Carl Spitteler
Die Mädchenfeinde

[9] Abschied von Sentisbrugg

Noch bis zum letzten Feriendonnerstagabend hatten sie gemeint, die armen Kadettenbüblein, es könne einfach nicht sein, daß sie wieder fort müßten von Sentisbrugg, in die mürrische Stadt und den hässigen Zank der Schule. Sie hatten sich eingebildet, im schlimmsten Fall, wenn jede Hoffnung geschwunden wäre, so daß sie längst nicht mehr daran dächten, werde sich zu allerletzt die Natur ins Mittel legen und irgendeine rettende Katastrophe stiften, zum Beispiel ein Erdbeben – warum denn nicht? das komme ja vor – oder eine Überschwemmung, oder eine Lehrerseuche, oder eine plötzliche Kriegserklärung, was weiß ich. Und den langen, schönen Donnerstagnachmittag waren sie auf der Gaisfluh gelegen, geduldig auslugend, ob nicht vielleicht die französischen Kürassiere links den Berg heraufgesprengt kämen oder von rechts die badischen Jäger mit finstern Waffenröcken und schmetternden Trompeten.

Erst jetzt, als sie nach ergebnisloser Erwartung niedergeschlagen heimkehrten, mit Efeu, das ihnen die Hirtenmädchen umgehängt, überwuchert wie zwei wandelnde Gartenlauben, und im Dämmerzwielicht gewahrten, wie die Großmutter erbarmungslos den Koffer packte, begriffen sie, daß sie von der ganzen Welt verraten waren. Da kletterten sie in ihrem Elend zuoberst auf den Ofen, leerten den Kater, der sich dort in einer Jacke eingenistet hatte und nicht wußte, will er weichen oder nicht, auf den Stubenboden und duckten sich in den Winkel. Und wie sie nun von da oben im Dämmerschein die Herrlichkeiten überschauten, die sie morgen verlassen mußten, das Uhrgehäuse mit der Geißel darin und dem Großvater daneben, dem seßhaften, dem man so bequem auf die Knie springen konnte, und die Fliege, die verschlafen [9] auf dem Tisch herumspazierte und morgen, ach Gott, wenn sie schon längst fort waren, noch hier herumspazieren durfte, die Glückliche, verspürten sie solch ein unleidliches Weh, daß sie anfingen zu wimmern. Weil aber die Klagetöne so unerwartet natürlich hervorkamen, daß es sie selber erbarmte, gerieten sie auf den Einfall, man könnte möglicherweise auch Großelternherzen damit erweichen. Deshalb fuhren sie nun mit ihrem Jammer absichtlich fort, erst schüchtern und pröbelnd, hernach, als das nichts fruchtete, in zweistimmigem Crescendo, schließlich mit resolutem Heulen wie die Verdammten. Inzwischen rösteten die heißen Platten ihre Schenkel, so daß ihr Klagegesang in grimmige Schmerzensbeteuerungen ausartete; unversehens raschelten sie in ihrem Efeugeheg über den Ofen hinab, knurrend wie zwei Pardel im Prärienbrand.

Ohne rechten Glauben, nur um ja nichts zu unterlassen, versuchten sie noch eine letzte Möglichkeit: über Nacht schnell krank werden. Wie wird ein Mensch krank? indem er sich erkältet; wie erkältet sich ein Mensch? dadurch, daß er nasse Füße bekommt. Folglich tauchten sie, als alle Welt schlief, die Füße ins Waschbecken, setzten sich im Hemd aufs Fensterbrett, die tropfnassen Füße nach außen, in die kühle Nachtluft gestreckt, und erwarteten dann in den Betten die Wirkung.


»Gerold, bist du krank?« schnellte der kleine Hansli aus den Kissen, als ihn die Morgensonne in die Augen blendete. »Leider nicht. Und du?« »Nicht einmal Kopfweh.« Jetzt war es aus, einfach aus; rundum nirgends mehr der Schatten einer Rettung. Da bemächtigte sich ihrer die Verzweiflung, und die Verzweiflung lud ihr Gemüt mit Weltwut. Weil sie sich aber gegenseitig Schimpf und Schande zuwarfen, dafür, daß der andere nicht krank geworden war, mündete die Weltwut in eine grimmige, strampelnde Bruderschlacht, die Fäuste in den Haaren, mich an [10] die Wand, dich an die Wand, bis Gerold einen tüchtigen Kratzstriemen weg hatte und aus Hanslis Nase Blut tröpfelte; das erleichterte. Das Waschbecken lag auch auf dem Boden; das beruhigte. Nun halfen sie einander friedlich beim Ankleiden; Gerold nestelte dem kleinen Infanteristen das gefältelte Vorhemd, Hansli schnallte dem Bruder Kanonier den Säbelgurt zu, ein mühseliges Geschäft, denn Gerold hatte sich in den Ferien allseitig abgerundet. Gestiefelt und geschmückt, stolz auf ihren funkelnden Kadettenstaat, den roßhaarbebuschten Tschako tief in der Stirn, betraten sie den Flur, meldeten ihre bevorstehende Ankunft mit Siegesgeschrei und ritten schnell wie der Biswind schlittlings die Stiegenlehne hinab.


Unten wurden sie von den Großeltern empfangen. Zuerst erhielten sie vom Großvater den Tagesbefehl: Sie würden diesmal nicht mit der Post heimreisen, eröffnete er ihnen, bloß der Koffer fahre mit der Post; für sie selber gebe es eine Ausnahmsgelegenheit, die Reise kostenlos auszuführen. »Paßt auf, was ich sage: Zuerst geht ihr zu Fuß bis nach Schönthal. – Ruhig, ihr könnt nachher jubeln, jetzt heißt es hören, was ich sage. – Den Weg nach Schönthal hinab, anderthalb Stündchen im höchsten Fall, werdet ihr allein finden, das ist kein Hexenwerk auf der breiten Fahrstraße; wenn man ein Fäßchen in Sentisbrugg losließe, würde es von selber nach Schönthal rollen. Übrigens seid ihr ja alt genug, um nötigenfalls zu fragen. Mit Patrontasche und Säbel werden hoffentlich ein paar zwölfjährige Kadetten keine Kindsmagd mehr nötig haben.«

»Elfjährig«, verbesserte Gerold, »zehnjährig«, krähte Hansli.

»Zehnjährig oder zwölfjährig, das ist Nebensache.«

»Der Dolf kann sie ja bis halbwegs Schönthal begleiten«, warf die Großmutter ein.

»Meinetwegen, obschon es nicht nötig wäre; der Schönthaler [11] Fabrikschlot guckt ja rotgelb aus den Bäumen wie ein Wiedehopf. – In Schönthal erwartet euch der Götti Statthalter zum Mittagessen. Nachher kommt ein Wagen vom Landammann Weißenstein in Bischofshardt; der holt das Töchterlein des Landammanns ab, das in Schönthal beim Fabrikdirektor Balsiger in den Ferien gewesen ist und ebenfalls am Montag wieder in die Schule muß. In dem Wagen dürft ihr bis Bischofshardt mit fahren –«

»Pfui!«

»Wieso pfui? Das sind doch Manieren!! Ihr fahrt doch sonst gerne in einem Wagen.«

»Ja, aber das Mädchen!«

»Sie wird euch nicht beißen, ihr solltet es vielmehr für eine unverdiente Ehre anrechnen, mit solch einem feinen, wohlerzogenen Mädchen reisen zu dürfen, wie die Gesima Weißenstein. Aber laßt ihr mich eigentlich ausreden oder nicht? Also mit der Gesima fahrt ihr im Wagen bis nach Bischofshardt, und morgen dürft ihr den ganzen Samstag beim Landammann bleiben; wie er euch dann am Sonntag nach Aarmünsterburg weiterspediert, ist seine Sache.«

Diesem Reiseverzeichnis fügte die Großmutter einige Weisungen, Warnungen und Ermahnungen bei. Mit dem Götti Statthalter in Schönthal, bei welchem sie zu Mittag essen werden, sei nicht zu spaßen; der sei ein entsetzlich strenger Herr, vor welchem alles zittere, so daß sie sich dort doppelt vorsichtig und untadelhaft benehmen müßten. Sie dürften ihn also zum Beispiel nicht so patzig anglotzen, als wollten sie sagen: pumps, jetzt sind wir da, sondern ihm manierlich die Hand reichen. Im besonderen habe der Statthalter einen furchtbaren Haß gegen seinen eigenen Sohn, den Max, oder den Narrenstudenten, wie er im Kanton heiße; sie sollten daher nie nach seinem Sohne fragen und, wenn von dem Max gesprochen werde, tun, als hörten sie nichts. Nämlich der Max sei leider fehlgeraten.

[12] »Der Max hat doch wenigstens niemals Schulden gemacht wie der Dolf«, bemerkte der Großvater bitter mit einem schmerzlichen Seufzer.

Die Großmutter fuhr fort: Und mit der Gesima Weißenstein sollten sie fein säuberlich umgehen, denn die sei erschreckend vornehmer Leute Kind, und ihr Vater, der Landammann, würde vorkommenden Falls die mindeste Ungebührlichkeit grausam rächen. Mit säuberlich umgehen sei indessen nicht bloß gemeint, sie nicht zu hauen und auszuhöhnen, sondern höflich und zuvorkommend gegen sie zu sein und danke zu sagen. – »Gerold, wenn dich der Kater beißt, beklage dich nur nicht bei mir.« – Wenn in der Friedlismühle, wo sie vorbeikommen werden, jemand nach dem Onkel Dolf frage, so sollten sie antworten, es sei jetzt in Ordnung, und es komme in den nächsten Tagen ein ausführlicher Brief. Und im Althäusli, auf der letzten Wirtshausstation vor Bischofshardt, sollten sie nicht etwa einkehren; denn im Althäusli wohne Lumpenware, mit welcher man nichts zu tun haben wolle. »Dieser Brief ist für die Frau Statthalter, der andere für eure Mama, der hier gehört in die Friedlismühle. Grüße an Papa und Mama und alle verstehen sich von selber, aber es kommt daneben hauptsächlich darauf an, daß man sie auch ausrichte. Und die Monika, die Magd bei Statthalters, solle so gut sein und auf den Sonntag für Kalbfleisch sorgen. Und der Doktor möchte doch von Schönthal heraufkommen, wegen der Urgroßmutter, womöglich heut noch, und Blutegel mitbringen, denn es gehe ihr nicht gut. Wenn sie Zeit hätten, sollten sie in Bischofshardt –«

»Und so weiter und so weiter!« schlossen die Buben, flüchteten durch die Tür und pflanzten sich entschlossen vor den Kaffeetisch.


[13] Ob sie nicht selber das Bedürfnis verspürten, von der Urgroßmutter Abschied zu nehmen und sie ein letztes Mal noch zu sehen, – mahnte eine Stimme aus dem Fenster, als sie reisefertig vor dem Hause ungeduldig auf und ab spazierten.

Als sie in die Krankenstube der Urgroßmutter traten, erblickten sie etwas Merkwürdiges: den jungen Onkel Dolf, der schluchzend auf den Knien lag, während die Urgroßmutter mit keuchender Stimme auf ihn einredete: »Also heilig versprochen, Dolf, du machst keine Schulden mehr und lässest vom Marianneli und gehst nie mehr ins Althäusli? Gib mir die Hand darauf.« Das tat der Onkel Dolf laut aufschluchzend. »Und heiratest die Therese von der Friedlismühle?« »Ja«, flüsterte Dolf kaum hörbar. Da begann die Urgroßmutter zu beten, und der Großvater und die Großmutter umarmten den Dolf, der alsobald weinend aus der Stube stürzte. Jetzt kamen die Buben an die Reihe, von den Großeltern zum Krankenstuhl geschoben. »Liebe Kinder«, stöhnte die Urgroßmutter, dann, nach einer langen Atempause, daß man fürchtete, sie erstickte, stieß sie hervor: »grüßt mir eure Mutter.« Hierauf ließ sie sich in den Kissen aufrichten und reckte mit großer Anstrengung ihre Hände nach den Stirnen der Buben, unverständliche Worte lallend. Gerold begriff, erstaunte und erschrak andächtig. Das war ein Segen wie im Alten Testament, aber daß es heutzutage noch Segen gebe, hätte er nie gedacht; er hatte gemeint, der Segen wäre seit tausend Jahren aus und vorbei wie die Wunder. Auch hatte er gemeint, ein Segen sei etwas Freudiges, Schönes, Glänzendes, mit einem goldenen Schimmer um den Kopf des Segnenden, und jetzt war die Urgroßmutter mit den aufgeschwollenen Gliedern, mit den blöden Augen, mit dem blutigen Waschbecken neben sich, so traurig und häßlich anzusehen, daß er fast hätte weinen müssen. Das jedoch war ihm deutlich: die Urgroßmutter brachte ihnen mit ihrem Segen das größte Geschenk, das ein Mensch anderen bringen kann; denn durch diesen Segen waren sie fortan beide für ihr [14] ganzes Leben gegen alles Unheil gefeit. »Ich danke dir für den Segen, Urgroßmutter«, sagte er treuherzig, »und der Hansli auch.« Er hatte es besser sagen wollen, allein er wußte nicht wie.


Nun stand der Abreise nichts mehr im Weg, außer daß der Dolf, der sie halbwegs Schönthal begleiten sollte, immer nicht kommen wollte. Endlich kam er doch, und sofort stampften sie, Führer rechts, linken Fuß voran, von dannen; und je schmerzlicher ihnen der Abschied wehe tat, desto stärker stampften sie.

Der Onkel Dolf mußte offenbar krank sein, denn er sah bleich aus, hielt sich abseits von den Knaben und sprach auf dem ganzen Wege kein Wort zu ihnen. Sie aber machten unterdessen ihrem Groll, mit einem Mädchen reisen zu müssen, mit gedämpfter Stimme Luft, indem sie alle Unarten und Lächerlichkeiten der Mädchenrasse höhnisch zusammentrugen: ihre komische Erscheinung mit den unvernünftig langen Haaren und Röcken, mit den kindischen Trippelschritten, mit den geschwollenen Körperlinien, – ihre schmähliche Feigheit, so daß sie vor dem bloßen Anblick einer blanken Waffe sich die Augen, vor einem kleinen Pistolenschuß die Ohren zuhielten, – ihre verächtliche Schwachheit: eine ganze Schulklasse erwachsener Mädchen von einem einzigen schneeballbewehrten Buben in die Flucht zu schlagen, – ihre Eitelkeit und unmännliche Ziersucht, immer ein Spiegelein vor dem Gesicht und ein bunter Lappen am Hals und in den Haaren. – »Und hast du gesehen, wie sie schwimmen?« flüsterte Gerold, »ekelhaft!« »Zu allem obendrein sind sie noch falsch und hinterlistig und lügen«, berichtete Hansli, »der Briefträger hats zum Posthalter gesagt, ich habs gehört; und der kanns wissen, er ist alt genug.«

Da störte der Dolf unversehens ihre Unterhaltung; schade! noch nie hatten ihre Ansichten so übereingestimmt. »Seht ihr dort unten im Tal zwischen den Wäldern den gelben Fabrikschlot? [15] Das ist Schönthal; ihr könnt jetzt unmöglich noch fehlen, in einer starken halben Stunde seid ihr dort.« Und zeigte ihnen mit dem Finger den Schlot. Dann stellte er die Kadetten zu beiden Seiten der Straße auf, Front gegen die Wiese und Rücken gegen Rücken. »Kannst du ein Geheimnis bewahren, Gerold?« zischelte er ihm ins Ohr. Gerolds Blicke leuchteten stolz. »Diesen Brief gibst du heimlich dem Marianneli im Althäusli, aber ja niemand anders als ihr, und falls du das Marianneli nicht treffen solltest, so zerreiß den Brief. Verstanden?« Hiemit nahm er ihm den Tschako ab und steckte den Brief in das Hutfutter. Hernach kommandierte er mit lauter Stimme: »Kadettenbataillon Aarmünsterburg, Augen zu!« und steckte dem Gerold allerlei in die Frackschöße, dem Hansli in die Patrontasche. (»Streichhölzer«, dachte Gerold, »ich riechs«; »Pulver«, erriet Hansli, »ich merks.«) »Alles gehört beiden gemeinsam«, erklärte Dolf, »aber Gerold hat den Oberbefehl darüber. – Achtung! Bataillon Aarmünsterburg, Augen auf! Front nach Schönthal! Richt' euch! Vorwärts, Feldschritt, marsch!« Da marschierten die Kadetten zu Tal, und der Dolf kehrte nach Hause zurück, bergauf, heim nach Sentisbrugg.


