eindringlich, daß es an zu schwanken begann und allerlei seltsame Bewegungen in der Luft machte, die Lieschen einen Angstschrei entlockten. Alle Liebeslust verlor sich aus ihrem Herzen, und sie war froh, als sie wieder auf sicherer Erde sich befand. Ganz ähnlich ging es Petronella, und beide Schwestern klagten ihre Not Adelgunde, die ihnen eine weise Strafpredigt hielt und das Versprechen abnötigte, nie wieder ohne sie, das heißt, nie wieder ohne Adelgunde, eine Fahrt zu beginnen.

Anfangs hielten die Schwestern das Versprechen und sahen ihre Liebhaber nur in Gegenwart ihrer vorsichtigen und klugen Schwester, allein bald wurde ihnen diese Beaufsichtigung widerwärtig, und eines Tages, als Adelgunde sich dessen am wenigsten versah, waren sie mit dem Sofa entflohen und blieben viele, viele Tage fort. Niemand wußte von ihnen Hie geringste Nachricht zu geben: sie waren verschwunden.

Als lange Zeit nachher Adelgunde eines Abends mit ihrem Gemahl – denn sie hatte den dritten jungen Jäger geheiratet und war sehr glücklich mit ihm – spazierenging, gewahrte sie im Schilf am Ufer des[167] wohlbekannten Waldsees einen Gegenstand, der wie eine kleine goldene Kugel aussah. Näher tretend erkannte sie, daß das kleine leuchtende Ding der Knopf an der Sofalehne war, und jetzt, halb im Schlamme begraben, entdeckte sie auch das verlorengegangene Möbel, wie es hier in einem traurigen Zustande tief im Schilfe steckte, und Unken und Frösche auf seinen Polstern Platz genommen, Jetzt erriet Adelgunde den ganzen Zusammenhang der traurigen Vorfälle. Das Sofa hatte sich mit den ungehorsamen Liebenden in die Tiefe des Sees gestürzt und jene waren elend darin umgekommen, zur Strafe für ihre Lüsternheit. Man fand auch die Leichen der beiden Mädchen und der jungen Männer. Adelgunde ließ sie anständig begraben, mit einem Denkmal, auf dem das Sofa abgebildet war, und ein weiser Spruch darunter, der vor den Gefahren des Ungehorsams und des Leichtsinns warnte.

Adelgunde ließ das magische Sofa wieder instand setzen, und ohne sein Geheimnis irgend jemand zu verraten, zog sie allein selbst Nutzen daraus, indem sie einen mäßigen und weisen Gebrauch von seinen Kräften machte. In sternenhellen Nächten ließ sie sich von ihm emportragen, und indem sie Mond und Sterne betrachtete, sang sie Loblieder auf die Größe und Schönheit der Schöpfung. Öfter benutzte sie auch dieses [168] Mittel, um hinter die Geheimnisse der Armut und des Elends zu kommen, und dann da Hilfe zu bringen, wo man solche am wenigsten erwartete.


Oh, das war edel!
Ein Fliegenwedel
Gegen Mücken und Wespen der Armut sein!
Abzuwenden die herbe Pein!
Wer möchte da nicht im Besitz
Des magischen Sofas sein?

[169] [171]Die sechs Waldkirschen.

Sechs Schwestern wohnten in einem Walde beisammen und wurden von Zeit zu Zeit von einer mächtigen Fee, die ihre Pate war, besucht. Sonst kam jahraus, jahrein niemand zu den sechs Mädchen, und sie waren Winter und Sommer immer allein. Diese Einsamkeit wurde durch die Güte und Macht der Fee versüßt; wenn sie zum Besuche kam, brachte sie stets in ihrem Körbchen, neben andern Gaben, sechs reife Waldkirschen mit, von denen sie jeder Schwester eine gab und zugleich sagte, die Besitzerin möchte sich irgendein lebendes Geschöpf wünschen, und alsobald, wenn die Fee ein gewisses Wort gesprochen, verwandelte sich die Kirsche in das verlangte Geschöpf. Das war nun sehr anmutig und zugleich sehr belustigend. Die eine Schwester wünschte sich ein Eichkätzchen, die andre ein Täubchen, die dritte ein Hündchen, die vierte einen Papagei, die fünfte eine weiße Maus, die sechste ein Lämmchen, das sie an einem rosenroten Bande im [171] Walde herumführte. Am zwölften Tage kam regelmäßig die gute Pate wieder und nahm ihre Geschenke mit, die sie in Kirschen zurückverwandelte und brachte sechs neue Kirschen mit, aus denen die Mädchen sich wieder neues hübsches Spielwerk erschufen; so fehlte es in ihrer Einsamkeit nie an Gesellschaft und Unterhaltung, und das Haus im Walde war so belebt und heiter, als wenn es mitten in der volkreichsten Stadt gestanden hätte.

Einst saßen die Mädchen auf einem grünen Platz im Walde und jedes hatte seinen Liebling bei sich. Da hub Zeline, die älteste, an, indem sie den zierlichen Kopf ihres schokoladenfarbenen Windspiels, den sie sich diesmal von der Fee erbeten, auf ihrem Knie ruhen ließ: »Ich möchte mal unsre Pate fragen, ob sie uns nicht auch Menschen machen kann. Die Tiere sind ganz hübsch – aber sechs hübsche, kluge und lustige Mädchen, die mit uns hier im Walde spielten und sängen, um die Wette liefen und abends den Reihen um die große Eiche herumtanzten, wären mir doch lieber.«

»Ja – ja!« riefen die zweite, dritte, vierte und fünfte, allein die sechste schüttelte den Kopf und sagte: »Ich weiß nicht, liebe Schwestern, ob das uns guttun würde. Wir lieben uns alle so herzlich, die sechs fremden Mädchen, die doch nicht bei uns bleiben könnten, [172] sondern um zwölf Tage wieder Abschied nähmen, würden das gute Einvernehmen zwischen uns stören. Meint ihr nicht, daß unsre gute Pate, wenn sie der Ansicht gewesen, daß menschliche Gefährtinnen uns nottäten, nicht solche uns schon längst gegeben hätte? Ich meinesteils glaube sicherlich, daß sie ihren guten Grund hat, so zu tun, wie sie bis jetzt getan. Wir wollen ihr keine Wünsche vortragen, die sie zu befriedigen nicht die Absicht hat.«

Aber die Schwestern hörten auf diesen Rat nicht. Als die Fee wieder erschien, riefen die fünfe einstimmig: »Diesmal mach' aus den Kirschen keine Tiere, sondern junge, lustige Mädchen, so wie wir sind.« Die sechste mußte wohl oder übel auch in diesen Wunsch einstimmen.

Die Fee berührte mit ihrem Zauberstäbchen die in dem grünen Laube so zierlich ruhenden sechs schwarzen glänzenden Kirschen, und siehe da, plötzlich standen in dem Zimmer sechs schlanke junge Mädchen, eine immer hübscher wie die andere und alle mit den schönsten kohlschwarzen, glänzenden Augen und dem herrlichsten schwarzen Haar.

»Ach! – ach! ach!« riefen die Schwestern; »da sind ja unsre Freundinnen, unsre Gespielinnen!«

»Wie wollen wir nun froh und lustig sein!« Und[173] jede nahm sich eine der neuen Ankömmlinge und führte sie in ihr Zimmer und zeigte ihr alle ihre Schränke, gefüllt mit Putzsachen, und ihre Tische, auf denen eine Menge niedlicher Figuren und kostbaren Gerätes stand. Die Mädchen taten nicht im mindesten fremd, und es schien, als wären die sechs Gäste seit Jahren die innigsten Vertrauten und Bekannten. Als es Abend wurde und Kerzen hereingebracht wurden, saßen alle zwölf Mädchen um den großen runden Tisch, mitten in der Stube und spielten Lotterie oder spielten Karten. Nachts, wenn die Bäume im Walde säuselten, lagen sie im sichern, warmen Bette, immer zwei Mädchen in einem Bette, und es wußte eine der andern allerlei Geschichtchen zu erzählen, so daß sie erst spät und unter angenehmen Schauer einschliefen. Am Morgen gingen sie in den Wald und pflückten Blumen; am Mittag verzehrten sie ihr Mahl im Freien und sangen und lachten dabei mit hellen, anmutigen Stimmen, daß es weit durch den Wald schallte, und die Vögel ringsum neugierig aus den Zweigen blickten.

Das war ein Leben.

Am zwölften Tage, als die Fee kam, ihre Gaben wieder zurückzufordern, war großes Wehklagen im Waldhause. Die sechs fremden Mädchen wollten nicht fort, und die sechs einheimischen wollten sie nicht lassen. [174] Die Fee nahm endlich mit großem Ernste das Wort und sagte: »Kinder, ihr wißt nicht, was ihr begehrt. So weit auch meine Macht geht, so kann ich die Naturgesetze doch nicht ändern. Zwölf Tage erhält sich eine Waldkirsche frisch, geht's über die Zelt hinaus, so wird sie welk, wie jede Frucht, und was ich aus der Kirsche gemacht, wird ebenfalls welk. Wollt ihr nun sehen, wie euer liebes Spielwerk unter euren Händen zusammenschrumpft? Das wäre ein häßlicher Anblick. Darum folgt meinem Rat und gebt gutwillig die Mädchen her, daß ich sie wieder verwandle. Ich habe in meinem Korbe sechs frische Kirschen mitgebracht, daraus will ich euch neue Gespielinnen schaffen.«

Es war nicht rätlich, der Fee zu widersprechen. So nahmen die Freundinnen denn rührend und unter Vergießung zahlloser Tränen voneinander Abschied, und die sechs fremden Mädchen wurden wieder Kirschen, und die sechs neuen Kirschen wurden ebenso lustige und hübsche Mädchen, als die Verschwundenen gewesen waren.

Nun ging die Freude von neuem an.

Die eben angelangten Freundinnen hatten die Putz-und Kostbarkeiten in Schränken und auf den Tischen noch nicht gesehen, es war also wieder ganz neues Entzücken, sie ihnen zu zeigen. Zugleich richtete man [175] sich im voraus darauf ein, daß die Freundschaft nur zwölf Tage dauerte, und daß am Mittag des zwölften Tages man sich trennen müßte. Es fand sich aber jetzt schon, daß die Freundschaft manchmal schon früher zu Ende ging. Die fremden Mädchen brachten Kleider mit, die oft so schön und sogar schöner waren, als die einheimischen aufzuweisen hatten. Dies gab Streit. Dann gab es beim Spielen so viel Launenhaftigkeit, und beim Gesang so argen Zank, um diese oder jene Note, und zuletzt wollten die einheimischen sogar bemerkt haben, daß die fremden beim Spiel betrogen, Kurz, zuletzt konnten die sechs Mädchen den zwölften Tag kaum erwarten, wo sie ihre Gäste wieder los wurden. »Hab' ich's euch nicht gesagt?« rief die jüngste. »Es ist so gekommen, wie ich prophezeit habe. Wir wollen nun zu unsern Hündchen und Lämmern zurückkehren.«

»Ach nein!« rief die älteste, »das ist fade und langweilig. Ich wüßte wohl, was wir jetzt wünschen könnten.«

»Nun was denn?« fragten die andern neugierig.

Die älteste ließ mit schalkhafter Miene einige Zeit vergehen, ehe sie antwortete. »Nun,« sagte sie endlich, »könnt ihr noch fragen, was ich meine? Es soll nur jede daran denken, was sie sich heimlich oft gewünscht hat.«

[176] »Was wir uns heimlich gewünscht haben? Und was wäre das? Ei – ei! hm! hm!« riefen sie durcheinander und legten die Zeigefinger an die Nasenspitzen.

»Nun,« rief die älteste, »fällt euch nichts bei?«

»Ich habe mir einmal ein rosenfarbenes Hündchen gewünscht«, sagte die dritte. »Aber so etwas gibt es nicht, und darum ist's ganz unnütz, es sich zu wünschen.«

»Ist auch ein alberner Wunsch!« bemerkte die älteste spöttisch. »Was soll denn ein rosenfarbenes Hündchen? Einfältig. Nein, ich hab' etwas ganz andres im Sinne.«

»Doch etwas Lebendiges?«

»Ja, etwas sehr Lebendiges, das uns die Zeit vortrefflich vertreiben soll, und in dessen Gesellschaft wir wie im Himmel leben werden.«

»O was kann das sein?« riefen alle.

»So will ich es sagen«, entgegnete die Sprecherin. »Wir wollen uns Liebhaber wünschen! Sechs junge hübsche Männer!«

»Daran haben wir nicht gedacht l« riefen die Schwestern, und jede hatte daran gedacht, nur keine wollte es aussprechen, sondern eine erwartete immer von der andern, daß sie's sagen sollte.

»Wird die Fee aber auch uns den Willen tun!« fragte die zweite Schwester. »Ich zweifle sehr. Sie [177] wird sagen, ein solcher Wunsch ist für junge Mädchen nicht passend.«

»So wollen wir sie gar nicht fragen,« entgegnete die älteste; »es kommt jetzt der Frühlingsanfang, das ist die Zeit, wo sie immer auf drei Monden zu verreisen pflegt. Sie vertraut dann ihren Zauberstab einem alten, klugen Raben, dem sie den Auftrag gibt, uns ihn zu überbringen und ihn wieder mitzunehmen. Diese Zeit wollen wir benutzen und aus den sechs Zauberkirschen erschaffen, was wir wollen. Die Fee wird's nicht erfahren. Und wenn sie's auch erfährt, sie ist so gut, daß sie uns deshalb doch nicht zürnen wird.«

»Wenn es nur nicht schlimm abläuft«, sagte die jüngste. »Ich habe euch schon einmal richtig prophezeit, erlaubt, daß ich auch diesmal wieder meine warnende Stimme erhebe.«

»Nein, nein, nein!« riefen alle zugleich. »Der Plan ist gut, er soll ausgeführt werden. O was werden wir uns für hübsche Männer geben. Unsre Schwester hat recht, wir werden wie im Paradiese leben. Das allein hat uns nur noch gefehlt! –«

Die jüngste schwieg, da sie überstimmt war.

Es kam, wie die Mädchen gesagt hatten. Die Fee reiste fort und übergab dem Raben den Zauberstab mit dem Befehl, er solle ihn, samt den Kirschen, allemal [178] den zwölften Tag in das Haus im Walde bringen. Zugleich sagte sie den Schwestern: »Vergeßt nicht, daß wenn ihr die Kirschen berührt, ihr das Wort, ›Kirmistan‹ aussprechen müßt, und wenn es wieder Kirschen werden sollen, ihr das Zauberwort ›Simurgos‹ dazu ausrufen müßt. Schreibt euch das in euer Gedenktäfelchen, damit ihr's ja nicht vergeßt.« – Von den sechs Schwestern schrieb nur allein die jüngste die Worte auf, die andern dachten: ei, wozu aufschreiben; wir werden es schon behalten. –

Als die Mädchen nun allein waren, und der Rabe das Zauberstäbchen und die Kirschen gebracht hatte, schlossen sie sich vorsichtig ein, und setzten sich im Kreise und jede nahm die ihr zugeteilte Kirsche, berührte sie mit dem Stäbchen, und die erste sagte: »Ich wünsche mir einen Minister mit einem Ordensstern, mit Degen und Federhut, der so recht stolz und vornehm tut.« Und wie sie das gesagt und dazu das Wort »Kirmistan« ausgesprochen, stand ein junger Mann vor ihr in einem violett-atlas Frack mit Goldstickerei auf allen Nähten, mit einem prächtigen Ordensstern an der Brust, mit einem funkelnden Kragen, und mit einem Federhut unterm Arm, verbeugte sich tief und sagte: »Mein teures Fräulein, wie sehr freue ich mich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. In meinen Träumen lebten [179] Sie schon lange.« Die älteste war entzückt und erwiderte hocherrötend: »Sehr obligiert, mein Herr.« Die zweite sagte: »Ich wünsche mir einen Jägersmann mit einem Hut, keck auf dem Ohr, einer Reiherfeder daran und dem Hirschfänger an der Hüfte. Das ist so mein Geschmack.« Und alsbald stand ein wunderhübscher blonder Jägerbursche vor ihr, der neigte die roten Lippen auf ihre Hand, blinzelte schalkhaft mit den Augen und rief: »Schön Mädchen, hier bin ich!« »Seien Sie mir willkommen, lieber Jäger«, antwortete sie, und wußte sich vor Freude nicht zu lassen über den hübschen Jungen, den sie sich herbeigewünscht. Die dritte rief: »Was mich betrifft, so wünsche ich mir einen rechten Springinsfeld, der tagaus, tagein singt und jodelt und stets auf einem Beine hüpft. Mit einem solchen muß sich's gut leben lassen. All das ernsthafte Wesen kann ich nicht leiden; mein Schätz muß ein Tausendsasa sein, ein Obenaus und nirgend zu Haus! Ein rechter Teufelsbraten.« Und vor ihr stand ein kleiner Junge, dem blitzte es aus dem Augen; er wirbelte sich ein paarmal auf dem Absatz herum, ehe er zum Sprechen kam, und dann selbst machte er einen hohen Satz und sprudelte unter lautem Lachen hervor: »Guten Tag, guten Tag, mein Herzensschätzchen! komm, laß uns in den Wald laufen, wir wollen sehn, wer schneller ist.« »Gut, gut!« [180] rief die dritte, »mir ganz recht!« Und so liefen sie sogleich in den Wald hinein, und man hörte weithin ihr lustiges Lachen. Die vierte sprach: »Nein, so will ich's nicht. Mein Liebster muß ein großer, schlanker Jüngling sein, mit träumerischen dunklen Augen, immer schwarz gekleidet, am liebsten ein junger Professor, oder sonst etwas Gelehrtes und Studiertes.« Und wie sie's gesagt, stand der junge Studiosus vor ihr, ganz so, wie sie ihn beschrieben, und sagte mit einer langsamen und melancholischen Stimme: »Wie freue ich mich, Schönste der Schönen, endlich einmal Ihnen Auge in Auge sagen zu können, daß Sie die Dame meines Herzens sind. Ich will nur gleich hingehen und ein Gedicht auf Ihre Reize machen.« – »Gar zu gütig,« entgegnete das geschmeichelte Mädchen, »aber wenn ich bitten darf, wenn Sie das Gedicht fertig haben, st lesen Sie es meinen Schwestern vor, damit alle hören, welch einen gescheiten Liebhaber ich habe.« Die fünfte endlich rief: »Ei, das sollte mir fehlen, solch einen Versemacher mir zuzulegen, der, wenn er mich zum erstenmal sieht, gleich fortläuft, um sich an den Schreibtisch zu setzen und Verse zu schmieden. Nein, ich will einen jungen Soldaten, das ist die rechte Sorte. Immer gleich bei der Hand, wenn es Küssen und Umarmen gilt, dabei mutig, und der geringste von ihnen hat den [181] Teufel im Leib.« Sie nahm ihre Kirsche, berührte sie mit dem Stabe, und vor ihr stand in militärischer Haltung, die Hand an der Mütze, ein junger kecker Bursche, eingeschnürt in eine enge Uniform, und sagte: »Hier bin ich, mein Schatz. Hast du nicht ein Gläschen Likör bei der Hand und einen guten Tabak?« »Beides sollst du haben«, rief das Mädchen. Und der Soldat umfaßte sie und raubte ihr einen Kuß. Die Schwestern riefen: »Aber das ist dreist!« – »Seid nur ruhig,« antwortete die fünfte, »so lieb ich's.«

»Nun und du?« fragten alle die jüngste.

Die jüngste hatte lange Zeit vor sich hingesonnen, dann sagte sie: »Ich hab's mir überlegt, ich schaffe mir keinen Mann. Der Mann soll dem Weibe kein Spielzeug sein. Gesetzt den Fall, ich verliebte mich wirklich in den, den ich mir hergezaubert, so könnte ich's wahrlich nicht überleben, ihn wieder zu verlieren. Ich stürbe mit ihm. Also für mich keinen Mann. Ich werde die Güte unsrer edlen Pate benutzen, und mir eine hübsche Hirschkuh wünschen. Eine solche hab' ich mir schon längst erbitten wollen.«

Die Schwestern lachten und riefen: »Eine Hirschkuh! Wie einfältig!« Aber die jüngste tat, wie sie gesagt.

Nun hatten alle, was sie begehrten.

Die Schwestern waren so verliebt in ihre Männer,[182] wie es nur Frauen immer sein können, und die jungen Männer taten ihrerseits alles mögliche, um ihren Liedchen zu gefallen. Der junge Minister stolzierte in der Sonne umher, so daß sein Stern weithin blitzte und funkelte. Der Jäger blies ins Horn und sang die hübschesten Jägerlieder, der Tausendsasa tanzte, der melancholische Studiosus machte Verse, und der junge Soldat küßte und trank.

Alle riefen eines Tages: »Wann wird die Hochzeit sein?«

Die Mädchen bestimmten einen Tag; es war gerade der zwölfte. Aber das hatten sie rein vergessen. Als nun der Rabe kam mit dem Zauberstab und den frischen sechs Kirschen, schickten sie ihn fort. Nur die jüngste zauberte sich eine neue Hirschkuh.

Die fünf Mädchen machten nun mit ihren Liebsten Hochzeit. Um zwölf Uhr nachts führte jede ihren Schatz in ihr Kämmerlein. Am Morgen ertönte ein Schreckensruf in der Kammer der ältesten: »Wo ist mein lieber Mann geblieben! Pfui! was für ein welkes, altes Männchen liegt in meinem Bette! Hinaus mit ihm!« – Und aus der zweiten und dritten Brautkammer erscholl der nämliche Ruf: »Hinaus! mit dem kleinen Huzelmännchen, das neben mir im Bette liegt! Wo ist mein hübscher, junger Mann geblieben!« –[183] Und so klang es überall! Und nun kamen die armen Mädchen heraus, und jede führte an der Hand einen kleinen, krummen und schiefen alten Knirps; es war zum Erbarmen. Und eine, als sie die andre sah in demselben Unglück, jammerte immer stärker und wilder als ihre Schwester, und endlich verwünschten alle die grausame Fee.

Die fünf alten Männchen sahen sich einander an, und machten ihrerseits klägliche Mienen.

»Wo ist der Rabe?« riefen nun die Mädchen. »Geschwind fort mit diesem Plunder. Keinen Augenblick länger wollen wir diese Spitalgesellschaft um uns dulden.«

»Ihr vergeßt,« sagte die jüngste, »daß ihr den Raben, als er sich hier einfand, fortgeschickt habt. Ihr müßt nun warten, bis wieder zwölf Tage vorüber sind.«

Die Schwestern singen erst recht zu jammern an, als sie hörten, daß sie sich mit diesen häßlichen Schätzchen, die in jeder Stunde mehr zusammenschrumpften, noch ganze zwölf Tage plagen sollten. Indessen fanden sie sich ins Unvermeidliche, und jede nahm ihr Alräunchen auf den Schoß und schob in den zahnlosen Mund ein bischen Zwieback, und gaben jedem ein Schlückchen Wein, damit die alten Magen sich stärken sollten.

»Himmelsakrament!« rief der Soldat. »Wir hätten[184] noch länger können frisch bleiben, wenn diese Satansnacht nicht gewesen wäre. Allein dergleichen Arbeit halt ein andrer aus, und behalte noch seine Lebensgeister beisammen!« Dasselbe versicherten auch die vier andern.

Der Springinsfeld bestand noch immer drauf, auf einem Bein zu hüpfen, allein es gelang miserabel, er fiel und verstauchte sich Arm und Beine, und zerschellte sich den Kopf.

Der Jäger hatte schon seit langem nicht mehr so viel Atem, um sein Horn zu blasen. Der einzige, der noch etwas leistete, war der Minister, der an einem Stabe gelehnt in der Sonne herumkroch und seinen Stern funkeln ließ.

Endlich kam der Rabe: aber ein neues Unglück, die Mädchen hatten das Wort vergessen, das die armseligen Figuren wieder zu Kirschen machte. Die jüngste war, auf ihrer Hirschkuh reitend, seit einigest Tagen in den Wald gezogen und war noch nicht wieder zurück. Also kein Rat und keine Hilfe! Sie baten den Raben, er möchte ihnen die sechs neuen Kirschen lassen, aber er krächzte verdrießlich: »Darf nicht – meine Order lautet, nur gegen die alten soll ich die neuen geben.« Und damit flog er fort, und nahm mit, was er überbracht hatte. Welch ein entsetzliches Mißgeschick: nun [185] noch zwölf Tage mit diesen kleinen Ungetümen zu verleben! Ach, es war kaum möglich! Und es mußte doch möglich sein.

Wie oft riefen jetzt die fünf Unbedächtigen: »Ach, hätten wir doch auf den Rat unserer Schwester gehört und uns auf Dinge nicht eingelassen, von denen die Fee, unsere Pate, keine Kenntnis hat.«

»Was das schlimmste ist,« rief die zweite, »wenn unsre Schwester nicht heimkehrt, so können wir, bis die Fee wieder da ist, noch über zwei Monden uns mit den Kobolden herumschleppen.«

»Das halten wir nicht aus!« riefen die Mädchen alle zusammen.

»Ihr müßt es aushalten,« nahmen jetzt die fünf boshaften kleinen Greise das Wort. »Wehe euch, wenn ihr uns irgendwie in Pflege und Nahrung vernachlässigt, oder uns nicht mit der Achtung behandelt, die wir fordern dürfen. Eure Strafe wird schrecklich sein, denn wir sind sehr mächtig.«

Die Schwestern, die furchtsamer Natur waren, hörten diese Drohungen mit Händeringen und Tränen, und jede versprach, auf das gehorsamste den Befehlen nachzukommen.

»Nun, so nehmt uns jetzt auf euren Rücken,« riefen die kleinen Greise übermütig, »wir wollen euch wie[186] unsre Rosse besteigen, und ihr sollt in den Wald hinaustraben, damit wir frische Luft schöpfen.«

Jede nahm nun Huckepack ihren Kobold, und es ging in den Wald. Die Kleinen hatten sich seidne Schnüre besorgt, die hatten sie den Mädchen durch den Mund gezogen und zerrten nun daran, als wären es Zügel und Gebiß. Dabei stießen sie mit kleinen spitzigen, silbernen Sporen die armen Mädchen in die Seiten.

»Ich habe eine verdammt widerspenstige Stute!« rief der eine, »sie will nie so, wie ich will.«

»Ei, so laß sie die Stachel deiner Sporen fühlen!« schrie der andre. »Die meine hab' ich schon so gut dressiert, daß sie auf den leisesten Wink pariert.«

So lachten und drohten die häßlichen Gnomen auf den Rücken der fünf Mädchen, die ihr Schicksal verwünschten; denn nach Ablauf von noch zwölf Tagen und abermals zwölf Tagen kam die jüngste noch immer nicht wieder heim. Endlich entschlossen sich die Schwestern, sie aufzusuchen. Sie zogen, mit ihren Männern auf dem Rücken, ins nahe Gebirge, wo sie hofften, daß die Vermißte sein werde.

Die jüngste hatte unterdessen im Gebirge die Bekanntschaft eines jungen Hirten gemacht, der sehr schön, sehr edel und sehr verliebter Natur war. Er war des hübschen Mädchens auf der milchweißen Hirschkuh kaum [187] ansichtig geworden, als er ihr schon erklärte, daß er ohne sie nicht leben könne. Diese zärtlichen Worte verfehlten nicht ihre Wirkung. Die stolze Reiterin stieg herab, und es dauerte nicht lange, so erhörte sie die Wünsche ihres Anbeters. Beide lebten nun im Gebirge als ein sehr glückliches und zufriedenes Paar. Sie hatte ihre törichten Schwestern fast vergessen und dachte, nicht mehr heimzukehren. Da hörte sie eines Tages etwas den Weg hinaufkeuchen, der zu ihrer Hütte führte. Sie sagte zu ihrem Manne: »Kommen vielleicht Reiter zu uns zum Besuche, allein ich höre kein Pferdegetrappel.« Und sie schaute aus dem Fenster, da sah sie den Talpfad hinauf ihre unglücklichen fünf Schwestern, wie sie unter Hallo! und Hussa! ihrer Reiter hinaufkeuchten. »Gott im Himmel!« rief sie; »diese Pferde sollte ich kennen! Ach, die armen Kreaturen, in welche Knechtschaft sind sie geraten! Ich will nur gleich hinaus und sie zu mir ins Haus führen, das den Armen Schütz und Erholung werde.«

Die fünf Mädchen kamen todmüde in der Hütte ihrer wiedergefundenen Schwester an. Diese war mutvoll und ließ sich nicht durch Drohungen einschüchtern, sie nahm die fünf boshaften Zwerge und packte sie allesamt in einen großen Hühnerkorb, da ließ sie sie durcheinander kribbeln und krabbeln, und schreien und kneifen, und [188] wartete geduldig, bis der nächste zwölfte Tag kam, wo der Rabe sie im Gebirge auszusuchen pflegte. Da sagte sie zu ihren Schwestern: »Aber wollt ihr nun auch klug und gehorsam sein und fürder nichts unternehmen hinter dem Rücken unserer Wohltäterin, der gütigen Fee? und wollt ihr künftig auf meinen Rat hören, denn ihr habt gesehen, daß ich's gut mit euch meine?«

»Ja, ja, wir wollen es!« riefen die Armen. »Befreie uns nur von dem Unglück.«

Da nahm die jüngste den Zauberstab, trat an den Hühnerkorb und sprach das Wort »Simurgos« und alsbald lagen auf dem Boden des Korbes fünf ganz vertrocknete, steinharte Kirschen. Diese nahm sie und gab sie dem Raben, der ihr dafür die fünf frischen überreichte.

»Und was damit?« sagte die jüngste.

Sie verlangten alle fünf weihe Hirschkühe, damit sie auf deren Rücken in ihre Heimat zurückkehren könnten, wo sie dann die Fee erwarten wollten.

