Spruchweisheit

Zu Zeiten, da man seine Weisheit nicht
Aus Leitartikeln schöpfte, wo die Alten,
Weil sie das wechselvolle Leben kannten,
Für sehr viel klüger als die Jungen galten,
Zu jenen Zeiten hat sich unser Volk
An guten Regeln einen Schatz gegründet,
Hat an der Väter Klugheit sich gehalten
Und nicht an schönen Reden sich entzündet.
Das war wohl gut so, und ich möchte euch,
Ihr Herrn vom grünen Tisch, ihr Diplomaten,
Von Herzen bitten, bringt sie ab und zu
Zum allerhöchsten Ohr der Potentaten.
In allem halte Maß. Das Wort
Ist wirklich wert, daß man es oft verwende,
Den Kopf behalte kühl und warm den Fuß,
Denn blinder Eifer führt zu schlechtem Ende.
Dann heißt es weiter: Schweigen ist wie Gold,
Die Red' ist silbern, manchmal auch von Bleche,
Es ist nicht nötig und es ist nicht gut,
Daß vor dem Handeln man geschwollen spreche.
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Gelingt dir etwas oder scheint es so,
Dann mußt du nicht in lauter Freude toben,
Denn nichts Gewisses weiß man nicht, und auch
Soll man den Tag nicht vor dem Abend loben.
Nichts wird so heiß gegessen wie gekocht,
Was dich nicht selber brennt, sollst du nicht blasen,
Man muß nicht überall dabei sein, und
In fremde Töpfe steckt nicht eure Nasen.
Ich wüßte noch so manches kluge Wort,
Doch hab' ich eine Weisheit nicht vergessen,
Die auch die Alten manchmal schon verspürt:
Mit großen Herrn ist nicht gut Kirschen essen.

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Thoma, Ludwig. Spruchweisheit. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-5060-7