Sobald er hinterm Rank verschwunden war, untersuchten die Buben ihre Geschenke. Richtig, wie sie vermutet hatten: Streichhölzer und Schwefelhölzer, Zunder und Pulver. Aber in welchem unglaublichen, fabelhaften Reichtum! So viel hatten sie in ihren kühnsten Hoffnungsträumen kaum beisammen geschaut, geschweige denn in der Wirklichkeit. Wohl an die vier Pfund des feinsten Jagdpulvers! – Gerold rang stöhnend nach Atem vor Überglück, Hansli tanzte wie besessen auf dem Fleck, dann blitzten sie einander aus den Augen einen Schwur entgegen. »Jetzt, ehe es zur Schule geht, das Leben genießen, gründlich, bis zum letzten Pulverkorn, hernach komme, was da wolle!« Und stürmten [16] in wahnsinnigem Lauf in den Wald, um einen abgelegenen Schlupfwinkel zu erspüren, durch Busch und Strupp, Dickicht und Dorn, über Wasser und Steine, blindlings, ohne Aufenthalt, aufwärts nach den Flühen. Eine einsame heiße Felsenkammer, deren jähe Mauern von stillem Buchenwald überwachsen waren, empfing sie; hoch über Fluh und Wald kreiste ein leises Raubvogelpaar. »Hier!« herrschte Gerold und begann die kriegerische Alchimistenware auf dem glühendsten Felsentisch auszubreiten. Aber ehe er die Hochzeit gestattete, hielt er zuerst dem kleinen Infanteristen vor dem Tiegel eine ernste Festpredigt, von der Last der Verantwortlichkeit redend, die er, als der Ältere, für seines Bruders Leben auf dem Gewissen trage, hernach vor den Tücken des Schießpulvers warnend, welches, von Berthold Schwarz Anno 1330 in Freiburg erfunden, mit wahrhaft teuflischer Hinterlist sich tot zu stellen pflege, um einem genau in dem Augenblick, da man anfange zu blasen, ins Gesicht zu springen; endlich dem Bruder pyrotechnische Erörterungen über Lauffeuer, Feuerteufel und Erdminen gönnend, nebst den Rezepten und Handgriffen für die Zubereitung eines jeden dieser Gerichte.

Nachdem Hansli mit begeistertem Blick nicht bloß die blindeste Disziplin zugesichert, sondern überdies Überraschungen der Klugheit in Aussicht gestellt, machten sie sich gierig ans Werk, worauf binnen kurzem unter ihren Schwarzkünsten die stille Felsenklause sich in eine donnernde, flammende und qualmende Hölle verwandelte, in welcher die beiden Kadetten wie zwei verklärte Salamander wirtschafteten. Fauchend pufften die Lauffeuer um den Sims des Gemäuers, blitzgeschwind, in abenteuerlichen Schlangenwindungen, gefolgt von träge nachkriechenden Wolkenkarawanen. Blutrote Funkengarben entsprühten zischend und knatternd den Feuerteufeln, höllisch anzusehen, doch gänzlich ungefährlich – man durfte sogar das Gesicht darüber halten; ohnmächtige, selbstmörderische Vesuve, weiter nichts. Das Herrlichste [17] aber waren doch die Minen. Freilich, Zeit brauchten sie! Zeit! Oder was meint ihr denn? Ohne Schaufel und Pike die Erde auszuhöhlen, einzig mit den Fingern und einem kleinen Taschenmesser, das macht sich nicht so schnell! Und dann hernach noch Gras und Blätter, Reiser und Steine herbeischleppen, aus allen Weltgegenden, zum Auffliegen – wenn ihr glaubt, das gehe nur so im Handkehrum, so täuscht ihr euch gewaltig. Allerdings wurde man dafür auch belohnt. Der Knall, wenn die Mine krachend aufflammte! Und die Vergnügungsflüge der wie verrückt herumwirbelnden Hölzer und Kiesel in der Luft! Und wenn das Feuerwerk von Knall und Flug fertig war, kam erst noch das Beste: ein schwarzlockiger Rauchball bolzgerade über die Buchenwipfel steigend, gefolgt von kleinen verspäteten Erdbeben, und ganz zuletzt wuschelten noch einige Pulverwölklein gleich Maulwürfen durch das Moos. Jedesmal, wenn eine Mine aufgeflogen war, sprangen sie hinzu und tanzten im Rauch; wenn vollends ihnen nachträglich noch vereinzelte Hölzer und Steinchen um die Köpfe kartätschten, so wußten sie sich vor wahnsinniger Wonne und Bruderliebe gar nicht mehr zu helfen. Überhaupt, wie zeigt man eigentlich seinem Bruder, daß man ihn gern hat? In dieser Zweifelsnot fraßen sie Pulver und fletschten einander mit dem Schwefelatem an. Vielleicht war das nicht der übliche Ausdruck der Sympathie, gleichviel, sie verstanden sich in dieser Sprache.

»Das knallt schön!« erscholl eine tiefe Männerstimme, als sie eben wieder eine Mine losgelassen hatten. Und wie sie sich umsahen, hielt ein Landjägerwachtmeister mit Ehrenzeichen auf der Brust und goldenen Schnüren am Ärmel hinter ihnen. Gerold stand vor Schreck versteinert, und Hansli hockte, er wußte selbst nicht wieso, plötzlich auf einem Felsblock oben. »Wir tun nichts Böses«, kreischte er von dort, »der Onkel Dolf hat es uns erlaubt.« Der Wachtmeister beruhigte sie lächelnd. Ein Landjäger, belehrte er, bedeute nicht notwendig das Gefängnis, ein [18] solcher habe auch noch andere Obliegenheiten in der Welt. Zum Beispiel seien die Landjäger die Untergebenen des Regierungsstatthalters, welcher sie, wenn er wolle, unter anderm zum harmlosen Botendienst benütze. »Mazzmann ist mein Name, und der Statthalter von Schönthal, euer Götti, hat mich geschickt, nachzusehen, wo ihr bleibet und ob euch nicht etwa ein Unglück zugestoßen sei, oder ob ihr euch vielleicht verirrt habet. Ich könnte nicht gerade behaupten, daß es schwierig gewesen wäre, euch zu finden, man hat ja das Pulvern fast bis auf die Landstraße gehört und den Rauch über den Bäumen gesehen. Doch kommt jetzt; ihr werdet Hunger haben.« Das war eine Idee; Hunger, ja Hunger hatten sie.

[19] Beim Götti Statthalter

Wie er lachte, der Götti Statthalter, als er ihnen bei den ersten Häusern von Schönthal entgegenkam! lachte, lachte, schon von weitem, mit einem aus tiefster Brust schallenden Gelächter, daß man, ob man wollte oder nicht, mitlachen mußte. »Ihr seid ja Mohren!« rief er ihnen zu. Dann lärmte er alles Volk links und rechts aus den Häusern und zeigte mit den Fingern nach den herankommenden Kadetten. »Die schaut an, die, die!« donnerte seine Löwenstimme, »das, das, das sind doch einmal echte, wahre, gesunde, unverdorbene Buben! so, so, so sollten sie sein.« Dazu knirschte er, ballte die Fäuste und blickte zornig in die Ferne.

Zum Gruß nahm er den Hansli auf seine linke, den Gerold auf seine rechte Seite und drückte sie zärtlich gegen sich, so daß seine weiße Weste ganz schwarz von dem Abdruck ihrer Pulverköpfe wurde. »Wieviel Uhr meint ihr eigentlich, daß es sei?« schmunzelte er mit pfiffigem Augenzwinkern. »Elf Uhr!« riet der Kleine, »ein Uhr!« steigerte Gerold. – Wiederum entließ der Götti fröhliches Gelächter. »Habt ihrs gehört?« rief er unter die Leute, »elf Uhr! ein Uhr! – Zieht doch einmal meine Uhr aus der Tasche und seht nach.« »Vier Uhr«, meldete Hansli verblüfft. »Die Uhr geht nicht«, versetzte Gerold geschwind, mit gescheitem Blick. »So halt sie ans Ohr.« Sie ging. Jetzt strich er ihnen zärtlich über die Wangen. »Gute Buben«, schmeichelte er, mit kosendem Ton, etwa so, wie man zu einem Pferde spricht, während man ihm den Hals streichelt. Und auf dem ganzen Weg bis zur Statthalterei mußte klein und groß heraus, um die gesunden, unverfälschten Naturbuben zu bewundern.

»Halt! still! kein einziges Wort des Vorwurfs!« wehrte er einer schwachen, blassen Frau, die mit entsetztem Gesicht und [20] erhobenen Armen aus der Statthalterei hervoreilte, »nicht eine Silbe des Tadels! Ich würde dem Himmel auf den Knien danken, wenn einer der Buben da mein Sohn wäre, statt –« Den Rest des Satzes verschluckte er, doch seine Augen rollten vor Zorn und Haß. Die schwache Frau aber kehrte um und verschwand. »Haltet euch nur an mich«, sagte er hierauf vertraulich zu den Kadetten, »meine Frau meint es ja gewiß seelengut, allein vom Kindergemüt versteht sie so wenig wie die übrigen Frauen, wenigstens wenn es sich um Knaben handelt.«

Als er jedoch die beiden nur so an den Eßtisch setzen wollte, der draußen fast auf der Straße zwischen den Oleanderbüschen gerüstet war, erschien seine Frau wieder, um Einspruch zu erheben, zwar mit tonloser, beinah versagender Stimme, doch mit zähem, entschlossenen Willen. Sie dulde und erlaube es ein fach nicht, daß jemand in so verwahrlostem Zustande mit kohlschwarzen Gesichtern und Händen und zerrissenen und staubigen Kleidern sich an den Tisch setze; erst müßten die Kinder gewaschen und notdürftig hergerichtet werden und überhaupt wieder halbwegs menschlich und anständig aussehen. Und behielt schließlich die Oberhand, trotz dem Achselzucken des Statthalters und seinem Maulen über die Herzlosigkeit und Grausamkeit des weiblichen Geschlechtes.

Also wurden die Kadetten in eine Schlafstube neben dem Höfchen befördert, dort von der Statthalterin und der Monika ausgezogen, ihre Kleider zum Schneider, ihre Schuhe zum Schuhmacher geschickt (»aber sofort! und so geschwind als nur möglich, nur das Allernotwendigste, denn in einer Stunde müßten die Kinder wieder verreisen«), sie selber, einer nach dem andern, Gerold voran, auf den Tisch gestellt, eingeseift, gekämmt, gestriegelt und gebürstet. Während dieses Geschäftes hörte man durch die Wand den Statthalter im Nebenzimmer spektakeln: »Ihr, der Ihr einen Kutscher vorstellen wollt, und noch dazu einen herrschaftlichen, Ihr solltet doch wissen, daß man einem [21] Pferd, ehe man es anspannt, zu fressen gibt; geschweige denn einem Menschen.« Ob er denn keinen Funken Gefühl in der Brust habe, daß er zweien armen unschuldigen Kindern, die von morgens acht Uhr bis nachmittags vier Uhr nichts im Magen gehabt haben, zumute abzureisen, ehe sie gegessen hätten.

Der Kutscher schien etwas zu erwidern, was man nicht verstehen konnte. »Das ist nichts als elendes, faules, einfältiges Geschwätz«, lärmte der Statthalter weiter, »Ihr kommt noch bequem nach Bischofshardt. Im Gegenteil, in der Abendkühle gibt es weniger Staub, und die Bremsen sind den Pferden nicht mehr so aufsässig. Nur ein Tierquäler ohne Herz und Gemüt kann auf den Einfall kommen, bei dieser infernalischen Hitze ein paar arme unschuldige Rößlein auf der Landstraße in Schweiß zu jagen. Und dem Wagen wird es wohl auch kein Rad abknappen, wenn er noch ein Viertelstündchen wartet.«

Dann blieb es eine geraume Weile still nebenan. Hernach tönte es: »Guten Abend, Herr Statthalter.« »Guten Abend, Herr Balsiger; was gibts Gutes? womit kann ich aufwarten?« »Ich glaube, Herr Statthalter, es ist besser, wir lassen Gesima allein abfahren, und die Buben kommen morgen vormittag mit der Post nach; falls Sie etwa nicht Platz für beide haben sollten, so bin ich gerne bereit, den einen von ihnen, oder auch beide, über Nacht zu mir zu nehmen.«

»An und für sich hätte ich durchaus nichts dagegen, daß die Buben die Nacht in Schönthal blieben«, antwortete der Statthalter nach einer kleinen Pause, mit nachdrücklicher Betonung, »denn es sind brave, gesunde, unverdorbene Buben. Sie sind mir auch nicht feil, niemand braucht sie mir abzunehmen. Aber bei mir heißt es: ein Wort ist ein Wort; es ist zwischen uns abgemacht worden, sie sollten heute mit Gesima in des Landammanns Wagen nach Bischofshardt fahren.«

»Bei mir heißt es ebenfalls: ein Wort ist ein Wort. Aber es war abgemacht worden, um zwei Uhr werde man fahren, und [22] jetzt ist es bald fünf, und bis die Buben gegessen haben, kann es sechs Uhr werden.«

»Sechs Uhr ist nicht zu spät; in zwei Stündlein ist ein Wagen von hier in Bischofshardt.«

»Meinetwegen, so sei es sechs Uhr, wenns nicht anders sein kann; aber dann muß ich dringend bitten, nicht eine Minute später.«

»Auf eine Minute früher oder später wirds auch nicht ankommen.«

»Ich bitte um Verzeihung, wenn es um vier Stunden Verspätung nicht angekommen ist, so kommt es schließlich auf eine Minute an.«

Jetzt erhob plötzlich der Statthalter seine Stimme zum donnernden Gebrüll, daß die Wände zitterten: »Herr Balsiger, ich bin ein einfacher Gemütsmensch. Aber wenn ich auch von Kunst und Ästhetik und Klassik und all dem überspannten Zeug nichts verstehe, so weiß ich doch, was recht und unrecht ist, und vielleicht besser als mancher, der sich wunder wieviel auf seine Bildung zugute tut. In welchem Gesetz, Herr Balsiger, steht denn geschrieben, daß ich nicht ebensogut ein Anrecht auf ein wenig Freude in der Welt haben sollte wie ein anderer? Bis dato kenne ich keinen solchen Paragraphen. Aber das hätte ich nicht von Ihnen erwartet, Herr Balsiger, daß Sie mir geizig und neidisch die Minuten vorrechnen würden, um mir das Stündchen Gegenwart der braven Naturbuben zu verkürzen. Ich bin ein Gemütsmensch, Herr Balsiger, ich habe auch einen Lichtblick nötig. Woher aber soll ich den sonst beziehen? Jedenfalls nicht von meinem Max. Weshalb übrigens gerade ich dazu verdammt bin, einen solchen Duckmäuser zum Sohne zu haben, ist mir noch heutigen Tages ein Rätsel. Da machen sie ein gewaltiges Wesen und Geschrei über den Sentisbrugger Dolf wegen ein paar Liebeleien und einiger lumpigen tausend Franken Schulden. Ich tauschte mit Vergnügen den Max gegen den Dolf. An dem Dolf ist doch wenigstens [23] Natur und Rasse, und wenn er auch ein bißchen über die Schnur haut, mein Gott, das sind Jugendstreiche, die man strafen, aber auch verbessern und verzeihen kann, und oft geben die wildesten Füllen später die besten Rößlein. Dagegen so ein weibischer, saft- und kraftloser Kopfhänger, der einem nicht ehrlich und offen in die Augen sieht, vom Morgen bis zum Abend in den Wäldern herumschleicht, sich von aller Welt absondert, an keinem gesunden körperlichen Spiel, an keinem fröhlichen Fest, an keiner Versammlung teilnimmt, sich besser dünkt als alle andern und doch hinten und vorn nichts ist und nichts kann – die Galle überläuft mir, wenn ich nur daran denke.«