Dies geschah. Die gütige Fee verzieh den Ungehorsam und nahm die Bereuenden wieder zu Gnaden auf. Allein sie gab ihnen keine Kirschen mehr. Der klugen und folgsamen sechsten Schwester verlieh sie Reichtum und langes Leben, so daß sie mit ihrem [189] Hirten so glücklich lebte, wie sie es verdiente. Die fünf Schwestern starben unvermählt, denn sie hatten eine solche Furcht, daß, wenn sie einen jungen hübschen Mann heirateten, er plötzlich über Nacht sich in einen kleinen scheußlichen Kobold verwandeln möchte, daß sie lieber zeitlebens ledig blieben.

[190] Rotkäppchen.

In einem Dorfe lebte ein sehr hübsches, junges Landmädchen, das seinen Eltern im Haushalt behilflich war. Eines Tages sagte sie Mutter zu dem Mädchen: »Liebes Kind, geh hinaus in den Wald und bring der Großmutter einen Pflaumenkuchen. Die alte Frau ißt so gern dergleichen. Aber halt' dich nicht auf und sei bald wieder da, du weißt, wir haben des Vaters feine Wäsche zu plätten, er will heut zum Pfarrer gehn, um über deine noch bevorstehende Verlobung mit dem jungen Förstergehilfen zu sprechen.« Das junge Mädchen wurde rot, als es diese Worte hörte, allein, gehorsam ihrer Mutter, sagte sie nichts, sondern glättete ihr Haar, flocht sich zierliche Zöpfe und setzte dann ein kleines scharlachrotes Mützchen auf, das sie zu ihrem letztvergangenen fünfzehnten Geburtstag erhalten hatte, und das ihr allerliebst kleidete. So ging sie denn in den Wald, am Arme ein Körbchen, in welchem der Pflaumenkuchen, [191] sauber in eine Serviette gehüllt, ruhte. Man konnte nichts Anmutigeres sehen als dieses hübsche, junge Kind, wie sie in der Morgenfrische daherging und mit den Vögeln um die Wette ihr Liedchen sang.

Je näher sie dem Walde kam, desto schweigsamer wurde sie. Die hohen Fichtenbäume und die weitzweigigen Eichen und Ahorn verbreiteten einen dunkeln Schatten und ließen ein geheimnisvolles Rauschen vernehmen. Am Eingang des Waldes setzte sie sich auf einen Stein und ruhte aus.

Nun wohnte in diesem Walde ein mächtiger Zauberer, der den jungen Mädchen nachstellte, sich manchmal in einen Wolf oder gar in einen Bären verwandelte, um den armen Kindern Schrecken einzuflößen. Aber dies geschah nur den häßlichen Mädchen, den hübschen erschien er in sehr freundlichen Gestalten, beschenkte sie und gab ihnen sonst noch Zeichen seiner besonderen Gunst. Als Rotkäppchen in den Wald kam, erfuhr es der Zauberer sehr bald, und nun kam er ihr entgegen als ein junger, liebenswürdiger Kavalier, der wunderschöne schwarze, funkelnde Augen hatte und einen Schnurrbart, den man sich nicht zierlicher denken kann; dabei kleine, seine, weiße Hände und hübsche Füße.

»Ah, guten Morgen, mein schönes Kind!« rief er dem Mädchen entgegen, das von ihrem Sitze aufsprang [192] und ihm eine tiefe Verbeugung machte, wobei es blutrot im Gesicht wurde.

»Bleib sitzen, mein Engel!« rief er. »Vielleicht hat der Stein sogar Platz für zwei.«

»Ich glaube nicht, gnädiger Herr, er hat kaum Platz für mich.«

»Laß uns den Versuch machen.«

»Es geht wahrlich nicht. Ich werde fallen.«

»Ei, mein Kind,« sagte der Kavalier lächelnd, wobei er die schönsten Zähne zeigte, die man sehen kann, »und ich sollte den Vorwurf auf mich laden, dich zu Fall gebracht zu haben! Das sei ferne. So werde ich vor dir stehenbleiben.«

»Das würde sich nicht schicken, gnädiger Herr. Ich sitzend, während Sie stehen! Wir wollen lieber zusammen weitergehn.«

»Gut. Und wo gehst du hin, Kleine?«

»Mein Herr, zu meiner Großmama.«

»Grüße sie von mir.«

»Von Ihnen?«

»Ja, von mir. Ist dir das so auffallend? Ich kenne die ehrwürdige alte Dame sehr gut. Ich habe ihr mein Gesangbuch geliehen, wie sie das letztemal in die Kirche ging.«

»Ach, mein Herr, das ist unmöglich. Die Großmutter geht nie aus. Sie ist schon seit drei Jahren gelähmt.«

[193] »Nun, liebes Kind, sagte ich denn, sie ging? Ich hätte sagen sollen, sie fuhr; und zwar in meiner Equipage.«

»Ach, ist es möglich! Davon hat sie mir doch nichts erzählt. Aber wollen Sie nicht meinen Arm loslassen, gnädiger Herr, ich kann sonst nicht den Korb und unter dem andern Arm die Weinflasche tragen. Eines von beiden müßte fallen.«

»Ich werde dir die Weinflasche abnehmen.«

»Aber trinken Sie's nicht aus.«

»Nicht doch – ich habe selbst Wein im Keller.«

»Ich glaub's wohl. Wie konnte ich mir auch einbilden, daß Sie der alten Großmama den Wein austrinken würden. Das war eine einfältige Rede; Sie müssen mir verzeihn.«

»Recht gern, aber unter einer Bedingung.«

»Und die ist?«

»Daß du mir einen Kuß gibst.«

»Ach, das würde sich schlecht schicken. Zudem bin ich verlobt, mein Herr, und darf außer meinem Vater keinen andern Mann küssen als meinen Bräutigam.«

»Aber den wirst du küssen?«

»Gewiß, wenn er es verlangt. Aber, mein Herr, es ist unnötig, daß Sie mich um den Leib fassen; ich kann schon gehn, ohne gestützt zu werden.«

»Du bist eine allerliebste kleine Unschuld.«

[194] »Still! Was machen Sie da! Das lieb' ich nicht.«

»Es hatte sich eine Fliege auf deinen Hals gesetzt.«

»Und Sie wollten sie mit dem Mund wegfangen? Ist das die Manier, wie man Fliegen fängt?«

»Es ist meine Manier. Wie du hübsch rot geworden bist! Ich dachte, Landmädchen erröten nie. Ich will dir das Tuch etwas freier knüpfen.«

»Sie! lassen Sie die Flasche Wein nicht fallen!«

»Nein! ich will sie auf den Boden setzen, während ich dein Tuch losknüpfe. Siehst du nun? merkst du, wie du jetzt freier atmest?«

»Die Großmutter wird sagen, daß ich mich heut liederlich gekleidet habe.«

»Laß sie es sagen. Du bist nie schöner gewesen als grade so. Oh, da ist wieder eine Fliege.«

»Halt! Sie haben mich in die Schultern gebissen! Pfui, gnädiger Herr, das ist ein häßliches Betragen. Und überhaupt, ich bin Ihre gehorsame Dienerin; ich will jetzt meinen Weg wieder allein fortsetzen.«

»Wenn ich dir weh getan hab', so tut's mir in der Seele leid.« (Er weint.)

Rotkäppchen (den Korb hinsetzend, und den armen Herrn umarmend): »O mein Himmelchen – nein, weinen sollen Sie nicht! Wenn ich grob und böse gewesen bin – nehmen Sie's nicht übel.«

[195] »Nein, nein, ich schäme mich! Laß mich an deinem Busen mein Gesicht verbergen.« (Er sinkt ins Gras nieder und zieht sie nach.)

»So, nun das ist was Schönes! Da sitzen wir im Grase.«

»Ist es nicht lieblich hier? Die Baumwipfel säuseln über uns! Es ist im Walde so still, so heimlich.«

»So grauserlich! Kommen Sie, wir wollen wieder weitergehn. Auf, auf! Soll ich Ihnen helfen aufstehn.«

»Ich kann vor Rührung noch immer nicht in die Höh' sehn.«

»Ach, Sie liegen mir die ganze Brust platt.«

»Eine so runde Brust!«

»Es ist genug. Die Großmutter wartet aus ihren Kuchen. Wie, mein Herr! auf meinem Knie ist keine Fliege. Sie sollten sich schämen, das Knie einer Bäuerin zu küssen.«

»Es ist das Knie einer Prinzessin.«

»Wir wollen aufstehn, mein Herr. Ich glaub', es gibt an dieser Stelle Ameisen.«

»Wie kämen die hieher?«

»O sehr natürlich. Der böse Zauberer, der diesen Wald bewohnt, sendet sie aus.«

»Hast du diesen Zauberer schon einmal gesehn?«

»Nein, gnädigster Herr; und ich hab' auch kein Verlangen, [196] ihn zu sehn. Es soll ein großer, zottiger Riese sein, mit den Zähnen eines Ebers und den Klauen eines Bären.«

»Reizende Unschuld!«

»Was sagten Sie?«

»Nichts! Ich möchte an deiner Brust in Wonne vergehn. O welch ein Augenblick! Küsse mich – küsse mich! Meine Lippen lechzen sich mit den deinigen zu vereinen. Mich ergreift eine wahre Wut.« –

»Ach, eine Ameise! eine Ameise!« (Sie springt auf und läuft fort.)

Der Zauberer (ihr nachsehend): »Da eilt sie hin! wie ein junges Reh, so leichtfüßig. Ein entzückendes Geschöpf! Frisch wie die Knospe im Tau. Die darf ich mir nicht entgehen lassen. In der Hütte der alten Großmama wollen wir uns wiedertreffen, Kleine. Mir entläufst du nicht. In der unscheinbaren, tief im Walde versteckten Hütte! Wie anmutig dort! Aber was mit der Alten beginnen? Wie entferne ich die? Ei – wozu viel grübeln! Ich freß die Alte auf. Als Wolf verwandelt, kann ich mit dem Bissen schon fertig werden.«

Und diesen Plan eilte er sogleich auszuführen, ehe noch Rotkäppchen ihm den Vorsprung abgewinnen konnte.

[197] In die Hütte der Alten trat er ein, und sagte: »Bon jour, Madame!«

»Guten Abend, mein Herr! Was steht zu Ihren Diensten?«

»Ich bitte, nehmen Sie die Brille ab; so etwas liegt schwer im Magen. Auch den Schlüsselbund bitte ich beiseite zu legen.«

»Weshalb?«

»Ich hab' Ihnen schon bemerkt, daß Brille und Schlüsselbund Dinge sind, die schwer zu verdauen sind. Auch alles, was Sie an Nadeln am Körper haben, müssen Sie ablegen; dergleichen fährt auf gefährliche Weise in die Zähne. Das alte Leibchen von Flanell, die Pantoffeln von weichem Leder und das Florhäubchen – alles das kann mit auf den Kauf gehn.«

»Ich weiß nicht, mein Herr, wie ich Ihre Worte deuten soll. Ich bin eine alte Dame, die von ihren Renten lebt, und sich in der Einsamkeit nicht belästigt zu sehn wünscht.«

»O ich will Sie nicht weiter belästigen, Madame – ich will Sie nur auffressen!«

»Ha, monstre! Ich werde meine Leute rufen.«

»Es ist niemand da; und Rotkäppchen ist noch fünfzig Schritte vom Hause entfernt.«

»Ungeheuer! zittre vor meinem Fluch!«

[198] »Madame! Brille und Schlüsselbund herunter! Ihr letzter Augenblick ist gekommen!«

»Ich will Ihnen etwas sagen. Ich bin eine geborne Freiin von Mixpickel; zufällig hier an einen Förster verheiratet, der schon längst tot. Meine Verwandten sind sehr mächtig; es könnte Ihnen schlimm gehen, wenn Sie mir ein Leid antäten.«

»Das sind himmelblaue Lügen.«

»Und dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Ich hab' in Papieren spekuliert und mir ein ganz artiges Vermögen erworden, das sollen Sie haben. Es liegt dort in der Kommode mit den Messingbeschlägen.« (Beiseite): »Könnte ich nur aus der Hütte entrinnen, oder käme wenigstens das verwünschte Mädchen mir zu Hilfe.«

In diesem Augenblick hörte man Rotkäppchens Stimme draußen rufen: »Großmama! Großmama!«

»Da ist sie!« rief die Alte erfreut. Der Zauberer sprang aber hin und schob den Riegel vor die Tür. Alsdann verwandelte er sich in einen Wolf, stürzte auf die Alte hin und verschlang sie.


Ha, welch ein Mord
In dem stillen Hause! –
Von dem Schmause
Triest blutig die Zunge,
[199]
Da schnell im Sprunge
Rafft alles er fort,
Was an den Greuel kann mahnen.
Niemand soll ahnen,
Was hier geschehn.
Die Fenster schließt er auf,
Damit Waldlüste wehn;
Dann springt er im Lauf
Zu Kisten und Fächer,
Der arme Schächer,
Wirst die blutigen Lumpen,
In einen Klumpen
Zusammengeschlagen,
Zu Nachthäubchen und Kragen.
Es ist zum Entsetzen!
Dann eilt er zu netzen
Mit eau de mille fleurs,
Das Bette, die Stühle,
Den Teppich umher.
Von dumpfiger Schwüle
Merkt niemand was mehr;
Gemütlich und rein
Ist wieder das Zimmerlein klein.

Er legt sich selbst, wieder zum jungen Mann verwandelt, mit einem Hemde und Nachtjäckchen der Alten[200] bekleidet, und einem Häubchen auf dem Kopfe ins Bette, nachdem er vorher die Tür geöffnet hat. Als er Rotkäppchen kommen hört, summte er das Lied vor sich hin:


»Alte Damen
Schmecken nicht übel
Mit einer Sauce
Von Lattich und Zwiebel.
Doch muß Schlüssel und Brillen
Man ihnen nehmen,
Sonst macht es im Magen
Ein häßliches Grämen.
Doch will ich nur sagen,
Ich war zu rasch.
Sie barg' in ihrer Tasch'
Noch einen Fingerhut,
Den hab' ich verschluckt nun
Und das tut nicht gut.
Es läßt nicht ruhn,
Ich muß mich wenden
Von einer Seite zur andern
Und möchte nach dem Doktor senden.«

Indem trat Rotkäppchen ein.

»Schönen guten Tag, Großmama!«

»Bon jour, ma petite! Küß mir die Hand.«

»Was sangst du denn für ein Lied, Großmama, als ich hereintrat?«

[201] »Hm, es wird wohl ein Lied aus dem Gesangbuch gewesen sein.«

»Es klang indes ziemlich fremdartig. Und warum wälzt du dich im Bette herum, Großmama?«

»Warum? warum? alberne Frage; weil ich noch verdammt hitziges Geblüt habe.«

»Hier ist der Kuchen, den ich dir mitgebracht.«

»Setz ihn vor die Tür. Ich mag keinen so ordinären Kuchen. Wenn's nicht Pastete ist, esse ich's nicht.«

»Ei, Großmutter ­ es war doch sonst dein Leibgericht.«

»Den Wein gib herz den will ich austrinken.«

»Was, Großmama! in einem Zuge hast du die ganze Flasche geleert! Das ist noch nie dagewesen.«

»Das glaub' ich; eine alte Frau, wie ich bin, ist auch noch nie dagewesen. Komm, Kleine, setz dich hier auf den Bettrand, und nun gib mir einen Kuß.«

Rotkäppchen (aufschreiend): »Großmama! Du Hast einen Bart!«

»Kind, Kind! red' nicht so einfältig. Das ist der Schatten, den meine Nase wirst. Aber was hast du da an der Schulter? einen roten Fleck! Ha! was ist das? Du hast doch nicht leichtfertige Bekanntschaften gemacht?«

»Gewiß nicht; wie käme ich dazu?«

»Ach, tu nur nicht so. Wie pflegt denn ein junges Mädchen zu dergleichen zu kommen? Man geht durch [202] den Wald, der Weg ist einsam, da kommt ein junger Herr, nimmt uns beim Kopf, küßt uns, wirst uns nieder – siehst du so!«

Und damit nahm der böse Zauberer das arme Kind, warf sie zu sich ins Bette, und – draußen säuselten die Waldbäume und die Vögel sangen.

Die Vögel sangen und die Waldbäume säuselten.

Nach der zweiten bösen Tat, die der Zauberer jetzt vollführt hatte, nahm er wieder seine Wolfsgestalt an und – es ist entsetzlich zu sagen – verschlang auch das arme Rotkäppchen.

»Auf diese Weise«, sagte er sehr selbstzufrieden zu sich, »entgehe ich jeder lästigen Untersuchung, und mein kleines Abenteuer hinterläßt keine Spur.«


Vornehme Herrn
Amüsieren sich gern,
Doch wollen sie nicht,
Daß die Leute davon sprechen,
Sie ziehen nicht aus Licht,
Ihre kleinen Schwächen.
Als bestes Mittel,
Das Geheimnis zu wahren,
Auf mein Wort,
Tut sich erweisen,
Die Geliebte sofort
Aufzuspeisen.

[203] Der Zauberer schlich sich jetzt als Wolf aus der Hütte. Er gedachte seinen Palast rasch zu erreichen, allein die Strafe für seine Untaten war noch rascher, Sie kam ihm dicht auf dem Fuße nach. Der junge Förster, Rotkäppchens Bräutigam, sah den Wolf schleichen, legte auf ihn an, tötete ihn, und sah noch einen Zipfel von Rotkäppchens Halstuch aus seinem Maule hängen. Sogleich ward ein geschickter Arzt geholt, der auch etwas von der Zauberei verstand, der öffnete dem Wolf den Magen und brachte glücklich die Großmutter und Rotkäppchen lebend aus demselben hervor. Wer war glücklicher als der Förster und die beiden Geretteten. Der Wolf aber blieb tot, und der Wald und die Umgegend waren somit von dem boshaften Zauberer befreit. Man sagt aber, daß die jungen Mädchen damit nicht zufrieden waren; sie hätten es lieber gesehen, wenn der Zauberer lebend geblieben wäre. Es gab sogar ein Lied unter ihnen, das so lautete:


Junge Mädchen
Sind dazu geschaffen,
Verspeist zu werden.
Ein recht hungriger Wolf
Ist ihnen das Liebste auf Erden.

[204] Blaubart.

Ein armer Landedelmann hatte acht Töchter, die er gerne an den Mann bringen wollte. Es waren alle acht hübsche Mädchen. Der Vater, wenn er sie einem Fremden vorführte, pflegte zu sagen: »Hier ist meine älteste Tochter:


Suse,
Etwas konfuse.«

Dann:

»Jette,
Liegt zu lang im Bette;
Anne Sophie,
Hat ein Fleckchen am Knie;
Lottchen,
Ist ein kleines Teufelsbottchen;
Katerlieschen,
Hat ein kleines Füßchen;
Armengart,
Die die Leute narrt;
[205]
Adelgunde,
Mit der Brust so runde;«
und endlich:
»Anett',
Mit dem Hintern fett.«

Nun wohnte ein ganz vollkommener Kavalier in der Gegend, der liebte schöne Frauen über die Maßen, der hörte von den acht hübschen Mädchen und erschien deshalb bei dem Edelmann. Er kam mit einer Kutsche und vier Pferden angefahren. Zwei Lakaien öffneten den Schlag des Wagens, und ein Strom von Rosen und Veilchenduft verbreitete sich, als der vollkommene Kavalier ausstieg und dem Edelmanne seine Verbeugung machte, indem er sagte:


»Ich bin der vollkommenste Kavalier
Und erscheine hier an deiner Tür;
Du hast der Töchter zweimal vier,
Von denen schenke eine mir.«

Der alte Baron erwiderte:

»Ihr seid der vollkommenste Kavalier,
Der ganzen Nachbarschaft Lob und Zier;
Die Ehre ist über die Gebühr,
Nehmt Ihr eine von meinen zweimal vier.«

»Aber welche nehme ich?« sagte der Freiersmann[206] zu sich selbst, als er die acht Mädchen betrachtete: »Nehme ich:


Suse,
Etwas konfuse?

Nehme ich:

Jette,
Die zu lang liegt im Bette?

Oder:

Anne Sophie,
Mit dem Fleckchen am Knie? –

Soll ich nicht lieber nehmen:

Lottchen,
Das kleine Teufelsbottchen?

Oder:

Katerlieschen,
Mit dem kleinen Füßchen? –

Gar so hübsch ist:

Armengart,
Die die Leute narrt;
nicht minder hübsch:
Adelgunde,
Mit der Brust so runde.

Doch will ich mit der jüngsten anfangen und nehme mir:

Annett',
Mit dem Hintern fett.

[207] Die soll meine Gemahlin werden; wir wollen ja sehen, vielleicht bekomme ich die andern auch noch. Es pflegt oft kurios zu gehen, mit den jungen Weibern, sie leben nicht allzulange, und man ist sie bald wieder los. Besonders diese, die ist schon jetzt so fett, daß sie gar nicht mehr gut Atem holen kann.«

So dachte der Freiersmann und nahm Annett', die mit ihm nun von dannen fuhr in das Schloß ihres Gemahls. Der alte Edelmann weinte einige Tränen beim Abschied. Es dauerte nicht lange, so kam eine Kutsche mit vier Pferden und den zwei Lakaien wieder vorgefahren, und der vollkommenste Kavalier stieg aus, machte eine tiefe Verbeugung, zeigte auf den Trauerflor an seinem Arme und sagte:


»Ich bin der vollkommenste Kavalier
Und erscheine hier vor deiner Tür,
Der Tod hat geraubt deine Tochter mir,
Gib eine andere mir dafür.«

Der alte Baron erschrak zwar über die Nachricht; er faßte sich aber bald wieder und erwiderte ebenfalls mit einem tiefen Bückling:


»Ihr seid der vollkommenste Kavalier,
Der ganzen Gegend Lob und Zier;
Und starb die eine von den zweimal vier,
So gebe ich eine andre dafür!«

[208] Diesmal nahm der Freiersmann Adelgunde, mit der Brust so runde, und führte sie als seine Gemahlin auf sein Schloß. Der Edelmann weinte wiederum einige Tränen.

Bald kam jedoch der Freiersmann nochmals und dann nochmals, und endlich war er siebenmal dagewesen und kam zum achten Male, und da es nach der Reihe ging, von unten aufwärts, so freite er noch zu guter Letzt um Suse.

Der Edelmann rief: »Aber, wie ist mir, mein Lieber, Sie scheinen Talent für das Witwerfach zu haben. Siebest Frauen tot, und nun geht's gar an die achte. Nehmen Sie's mir nicht übel, aber die Sache kommt mir etwas sonderbar vor.«

»Die zarte Natur, mein teurer Schwiegervater, die zarte Natur der lieben Kinder«, entgegnete der schöne Kavalier.

»Nun denn!« entgegnete der Baron, »ich geb' Ihnen meine achte, doch mit dieser gehen Sie hübsch säuberlich um, hören Sie! – Ich bin schon etwas bei Jahren und kann, wenn ich mir auch noch so sehr Mühe gebe, keine neue Tochter in die Welt setzen.«

Suse stand hinter ihrem Vater, als er so sprach, und sagte bei sich selbst: »Nun, verlaß dich nur auf mich, Vater, ich bin nicht auf den Kopf gefallen, obgleich ihr mich immer nur die Suse – etwas konfuse – [209] nennt. Ich will der Sache mit der ewigen Witwerschaft schon auf die Spur kommen.«

Und als sie in die Kutsche steigen wollte, um mit ihrem Gemahl auf dessen Schloß zu reisen, zog sie ihren Vater beiseite und sagte zu ihm: »Hier ist ein Glöckchen von Silber, liebster Vater; das hat mir meine Pate, die eine mächtige Fee ist, geschenkt. Stelle das Glöckchen auf deinen Schreibtisch. Sobald du es von selbst klingeln hörst, so mach' dich geschwind auf und eile mir zu Hilfe, denn ich werde mich dann in gar böser Gefahr befinden.«

Der alte Baron versprach dies und nahm das Glöckchen. Dann umarmte er seine einzige Tochter zärtlichst und vergoß dabei so viel Tränen, wie bei allen andern sieben zusammengenommen.

Die junge Frau, als sie auf dem Wege nach dem Schloß ihres Eheherrn befand, sang still vor sich hin:


»Liebste Suse,
Nur diesmal nicht konfuse –
Blick' scharf um dich, sieh alles an,
Vor allen deinen eignen Mann!« –

Und nun nahm sie den vollkommenen Kavalier recht genau in Augenschein; allein, so sehr sie sich Mühe gab, sie konnte nichts an ihm entdecken, was nicht vollkommen gewesen wäre. Die Augen, die Zähne, die Haare, der Wuchs, die wunderschöne Farbe, nur der [210] Bart war etwas zu blauschwarz; allein auch das konnte für eine vollkommene Schönheit gelten. Wenigstens halten es viele Frauen dafür. Auch war er in Sitten und Manieren der besterzogenste junge Mann, den man finden konnte, so daß die arme Suse, mit aller Müh' und aller List, nichts Tadelnswertes an ihre Gemahl entdecken konnte.

Nun fuhren sie ins Schloß. Dies war ein herrliches Gebäude und überall auf alle Wände stand mit großen goldenen Lettern geschrieben: Hier wohnt der vollkommenste Kavalier.


In den Gemächern stand über jeder Tür:
Hier wohnt der vollkommenste Kavalier.
Auf Sofas und Stühlen gewirkt stand: hier
Wohnt der vollkommenste Kavalier.
Im Garten war zu lesen in Blumenzier:
Hier wohnt der vollkommenste Kavalier.
Am Stall selbst stand geschrieben, mit Wagenschmier':
Hier wohnt der vollkommenste Kavalier.

»Nun!« rief Suse, »wenn die Leute es jetzt nicht wissen, laß ich so glücklich bin, den vollkommensten Mann zu haben, so weiß ich nicht, wie man es ihnen sonst beidringen soll.«

[211] Sie schickte sich nun an, mit ihrem Manne ein sehr vergnügtes Leben zu führen. Einige Wochen hintereinander brachte sie auch in lauter Lustbarkeiten zu; es wurden herrliche Feste gegeben und die Nachbarschaft eingeladen. Dann kam eines Morgens der Blaubart zu ihr und sagte: »Mein Kind, ich muß auf einige Tage verreisen, hier nimm die Schlüssel zu dem ganzen Hause. Überallhin kannst du gehn, nur in ein Kabinett, muß ich dich bitten, nicht einzutreten, ich hab' darin meine Bücher und Papiere, zu denen ich nicht gern Weiberhände zulasse.«

»Wohlan denn, mein Lieber,« antwortete Suse, »ich werde nicht hineingehn.«

Und nun nahm er Abschied und entfernte sich.

