Gerhard Tersteegens
Geistliches Blumengärtlein

[27] Vorbericht an den gottsuchenden und gottliebenden Leser

1. Weil ich nicht wissen kann, wer heut oder morgen diese Schrift möchte in die Hände bekommen, so finde ich nötig, etwas weniges zu einiger Nachricht davon voraus zu erinnern. Es sind mir diese Schlußreime und Andachten mehrenteils unvermutet und zufälligerweise innerhalb weniger Zeit, nun und dann eines, gegeben worden, die ich dann auch, ohne viel auf Kunst und Zierlichkeit zu denken, so wie sie mir in die Gedanken kamen, aufs Papier gesetzt. Ich kann demnach dem Leser von meiner kleinen Arbeit nichts Großes versprechen, zumal es unter anhaltenden Kopfschmerzen und Leibesschwächlichkeit geschrieben ist. Anfangs waren es meine Gedanken keineswegs, diese Reime bekanntzumachen; weil aber einige meiner bekanntesten Freunde, denen etliche davon zu Gesicht gekommen, ihren Gefallen daran bezeugten und sie auch andern erbaulich zu sein achteten, habe ich auf ihr Begehren sie dem Druck übergeben müssen.

2. Was die Materie anlangt, wie schlecht und kindisch sie auch einem Vernünftling vorkommen möchte, diese ist allerdings der Wahrheit gemäß, ja heilig und göttlich; und wo ich etwa aus Mangel des Lichts und der Weisheit ein Wörtchen nicht wohl möchte gesetzt haben, wird solches einem erleuchteten [27] Gemüt zu entscheiden gern überlassen. Ich habe getrachtet, alles mit so deutlichen, einfältigen und so wenig Worten auszudrücken, als mir möglich war, weswegen ich jeden, der etwa dieses Büchlein zu lesen bekommen möchte, ersuche, daß er alles mit stiller Bedachtsamkeit und Aufmerkung lesen und betrachten wolle.

3. Sollte etwa jemand dieses oder jenes noch nicht fassen können, der bekümmere sich darüber keineswegs, sondern trachte nur, das, was er versteht und für gut erkennt, mit mir auszuüben, so mag das übrige und noch ein weit mehreres zu seiner Zeit schon klar und nützlich werden. Eine jede christliche Wahrheit hat ihre Stufen und ihr Alter, worin sie erst gebührend verstanden wird; wobei auch noch dies zu erinnern dienlich sein mag, daß die allerbesten, geistlichsten und göttlichsten Wahrheiten und noch vielmehr die allerhöchste Wahrheit, welche Gott selber ist, nimmer recht und mit Gewißheit können erkannt werden, als in und von einem Gemüt, das durch die Abtötung seines Fleisches, seiner Sinne, seiner Affekte, seiner Begierden und seines Willens sehr innig, geistlich und stille gemacht, wie auch durch die Verleugnung der mannigfaltigen Überlegungen und Wirksamkeiten der Vernunft sehr vereinfältigt und kindlich geworden ist. Wo diese Disposition oder Gestalt des Herzens fehlt, da ist die Seele der wesentlichen Erleuchtung Gottes unfähig, und sind demnach alle ihre Erkenntnisse, Konzepte und Urteile von Gott und göttlichen Dingen sehr schwach und ungewiß. Je geistlicher und göttlicher nun eine Wahrheit ist, desto mehr muß eine Seele in diese Disposition eingehen, um sie gebührend und mit Nutzen einzusehen.

[28] 4. Noch dieses eine finde ich hochnötig zu erinnern, daß, wenn ich etwa von einer etwas tiefen Wahrheit oder gar reinen Seelenbeschaffenheit rede und dabei das Wörtlein ich gebrauche, ich alsdann nur rede in der Person einer Seele, die in solchem Stande und Erfahrung steht, keineswegs aber mich selber dafür ausgebe, solches alles in wirklicher Erfahrung zu besitzen, ob ich wohl solche Wahrheiten mit genugsamer Gewißheit in göttlichem Lichte aus Gnaden erkannt habe, welches aber von dem wesentlichen Genuß, Erfahrung und von einem solchen Stande noch weit unterschieden ist. Es geht mir wie einem Kranken, der gern von der Gesundheit hört und redet, weil, er, auch solang er krank ist, die Gesundheit liebt und darnach verlangt. So rede ich auch bisweilen in diesen Reimen von sehr geistlichen und innigen Wahrheiten, nicht als ob ich sie schon hätte, sondern weil ich sie durch die Gnade Gottes so köstlich und liebenswürdig erkenne, daß ich sie von Herzen umfasse und in mir zu erfahren verlange, ja auch bei Gelegenheit sie andern gleichfalls in Schwachheit anzupreisen nicht unterlassen kann.