»Daß wir zwei über Ihren Max verschiedener Meinung sind«, erwiderte der Herr Balsiger ruhig, »wissen wir schon lange. Doch jetzt ist nicht von Max die Rede, sondern von Gesima und den Buben. Ich wünsche einfach einen bestimmten Bescheid. Kann ich darauf rechnen, daß die Buben punkt sechs Uhr reisefertig sind? Wenn ja, gut, so wartet der Wagen; wenn nein, so laß ich Gesima allein fahren. Also, ich bitte um eine deutliche Antwort; ich denke, das wird wohl kein unbilliges Ansinnen sein. Oder?«

Da lenkte der Statthalter ein. »Gut, gut, einverstanden, ich habe ja nie im mindesten etwas dagegen gesagt. Aber die Kinder können ja ebensogut direkt von hier abfahren; schicken Sie doch einfach um sechs Uhr den Wagen zu mir. Und Gesima soll ein halbes Stündchen früher kommen, damit die drei Kinder Zeit finden, Freundschaft zu schließen.«

»Das hat etwas für sich. Also ich schicke ungefähr in einer halben Stunde die Gesima und um sechs Uhr den Wagen.«

»Abgemacht. Und nichts für ungut, nicht wahr, Herr Balsiger? Ich bin ein einfacher Gemütsmensch und verstehe nicht, meine Worte auf die Goldwaage zu legen. Auf Wiedersehen.«

»Auf Wiedersehen.«

All die Zeit, da der Statthalter redete, hasteten der Statthalterin [24] Hände, welche den Gerold pflegten, in aufgeregter Eile; wenn er mit der Antwort einsetzte, zuckte sie zusammen, als ob man ihr an einen hohlen Zahn rührte; erhob er die Stimme, so suchte sie den Atem; wie er aber gegen den Sohn wetterte, irrte sie fieberhaft in der Stube umher und faßte allerlei Gegenstände an, ohne zu wissen, was sie tat oder tun wollte.

Nachdem Gerold als erster säuberlich hergestellt und angekleidet war, entließ ihn die Statthalterin. »Sobald dein Bruder gleichfalls fertig ist, könnt ihr essen.« Der Götti Statthalter jedoch, empört über diese, ›Grausamkeit‹, befahl, dem Gerold sein Essen sofort aufzutragen, und als Monika dem Befehl trotzte, schickte er den Wachtmeister Mazzmann in die Küche, die Suppenschüssel zu holen, worauf Monika sich endlich herbeiließ. Nun bediente er eigenhändig den hungrigen Kanonier mit der Sorgfalt eines Krankenwärters, redete ihm beweglich Appetit zu, lobte ihn wegen seiner Natürlichkeit, liebkoste ihn mit weichen, schmelzenden Seufzertönen, wie wenn man einen Kanarienvogel lockt, damit er einem Zucker aus dem Munde nehme, so daß Gerold in Wonne und Freundschaft schwamm. Bis zum Gemüse, da änderte sich die Szene. »Das sind Rapünzlein«, schmeichelte der Statthalter, »oder Schwarzwurzeln, wenn du das besser verstehst. Die habe ich eigens für euch kochen lassen; liebst du die Rapünzlein?«

»Nicht gar so sehr.«

»Sags nur offen, du brauchst dich nicht zu fürchten, ich bin doch kein Tyrann. Ja oder nein?«

»Nein.«

Da schickte ihm der Götti Statthalter einen häßlichen, stechenden Blick zu: »Nun gut; es zwingt dich ja kein Mensch, sie zu essen, wenn du sie nicht magst. Aber was ich nicht leiden kann, das ist, wenn man sich ziert und Faxen macht und Komödie spielt. Da hast du die Rapünzlein, die du so gerne magst; also laß die Stempeneien, greif zu, iß, und laß dirs schmecken; es [25] sind genug da.« Hiemit häufte er ihm den Teller voll Rapünzlein, und Gerold mußte sie wider Willen aufessen.

»Es sind noch mehr da, falls du etwa wünschest. Willst du noch mehr? sags offen!«

»Nein, ich danke.«

Der Götti Statthalter runzelte die Stirn und rollte die Augen. »Gerold, Gerold«, drohte seine Stimme mit feindseliger Betonung, »ich habe dich bisher für einen gesunden, unverdorbenen, wahrhaftigen Buben gehalten. Was ich auf den Tod nicht ausstehen kann, das ist ein hinterhältiges, duckmäuserisches Benehmen. Also gesteh es ehrlich und aufrichtig, wenn du noch mehr begehrst, und sag nicht nein.« Und schob ihm abermals den gehäuften Teller voll hin. So oft Gerold, der einfach nicht mehr konnte, mit Essen einhalten wollte, warf ihm der Götti einen hässigen Blick zu, wenn er dagegen weiter würgte, nannte er ihn einen guten, braven Buben. Schließlich, als es dem angsterfüllten Opfer gelang, sich von dem halsnotpeinlichen Stopftisch zu retten, »Gelt, wir zwei verstehen einander?« triumphierte der Götti Statthalter, hängte ihm eine Flinte über die Schulter, drückte ihm ein Signalhorn in die Hand: »So, jetzt spaziere das Dorf hinab und zeig dich.«

Gehorsam spazierte Gerold durchs Dorf, mitunter einen Ton durch das Signalhorn tutend. Dabei geriet er an einer höllisch tosenden Fabrik vorüber, auf den Turnplatz; dort setzte er sich auf die Wippschaukel, und blieb halt von selber sitzen, die Glieder ein wenig müde, der Körper schwer, die Seele schläfrig, der Blick von einer Steinkugel gefesselt, die in der Lohe lag und merkwürdige Wunder von Licht und Schatten offenbarte. Da rasselte der Sentisbrugger Postwagen mit dem Marti auf dem Bock an ihm vorüber und hielt zwei Häuser weiter unten still.

»Ich hatte gemeint, ihr wäret schon längst schnurrentum kurrentum in Bischofshardt«, rief ihm der Marti zu, während er vom Bock sprang.

[26] Den Postwagen mochte er sich näher ansehen. Dieser beneidete gelbe Wagen also hatte noch vor einer Stunde das Glück, das Haus der Großeltern zu schauen, oder, wer weiß, vielleicht sogar den Großvater und die Großmutter selber oder den Onkel Dolf! Und der Staub hier auf seinem Schulterleder ist Staub von Sentisbrugg! Und wie sonderbar: nach ihm von Sentisbrugg abgefahren, jetzt mit ihm gleichzeitig hier und in einigen Minuten vor ihm weg nach Bischofshardt! Ein eigentümliches Denkgefühl, als stieße die Vergangenheit mit der Deichsel neben ihm vorbei der Zukunft ein Loch in den Rücken.

Während seines Rundgangs um den Wagen schenkte er dem Inhalt einen Blick. Hinten in der großen Omnibusabteilung war nichts Lohnendes: farbloses, graubraunes Volk. Dagegen vorn im Sonntagsbehälter, oder, wie der Marti ihn taufte, im »Affenkasten«, wo die Nixverstandewu einzusteigen pflegten, saß ein feines, junges Dessertmenschenpaar, die Frau mit einem Gesicht wie eine Prinzessin aus dem Märchen, obwohl ganz einfach gekleidet, und der Herr hatte Augen, welche mehr Augen waren als andere Augen. Diese Menschen nun gefielen ihm; deshalb stieg er auf den Wagentritt und steckte den Kopf durch das Fenster, um sie sich anzuschauen; da winkten sie ihm beide freundlich lächelnd zu. Als sie aber anfingen, im verstohlenen sich zu umschlingen wie die Schlangen und einander abzuküssen, schämte er sich und trat vom Postwagen zurück.

Jemand schupfte ihn an die Schulter: der Hansli.

»Sie ist jetzt da.«

»Wer?«

»Das Modegeschöpf, das Mädchen, die Gesima.«

»Wie sieht sie aus?«

»Lächerlich: eine rote Mähne bis ans Ende der Welt, eine Kappe ohne Schirm auf dem Kopf wie ein Teller, ganz dünne Beinchen und ein schwarzweißer Rock wie ein Damenbrett.«

Und beide lachten laut auf ob solch einer Menge komischer [27] Eigenschaften. Dann zogen sie heim, um sich an der possierlichen Gestalt des kuriosen Modegeschöpfes zu erlustigen.

Ein prachtmäßiger, himmelblauer Zweispännerwagen wartete vor der Statthalterei mit einem ebenso blauen Kutscher auf dem Bock, der eine unendlich lange Geißel steif aufrecht hielt wie ein Ulan die Lanze; aber er schien schlechter Laune und hatte einen ganz roten Kopf. Ob sie nicht wüßten, wann man endlich abfahren könne, fragte er die Buben, ohne sich nach ihnen umzudrehen oder auch nur den Kopf zu bewegen, und worauf man denn eigentlich noch warte.

Ehe sie ihm jedoch antworten konnten, kam der Götti Statthalter aus der Haustür geschnoben:

»Dieses verdammte Zappeln und Drängen und Zwängen habe ich nachgerade bis zum Halse satt. Ich bitte um höfliche Antwort auf eine höfliche Frage: Wer hat hier dem andern zu befehlen? der Kutscher dem Regierungsstatthalter? oder der Regierungsstatthalter dem Kutscher?«

»Ich bin dem Herrn Landammann Weißenstein sein Kutscher. Der Herr Landammann hat mir befohlen, spätestens um sechs Uhr mit den Kindern in Bischofshardt zurück zu sein; jetzt ist es halb sieben, und wir sind noch immer in Schönthal.«

»Mit dem Landammann werde ichs schon ausmachen; das geht mich an. Ihr habt Euch nicht darum zu kümmern.«

»Ich habe mich freilich um den bestimmten Befehl meines Dienstherrn zu bekümmern.«

»So fahrt denn! fahrt! fahrt in des Teufels Namen! wenn Ihrs vor Bauchweh nicht länger aushalten könnt!«

»Ja, ists ernst gemeint? Darf ich mich darauf berufen, Sie hätten mir befohlen, ohne die Kinder heimzufahren?«

Jetzt zweifelte der Statthalter und zauderte; dann antwortete er in verträglicherem Ton: »Wer hat denn jemals behauptet, Ihr solltet ohne die Kinder fahren? Ich meinte bloß: fahrt einstweilen [28] ruhig und langsam gegen die Friedlismühle voraus, die Kinder kommen in einer halben Minute nach.«

Da lüpfte der Kutscher die Schultern, erhob die Geißel und setzte den Wagen in Gang.

Mit Wollust hatten die Buben dem Zank beigewohnt, nun aber, nach dem letzten Aktschluß, stürmten sie ins Haus. »Im Höfchen ist sie«, belehrte Hansli; deshalb bogen sie vom Hausgang in die Schlafstube, um von dort das Modegeschöpf fürs erste einmal unbemerkt zu beobachten.

Richtig, da war sie leibhaft im Höfchen, auf einem Paar riesiger Stelzen zwischen den Kapuzinerblumenbeeten umherhopsend, daß ihre rote Mähne hoch über das Läubchen hinweg die Luft fegte, wie der Turbanschweif eines galoppierenden Pascha.

Mit Siebenmeilenschritten gabelte sie den Wänden entlang, bald tiefer, bald höher steigend und die hölzerne Schere regelmäßig auf- und zuklappend; schwenkte dann stolpernd nach der Mitte, beschrieb dort mit den Zirkeln zwei Viertelskreisbogen, einen links herum, den andern rechts herum, und spreizte endlich die steifen Storchenbeine spazierend auf dem Fleck, wie die Rekruten beim Strafexerzieren, indem sie zugleich ein Liedlein von ihrer Staffelei erklingen ließ.

Vor Zeiten, als sie noch ein lutschendes Sabbelfräulein gewesen, sang sie, habe sie mit einem Kadetten vorlieb genommen. Seit sie jedoch die Schule besuche, fordere sie, wie billig, einen fertigen, garantierten, patentierten Offizier. Der müsse sich indessen sehr beeilen, denn wenn sie einmal in Pension käme, sei dann ein Major das Allerniedrigste, womit sie sich begnüge; billiger könne sie es unmöglich geben.

Das Liedlein reimte sich, und zur besseren Behauptung markierte sie jeweilen den Gleichklang mit den Stelzfüßen.

Am Schlusse, nachdem sie gesungen hatte: »Aber wirklich zum Altar führt mich bloß ein General«, stampfte sie mit den Krücken.

[29] »Nicht ›General‹«, rief sie, »sondern ›Generar‹.«

Dann variierte sie: »›Aber wirklich zum Altal‹ – Ach was Manschetten!« lachte sie, wischte mit den Stolperstöcken über das Pflaster, als ob sie die Spuren des Unsinns aus dem Gedächtnis tilgen wollte, und nahm endlich, mutwillig trällernd, ihren gigantischen Rundgang wieder auf.

Ob diesem Lustspiel sahen die Brüder einander ins Gesicht und brachen gleichzeitig wie auf Verabredung in ein schallendes Hohngelächter aus; dann betraten sie das Höfchen.

Sobald Gesima die Kadetten erblickte, hüpfte sie flugs mit geschlossenen Fittichen vom Stapel, wie der Sperling vom Sims, und während hinter ihr die Stelzen langsam die Waffen streckten, stand sie schon dicht vor den Knaben, in bescheidener Haltung, vertrauensvoll mit ausholendem Arm die Hand darbietend, die Fläche nach unten.

Sie nahmen jedoch den Gruß nicht an, sondern stemmten die Fäuste auf die Hüften und umgingen prüfend den seltsamen Käfer, worauf sie ihrem Ergötzen abermals mit Hohngelächter Luft machten.

»Böse Buben!« schalt Gesima, vor dem schimpflichen Empfang flüchtend.

In diesem Augenblick tönte ein schriller Pfiff durch das Haus, ein das Ohr verletzender, das Herz beleidigender Befehlspfiff, wie man ihn einem ungehorsamen Hunde nachpfeift. »Schnell, schnell, ihr Buben!« mahnten erschrockene Stimmen aus dem Hause, »der Götti Statthalter hat gepfiffen.«

Der Götti Statthalter saß schreibend in seiner Amtsstube, in schöner, aufrechter Haltung, die Zigarre im Mund, mit zufriedener Miene. »Setzt euch«, lud er ein, auf zwei Stühle links und rechts an seiner Seite deutend. »Aber ihr dürft euch nicht bewegen, solang ich schreibe, denn das stört mich.« Und fuhr fort zu schreiben. Nach einer Weile bemerkte er milde: »Ein anderes Mal, wenn ich wieder pfeife, bitte ich mir aus, daß ihr im Sturmschritt [30] gesprungen kommt und nicht erst alle möglichen anderen Beschäftigungen vornehmt. Sie laufen euch ja nicht davon.«

»Wir wußten halt nicht, daß das Pfeifen uns gelte«, entschuldigte sich Gerold.