Als Suse allein saß, in dem großen Schlosse, empfand sie alsbald Langeweile. Aus einem Löchlein hinter der Tapete kam eine Maus herausgeschlüpft, die stellte sich aufrecht auf die Hinterfüßchen und sprach:


»Suse, Suse,
Auf ein Wort!
Ich bin die Maus Mabuse
Und wohn' hier am Ort.
Was sollt' wohl sein im Kabinett?
Ich wett',
Etwas Besonderes. Willst du nicht hineingehn?«

[212] »Nein,« sagte Suse, »ich hab' es meinem Manne versprochen, nicht hineinzugehn. Es liegen seine Papiere und Bücher drin.« Die Maus lachte und rief:


»Papiere und Bücher! Er liest ja nie,
Und schreiben kann er auch nicht,
Der armselige Wicht,
Hat ja nichts gelernt, ma chère amie.«

Damit ging Frau Mabuse höhnend fort. Nicht lange währte es, so ließ sich ein Vogel am offenen Fenster nieder und sang:


»Suse, Suse,
Auf ein Wort!
Ich bin der Vogel Fladuse
Und wohn' hier am Ort.
Sag' geschwind,
Liebes Kind,
Was sollte wohl sein im Kabinett?«

»Ich weiß es nicht,« entgegnete Suse, schon etwas verdrießlich; »ich sollte meinen, es sind Bücher und Schriften, die meinem Manne zugehören.« Der Vogel stieß ein lautes Gelächter aus, und rief:


»Ei wie einfältig
Diese junge Frau ist!
Sie glaubt nicht an die List
Von uns jungen Herrn!
Und wir betrügen so gern.«

[213] »Unverschämter Herr!« rief Suse, »gehen Sie ihrer Wege, und kümmern Sie sich nicht um Dinge, die Sie nichts angehen! Gelbschnabel Sie!« Damit schlug sie das Fenster zu, und der Vogel flog weg. Da ließ sich eine Spinne von der Decke herab:


»Suse, Suse,
Auf ein Wort!
Ich bin die Spinne Radeguse
Und wohn' hier am Ort.
Ich sag' Ihnen, mein Kind,
Ich bin eine alte Dame,
Ihr Mann ist infame,
Wie selten die Männer sind.
Er betrügt Sie recht malhonett,
Gehn Sie nur ins Kabinett.«

Die Spinne haspelte sich wieder hinauf, ohne eine Antwort zu erwarten. Suse jedoch rief ihr nach: »Madame, ich finde es sehr sonderbar, daß Sie sich unterfangen, hier Schlechtes von meinem Manne zu sprechen. Ich verbitte mir das fürs Künftige.«

Aber alle diese Reden hatten einen Stachel in dem Herzen Susens zurückgelassen. Es kam ihr dazu wieder in den Sinn, daß sie ihrem Vater versprochen hatte, über das Schicksal ihrer verschwundenen Schwestern [214] Nachforschungen anzustellen. Plötzlich fiel es ihr nun ein: »Wie! wenn deine armen Schwestern nun in jenem Kabinett wären? Die Frau Mabuse hat ganz recht, mein Mann liest nie, und schreiben habe ich ihn auch nicht gesehn. Er verläßt sich ganz auf seine äußere Schönheit und hat zur Ausbildung seines Innern nichts getan. Er gehört zu der Sorte von Männern, denen man alles nimmt, wenn man ihnen ihre Schönheit nimmt, das ist wahr. Also Bücher und Papiere können schwerlich im Kabinett liegen. Dann sprach der alberne Herr Fladuse etwas von Männerlist, und die alte Dame Radeguse sagte ganz offen, daß mein Mann mich betröge. Das sind alles Dinge, die wunderbar zusammen stimmen. Ich muß demnach doch einen Blick in das Kabinett tun. Wir wollen doch sehen, was an der Sache ist. Den Hals wird es nicht gleich kosten.«

So sprach Suse, und vom Sprechen zum Handeln war nur ein Schritt. Sie nahm den verbotenen Schlüssel und öffnete damit das Kabinett. Was entdeckte sie hier? Lauter Gegenstände, die sie auf den ersten Blick nicht erkannte, und von deren eigentlicher Beschaffenheit sie sich keine Vorstellung machte. Aber sie wurde von den Dingen selbst belehrt. Als sie zu einem dieser Gegenstände herantrat, sprach eine Stimme:


[215]
»Ihro Gnaden,
Wir sind ein paar falsche Waden,
Ihnen zu dienen.
Wir passen ans Bein
Wie Eisenschienen,
Und passen ganz sein
Ihrem Herrn Gemahl,
Dessen Waden sind etwas schmal.«

»Was muß ich hören!« rief Suse. »Also seine schönen Waden sind nicht seine eignen.« Als sie sich einem andern Tische näherte, tönten Stimmen, die riefen:


»Wir sind Perücken,
Zum Entzücken,
Dem wirklichen Haar
Täuschend ähnlich. Wie wunderbar!
Ihr Herr Gemahl
Tut sich mit uns schmücken,
Denn in Wahrheit ist er rattenkahl.«

»So!« rief Suse; »die Botschaft ist nicht übel und paßt zu der ersten wie ein Ei zum andern. Allerliebste Geheimnisse, die ich da erfahre! Ja, nun begreife ich, daß er mich nicht hier hat wollen eintreten lassen. Der Gauner, der Schelm! Nun wollen wir hören, was wir noch erfahren werden.« Sie trat an ein Schächtelchen, daraus tönte hervor:


[216]
»Wir sind ein Gebiß
Schneeweißer Zähne,
Die schönsten gewiß,
Die eine verliebte Schöne
Bei ihrem Schatze gesehn.
Ihrem Gemahle stehn
Wir ganz gut im Maule;
Die eignen sind faule.«

»Miserabel!« seufzte die arme Frau; »also auch falsche Zähne, die ich nie habe leiden können! Der abscheuliche Mann!« Sie ging weiter und stand vor einem Porzellandöschen still, aus dem es hervorrief:


»Ich bin das schönste Wangenrot,
Das prächtigste Lippenkarmin.
Auf Wangen, die fahl wie der Tod,
Laß ich die schönsten Rosen blühn.
Dein Gemahl, liebes Herze,
Kann ohne mich nicht bestehn,
Auch mein Nachbar, die Elfenbeinschwärze,
Braucht er gar schön,
Damit er sich pechschwarzen Bart bereite.«

»Nun ja, das fehlt noch! Also nicht einmal sein Bart ist echt! Ich armes Weib, so grausam ist noch keine von ihrem Manne getäuscht worden. Ich wage gar nicht, noch weiterzugehen; wer weiß, auf was für[217] falsche Dinge ich noch treffe. Doch will ich den Inhalt dieses Schächtelchens noch untersuchen.« Eine Stimme rief:


»Ich bin ein Auge,
Aus Glas gemacht.
Wenn ich gleich zum Sehen nicht tauge,
So blendet meine Pracht,
Und niemand schöpft Verdacht,
Daß ich nur ein Stück Glas.
Wie belustigt mich das!«

»Aber mich gar nicht!« rief Suse und stampfte weinend und ganz zornig den Boden. »Ist's erhört! also einäugig, rattenkahl, spindeldürr und Bart und Gesicht gefärbt – das ist der vollkommenste Kavalier! Nun warte! Die Welt und seine arme Frau so zu betrügen! Es ist zu toll! Was ist denn in dem Topfe da?« – Eine Stimme erwiderte:


»Ich bin eine Salbe,
Aus neunerlei Kräutern gebraut,
Ich schmeidige Haut,
Und mach' die vertrocknete, alte,
Dürre und kalte,
Von neuem jung und schön und glatt.
Dein Mann mich besonders nötig hat.«

[218] »Nun halt' ich's nicht länger aus!« schrie Suse. »Ich muß meinem Herzen Luft schaffen. So will ich denn sogleich zeigen, was ich von ihm halte!« Und sie lief aus dem Kabinett, ergriff einen Topf mit schwarzer Farbe und einen Pinsel, und strich überall an allen Aufschriften und Überschriften die Worte, »der vollkommenste Kavalier« aus. Als dies geschehen war, rief sie zu sich selbst, in dem sie beschämt stille stand:


»Aber Suse –
Jetzt warst du konfuse!
Wenn er nun kommt, so wird er sehn,
Was geschehn! –«

»Gleichviel!« rief sie; »es ist nun einmal getan. Komme nun, was da wolle! Aber ich habe nun noch nicht einmal herausgebracht, wo meine armen Schwestern sind. Sicherlich haben sie ebenso wie ich gehandelt und sind nun von dem Wütrich irgendwo eingesperrt.« Sie ging nochmals ins Kabinett, und da hörte sie in der Gegend eines großen Wandschranks etwas quieken und zwitschern, als wenn Vögel und Mäuse zugleich daselbst rumorten. Sie öffnete den Schrank, und – o Grausen! – da hingen ihre sieben Schwestern, an den Beinen aufgehängt und stießen die erbärmlichsten Klagelaute aus. Suse rief, ganz außer sich vor Entzücken: »Ach, meine liebe Annett', bist du da! Und [219] meine teure Adelgunde, meine gute Armengart, mein edles Katerlieschen, mein süßes Lottchen, und nun gar du, engelgleiche Anne Sophie, und Jette – lebt ihr wirklich noch! Und ich, eure Schwester Suse, komme euch zu retten!«

Und jetzt nahm sie eine nach der andern vorsichtig aus dem Schranke heraus, stellte sie wieder auf die Beine, und dann gab sie ihnen etwas zu essen und zu trinken.

Aber gleich darauf rief sie: »Aber ihr müßt alle wieder geschwind in den Schrank, denn ich höre den abscheulichen Mann heimkommen!« Die Schwestern krochen wieder in den Schrank hinein, und nur Lottchen, das Teufelsbottchen, öffnete nochmals die Tür ein wenig und rief: »Hast du mich nötig, so sag' es nur; ich habe Courage, es nochmals mit ihm aufzunehmen.«

»Liebes Lottchen,« erwiderte Suse, »es hilft alles nichts. Wenn ich's nicht zustande bringe, kannst du's auch nicht. Wir müssen nun entweder alle untergehn oder alle gerettet sein.«

Als der Blaubart sein Haus betrat, rief er sogleich: »Wer hat sich unterstanden, die Worte, der vollkommenste Kavalier' auszustreichen?«

»Ich!« entgegnete Suse, »weil es eine Lüge ist.«

[220] »Oho!« rief der Mann, und sein eines Auge funkelte.

»Du bist nicht der vollkommenste Kavalier,« fuhr Suse fort, »sondern der allermiserabelste und unvollkommenste, den man finden mag.


Geh, Ungeheuer!
Falsch von der Zeh bis zum Scheitelhaar
Nur dem Herz ist dein eigen,
Das falscher freilich nicht zu finden war.«

»So, so!« rief der Blaubart; »stehn die Sachen dergestalt! Also auch du ungehorsam und neugierig. So wirst du es mir denn auch nicht verdenken, wenn ich an dir dieselbe Strafe vollziehe, die deine Schwestern, die sich desselben Vergehens schuldig gemacht, erlitten haben. Ich werde dich zeitlebens einsperren und jeden Tag eine Stunde an den Beinen aufhängen zur Erholung. In dieser Stellung finde ich hübsche Frauen am schönsten, und man kann sie mit gehöriger Muße betrachten. Deinem Vater soll jedoch dein Tod gemeldet werden. Auf diese Weise ist er alle seine acht leichtfertigen Mädchen los und hat das hübsche Geld, das ich ihm gezahlt habe. Was mich betrifft, so erfährt die Nachbarschaft nichts von meinen Geheimnissen, und ich bleibe nach wie vor der vollkommenste Kavalier, das ist die Hauptsache.«

Und als er diese Rede vollendet hatte, ergriff er [221] die arme Suse bei den Haaren und wollte sie ins Kabinett schleppen, um sie an den letzten noch leeren achten Nagel im Schrank aufzuhängen; allein es kam anders. Der alte Baron hatte zur rechten Zeit die magische Glocke anschlagen gehört, und kam nun mit allen seinen Vettern und Verwandten, ein großes, zahlreiches Heer, überfiel das Schloß des Blaubarts, schlug den vollkommensten Kavalier tot und nahm seine ganze Habe in Besitz. Dann holte er aus dem Schranke seine sieben Töchter heraus. »Das ist eine schöne Geschichte!« rief er; »nun hab' ich acht Witwen im Hause! Lauter Madamen Blaubarts! Ich will euch etwas sagen, liebe Kinder, um Aufsehen zu vermeiden, will ich hier das Besitztum verkaufen und mit euch in die Fremde ziehen. Da können wir die ganze Historie verschweigen.«

»Verschweigen!« riefen alle acht mit einer Stimme; »unmöglich, Papa! Das ist eben unsre Genugtuung, das wir alles, was uns geschehen und was uns nicht geschehen, in der Nachbarschaft haarklein erzählen können.


O welch ein Vergnügen,
So recht ausbündig zu lügen!
Acht Zungen, die ohne Zaudern
Immerweg plaudern!
Welch ein Sausen!
[222]
Welch ein Klatschen!
Welch ein Brausen!
Welch ein Platschen!
Ist sichern
Gemächern welch ein Kichern!
Im Dunkeln
Ein ewiges Munkeln,
Im Hellen
Ein ewiges Gellen!
Vor dem Hause,
Hinter dem Hause
Ein ewiges Schimpfen
Ohne Pause. –
Bis endlich die ganze Nachbarschaft
Wie eine große Hundemeute
Zusammenklafft!
So bringt man's unter die Leute!«

[223] [225]Die verhüllte Fee.

Es war einmal ein König, und dieser König hatte eine Tochter, und diese Tochter wollte heiraten. Sie sagte: »Ich will einen recht vollkommenen Mann. Was nützt es, wenn ich einen Herzog oder Prinzen oder Grafen heirate, und er ist kein vollkommener Mann. Ich will aber einen vollkommenen Mann, es ist gleichviel, ob er ein Bauer oder ein König ist.«

Diese Rede hörten zwei Witwen, die in der Nähe des Königpalastes wohnten, und von denen jede einen Sohn hatte. Leider waren diese Söhne nicht schön, sondern eher mißgestaltet zu nennen; es war darum keine Hoffnung vorhanden, daß die Prinzessin ihre Wahl gerade auf einen von diesen armen Knaben lenken würde. Allein die Mütter hatten eine gute Bekanntschaft unter den Feen, und mit Hilfe dieser wollten sie nun zum Ziele gelangen. Sie fingen es auf folgende Weise an. Sie luden die Feen zu sich ein, beschenkten sie und versicherten sie ihrer unwandelbaren Freundschaft. [225] Die Feen, die, wie bekanntlich, sehr eitle Geschöpfe sind, gingen ihrerseits wieder so weit, die beiden Witwen ihrer Freundschaft zu versichern. Die beiden schlauen Frauen nahmen die Geschmeichelten beim Wort und baten sich schnell ein Gegengeschenk aus. Die Feen fragten, worin denn dieses bestehen solle. Nun baten die beiden Mütter die Feen, sie möchten ihre Söhne zu vollkommenen Männern machen, so daß sie der Prinzessin gefielen, und sie einen von ihnen zu ihrem Gemahl nähme. Der, der nicht gewählt würde, wollte darum doch den andern nicht beneiden, und sie wollten, nach wie vor, in guter Freundschaft leben. Die Feen sagten zu; und der nächste Freitag, wo die Mondscheibe gerade in ihr volles Licht trat, wurde zu dem Tage bestimmt, wo die Verwandlung mit den beiden Jünglingen vor sich gehn sollte. Allein die eine Witwe bedachte sich und sagte zu ihrer Nachbarin: »Mach' mit deinem den Anfang; ich will dann vierzehn Tage später mit meinem folgen.« Sie war schlau und dachte: geht's übel ab, so hab' ich meinen Sohn bewahrt, geht's gut, nun so ist die Verwandlung ja nicht nötig, und ich behalte das Kind, so wie es da ist, und so, wie ich mich einmal an ihn gewöhnt habe.

Als der Freitag kam, bereitete die Mutter ein Bad, legte allerlei wohlriechende Kräuter hinein und hieß den [226] Sohn einsteigen. Kaum war er darin, als es im Mondschein an der Hüttentüre klopfte. Die Mutter öffnete, und draußen stand eine Fee.

»Wer ist da?« fragte die Witwe.

»Ich bin die Fee Schönhaar.«

»Willkommen, mein schönes Kind; treten Sie ein.« Und die Fee ging an die Badewanne, berührte das Haar des Jünglings, das struppig und von roter Farbe war, und sang dabei:


»Ein schönes, weiches Seidenhaar
Legt sich um Wang' und Schläfe wunderbar;
Der Finger der Liebe, geschickt und gewandt,
Schlingt dahinein manch farbig' Band.«

Und der Jüngling hatte die schönsten dunkelbraunen Locken. Es klopfte wieder, und die Mutter fragte:
»Wer ist da?«
»Ich bin die Fee Stirnzauber«, war die Antwort.
»Sehr erfreut, mein schönes Kind,« sagte die Witwe mit einer Verbeugung, »belieben Sie einzutreten.«
Und die Fee ging an die Wanne, berührte die enge, mißgestaltete Stirn des Jünglings und sang dabei:

»Die Stirne ist der schönste Schrein,
Wohinein die Seele. die eifrig liebt,
Ihre goldnen Gedanken schließet ein;
Den Schlüssel dazu das Herze gibt.«

[227] »Gar nicht übel!« rief die Witwe, die sich etwas auf die Verskunst verstand. »Das beste aber ist, daß mein Sohn in der Tat jetzt die Stirn eines Dichters bekommen hat. Ich bin Ihnen wirklich sehr verbunden, mein Fräulein.«

»Keine Ursach'«, entgegnete die junge Fee bescheiden und entfernte sich. Da klopfte es abermals, und als die Tür sich öffnete, erschien auf der Schwelle die Fee Augentrost.

Sie ging auf den Jüngling zu, der sie aus kleinen, trüben Augen ansah, legte den Finger auf diese Augen und rief:


»Pfui, pfui! ich lieb' nicht solche Augen,
Die weder geschickt sind,
Liebe zu geben noch einzusaugen,
Geschwind ein paar andre, mein Kind!«

Und dann sang sie:

»Wie himmlisch ist ein Aug' zu schauen,
Gehör's zu braunen oder blauen,
Was da voll süßer Seele blickt
Und goldne Liebespfeile schickt.«

Nun kamen nacheinander:
Die Fee Naslieb. Sie sang:

»Die Nase, die in Flortüchern wühlt,
Die sich am marmornen Busen kühlt,
Ist auch ein Geschöpf, das fühlt.« –

[228] Dann die Fee Kußlippe. Sie sang:

»Wollt ihr wissen, wann süß ein Kuß?
Wenn man die Lippen suchen muß
Ihr roter Schein, hinter der Nacht,
Des krausen Bartes lieblich lacht.«

Dann hintereinander die Feen: Wangenfreude, Schimmerzahn, Grübchenkinn.
Die erste sang:

»Anfeuchten Wangen, die rot erglühn,
Tut die Lieb' ihr Immergrün ziehn,
Wie am Spalier an heißer Wand
Der Gärtner seinen Fruchtbaum band.«

Die zweite:

»Die Keuschheit, hinschiffend im Liebesmeer,
Hat zu bestehen gar böse Klippen.
Die schlimmsten sind hinter roten Lippen
Das weiße Zähneheer.«

Und die kleine Fee Grübchenkinn sang:

»Wenn alles glatt und eben ist,
Die Lippe gar zu schläfrig küßt,
Kommt sie aber auf ihrem Weg in Gefahr,
Zu fallen in ein Löchlein gar,
So klammert sie sich an und küßt recht fest,
Das ist dann beim Küssen das allerbest'.«

[229] Wie sie das gesagt hatte, grub sie in das Kinn des Jünglings mit ihrem kleinen Finger ein allerliebstes Grübchen.

Nun kamen die Feen, die sich mit dem übrigen Körper beschäftigten. Da war die Fee Schönhals, die Fee Wölbebrust, die Fee Rundhüfte, die Fee Schönschenkel, die Fee Knienglatt, die Fee Prallwade, die Fee Kleinfuß. Sie alle rieben, bügelten und schniegelten, drückten und zwickten, streichelten und hauchten, bliesen und stießen an dem Jüngling herum, bis er endlich schön wie Adonis aus den dunklen Wellen des Bades stieg.

Ganz zuletzt, als die andern schon alle wieder fort waren, kam noch eine Fee, die blieb auf der Schwelle der Hütte stehn und wollte ihren Namen nicht sagen, auch nicht, welche Gabe sie bringe. Dabei war sie verschleiert, und man wußte nicht, was man mit ihr anfangen sollte. Zuletzt wurde sie weggewiesen.

»Wer mag denn wissen,« sagte die Witwe, »ob es auch eine wirkliche Fee ist. Es gibt soviel herumstreichendes Gesindel, das sich allerlei Namen gibt. Warum hat sie denn nicht den Zweck ihres Kommens genannt? Übrigens du bist jetzt vollkommen schön, und wir haben auch weiter keine Fee nötig. Jetzt kleide dich in die neuen Kleider, die ich schon besorgt habe, [230] und melde dich bei der Oberhofmeisterin der Prinzessin. Es ist gerade heute Annahmetag.«

Als die Prinzessin ihn sah, rief sie: »Ach, was für ein schöner Mann! Was für ein schöner Mann!« Die Oberhofmeisterin winkte ihr aber, still zu sein, setzte ihre große Brille auf und betrachtete ihrerseits den Ankömmling. »Es ist wahr,« sagte sie, »es ist ein hübscher Junge; allein Ihro Hoheit werden sich besinnen, daß Sie mir versprochen haben, keinen Mann für vollkommen schön zu erklären, den ich nicht auch dafür erkläre.«

Und dies hatte die Prinzessin allerdings so ausgesprochen. Da, seitdem im Lande das Aufgebot bekanntgeworden, eine so große Anzahl schöner Männer eintraf, die alle von der Prinzessin gewählt sein wollten, so hatte sie kaum Zeit, sich ihre Namen nennen zu lassen, viel weniger zu untersuchen, ob sie auch wirklich vollkommen schön waren. Die Oberhofmeisterin besaß den Ruf einer großen Kennerin in diesem Fache, und ihr hatte deshalb die Prinzessin das Amt aufgetragen, mit dem sie nicht wenig groß tat. Die schöben Männer fürchteten die große Brille der Oberhofmeisterin ärger, wie sie den Tod und den Teufel gefürchtet hätten, denn vor dieser unerbittlichen Brille bestand keiner.

Als die Oberhofmeisterin den jungen Mann ihrer nähern Prüfung unterwarf, schrie sie wie besessen:


[231]
»Ei du infamer Bärenhäuter,
Troßbub, Prahlhans und so weiter!
Wie nur wagst du es, du Geck!
Zu treten in diesen Palast leck!
Meinst du, daß man hier kauft Schinken ohne Speck?
Daß man zufrieden mit einem leeren Besteck,
Wenn Messer und Gabel herausgerissen?
Sieh her, ich trete dich mit Füßen,
Und werfe dich hinaus auf den Sand,
Du aller Weiber Schreck und Schand!«

Man sieht, die Oberhofmeisterin war noch von der alten Sorte, die sich drauf verstand, trotz einer Höckerin, ihre Zunge zu brauchen. Der arme Vertriebene machte, daß er wieder in sein Dorf heimkehrte, indem er alle Feen und seine Mutter zugleich verwünschte.

Die Nachbarin, die andre Witwe, hörte das und hatte sogleich ihre Gedanken drüber. Sie hatte sich umständlich den ganzen Hergang mit den Feen beschreiben lassen und auch nicht den kleinsten Umstand vergessen. Als daher ihr Sohn jetzt im Bade saß, wies sie alle Feen ab und nahm nur die eine, die verhüllte Fee auf. »Denn«, sagte sie bei sich selbst, »was nutzen mir die andern und ihre Gaben, wenn mir die Prinzessin doch dabei verlorengeht? Vielleicht bringt's die Verhüllte zuwege, daß mein Sohn angenommen wird.«

[232] Als er an den Hof kam, rief die Prinzessin, die grade am Fenster stand: »Wo will der hin? Kommt der hierher? Das soll ein schöner Mann sein? Nimmermehr.«

Die Oberhofmeisterin hatte sogleich ihre Brille auf der Nase und sagte: »Allerdings, Hoheit, es ist ein garstiger Bub; allein seine Häßlichkeit hat etwas Pikantes.«

»Ja, sie hat etwas Pikantes!« riefen alle Hofdamen, die der Oberhofmeisterin zu Gefallen sein wollten.

»Aber sehen Sie denn nicht,« rief die Prinzessin ganz entrüstet, »daß er schielt, und ferner, daß er eine häßliche Stumpfnase und schwülstige Negerlippen hat? Niemals hab' ich gehört, daß das schön sein soll.«

»Ja, und welch ein dickes, plumpes Bein!« rief die Dame, die neben der Prinzessin stand, »und wie er einwärts geht! Ich glaub', er hat nie einen Tanzmeister gesehen!«

»Das ist möglich!« entgegnete die Oberhofmeisterin trocken. »Vielleicht aber versteht er, trotz dessen, doch zu tanzen.«

»Und wie groß und rot sind seine Hände!« rief die Prinzessin, »Soll das etwa auch schön sein!«

»Nein, nein, nein!« riefen alle Damen; »er ist häßlich, [233] dabei bleibt's; aber er hat etwas Pikantes, das geben wir zu.«

Die Oberhofmeisterin ging jedoch beiseite, führte den jungen Mann mit sich und setzte nochmals ihre Brille auf. Sie schlug die Hände zusammen und rief im Entzücken:


»Allmächtige Götter!
Herr Satanas und sein Vetter!
Herr Beelzebub und seine Muhme!
Ich sterb'
Beim Anblick dieser Blume
Der Schönheit und der Vollkommenheit!
Ich grüß' Euch als Prinz, der Ihr jetzt seid!«

Und hiermit stand sie auf und machte dem jungen Burschen, der nicht mußte, wie ihm geschah, eine tiefe Verbeugung. Er hatte nichts anders erwartet, als noch weit schimpflicher wie sein Vorgänger aus dem Palaste geworfen zu werden, und statt dessen brachte ihn die Oberhofmeisterin im Triumph zur Prinzessin und sagte zu ihr: »Hoheit, dieser ist Ihr Gemahl und kein andrer. Hab' ich unrecht gesprochen, so soll mein Haupt vom Rumpfe getrennt werden.«

Und der junge Häßliche Bauer wurde der Gemahl der Prinzessin und später König. Die abgewiesenen Feen sangen aber im Chor:


[234]
»Welch schlechter Geschmack!
Wie wenig Poesie!
Mit dieser Prinzessin
Möchten wir nie
Zusammentreffen im Leben!« –
Vielleicht meint eben
Dasselbe der Leser.

[235] [237]Der plaudernde Topf auf dem Herde.

Ein Wanderer kam zur späten Abendzeit in einen tiefen, finstern Wald; er fand eine Hütte und trat hinein. Die Hütte war leer, aber auf dem Herde brannte ein Feuer, und ein siedender Topf stand darauf. Ermüdet setzte sich der Wanderer an den Herd, und als er auf das Brodeln und Zischen im Topfe lauschte, vernahm er eine deutliche Stimme, die da sprach:


»Summ, summ –
Brumm, brumm –
Gischt, gischt –
Ischt, ischt –
Ich kann was erzählen
Im Walde geht's um.
Im dunkeln Walde,
Unter dichtem Gezweig
Liegt eine Leich'! –
Im dunkeln Walde,
[237]
Auf Wegen und Stegen
Kommen sich entgegen
Der junge Jäger, des Försters Weib.
Ihr frischer Leib
Wird von ihm umfangen.
Auf Brust und Wangen
Die weißen Zähne
Graben sich ein.
Beim grünen Schein
Im Blätterdachdunkel
Liegt nackt seine Lende,
Liegt nackt seine Hüfte;
Des Auges Gefunkel,
Die brennende Wange,
Die heißen Hände
Umspielen die Lüfte,
Beim Vogelgesange,
Der schallt durch die Hallen,
Durch die rauschenden Hallen
Wie lieblich ist's Drücken,
Wie lieblich das Küssen,
Es will ihnen glücken
Zu immer süßen Genüssen
Sich ineinander zu fügen,
In Kräuter und Moos
[238]
Sich einzuschmiegen.
Er läßt sie nicht los,
Sie läßt ihn nicht frei,
Er stößt in ihren Schoß
Des Jägers Geweih,
Des Jägers Fänger;
Sie schilt so leise
Den harten Dränger.
Ihn kümmert es nicht,
Ihm gefällt die Weise;
Er sieht es so gerne,
Das gebrochene Licht
Der Augensterne –
Den hauchenden Mund,
In dessen Grund
Er Küsse tauchet.
Sein Recht er brauchet,
Und endet nicht eher, als bis zum Ermatten
Im Liebesgeschäfte
Die gesunkenen Kräfte
Nichts mehr gestatten. – –
Da rauscht's im Gezweig –
Der Förster ist es, nicht feig
Legt er das Geschoß an
Auf den glücklichen Mann,
[239]
Doch eh er zum Schuß kommt, bringt jener gut
Ihm einen Schuß bei,
Und der Förster liegt im Blut,
Und mit Geschrei
Entflieht das arme Weib,
Gischt – ischt –
Summ, summ!
Das hab' ich dir erzählt zum Zeitvertreib.« –

Der Topf holte hier etwas Atem und fuhr dann in seiner Erzählung weiter fort, indem er die Begebenheiten alle so darstellte, als wenn sie eben erst sich ereignet hätten.


»Doch laß dir nicht beikommen,
Den Förster zu rächen;
Sein Tod macht stumm
Die Taten, die sonst sprächen.
Hier im Gemach
Steht eine Blutlach',
Sie quillt aus dem Schranke,
Dem großen, mächtigen,
Von Eichenholz prächtigen,
An der Wand, die Ranke
Von Efeu zieht sich heran:
Drin hängt ein toter Mann,
Den der Förster erschlagen,
[240]
Den der Förster beraubt
Noch vor wenig Tagen.
Noch nicht bestaubt
Ist des Mannes Bibel,
Die in der Tasche er trug,
Dort liegt das heilige Buch.
Er war auf der Reise
Nach fremden Meeren,
Und mußte, unweise,
In dieses Haus einkehren,
Nun reiset er nimmer.
Bei des Mondes Schimmer
Sieht man durch den Spalt
Der Schranktür die Gestalt,
Wie sie bleich und voll Blut
In der Tiefe ruht,
Zwischen altem Gerülle,
Und Staub und Moder die Fülle.
Man höret nicht den Sang
Der Vögel im Wald,
Ewig stumm ist's im Schrank,
Ewig schweigt die Gestalt.
Sie haben bei Nacht
Durch Gezweig und Hecken
[241]
Den Förster in den Schrank gebracht;
Da sehn sie mit Schrecken
Den andern Gesellen
Bereits sich drin strecken.
Rasch in dem hellen
Mondlicht tragen Weib und Mann
Die Toten zur Waldschlucht heran,
Werfen sie in die Tiefe mit Graus;
Unbeerdigt liegen sie dort,
Den Raben zum Schmaus.
Ein grausiger Ort! –
Der junge Jäger wird Förster nun
Doch kann er nicht ruhn.
Es treibt ihn in den Wald,
Wo seine Büchse knallt,
Wo das Tier, gehetzt,
Mit heißem Blut
Seine Stirne benetzt –
Das tut ihm gut.
Da atmet er frei,
Da atmet er leicht,
Wenn Todesschrei
Sein Ohr erreicht. –
Daheim sitzt beim Scheine
Der Lampe die Kleine
[242]
Beim Rocken.
Ihre Pulse stocken:
Es will sie bedünken,
Als sah' sie aus dem Schranke
Einen Arm herauswinken,
Als hörte sie zwei Stimmen,
Die gegeneinander ergrimmen,
Die eine spricht: ›Weshalb mich aufhalten
Auf meiner Reise?
Ich bringe den Jungen, den Alten
Himmlische Speise
Göttlichen Worts.‹
›Weshalb mich aufhalten?
Im Hause des Mords‹
So tönt's aus der andern
Ecke, ›gilt nimmermehr Wandern.
So wie ich dich,
So hat man mich
Zum kalten Manne gemacht!
Doch die Rache wacht!‹ – –
Und das Weib hört die Stimmen,
Die gegeneinander ergrimmen,
Und sie flieht aus dem Haus
In die Waldnacht hinaus.
Der Mann holt sie ein,
[243]
Bei der Lampe Schein
Bringt er sie in die Kammer;
Er achtet nicht ihrer Bitten,
Er achtet nicht auf den Jammer.
Seine frechen Sitten
Bringen sie auf;
Er richtet auf ihren schönen Busen
Des Rohres Lauf;
Er schießt sie nieder
Und bedeckt dann die Glieder
Mit Tränen sonder Zahl;
Drauf stürmt er fort ohne Wahl,
Und nie sah man ihn wieder!« –

Der Topf holte wieder tief Atem, brodelte etwas und warf ein wenig Schaum aus, gleichsam wie ein alter Herr, der durch vieles Sprechen einen leichten Anfall von Stickhusten bekommt, dann fuhr er fort:


»Gesühnt ist nun alles.
Verschwunden das Gedächtnis
Und das Vermächtnis
Des Sündenfalles.
Ein junges Weib waltet
Im Kreise der Kleinen
Und schaltet
Im Hause,
[244]
Bei der Arbeit wie beim Schmause,
Beim Rumoren
Der kleinen Toren,
Bei Lachen und Weinen,
Bei diesen Schwänken
Der listigen Buben,
Die mit Hallo! und Hurra!
Durchziehen die Stuben.
Die schlimmsten der Rangen,
Denen vor keiner Strafe tut bangen,
Sperrt man in den Schrank,
Der noch steht im Gemach.
Dann hört man drin Zank,
Im Gerümpel ein Gekrach.
Und Stimmen,
Die gegeneinander ergrimmen,
Und ein Arm tut herauswinken.
Aber die Mutter, die dabei sitzt,
Lacht das Gesindel
Tüchtig aus bei der Spindel.
Es kommt der Mann nach Hause erhitzt,
Dem trocknet sie die Wangen,
Mit schmeichelnden Küssen
Fühlt er sich umfangen;
Auf Knien und Füßen
[245]
Anklettern ihn die Rangen.
Dann geht es zum Schmaus –
Mit Löffel und Messer,
Holen sie tüchtig aus,
Die gewaltigen Fresser –!
Es schwinden die Brocken
Aus Teller und Schüssel,
Und alles wird trocken
Selbst für einen Fliegenrüssel.
So treibt es die Bande.
Dem Vater dünkt's keine Schande,
Denn ehrlich erworben ist alles Gut. –
So bringt die Liebe zurecht,
Was Haß einst bei Nacht
Hier schlimm gemacht. –
Also treibt es das Menschengeschlecht!« –

Der Wanderer, als er diese Erzählung gehört hatte, bedankte sich bei dem siedenden Topfe und wanderte weiter. Die Hütte blieb wieder einsam, der Topf brodelte auf dem Herde: »Wann wird wieder jemand kommen!« rief er bei sich. »Ich weiß noch manche Geschichte, und ich erzähle so gerne.« Aber es kam niemand. Draußen im Forste rauschte der Wind, das Spätrot glitzerte durch die Bäume; der Topf stand am Herde und brodelte.

