Pflichtgefühl, oder die guten Töchter.

In Rußland sind, schon seit der Regierung der Kaiserin Elisabeth, die Todesstrafen aufgehoben. Die Verbrecher werden nach Sibirien verbannt, wo die gemeinsten und strafbarsten in den Bergwerken arbeiten müssen, andern aber, welche weniger große Verbrechen begingen, leichtere Arbeiten, wie zum Beispiel das Fangen der Zobel, deren Häute das schönste Pelzwerk giebt, aufgelegt werden. Noch andern ist schon die Verbannung in ein ödes Land, durch unermeßliche Räume vom Vaterlande getrennt, und außer aller Verbindung mit diesem zu seyn, eine nicht geringe Strafe; und diese trifft gewöhnlich die Großen des Reiches. Wie schwer muß es [225] ihnen werden, nach einer langen, höchst beschwerlichen Reise, aus der glänzenden Hauptstadt, in welcher sie in immerwährenden Vergnügungen und Abwechselungen des Lebens, welche Reichthum und Ansehen geben, schwelgten, in dieser tiefen Abgeschiedenheit, ein beschränktes, einsames Leben zu führen. Ein russischer Graf hatte einst das Unglück, in Streitigkeiten verwickelt zu seyn, bei denen er unrecht handelte, und so die Gnade seines Kaisers verlor. Er ward verdammt, seine übrigen Lebenstage in Sibirien zuzubringen, und seine großen Güter wurden ihm genommen. Seine beiden Töchter, Natalie und Marie, fanden eine Zuflucht bei einer sehr reichen Tante, welche sie auch einst beerben sollten, und diese Dame stand in einem solchen Ansehen bei der kaiserlichen Familie, daß sie gewiß überzeugt waren, unter ihrem Schutze ruhig und zufrieden leben zu können. Aber das Schicksal ihres Vaters betrübte diese guten Kinder zu sehr, als daß sie noch fähig gewesen wären, an irgend einer Vergnügung noch Erheiterung Antheil zu nehmen, und zuletzt faßten sie den schönen Entschluß beide nach Sibirien zu reisen, um dem unglücklichen Vater, durch ihre Gegenwart, sein trauriges Loos zu erleichtern. Sie waren nur fünfzehn und sechzehn Jahre alt, und konnten daher noch nicht eigenmächtig handeln; so [226] entdeckten sie ihrer Tante ihren Wunsch, und baten sie um die Erlaubniß, ihn ausführen zu dürfen. Diese Tante war weit entfernt, sie von ihrem Vorhaben, das so schön als billig war, abzuhalten; doch stellte sie ihnen alle Beschwerden der unermeßlich langen Reise, alle Gefahren derselben, und den öden, traurigen Aufenthalt in Sibirien vor, und ermahnte sie, noch reiflicher ihren Entschluß zu überdenken, und ihn dann erst zu fassen, wenn sie vollkommen alles geprüft und überlegt haben würden, um nicht nachher ihn zu bereuen, wenn es zu spät sei, ihn zu ändern. Sie rieth ihnen, sich noch eine Woche Bedenkzeit zu nehmen. Als diese verflossen, erschienen Beide aufs neue bei der gütigen Tante, und erklärten, daß sie ihren Vorsatz noch einmal recht überlegt hätten, und bei demselben zu bleiben, entschlossen wären. Da gab sich die Tante alle Mühe, sichere Personen zu finden, die sie begleiten konnten. Zufällig war die Frau eines angesehenen Offiziers, der in Sibirien stand, im Begriff zu ihrem Manne abzugehen, und so vereinigten sich die beiden jungen Mädchen mit ihr. Nach einer langwierigen Reise kamen sie endlich wohlbehalten an Ort und Stelle und eilten zu dem Vater. Man kann sich seine Freude über diese so liebe, als unvermuthete Erscheinung, nicht lebhaft genug vorstellen, und [227] eben so groß war die der Kinder. Sie richteten sich so gut ein, als es gehen wollte, und da sie eine Menge von lehrreichen und unterhaltenden Büchern mitgenommen hatten, so konnten sie bisweilen aus diesen etwas einander vorlesen; auch spannen die Töchter und beschäftigten sich auf mancherlei Weise. Mehrere Jahre waren so verflossen, als ein neuer Herrscher auf dem russischen Throne erschien, und eine große Anzahl Verbannter zurück rief. Unter diesen war auch der Graf, der mit seinen Töchtern voll Freude die Rückreise antrat. Die Erwartung, die Vaterstadt wiederzusehen, und der lang entbehrten Freiheit zu genießen, verkürzte die lange Reise und versüssete die Beschwerden derselben. Wie glücklich fühlten sich die beiden guten Schwestern, daß sie durch Pflege und Erheiterung dem Vater sein schweres Schicksal erleichtert, ja vielleicht sein Leben dadurch erhalten hatten, und er so nun das lange entbehrte Glück der Freiheit und einer bequemen Lebensweise wieder genießen konnte. Die gute Tante sowohl, als alle Personen, die sie kannten und liebten, konnten ihre Ankunft gar nicht erwarten, und waren ausser sich vor Freude, und auch ihnen fremde Personen, nahmen den größten Antheil an dem glücklich geänderten Schicksale dieser edlen Mädchen, welche alles ihrem Pflichtgefühl zum Opfer gebracht hatten.

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TextGrid Repository (2012). Stahl, Karoline. Märchen. Fabeln, Mährchen und Erzählungen für Kinder. Pflichtgefühl, oder die guten Töchter. Pflichtgefühl, oder die guten Töchter. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1607-0