»Ich mache euch auch keinen Vorwurf«, erwiderte der Götti sanft, »ich sage bloß, ein anderes Mal müßt ihr schneller kommen. – Und hier ist für jeden von euch ein Fünffrankentaler. – Schon gut, schon gut, es braucht keinen umständlichen Dank. – Aber so bleibt doch sitzen! Ihr dürft zusehen, wie ich schreibe, nur müßt ihr euch ruhiger verhalten als bisher.«

Die Statthalterin näherte sich auf den Fußspitzen dem Schreibenden. »Hast dus befohlen, der Wagen solle fortfahren?«

»Der Wagen ist fortgefahren und ist nicht fortgefahren.«

»Wenigstens ist er nicht mehr da.«

»Liebste, beste Frau, wenn du nur nicht immer künstlich Schwierigkeiten schaffen wolltest, wo keine sind; überlaß das ruhig mir; ich habe alles besorgt.«

»Aber ich muß doch wissen, ob die Buben hier bleiben oder nicht, damit ich die Betten rüsten kann.«

»Laß mich nur erst schnell den Brief fertig schreiben, dann will ich dir alles erklären.«

Jetzt polterte Monika herein, rücksichtslos, mit Trampeltritten. »Der Karl, der Reitknecht von Balsigers, ist da«, meldete sie rufend, »er solle die Gesima heimholen.«

»Er soll, was ich ihm sagen werde. Zunächst soll er einmal hereinkommen. – Und was tut denn die Gesima allein im Hause? warum ist sie nicht bei den Buben? Ruft sie doch. Und holt mir die Pantoffeln, Monika. – Mazzmann, bist du da?«

»Hier, Herr Statthalter.«

»Würdest du so gut sein und diesen Brief im Vorbeigehen auf die Post tragen?«

»Mit Vergnügen, Herr Statthalter.«

»Wo ist der Landjäger Weber?«

[31] »Nebenan im Wachtzimmer.«

»Schick ihn her. – Aha, da bist du ja, Gesima. Nun, wie stehts mit Leib und Leben? Freust du dich, mit den Buben zu reisen, oder fürchtest du dich etwa vor ihnen?«

Gesima schnellte einen prüfenden Blick nach Gerold, einen zweiten nach Hansli, dann lächelte sie: »O nein, ich fürchte mich nicht vor ihnen.«

»Du bist ein vernünftiges Mädchen, gescheiter als manche Erwachsene; gelt, du begreifst, nicht wahr, daß gesunde Naturbuben nie böse sind; böse sind nur die Duckmäuser – Ihr, Karl, was begehrt Ihr?«

»Herr Direktor Balsiger hat mir aufgetragen, das kleine Fräulein heimzuholen, nachdem Ihr den Wagen fortgeschickt hättet.«

»Das hat Euch der Herr Balsiger unmöglich aufgetragen; Ihr müßt ihn falsch verstanden haben. Denn erstens war der Wagen überhaupt nicht fortgefahren, und zweitens ist zwischen mir und dem Herrn Balsiger etwas anderes abgemacht worden. Geht nur heim – die Gesima bleibt hier, – und sagt dem Herrn Balsiger, ich lasse ihm sagen, es bleibe bei dem, was abgemacht worden ist.«

Der Reitknecht zögerte. »Ich möchte mir erlauben, höflich zu bemerken ...«

»Hier ist gar nichts weiter zu bemerken, es ist alles deutlich und klar. Adieu. – Ihr, Weber, Ihr seid ein zuverlässiger Bursch. Ihr begleitet die drei Kinder bis zur Friedlismühle, wo der Wagen des Landammanns auf sie wartet. Ihr könnt ja den Weg durchs Höfchen über die Wiesen nehmen, er ist kühler und weniger staubig und nur ein ganz geringer, unbedeutender Umweg. – Aber jetzt, Kinder, auf die Reise! hüpp, huppla, hopp! es ist die höchste Zeit! worauf wartet ihr eigentlich? Und bitte keine unnützen Zeremonien und Abschiedssentimentalitäten, die kann ich nicht leiden. Huppla, vorwärts, marsch!« Und schob die Kinder in den Hausgang.

[32] Die Statthalterin trat ihm zaghaft in den Weg. »Aber bist du denn auch vollkommen sicher«, wagte sie, »daß der Wagen wirklich in der Friedlismühle wartet? hast dus dem Kutscher auch deutlich genug gesagt?« Ehe er antworten konnte, brach sie plötzlich in krampfhaftes Weinen aus, daß sie sich an ihn halten mußte. Mitleidig lehnte er sie an seine Brust und redete gütig auf sie ein, mit sanfter, tröstender Stimme: »Es sind die Nerven; du spürst die Hitze und das Gewitter in der Luft. – Weißt du was: leg du dich ein halbes Stündchen ruhig aufs Bett, das wird dir gut tun.« – Dann rief er mit Donnerstimme: »Monika, ist der Max, der Schleicher, noch immer nicht heim?«

[33] In der Friedlismühle

Sie wanderten, eines hinter dem andern, auf dem schmalen Wiesenpfade durch ein samtnes Bödeli wie eine lustige Blumenschnur auf einem schwarzgrünen Teppich; zuvorderst Gesima, dann Hansli, hernach Gerold, zuhinterst der Landjäger Weber, immer der Hintermann größer als der Vordermann, wie die Orgelpfeifen. Gesima versuchte mit Frägeln ein Gespräch anzubahnen: wie lange sie Ferien gehabt hätten und ob es schön gewesen sei in Sentisbrugg und ähnliches, erzielte jedoch keine Antwort. Darauf kehrte sie sich um und bot ihnen Schokolade an; das war nun verführerisch, doch die Kadetten blieben stark und schüttelten die Köpfe.

Dieses Betragen mißfiel dem Landjäger Weber. Sie sollten doch nicht so stumm und bockig einherstiefeln, mahnte er, sondern galant sein und ihrer anmutigen Gefährtin etwas Artiges sagen.

»Wir sind nicht galant«, riefen sie patzig.

Drüben auf der Landstraße, aus einem großen, einzelstehenden Hause, worauf mit gewaltmäßigen Buchstaben geschrieben stand ›Amadeus Stämpfli, Leuenwirt‹, quiekte eine blutleere Tanzmusik: eine Klarinette, eine Trompete und eine Brummgeige. Gesichter zeigten sich an den Fenstern. »He, Weber, wohin?« »Mach Feierabend!« »Komm tanzen, die Eva ist da.«

Jetzt defilierte der Landjäger übers Gras nach vorn und hielt den Kindern eine Ansprache. Sie hätten jetzt nur noch zehn Minuten bis zur Friedlismühle, verkündete er ihnen, und könnten selbst mit dem besten Willen den Weg nicht verfehlen. Wenn sie aus der Klus auf die Landstraße kämen, brauchten sie bloß rechts zu kehren und der Landstraße zu folgen, so würden sie [34] mit der Nase an die Friedlismühle stoßen. Nach diesem Spruche bog er in die Weiden, übersprang das Bächlein, schlich über die Fahrstraße und verschwand in dem gastlichen Rachen des Leuen.

Kaum war er außer Sicht, so schritten die tapfern Kadetten stracks zum Angriff.

Gerold zerrte dem Mädchen das schwarzweiße Barett, das sie schwebend auf dem Hinterhaupte trug, über die Stirn mit der barschen Bemerkung, ein Hut gehöre auf den Kopf, nicht dahinter. Zugleich mit der Mütze wanderte jedoch ein Lockenbusch über die Schläfe, welcher nun krausemause über die Augen wehte, weshalb er jetzt zu einer mühseligen Abhilfe genötigt war, indem er jedes Härchen einzeln unter den Rand des Barettes zurückdrängte. Wenn er aber eines glücklich untergebracht hatte, kamen an einem andern Orte sechs neue boshaft zum Vorschein, so daß er mit dem Coiffieren gar nicht fertig wurde.

Während er sich noch damit abplagte, rückte Hansli auf den Plan. Sie solle ihm die Alpen hersagen, heischte er protzig. Gesima faßte den Horizont ins Auge und zählte ohne Zaudern: »Jungfrau, Eiger, Mönch, Schreckhorn, Wetterhörner, Finsteraarhorn, Blümlisalp.« Und was sie benannte, bezeichnete sie zugleich mit dem Finger.

Hansli sah scharf nach, ob sie nicht etwa pfusche. Als jedoch jede Zacke ihren zugehörigen Namen erhalten hatte, urteilte er gnädig: »Gut, mein Kind, du kannst deine Geographie! Jetzt wollen wir indessen erfahren, wie es mit der Multiplikation steht. – Aufgepaßt! Wieviel macht zwölf mal sieben?« trat jedoch verblüfft zur Seite, da sie das Exempel schneller im reinen hatte als er selber.

Nun nahm Gerold, der inzwischen zerstreut nach den Schneebergen gegafft hatte, das Verhör auf. Wie hoch das Finsteraarhorn sei, prüfte er.

»Wenn du oben bist, kannst dus sehen.«

[35] Empört über diese ungebührliche Antwort, runzelte er drohend die Stirn und ballte die Faust. »Der kommt zeitlebens nie aufs Finsteraarhorn«, höhnte Hansli, »höchstens aufs Faulhorn.« Jetzt wendete Gerold seine drohende Stellung gegen den Bruder. Da klang in der Ferne ein Vesperglöcklein, auf- und abflackernd wie der zitternde Silberblitz eines Bächleins zwischen den Erlen. Sofort intonierte der Kanonier mit dröhnender Stimme: »Goldne Abendsonne.« Flugs fiel Hansli ein, Gesima stimmte ebenfalls zu, und so zogen sie alle drei singend aus der Klus auf die Landstraße, Gesima jetzt in der Mitte, die Buben zu beiden Seiten.

Ein haushoher Lastwagen, mit sechs normännischen Nilpferden bespannt, knarrte schwerfällig vor ihnen her, der Fuhrmann in gebückter Haltung neben den Tieren einherkeuchend, als ob er ihnen müßte schleppen helfen. Er gab den Kindern seine Befriedigung über ihren lieblichen Gesang kund, welcher dem Herzen wahrhaft wohltue, erlaubte sich dagegen über ihre Erscheinung eine freche Bemerkung. Sie sähen nebeneinander aus, meinte er, und machte ein geistreiches Gesicht, wie die Schaufeldame zwischen dem Herzkönig und dem Ecksteinbuben.

»Und dem Schwarzpeter davor«, ergänzte Gesima spitzig. Der Fuhrmann belobte das Mädchen wegen ihrer Schlagfertigkeit und erkundigte sich nach ihrem Namen. Mit dieser Frage entfachte er jedoch Zank. Nämlich die Knaben behaupteten, Gesima wäre ein häßlicher Name, wogegen Gesima einwandte, was häßliche Namen betreffe, so seien jedenfalls Gerold und Hansli häßliche Namen, denn wenn sie schöne Namen hätten, würden sie Artur und Oskar heißen.

Er möchte indessen durchaus nicht etwa der Anlaß sein, verwahrte sich der Fuhrmann, daß sie ihren Gesang seinetwegen unterbrächen; im Gegenteil, falls sie nichts dawider hätten, wolle er gerne mithelfen, so gut oder so schlecht er es verstände.

Die Kinder erklärten den Zuschuß eines Basses für annehmbar, und nach kurzer Verständigung sangen sie alle vier mit [36] vereinten Kräften: »Es zieht mich in die Ferne.« Der Fuhrmann grölte greulich, allein das verdroß ihn nicht. »Falsch!« strafte Hansli jedesmal, wenn er einen Fehler machte. Später suchten sie wieder ein anderes Lied zusammen und so fort, indem jeder aus seinem Gedächtnis hervorklaubte, was zum gemeinschaftlichen Konzert taugen mochte.

So oft ein Quartett verklungen war, umkreiste der Fuhrmann einmal seinen Wagen, um den Rossen ein melancholisches »Hü« zuzurufen und ihnen mit dem Peitschenstock den Takt anzudeuten; hernach gesellte er sich wieder zu seinen Kameraden, um sich das Losungswort zu einer neuen Nummer zu holen. Bisweilen ließ er auch die Pferde ein wenig ausschnaufen, während er sich an den Rädern zu schaffen machte. Man könne nie wissen, entschuldigte er das Versäumnis, ob man je wieder einmal zusammenkäme und wie viele von ihnen das nächste Jahr um diese Zeit noch am Leben seien. Aber er fürchte, es gäbe morgen ander Wetter. Es gefalle ihm nicht, wenn man die Alpen gar so schön sehe, daß man meine, man könne sie mit den Händen greifen wie einen Zuckerstock, und der Himmel sei ihm auch viel zu bunt, gerade wie wenn ein Flachmaler seinen Farbentopf darüber geworfen hätte.


Die Fledermäuse segelten schon um die Dächer, als die Kinder mit dem Fuhrmann bei der Friedlismühle anlangten. Auf der stattlichen Freitreppe standen die Wirtsleute übereinander postiert, wie die Altersstufen in einem Bilderbogen. Mit erhobenen Armen riefen sie den Ankommenden entgegen, wohin sie wollten, bei Nacht und Dunkel. Und auf die Antwort, der Statthalter hätte ihnen gesagt, der Wagen des Herrn Landammann warte auf sie bei der Friedlismühle, kam der Bescheid: »Davon hat der Kutscher nicht das mindeste gewußt, kein Mensch hat ihm deutlich gesagt, was er machen soll; ein halbes Stündchen hat [37] er noch hier gewartet, für alle Fälle, dann ist er eben heimgefahren, in der Meinung, ihr würdet heute nacht noch in Schönthal bleiben.«

»Das gleicht wieder dem Statthalter!« tönte ein Ruf.

»Nun, da laß ich einfach schnell anspannen und die Kinder nach Schönthal zurückbringen. Oder, noch besser, ich fahre selber.«

Unterdessen hatte sich jedoch eine stattliche, ungewöhnlich große Jungfer an die Buben herangemacht. »Hat euch niemand in Sentisbrugg einen Auftrag nach der Friedlismühle gegeben?« flüsterte sie.

»Freilich«, sagte Gerold, »ich solle sagen, es sei alles in Ordnung.«

»Hast du etwa Briefe?« rief sie gierig.

»Ja«, antwortete er und kramte die Briefe hervor.

Trotz der Dunkelheit erbrach die Jungfer einen Umschlag mit fiebernden Fingern und fing an zu lesen. Plötzlich beging sie einen Freudensprung »Juchhu« und lief wie ein Windhund zurück die Treppe hinan, um die Briefe vorzuzeigen.

Jetzt änderten sich mit einem Male der Text und die Tonart. Sie könnten ja, hieß es, schließlich auch hier übernachten und morgen mit der Achtuhrpost nach Bischofshardt weiterreisen, sie seien ja hier gut aufgehoben und müßten morgen nicht so früh aufstehen, als wenn sie wieder rückwärts führen und von Schönthal die Post nähmen. Abgesehen von der unnützen Aufregung, die sie daheim verursachen würden, wenn sie in der Nacht plötzlich wieder in Schönthal ankämen. Es dauere doch immerhin eine kleine halbe Stunde, bis der Wagen angespannt wäre. Zur völligen Beruhigung könne man ja einen Knecht nach Schönthal schicken und den Herrn Balsiger und den Statthalter davon verständigen. Oder ob sie vielleicht etwas dagegen hätten, hier zu übernachten? An freundschaftlicher Fürsorge würde man es ihnen jedenfalls nicht fehlen lassen.