[246] General Glitschinsky.

Es waren einmal drei Schwestern, die waren durch ein Gesetz gezwungen, daß ein sehr häßlicher, kleiner buckliger Mann zwischen ihnen die Wahl haben sollte. Es war dies eine bittre Notwendigkeit, und die drei Schwestern hätten sich gern davon losgemacht, wenn sie nur irgend gewußt hätten auf welche Weise. Endlich sagte der bucklige Kleine, da er merkte, daß von den dreien keine ihn mochte: »Ich will euch etwas sagen: Wenn ihr mich los sein wollt, so suchet herauszubringen, wie ich heiße. Diejenige, die mir meinen Namen nennt, soll mich nicht heiraten dürfen. Drei Wochen geb' ich euch Frist – sind die herum, und ihr könnt mir nicht sagen, wie ich heiße, so muß eine von euch, ohne Gnad' und Barmherzigkeit, mir in die Brautkammer folgen.«

Die Schwestern gingen diesen Vertrag ein. Die erste Woche über waren sie ganz ruhig. Wir werden es [247] schon herausbringen, wie er heißt, dachten sie bei sich und gaben sich keine Mühe; die zweite Woche verging ebenfalls in Sorglosigkeit, beim Beginn der dritten Woche sagte die älteste, die sich für die klügste hielt, zu ihrer Schwester, die nicht minder stolz und eingebildet war wie sie selbst: »Was meinst du? Wir wollen in die Stadt schreiben, wo er her ist, da wird man uns ja wohl seinen Namen sagen.«

»Ei freilich« – entgegnete die andere. »Nichts leichter als das.«

Und sie setzten sich hin, legten das Papier zurecht, spitzten die Feder, rührten die Tinte um, aber als sie nun die erste Zeile schreiben wollten, fiel ihnen ein, daß sie die Stadt ebenfalls nicht wußten, von der er her war.

Und sie gingen zum Buckligen und sagten: »Wir wünschten den Namen der Stadt oder des Dorfes zu wissen, von wo ihr her seid.«

»Wo werd' ich euch das sagen!« entgegnete er. »Da könntet ihr ja hinschreiben und erfahren, wie ich heiße.«

Die Schwestern gingen, ohne auch nur um ein Wort klüger geworden zu sein, unwillig fort.

Dabei war der dritte Tag von der Woche vergangen.

»Wir werden es schon erfahren!« riefen die beiden[248] Törichten, und ließen auch den vierten und fünften Tag vergehen. Endlich kam der letzte heran, und sie wußten noch immer nicht den Namen. Sie gingen zu der dritten Schwester und sagten zu dieser: »Wenn du uns den Namen dieses widrigen Zudringlichen herausbringen hilfst, so will ich dir mein gelbstoffenes Kleid mit den kleinen Silberblumen schenken,« »und ich dir meinen Fächer von Sandelholz mit den kostbaren, eingelegten Figuren in Gold.«

»Ich werde sehen, was ich tun kann«, entgegnete die jüngste, die sehr bescheiden und demütig war.

Sie hatte schon längst sich um das Geheimnis Mühe gegeben und war zur Enthüllung desselben bereits auf eine Spur geraten, welche sie ihren beiden hochmütigen Schwestern jedoch sorglich verbarg. Diese Spur bestand in der Entdeckung, die sie gemacht, daß der Bucklige manchmal einsame Spaziergänge unternahm, und daß er bei dieser Gelegenheit oft mit sich selber sprach, so als wäre ein guter Freund zugegen. Sie konnte nur niemals recht deutlich hören, was er sagte. In der letzten Nacht, die noch übrig von der Frist, schlich sie ihm wieder nach und bemerkte, wie er auf einem Hügel im hellen Mondenschein stehenblieb, sein rechtes Bein in die linke Hand nahm, und auf dem linken Beine hüpfend, die Worte sang:


[249]
»O wie gut, daß niemand weiß,
Daß ich General Glitschinsky heiß'!«

Dies sang er noch zwei- oder dreimal und ging dann vom Hügel herab.

Die jüngste lief jetzt zu ihren Schwestern und sagte ihnen den Namen. Am andern Morgen kam der Bucklige und wartete im Vorzimmer, daß eine nach der an dern hervorkommen sollte, und daß keine den Namen würde sagen können. In dem Fall hatte er seine Wahl schon getroffen und alle Anstalten zur Vermählung schon gestellt.

Da öffnete sich die Türe des ersten Kabinetts und die älteste trat hervor, machte eine tiefe Verbeugung und rief: »Guten Morgen, General Glitschinsky!«

Der Bucklige fuhr ganz erstaunt zurück, in dem Augenblick öffnete sich auch die Türe des zweiten Kabinetts und heraus trat die mittlere Schwester, machte eine tiefe Verbeugung und rief: »Guten Morgen, General Glitschinsky!«

Nun kam die jüngste. Da freute sich der Bucklige und dachte bei sich: Die weiß den Namen nicht. Aber die jüngste rief ebenfalls, indem sie eine noch tiefere Verbeugung, als ihre Schwestern, machte: »Guten Morgen, General Glitschinsky!«

Da ging der Bucklige von dannen, und kam nicht[250] wieder. – Die jüngste aber kam zu ihren Schwestern und bat sich das Kleid und den Fächer aus.

»Wir werden nicht so einfältig sein, dir Wort zu halten, dumme Trine!« riefen beide einstimmig. »Geh' uns aus den Augen! So klug wie du hätten wir auch sein können, wenn wir uns nur irgend Mühe gegeben. Wie das alberne Mädchen nun großtut! O ja, mein gelbstoffenes Kleid, das sollte dir schon hübsch sitzen! und der Fächer von Sandelholz dazu! hahaha! Geh uns aus den Augen, blödsinniges Geschöpf!«

»Ihr Undankbaren!« rief die jüngste und weinte bitterlich. Die Schwestern ruhten nicht eher, als bis die Arme das Haus verließ und in die Fremde zog. Aber da die Schwestern nichts von guter Ordnung und Wirtschaft verstanden, ging alles bald drunter und drüber in ihrem Hause, so daß sie selbst die jüngste wieder herbeirufen mußten, damit nicht ihr Eigentum vollends zugrunde gehe. Sie kam gutwillig, und trug den törichten Schwestern ihre Übeltat nicht nach.

Fünf Jahre waren vergangen, da kam ein wunderschöner Prinz ins Land, der da erklärte, daß er eine Frau suche, die mit ihm seinen Thron teilen und gemeinschaftlich mit ihm über sein Land herrschen sollte. Man kann sich denken, daß sehr viele sich fanden, die den Prinzen zu heiraten sich rasch entschlossen, allein [251] es war eine Bedingung an die Wahl geknüpft, die nicht so leicht zu lösen war. Der schöne Königssohn gab nämlich vier Rätselfragen auf, und welche ihm diese beantworten konnte, sollte die Erwählte sein. Die erste dieser Fragen war: Wie groß war ich vor fünf Jahren? Dann: Welch einen Panzer trug ich schon als Kind, und legte ihn nie ab weder Tag noch Nacht? Mit wem sprach ich, als ich einst nachts auf einem Hügel stand, und was hatte ich damals in meiner linken Hand? und endlich: Wer wird dadurch bekleidet, daß man ihm die Kleider auszieht?

Diese Fragen konnte keine der jungen Damen, die sich täglich zu ganzen Scharen im Palast einfanden, beantworten. Die zwei Schwestern ließen erst den gar zu stürmischen Andrang etwas sich verlaufen, ehe sie sich aufmachten, um in dem Palast zu erscheinen, denn sie waren ihrer Sache gewiß, daß sie siegen würden. Sie hatten sich die Beantwortung gemeinschaftlich ausgedacht und waren dabei übereingekommen, daß die älteste den Prinzen heiraten, und die zweite als erste Hofdame ihr zur Seite bleiben sollte. Als sie vorgelassen worden waren, hub die älteste an: »Mein Prinz, wie groß Sie waren vor fünf Jahren, ist leicht zu beantworten. Wir sind so ziemlich von einem Alter und ich weiß sehr genau, daß ich vor fünf Jahren bereits [252] ebenso groß und schön war, wie ich jetzt bin. – Welchen Panzer Sie als Kind schon getragen haben? Nun, was kann dies anders für ein Panzer gewesen sein, als ein Ihrem hohen Range angemessener, nämlich von Silber, reich vergoldet, und mit purpurroter Seide gefüttert. Dann: Mit wem Sie sprachen nachts auf dem Hügel? Das will ich Ihnen sagen, teurer Prinz. Sie nahmen von Ihrer Frau Mutter, der regierenden Königin Abschied, um in die Ferne zu ziehen, und in Ihrer Linken hielten Sie die Hand ihrer Majestät, und besagte Hand bedeckten Sie mit ehrerbietigen Abschiedsküssen. Was die vierte Frage betrifft, so erlauben Eure königliche Hoheit, daß ich darüber errötend schweige. Noch niemand ist dadurch, daß man ihm die Kleider nahm, bekleidet worden. Ich habe zuviel Verstand, um nicht einzusehen, daß diese letzte Frage nur aufgeworfen worden ist, um zum Scherz zu dienen und uns arme Damen in Verlegenheit zu setzen.«

Hiermit machte sie eine tiefe und anmutige Verneigung und erwartete nun, daß der Prinz ihr um den Hals fallen und sie als Braut begrüßen werde. Allein dies geschah nicht, sondern er sagte, indem er die Verneigung mit einem ebenso ehrfurchtsvollen Gruße erwiderte: »Es tut mir leid, meine Schöne, daß ich Ihnen sagen muß: keine der Beantwortungen ist die[253] richtige. In Betracht Ihrer Jugend und Schönheit und Ihres ungewöhnlichen Verstandes will ich Ihnen jedoch – gegen das Gesetz, das ich selbst gegeben – noch drei Tage zugestehen, während welcher Sie sich auf eine andre Lösung meiner Fragen besinnen mögen.«

Die zwei Schwestern gingen wütend von dannen. »Was bildet sich der Mensch ein?« rief die zweite, »wenn wir uns herablassen, über seine albernen Rätsel nachzudenken und sie ihm richtig beantworten, macht er Schwierigkeiten, uns den Preis, den wir gewannen, auszuliefern. Welche Sorte von Prinzen ist das? Hat man je einen Kavalier und Königssohn so handeln sehn gegen schöne und kluge Damen. Wir wollen ihn aufgeben und ihn vergessen, Schwester.« –

Allein dies war nicht so leicht getan. Der schöne Prinz und noch mehr der Thron, den er anbot, kam ihnen Tag und Nacht nicht aus den Gedanken. Sie fingen jetzt die jüngste zu plagen an, sie solle, wie damals, die Sache ins Klare zu bringen suchen.

»Daß ich eine Närrin wäre!« antwortete diese, »ihr würdet mich dann wieder, nachdem ihr erreicht, was ihr gewollt, zum Hause hinausjagen.«

»O meine Liebe, im Gegenteil!« riefen beide. »Wir würden dich mit Gold belohnen, dir Kleider und Schmuck [254] geben, soviel du dessen wolltest und du solltest bei uns wohnen alle Tage deines Lebens hindurch.«

»Wenn ich dessen ganz gewiß wäre?«

»Du kannst dessen so gewiß sein, als mein rabenschwarzes Haar nicht rot ist,« »und« – setzte die zweite hinzu – »mein klares Augenpaar keine häßlichen Triefaugen sind.«

»Nun gut, ich will noch einmal auf euer Wort bauen,« sagte die jüngste, und nun gab sie den Schwestern die einzig richtige Beantwortung der Fragen. Am andern Morgen ließen die zwei sich anmelden und die älteste hub mit einer stolzen und zuversichtlichen Miene an: »Mein Prinz, wenn wir Ihnen neulich nicht die volle Wahrheit sagten, so geschah es, weil der ganze Hofstaat zuhörte, und ich, wie billig, Anstand nahm, die Dinge, die ich recht gut wußte, Ihnen so laut ins Gesicht zu sagen. Da Sie aber darauf bestehen, so tue ich's jetzt. Wohlan denn, vor fünf Jahren waren sie verehrter Herr, nur halb so groß wie jetzt, denn Sie waren ein Zwerg! Als Kind trugen Sie schon den häßlichen Buckel, den Sie vor fünf Jahren auch noch hatten, und es ist natürlich, daß man einen solchen Panzer weder Tag und Nacht ablegt. Auf dem Hügel, nachts, sprachen Sie mit sich selber, und in der linken Hand hatten Sie Ihren rechten Fuß; und endlich, indem Sie [255] die bucklige Zwerggestalt ablegten, wurden Sie erst anständig und Ihnen angemessen bekleidet, nämlich mit Jugend und Schönheit und dem Adel und der Würde, die Sie jetzt zieren. Dies, Eure königliche Hoheit, wird wohl ein befriedigender Bescheid auf Ihre Fragen sein.«

Der Prinz war im höchsten Grade erstaunt und rief: »In der Tat, schöne Dame, meine Rätsel sind alle gelöst; allein, darf ich fragen, ob Sie diese Kenntnis ganz allein aus sich geschöpft haben?«

»Diese Frage,« entgegnete die älteste entrüstet, »ist gelind beurteilt, zum mindesten unbescheiden. Mein Prinz, wer soll mir geholfen haben? Hier steht meine Schwester, und die wird mir bezeugen, daß mein Scharfsinn ohne die mindeste Beihilfe anderer die Lösung gefunden hat.«

»Ich kann dies bezeugen!« setzte die zweite hinzu.

»Und haben Sie keine zweite Schwester?« fragte der Prinz.

»Ich hatte eine, allein die war ungeraten, und der Himmel hat uns schon früh von dieser Last befreit.«

In diesem Augenblicke trat die dritte Schwester in den Saal und warf sich händeringend den beiden, die sie eben verleugnet hatten, zu Füßen. »Wo sind nun die Gaben, die ihr mir versprochen, und die Ehren, [256] die ihr mir habt erweisen wollen?« rief sie, und hob beide Hände flehend empor. »Ihr werdet doch nicht wieder undankbar sein?«

Die Schwestern verkrochen sich hinter den jungen Königssohn, indem sie riefen: »Bringt diese arme Wahnsinnige fort! Wir kennen sie nicht. Laßt sie in das tiefste Gewölbe des Schlosses werfen, damit sie nie wieder an das Licht des Tages komme und die Menschen ängstige.«

»Pfui, pfui, meine Damen!« rief der Prinz, »wie häßlich macht Sie der Zorn. Sie, meine Gnädige, haben plötzlich brandrotes, struppiges Haar bekommen, und Sie die scheußlichsten Hexenaugen, die ich je gesehen!«

Die beiden rannten vor die Spiegel und stießen einen lauten Schrei aus. Der ganze Hof lachte. Der Prinz aber sagte sehr ernst und strenge: »Ihr Rat war gut, meine Damen; damit die Bösen nie wieder die Guten ängstigen, soll man sie, wo man ihrer habhaft werden kann, in die tiefsten Keller und Gewölbe bringen. Damit werde ich so frei sein, mit Ihnen beiden, die Sie Ihre arme, kluge, bescheidene und schöne Schwester verraten und betrogen haben, den Anfang zu machen. Ich wußte es wohl, daß nur die, die ich damals, als ich noch im Zustande der Bezauberung war, mir zur [257] Gattin gewählt hatte, meine Fragen beantworten konnte, deshalb waren sie auch nur an sie gerichtet. Die Tugend und die Demut, die Bescheidenheit und die Klugheit empfängt jetzt die Krone, die ihr gebührt.«

Die jüngste, als sie Königin geworden, war doch so mildtätig, ihre Schwestern freizugeben, und Dame Triefauge und Dame Rothaar lebten am Hofe noch lange als zwei alte Klatschen, die Teufel und Hölle ineinander rührten, und denen jedermann aus dem Wege ging.

[258] Die Fee Langeweile.

Ein König und eine Königin hatten eine wunderschöne Tochter, an deren Wiege traten böse Feen und wünschten dem Kinde allerlei Übles. Als sie fort waren, kam eine Fee, die sah lieblich aus, trug auch ein weißes Gewand, war also keine böse Fee, die sagte den trostlosen Eltern: »Ich kann die Machtsprüche jener nicht völlig wirkungslos machen, allein ich will die bösen Folgen möglichst dämpfen. Eure Tochter soll bei allem dem doch ganz ungefährdet durchs Leben kommen.« Mit diesen Worten berührte sie das Kind mit ihrem Stabe und verschwand.

Der König begleitete sie die Treppe hinab, und als er wieder heraufkam, sagte ihm die Königin: »Lieber, wir haben sie nicht gefragt, wer sie war und wie sie hieß.«

»Ich hatte die Frage auf der Zunge,« entgegnete der König, »allein, sowie ich den Mund aufmachte, mußte ich gähnen und konnte nicht sprechen.«

[259] »Seltsam!« rief die Königin, »ebenso ging es mir.«

Und dem ganzen Hofgesinde war es so gegangen, in der kurzen Viertelstunde, während die Fee in dem Palaste geweilt. Der Koch hatte eine Brühe verschüttet, weil er nicht die Anziemlichkeit begehen wollte, dem Oberküchenmeister, der gerade zuschaute, ins Gesicht zu gähnen, und während er sich abwendete und die Hand vorhielt, verschüttete er die Brühe. Dem Musiklehrer, der gerade den Hofdamen Stunde gab, blieb das hohe G in der Kehle stecken, und statt seiner wand sich ein widriger gähnender Ton langsam heraus. Der Kaplan, der die Frühmesse lesen sollte und eingeschlafen war, gähnte im Schlafe, die Hunde gähnten im Hofe, und selbst die Katze auf dem Boden unterm Dache ließ die eben gefangene Maus wieder frei, um zu gähnen. Es war seltsam, niemand konnte sich's erklären.

Als die Prinzessin herangewachsen war, kamen Feinde ins Land, eroberten es, und der König verlor sein Königreich. Überall wurde geplündert und gemordet. Auch in den Palast drang eine Schar, und die rohen Krieger fanden die zarte Jungfrau, wie sie eben willens war, mit ihren Hofdamen zu fliehen. Die Unholde stürzten über die Jungfrauen her und überwältigten sie schmählich; auch an die Prinzessin machten sich zwei Kannibalen, und schon war es ihnen gelungen, ihr die [260] sammetnen Gewänder vom Leibe zu reißen und sie auf den Boden zu werfen, als sie plötzlich innehielten, und in so anhaltendes Gähnen ausbrachen, daß sie die Kinnbacken gar nicht mehr zusammenbekamen.

»Teufel! was gibt's hier zu gähnen?« riefen die Kameraden dieser Wütriche. »Ist euch denn die Sache so langweilig; alle Wetter! uns kommt sie sehr belustigend vor.«

»Uns auch« – riefen jene – »aber – –« und nun fingen sie wieder an zu gähnen.

»Schlafmützen!« riefen die Wütenden; »selbst hierbei können sie die Augen nicht offen halten. So laßt uns heran.«

Und wie sie kamen, und kaum mit ihren vorher blutgetränkten Händen den Leib der schönen Prinzessin berührt hatten, gähnten sie ebenfalls wie toll. Da brach der ganze Trupp in Lachen aus und rannte von dannen. Die Prinzessin war aus einer großen Gefahr gerettet. Die Hofdamen, die nicht gerettet waren, suchten sich damit zu trösten, daß es im Kriege nun einmal nicht anders herzugehen pflegt.

Die Prinzessin flüchtete in ein benachbartes Königreich, wo ein sehr schöner Prinz eben den Thron bestieg. Der nahm die schöne Unglückliche bei sich auf und heiratete sie.

[261] Aber das Mißgeschick, das die bösen Feen heraufbeschworen hatten, setzte seine Verfolgungen fort. Der junge König, der sehr mißtrauisch und eifersüchtig war, faßte einen Verdacht gegen seine Gemahlin, als sei sie ihm untreu, und ließ sie zum Tode verurteilen. Die Knechte, die sie morden sollten, hatten nicht den Mut dazu, und setzten die schöne Frau im Walde aus. Hier lebte sie in größtem Elend, von Wurzeln sich nährend, in einer Höhle.

Da kam eines Abends ein Mann in einem schwarzen Mantel, mit einem roten Unterfutter zu ihr und setzte sich auf die Bank vor der Höhle.

»Wer sind Sie?« fragte die Prinzessin.

»Ich bin der Teufel und komme, Sie zu verführen.«

»Mich verführt man nicht so leicht«, entgegnete die Prinzessin lächelnd.

»Ei, mein Schatz, lehren sie mich nicht die Weiber kennen!« sagte der Teufel mit einer groben Miene. »Ein junges Mädchen, das so allein im Walde wohnt und noch dazu so leicht bekleidet geht –«

»Ich bin von meinem Manne unschuldig verfolgt und verjagt«, sagte die Prinzessin.

»Unschuldig,« rief der Teufel und lachte höhnisch. »Man kennt das. Bei mir, mein Engel, kommen Sie mit dergleichen nicht durch. Wie gesagt, ich will Sie in die Hölle bringen.«

[262] »Aber ich will nicht hinein!« schrie die Prinzessin wütend.

»Man fragt die Leute nicht,« sagte der Arge. »Ich führe Sie ab. Vorher aber möchte ich eine Tasse Tee trinken. Hier unterm großen Eichbaum vor der Höhle muß sich's ganz hübsch sitzen lassen. Haben sie Teegeschirr bei sich?«

»In einer Höhle hat man kein Teegeschirr,« entgegnete die Prinzessin, die da hoffte, der böse Gast würde sich jetzt davon machen; allein er blieb, ließ durch seine Geister einen Teetisch unter der Eiche hinzaubern, setzte sich hin, braute sich Tee, goß der Prinzessin auch eine Tasse ein und fragte: »Befehlen Sie mit Arak oder mit Sahne?«

»Ich werde mir etwas Sahne ausbitten«, entgegnete die Prinzessin.

»Gut, hier ist welche. Ha, sie tanzen gewiß und singen auch sehr schön? Nicht wahr? Meine Geister haben da eine Laute mitgebracht. Wohlan, meine Schöne, singen Sie mir etwas vor, und tanzen Sie zugleich. Ich bin ein Freund der schönen Künste.«

Die Prinzessin ergriff die Laute und sang eine Romanze, die hundertundsiebzig Verse hatte. Der Teufel goß ungeheuer viel Arak in den Tee, demnach konnte er bei dem Gesange nicht munter bleiben. Er gähnte[263] fürchterlich und entschlief, ehe die Prinzessin noch den Tanz begonnen hatte.

Die Prinzessin steckte alles Silberzeug vom Teetisch ein, und entlief so rasch als sie konnte. »Gott sei Dank!« rief sie, »ich bin der Hölle und dem Teufel entgangen. Wieder eine große Gefahr überstanden.«

In der nächsten Stadt verkaufte sie das Silberzeug – den Teufel zu bestehlen kann unmöglich eine Sünde sein –, kaufte dafür neue Kleider und setzte ihre Reise fort. Sie wollte eigentlich in das ehemalige Königreich ihrer Eltern zurück, allein sie wußte den Weg nicht.

Als sie eines Abends ratlos vor einem Wegweiser stand, dessen beide Arme abgebrochen waren und der deshalb nur seinen guten Willen kundgab den Weg zu zeigen, aber ihn in Wahrheit nicht zeigte, sah sie eine alte Frau, die über und über in Tücher und lange schleppende Gewänder gehüllt war, auf sich zu humpeln.

»Gute Alte, gehen wir vielleicht einerlei Weg?« fragte sie.

»Es ist unmöglich,« war die Antwort, die dumpf unter den Tüchern hervorscholl, »jeder Weg, den ich einschlage, ist für mich der rechte.«

»Ei, habt Ihr so viel Gänge zu tun?«

»Entsetzlich viele.«

»Man erwartet Euch wohl überall?«

[264] »Man erwartet mich nirgends.«

»So überrascht Ihr neue Freunde?«

»Ich habe keine Freunde. Wer mich kommen sieht, wünscht sich zehntausend Meilen weit von mir.«

»Wer seid Ihr denn?«

»Ja, ratet mal.«

»Wie soll ich's raten?« sagte die Prinzessin unwillig. »Ich kann ja nicht einmal Eure Nasenspitze sehen.«

»Nasenspitze?« wiederholte die Alte; »die hab' ich nie gehabt. Das ist das Charakteristische in meinem Gesichte.«

»So laßt mich in Eure Augen blicken.«

»Zufällig hab ich keine.«

»So laßt mich Euren Mund sehn.«

»Er ist etwas groß, ich schäme mich seiner.«

»Ei, seid Ihr so eitel, gute Alte?«

»Nennt mich nicht ›Alte‹. Wißt Ihr denn, ob ich ein Weib bin?«

»So seid Ihr ein Mann.«

»Ja, und noch dazu der Eurige!« rief der Tod, und warf alle Hüllen weg und stand als Knochengerippe vor der erschreckten Wanderin. »Kommt, kommt! Ihr habt mich nicht umsonst nach dem Weg gefragt, ich will Euch nach Hause leiten.«

»Ich danke,« rief die Prinzessin. »Ich besinne mich[265] eben, daß die Gegend mir doch nicht so ganz unbekannt ist; ich werde mich allein nach Hause finden.«

»Nichts da, Ihr kommt mit mir, mein Schatz. Dem Tode entrinnt man nicht. Nur bis zum nächsten Meilenzeiger will ich Euch leben lassen. Erzählt mir unterdessen etwas – wir plaudern zusammen, während wir weitergehn.«

Die Prinzessin hub an zu erzählen. Der Tod setzte sich auf eine Bank am Wege und gähnte. »Etwas rascher,« rief er, »ich liebe nicht die langen Erzählungen. Wollen wir gleich zur Entwicklung kommen?«

»Wir sind schon ganz nahe dabei«, entgegnete die Prinzessin, die sich neben den Tod auf die Bank gesetzt hatte.

Der Tod zog seine Uhr hervor und rief erschreckt: »Paff! schon ein viertel auf zwölf. Um zwölf Uhr muß ich in der Stadt sein. Bis dahin hält der Hokuspokus des Arztes noch das Leben des Königs auf.«

»Welches Königs?« fragte die Prinzessin. Aus der Antwort des Todes erfuhr sie, daß es ihr grausamer Gemahl sei, der auf dem Sterbebette lag. »Ach!« rief sie, »wenn er tot sein wird, ziehe ich in die Stadt ein und bin Königin. Vorher muß ich mich aber von dem Tod freimachen.« Und sie erzählte weiter.

Der Tod gähnte, als wollte er eine ganze Welt verschlingen. [266] Die Prinzessin erzählte immer weiter; endlich fiel der Tod von der Bank und lag im Grase und schlief wie ein Murmeltier. Diesen Zeitpunkt benutzte die Prinzessin, um zu entschlüpfen. So war sie auch aus der dritten, ihr prophezeiten großen Gefahr befreit.