5. Ach, daß so viele hungrige Gemüter sich noch so lange aufhalten und abspeisen lassen mit dürren, kraftlosen Schalen- und Schatten-Bildern der Wahrheiten, worin doch der Geist keine gründliche und beständige Vergnügung und Frieden finden kann, da indessen die wesentlichen Kernwahrheiten des inwendigen Christenlebens, welche noch hier auf dem Pilgerwege durch göttliche Gnade zu erfahren sind, wo nicht gar verachtet, dennoch so wenig in ihrer Schönheit und Kostbarkeit erkannt und genossen werden, daß es nicht genugsam mit Mitleiden kann beklagt werden! Ach, man sucht einen Schatz weit [29] und breit und mit vielen Bemühungen, ohne ihn je recht zu finden, den man doch so leicht und so nahe haben könnte, wenn man nur in die gehörige Bereitschaft oder Disposition des Herzens durch göttlichen Beistand einzugehen sich angelegen sein ließe.

6. Kommt, ihr von Gott zu seinem reinen Dienst des Geistes berufenen Seelen! Laßt uns in der Kraft des Herrn uns losmachen und losmachen lassen von allem Sichtbaren, von den Sinnen, von der Vernunft und von allen Eigenheiten, damit wir als recht abgeschiedene, vereinfältigte, reine Kreaturen in unsern Geist und Seelengrund können einkehren und Gott, welcher auch ein Geist ist, daselbst finden, schauen, lieben und seinen Frieden genießen mögen, welcher höher ist als alle Vernunft!

7. Findet jemand unter euch in diesem Werklein etwas Gutes zu seiner Erbauung und Erweckung im kindlichen Glaubenswandel vor Gott, der denke doch, daß es der Vater der Lichter sei, von dem alle und also auch diese guten Gaben von oben herab kommen, damit er dem wahren Ursprung und Geber dieses Guten alle Ehre und Dank mit mir dafür abstatte. Ich indessen werde mich auch, und zwar von ganzem Herzen freuen, wenn auch nur eine einzige Seele, ich will nicht sagen bekehrt werden, sondern nur eine kleine Stärkung und Erweckung hierdurch in ihrem inwendigen Wandel durch göttliche Mitwirkung bekommen möchte; in welchem Fall eine solche dann auch mir mein inständiges Begehren nicht abschlagen wird, daß sie nämlich den, der diese Sachen geschrieben, mit einem herzlichen Seufzer dem Anfänger und Vollender des Glaubens anbefehlen wolle.

[30] 8. Obiges wurde bei der ersten Ausgabe dieses Büchleins erinnert. Weil es denn nun einmal Gott so gewollt, daß es durch den Druck bekanntgemacht worden ist, habe ich auch kein Bedenken getragen, es bei den folgenden Auflagen immer wieder um verschiedene Verse zu vermehren, welche von eben der Materie etwa noch zur Hand waren, was ich umso williger getan, weil ich auch seither mit demütiger Erkenntlichkeit gesehen, daß der Herr dieses einfältige Zeugnis seiner Wahrheit noch an manchem Herzen mit seinem Segen begleitet hat. Dadurch bin ich in der Einsicht bekräftigt worden, daß Gott nach seiner bewundernswürdigen Herunterlassung eben darum manchmal unser Geringes und Gebrechliches seines Segens würdige, damit man bei keinem Mittel oder Werkzeug stehen bleibe, sondern in allem allein auf ihn sehe und zu ihm selbst sich ziehen lasse, auf daß wir die Wasser des Lebens frisch aus der Quelle trinken, die so gern in unsrem dürren Seelengrunde hervorquellen und einem jeden unter uns sich reichlich mitteilen will.