[38] Mit einem bedenklichen Fragezeichen im Gesicht wandte sich Gesima nach den Kadetten, ihnen stillschweigend die Antwort zuweisend. Hansli, dem die Aussicht auf unverhoffte Abenteuer das Herz verjüngte, stupfte den Bruder heimlich mit der Faust in den Rücken, einladende Grimassen schneidend. Auch Gerold mochte lieber in der Friedlismühle als in Schönthal übernachten, schon deshalb, weil ihm vor der gewalttätigen Freundschaft seines Götti Statthalter graute. Aber wieviel es denn kosten würde, erkundigte er sich bange, sie hätten nämlich jeder nur einen Fünffrankentaler bei sich.

Der Friedlismühlewirt lachte: »Ein Fünffrankentaler? Was meint ihr denn? Glaubt ihr, die Friedlismühle sei eine Räuberhöhle? Übrigens kostet es für euch gar nichts; ihr gehört ja jetzt sozusagen zur Familie, und ich betrachte euch alle drei zusammen als meinen lieben Besuch.«

Und ehe sie eigentlich eingewilligt hatten, wurden sie als Zustimmende behandelt und die Treppe hinauf geleitet. »Ihr dürft mich ›Therese‹ nennen«, raunte die große Jungfer vertraulich, »oder auch ›Tante‹, wenn ihr lieber wollt.«

»Lieber Therese.«

Der Friedliswirt in Person komplimentierte Gesima, die kostbare Kantonsprinzessin, wie einen Lotteriegewinst ins feine Gastzimmer. Die Kadetten dagegen baten sich die Gunst aus, sich in der Bauernstube niederzulassen; wegen des Tabakqualms, wegen des lauten, rauhen Stimmenlärms, wegen der scharrenden Stiefel; das wäre männlicher, kräftiger, behaupteten sie. Dort wurden sie dann von Therese in eine besondere, ausgezeichnete Ecke gesetzt und persönlich von ihr bedient. Und wie! Forellen! – Und immer wollte sie etwas Neues von Onkel Dolf wissen, was für ein Gesicht er zuletzt gemacht habe, und so weiter, mehr als sie selber wußten. Nachdem sie endlich alles ausgeforscht hatte, was herauszuziehen war, begab sie sich zu Gesima ins Herrenzimmer hinüber, kehrte aber von Zeit zu Zeit wieder zu ihnen [39] in die Bauernstube zurück, gleichsam als lebendiger Bindestrich zwischen dem Mädchen und den Buben.

Allmählich begannen die hinter dem Schoppen lagernden Bauern an den Kadetten mit Fragen zu stochern, woher sie kämen, wohin sie wollten, wie sie hießen, und so weiter. Ob ihre Urgroßmutter, die alte Gottebas Salome von Sentisbrugg, immer noch am Leben sei, erkundigte sich ein dürrer, hagebuchener Armenpfleger, während er sich mit den knöchernen Fingern hinter den Ohren kraute wie ein Kakadu. Und als sie dies mit großer Entrüstung als selbstverständlich bejahten, munkelte er: »So selbstverständlich ist das nicht; es ist schon manches Fröschlein kopfüber in den Schönthaler Wasserfall gehupft, seit das schöne Salomeli von Sentisbrugg mit dem jungen Schulmeister von Buchsingen auf der Burghöhe um die Wette gelaufen ist und dazu gesungen hat: ›Holderipantoffel, holderi, der Himmel ghört dem Herrgott, und d'Welt ist mi.‹ Wenn ihr eurer Urgroßmutter das nächste Mal guten Tag sagen wollt, um nachzufragen, ob es ihr jetzt mit ihren Beinen besser gehe, so müßt ihr sie hinter der Kirche aufsuchen, unter einem Rosmarinsträuchlein.«

Dagegen protestierten die Kadetten mit zornigem Knurren.

»Wie alt mag sie denn jetzt sein?« tönte eine Frage.

»Jedenfalls hoch in den Achtzigen, näher dem neunzigsten.«

»Die alte Bas Salome von Sentisbrugg?« ergänzte ein anderer. »Die ist ja Matthäi am letzten. Der Marti, der Postillon, hat es heut abend berichtet.«

»Das ist nicht wahr«, krähte Hansli, »wir haben ja heute noch mit ihr gesprochen.«

Einer Entgegnung wehrte Therese mit einem abmahnenden ›Bst‹, indem sie nach den Buben deutete; und rücksichtsvoll verstummte das Gespräch.

Der Fuhrmann aber nahm seinen Schoppen in die Hand und ließ sich mit den Worten: »Setz dich, liebe Emmeline«, neben [40] den Kadetten nieder. »Wo habt ihr denn eure feine Gesponsin gelassen? Gesima, oder wie sie heißt?«

»Auf der andern Seite, im Gastzimmer.«

»Wartet nur, bis sie einmal tausend Wochen alt ist, da würdet ihr gerne jeder einen Fünfliber zahlen, wenn ihr noch einmal mit ihr zusammen abends nach Sonnenuntergang in die Friedlismühle spazieren dürftet. Mag leicht sein, einer oder der andere von euch nagt sich dannzumal die Fingernägel bis zum Ellenbogen ab, aus Reue darüber, daß ihr stundenlang in der Wirtsstube gesessen seid, statt mit ihr im Herrenzimmer. Ja, die hats hinter den Ohren, die weiß, wo Bartel den Most holt, die wird euch schon einmal zeigen, was Trumpf ist, darauf könnt ihr euch heilig verlassen.« Hierauf begann er zu seufzen: »Es ist ein eigen Ding um das Weibervolk. Zuerst, fünfzehn Jahre lang, sieht sie kein Mensch an; dann plötzlich haben sie ein Herrgottslämpchen am Hals hangen, daß sie glitzern wie Johanneswürmchen, und man meint, sie seien die leibhaftigen Engel. Und schließlich, wenn der Docht ausgebrannt ist, hat man eine Hexe im Haus, daß man froh ist, wenn man draußen in der Welt herumhaudern darf, bei harter Arbeit und saurem Wein in Regen und Schnee, lieber als daheim hinter der warmen Suppe.« Im Anschluß daran begann er nach einer Pause über das menschliche Leben zu philosophieren. »Es mahnt mich immer an den Sentisbrugger Hauenstein: man gibt sich des Teufels Mühe, um hinaufzugelangen, und kaum ist man oben, so geht es wieder hinunter und noch viel böser und ruinöser. Zuletzt kommen wir doch alle miteinander bei der nämlichen Herberge an: beim Wirtshaus ›zu den stillen Männlein‹.«

Bei diesen Worten stand der Armenpfleger unwirsch auf, zahlte seine Zeche und stapfte mit steifem Gangwerk aus der Stube.

»Wohin mit den Kälbern, Xaverli?« grüßte der Fuhrmann durch das offene Fenster auf die Straße.

[41] »Nach Bischofshardt zum Metzger. Der Landammann spendiert dem Kantonsrat auf den Sonntag ein Essen.«

Der Xaverli ließ seinen Viehwagen einen Augenblick halten, und sämtliche Kälber begannen zu blöken. Die breiten Lichtmassen, welche aus dem Gasthof auf die Straße quollen, beschienen die großen runden Menschenaugen der lechzenden Tiere, und man konnte sehen, wie sie ihre gespenstisch bleichen Köpfe verdrehten, um dem Xaverli die Hand zu schlecken. Dann rasselten die Räder weiter, und das Blöken verstummte.

Eine lange Zeit wurde kein Wort mehr geredet. Plötzlich hieß es: »Habt ihr ihn gesehen? gerade diesen Augenblick ist er an der Mauer vorübergeschlichen, heim zu.«

»Wer?«

»Der Narrenstudent.«

»Was tut er eigentlich den ganzen Tag im Walde?«

Und jetzt ging es über den Narrenstudenten los, nicht gehässig, aber spöttisch, überlegen und empört. Wie er sich lächerlich kleide, anders als alle andern Menschen, mit einem Regenschirm gegen die Sonne, mit Handschuhen und waschleinenen Unterhosen, wie ein Mädchen, mit einer Brille auf der Nase, wie ein alter Mann, zum Lesen sogar mit zwei Brillen aufeinander, – wie er sich im Hardtwalde in der Nähe des Althäusli ein Hüttchen zum Faulenzen zusammengevattert habe, mit Büchern und Heften und allerlei Schnickschnack. Auf der Falkenfluh habe man ihn einmal dabei überrascht, wie er die Welt zwischen den Beinen angeguckt habe, den Kopf zuunterst, angeblich, weil auf diese Weise die Farben glänzender herauskämen.

»Laßt den Narrenstudenten in Frieden«, mahnte Therese, »er tut ja keinem Menschen etwas zuleid.«

»Aber ein Volksfeind ist er, der den gemeinen Mann verachtet und niemand ein freundliches Wort gönnt. Sein Vater, der Statthalter, wenn er vorübergeht, wünscht jedem einen guten Tag und erkundigt sich, wie das Korn und die Kartoffeln stehen; der [42] Narrenstudent, o je –, der kann nicht einmal Hafer und Roggen voneinander unterscheiden.«

»Es ist keineswegs gesagt«, versetzte Therese, »daß das die besten Volksfreunde sind, die jeden Menschen anlächeln und dem Volk mit Schmeicheleien schöntun.«

»Item, er ist ein Sonderling. Und er kann von Glück sagen, daß er einen so braven, allgemein geachteten, hochmögenden Mann zum Vater hat.«

»Der Niedereulenbacher Sizilienverein hat ihn einmal in den Fingern gehabt.«

»Warum?«

»Die ›Rose von Tannenheim‹ in den Spott gezogen, wo sie mit vielen Kosten gegeben haben, sogar mit einem Passivsaldo von mehr als hundert Franken.«

»Der Sentisbrugger Turnverein auch.«

»Was hatte er mit dem?«

»Sie haben ein Stabturnen aufgeführt, im Sentisbrugger Gemeinderatssaal, und er hat ihnen nachgesagt, sie wären eitler als das affigste Weibsbild. – Ohne den schönen Dolf wäre es ihm damals schlimm gegangen; und ich wollte ihm noch heute nicht raten, allein in der Dunkelheit ums Sentisbrugger Schulhaus zu streichen. Sonst läßt man ihn allgemein in Frieden, man hat sich alsgemach an seine Narrheiten gewöhnt; höchstens, daß ihm etwa in der Dämmerung ein Stein nachfliegt.«

Ob dieser Schilderung keimte in Gerold, der mit gläubiger Andacht dem Femgericht zuhörte, der Wunsch, der Zufall möge ihm den Ruhm vorbehalten, den kantonalen Lindwurm zu züchtigen. Das wäre, dachte er, gerade ein hübscher Heldenanfang für einen elfjährigen Siegfried, nicht zu leicht und wieder nicht zu schwer, denn was da Brillen trug, getraute er sich, über den Haufen zu schlagen, groß oder klein, unbesehen.

»Laßts nur gut sein«, bemerkte ein kleines, feistes, mit einer Botentasche behangenes Männlein, »den Narrenstudenten fischt [43] man eines Morgens aus der Aar.« Das sagte er so zuversichtlich und bedeutsam, als ob er mehr wisse, als er sagen wolle.

»Das möchte ich denn doch nicht behaupten«, mäßigte ein anderer; »aber abgesehen davon, treibt ers ohnehin nicht lange. Er hat die Institution seiner Mutter; alle ihre Geschwister sind an der Schwindsucht gestorben, und sie selber spinnt auch keinen langen Faden mehr.«

»Kein Wunder, bei dem täglichen Verdruß mit ihrem Mann wegen des Sohnes.«

»Ich liebe nicht, wenn bei mir anderer Leute Familienverhältnisse hergenommen werden«, tadelte jetzt die laute Stimme des Friedliswirtes, welcher unbeachtet durch die Küchentür hereingetreten war. Darauf wandte er sich zu den Kindern: ob sie nicht ihrer Reisegefährtin gute Nacht sagen wollten, sie gehe jetzt zu Bett.

»Nein«, trotzten sie.

Nachträglich dauerte jedoch den Gerold die schnöde Weigerung; es tat ihm geradezu weh, so dauerte es ihn, und schnell eilte er hinaus, um Gesima womöglich noch einzuholen. Sie stieg eben die Treppe hinauf, hinter zwei kerzentragenden Mägden. Eins zwei war er ihr nach, und zur Einleitung, er wußte selbst nicht warum, packte er sie mit vollem Griff am Schopf und zog ihr den Kopf hinten herüber. Sie streckte regungslos die Pfötchen von sich, wie eine Katze, die man aufhebt, ließ das Mäulchen tief hangen und schaute ihn mit großen Augen an, von denen man fast nur das Weiße sah. Ein Zuck, und sie wäre auf dem Boden gewesen; allein er wollte ihr ja kein Leid antun, bewahre; deshalb gab er sie sofort wieder frei, worauf sie mit geschwinden Sätzen die Treppe hinauf flüchtete. Nun reute es ihn aber wieder, daß er sie am Schopf gepackt hatte, statt ihr freundlich gute Nacht zu wünschen, wie seine Absicht gewesen war. Darum sprang er ihr nach, und da sie sich in ihrer Angst in den Winkel eines blinden Ganges verirrt hatte, versperrte er ihr mit seinem Körper die Ausflucht. Hier gedachte er zum Zeichen seiner Reue ihr etwas [44] zu schenken, fand jedoch nichts Schenkenswertes in seiner Tasche als ein rosenfarbiges Papier; das überreichte er ihr. »Ich danke«, flüsterte sie und machte einen hübschen Knicks. Zeit seines Lebens hatte noch kein Mensch »ich danke« zu ihm gesagt, und das verwirrte ihn so, daß er sie geistesabwesend angaffte. Seine Verblüffung benützte sie hurtig, indem sie aalgleich an ihm vorbeiglitt und sich zu den umkehrenden Mägden rettete. »Gute Nacht«, rief er ihr gutmütig nach, erhielt jedoch keine Antwort. Darauf schlich er wieder in die Wirtsstube, nicht ganz zufrieden mit sich selber.

»Ihr geht jetzt, denk ich, auch besser zu Bett«, meinte Therese, »die Augen fallen euch ja zu vor Schläfrigkeit.«

»Durchaus nicht schläfrig«, bestritten sie eifrig, und um nicht zwangsweise zu Bett gebracht zu werden, eilten sie flugs durch den Hausgang die Freitreppe hinunter, um die Hausecke. Es war finstre Nacht, mit Sternen am Himmel, aber warm, fast heiß; ein Käuzchen wimmerte von einer nahen, unsichtbaren Bergwand, und die Grillen verführten einen unsinnigen Lärm. Bei ihrem Streifzug gerieten sie von ungefähr in einen gewaltigen Wagenschauer, der mit Fuhrwerken jeder Art vollgepfropft war. Hier erkletterten sie den Bock einer ungeheuren Riesenkutsche, knöpften das Schutzleder, das ihnen bis an den Hals reichte, auf beiden Seiten zu, so daß sie da saßen wie zum Rasieren, und schnupperten wollüstig den Duft der Lederwichse.

»Sie liegt jetzt im Sterben«, hörten sie draußen auf der Landstraße einen Vorüberziehenden melden, »sie röchelt schon.«

»Was ist das, ›röcheln‹?« fragte Hansli leise den Bruder.

»Ich weiß nicht genau, etwas Ähnliches wie schnarchen.«

»Kannst du röcheln?«

»Röcheln kann man erst, wenn man stirbt.«

»Tut eigentlich das Sterben weh?«

»Natürlich, warum würden sonst alle weinen, wenn jemand stirbt.«

[45] »Und das Heiraten?«

»Jedenfalls viel weniger; sie machen ja alle bei einer Hochzeit lustige Gesichter. Und gesetzt auch den Fall, so bleibt doch immer ein großer Unterschied: mit dem Sterben ist alles aus, während das Heiraten vorübergeht.«

Hierauf gab es eine kleine Pause. Dann begann Hansli von neuem: »Gibt es auch wohlriechende Tiere?«

»Eine einfältige Frage!« verwies Gerold strenge, denn er wußte die Antwort nicht.