Jetzt ging sie in ihr Königreich und regierte dort viele, viele Jahre. Es war ununterbrochener Friede unter ihrem Zepter. Kein Krieg, kein Aufstand, nicht einmal ein Auflauf auf den Straßen kam zustande. Wozu das? fragten sich die Untertanen, es macht uns doch nur Langeweile. Sehr viele starben aus Langeweile, aber es war ein seliger Tod, und man beneidete sie. Endlich starb die Königin auch. Da der Teufel sie nicht in der Hölle aufnehmen wollte, denn er wußte es aus Erfahrung, wie böse mit ihr zu verkehren war, brachte man sie auf den Mond. Von dem Augenblick an kam der Mond nie aus dem ersten Viertel heraus. Die Astronomen, die am Himmel herumstöbern und jede Heimlichkeit daselbst herausbringen, bemerkten, daß der Mond sich eine Schlafmütze über die Ohren gezogen hatte und daß er fest schlief. Man mußte die Königin wieder fortnehmen und brachte sie auf die Sonne. Alsbald merkten wieder die Astronomen, daß an der Sonnenscheibe ein ungeheurer schwarzer Fleck sich kundgab. Als sie näher hinschauten, war es ein fürchterliches [267] Maul, das die Sonne gähnend aufsperrte, und das sie gar nicht wieder schloß, so daß es bereits begann auf der Erde so dunkel zu werden, daß die Schneider in der Mittagsstunde nicht mehr das Öhr ihrer Nadeln finden konnten, um den Faden einzufädeln. Es war demnach hohe Zeit, daß man die unglückliche Königin wieder schleunig von der Sonne wegnahm. Man brachte sie auf einen Stern, aber flugs wichen die andern Sterne, siebenzig Millionen Meilen in der Runde, aus ihren Bahnen, und wenn man nicht wollte, daß das ganze Weltsystem auseinander fiele, so mußte man auch hier die Königin schnell fortbringen. So brachte man sie denn in den Himmel, wo sie eigentlich nicht hinkommen sollte, weil sie dessen noch nicht würdig war. Die Heiligen, die alles über winden und ertragen, überwinden und ertragen auch die Langeweile.

»So ist's denn wahr geworden,« rief die Königin, »das Mißgeschick das mir zugedacht war, hat sich in Glück verwandelt. Dank sei der gütigen Fee, die an meiner Wiege erschien.«


Wer die Kunst zu ennuyieren
So recht aus dem Grund versteht,
Den kann kein Unglück mehr berühren,
Er herrscht in ew'ger Majestät. –
[268]
Er tötet seine Feinde
Mit unsichtbarem Pfeile.
Nicht Tod, nicht Sünde, nicht Teufel
Hält Stand der Langenweile.
Sie weichen alle.
Das Weltall selbst,
Die Sterne, die kreisenden Sonnen,
Die ewigen Bronnen,
Sie alle zerstieben,
Und sinken in Nichts,
Vor dem Strahl des Angesichts,
Vor dem unsichtbaren Pfeile,
Der mächtigen Fee,
Der Fee Langeweile.

[269] [271]Der schlaue Alte und die vier entlaufenen Mädchen.

Es geschah einmal, daß vier junge Mädchen ihren Eltern entliefen, und sich in der Irre im Lande herumtrieben, ohne daß man ihrer wieder habhaft werden konnte, denn sie hielten redlich zusammen und zufällig sahen sie sich auch untereinander sehr ähnlich. Unter diesen vieren war eine eine Bäuerin, die andere ein simples Fräulein, die dritte eine Gräfin und die vierte eine Prinzessin. Aber wie gesagt, sie hielten treu beisammen und hatten sich das Wort gegeben, keine wolle die andere verraten und jede sollte in Gefahr und Not der Gefährtin beistehn.

Da war nun guter Rat teuer.

Wie sollten nun die Angehörigen wieder in Besitz dieser Mädchen kommen?

Es wohnte ein alter weiser Mann in der Nähe, und an den wandten sich der König, der Graf, der Vater des Fräuleins und endlich auch der Bauer.

[271] »Meine Herren,« entgegnete dieser weise Mann, »ich bin kein Zauberer, noch habe ich mit Hexen oder Feen irgendwie Gemeinschaft, allein was natürlicher Mutterwitz leisten kann, das hoffe ich auch zustande zu bringen. Wir wollen mal sehen.«

Damit entließ der weise Mann den Gesandten des Königs und des Grafen; der Vater des Fräuleins und der Bauer waren in Person erschienen.

Mittlerweile streiften nun die vier Mädchen im Lande herum, fest überzeugt, daß niemand sie erkennen werde, denn sie hatten die List gebraucht, alle vier sich ganz gleich zu kleiden, und ganz dieselbe Sprache und Manier anzunehmen, wenn sie irgendwo in menschliche Gesellschaft kamen.

So kamen sie denn auch zum weisen Manne und verdangen sich bei ihm als Mägde.

»Wie heißt ihr«, fragte der weise Mann, der schon merkte wen er vor sich hatte.

»Ich heiß Ursel«, sagte die Prinzessin.

»Und ich Grete«, rief die Gräfin.

»Und ich Annemarie«, sagte das Fräulein, und die Bäuerin setzte hinzu: »Und ich Superba.«

»Ach!« dachte der Bauer bei sich: »Superba ist kein Bauername; es ist möglich, daß diese die Prinzessin ist. Nun wir wollen mal sehen!«

[272] »Liebe Kinder,« sagte er, »ich will euch fürs erste ein Abendessen vorsetzen, denn ihr werdet hungrig sein. Welche von euch ist gewohnt mit silbernen Löffeln zu essen? Sagt es frei heraus, denn ich besitze in meinem ganzen Vermögen nur zwei silberne Löffel, die andern sind von Zinn.«

Die Prinzessin und die Gräfin hätten für ihr Leben gern gesagt: wir wollen die silbernen Löffel, allein sie hielten an sich, sahen das Fräulein und die Bäuerin an, und da diese mit dem Kopfe nickten und ein Zeichen gaben, riefen sie: »Ei seht doch! wir sind alle vier Bäuerinnen, wie kommt Ihr nur auf diese Frage? Keine von uns ist an silberne Löffel gewöhnt, und wir bitten Euch, gebt uns zinnene, wie es Euren Mägden geziemt.«

»Wie ihr wollt,« sagte der weise Mann, der da merkte, daß auf diese Weise das Rätsel sich nicht wolle lösen lassen. »Nun, wir wollen mal sehen,« sagte er, und legte den Finger an die Nasenspitze, indem er die vier Damen sich genau betrachtete. Allein es half ihm nichts, denn sie sahen alle vier ganz gleich aus. Dieselben roten Mieder, dieselben blauen Röcke, dieselben grauen Strümpfe, dieselben Haarzöpfe!

Der weise Mann fühlte sich nicht um ein Haarbreit weiser wie jeder Dummkopf, und er legte nochmals[273] den Finger an die Nasenspitze. Da fiel ihm nochmals etwas ein. Er setzte vor jedes der Mädchen ein Glas Warmbier und dachte dabei: die Prinzessin wird nur nippen, denn ohne Zweifel ist Warmbier nicht das Getränk, an das sie gewöhnt ist, die Gräfin gleichfalls, auch das Fräulein, die Bäuerin wird in vollen Zügen trinken.

Allein er irrte sich auch hier. Wie vorhin das Fräulein und die Bäuerin der Prinzessin und der Gräfin Zeichen gegeben hatten, so jetzt umgekehrt gaben diese jenen ein geheimes Merkmal, und die Prinzessin und die Gräfin tranken ihr Warmbier in ebenso vollen Zügen, wie es die Bäuerin und das Fräulein taten.

Abermals wußte der weise Mann nicht, was er hatte wissen wollen. »Wir wollen mal sehen!« sagte er nochmals, »es ist nicht aller Tage Abend. Wer sich am Tage verstellt, nachts verstellt er sich nicht, und wenn man verhindert wird, sich Zeichen zu geben, so handelt man ohne Zeichen unverstellt. Wir wollen die Nacht abwarten.«

Die Nacht kam und jedes der Mädchen erhielt seine eigene Schlafkammer.

Vorher hatte der schlaue Alte heimlich unter dem Pfühle einer jeden einen kleinen Kieselstein verborgen, ungefähr in der Größe eines Kibitzeies. Nun wartete [274] er ab, und wie sie am Morgen wieder zum Vorschein kamen, fragte er, wie sie geschlafen hätten. »Gut,« entgegneten alle viere. Aber der Alte merkte alsbald, daß drei der Mädchen trübe Augen hatten, wie jemand, der die ganze Nacht hindurch gewacht, und nur die vierte hatte klare Augen. Als daher die Nacht wiederum kam, stellte er sich lauschend bald hinter diese, bald hinter jene Tür, guckte durch ein Astloch und gewahrte nun, wie drei der Mädchen auf ihren Betten aufrecht wie ein Licht saßen und kein Auge zutaten, die vierte aber schlummerte auf ihrem Lager ganz vortrefflich. Nun hörte er auch, wie die eine der wachenden zu der andern sagte: »Ich weiß nicht, ich kann auf meinem Bette nicht schlafen, es liegt irgendwo ein Stück Felsen, das reibt und stößt mir die Hüfte durch, wenn ich darauf liege.« »Geradeso geht es mir,« rief die andere. »Und mir nicht um ein Haar besser,« bemerkte die dritte. »Der Alte hat ganz erbärmliche Betten.«

»Aha!« rief der schlaue Alte, »nun hab' ich's. Die vierte, die da ruhig schläft und nichts merkt, ist die Bäuerin; die ist an ein hartes Lager gewöhnt; die merkt nichts von dem Felsenstück.«

Am Morgen fragte er wieder die vier Mädchen, wie sie geschlafen, und sie antworteten wieder »gut«. Aber die drei, die kein Auge zugetan, hatten diesmal[275] noch trübere Blicke, die vierte sah aber lustig aus, wie gewöhnlich.

Der schlaue Alte ließ sich nichts von seiner Entdeckung merken. In der nächsten Nacht legte er in die Betten der drei ersten einen Pflaumenkern. Denn, sagte er bei sich, nun muß ich herausbringen, wer das Fräulein ist.

Nun saßen nur zwei wie ein Licht aufrecht im Bette, die dritte schlief ganz gut.

Am Morgen sagten wieder alle vier, sie hätten gut geschlafen, aber von den drei Paar trüben Augen waren nur ein Paar helle geworden.

»Ich weiß, was ich weiß!« sagte der schlaue Alte und legte den Finger an die Nasenspitze. »Jetzt wird es schwer sein ans Ziel zu kommen, denn die Gräfin und die Prinzessin haben so ziemlich einerlei Art. Allein wir wollen sehen.«

Jetzt legte er eine Erbse in beide Betten; allein weder die eine noch die andere konnte schlafen. »Was ist dir?« fragte die eine die andere. »Ich weiß nicht,« entgegnete diese, »es liegt in meinem Bette ein Stein wie ein Kinderkopf groß, ich kann nicht schlafen.«

»Geradeso geht's auch mir,« entgegnete die andere. »Wenn der Alte nicht bessere Betten anschafft, so geb' ich den Dienst bei ihm auf.«

[276] »Ei, ei, ihr Vögel!« lachte der Alte, »ist euch eine Erbse und ein Kinderkopf von derselben Größe? Das ist spaßhaft. Allein wir wollen sehen.«

Und er legte eine Linse zwischen das Bettuch und den Pfühl.

Da hörte er die Klage: »Wieder nichts mit dem Schlaf! Es liegt etwas wie ein Hühnerei groß in meinem Bette.«

»Geradeso etwas liegt auch in meinem Bette!« rief's an der andern Tür.

»Hol' euch beide der Kuckuck!« murrte der Alte. »Ihr verwünschten, verzogenen Katzen! Wie soll ich mit euch fertig werden? Da reicht ja die Schlauheit des Schlauesten nicht mehr hin. Aber ich muß die Prinzessin herausfinden. Wollen wir einmal sehen!«

Und er legte ein zusammengerolltes Rosenblatt in jedes Bette.

Jetzt hatte er's getroffen.

Die eine schlief vortrefflich, die andere konnte auch diesmal kein Auge zutun, und diese andere war die Prinzessin, die so zart gewöhnt war, daß selbst ein zusammengerolltes Rosenblatt auf ihrem Lager sie belästigte. Der Alte ließ jetzt verkünden, er hätte die vier entlaufenen Mädchen richtig gefunden, und man sollte kommen sie abzuholen. Da kamen die Gesandten [277] des Königs und des Grafen, und mit ihnen stellte sich der Vater des Fräuleins und der Bauer ein.

»Aber hast du auch wirklich die Rechten?« fragten alle vier. »Es sind uns so viel Unrechte zugeführt worden.«

»Es sind die Rechten,« entgegnete der schlaue Alte, »wenn sie's nicht sind, so schlagt mir den Kopf ab.«

»So sei es!« sagte der Gesandte des Königs. »Wir lassen uns nicht weiter betrügen. Die Mädchen sind gar zu schlau.«

»Ja, das sind sie. Aber sagt mir, ihr Herren, was bekomme ich für meine Mühe?«

Nun dachten die Gesandten und die zwei Väter hin und her, was sie dem Manne geben sollten. Der Bauer kratzte sich hinterm Ohr und murmelte vor sich hin: »Ich armer Mann, was soll ich geben? ich hab' ja nichts. Ich hab' nur einen einzigen Dukaten, und der ist noch beschnitten.«

»Ich will euch einen Vorschlag machen,« hub der schlaue Mann an, »gebt mir in Gewicht so viel an Gold, als die vier Gegenstände betragen, die ich in den vier Betten der Mädchen gefunden.«

»Potztausend!« riefen die beiden Gesandten heimlich zueinander; »er hat am Ende einen Liebhaber in diesem wie in jenem Bette gefunden, und wir müssen in Gold [278] bezahlen was so ein handfester Bauernbengel wiegt, denn hier auf dem Dorfe werden doch keine andern Liebschaften zu finden sein. Nein, das geht nicht! Das geht nicht! Wenn wir auch reich sind, so reich sind wir doch nicht.«

Der Vater des Fräuleins sagte: »Was kann er im Bette meiner Tochter gefunden haben? Vielleicht ihr Schoßhündchen? Das wäre eine saubere Geschichte, wenn ich in Gold zahlen sollte, was der Köter wiegt! Nein! nein! Ich liebe zwar meine Tochter sehr, allein so viel kann ich nicht geben, um sie wieder zu bekommen. Ich würde für meine ganze Lebenszeit ein bettelarmer Mann.«

Der Bauer dachte bei sich: »Was kann meine Strusel bei sich im Bette liegen gehabt haben? Sie ist ein ordentliches Mädchen, und dann hat sie auch nichts. Aber gleichviel, was es auch sei, ich geb's in Golde, und wenn ich auch meinen einzigen Dukaten und dazu mein Häuschen und Höfchen und mich selbst dazu hingeben sollte.«

»Nun, meine Herren?« fragte der schlaue Alte, wie lautet eure Antwort.

»Wir werden uns noch bedenken,« erwiderten die zwei Gesandten und der Vater des Fräuleins. Der Bauer aber rief: »Nur her damit! was es auch sei, ich zahle!«

[279] Der schlaue Alte ärgerte sich über die drei ersten Antworten, und freute sich nicht wenig über die letztere. Er erwiderte demnach: »Nein, meine Herren, was ich in Vorschlag brachte, war nur zum Scherz gesagt und um zu prüfen, wieviel Wert ihr auf eure Angehörigen legtet. Was mich betrifft, so hab' ich grade soviel, als ich brauche, und kann eher etwas verschenken, als daß ich nötig hätte, Geschenke anzunehmen. So will ich denn aus meiner Kasse jedem von euch das in Gold geben, was der Gegenstand wiegt, den ich in den Betten der Mädchen gefunden.«

»Ach, das läßt sich hören,« sagte der Gesandte des Königs mit einem tiefen Bückling, und dachte nun nicht anders, als würde er samt der Prinzessin auch das Gewicht ihres vermeintlichen Liebhabers in Gold heimbringen, und dafür gut bezahlt werden. Ebenso dachten der Gesandte des Grafen und der Vater des Fräuleins, der schon berechnete, daß der Schoßhund lange nicht geschoren sei und daher viel Wolle angesetzt haben müsse. Der Bauer dachte: »Nun, es wird das kupferne Ringlein sein, das mein Kind noch von der Mutter geerbt. Ei, den Ring in Gold zu bekommen, ist auch nicht übel.«

Aber alle vier täuschten sich in ihren Erwartungen, als nun der schlaue Alte die Gegenstände hervorholte, [280] und dem Gesandten des Königs ein dünnes Goldblättchen, gleich dem zusammengerollten Rosenblatte, dem Gesandten des Grafen ein Goldkörnchen, einer Linse groß, dem Vater des Fräuleins eine goldene Erbse, dem Bauer aber einen tüchtigen Goldklumpen, wie ein Kibitzei groß, übergab.

So hatte der schlaue Alte sein Wort gelöst, und gab dem ehrlichen Bauer nebst der Tochter auch Reichtum ins Haus, den er verdiente; die drei andern hatten zwar die entlaufenen Mädchen, aber dafür Neid, Bosheit und Verdruß in ihrem getäuschten Herzen.

[281] [283]Kinkerlinchen und Kackerlitzchen.

Ein König und eine Königin hatten eine Tochter, die war wunderschön, nur eins war, was sie arg verunzierte, nämlich eine Warze, die sie gerade auf der Oberlippe hatte; und zwar war dies keine gewöhnliche Warze, sondern vielmehr ein kleines Horn, das in alle Farben spielte und ein höchst widriges Ansehen hatte. Ein berühmter Magier, der den Hof des Königs besuchte, gab ein Mittel an, das häßliche Gewächs zu beseitigen, und das Mittel war der Kuß eines jungen Mannes, der noch nie geküßt. Es war aber in der Gegend des Hofes sehr schwer, einen solchen jungen Mann zu finden, und auf dem Lande entdeckte man ihn auch nicht. Die arme Prinzessin stieg alle Tage auf den Balkon ihres väterlichen Schlosses und rief:

»Welcher Mann kommt, und küßt mir meine – und weil sie sich schämte, so laut von ihrem Übel zu sprechen, setzte sie ganz leise hinzu – Warze«.

[283] Es kam lange Zeit niemand, weil man nicht wußte, was die Prinzessin eigentlich geküßt haben wollte.

Nun traf es sich, daß in der Nähe des Königreiches ein fremder Prinz lebte, der herangereift gekommen war, weil man ihm gesagt, er würde hierselbst von einem häßlichen Übel, das ihm anhaftete, geheilt werden. Dies Übel war ein Höcker von ganz besonders häßlicher Form und starker Ausdehnung. Derselbe Magier, der der Prinzessin seinen Rat erteilt, hatte auch dem Prinzen ein Heilmittel vorgeschlagen, er solle sich nämlich den Höcker von einem Mädchen küssen lassen, das noch nie von einem Manne geküßt worden. Der Prinz erschien deshalb alle Morgen bei Sonnenaufgang auf der Warte des Turmes, den er bewohnte, und rief mit lauter Stimme ins Land hinein:

»Welches Mädchen kommt und küßt mir meinen –« und weil er sich ebenfalls schämte seine Mißgestalt so laut zu bekennen, setzte er ganz leise hinzu: »Höcker«.

Die Frauen und Mädchen hörten wohl diese Aufforderung, da sie aber den Prinzen für einen argen Schalk hielten und nicht wußten, was er geküßt haben wollte, etwa die Nasenspitze oder das linke Ohrläppchen, so wandten sie sich unwillig weg, und gingen von dannen.

Der Prinz und die Prinzessin behielten, jener seinen Höcker, diese ihre Warze.

[284] Endlich fand sich ein Mädchen, das hatte noch keinen Mann geküßt, obgleich es schon siebzehn Jahre zählte, das Mädchen war eine Bäuerin und hieß Kinkerlinchen. Und endlich fand sich auch ein junger Schneidergeselle, ein blasses, feines Männchen, von noch nicht achtzehn Jahren, das hatte bis jetzt immer emsig in seinem Dachkämmerlein geschneidert und war keinem Manne, noch weniger einem Weibe jemals nahe gekommen. Dieser junge Mann hieß Kackerlitzchen, und befand sich gerade auf der Wanderschaft, als in dem genannten Königreich die Bekanntmachung wegen der Prinzessin verlesen wurde. »Ei,« sagte der Schneider, »wenn es weiter nichts ist; ein Weib hab' ich noch nicht geküßt, und des Königs Eidam zu werden, das gelüstet mich allerdings.« Der König hatte nämlich in der Bekanntmachung dem, der seine Tochter heilen würde, die Hand derselben und die Thronfolge im Reiche versprochen. Er fragte den Wirt des Gasthofes, in welchem er abgestiegen war: »Sagt mir, lieber Mann, was will denn die Prinzessin geküßt haben?«

»Ja, daß weiß niemand«, war die Antwort.

»Ist sie schön?«

»Ja, das weiß auch niemand. Man sieht sie nur ganz in der Entfernung auf dem Balkon erscheinen, ihren Spruch hersagen und wieder verschwinden.«

[285] »Gleichwohl,« rief Kackerlitzchen, »und wenn sie ein Rhinozeros wäre und ich das Horn des Untiers küssen sollte, ich tue es doch, denn was tut man nicht um ein Königreich zu erwerben.«

Um dieselbe Zeit, als der junge Mann dieses Selbstgespräch führte, kam des Tores hineingewandert Kinkerlinchen, die von dem Prinzen gehört hatte, der ebenfalls geküßt sein wollte; und der dafür eben falls seine Hand und sein Königreich zugesagt hatte. Dieses beides wollte die junge Bäuerin erwerben. Kackerlitzchen und Kinkerlinchen machten miteinander Bekanntschaft, und teilten sich gegenseitig ihre Pläne mit. Aus Freude hierüber rief Kackerlitzchen: »Gib mir geschwind einen Kuß, hübsches Mädchen.«

»Ei, wo werde ich,« entgegnete sie. »Bedenke doch, daß ich noch nie geküßt habe, und daß ich, wenn ich nun küsse, die Gabe verliere, den Prinzen zu heilen.«

»Es ist wahr,« sagte Kackerlitzchen; »daran dachte ich in diesem Augenblicke nicht.«

»Siehst du wohl,« rief Kinkerlinchen; »wir Weiber sind immer gescheiter wie ihr. Aber ich will dir einen Vorschlag machen, wenn ich den Prinzen geheilt und das Königreich in Empfang genommen haben werde, so sage ich: ›Ew. Durchlaucht, ich mag Sie nicht,‹ und nehme mein Königreich und heirate dich.«

[286] »Vortrefflich! und ich werde es ebenso mit der Prinzessin machen«, rief der verliebte Schneidergeselle.

»So haben wir beide zusammen ein ganz großes Königreich, und dazu hast du mich und ich dich!«

»Ganz gut! ganz gut!« rief er, »so soll es sein.«

Aber es wurde nicht so. Die Treulosigkeit der Männer schafft so manches Herzeleid. Als Kackerlitzchen die Prinzessin geküßt hatte, fand er sie so wunder schön, daß er mit Freuden ihre Hand annahm und das Königreich und dabei das arme Kinkerlinchen ganz vergaß. Als diese den Prinzen glücklich von seinem Höcker befreit hatte, sagte sie: »Herr Prinz, ich hab' schon einen Schatz; es tut mir leid, ich kann die Ihrige nicht werden.« Und somit ließ sie den Prinzen und das Königreich im Stich und zog Kackerlitzchen nach, und war bis in den Tod betrübt, als sie vernahm, daß dieser sein Wort gebrochen und treulos an ihr gehandelt. Eines Tages stand sie mitten im Regen im Schloßhof, gerade als die junge Königin und ihr Gemahl ans Fenster herantraten. »Wer ist die Bauerndirne dort unten?« fragte die Königin. »Wie kann ich das wissen,« entgegnete Kackerlitzchen, »soll ich etwa jede gemeine hergelaufene Dirne kennen?«

Da erhob Kinkerlinchen ihre Stimme und rief unter Tränen: »O du Erzböser, bin ich eine hergelaufene[287] Dirne? Ich hätte eine Königin sein können, so gut wie du ein König, allein ich habe nicht gewollt, sondern aus Liebe zu dir und um mein Versprechen nicht zu brechen, bin ich ledig geblieben. Dies ist mein Dank!«

Nach drei Tagen ließ Kackerlitzchen das arme Mädchen zu sich kommen, und sprach zu ihr im geheim: »Wisse, Kinkerlinchen, daß ich mit meiner Gemahlin, der Königin, sehr unglücklich bin, und daß ich gar gern wünsche, sie wieder los zu sein. Hilf mir, daß ich von ihr befreit werde und ich will dich heiraten.«

»Wie soll ich das machen?« sagte Kinkerlinchen.

»Ich will es dir sagen. Drüben im Gebirge wohnt ein Riese, der nährt sich von nichts wie von Menschenfleisch, und besonders verspeist er gern junge Frauen, auch Mädchen, wenn er sie haben kann. Meine Gemahlin, die Königin, wäre so ein Bissen nach seinem Geschmack. Aber sie wird sich wohl hüten, mir ins Gebirge zu folgen. Du mußt nun zum Riesen hingehen und ihn schönstens bitten, mir einen Besuch inkognito abzustatten. Das heißt, es muß niemand, wie ich, wissen, daß er kommt, auch muß er eine recht dunkle Nacht zu seinem Besuche wählen; ich werde dann die Königin auf den Balkon führen und von da kann er sie sich herablangen. Ich spreche dann zum Volke, Räuber hätten sie entführt.«

[288] Diesen Rat gab der böse Kackerlitzchen nur, um daß er Kinkerlinchen los werde; denn, dachte er, wenn der Riese die sieht, so fragt er nach keiner andern Speise und nimmt zuerst sie. Das gute Kind hatte aber kein Arg und ging gleich am nächsten Tage ins Gebirge hinaus. Sie ging und ging, bald in diesen Hohlweg, bald in jene Kluft, bald in diese Höhle, bald in jene Vertiefung, und immer fand sie den nicht, den sie suchte. Endlich an einem Abende, als sie schon wieder heimkehren wollte, hörte sie etwas rascheln und sah aus einem Felsenspalt einen greulichen Kopf hervorgucken. Das Ungetüm bemerkte sie nicht und sang vor sich hin:


»O wie nett,
Mein Prinzeßchen wird recht rund und fett!
Wo will es sich schicken,
Daß ich zuerst anbeiß,
An dem Busen oder am Steiß?
Beides zeigt sich meinen Blicken
Gleich appetitlich,
Gleich niedlich. –
Und welche Sauce wähl' ich
Die nicht zu scharf ist, und nicht zu ölig.«

»Ha!« rief Kinkerlinchen, »das ist der Oger, den ich suche, und wie ich merke, hat der Nichtswürdige gerade ein Opfer bereit, daß er verschlingen will. Ich muß [289] dies arme Geschöpf, das noch obenein eine Prinzessin und von wunderbarer Schönheit ist, befreien.« Hier gilt es, Mut haben. Sie trat also in die Höhle und sagte: »Herr Oger, ich würde Ihnen vorschlagen, eine Lattichsauce zu nehmen, mit zerriebenen Eiern und etwa ein Quart Provenceröl; das wird nicht zu scharf sein, und nicht ölig, sondern grade recht.«

Der Oger sagte: »Kannst du's machen?«

Sie erwiderte: »Weshalb nicht? Ich bin eine gelernte Köchin.«

»Gut,« rief der Oger. »So bereite mir die Sauce; ich will unterdessen etwas schlummern. Aber wenn du mir davonläufst und vielleicht gar den Küchenschrankschlüssel mitnimmst, so gib acht, welch ein Unglück dir geschieht. Ich habe lange Beine und hole dich rasch wieder ein.«

»Ei, es fällt mir nicht ein, wegzulaufen; Ihr seid ein hübscher Mann, ich bleibe gerne bei Euch«, entgegnete Kinkerlinchen ganz dreist. Dies gefiel dem Oger, und er legte sich schlafen. Kinkerlinchen bereitete die Sauce, und als sie fertig war, goß sie dieselbe dem schlafenden Riesen ins Ohr, in die Augen und in die Nasenlöcher, so daß die scharfe Lauge ihn blind und taub machte, und er wie unsinnig in der Höhle herumfuhr, ohne zu zu sehen und zu hören, was um ihn vorging. »Wo [290] ist die Köchin?« rief er, »wo ist die vermaledeite kleine Köchin, die mir diesen Streich gespielt hat, ich will sie –«.

Kinkerlinchen hörte nicht, was er sprach, sie war in die Kammer nebenbei geschlüpft und befreite hier die Prinzessin aus einem Käfig, in welchem diese arme Unglückliche, die stündlich ihren Tod erwartete, steckte. Beide liefen nun in den Wald hinein.

»Ich weiß eine vortreffliche Partie für Euch, gnädigste Prinzeß,« hub Kinkerlinchen an, als sie die junge Dame so niedergeschlagen sah, »hier in der Nähe wohnt ein Königssohn, der ausnehmend schön und tugendhaft ist. Ich sollte ihn heiraten, allein es wurde nichts daraus, vielleicht nehmt Ihr ihn, wenn Ihr ihn gesehen haben werdet, und ich ihm Euer trauriges Schicksal erzählt habe.«

»Aber wird er mich auch wollen?« fragte die Prinzeß.