9. Ach ja, ihr durstigen matten Herzen, laßt es euch nochmals in Gottes Namen erinnert sein und nehmt's in einfältigem Glauben an als den unschätzbaren Kern des wahren Evangeliums, daß nämlich uns von Natur grundverdorbenen und unter der Macht der Finsternis hart gefangenen Adamskindern in dem holdseligen Namen Jesus Immanuel die sanfte, wallende Liebe Gottes inwendig in unserm Herzensgrunde wiederum eröffnet und unaussprechlich nahe worden sei, obgleich wir es der jämmerlichen Ausgewandtheit, inneren Finsternis und Verwirrung wegen nicht allemal so deutlich merken können. Weil denn nun das Reich Gottes so [31] nahe herbei-, ja inwendig in uns gekommen ist, so dürfen wir auch gar keinen weiten Umweg mehr machen durch vieles Wissen und eigenes Wirken, sondern wir können durch diesen eröffneten neuen und lebendigen Weg (Hebr. 10, 20) fein geradezu gehen ins Heiligtum der innigen und ewigen Gemeinschaft Gottes. Wir lassen uns nur durch die treue Zucht, Lockung und Kraft dieser tief verborgenen, nahen Gottesliebe ausführen aus aller betrüglichen Lust dieser Welt und dem quälenden Leben der Selbstheit, geben zu dem Ende unser Herz und Willen so bloß und blind dieser innigen Liebe gefangen, daß sie unser ein und alles sei und uns führe nach ihrem freien Belieben. Sehet da die ganze Sache! Sodann bleibt und wird man nur immer mehr ein einfältiges Herzenskindlein, übt sich frei ohne Kunst im Innebleiben, Lieben, Leiden und Überlassen und wird dergestalt aus lauter Gnaden gerecht, heilig und selig von nun an und hat Gemeinschaft mit dem Vater in seinem Sohne Jesus Christus. Amen. Und nun Kindlein, bleibt in ihm, auf daß wann er geoffenbart wird, wir Freudigkeit haben und nicht zu Schanden werden vor ihm in seiner Zukunft! (1. Joh. 2, 28.)

10. Dir aber, o du Gott meines Herzens, der du deine Ergötzungen hast in und mit den Kindern der Menschen, ohne welchen kein Mensch tüchtig ist, etwas rechtschaffen Gutes zu denken aus sich selber, dir sei auch für dieses Gute demütig und herzlich gedankt. Gib, daß es in mir und in allen denen, die es mögen zu sehen bekommen, zu lauter Wahrheit und Wesen werde, zu deiner herrlich-seligen Verklärung in uns!

[32]
Zeuch, bis mein Alles wird in dich sein eingeführet,
Du kräftiger Magnet, der meinen Grund berühret
Mit deiner Gottheitslieb', Daß durch verborg'nen Trieb
Des Geistes Hunger ewig nun
In nichts, was du nicht bist, kann ruhn!
Es ist ihm viel zu eng, dich selber muß er haben,
In deinem Element muß er den Hunger laben.
Zeuch mich aus mir und aller Kreatur,
Es koste, was es will, zeuch, zeuch mich nur!
Laß reißen alle Bande, Bis daß ich selig lande
In dich, den Hafen meiner Ruh!
Da tu ich dann die frohen Augen zu,
Da höret auf mein Hunger, Durst und Lauf,
Weil ich dich selber kann im Seelengrund umfassen;
Mein Wille lieget da gebrochen und gelassen,
Mein Mund aus Ehrfurcht schweigt,
Mein Geist sich innig beugt
Und sich zum Eigentum zu deinen Füßen schmieget,
Erfährt dann, was es heißt, dies Wort: Ich bin vergnüget.

Mülheim an der Ruhr, den 10. Mai 1768


Gerhard Tersteegen [33]

Die Blümlein stehen hier Gepflanzet aufs Papier. Gott wolle selbst sie malen, Begießen und bestrahlen; Das Herz sei seine Erd', Und jedes Blümlein werd' Zu Wahrheit, Kraft und Wesen In allen, die sie lesen!

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TextGrid Repository (2012). Tersteegen, Gerhard. Gedichte. Geistliches Blumengärtlein. Vorbericht. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-45B1-8