Jetzt abermals eine kurze Pause. »Warum«, fragte Hansli wieder, »warum sieht man eigentlich niemals einen Großvater über einen Schemel springen oder auf dem Dach herumklettern, oder eine Großmutter in einen Bottich schlüpfen?«

Diesmal begnügte sich Gerold mit einem schläfrigen Knurren statt der Antwort.

Hernach kam eine lange Pause der Zufriedenheit. Und da die Zufriedenheit währte, währte auch die Pause. Draußen auf der Straße murmelte der plätschernde Brunnen, stetig und ebenmäßig; aus weiter Ferne, von der Klus her humpelte der hustende Brummbaß der Tanzmusik vom Leuen, plump und drollig, als ob eine lebendig gewordene Runkelrübe schief um den Saal herumwalzte, die Wurzelspitze nach unten und der grüne Pflanzenschopf oben. Allmählich steckten sie einander an, der Brummbaß und der Brunnen, so daß man nicht wußte, welcher Ton diesem, welcher dem andern gehörte; die Brunnenröhre vervielfältigte sich, bekam hundert Leuenrachen, die Rachen klappten sämtlich auf und zu, im Takt des Brummbasses, schließlich blieben sie sperroffen stehen, stumm und versteinert. Jetzt erschienen dem schlummernden Gerold Traumgesichte.

Ihm schien, er stände vor der Freitreppe der Friedlismühle, aber statt ›Friedlismühle‹ stand über der Haustür geschrieben: ›Gasthof zu den stillen Männlein‹. Ein schauerlicher, tausendfältiger Lärm, übertönt von dem Donnergebrüll des Götti Statthalter [46] und dem Blöken angstvoller Kälber umtoste den stillen Gasthof, ähnlich dem Tosen der Schönthaler Fabrik. Jetzt kam ein unendlicher Zug von Schlachtopferkälbern die Stufen der Freitreppe heraufgestiegen, mit ihren großen traurigen Menschenaugen sich nach Gerold umschauend; oben auf der Treppe standen sie still, wackelten mit den Köpfen und Beinen im Takt des Brummbasses, dann stiegen sie auf der andern Seite die Treppe hinab. Aber mit einem Male waren es nicht mehr Kälber, sondern Menschen, die Großeltern, die Urgroßmutter, der Onkel Dolf und alle andern, die er lieb hatte. Und siehe da, er selber, Gerold, war mit in ihrer Reihe und schaute ihn von der Treppe herunter an, und der Hansli hinter ihm, der ihm mit den Fingern spöttische Zeichen über die Schultern gabelte. – Aber wer röchelt denn so? Erschrocken, mit schnarchendem Aufschrei fuhr er in die Höhe, stöhnend, die Augen geblendet von Lichtschein.

»Da also sind sie, die Ausreißer!« lachte die Stimme des Friedliswirtes, und eine laternenbewaffnete Scharwache umringte die Kutsche. Nun wurde das Nest ausgeräumt, der fest schlafende Hansli von der Therese auf die Arme geladen, Gerold taumelnd und schwankend vom Wirt abgeführt.

Unterwegs nach ihrem Schlafzimmer kamen sie an einem märchenhaften Himmelbett vorüber, mit Schleiern und Spitzen umhangen wie für ein Schneewittchen. Es lag auch wirklich so etwas Weißes darin, das setzte sich empor, rieb sich die Augen und schnellte dann mit einem kleinen Schrei unter die Decke. »Gute Nacht, Gesima«, lallte schlaftrunken Gerold.

Als er dann in das linde Gastbett verpflanzt war, wo Leib und Seele in köstliche Untiefen versanken, schlugen alsbald die Träume wieder über seinem Geist zusammen.

Ihm träumte, er säße am Weidenbächlein der Klus und schaute in das Wasser, das eilends einem Wasserfall zustrudelte. In einem Papierschifflein kam die Urgroßmutter das Bächlein herabgefahren, [47] aber ganz klein wie ein Kind, und nicht mehr krank, sondern frisch und fröhlich, jung und lieblich; im Vorüberfahren pflückte sie links und rechts Blumen vom Uferrand. »Guten Tag, Urgroßmutter«, grüßte er. Da spritzte sie ihm mit der Hand Wasser in die Augen. Und wie er die Augen wieder auftun konnte, war es nicht die Urgroßmutter gewesen, sondern Gesima, welche sich neckisch nach ihm umkehrte und ihn auslachte.

[48] Der tückische Postwagen

Als Morgenlied pfiff ein Knecht eine Polka, gegenüber im Tenn des Heupalastes, von dessen Dache die Täuberiche gurrten. Dann geschah vom Stalle her ein Poltern und Wiehern, begleitet von melodischem Schellengeläute. Immer neue Glockenspiele stampften heran, in allen musikalischen Farben, bald mit geschüttelten Akkorden, bald mit leise bewegten Einzelgesängen. Und all das Klingeln erzählte Reisemärchen von blauen Bergen und abenteuerlichen Dörfern, in mutiger Schnellfahrt zurückgelegt unter wettsegelnden Wölklein.

»Was ist für Wetter?« erkundigte sich Hansli gähnend.

Gerold schlug argwöhnisch die Augen auf. Die Fensterläden waren geschlossen, so daß es ziemlich dunkel um ihn herum war. Aber oben, hart unter der Zimmerdecke, kreuzte eine Schar Fliegen in scharfen Wendungen aneinander vorbei, und in den Winkeln des Zimmers war es nicht düsterer als in der Mitte, das waren verheißende Zeichen. Als er vollends den schmalen Lichtstrahl zwischen den Fensterläden nicht weiß, sondern gelb sah, verkündete er kühn und bestimmt: »Schönes Wetter.«

»Falsch!« verbesserte Hansli, »ich höre, wie es regnet.«

»Das ist der Brunnen«, urteilte Gerold.

Hansli sprang aus dem Bett und öffnete die Läden. Ein Schwall goldenen Lichtes stürzte durchs Fenster, und gegenüber auf den Ziegeln der Scheune lag ein steifer, rechteckiger Sonnenschein, das Dach halbierend.

Aber etwas noch viel Schöneres lag auf ihren Nachttischlein: Schokolade. Woher die kam, hätten sie leicht erraten, wenn sie gewollt hätten; allein sie wollten nicht raten, aus Besorgnis, der Stolz möchte ihnen sonst verbieten, das Geschenk anzunehmen.[49] Deshalb begnügten sie sich lieber mit der Tatsache und aßens anonym. Derweilen blieben sie liegen, in den Sonnenschein auf dem Scheunendache starrend; der Sonnenschein starrte ihnen ebenfalls entgegen, darüber ermüdeten ihre Augen und schützten sich mit den Lidern.

Bis die fröhliche Tonleiter der Kaffeelöffel auf den Untertassen tänzelte, da sprangen sie hops aus den Betten.


Man hatte den drei Kameraden ein besonderes schmuckes Tischlein im Herrenzimmer gerüstet. Auf diesem prangte in einem geblümten Napfe blonder, sandkörniger, in Zöpfen geflochtener Honig; daneben, in feuchte Weinrebenblätter gehüllt, ein künstlich gestempelter Butterbarren, einen Bären schildernd, der auf einem schrägen Blumenstengel lechzend berganschritt. Während sie sittig um den Tisch herumsaßen, als hätten sie miteinander einen Ferienaufsatz zu ergrübeln, erlitt Hansli einen Rückfall ins Examinatorische. Ob man Brot mit einem d oder einem t schreibe, prüfte er das Mädchen. Sie besann sich ein Weilchen und antwortete dann, solange das Brot frisch und weich sei, schreibe man es mit einem d, wenn es aber alt und hart werde, mit einem t.

»Das ist eine ebenso unehrerbietige wie ungenügende Antwort«, rügte Hansli, »Gesima, du erhältst ein ›schwach‹ in der Orthographie.«

Während dessen guckte ihr Gerold schelmisch in die Augen, da er sich erinnerte, daß sie ihm im Traume eine Woge Wasser ins Gesicht gespritzt hatte.

Als das so fortdauerte, klopfte sie ihm mit dem Löffel auf die Finger. »Trink!« mahnte sie. Da trank er geschwind die Tasse aus.

Aber jetzt fiel ihm wieder ein, wie er sie gestern abend beim Schopf gepackt hatte, und aus Wehmut darüber schaute er ihr abermals in die Augen, um zu erfahren, ob sie es ihm wohl nachtrage. »Iß!« rief sie, und stahl ihm sein Butterbrot.


[50] Die Türen standen offen zum Empfang der Morgenluft, welche von weitem herkam und würzige Grüße aus fremden Gauen mitbrachte. Drüben in der Bauernstube zog ein Trüpplein Knechte und Mägde ein; ihre heißen Körper und frohen Gesichter zeugten von rüstiger Früharbeit, nüchternen Mutes auf freiem Felde vollbracht. Wie sie so einer um den andern mit roten Backen, glänzenden Stirnen und schweißglitzernden Armen bedächtig in die kühle, schattige Stube traten, war es anzusehen, als ob jeder von ihnen sechs Quadratfuß Sonnenschein und ein paar Eimer Luftessenz um sich hätte.

Zuhinterst, um einen halben Kopf größer als die übrigen, rückte Therese an, aufrecht und zufrieden, in den langen, blaßblonden Zöpfen blaue Bänder, in den Augen Siegesleuchten, in den Scheitelhaaren ein paar Flocken Heu: man spürte es ihr an, daß sie die Lerchen hatte jubeln hören. Sie kam zu den Kindern ins Gastzimmer. Zunächst wünschte sie ihnen einen guten Tag und erkundigte sich, ob sie wohl geruht und gefrühstückt hätten, und ob ihnen nichts mangle. Dann entschuldigte sie die Abwesenheit ihres Vaters; er habe nach Sentisbrugg fahren müssen, schon in der Frühe, vor sechs Uhr; er lasse sie aber herzlich grüßen und ihnen eine glückliche Reise wünschen. Hierauf sah sie ins Leere und ließ endlich einen langen eigentümlichen Blick auf den Buben ruhen.

»Es hat eine Änderung in Sentisbrugg gegeben«, sagte sie in gedämpftem, fast ehrerbietigem Tone zu ihnen, als ob sie zu Erwachsenen redete, »habt ihrs erfahren?«

Und auch Gesima schaute die Knaben scheu an.

»Was für eine Änderung?« fragten diese.

Therese blickte auf den Boden. »Nun, ihr werdets noch immer früh genug vernehmen; genießt nur unbefangen eure letzten Ferientage und seid fröhlich, es ist euer heiliges Recht. – Wohin mit dem Gerold, Hansli?«

»Nur ein wenig auf Entdeckungen ums Haus herum«, antwortete [51] Hansli, »Gesima, du bleibst hier; dich können wir nicht brauchen.«

»Ihr dürft euch aber nicht mehr zu weit entfernen«, mahnte Therese, »denn in einer starken halben Stunde kommt die Post. Und da habt ihr es dann nicht wieder mit einem langmütigen Privatwagen zu tun, der euretwegen einen halben Tag auf dem Fleck wartet, sondern mit einem obrigkeitlichen Fahrplan, der auf niemand Rücksicht nimmt; da geht es strikte nach der Uhr.«

Das mit der Entdeckungsreise ums Haus war nur ein Vierteil der Wahrheit: ein Komplott gegen Gesima heckte Hansli. Kaum hinter den Pappeln bei der Scheune angelangt, hielt er still und zog Gerold ins Vertrauen, indem er sich eng an ihn anschmiegte, um ihn besser zu überzeugen. »Wir wollen suchen«, flüsterte er, »daß wir beide auf den Bock oder auf das Postdach zu sitzen kommen, und Gesima ins Innere des Wagens, dann sind wir sie bis Bischofshardt los.«

Gerold gab keine Antwort, sondern brummte nur.

»Das Allerschönste wäre«, fuhr Hansli fort, »wenn sie den Postwagen verfehlte; freilich müßte man hiefür ein Mittel finden, sie aus dem Haus herauszulocken. Wenn wir ihr zum Beispiel angäben, im Garten wären Himbeeren? Was meinst du?«

Wiederum begnügte sich Gerold mit Brummen. – »Aber ist denn das wirklich schon die Post, dort in der Klus? es ist doch noch viel zu früh.«

Hansli spannte den Blick; er sah weiter und schärfer als sein Bruder. »Bewahre, es ist ja bloß ein einziges Pferd, und gar kein Wagen dahinter.« Plötzlich tat er einen Luftsprung: »Ein Dragoner!« schrie er.

Ärgerlich verwies ihm Gerold die unbesonnene Meldung. Er war durch die Erfahrung gewitzigt; ihm war durch tausend schmerzliche Enttäuschungen der Glaube an leibhaftige Soldaten, geschweige denn an Dragoner, in der gemeinen Alltagswirklichkeit längst abhanden gekommen. Eher noch an den [52] Osterhas glauben als an Dragoner. Ach Gott, wie viele hundert Male hatte er vor Zeiten beim Gepolter jedes Rumpelkarrens gemeint, eine Trommel zu hören, beim Aufschein eines bunten Frauenhutes einen Tambourmajor zu sehen. Und hernach die grausame Enttäuschung! Lieber ein für allemal die Hoffnung aufgeben. – Und doch! Diesmal sieht es wirklich von fern einem Dragoner gleich, es glitzert etwas auf dem Kopf des Reiters, wie ein wahrhaftiger Helm, und etwas an seiner Seite wie eine Säbelscheide. Wenn der Hansli recht hätte! O Bangigkeit, o Hoffnung! Jetzt fragt sichs bloß, hat er Epauletten, hat er einen roten Streifen an den Hosen, einen roten Halskragen? Ja, ja, ja, kein Zweifel mehr, ein leibhaftiger Dragoner. Aber wohin der wundersame Schmetterling schwenken wird, wenn er vollends aus der Klus hervorkommt? seitabwärts in den Gau? oder herwärts nach der Friedlismühle? Atemlos verfolgten ihre Blicke jede Bewegung des Pferdes. Jetzt ist er an der Kreuzung, nun wird sichs entscheiden. »Er kommt.« »Nein, er biegt ab.« »O weh, verloren! er reitet nach dem Gau.«

»Nach!« schrie Hansli.

»Nach!« bestätigte Gerold stöhnend.

Und wie hungrige Wölfe setzten sie sich in Galopp, unbekümmert um die abmahnenden Rufe, die hinter ihnen dreinliefen, um sie zurückzuholen. Der Dragoner trabte scheinbar ganz langsam; trotzdem vergrößerte sich stetig der Zwischenraum, statt sich zu verringern, und schon begann ihnen der Atem auszugehen. Allein es gibt hiezulande Wirtshäuser am Wege; nicht unmöglich, daß er irgendwo absteigt und einkehrt. Dann ist aber auch der Galopp nicht nötig, der Trab tuts auch; also gingen sie in Trab über; und der förderte sie beinahe ebenso flink; abgesehen davon, daß er den Atem weniger in Anspruch nahm. Immer kleiner wurde der fliehende Reiter; nur noch wie ein rotes Schäfchen leuchtete er von Zeit zu Zeit zwischen den Bäumen auf. Aber täusch ich mich? mir scheint, das Schäfchen bleibt gleich [53] groß und behält beständig ein nämliches Häuschen neben sich. »Er sitzt nicht mehr auf dem Pferde«, meldete der scharfsichtige Hansli. Folglich war er abgestiegen, und das Häuschen mußte eine Schenke sein. Also fielen sie mit neugestärktem Mute wieder in Galopp.