»Ich zweifle durchaus nicht daran, daß er Euch will,« entgegnete das Bauermädchen. »Man muß nur in der Welt nicht den Mut verlieren.«

Und sie gingen an den Königshof, und der Prinz, als er die schöne Prinzessin kommen sah, wurde so vergnügt als er noch nie gewesen und rief: »Wenn es eine gibt, die mich über den Verlust meines teuren Kinkerlinchens trösten kann, so ist's diese.« Die Prinzessin [291] weinte, als sie diese Worte hörte und sagte: »So soll ich denn doch noch glücklich werden! Wie werden sich meine Eltern freuen, die weit über Meer und Land hinaus wohnen, und mich schon längst als tot beweinten.«

Kinkerlinchen war bei der Hochzeit zugegen und blieb noch, auf inständige Bitten des jungen Paars, drei Wochen am Hofe. Dann sagte sie: »Ich muß fort, denn mich treibt die Liebe. Ich muß mein Kackerlitzchen wiedersehn. Obgleich es so schändlich an mir gehandelt, ich lieb' es dennoch.«

Kackerlitzchen war höchlich erstaunt, als er Kinkerlinchen gesund und frisch herankommen sah; er dachte geschwind eine neue Bosheit aus. Als er ihren Bericht angehört hatte, sprach er anscheinend sehr zufrieden: »Es ist gut, daß es so gekommen ist. Der Riese ist nun tot und die Gegend von ihm befreit. Ich will sehen, wie ich auf eine andere Weise meine Frau, die von Tage zu Tage mir mehr zuwider wird, los werde. Du mußt mir aber dabei helfen.«

»Gerne, was soll ich tun?«

»Siehst du jenen blauen Wald, ganz in der Ferne? Dort wohnt die Nichte des Ogers, eine höchst boshafte Fee, die Frau Kiribi heißt, und die Gewohnheit hat, ihre Kammermädchen am Spieße und bei langsamem[292] Feuer zu braten. Sie hat schon auf diese Weise siebentausendundsechzig Kammermädchen umgebracht. Es will niemand mehr zu ihr in den Dienst. Sag' ihr, ich wüßte ein allerliebstes und sehr geschicktes Kammermädchen für sie, sie sollte nur kommen und es sich holen. Wenn sie dann kommt, liefere ich ihr meine Frau aus, und dann, wenn meine Frau am Spieße steckt, mach' ich Hochzeit mit dir. Bist du das zufrieden?«

»Ich bin's,« erwiderte Kinkerlinchen ganz erfreut, ihren trauten Schatz so sprechen zu hören. Sie suchte nun sogleich den fernen Wald auf und langte darin an, als eben die Abendröte hübsch golden und rot die Baumstämme bemalte. Eine schöne Dame, in einem Kleid von Purpurtaffent mit goldnen Schnüren und Troddeln besetzt, saß auf einer Rasenbank und hielt eine Laute von Elfenbein und Gold im Arme, auf der sie holdselige Melodien spielte, so entzückend schön, daß alle Vögel im Wald herbeigeflattert kamen und zuhorchten. Die Dame spielte und sang immerfort und kümmerte sich um nichts. Sie sang:


»Ich bin Frau Kiribi,
Ich hab' ein schön Gefieder,
Sind's gleich gestohlne Glieder,
Verraten werd' ich nie.
[293]
Denn eh mein Kammermädchen
Ausplaudert meine Kunst,
Hab ich sie schon am Fädchen,
Sie büßt in Feuers Brunst.«

Kinkerlinchen trat hervor und sagte: »Ach, gnädige Frau, ich wüßte Euch ein sehr vortreffliches Kammermädchen zu empfehlen, die Eure Gnaden gewiß gut bedienen würde; wollt Ihr mir folgen, dort in der Stadt wohnt sie.«

»Wozu brauche ich in die Stadt zu gehen, ich nehme dich! Du bist mir ganz recht,« rief Frau Kiribi. »Übrigens hast du mich singen gehört, und wer mich einmal singen gehört hat, der muß bei mir bleiben.«

»O gnädige Frau, ich habe wahrlich nicht verstanden was Sie sangen.«

»Gleichviel; du bleibst.« Dies sagte Frau Kiribi mit einem solchen Tone und mit einem so scharfen, befehlenden Blicke, daß das arme Kinkerlinchen nicht zu widersprechen wagte. Sie blieb also bei der Nichte des Ogers. Frau Kiribi bewohnte einen herrlichen Palast, wo die schönen Herrn und Ritter aus der Umgegend zusammenkamen, um sich einen guten Tag zu machen und bei der schönen Frau der Liebe zu pflegen. Gleich den ersten Abend mußte Kinkerlinchen ihrer neuen Gebieterin in die Schlafkammer folgen, um sie zu entkleiden. [294] An dieser Schlafkammer war ein verborgenes Kabinett angebaut, dazu hatte nur Frau Kiribi den Schlüssel. Als das Kammermädchen die Dame entkleidet hatte, und diese nun splitterfaselnackt vor ihr stand, rief sie immer noch zornig: »Nun wird's bald! Kleide mich vollends aus!« Und als das ängstliche Kinkerlinchen nicht wußte, was sie noch ferner ausziehen sollte, rief Frau Kiribi: »Dumme Kröte, man sieht, daß sie ein Landmensch ist – hier die Nadeln! zieh sie heraus! nun – rasch! Wird's bald?« – Und Frau Kiribi zeigte auf kleine rote Nadelköpfe die hier und da, an der Schulter, an den Hüften, am Halse und an den Beinen hervorragten. Kinkerlinchen zog herzhaft an diesen Nadelköpfen und zog lange blutrote Nadeln hervor. So wie diese ausgezogen waren, fielen der Busen, die Hüften, die Wangen, die Schenkel, die Waden, der Bauch, die Schultern herab und lagen auf dem Boden, und Frau Kiribi stand als ein scheußliches Knochengerippe vor dem erschreckten Mädchen. Sie wendete sich zu ihr um und rief: »Nun, faule Dirne, was zögerst du? Pack die Putzstücke hübsch zusammen und trage sie dort in mein Toilettenzimmer. Morgen lege ich sie wieder an.« Kinkerlinchen nahm vom Boden die zerstreuten Glieder schaudernd zusammen und trug sie ins Kabinett und legte sie dort [295] an das offene Fenster an die frische Nachtkühle. Übrigens herrschte ein sehr übler Duft nach Blut und Moder in dem Toilettenzimmer, und Kinkerlinchen, die sich im Dunkeln nicht umzusehen wagte, machte, daß sie baldigst wieder hinauskam. Sie schloß zu und gab den Schlüssel ihrer Gebieterin. Diese sagte: »Nun mußt du dich zu mir ins Bette legen; ich schlafe nicht gerne allein, weil mich immer friert.« Und das arme Kinkerlinchen lag neben dem scheußlichen Skelett, das seine dürren Knochen, an denen keine Faser Fleisch mehr war, eng um den frischen warmen Leib schmiegte. Es war gerade keine angenehme Nacht. Am Morgen sagte Frau Kiribi: »Mein Busen taugt nicht mehr, du mußt zu meiner Hofputzmacherin und Kleiderverfertigerin gehen, und mir geschwind einen neuen Busen bestellen. Mit den Hüften und den Schenkeln glaub' ich noch auszulangen, sie sind nicht so sichtbar, allein der Busen muß frisch und hübsch sein, denn der junge Graf reitet heute vorbei, und ich will am Fenster liegen, und ihn heranwinken.«

Kinkerlinchen ging zur Hofputzmacherin, diese war aber nichts Geringeres als eine Hexe, wie ihre Gebieterin, und zwar gab sie sich nur damit ab, junge hübsche Mädchen in ihre Höhle zu locken, sie zu töten und ihnen vorsichtig die schönen Glieder abzulösen, die sie dann für schweres [296] Geld der Frau Kiribi verkaufte. Kinkerlinchen brachte einen sehr schönen Busen mit und Frau Kiribi legte sich ihn kaltblütig an, ohne auch nur mit einem Worte zu fragen, was aus der ehemaligen Trägerin desselben geworden war. Als Frau Kiribi vollkommen geschmückt war, sah sie wieder wunderlieblich aus, so blühend und jugendfrisch. Die häßlichen blutroten Nadeln wurden durch eine große Anzahl Perlenschnüre verdeckt, die darüber hinfielen.

Sie setzte sich nun wieder vor ihre Wohnung, nahm ihre Laute und sang wie früher:


»Ich bin Frau Kiribi
Und hab' ein schön Gefieder,
Sind's gleich gestohlne Glieder
Verraten werd' ich nie.
Denn eh mein Kammermädchen
Ausplaudert meine Kunst,
Hab ich sie schon am Fädchen,
Sie büßt in Feuers Brunst.«

»Aber ich werde dich doch verraten, schändliche Hexe!« rief Kinkerlinchen in vollem Zorn. »Ist's wohl erlaubt, auf solche Weise das junge Volk, die hübschen jungen Herren zu Dutzenden zu betören? Sie denken, sie küssen ein Wunder von Schönheit und sie pressen einen alten Moderbeutel ans Herz. O pfui doch!«

[297] Und sie sagte es dem Grafen und dieser sagte es seinen Genossen und sie kamen alle und nahmen Frau Kiribi und ihre Helfeshelferin so schnell gefangen, daß diese den Verrat Kinkerlinchens nicht Zeit hatte zu strafen. Jedoch war der Holzstoß schon aufgerichtet, auf dem sie brennen sollte.

Als Kackerlitzchen Kinkerlinchen auch hier wieder frisch und gesund heimkommen sah, er hatte gewiß gehofft, sie käme nie wieder, kam ihm nochmals ein niederträchtiger Einfall und er sprach zu dem armen, gehorsamen und betrogenen Mädchen: »Wenn's mit dem Riesen und Frau Kiribi nichts ist, so gibt's doch noch ein drittes Mittel, wie ich von meiner Frau loskomme, um dann dich zu heiraten. Am Meeresstrande, in einer Höhle, wohnt ein Drache, der liebt nichts so sehr, als von Jungfrauen sich zu nähren. Meine Frau ist zwar keine, allein da der Drache schon alt ist, dazu nicht gut mehr sieht, wird es mir, hoffe ich, doch gelingen, ihn dahin zu bewegen, daß er mir meine Last abnimmt. Er muß nur hierherkommen, denn die Königin, meine Frau, geht nicht an den Meeresstrand, weil sie schon weiß, daß es dort nicht ganz geheuer ist. Willst du also zu ihm gehen, und ihn recht schön bitten, herzukommen?«

»Ich will's tun«, antwortete Kinkerlinchen, »aber höre – wenn du mich dann wieder nicht nimmst?«

[298] »Wie kannst du nur an der Redlichkeit deines Kackerlitzchen zweifeln?« fragte der ehemalige Schneider empfindlich. »Du kannst dir selbst nicht treuer sein, als ich es dir bin.«

»Nun gut«, sagte sie, »ich glaube dir nochmals; aber wenn du mich zum drittenmal in die Gefahr schickst, ohne daß ich merke, daß ich zum Ziele gelange, dann nimm dich in acht, dann ist's zwischen uns aus. Kinkerlinchen, mußt du wissen, ist ein geduldiges Mädchen, aber gar zuviel verträgt sie auch nicht.«

Mit diesen Worten ging sie fort und wanderte mehrere Tage, bis sie an das Meer kam, und dann mußte sie noch viel fragen, ehe man ihr die Wohnung des Drachen angab. Der Drache lebte als alter Junggeselle ganz angenehm in seiner Höhle und hatte eben einen Besuch von einem andern Drachen, einem Jugendkameraden, und beide saßen vor der Höhle und spielten Tricktrack. Die alten Knaben amüsierten sich vortrefflich. Sie sangen:


»In dieser Zeit ein Drache sein,
Hat gar sein Angenehmes,
Man führt so in den Tag hinein
Ein Leben, ein bequemes.
Wie andre Austern und Kaviar
Verspeist ein braver Drache,
Sein Jungfräulein in jedem Jahr;
Das ist so unsre Sache.«

[299] »Guten Abend, meine Herren«, sagte Kinkerlinchen mit einem Knix; »kann ich nicht die Ehre haben, den Drachen Burlebu zu sprechen. Er soll hier in dieser Gegend wohnen.«

»Ich bin es selbst, mein schönes Kind,« entgegnete der alte Drache, indem er schmunzelnd ein Maul machte, das von einem Ohr bis zum andern ging.

»Ich soll Euch eine Empfehlung machen –«

»Was Empfehlung«, schnaubte der Drache lüstern, – »du selbst bist deine beste Empfehlung – komm her.«

»Laßt mich doch nur erst ausreden, gnädigster Herr.«

»Hast du nicht gehört,« hub das Ungetüm an, »daß ich für mein Leben gern Jungfrauen verspeise; und ich habe in diesem Jahre meinen Tribut noch nicht empfangen. Ich weiß nicht, was die trägen Fischer hier in der Gegend denken, sie haben mir noch nichts gebracht.«

»Herr Kackerlitzchen schickt mich« – hub das arme Mädchen wieder an –

»Ach, Herr Kackerlitzchen!« schrie der Drache freudig. »So bist du es, deren Empfang er mir vor wenig Stunden durch einen reitenden Boten hat melden lassen.«

»Ha, der Schändliche!« rief Kinkerlinchen in eine Flut [300] von Tränen ausbrechend. »So hat er mich also doch wieder verraten. O wie abscheulich! So will ich denn nicht länger leben.«

Und ohne sich zu besinnen, warf sie sich dem Drachen in die Arme; allein kaum hatte die häßliche Schnauze des Untiers ihre zarten Lippen berührt, so erblickte sie eine seltsame und unverhoffte Verwandlung. Der widrige Wurm in ihren Armen ward in einen wunderschönen jungen Mann verkehrt, der zu ihren Füßen sank und ausrief: »Also du bist endlich einmal eine veritable Jungfrau! Die, die ich bis jetzt berührte, waren eitle Betrügerinnen. Der Zauber, so lautet der Spruch meines Geschicks, sollte so lange auf mir lasten, bis ich eine veritable Jungfrau in meine Arme schlösse. Nun ist's geschehen.«

Zu gleicher Zeit war auch die Höhle verschwunden, und ein schöner Palast stand am Meeresstrande. Dahinein führte der Prinz seine Braut. Kinkerlinchens bloße Nähe wirkte so segenbringend, daß der andere Drache ebenfalls entzaubert wurde, und als ein vornehmer Herr, ein Freund des Prinzen, sich darstellte.

Die Hochzeit wurde gefeiert und Kinkerlinchen wurde nun Königin.

Eines Tages kam ein Bettler vor ihre Tür und bat kläglich um ein Almosen. Als sie ihn näher betrachtete, [301] erkannte sie Kackerlitzchen, der sein Königreich verloren hatte, der von seinem Volke und seiner Frau verjagt worden war, und der jetzt auf der Landstraße betteln ging.

»Kennst du mich wohl?« fragte Kinkerlinchen.

»Ach! Mein Gott!« schrie Kackerlitzchen – »du bist Kinkerlinchen, an der ich so großes Unrecht verübt.«

»Ja, zum Dank für meine Treue«, rief sie.

»Es soll nicht wieder geschehen.«

»Ich glaub' es wohl. Du sollst mich nämlich nicht wieder in die Falle bekommen.«

»Kinkerlinchen! Kinkerlinchen! Willst du mich umbringen lassen? Verdient hab' ich's.«

»Nein, ich will deinen Tod nicht,« antwortete sie. »Hier hast du ein Brot, einen Hering und eine kleine Korbflasche. Dieses Brot wird nie zu Ende gehen, solange du keine Lüge über deine Lippen bringst, der Hering wird so lange ausreichen, bis du einmaldem, der dir Gutes tat, Böses entgolten hast, der Wein wird nicht alle werden in dem Fläschchen, wenn du nicht vergißt alle Abende laut herzusagen: ›Dem Kinkerlinchen, das ich schändlich betrog und verriet, dank' ich dies alles. Es hat mich nicht getötet, obgleich es gar wohl es konnte. Ich werde ihm Zeit meines Lebens dankbar sein.‹«

Kackerlitzchen nahm die Gaben und ging. Nach dreien [302] Tagen war er wieder da und bettelte von neuem. »Wo ist dein Brot?« fragte Kinkerlinchen.

»Ach,« entgegnete der Gefragte, »als ich aus deinem Palast herausging, fragte mich eine alte Frau, die an einer Krücke hinkte, ob hier nicht die schöne wohltätige Königin Kinkerlinchen wohne? Ich mißgönnte der Alten die Unterstützung und rief: ›Bewahre, die wohnt nicht hier. Da müßt Ihr noch zwölf Tage und zwölf Nächte gehen, weit ins Gebirge hinein, da findet Ihr sie.‹ ›So weit kann ich nicht mehr fort,‹ sagte die Alte und fiel zusammen am Wege und starb.«

»Und der Hering?« fragte Kinkerlinchen.

»Den verlor ich am zweiten Tage. Da begegnete mir ein armer Handwerksbursche, der gab mir, weil es gerade heftig regnete, seinen Mantel, und ging selbst unbekleidet, weil ich ihm glauben gemacht, daß ich krank sei. In der Nachtherberge, da er schlief, stahl ich ihm sein Kleidungsstück und lief damit davon.«

»Und der Wein?« fragte Kinkerlinchen, schon ganz erbittert und zornig.

»Der Wein,« entgegnete der unverbesserliche Wüstling, »der Wein ist heute alle geworden. Es ist wahrlich kein Tropfen mehr in der Flasche.«

»Und warum ist sie leer?« fragte sie.

»Weil ich deinen Spruch vergessen habe. Du meinst [303] wohl, wenn man hungrig und verdrießlich zu Bette geht, daß man da noch Zeit haben soll alberne Danksagungen herzustammeln? Ich habe das Beten und Danken nie leiden können, selbst als ich noch Schneidergeselle war, und ich sollt' jetzt daran gehen, da ich geschmeckt habe, wie es ist ein König zu sein?«

Da antwortete Kinkerlinchen nicht weiter, sondern warf die Türe zu, und ihre Diener kamen und trieben den unverschämten Bettler aus dem Hofe heraus.

Am andern Morgen lag Kackerlitzchen verhungert im Schloßgraben. Kinkerlinchen jedoch war mit ihrem Mann glücklich bis an ihr Lebensende.

[304] Die singenden Möbel.

In einem alten verlassenen Schlosse fingen um Mitternacht die Möbel an zu singen. Die Spiegel sangen:


»Ins uns schaut nimmer
Ein liebes Gesicht,
Verdüsterter Schimmer
Aus grausig umflicht.
Es wanket und gleitet
Der grünliche Schein
Der Waldnacht hinein;
Uns Ärger bereitet.
Viel lieber wir sähen
Eines Faltenrocks Rauschen,
Eines Busens Blähen,
Eines Auges Lauschen,
Eines Mundes Lächeln,
Eines Fächers Fächeln;
Das sind Sachen
Die einem ehrlichen Spiegel
Freude machen.«

[305] Nachdem die Spiegel gesungen, blieb es eine Weile still, dann erhob sich eine grobe, quäkende Stimme und das Sofa sang:


»Auf meinen Kissen,
Sollt ihr wissen,
Lag schon seit lange kein schöner Arm,
Keine Hüfte warm
Hat in die Ecke sich eingezwängt,
Es streckt sich nicht
Auf meinen Polster ein Bein.
Eines Nackens Licht
Gräbt nicht mehr in meine Kissen sich ein.
Ich steh' allein.
Wann wird mir wieder Belebung geschenkt?«

Die Kommode klapperte mit ihren Messingspangen und sang dann:

»Seit lange bewahr' ich
In meinen Fächern beiden
Nichts was haarig,
Nichts was seiden.
Kein Müffchen,
Kein Kinkerlitzchen,
Kein Atlaspüffchen,
Kein rotes Mützchen.
Kein silbern Fläschchen,
[306]
Kein Nadelbüchschen,
Kein seiden Täschchen
Für goldne Füchschen! –
Wann füllen sich wieder
Mir Brust und Glieder
Mit Ambragedüfte?
Die Messingspangen
An meiner Hüfte,
Wann werden von zierlichen Händen
Sie wieder umfangen?
Wann fühl von Knie und Lenden
Ich liebliches Drücken
An meinen Nußbaumwangen?
Wann, o wann
Kommt die alte Kommode
Wieder in Mode?«

Die Wanduhr tat einen gellenden Ruck, als wollte sie schlagen, aber statt des Schlagens sang sie:

»Immer halb neun!
Ob Morgen, ob Abend, ob Mittag, ob Nacht,
Immer halb neun!
In mir arbeitet Gram.
Es setzt sich an meine Räder
Des Kummers Rost,
Ich bekenne mit Scham:
[307]
Verstockt ist jede Feder,
Verkleistert jede Wendung.
Ich verfehle meine Sendung.
Ich zeige nicht mehr an,
Wenn sich küßt Weib und Mann,
Wenn geboren wird ein Kind,
Wenn die alte Großmutter blind
Ihren letzten Faden spinnt.
Ich geh' nicht mehr Schritt vor Schritt
Mit dem Hause mit;
Ich stehe still,
Es mag geschehen was will,
Ich bleibe halb neun!
Das darf nicht sein.
Eine ehrliche Uhr bringt das um,
Bleibt sie ewig stumm;
Sie will sprechen, will erzählen,
Will für des Hauses Wohl
Sich mühen und quälen.
Der Kuckuck hol',
Ein solch ewiges Schweigen,
Ein solch ewiges Ruhn!
Man will sich zeigen,
Man will was tun.
Auf denn! Den Schlüssel herbei!
[308]
Hei! hei!
Hört mich denn niemand? Mich aufgezogen!
Mit Öl mich getränkt!
Gott steh mir bei, was es nur denkt
Das träge Gesinde!
Dort an dem Spinde
Hängt ja mein Schlüssel!
Eingesteckt,
Aufgeschreckt,
Den Pendel geneckt,
Daß er wieder sich rührt,
Wie sich's gebührt,
Daß es wieder wird lebendig in meinem Haus.
Heraus! –
Rasch, rasch –
Pasch, pasch!
Ha, wenn ich wieder ticke!
Wie stolz ich dann um mich blicke! –
Vergebens! Es bleibt alles stumm.
O wie dumm!
Hat man darum eine Uhr
Damit sie schweige? Das ist wider die Natur!«

Das Himmelbett mit seinen Damastvorhängen fing nun auch an:

[309]
»Was wollt ihr nur klagen,
Nur ich weiß zu sagen
Was einsames Leid
Bedeutet in dieser bösen Zeit.
Wenn's dunkel wird,
Und der Sonnenglanz schwächlich
Über Wände, Decke und Möbel irrt,
Wenn zur Ruhe gemächlich
Alles sich anschickt, in Nacht versinkt
Das ganze Haus,
Mit Kind und Kegel, mit Mann und Maus,
Wenn die Fliege nicht mehr summt,
Der Käfer nicht mehr brummt,
Im tiefen Kellerraum
Die kleine Maus liegt im Traum,
Die Vögel schlummern oben auf dem Dach,
Und selbst an den Wänden
Die Bilder nicht bleiben wach,
Da zog mit leisen Händen
Ein Etwas die Decke von meinem Leib,
Und zu mir hinein stieg das schönste Weib.
Den schneeigen Pfühl
Bot ich ihr kühl,
So daß die schöne Gestalt
Anfangs süß schaudernd zusammen sich ballt!
[310]
Doch immer wärmer verbreitet sich Leben,
Meine Federn zittern, meine Pfühle beben.
Ich dringe mit Inbrunst ganz auf sie ein
Und sie ergibt sich mit liebendem Sein;
Wir schmiegen uns wonnevoll aneinander.
Ist's ihr Busen – ist's mein Kissen?
Nicht zu unterscheiden wir es wissen.
Ist's mein rundes Polsterende?
Ist's ihre Knie, das hinrutscht behende?
Beide sind glatt, sind weiß, sind warm,
Beide sind wundervolle Polster, es ruht
Sich auf dem einen, wie auf dem andern gut.
Und um mein Kissen schlingt sich ein Arm.
Und, o wie fein,
Ein Ohr so klein
Legt sich auf den Pfühl,
Und eine Wange kühl
Gräbt tief sich ein.
Jetzt schlummert sie ein.
Rings wird es stille,
Kein Lufthauch zittert
Am weiten Behänge,
Keine Falte knittert,
Die Nacht behauptet
Ihr Recht gar strenge.
[311]
Ich aber wahre
Mein köstlich Gut,
Bis die Morgensonne, die klare
Wieder auf den Scheiben ruht;
Dann steigt sie aus mir empor,
Lieblich gerötet bis übers Ohr.
Ich bleibe zurück, durchsogen von Glück
Und bilde mir ein, daß noch lange, lange
Die Jungfraunwange
An meiner ruht.«

Ganz zuletzt hub noch mit feiner, kläglicher Stimme ein kleines Porzellangefäß an, das unter dem Bette stand. Es sang:


»Ach, ich schweige;
Den Kummer, den ich fühle
Ermißt kein Herz.
Wozu den Schmerz
Der kalten Welt erzählen? Neige
In Demut, wer wie ich
Zu darben bestimmt ist, sein Haupt.
Nur ein Wort sei mir erlaubt:
Seit Monden bin ich verstaubt,
Der Veilchenstrauß, gemalt
Von Meisterhänden auf meinem Grunde
Ihm fehlt zur Stunde
[312]
Der Tau, der ihn feuchtet,
Der Tau, der ihn tränkt.
Nun denkt selbst, ward je ein Wesen,
So weit die Sonne leuchtet,
Schlimmer wie ich gekränkt?«

Die übrigen Möbel gaben dem kleinen porzellanen Gefäß völlig recht und erklärten es unter all dem Geräte, das hier in der Einsamkeit darbte und sich lang weilte, für das Beklagenswerteste.

»Könnt ihr euch noch besinnen«, hub die Kommode an, »auf die schöne Frau, die hier zuletzt in diesen Räumen sich bewegte?«

»Oh, wie sollten wir nicht,« rief der Spiegel. »Ich nahm ihre schöne Gestalt noch in mir auf, bevor sie von Blut triefte und von den häßlich klaffenden Wunden entstellt war.«

»Ha!« rief das Bett, »ein Mord also? Ich hab' davon nichts gesehen, denn meine Vorhänge waren zugezogen.«

»Auch ich hab' nichts bemerken können,« sagte das Sofa, »denn ich lag voll abgelegter Kleider, Unterröcke, Leibchen und ein Hemde – da kann denn der Scharfsichtigste nichts beobachten.«

»Wer kann uns nur den Vorfall erzählen?« fragte[313] die Kommode. »Ich brenne vor Begier, ihn zu erfahren von einem, der von Anfang bis Ende dabei war.«

»Die Badewanne könnte das,« rief die Uhr, »aber die spricht nicht. Sie ist zu träge und kümmert sich um nichts.«

»Sie gehört auch nicht zu den Möbeln,« sagte das Sofa stolz. »Ich möchte mich nicht mit ihr einlassen.«

»Eigentlich zur ›guten Gesellschaft‹ gehört sie auch nicht,« bemerkte der Spiegel. »Man könnte dann auch das Waschbecken dazu zählen.«

»Ah – oh! Die Geschichte!« rief die Uhr. »Ist denn niemand da, der sie uns erzählen kann?«

Im Winkel am Kamin rührte sich etwas, es war ein bestaubter und angelaufener Leuchter mit einem Stümpfchen Wachskerze darin. »Ich kann es euch erzählen,« hub der Leuchter an, »denn ich hab' alles mit angeschaut und sogar dabei geleuchtet.«

»Erzähle, erzähle,« riefen alle Möbel.

Es trat für einen Augenblick eine tiefe Stille ein, während man ein leises Wackeln und Rutschen in der Kaminecke vernahm. Der Leuchter, der sehr eitel war, schob sich etwas vor, um sich als Erzähler und Berichterstatter gehörig vor allen Möbeln in der Stube sehen zu lassen. Dann begann er:


[314]
»In fälschlichen Verdacht
War unsre schöne Frau gesunken,
Als hätte ihrer Ehre nicht acht
Wär' im Lasterpfuhl versunken,
Ihr Mann hatte geschworen
Sie in der Nacht, von der ich spreche,
Mit einem Dolche zu durchbohren,
Im Wahn,
Daß er sich und seine Ehre räche.
Nun hört mich an:
Das Zimmer war wie jetzt;
Nur brannt' im Kamin ein Feuer,
Und ein Stuhl war hingesetzt,
Und ein Teppich, ein neuer
Tät flockig grün,
Den Boden überziehn,
So daß der nackte Fuß gar mild,
Tief einsank in das Blütgefild,
Wie wenn bei später Abendglut
Man über die Wiese wandeln tut
Und sinkt bei purpurrotem Schein
In Gras und Kräuter tief hinein.
Das Sofa stand wie jetzt an der Wand,
Mit rotem Plüsch
Und eingefaßt mit güldnem Band,
[315]
Die Tische will ich gar nicht schildern,
Belegt mit Büchern, Mappen, Bildern,
Erwähnen will ich nur,
An der Tür die Klingelschnur.
An diese faßte und rief: Hanne!
Die Frau wenn sie entstieg der Wanne.«
»Es war acht Uhr, da trat sie ein
Und bei dem milden Schein –
Man hatte mich gestellt zur Hand
Hinter die rote Seidenwand –
Macht sie sich zum Bade bereit.
O süße Zeit!
Fürs erste ging sie auf und nieder,
Und legte hier ein Bändchen,
Dort ein Schleifchen,
Ein Schlümperchen, ein Flatterendchen,
Ein Reifchen und ein Streifchen,
Ein Geplättetes und ein Gerunzeltes,
Ein Gefältetes und ein Gebunzeltes
Und endlich legt' sie zuletzt auch ihr Hemde ab
Und ging nun auf und nieder
Ganz nackig und vom roten Schein
Umflossen die weißen Glieder.
In die Nacht,
Und dann wieder hervor mit Pracht,
[316]
Und wieder in die Nacht,
Und wieder hervor mit Pracht! –
So wandelte in ihrem Heiligtume,
Die schöne Frau wie eine prächtige Blume
Dann steht sie vor dem Spiegel gut,
Der nimmt sie auf in seine schwarze Flut
Und frißt und trinkt in sich hinein
Der Glieder wundervollen Schein,
Wie ein Wolf trinkt des Lammes Blut,
So saugt er in sich der Brüste Glut,
Der Hüften Wölbung, den Schatten fein
Der sich eingenistet,
Zwischen den Marmor der Schenkel ein!
Er möchte gern ewig sie bei sich haben,
Doch auch die andern Möbel wollen sich laben,
Das Sofa schon brünstig die Arme ringt,
Vor Sehnsucht dem Stuhl die Feder springt,
Die schöne Frau spottet sein
Und steigt in die Wanne ein.
Das Wasser bedeckt sie mit heißem Schwall
Und drückt sich an, all überall –
Doch eh sie untersinkt,
Ein paar Stücklein Holz sie engelgut
Dem Kamin gibt für seine Glut.
Ich seh sie noch, wie aus der Wanne,
[317]
Emporgebeugt mit weißem Schenkel,
Sie hinwirft den Gemahl der Tanne,
Und vom Lindenbaum den Enkel;
Und während es knurrt,
Auf dem Roste murrt,
Sinkt sie lächelnd hinab in den Grund
Und bleibt in der Wanne wohl eine Stund'.
Indessen schleicht sich heran der Mord;
Es flüstert ein Wort
Draußen auf dem Gange,
Es wird ihr bange,
Sie will dem Bad entsteigen,
Da hält sie ein Arm,
Ein Mund gebietet Schweigen.
Eines Dolches Spitze
Mit rotem Blitze
Trifft auf des Busens Glanz,
Sie ringt, sie windet sich, ein Kranz
Von nassen Haaren
Fliegt dem Mörder um Hüfte und Bein,
Sie zerrt ihn in die Stube hinein,
Das nackte Weib;
Sie schlingt um seinen Leib
Den schneeigen Arm, er wankt,
Sie hat mit dem nassen Schenkel
[318]
Sein Bein umrankt,
Will es biegen und niederdrücken,
Es kann nicht glücken,
Er ist der Stärkere –
Die geschwinde Faust
Um ihren Nacken saust,
Das Messer trifft das Herz;
Groß ist der Schmerz,
Gräßlich der Angstschrei,
Fürchterlich der Sturz,
Der Kampf ist nicht kurz,
Endlich ist er vorbei.
Im Hofe steht ein Brunnen,
Mit schwarzer Flut,
In seiner Tiefe
Der Leichnam ruht. –
Den bösen Mann,
Als er die Tat getan
Anwidert der Ort;
Er muß fort.
Er säubert das Schloß
Von allem, was lebet;
Er selbst schließt die Tür
Und schleudert den Schlüssel
In des Sees Tiefe,
[319]
Der unten sich hebet.
Daß ewig nun schliefe
Das Gedächtnis der Taten,
Die hier sind beraten.«

»O grausenvolles Geschick!« riefen die Möbel einstimmig, als der Leuchter seine Erzählung beendet hatte. »Wann wird nun wieder jemand hier einziehen, der Frieden und Ruhe bringt?«

»Ja, wann?« rief das kleine porzellanene Gefäß. »Ein Narr kann viel fragen. Ich glaube, daß niemand kommen wird, um hier zu wohnen und wir werden alle in Moder und Staub zerfallen.«

»Wie, wir alle?« rief das Bette. »Auch ich? Es soll niemand mehr in mir schlafen?«

»Und auf mir niemand sitzen?« rief das Sofa.