Er saß wirklich in der Schenke, der Ersehnte, man konnte seinen Raupenhelm durchs Fenster erblicken; und sein Pferd stand an einem Pfosten angebunden vor der Tür. Nun begannen sie die Liebeswerbung, nicht ohne Zuversicht und Selbstbewußtsein. Sie waren ja doch nicht die ersten besten Buben, sondern Kadetten, sie trugen Uniform mit goldenen Knöpfen, Gerold sogar mit Granaten auf den Knöpfen, sie konnten einen Säbel und eine Patrontasche vorweisen, sie durften sich mithin ein wenig als seine Kameraden betrachten; gewiß wird er ihnen einen freundlichen Gruß, vielleicht gar, o Wonne, ein holdes Wort gönnen. Es galt bloß, sich ihm bemerkbar zu machen. Darum stolzierten sie in militärischer Haltung vor dem Fenster auf und ab, warfen sich in die Brust, hüstelten, sängelten, streckten sich auf den Zehen. »Zeig deinen Säbel«, riet Hansli, »vielleicht macht das Eindruck.« Also zog Gerold den Säbel und salutierte damit vor dem Fenster. Als auch das nichts fruchtete, kletterte Hansli am Sims in die Höhe, um den schwarzen Roßhaarschweif auf seinem Tschako wirken zu lassen.

Jetzt kroch eine mürrische Alte, verdrossen wie das Regenwetter, aus der Haustür. Was sie wollten, fuhr sie die Buben unwirsch an, mit mißtrauischer Miene.

»Nichts; nur den Dragoner ansehen«, antwortete Hansli kleinlaut.

»So kommt ehrlich und rechtschaffen in die Stube«, bellte sie, »und trinkt einen Schoppen Wein, wie sichs gehört, aber nicht wie die Bettler vor dem Wirtshaus herumstreichen ohne einzukehren.«

»Wir trinken keinen Wein.«

[54] »Dann schert euch vom Fenster weg!« und verschwand mit einem Blick des Hasses und der Verachtung.

Nun richteten sie ihre Werbungen an das Pferd, in der Hoffnung, auf diesem Umwege die Gunst des Reiters zu erschmeicheln; liebkosten dem Gaul den Hals, das Maul, das Kreuz, wagten sogar ab und zu den Sattel und die Steigbügel anzurühren, bescheiden, mit heiliger Scheu. Ob dieser Beschäftigung erleuchtete den Gerold ein gescheiter Einfall. Er erinnerte sich gelesen zu haben, ein Freier pflege seine Geliebte mit heimlichen Geschenken zart zu überraschen, Blumensträußen und dergleichen. Einen Blumenstrauß besaß er leider nicht, wohl aber den Fünffrankentaler vom Götti Statthalter. Den schob er nun mit feinfühliger Gebärde behutsam in den Pistolenhalfter des Sattels.

Da schoß der Dragoner mit dem Kopf aus dem Fenster wie der Teufel aus einer Schachtel. Was sie an seinem Gaul zu schaffen hätten, wolle er wissen; der gehöre ihm, nicht ihnen. Darauf nannte er den einen einen Lausbuben, den andern einen Saububen und beide zusammen zwei Krötenbuben. Und wenn sie sich nicht sofort packen, werde er herauskommen und sie bei den Ohren nehmen.

Also mit Schimpf abgefertigt, trabten sie wieder von dannen, niedergeschlagenen Mutes, mit hangenden Köpfen. Neben der Schande der verschmähten Liebeswerbung quälte den Kanonier noch das nutzlos verschwendete Silberstück; nicht sowohl der Verlustschaden selber, als die Gewissenssorge, ob er mit der Dahingabe eines geschenkten Gutes nicht etwas Unrechtes begangen habe, eine Versündigung gegen das achte Gebot: ›Du sollst nicht stehlen.‹ Eigentlich gestohlen war das ja nicht, allein man hatte ihnen ja in der Schule so eindringlich bedeutet, daß die zehn Gebote eine viel größere Tragweite hätten, als ihr Wortlaut zu sagen schien; kaum daß man sich unvorsichtig bewegte, so hatte man sich gegen eines der bösen Zehn versündigt. Zum mindesten hatte er sich einer leichtsinnigen Verschleuderung [55] schuldig gemacht; mithin war er ein Vergeuder wie der verlorene Sohn. »Gelt, du erzählst es keinem Menschen«, bat er seinen Bruder, nachdem er ihm, ohne den Geschwindlauf zu unterbrechen, seine Missetat bekannt hatte. Das gemeinsame Mißgeschick erweichte des Bruders Herz, so daß er ihm unverbrüchliches Schweigen gelobte.

»Wenn wir jetzt nur nicht zu allem noch die Post verfehlen!« seufzte Gerold und drängte zu verdoppelter Eile.

Waren sie weit gelaufen! Die Strecke wollte kein Ende nehmen. »Dort kommt die Post!« ertönte Hanslis Schreckensruf. Richtig, ungefähr zehn Minuten von ihnen entfernt erschien der Postwagen aus der Klus und schwenkte, ihrer verzweifelten Zeichen ungeachtet, nach der Friedlismühle, zwischen den Bäumen verschwindend.

»Zu spät!« jammerten ihre Herzen.

Gerold stellte den Lauf ein und hielt dem Bruder eine Ansprache: »Jetzt nur eines nicht: nur ja nicht hitzig nachlaufen, nachdem es doch einmal zu spät ist; das wäre das Unvernünftigste, was ein Mensch in solchem Fall tun kann. Denn sonst geschieht unfehlbar folgendes: sowie der Postwagen merkt, daß man ihm nachläuft, bleibt er absichtlich stehen, bis man ihm ganz nahe gekommen ist, dann auf einmal fährt er im letzten Augenblick höhnisch davon, und je mehr man sich darüber ärgert, desto mehr freut es ihn. Den Gefallen wollen wir ihm nicht tun. Also nur ganz ruhig und gemächlich im Schritt gehen, es kommt auf das nämliche hinaus.«

Das leuchtete dem Infanteristen ein, und so zogen sie langsam im Schritt weiter, froh, dem tückischen Postwagen seine boshafte Schadenfreude zu vereiteln.

Bald konnten sie ihn von weitem sehen, den abgefeimten Reisekasten, wie er neben der Friedlismühle stille hielt, mit harmloser Miene, als ob er auf sie wartete.

»Trau ihm nur nicht, dem falschen Fritz!« warnte Gerold, [56] »laß dich nicht fangen! er spekuliert einzig darauf, daß wir ihm nachrennen, dann fährt er augenblicklich fort, darauf kannst du dich verlassen.« Und zum Trotz verlangsamten sie nochmals ihre Schritte.

Und immer, immer hielt er noch auf dem Fleck, der Hinterlistige, wie angenagelt, so daß sie ihm, wie zögernd sie auch schlendern mochten, trotzdem stetig näher und näher rückten. Über diese Standhaftigkeit beschlich sie Verwunderung, und in der Verwunderung saß die Hoffnung. »Weißt du, was ich glaube«, rief Gerold, »wenn wir laufen wie der Blitz, so kommen wir trotz allem noch rechtzeitig, aber so schnell als du nur kannst.« Und mit gewaltigen Sprüngen begannen sie einen Hetzlauf zu rennen. Da tönte ein Posthorn und klatschte eine Peitsche, und wackelnd reiste der Postwagen in die Weite.

»Siehst du ihn jetzt, siehst du ihn, den gelben Salamander, den verschmitzten?« knirschte Gerold, »was habe ich dir gesagt? Sobald wir anfingen zu rennen, so lachte er mit dem Schwanze und trottelte höhnisch davon. Wären wir ruhig im Schritt weitergegangen, so hätten wir ihn überrascht.« Und in seiner Wut schleuderte er dem heimtückischen gelben Betrüger seinen Säbel nach.

Hansli spottete über diese ohnmächtige Strafexekution. »Du bist genau so verrückt wie Xerxes, als er das Meer peitschen ließ.« Gesagt, und warf seine Patrontasche hinter dem Säbel drein.

»Das eine Gute ist immerhin dabei«, tröstete Hansli, »jetzt sind wir wenigstens der Gesima los und ledig.«

»Wieso?«

»Weil sie mit der Post davongefahren ist.«

Die Tatsache mußte Gerold als wahrscheinlich zugeben, allein einen merklichen Trost verspürte er nicht darin; eher fast das Gegenteil. Ob sie gleich nur ein Mädchen war, so hatte er sich halt schon ein wenig an Gesima gewöhnt, und mit einem Male kam ihm die ganze Welt langweilig und dumm vor.

[57] »Und was jetzt weiter?« fragte Hansli.

»Mir einerlei«, knurrte der Kanonier.

»Nach meiner Meinung gehen wir einfach zu Fuß nach Bischofshardt.«

»Mir einerlei.«

»O weh, da kommt die Therese, paß auf, jetzt gibt es eine Strafpredigt.«

»Mir einerlei.«

Es gab keine Strafpredigt, bloß eine milde Frage um Aufschluß über ihr rätselhaftes Verhalten. Warum sie so langsam im Schneckentempo angerückt wären, wie wenn sie es absichtlich darauf angelegt hätten, die Post zu verfehlen. Zehn lange Minuten sei es ihr gelungen, den Postillon hinzuhalten, aber länger habe sie es nicht verantworten können. Was sie jetzt beginnen wollten? Das kleine Fräulein wäre der Ansicht, sie könnten alle drei zusammen zu Fuß weiter; sie habe selber schon zweimal den ganzen Weg von Bischofshardt nach Schönthal zu Fuß gemacht. »Also, wenn ihr einverstanden seid –«

»Ja, ist sie denn nicht mit der Post fortgefahren?« fragte Gerold.

»Sie wollte durchaus nicht ohne euch einsteigen. Dort steht sie auf der Treppe.«

»Schöne Geschichte, schöne Geschichte! die Post verfehlt!« spottete Gesima, indem sie die beiden Hände mit gespreizten Fingern erhob.

Darauf machten sie sich alle drei auf den Weg.

»Glückliche Reise«, rief ihnen Therese nach. »Wollt ihr nicht noch etwas zum Essen mitnehmen, ein paar Birnen oder Pflaumen? oder sonst etwas?«

»Nicht nötig. Und vielmal Dank für alles.«

[58] Gerold und Gesima

Hansli bestand auf einer geregelten Marschordnung. Es komme einem Mädchen nicht zu, urteilte er, in ebenbürtiger Frontlinie mit zwei uniformierten Kadetten zu ziehen, Gesima müsse zehn Schritte zurückbleiben. Sie erhob keinen Einspruch, fügte sich auch scheinbar seinem Ansinnen, allein so oft Hansli sich umwandte, um sich zu vergewissern, ob sie die Distanz auch richtig einhalte, dünkte ihn der Zwischenraum verringert. Das bestritt ihm Gesima lebhaft, worauf er die Kolonne halten ließ und den Abstand mit den Füßen nachmaß. »Siehst du, es sind nur acht Schritte.« Dann stellte er sie zurecht, kommandierte »Marsch«, und sofort fing der Streit von neuem an. Jetzt befahl er ihr, in der nämlichen Entfernung voranzuschreiten, um sie besser überwachen zu können. Wiederum gehorchte sie ohne Widerrede. Aber nun trippelte sie im Adagio molto quasi lento ritardando, was die Kadetten nötigte, ebenso langsam hinterdrein zu kriechen, denn sonst hätten sie ja ihrerseits die Distanz gebrochen. Nicht genug damit, stand sie alle Augenblicke stille, sei es, um an ihren Stiefelchen zu nesteln oder an ihrem Kleide zu bändeln, so daß die Kolonne langsamer vom Fleck kam als der Landsturm. »Gesima, ich gebe dir eine schlechte Note im Betragen«, schloß Hansli ärgerlich und ließ fortan den Marsch laufen, wie er mochte.

Trotzdem es noch früh am Morgen war, neun Uhr oder so etwas, stach die Sonne schon gewaltig heiß, und allmählich begann den Infanteristen seine Patrontasche zu belästigen; nicht daß sie ihm zu schwer gewesen wäre, aber das Bandulier drückte und erhitzte ihm die Schulter. Folglich zog er das lästige Zeug ab und hängte es Gesima über die Achsel. Die machte sich einfach [59] schmal, so daß sie durch das Bandulier schlüpfte wie ein Fischlein durch eine Masche, und die Patrontasche lag auf dem Boden. Dieser Vorgang wiederholte sich etliche Male. »Gesima«, drohte Hansli, »wenn du das Kunststück noch einmal aufführst, laß ich die Pulvertasche ganz gewiß liegen.« »Laß!« antwortete sie und beförderte das Anhängsel abermals zu Boden. Nun machte Hansli ein sorgloses Gesicht und zog weiter, als ob ihn das schwarze Gepäck nichts anginge, nur im Verstohlenen ab und zu nach hinten schielend. Bis ein Bauernbub den merkwürdigen Fund mit erstaunter Gebärde aufgriff, da rannte er mit heftigem Protestgeschrei zurück und riß ihm sein Eigentum aus den Fingern. Wie er aber dann das Mädchen neuerdings als Lasttier benützen wollte, verwehrte ihm das der Bruder mißlaunisch. Er könne seine Patrontasche selber tragen, bemerkte er barsch. Diesen herrischen Kommandoton von seiten eines gewöhnlichen Kanoniers verbat sich der Infanterist, ein gereizter Wortwechsel entstand, illustriert mit Vergleichen aus dem Tierbuche, keinen schmeichelhaften; dem Wortwechsel folgte nach dem Gesetz der Steigerung das Hohngelächter und schließlich die Beleidigung. »Mädchenfreund!« schrie Hansli und flüchtete in rasendem Galopp querfeldein, als liefe der Teufel hinter ihm, wütend verfolgt von dem Bruder, der ihm jedoch mit seiner Schwerfälligkeit bei weitem nicht nachkam. Von nun an war es Hansli, der Distanz hielt, nicht zehn Schritte, sondern hundert und zweihundert, zwar von Zeit zu Zeit um eine Ecke herum oder aus einem Busch hervor den beschimpfenden Zuruf wiederholend, aber furchtsam den Fuß zur jähen Weiterflucht gerüstet.

»Kümmern wir uns nicht um ihn, und lassen wir ihn laufen«, sprach Gerold großartig, nachdem er eingesehen, daß er ihn nicht einzuholen vermochte. – »Komm, dort geht ein Fußweg in den Wald, so sieht er uns nicht.«

»Aber wenn wir uns verirren?«

»Und wenn? oder hast du etwa Angst?«

[60] »Vor den schwarzen Waldameisen weniger als vor den kleinen roten.«

Und da er sich anheischig machte, sie vor jeder Gattung Ameisen zu behüten, sowohl vor den roten wie vor den schwarzen, folgte sie ihm in den Wald, durch ein Gebüschtor, dessen Zweige so tief auf den Boden hingen, daß man gebückt durch das Pförtchen schlüpfen mußte wie durch eine Höhle. Jenseits des Gebüschtores befanden sie sich, von der Welt wie durch einen Vorhang abgesperrt, in einer dunklen, kühlen Tannenhalle. Auf dem trockenen, weichen, tannennadelgepolsterten Boden federte der Schritt von selber empor, als ob von unten den Füßen mitgeholfen würde; keine Spur von Unterholz oder Efeu, höchstens ab und zu eine mächtige Wurzel hemmte den Wandel; und die Erde tönte dumpf und hohl. Das war so vergnüglich, daß sie den Fußweg verschmähten und lieber den einladenden rundlichen Mulden und Hügelchen des sanftgewellten Grundes folgten, die Tälchen mit kleinen Sprüngen, die Höcker im Anlauf gewinnend. Mit einem Male gewahrten sie, als sie eben wieder eine Anhöhe erobert hatten, unten zu ihren Füßen, mitten im Walde, einen majestätischen Fluß, der lautlos vorbeizog, zwar in schleunigem Strom, doch glatt, ohne kräuselnde Wellen; statt der Wellen wob die Flut glanzseidene Muster in die Wasseroberfläche.