»Und in mich niemand hineinblicken?« klagte der Spiegel.

»Und ich,« rief die Uhr, »ich soll immer halb neun bleiben? Unmöglich.«

»Nun, ihr werdet sehn!« entgegnete das Porzellanene. »Der Schlüssel liegt im See. Wer soll kommen? Jedenfalls bin ich am meisten zu beklagen, wie ich schon vorhin die Ehre hatte, zu sagen.«

»O verwünschtes Haus!« riefen alle Möbel mit einer Stimme.

[320] »O glückseliges Haus!« tönten Stimmen vom Gesims und aus den Ecken und der Chor der Spinnen sang:


»O Haus voller Wonnen!
Glückselige Wände!
Ohne Rast, ohne Ende
Spinnen wir hier,
Im öden Revier,
Und bekleiden die Wände;
Nie kommen Hände
Und reißen ein, was wir gesponnen,
O Haus voll Wonnen,
Glückselige Wände!«

[321] [323]Die drei Soldaten.

Ein großer Krieg war beendet worden, und eine Menge Soldaten wurden verabschiedet, weil man sie nicht mehr nötig hatte. Unter diesen waren einige, die daheim nichts zu beißen und zu brechen hatten, und darum nicht wußten was sie jetzt in aller Welt beginnen sollten. Drei gute Kameraden, alle drei lustige Vögel und blutjunge Burschen, hielten zusammen und begaben sich auf die Wanderschaft, indem sie sich einander gelobten, wenn ihnen irgendwo Glück und Freude erblühte, daß sie redlich miteinander teilen wollten. Allein auch die Prügel und Püffe, die das Schicksal ihnen etwa aufzutischen für gut finden würde, wollten sie redlich teilen; es sollte auch da niemand mehr und öfter bekommen als der andere.

Sie waren bereits mehrere Tage und Nächte gewandert, als sie in einen großen, unermeßlichen Wald kamen, der von keinem menschlichen Fuße noch betreten zu sein schien. Wege gab es nicht, und die drei Gesellen [323] mußten sich über Baumwurzeln und durch Gebüsch Bahn brechen. Als die dritte Nacht herankam, und sie noch immer nicht wußten wo sie waren, kletterte einer der Genossen auf einen Baum, arbeitete sich bis zu dessen Gipfel empor und richtete seine Blicke spähend in die Ferne. Da entdeckte er denn, ganz weit, einen Lichtschein, der hinter den schwarzen Baumstämmen hervorschimmerte. Dorthin richteten sie jetzt ihren Weg. Sie fanden einen freien Platz und eine Hütte. Vor der Tür der Hütte saß eine alte Frau an einem Tischchen, auf dem zwei Lichter brannten. Da es eine stille Nacht war und selbst die Baumgipfel nicht rauschten, brannten auch die Lichter, ohne nur zu flackern. Die Alte saß gebückt da und arbeitete an Kinderspielzeug, dazu sang sie ein Liedlein, das für die Kinderstube paßte.

Die drei Soldaten kamen nun an den Tisch heran, grüßten und fragten höflich, ob sie wohl hier eine Nachtherberge bekommen könnten. Sie seien schon drei Tage und zwei Nächte gewandert und hätten noch keinen warmen Bissen über die Lippen gebracht und wären noch in kein Bette gekommen.

Die Alte blickte auf, schob ihre Brille auf die Stirne und die drei jungen Wichte erschraken nun über die Häßlichkeit ihrer Wirtin.

[324] »I, weshalb nicht,« meckerte sie mit einer zitternden Stimme, »ihr könnt ja hierbleiben, Kätzchen. Mein Küchentopf wird auch noch für euch einen Bissen übrig haben, und was das Bette betrifft, so will ich euch auf eine Nacht das meine einräumen.«

Die Soldaten bedankten sich höflich, und der älteste der drei Kameraden, der zugleich der keckste war, fragte: »Mutter, wohnt Ihr ganz allein?«

»Ganz allein, mein Schatz, ganz allein. Eine tugendgelobte Jungfrau.«

»Eine Jungfrau! he!« riefen alle drei. »Und für wen arbeitet Ihr hier an dem Spielzeug?«

»Für die Kinder, die ich noch zu bekommen hoffe.«

Die drei jungen Wichte brachen hier in ein helles Gelächter aus, so daß es weit in den finstern, einsamen Wald hineinschallte. Kaum hatten sie zu lachen aufgehört, als einer den andern wieder anstieß und nun ging das Gelächter von neuem los. »Hahaha!« lachte der eine, »hehehe!« der andre, »huhuhu!« der dritte, und sie zeigten mit Fingern auf die Alte und tanzten dabei und hüpften auf einem Bein und riefen: »Die will noch Kinder bekommen! Ei, du niedliches Mädchen, du hundertjähriges Bräutchen! Du Tausendsasachen von einem spitzbübischen kleinen Dinge! Du Allerweltstollkopf! Du Blitzmädel!« –

[325] Die Alte arbeitete an ihrem kleinen Krame fort, ohne auf diese Reden zu achten.

Endlich wurden die drei des Spottes satt und fragten nun, ob ihre Wirtin nicht bald auftischen werde.

»Gleich, gleich!« erwiderte sie. Sie ging, holte ein Tischtuch, deckte auf, und darauf brachte sie eine gar schmackhafte Schüssel Gesottenes und dann eine Schüssel Gebratenes und dann eine Schüssel Backwerk, und zu jeder Schüssel immer drei Flaschen Wein. Die drei Soldaten schmausten wie die Götter. Einer nach dem andern mußte seinen Gürtel lösen und den Rock weiter knöpfen, sie schmunzelten einander an, erhoben ihre Gläser und ließen ihre Jungfer Wirtin leben. Dann erhoben sie nochmals ihre Gläser und ließen den Krieg leben, und zuletzt, wie sie gar nicht mehr wußten, wen sie sollten leben lassen, tranken sie die Gesundheit eines jeden Baumes im Walde.

Als die Lustigkeit noch höher stieg, faßten sie sich alle einander an und tanzten im Kreise, und jucheten und lachten und jubelten, ganz wie wilde, ausgelassene Burschen zu tun pflegen, denen einmal ein recht vergnügter Abend geboten wird.

Die Alte sagte endlich: »Na, nun wird's Zeit sein zu Bette zu gehn.«

[326] »Wahr gesprochen, Jungfrau Honesta!« rief Martin, der älteste.

»Und wo steht das Lager?« fragte Franzel, der zweite.

»Wir brauchen kein Licht,« sagte Christoffel, der dritte, »wir wollen uns schon alle drei im Dunkeln in dem Bette zurechtfinden.«

Die Alte aber sagte: »Fein sittsam! Nicht unnütz gepoltert und gelärmt! Ich liebe das nicht. In meiner Wirtschaft geht alles am Schnürchen. Auch hat mein Bette zur Zeit nur Platz für noch einen. Es gibt der Nächte viele. Morgen und übermorgen sollen die beiden andern mein Bette haben.«

Christoffel sagte: »Alte, dein Bette hat nur Raum für noch einen? Willst du denn mit drin liegen?«

»Ei freilich.«

Die drei Kameraden sahen wieder einander an, aber diesmal verging ihnen die Luft zum Lachen. Ihre Gesichter wurden eines immer länger als das andere. Es kam ihnen die Alte und der Wald und die Hütte plötzlich ganz unheimlich vor und sie wünschten sich tausend Meilen von diesem Orte fern.

Indessen stand die Alte da, mit dem Licht in der Hand und wartete, daß einer der Gesellen ihr in die Kammer folgen werde. Allein alle griffen zu ihren[327] Mützen und machten Miene sich sehr rasch empfehlen zu wollen.

»So ist's nicht gemeint!« rief die Hexe. »Einer nach dem andern soll mein Schlafgenosse sein, zum Dank für die freigebige Bewirtung, die ich euch gegeben. Nehmt euch in acht mich zu erzürnen, denn dann könnte es euch schlimm gehen, ihr Wichte.«

Die Mienen der Alten zeigten zur Genüge an, daß sie keinen Spaß verstand. Die drei traten zusammen und beratschlagten miteinander. Martin rief: »Meinethalben! den Hals wird's nicht kosten. Was ist denn weiter? Haben wir nicht manches Mal auf dem Schlachtfelde noch viel übler uns gebettet? Ein Soldat muß alles ertragen können. Wollt ihr nicht, so will ich. Ich will der erste sein. Ich will wie ein Sack schlafen und der Alten was vorschnarchen, daß sie glauben soll, die Trompete des jüngsten Tages blase.«

»Gut,« riefen die andern; »sieh, wie du durchkommst. Wir wollen abwarten was geschieht. Und sie blieben draußen vor der Hütte, während Martin mit der Alten hineinging. Sie schloß ihm ihre Kammer auf, in der ein großes Bette stand und an der Wand, zur Seite des Bettes, eine Tafel mit einem daranhängenden Schieferstift.«

»So, nun kleide dich aus, Bursche!« sagte die Alte.

[328] Als dies geschehen war, rief sie: »Nun hilf auch mir mein Leibchen aufschnüren.« Sie gab ihm dabei einen Schlag auf die Finger und schalt: »Ei, wie du träge bist! Geht's nicht rascher?«

Als sie ins Bette stiegen, sang die Alte:


»Jetzt wollen wir Braut und Bräutigam spielen.
Doch sprich, was soll dein böses Schielen?
Ist dir das Kopfkissenchen zu hart?«
»Das Kopfkissenchen ist mir nicht zu hart,
Allein meine Braut ist mir zu apart.«
»Ist dir das Deckchen nicht lang genug?«
»Das Deckchen ist mir schon lang genug,
Ich wollt', es läge über das Ganze ein Tuch.«
»Sticht dich ein Federlein, oder ein paar?«
»Es sticht mich kein Federlein und kein paar,
Ich find' nur an der ganzen Sach' ein Haar.«
»Hat dir das Nachtlicht zu hellen Schein?«
»Das Nachtlicht hat einen guten Schein,
Nur zeigt es mir gar soviel dürr' Gebein.«
»Stört dich die summende Flieg' an der Wand?«
»Mich stört nicht die summende Flieg' an der Wand,
Wohl aber stört mich eine Knochenhand.«
»So widert das Mäuschen dich an, das da knirpt.«
[329]
»Das Mäuschen nicht widert mich an, das da knirpt.
Wohl aber die Alte, die um Lieb' noch wirbt.«
»Geräumig und hübsch ist das Kämmerlein.«
»Geräumig und hübsch ist das Kämmerlein,
Doch möcht' ich hundert Meilen weit von hier sein.«
»Nun denn! Beginn deine Schelmerei,
Ich wünsche nicht mehr, als drei mal drei.«
»Ei, geht zum Kuckuck! das ist zu viel!
Das ist mir doch außer allem Spiel.«
»Nichts da, du Spitzbub, es bleibt dabei,
Mach dich gefaßt auf drei mal drei!
Mit diesem Griffel in meiner Hand,
Schreib' ich deine Taten an die Wand,
Sind es neun Strichlein, zierlich fein,
Sollst du mit Dank entlassen sein.«

Was sollte der arme Wicht machen? Mit der Hexe war nicht zu spaßen; allein so sehr er sich auch Mühe gab, er brachte die richtige Zahl nicht heraus. Es fehlten immer noch ein paar Strichlein. »Alte!« rief er endlich, »ich will nicht meines Vaters Sohn heißen, wenn deine Rechnung richtig ist. Es geht nicht mit rechten Dingen zu, ich habe wenigstens schon fünfzehn gezählt.«

»Ei, Söhnchen, sieh auf die Tafel! Mein Stift irrt sich nie.«

[330] »Aber der meinige auch nicht. Und kurz, der Teufel mag dich bedienen, alte Hexe! ich nicht.« – Und damit sprang er aus dem Bette. Die Alte fuhr mit einem brennenden Spahn, den sie geschwind aus dem Ofen riß, ihm nach und, indem sie rief: »Warte, warte nur, Söhnchen; ich will dir den Dank zahlen für dein sauberes Betragen.« Berührte sie ihn mit dem Spahn, und sogleich war der arme Bursche in einen zottigen schwarzen Kater verwandelt.

Mit dem zweiten Kameraden ging es nicht besser, und er wurde in einen Waldigel verwandelt.

Nun kam der dritte an die Reihe. Der hatte an der Türe gelauscht und hatte sich genau gemerkt, sowohl was die beiden Gefährten als auch was die Alte getan. Kaum war er mit ihr im Bette, so hub sie ihren Spruch an:


»Ist dir das Kopfkissenchen zu hart?«


Da antwortete er geschwind und mit lächelnder, freundlicher Miene:

»Das Kopfkissenchen ist mir nicht zu hart,
Und alles ist in der rechten Art.
Die Decke ist lang, es sticht kein Federlein,
Untadelhaft ist der Lampe Schein,
Es stören nicht Mäuschen, nicht Flieg' den Mann,
Der sich so hohen Glücks freuen kann.«

[331] »Nun, das ist mal ein artiger Freier«, rief die Alte. »Jetzt keine Zeit verloren! –

Mit diesem Griffel in meiner Hand,
Schreib' ich deine Taten an die Wand,
Sind es neun Strichlein, zierlich fein,
Sollst du mit Dank entlassen sein.«

»Gut«, rief der junge Mann, »ich bin dabei; ihr dürft aber nicht heimlich, wie ihr's bei meinen Kameraden getan, die Striche wieder auslöschen, die schon auf der Tafel standen.«

Die Alte ward ganz siedendheiß vor Scham, als sie sich so ertappt sah.

Der junge Bursche sah es und rief lachend: »Nun wollen wir anfangen?«

»Nein«, entgegnete sie, »mir ist alle Luft vergangen. Wer hat dir mein Kunststückchen verraten?«

»Ich hab's hinter der Tür erlauscht.«

»Nun denn, so geh' deiner Wege, und sag' es niemand wieder.«

Damit wollte sie aufstehen, allein der Soldat, der sie so zitternd und bange sah, packte sie an der Gurgel, schüttelte sie herzhaft und rief: »So ist's nicht gemeint! Nicht vom Platze! Jetzt bin ich dein Herr. Schaff mir meine Kameraden wieder gesund zur Stelle und gib uns ein gutes Zaubergeschenk auf den Weg, dann soll dir deine [332] Bosheit verziehen sein. Willst du das nicht, so machen meine fünf Finger mit deiner Kehle kurzen Prozeß.«

Die Hexe, die sich in seiner Gewalt sah, versprach alles was er von ihr forderte.

So kamen die beiden Verzauberten wieder zu ihrer menschlichen Gestalt.

Beim Abschied gab die Hexe dem ältesten einen Säckel, in welchem sich ein Hecktaler befand, dem zweiten gab sie ein »Tischchen deck dich«, und dem dritten verlieh sie einen Zauberhut, der ihn unsichtbar machte. »Jetzt brauchst du nicht an den Türen zu lauschen,« sagte sie, »wenn du den Leuten einen Streich spielen willst, sondern kannst mitten unter ihnen sein.«

Die drei Gesellen bedankten sich schönstens und gingen dann ihre Wege.

Nach einigen Irrfahrten kamen sie in ein großes, schönes Königreich, dessen Herrscher hatte eine wunderschöne Tochter, um deren Besitz sich sehr viele Freier bewarben, sie aber wählte keinen, sondern wartete immer noch auf einen bessern.

Die drei Soldaten machten sogleich einen Plan, an dem Hofe dieses Königs ihr Glück zu machen, und zwar sollte einer von ihnen der Mann der Prinzessin und König, und die zwei andern seine vornehmsten Räte werden.

[333] »Nun ist die Frage,« hub Martin an, »wer von uns soll nun die Prinzessin haben und König sein? Eigentlich kann hier nur von mir und Franzel die Rede sein, denn du wirst selbst bekennen, Christoffel, daß du von uns dreien der häßlichste und unansehnlichste bist und am wenigsten geeignet, König und der Gemahl einer so schönen Dame zu sein.«

»So ist's auch«, sagte Franzel.

»Ihr seid sehr undankbar,« entgegnete Christoffel, »wenn ich nicht gewesen, so wärest du, Martin, ein Kater dein lebelang geblieben und du, Franzel, ein häßlicher Igel. Das solltet ihr bedenken. Übrigens ist das ein unnützer Streit, in dem wir uns befinden. Glaubt ihr, daß die Prinzessin sich wird vorschreiben lassen, wen sie wählen soll? Sie wird, glaubt mir, ganz nach ihrem eignen Kopfe handeln und auf wen ihre Wahl fällt, das kann keiner von uns wissen.«

»Das ist, im Grunde genommen, ziemlich verständig geantwortet«, bemerkte der älteste, und der zweite stimmte ihm bei, wie er es gewöhnlich zu tun pflegte. Die Kameraden versöhnten sich wieder nach diesem kurzen Zwist und jetzt begab sich Martin ans Werk, eine ungeheure Menge Geld zu fabrizieren, denn die drei jungen Wichte wollten als wahre Krösusse auftreten und jeden andern Bewerber durch den Glanz, den sie um sich [334] verbreiteten und den Aufwand, den sie machten, aus den Schranken treiben. Dies geschah auch. Jedermann wunderte sich über die reichen, jungen Ritter, die weit prächtiger wie Königssöhne auftraten. Alle Tage gaben sie Feste, oder waren bei Festen gegenwärtig, ausgenommen einen Tag im Monat, und zwar beim ersten Mondviertel; diesen Tag wandte Martin an, um unausgesetzt, vom frühen Morgen bis zum späten Abend, Geld zu prägen und da seine Hände bald müde wurden, so mußten die Kameraden ihm dabei helfen. Dagegen war zu einer gewissen Nachtstunde Franzel nie zu sprechen; er benutzte diese Zeit, um köstliche Speisen und Leckerbissen in großer Anzahl durch sein Zaubertischchen herbeizaubern zu lassen, mit denen er die Tafel des Königs und seine eigne versorgte. Kein Koch im Lande konnte diese Speisen nachmachen, so köstlich waren sie und von einem so feinen Geschmack. Diese Besonderheiten wurden von niemand näher untersucht, ausgenommen von der Prinzessin, die sehr schlau war und welche sogleich den Argwohn schöpfte, es könne hier nicht mit rechten Dingen zugehn. Allein wie sollte sie hinter das Geheimnis kommen? Das war allerdings nicht leicht; denn die drei Kameraden hatten sich das Wort gegeben, im äußersten Grade verschwiegen zu sein.

[335] Die Prinzessin aber war, wie gesagt, schlau, und einem schlauen Weibe gelingt viel.

Fürs erste stellte sie sich in den ältesten verliebt, lockte ihm, mit dem Versprechen ihn zu ihrem Gemahl zu machen, sein Geheimnis ab, und als sie das Zaubersäckel hatte, ließ sie den armen Betrogenen in einen Turm werfen, wo ihn weder Sonne noch Mond beschien. Seinen Gefährten ließ sie sagen, er habe auf der Jagd sein Leben eingebüßt. Der ganze Hof glaubte es und betrauerte aufrichtig den schönen, freigebigen Ritter.

Mit dem zweiten machte sie es ebenso, nur mit dem Unterschied, daß sie ihn in einen tiefen Keller einmauern ließ, mit Nahrungsmitteln für einen Monat.

Was sie mit dem dritten beginnen sollte, wußte sie noch nicht recht, denn seine Zaubergabe war ihr nicht bekannt geworden, und da sie nicht wußte, was sie ihm rauben sollte, so ließ sie ihn für's erste unberaubt. Sie ließ ihn jedoch nicht aus den Augen und machte ihm dieselben Hoffnungen wie den beiden andern. Aber da war die Schlaue an einen Schlauen gekommen und Christoffel, der sich von der alten häßlichen Hexe nicht hatte betrügen lassen wollen, war auch Willens, von einem hübschen Prinzeßchen dies nicht zu dulden. Er war fest überzeugt, daß seine Kameraden nicht tot [336] wären, so wie erzählt wurde, und ferner war er überzeugt, daß die Prinzessin um ihr Schicksal wisse. Das erste was er tat, war, daß er der Prinzessin die Gaben wieder wegnahm, ohne daß sie ahnte, wer der Dieb war. Unsichtbar war er ihr in das Gemach gefolgt, wo sie ihre Schätze aufbewahrte, und mit unsichtbarer Hand hatte er in die Truhe gelangt, wo das kleine Tafelbrett und das Säckel lagen. Fort waren sie, und die Prinzessin hatte das Nachsehen, und das Übelste dabei war, daß sie nicht einmal sich zu beklagen wagte, weil sie sonst fürchten mußte, über die Eigenschaft der Zaubergaben befragt zu werden und die Mittel hätte verraten müssen, wie sie in deren Besitz gelangt. Aber ihr Argwohn auf den dritten war jetzt rege gemacht, und sie glaubte auf der rechten Spur zu sein. »Entweder«, sagte sie zu sich selbst, »hat er die Macht, durch verschlossene Türen zu gehn, oder er besitzt die Gabe, sich unsichtbar zu machen: eines von beiden. Was es ist, werde ich schon herauszubringen wissen.« Eines Abends, als sie allein mit ihrer Vertrauten im Gemache saß, das den Ausgang nach dem Garten hatte, seufzte sie und sagte: »Du beneidest mich, Fatime, um die vielen Liebhaber, die sich um mich drängen, allein wüßtest du, wie mir dieser Schwarm Langeweile macht, du würdest mich eher beklagen als beneiden. Erfahre, mein Kind, [337] daß ich keinen irdischen Geliebten mag, seitdem ich das Glück habe, einen überirdischen gewonnen zu haben. Der Genius der drei silbernen Lilien ist mein Anbeter, und ich bin nicht wenig stolz, daß ich seine Blicke auf mich gezogen habe. Unsichtbar umschwärmt er mich und verläßt sein himmlisches Reich, um mir, einer Erdgeborenen, zu huldigen. Willst du die Wahrheit meiner Worte erproben, so geh und schau in den Kelch jener Lilie, die dort im Mondlichte sich stolz erhebt, dort wirst du ein Zeichen seiner Gegenwart, und daß er diese Worte vernommen, erblicken.«

Die Prinzessin, als sie das sagte, hatte schlau bedacht, daß, wenn ihr Verehrer die Gabe besäße, sich unsichtbar zu machen, er ohne Zweifel sie stets umgeben werde und somit auch höre, was sie eben gesprochen. So war es auch: Christoffel ging in die Falle. Er ließ einen Ring in den Kelch der Lilie fallen, und diesen goldenen Reif brachte die erstaunte Fatime ihrer Gebieterin.

Nun holte die Prinzessin die Zaubergabe heraus, aber sie wußte noch immer nicht, worin sie bestand.

Sie stellte sich nun verliebt in Christoffel, wie sie es mit seinen Kameraden auch gemacht, und nun versuchte sie ihm bald dieses, bald jenes Kleidungsstück zu nehmen, weil sie dachte, in diesem oder jenem läge die Kraft. [338] Christoffel merkte, wo sie hinaus wollte, und gab ihr seinen Handschuh von der rechten Hand. Wie sie diesen angezogen, stellte er sich, als sei sie ihm plötzlich verschwunden.

»Aha!« rief die Prinzessin; »jetzt hab' ich's.«

Und als Christoffel einmal allein in seinem Zimmer war, sah er die Prinzessin eintreten, die völlig überzeugt war, daß sie von niemandem gesehen wurde. Sie trat an Kisten und Kasten und suchte nach den Gaben. Endlich fand sie sie; allein kaum hatte sie sie berührt, rief ihr Christoffel, der sich unterdes unsichtbar gemacht hatte, mit wütender Stimme zu: »Was willst du? Ich bin der Fürst des Himmels und der Erden und der, den du bestehlen willst, ist in meinem Schutze.«

Die vornehme Diebin erschrack heftig und fiel auf ihre Knie und gestand alle ihre Bosheit, indem sie nur bat, der Geisterbeherrscher möchte sie nur wieder frei lassen.

»Nicht eher,« sagte er, »als bis du gestehst, wo du die zwei Soldaten, meine Freunde, hinversteckt hast.«

Die Prinzessin zeigte den Ort an.

Christoffel ging und befreite seine Kameraden, die ihm herzlichst dankten. »Seht ihr wohl,« sagte er, »ich bin der häßlichste und unbedeutendste unter euch, aber gleichwohl hab' ich euch nun zweimal aus der Gefahr befreit.«

[339] »Wir werden es dir ewig danken!« riefen die Beschämten. »Nimm du nun die Prinzessin und das Königreich. Wir wollen künftig niemand anders als dir gehorsam sein.«

Jetzt kehrte Christoffel zu der eingesperrten Prinzessin zurück und machte ihr – immer noch unsichtbar – den Vorschlag, ob sie zeitlebens wollte in jenem Turme eingeschlossen sein, wo sie den armen Martin hinverstoßen, oder ob sie den dritten Soldaten heiraten und ihn zum König machen wollte.

Natürlich entschied sich die Prinzessin für das letztere. Da nahm denn Christoffel seinen Hut ab und stand leibhaftig vor ihr. Die Prinzessin, da sie alle ihre Ränke gescheitert sah, und da ihr überdies der hübsche Soldat gefiel, sagte ja und bereute es nicht.

[340] Der Husar aus Seife.

Ein junges Mädchen erhielt von ihrer Mutter eine schöne rot und weiß marmorierte Seifenkugel geschenkt, die wunderlieblich duftete. Aus Gefallen an der Seifenkugel drückte das Mädchen einen herzhaften Kuß auf dieselbe und alsobald stand ein allerliebster kleiner Husar vor ihr in einer roten Jacke und in prall anliegenden weißen Hosen, legte zwei Finger an seinen Tschako und sagte: »Was steht zu Diensten, Madmoiselle?«

»Ei, mein Lieber!« rief das Kind, »wo kommen Sie her?«

»Aus dem Seifenlande, Mademoiselle.

Aus dem schönen Seifenlande,
Wo Seen und Flüsse sind voll Öl,
Wo die Felsen sind am Strande
Grüne Seife ohne Fehl.
Wo meine Tante, die Olive,
Herrscht mit König Haselnuß;
[341]
Daß vom Glanz sie ewig triefe,
Gibt er ihr manch fetten Kuß.
Die schöne Welt mir anzusehen,
War ich in kecker Lust entbrannt,
Da hat die Böseste der Feen,
Mich schnöd' in diese Form gebannt.
Und bleiben sollt' ich, bis ich fände
Ein Mädchen, frei noch vom Genuß,
Das von dem Zauber mich entbände
Durch einen herz'gen Liebeskuß.«

Das kleine Mädchen freute sich und nahm ihren lieben Husaren überall mit, auf den Spaziergang, zu Tische, auf die Wiese und Nachts sogar ins Bett. Der Husar blieb rund und fett, und seine frischen roten Lippen und seine weißen Zähne, die Grübchen in seiner Wange und die prallen weißen Schenkel verloren nichts an ihrer Fülle und Glätte.

Einst sagte der Husar: »Das Leben im Frieden taugt auf die Länge nicht. Ich muß nun ausgehen, mir ein Königreich zu erobern, damit meine Kusine, die Olive, und mein Oheim, Haselnuß, doch sehen, daß ich ein ganzer Kerl bin.« Seine kleine Braut weinte sehr als er fortging, doch wollte sie ihn nicht halten.

Der Husar kam in ein Königreich, daselbst herrschte [342] ein König, der drei Töchter hatte, die sämtlich von einer großen Untugend behaftet waren, nämlich sie wuschen sich niemals. Der König hatte erklären lassen, wer ihm eine seiner Töchter rein und sauber herschaffte, der sollte die Hälfte des Königreiches haben. Der Husar sah sich die Prinzessin an und bemerkte, daß sie kaum aus den Augen blicken konnte, so dick lag der Staub auf ihr; denn da sie es liebte, sich immer auf der Landstraße herumzutreiben und womöglich alle Orte aufsuchte, wo es Rauch und Staub gab, so kann man sich denken, wie sie zugerichtet war, obendrein hatte sie sich in drei Jahren nicht gewaschen. Als sie den hübschen Husaren aus dem Seifenlande sah, verliebte sie sich sogleich in ihn und sagte: »Der soll mein Mann sein.« Der Husar hatte nun gewaltig viel zu tun, ehe er die Prinzessin rein hergestellt hatte, und als es endlich geschehen war, und sie so hübsch und glänzend aussah, wie man sich's nur wünschen konnte, kam er zum König und sagte: »Nun Herr König, Euer halbes Königreich!«

»Noch nicht, mein Lieber,« entgegnete dieser, »nimm nun auch meine zweite Tochter und reinige die auch. Die ist noch viel schlimmer, sie hat sich zwölf Jahre nicht gewaschen, und ich und meine Frau wissen uns gar nicht mehr zu besinnen, wie sie eigentlich aussieht.«

Der Husar fand dies nicht recht gehandelt, allein[343] was sollte er tun, er entschloß sich, auch mit der zweiten Prinzessin ein Liebesverhältnis anzuknüpfen. Aber ehe er es zustande brachte, dieses Aschenbrödel sauber zu bekommen, hatte er sich so abgearbeitet, daß seine roten Wangen ganz blaß geworden waren und seine schönen weißen Schenkel ganz dünne. »Teufel!« sagte er, »ich habe nie gedacht, daß es so schwer sei, sich ein Königreich zu erobern. Aber an diese zwei Prinzessinnen werde ich denken.« Er ging nun zum König und verlangte seinen Lohn. Der König entgegnete recht spitzbübisch: »Noch nicht, mein Lieber. Da ist mein Herzblatt, mein Liebling, meine älteste Tochter, die mußt du mir sauber herstellen. Du verstehst es perfekt. Ich bin sonst gegen alle Liebesverhältnisse, weil ich sie für unmoralisch halte, allein gegen eine solche Liebe, die so läutert und reinigt, kann auch der tugendhafteste Vater nichts haben. Also Mut, mein Lieber! Du mußt hier etwas energischer zu Werke gehn, denn mein teures Kind hat sich seit fünfundzwanzig Jahren nicht gewaschen, das heißt seit ihrer Geburt nicht, und ich und meine Gemahlin sind sehr neugierig, ob sie etwa einen Höcker hat oder schlank ist, ob sie eine gerade oder gebogene Nase hat, und von welcher Farbe ihr Haar sein mag. Das alles kann man nicht sehen, weil sie, gleichsam wie eine Nuß in der Schale, in ihrer Kruste steckt.«

[344] Der Husar war über die Wortbrüchigkeit des Königs so böse, wie nur ein Husar böse sein kann. Er klapperte stundenlang mit seinem Säbel und schob seinen Tschako ganz wild von einem Ohr auf das an dere. Er mußte sich aber doch fügen und ging ans Werk, auch die dritte Prinzessin sauber herzustellen. Als aber der König auch jetzt nicht Wort hielt und sogar den armen Husaren, der so dünn wie eine Stricknadel geworden war, aus der Stadt bringen ließ, setzte sich dieser am Wege hin und weinte bitterlich, so schwach war er geworden, daß er nicht mehr fluchen konnte und mit dem Säbel klappern, sondern nur noch weinen. So fand ihn das kleine Mädchen, das unterdessen ein großes Mädchen geworden war, am Wege sitzend, ganz dünn – ganz dünn. Oh, zum Erbarmen.

»Himmel!« rief sie und schlug die Hände zusammen. »Ist das mein schöner Husar aus dem Seifenlande! Was ist dir denn geschehen?«

»Ich habe drei Prinzessinnen reinmachen müssen.«

»Aus was?«

»Aus Liebe«, schluchzte der Husar und weinte wieder bitterlich. »Von diesen drei Prinzessinnen hat sich die eine drei Jahre, die zweite zwölf und die dritte gar fünfundzwanzig Jahr nicht gewaschen.«

[345] »Und wie hast du es denn gemacht, daß du sie rein bekamst!« fragte das Mädchen neugierig.

»Wie man so etwas macht,« erwiderte der Husar unwillig; »ich rieb mich tüchtig an ihnen. Da ich von Seife bin, mußten sie wohl rein werden, aber es hat mich diese Liebelei abgenutzt bis auf den letzten Faden. O weh, o weh! wenn ich in diesem Zustande vor meine Tante, die Olive und vor meinen Oheim Haselnuß soll treten, sie würden schön mich auslachen, und der Fee soll es schwer werden, aus mir wieder eine Kugel zu machen.«

»Ach, und du hattest so schöne, runde, weiße Beine!« sagte das unschuldige Mädchen mit trauriger Stimme.

»Du weißt dich also dessen noch zu besinnen?« fragte der arme Husar, der wieder auflebte, da er sah, daß man ihm Teilnahme zeigte. »Weißt du was, hilf mir mich zu rächen.«

»Gegen wen, mein lieber Husar?«

»Gegen diesen Schuft von König, der mich erst seine drei Aschenbrödel rein lieben läßt und mir dann doch das halbe Königreich nicht gibt, das er mir versprochen.«

»Oh, das ist schändlich. Ja, ich will dich rächen helfen.«

Sie machten nun einen Plan, und der Husar und seine gute Freundin kehrten in die Stadt zurück, wo sie in [346] einer entlegenen Gasse eine versteckte Wohnung nahmen, so daß niemand von ihrer Anwesenheit Kenntnis hatte, am wenigsten der König und die Leute bei Hofe. Bald erfuhren sie nun auch, daß der König seine älteste Tochter an einen Königssohn, die zweite ebenfalls an einen Prinzen und die dritte an einen sehr reichen Edelmann verheiratete, und daß er den beiden ersten die dem Husaren versprochene Hälfte des Königreichs geben wolle. Die Hochzeit der drei Prinzessinnen, die jetzt alle drei wunderschön waren, sollte an einem Tage vor sich gehen, und gerade diesen Tag wählten der Husar und seine Freundin zu dem Zeitpunkt, wo ihre Rache sollte ins Leben treten. Das Mädchen verkleidete sich als eine Köchin und der Husar als ein Kammerdiener, und beide suchten am Hofe anzukommen. Als nun die kostbare Tafel bereitet stand, schlich sich die Köchin hinauf, nahm die herrlichen Äpfel und Orangen aus den silbernen Schalen hinweg und legte dafür eine große Anzahl Kugelseifen von den schönsten Farben hinein. In die Näpfe und Schüsseln mit Mandelcreme legte sie flüssiggemachte Seife. Der Husar bestrich einstweilen den Weg vom Schlosse bis zur Kirche mit Seife und machte ebenso die Pfosten und Treppenstufen an den Betten der Brautpaare durch Seife spiegelglatt und äußerst schlüpfrig; auch seifte er die Violinbögen der[347] königlichen Kapelle ein und tunkte in Öl die Pfoten sämtlicher Schoßhündchen, von dem Schoßhündchen der Königin und der Prinzessinnen bis zu denen der Hoffräulein. Als nun der feierliche Zug in die Kirche wollte, fielen die Leute, der König an der Spitze, sämtlich wie die Fliegen um und konnten durchaus nicht in die Kirche gelangen, so daß man sich endlich entschließen mußte, die drei Trauungen im Schlosse zu verrichten. Der Kaplan bat sich ein Glas Wasser aus, weil er sehr erschöpft war durch die Anstrengungen, von der Kirche ins Schloß zu kommen. Die Kammerfrau lief schnell und brachte ihm ein Glas Öl. Als er das getrunken, wurde ihm so übel, daß er seine Rede unvollendet lassen mußte, und sich, seinen kostbaren Ornat und das Brautpaar vor sich, besudelte. Als es nun zur Tafel ging, bissen die Hofdamen tapfer ein in die Seifenkugeln, und die Oberhofmeisterin schmierte sich das ganze Maul voll grüner Seife, so daß sie erstickte und tot hinweggetragen wurde. Die Hofdamen bekamen Krämpfe, und die Königin und die Prinzessinnen, die ihre allerliebsten Hündchen während der Mahlzeit auf den Schoß genommen hatten, bemerkten zu ihrem Schrecken, daß die lila, amarantfarbenen und orangegelben Seidenkleider alle dicht besäet mit den häßlichsten Ölflecken waren. Sie waren darüber sämtlich außer [348] sich und warfen die Hündchen aus den Fenstern hinaus, die auf dem Steinpflaster des Hofes ihr Leben elend endigten. Der König wollte nun die Gesellschaft erheitern durch das große, angesagte Konzert; als aber die Virtuosen zu ihren Geigen griffen und die zierlichsten Stellungen der Arme annahmen, sperrten sie die Mäuler und Augen auf, denn keiner von ihnen konnte auch nur einen Ton hervorbringen. Als der Tanz beginnen sollte, mußte man eine Trommel vom Hoftambour und eine Querpfeife kommen lassen, um danach tanzen zu lassen. Aber der Fußboden des Tanzsaals war ebenfalls von dem Husaren mit Seife bestrichen worden, so daß die jungen Damen und Kavaliere sich fürchterlich die Glieder verrenkten, indem sie niederstürzten und sich doch zugleich bemühten ihre Damen noch zu halten. Zuletzt war der ganze Tanzsaal nur ein Schlachtfeld; es war zum Erbarmen. Die drei Brautpaare entfernten sich und gingen zu Bette, aber hier ging das Unglück erst recht an. Sie hatten ihre Bräute entkleidet und ins Bette gelegt und wollten nun selbst nachsteigen, glitten aus und stürzten jämmerlich auf ihre Bräute nieder und erschlugen sie. Aus bitterm Kummer über dieses beispiellose Mißgeschick ergriffen sie sämtlich ihre Degen und stürzten sich in diese. In jeder Brautkammer gab's ein Blutbad. Der König, als er den [349] Tod seiner Töchter erfuhr, wollte ebenfalls nicht eine Stunde länger leben; doch bevor er sich das Leben nahm, hörte er eine Stimme, die da sprach:


»Das ist der Husar vom Seifenlande,
Der all dies Unglück hat erdacht;
Der dein Haus in Schimpf und Schande,
Dich selbst zum Tode jetzt gebracht.
Erkenne nun des Treubruchs Segen,
Der statt Ros' und Veilchensaat,
Dem Bösewicht auf seinen Wegen
Grüne Seife bereitet hat.«

Als der König tot war und sein ganzer Stamm erloschen, wählten die Stände, die unterdessen den ganzen Hergang dieser wunderbaren Begebenheit erfahren hatten, den treuen Husaren zum König, und dieser heiratete nun seine Freundin und bestieg mit ihr den Thron. Seiner Tante, der Olive und seinem Oheim Haselnuß ließ er melden, daß er richtig ein Königreich erobert habe, so wie er sich's vorgenommen.

[350] Der Sohn des Mondes.

Es lebte einmal eine kleine, sehr hübsche, aber zugleich unbeschreiblich einfältige Bäuerin auf einem Dorfe. Man konnte ihr aufbinden, was man wollte; sie glaubte alles. Die jungen Mädchen und die Burschen hatten ihren Spaß mit ihr. Einst fragte sie ihre Nachbarin: »Grete, sag' mal, wo hast du dein Kind her?« – »Ei, von wem soll ich's haben,« entgegnete jene, »als von meinem Schatz.« – »Wer ist dein Schatz?« – »Ursel, wenn ich's dir sage, wer er ist, wirst du's nicht glauben.« – »Ich glaub's schon. Wer ist's?« – Nun nahm sich die junge Bäuerin gleich eine Fopperei vor und erwiderte:


»Es ist ein großer Herr,
Und hat den Mund in die Quer,
Die Nase in die Läng' –
Sein Westchen ist ihm zu eng,
So ansehnlich ist er und so breit,
Und dabei grimmig gescheit!«

[351] »Ach, wie gern wollt' ich solch' einen Schatz auch haben!« rief Ursel. »Sag', wo wohnt er.« Grete erwiderte:


»Er wohnt in einem Haus,
Da ziehen die Winde
Ewig ein und aus.
In seinem Spinde
Bewahrt er manch silbernes Kleid,
Und er ist grimmig gescheit!« –

»Nein, solch einen Schatz muß ich auch haben!« rief Ursel, »der in einem so großen, lustigen Hause wohnt, silberne Kleider trägt und dabei grimmig gescheit ist. Und worin besteht denn seine Gescheitheit?« – Grete erwiderte:


»Er hat alles gesehn,
Was auf Erden geschehn;
Und was künftig wird geschehn,
Das wird er auch noch sehn!

Mit einem Worte,« setzte sie rasch hinzu, »es ist der Mond.« – »Der Mond!« rief Ursel, »ei Sapperment! wenn ich doch den auch zum Schatz hätte!« – »Es ist nicht so ganz leicht, ihn zum Schatz zu bekommen,« erwiderte Grete. – »Das glaub' ich,« rief Ursel, »solche vornehme Herrn sind sehr wählerisch, und ich bin ihm [352] gewiß viel zu schlecht.« – »Das nicht, Ursel; es könnte sein, daß du ihm gerade recht wärest. Es kommt nur auf einen Versuch an.« – »O, du liebes gutes Gretelchen!« rief Ursel und klammerte sich fest an ihre Nachbarin, »wenn du's irgend weißt, wie ich zu der Bekanntschaft mit dem Monde gelangen kann, so sag's und halt' nicht hinterm Berge. Ich will dir's auch gedenken, und künftigen Weihnacht sollst du das schönste Paar grauer Wollstrümpfe mit roten Zwickeln von deiner dich innigliebenden Ursel erhalten. Hörst du?«

»Ich höre,« erwiderte die schlaue Grete, »aber höre du nun auch, was ich dir sagen werde. Gib wohl acht, denn versäumst du etwas, oder machst es anders, wie ich's gesagt, so haben wir beide böses Spiel. Ich, weil ich dir ausgeplaudert, wer mein Schatz gewesen, und wie er beschaffen, du, weil der vornehme Herr nichts weniger verträgt, als daß er's mit dummen Gänsen, die nicht rechts von links zu unterscheiden wissen, zu tun bekommt.«

»Oh, was das betrifft,« rief Ursel – »dumm bin ich nicht.« Und sie war nie dümmer, als wie sie dies sagte. –

Grete sprach weiter: »Es kommt jetzt bald eine Nacht, die heißt, die Drei-Männer-Mondnacht, weil der Mond darin so stark wie drei Männer wird, da gehst du an [353] den Ziegenbrunnen da draußen vor dem Dorfe, und wenn du an dem heimlichen Plätzchen gerade um Mitternacht angelangt bist, so legst du deine Kleider ab und stellst dich, so wie du aus dem Mutter leibe gekommen, vor das Becken des Brunnens und bückst dich über, so daß dein Mund die Wasserfläche berührt, und zwar grad an der Stelle, wo der helle Goldstreifen des Mondes darauf glitzert. Dieses Mond-Goldwasser trinkst du nun in dich hinein, mußt dich aber bei Leibe nicht umschaun, mag auch geschehen, hinter dir, was da will. Hast du verstanden?«

»I wohl!« rief Ursel.

»Nun, und wenn du genug getrunken, so legst du deine Kleider wieder an und gehst fort und legst dich schlafen. Nach der gehörigen Zeit wirst du dann von dem Monde ein Kind bekommen. Das ist die Manier, wie er sich mit uns Erdenweibern abgibt; anders versteht er's nicht.«

»Nun, es ist auch eine ganz gute Manier«, sagte Ursel.

Die beiden Weiber trennten sich nun, die eine, die so gar zu schlau und die andre, die so gar zu einfältig war. Beide gingen ihrer Wege. Grete ging zu ihren Vettern und Brüdern und sagte ihnen, was sie eben mit Ursel abgemacht, und den jungen Burschen kam[354] dieser Spaß gerade recht. Als die kleine dumme Ursel kam und sich an den Brunnen stellte, war nicht einer, nein, wohl sechs, die die Stelle des Mondes einnahmen und sich vortrefflich vergnügten. Ursel trank unterdessen das Goldwasser und hütete sich wohl, sich umzublicken. Als alles vorüber war, ging sie zu Bette und schlief sehr gut.

Es vergingen neun Monate, da gebar sie einen hübschen gesunden Jungen, mit schönen Pausbacken und großen hellbraunen Augen. »Das Knäbchen sieht seinem Vater ähnlich«, sagte sie. Als der Mond eben recht helle schien, ging sie mit dem Kind auf die Wiese, tanzte in der einsamen Nacht lustig umher, hob das Kleine zum Licht empor, und rief: »Na, Papa, gib doch ein Patschhändchen von oben her!« aber der Mond rührte sich nicht.

Als der Knabe größer wuchs, bekam er den Namen Peter Mondschein. Als er achtzehn Jahr war, ging er auf die Wanderschaft, und seine Mutter, die ihm nichts mitgeben konnte, sagte ihm: »Dein Vater hat Silber genug in der Tasche. Geh zu ihm, er wird dir weiter helfen.«

Nun geschah es, daß der Mond einmal am Meeresstrande spazieren ging, da trat Peter Mondschein an ihn heran und sagte: »Guten Abend, Papa!«

[355] Der Mond sah sich um, betrachtete den Burschen von oben bis unten und erwiderte:


»Du hast zwar ein volles rundes Gesicht;
Doch mein Sohn bist du nicht!« –

Das verdroß Petern gewaltig, daß der Mond ihn nicht als sein Kind anerkennen wollte. Er wurde dem alten Herrn über diese niederträchtige Lüge ordentlich gram. Doch besann er sich und sagte zu sich selbst: »Ich will mich ihm recht gefällig und dienstwillig bezeigen, vielleicht läßt er sich dann erweichen und erkennt mich an.«

Und von dieser Zeit an war er des Mondes ewiger Begleiter und treuer Knecht.

Einmal badete der Mond im Meere und die Tücher zum Abtrocknen lagen nicht bereit. Da kam Peter mit warmen Tüchern gelaufen, und das tat dem Monde gut, die angenehme warme Hülle. Und Peter trocknete recht geschickt den alten, krummen Buckel und dann den quabblichen alten Hängebauch, und zuletzt trocknete er dem Monde noch die Brille ab und setzte sie ihm wieder frisch auf die Nase. Der Mond griff in die Tasche und wollte ihm für diese Dienstleistung einen harten Taler schenken, allein Peter nahm nichts und sagte bloß: »Für meinen lieben Papa tue ich alles unentgeltlich. Versteht sich.«

[356] »Ich bin nicht dein Papa!« sagte der Mond giftig, drehte ihm den Rücken und watschelte fort und bog rasch um die Ecke, damit Peter ihm nicht folge. –

Ein andres Mal saß der Mond auf einer Felsspitze und litt gewaltig an Zahnweh. Peter lief rasch in die Apotheke und brachte Baldrianwurzel. Als der Schmerz gestillt war, langte der Mond wieder in die Westentasche und brachte abermals einen harten Taler hervor, den Peter aber wieder nicht nahm, sondern sagte: »Ei, wie sollte ich mich von meinem lieben Papa bezahlen lassen: Fällt mir gar nicht ein.«

Da wurde der Mond ganz wild, spie ihm ins Gesicht und rief: »Der Teufel ist dein Papa, du Kobold, du Grashüpfer, du kleines lästiges Ungeziefer!« – Und damit setzte er sich rasch auf eine alte, zerfetzte Wolke und ließ sich von ihr in entsetzlicher Geschwindigkeit in den Himmel tragen.

»Nun werde ich den Schandbuben los sein!« dachte der Mond. Allein wie er wieder zur Erde kam, stand jemand bei dem Wolkenschimmel und half ihm absteigen, und das war Peter.

»Höllendonnerwetter!« fluchte der Mond.

»Ja, so geht's!« sagte Peter, »wenn alte Herren lustig leben und ihre Kinder dann nicht anerkennen wollen.«

Der Mond hatte sich schön geputzt. Er hatte kleine, [357] sehr enge Glanzstiefelchen an, die knarrten, wenn er auftrat, dann eine schöne gelbe Weste mit einer Unzahl kleiner, silberner Knöpfchen und dazu einen blauen Frack mit einem parfümierten Schnupftuch darin. In der Hand trug er eine Reitgerte und tat sehr jugendlich.

»Wohin geht's nun?« dachte Peter bei sich.

Es war die Nacht gerade sehr kühl. Der Mond ging eilig voran und dachte so Petern aus den Augen zu kommen; allein Peter folgte ihm in gehöriger Weite, und zwar auf dem Schimmel sitzend, denn sonst hätte er sich schwerlich in der Luft erhalten können, durch die die Reise ging. So sah er denn, daß der Mond einen kleinen Stern weiblichen Geschlechts besuchte. Aber durch die knarrenden Stiefel wurde der Besuch verraten, und der Stern männlichen Geschlechts, der Ehemann kam rasch nach Hause, und er und seine Helfershelfer spielten dem alten Herrn arg mit. Sie hätten ihn ohne Zweifel totgeschlagen, wenn nicht Peter noch zur rechten Zeit sich ins Mittel geschlagen und den Mond rasch auf den Schimmel gepackt hätte und so mit ihm davongaloppiert wäre.

Als sie beide gerettet und in Sicherheit waren und der Mond sich erholt hatte, rief er zu Petern in vollem Zorn: »Wer hat dir erlaubt, dich auf mein Pferd zu setzen, du Schlingel?«

[358] »Papa,« entgegnete Peter, »dadurch allein wurde es mir möglich, Euch den guten Dienst zu leisten. Aber ich bitte Euch, wenn Ihr nächstens wieder zu Eures Nächsten Weib Gelüste hegt, zieht keine knarrenden Stiefel an. Ihr habt gesehen, es taugt nicht. Ich würde bei derlei Gelegenheit barfuß oder auf Socken gehn.« –

»Auf glühenden Kohlen werde ich dich gehen lassen!« schrie der Mond, ganz außer sich vor Wut. »Werde ich denn nie von dir befreit werden, du Molch!« – Und damit holte er aus mit der Reitpeitsche und gab Petern einen bösen Schlag, so daß ihm zwei Zähne aussprangen, und er ein Auge verlor.

Peter bückte sich, nahm sein Auge auf, steckte es wieder ein, so gut es gehen wollte und sagte kein Wort, denn er dachte: einem Vater muß man nicht widerhaarig kommen.

Aber Peters Liebe zu seinem Papa war schon gewaltig abgekühlt.

Nun geschah es, daß eine sogenannte Mondfinsternis eintrat, und der Mond in die gräßlichste Gefahr kam, von der Sonne zwischen die Zähne genommen und verschluckt zu werden. Schon war nur noch ein Zipfelchen von seinem gelben Schlafrock übrig, er selbst steckte schon mit Haut und Haaren im Rachen seiner Feindin. Da kam Peter und riß ihn an diesem Schlafrockzipfelchen wieder heraus. Das war eine große und herrliche [359] Tat. Niemand konnte das leugnen und der Mond selbst am allerwenigsten. Als er mit Peter allein war, holte er nicht einen Taler, nein, einen ganzen schweren Geldsack voll schöner harter, silberner Stücke aus seinem Kasten und sagte Petern: »Nimm dies, und wenn du es denn durchaus willst, so sollst du auch mein Sohn sein!«

Da nahm Peter seinen ganzen Mut zusammen, trat keck vor den alten Herrn hin und sagte: »Das Geld nehme ich, weil ich und meine Mutter auf unsre alten Tage was zu leben haben wollen; allein mit der Vaterschaft ist's aus.«

»Ei, wieso?« fragte der Mond und klopfte Petern auf die volle Wange.

»Ihr seid ein gar zu undankbarer Balg,« entgegnete Peter wild. »Ich möchte um keinen Preis der Welt Euch zum Vater haben. Da müßte ich mich ja schämen.« –

»Ei, du Teufelsjunge!« schrie der Mond. »Denkst du, daß man solche Väter, wie ich einer bin, von den Bäumen schüttelt? Ich kenne Grafen und Herrn, die sich die Finger danach ablecken würden, mich zum Vater zu haben.«

»Aber ich nicht!« sagte Peter fest. »Meine Mutter muß sich geirrt haben; Ihr könnt unmöglich mein Vater sein. Ihr seid ein fauler Apfel, wurmzerfressen durch [360] und durch. Sechstausend Jahr habt Ihr Eure Spitzbübereien schon vollführt und könnt sie nicht lassen. Wäre ich klug gewesen, so hätte ich Euch immerhin von der Sonne wegnaschen lassen. Ja, ja! guckt mich nur mit Euren großen Glotzaugen an. So wie Ihr mich da seht, will ich lieber gar nicht gezeugt sein, als von Euch!«

Der Mond wollte wild auffahren, er besann sich aber, weil er bedachte, daß Peter allerlei von ihm wußte, was er auf Erden wiedererzählen konnte, und da der alte Herr die Klatschereien nicht liebte, trachtete er danach, Peter zu besänftigen. »Kind,« sagte er, »wenn du vernünftig sein willst, so werde ich dir aus meinem Kleiderschranke ein Paar abgelegte Beinkleider geben.«

»Behaltet sie«, sagte Peter.

»Oder ich gebe dir, wenn du einmal heiratest, ein Paar schöne silberne Hörner.«

»Für die wird meine Frau schon sorgen«, sagte Peter.

Der Mond lachte, daß ihm der Bauch schüttelte, und sagte: »Auf Ehre! ich würde Schätze Goldes geben, wenn du mich zu deinem Vater annähmest, Bursche.« –

»Aber ich nehme Euch nicht an,« sagte Peter. »Das Spiel hat sich gewendet; jetzt bittet Ihr, und ich schlag's Euch ab. Lebt wohl. Wir sehn uns nicht mehr wieder.« –

[361] Und Peter hielt Wort. Alle Nacht, wenn der Mond am Himmel stand, schloß er sich in seine Kammer ein, ließ die Fenster sorgfältig verhängen und kam erst wieder hervor, wenn das Tageslicht hell am Himmel stand. Von diesem Zerwürfnis Peters mit dem Monde wußte jedoch niemand. Zur Mutter aber sprach Peter: »Hör' mal; weißt du denn auch ganz gewiß, daß der Mond mein Vater ist? Die Sache kommt mir nicht recht glaublich vor, denn seine väterlichen Gefühle so verleugnen, wie der Mond es getan, kann niemand. Und für einen total schlechten Kerl halt ich ihn doch auch nicht.«

Die Mutter erzählte nun ganz genau das Abenteuer am Brunnen.

Peter, während die Mutter sprach, legte den Finger auf die Nase und sah sehr schlau aus. –

»Ich will's schon herausbringen, wer mein Vater ist«, sagte er. –

Die stets lustigen Burschen lebten aber noch im Dorfe.

An demselben Abend ging Peter in die Schenke, die ganz voll von Gästen steckte, und wo er vermuten konnte, daß der dabei war, den er suchte. Es war ein großes Geschrei, und alles sprach aufeinander, als Peter eintrat. Einige Gesellen riefen ihm zu:


[362]
»Du Sohn des Mondes, na!
Was sagte der Herr Papa,
Als er sein Söhnchen sah?« –

Peter erwiderte:

»Ei, was sollte er sagen,
Er hat mir aufgetragen,
Denjenigen schön zu grüßen,
Der ihm die Arbeit tät versüßen;
Er selbst ist schwächlich und sehr alt,
Sein Kuß ist drum ein bißchen kalt,
Drum, wie gesagt, er's gerne sieht,
Daß man sich etwas für ihn bemüht.
Er hat mir ein ganzen Säckel Geld
Mitgegeben, den der erhält,
Der, wie der geheime Traktat
Lautet, an seine Stelle trat,
An dem bewußten Ort. Es melde sich,
Wem zu zahlen verpflichtet ich.
In dieser, wie in der folgenden Nacht,
Halt ich dort mit meinem Säckel Wacht.« –

Mit diesen Worten entfernte er sich. Die, die nicht um den eigentlichen Bestand der Geschichte wußten, lachten, wie über einen guten Spaß, die sechs Gesellen aber nahmen sich jedes der Worte wohl zu Herzen.

Peter stellte sich aber mit einem derben Knüppel am [363] Brunnen auf. Gleich in der ersten Nacht kam der erste lustige Bursche. Peter sprang aus dem Gebüsch und indem er rief:


»Ei, lieber Papa, da bin ich hie,
Da hast du etwas für deine Müh!« –

ließ er einen tüchtigen Prügelregen auf Haupt und Schultern des Gesellen niederregnen. Kaum war der erste abgetan, so kam der zweite, und so nacheinander der dritte, vierte, fünfte und sechste. Peter gab allen reichlich, was er ihnen zugedacht. Dann setzte er sich ermüdet auf einen Stein und rief:

»Nun hab' ich meinen sechs Vätern eine kleine Freude gemacht!« –

In der nächsten Nacht wartete er wieder, aber da kam niemand. »Es ist gut,« sagte er, »nun weiß ich wieviel ihrer waren, und daß der Mond unschuldig ist. Von dieser Zeit an will ich ihn auch wieder sehen; aber ein undankbarer Balg bleibt er doch, denn wenn ich auch hundertmal nicht sein Sohn war, so mußte er mich doch als seinen treuen Gefährten gut behandeln.«

Peter war der klügste Bursche im Dorfe; und Grete sagte: »So dumm die Mutter ist, so gescheit ist der Sohn.« Beide, Mutter und Sohn lebten aber von dem Gelde des Mondes in Reichtum und Freuden ihr Lebelang.

[364]

Notes
Erstdruck: Bremen (Schlodtmann) 1850.
License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Ungern-Sternberg, Alexander von. Braune Märchen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-7285-1