»Die Aar«, erklärte Gesima wißbefriedigt. Das bestritt ihr Gerold. »Die Aar sei nicht hier, sondern bei Aarmünsterburg.«

»Das beweist nichts; sie kann ganz gut in Aarmünsterburg sein und doch hier.«

»Bitte, Gesima, schwatz keinen Unsinn. Nichts kann an zweien Orten zugleich sein.«

»Doch, ein Fluß kann das, weil er sich bewegt. Sonst müßte ja die Aar, wenn sie in Aarmünsterburg bleiben wollte, beständig über den eigenen Kopf hinaustanzen.« Gerold erstaunte und dachte gespannt nach. Schließlich mußte ers zugeben. »Gesima, du hast recht, du bist gescheit«, urteilte er.

[61] Man sieht nicht alle Tage eine Aar in einem Walde, es lohnte sich, die Merkwürdigkeit etwas länger zu betrachten. Darum setzten sie sich in die Nische einer Zwillingstanne und blickten, frei von Wünschen und Gedanken, geduldig auf den leisen, schnellen Fluß hinab, während über ihnen ein Specht mit weithinschallendem Ticktack die Stille betonte.

Gerold wurde anhaltend ernst und nachdenklich. Ob sie sich nicht ebenfalls entsinne, fragte er, lange vor diesem Leben, vor undenklichen Zeiten, schon einmal gelebt zu haben, und zwar in einer anderen als menschlichen Gestalt. Und als sie das bestimmt verneinte, gestand er ihr, er für seinen Teil erinnere sich, früher einmal ein Storch gewesen zu sein.

Ob es ihm denn nicht langweilig vorgekommen sei, fragte sie zurück, stundenlang auf einem Bein zu stehen, und ob er es nicht unappetitlich gefunden habe, ungekochte Schlangen und Eidechsen zu essen. Und es nehme sie wunder, wie er das Fliegen zustande gebracht habe, bei seinem Körpergewicht.

»Das wenigstens«, meinte er eifrig, »ist dir gewiß schon aufgefallen, daß man manches zweimal erlebt.«

»Nein, das ist mir nie aufgefallen; es wäre auch eine Kunst, denn es ist ja nicht einmal wahr.«

Hierauf verfiel er wieder ins Nachsinnen. Plötzlich blickte er sie fest an, mit überlegener Rätselmiene: »Was ist das Schwerste in der Welt?«

»Der Elefant«, riet sie hurtig.

»Nein.«

»Ein Heuwagen.«

»Nein. Sondern das Schwerste in der Welt ist, zu einem Menschen zu sagen: ›Es tut mir leid.‹«

»Durchaus nicht«, lachte sie, »das sage ich alle Tage zu Papa und Mama, wenn ich etwas Dummes pexiert habe.«

Da schaute er sie bewundernd an, als ob sie aus einem edleren Stoffe gemacht wäre, und schüttelte den Kopf.

[62] »Und was ist das Zweitschwerste in der Welt?«

»Mit seinem Bruder nicht zanken.«

»Das allerdings auch. Aber ich meine etwas anderes: Das Zweitschwerste in der Welt ist, jemand eine Verbeugung zu machen.«

»Bist du denn so steif?«

»Das nicht. Ich könnte schon, wenn ich wollte, aber ich will nicht. Weil ich ein Schweizer bin und ein Schweizer vor keinem Menschen den Nacken beugen soll.«

»Mein Papa ist auch ein Schweizer und macht dennoch Verbeugungen, sogar sehr schöne, wenn er eine Freundin von Mama im Zimmer sieht. – Da kannst du ja nie auf den Ball gehen und tanzen.«

»Doch, tanzen kann ich. Nur wenn es heißt ›Verbeugung‹, tue ich immer das Gegenteil und strecke mich bolzgerade in die Höhe.«

»Da kannst du jedenfalls sicher sein, daß ich nie mit dir tanze.«

»Das brauchst du auch nicht, wenn du nicht willst. Ich habe schon eine Tänzerin für die Tanzstunde; eigentlich mag ich sie nicht, aber sie hat nicht so viele häßliche rote Haare wie du. – Wart, bleib sitzen, ich will geschwind hinunter, ein paar Schiefersteinchen prellen.«

»Ist dirs nicht ebenfalls verboten, allein an die Aar zu gehen?«

»Nur von der Mama. Mein Papa ist selber beim Militär und begreift, daß Gefahr eine Ehre ist. Er tut zwar, als wäre er ungehalten, wenn wir etwas Waghalsiges unternehmen, aber es freut ihn heimlich doch; er lacht mit den Augen dazu. – Du aber rührst dich nicht! Gelt? ich kann mich darauf verlassen? Du versprichst es mir? Du weißt, ich habe die Verantwortlichkeit für dich.«

»Ich, wenn mir etwas verboten ist, so brauche ich keine Ermahnungen; ich tu es einfach nicht.«


[63] Also lief er den Hügel hinab zur Aar. Dort streifte er auf der Suche nach einem Schützenplatz und glatten Steinchen der Strömung entlang hinter dem Weidensaum. Jetzt, so nahe am Ufer, war der Fluß nicht mehr stumm, sondern gab einen unheimlichen dröhnenden Metallruf von sich, immer den nämlichen.

»Geh nicht zu nah zum Wasser! und entferne dich nicht zu weit!« warnte Gesimas Ruf von oben.

»Ich kann sechs Züge schwimmen«, meldete er stolz zurück.

Ein tief in den Schatten getauchter schwarzer Waldgraben, wo der Strom in pfeilschnellen Wirbelringen vor einer Felswand umbog, zog ihn an; erstens wegen des fürchterlichen Anblicks, zweitens weil sich an dieser grausigen Stelle eine Halbinsel von Schiefergeschütt wie ein Dreieck weit in den Fluß vorschob, die Spitze des Dreiecks im Wasser; dort mußten sich geeignete Wurfgeschosse in Menge vorfinden. Langsam, Fuß vor Fuß setzend, wagte er sich auf dem Geschütt vor, bange und bebend, mit verhaltenem Atem und klopfendem Herzen, denn ihm war, als wollte ihn der reißende Wogenschuß von dreien Seiten zugleich angreifen, umwälzen und fortschwemmen; und das einförmige Dröhnen des Stromes hatte sich in ein heulendes Brausen verwandelt. Nachdem er ein glattes Scheiblein aufgelesen, pflanzte er sich in schräger Schützenstellung fest auf die Beingestelle und schickte es waagrecht über die Fläche. Ein-, zwei-, dreimal berührte der Stein streifend das Wasser, milchweiße Spritzer zischten empor, die von dem finstern Wasserrachen sofort verschluckt wurden; schnapp, wie von einem Krokodil. Doch Krokodile gibt es nicht in der Aar. Allerdings, wenn man abergläubisch wäre, könnte man meinen, dort in jener meergrünen Wirbelmühle glotzten zwei Krokodilaugen und dort von oben kämen mehrere hintereinander mit der Strömung geschwommen, tückisch unterm Spiegel verborgen, bewegungslos anreisend, sich tot stellend. Unsinn! – Ha! da segelte er mitsamt der Insel, worauf er stand, den Fluß hinunter, daß er schwindelnd mit den Armen nach einem [64] Halt fischte, während gleichzeitig eine ungeheure Riesenschlange, um die Waldecke schießend, ihn blitzschnell verfolgte. Lächerlichkeit! Augentäuschung! es schien nur so. – Aber wenn doch nur Gesima mit ihrem läppischen Geschrei aufhören wollte! sie verwirrt einem vollends den Kopf damit. »Stille schweigen!« herrschte er ihr zu. Solch eine Dummheit! Sie könnte einen schließlich noch anstecken mit ihrer einfältigen Angst.

Und bückte sich, um ein zweites Tellerchen auszuwählen. Da gewahrte er etwas auffällig Weißes im Geschiefer, ein ziemlich großes Blatt Papier, das an den vier Ecken mit Kieseln beschwert war; es lag kaum anderthalb Schritt von ihm entfernt, aber ganz nahe beim Wasser, so nahe, daß es fast vom Schaum bespült wurde. Neugierig schob er sich mit vorsichtigen Drehungen hinzu, behändigte mit einem raschen Griff glücklich den Fund und untersuchte ihn. Das Papier war beschrieben, zwar bloß mit Bleistift, aber leserlich. Er buchstabierte und las: »Hier stand ich vier Stunden. Der Mutter gedenkend kehrte ich um. Max, genannt ›der Narrenstudent.‹« Schnell kniete Gerold nieder, kramte seinen Bleistift aus der Tasche, stützte sich auf die Ellenbogen, und also, in vierfüßiger Stellung, den Geschüttboden als Schreibtisch benützend, kritzelte er hastig eine Nachschrift darunter: »Abscheulicher Mensch! den niemand gern hat, nicht einmal sein eigener Vater! Gerold.« Und die Urkunde beschwerte er seinerseits mit Steinen, gleichsam als einen Urteils-, Absage- und Fehdebrief.

Hernach gedachte er in seiner Schützenkunst fortzufahren. Allein nun war es auf einmal zuviel. Das unaufhörliche Heulen des brausenden Flusses, der haltlose Zug der reißenden Strömung, das schwindelhafte Kreiseln der Geschwindwirbel mit ihren Ungeheueraugen und schmatzenden Lippen, das verräterische Gebaren seines Standbodens, der jeden Augen blick Miene machte, plötzlich bachab zu reisen, hinterlistig, ohne Warnung und Vorzeichen, das alles, vereint gegen seinen Mut unablässig anstürmend,[65] ohne eine Sekunde Waffenstillstand, übermochte auf die Länge endlich seine Kraft, und jählings packte ihn das Grausen. »Fort aus dieser flüssigen Hölle!« schrie sein Herz. Noch gelang es seiner Tapferkeit, ehrenhalber ruhig nach dem rettenden Ufer zu schreiten, stolz, in aufrechter Haltung; kaum jedoch spürte er sich auf sicherem Erdboden, so rannte er in toller Flucht den Wald hinauf.

Dort sprang ihm die vor Angst weinende Gesima mit Vorwürfen entgegen, faßte ihn am Ärmel und zerrte ihn mit sich, irgendwohin, einerlei, nur weg von der gefährlichen Flut, fort aus dem unheimlichen Wald. Und beiden dünkte es, als ob das schillernde Stromungeheuer hinter ihnen die Anhöhe heraufgestiegen käme, um sie zu verfolgen, so daß sie anfingen, flüchtlings zu laufen. Bis von dem schauerlichen Singen des Wassers nicht mehr der leiseste Ton zu vernehmen war; da erst atmeten sie auf. Nun erzählte Gerold hastig von der Schrift des Narrenstudenten, die er im Geschütt aufgefunden. Gesima schnupfte wegwerfend: »Ein grausiger Mensch! ißt Froschschenkel und gekochte Schnecken! Wäre er nur ertrunken! Frau Balsiger mag ihn, ich nicht.«

»Ja, aber wie kommen wir denn eigentlich aus dem Wald?« Das lustige Klingeln eines Fuhrwerks wies ihnen die Richtung, und früher als sie gehofft hatten, mündeten sie wieder in den lichten Tag und das freundliche Leben.

»Aber mit dir gehe ich nie mehr von der Landstraße ab«, schmälte Gesima, »eher lasse ich mich von der Sonne rösten. Du magst mich dann meinetwegen als Krebspastetchen verspeisen«.


Es war ein förmliches Auftauen an Leib und Seele, das sie wollüstig überkam in dem heißen Sonnenfang der Landstraße, nach dem fröstelnden Schauder des finstern Stromgrabes, und der neuerwachende Mut heischte, als Antwort auf die erlittenen [66] Schrecknisse und Bangnisse, das Plaudern. Die jüngsterlebten Ferienwonnen schilderten sie einander; Gerold die Herrlichkeiten des ungebundenen Schweifens über die Triften, die Abenteuer in Wald und Feld, in Dorf und Stall, Gesima das stille Vergnügen in den kunstseligen Gemächern der Familie Balsiger, von den Bildsäulen im Treppenhause erzählend, von den Gemälden an den Wänden, von den Schränken voller Prachtbilderbücher, von dem Musikspiel nach dem Nachtessen, mit Frau Balsiger am Klavier, Herrn Balsiger am Geigenpult, und zuweilen komme auch der Pfarrer mit dem Cello.

Allein Gerold hörte längst nicht mehr zu; über ihrem gleichförmigen wohllautenden Kanarienvogelgezwitscher waren seine Gedanken unvermerkt nach den Wolken ausgewandert, und an ihrer Stelle erschienen allerhand flüchtige Träumereien, die sich allmählich zu einem einzigen Lieblingstraum verklärten, seinem Traum, den er beständig im Herzen hegte: Er sah sich als Anführer der sämtlichen schweizerischen Kadetten, in einer fürchterlichen Schlacht gegen die verbündeten Kadetten Europas kämpfend; die Kanonen donnerten, der Pulverrauch dampfte, daß einem vor Wonne Hören und Sehen verging. Schon war der Sieg entschieden, der Feind floh, sämtliche Kanonen im Stich lassend, siehe, da stürzte der Obergeneral der feindlichen Kadetten, ein engelschöner Knabe in weißer Uniform mit goldener Schärpe und goldgestickten Aufschlägen, verwundet vom Pferde. Er, rücksichtslos durch Freund und Feind sich Bahn brechend, stürmisch zu ihm hin, half ihm, sich aufrichten, tröstete ihn liebreich, nahm ihm sein Ehrenwort ab und versprach ihm Pflege und großmütige Behandlung. Und süß war der Dankesblick aus den blauen Augen des schönen Gefangenen.

Da stupfte ihn Gesima: »Was sinnierst du?« Errötend wachte er hernieder. Er solle ihr lieber von Aarmünsterburg erzählen, begehrte sie, als so langweilig stumm neben ihr einherzuziehen. Also erzählte er ihr von Aarmünsterburg, ohne Plan und Wahl, [67] was ihm gerade zunächst einfiel. Sonst verabscheute er zwar Aarmünsterburg, denn es war ja die Schulstadt, gehässig, mürrisch und zänkisch, voller Aufgaben, Zeugnisse, Vorwürfe und Nachsitzen, aber merkwürdig, heute, in der Abwesenheit, als er die Stadt jemand anders schilderte, erschien ihm das nämliche, was er im wirklichen Leben haßte, teilnahmswürdig und erwünscht. Und da sie seiner Rede aufmerksam lauschte, wurde er allgemach redselig.

Gesima wünschte zu erfahren, wie es in einem Theater zugehe, und ob er schon einmal in einer Oper gewesen sei.

Ah! da leuchteten seine Augen. In der ›Regimentstochter‹ war er gewesen. Und nun schilderte er ihr begeistert die unermeßliche Fülle von Herrlichkeiten, die er in der Regimentstochter geschaut und gehört: das Orchester mit seinen abenteuerlichen Instrumenten, die Bühne mit dem Vorhang und den wechselnden Szenen, erzählte ihr den ganzen Hergang der Geschichte, sang ihr die lieblichen Melodien vor und kam dermaßen in Eifer, daß er selber gestikulierte und schauspielerte und gar nicht mehr wußte, wo er war.

Während dessen sah ihn Gesima unverwandt an, mit großen, starren, glänzenden Augen, mitgenießend und mitgerissen, die geschilderten Herrlichkeiten anstaunend und mehr noch seine Begeisterung, dieses Lodern einer fremden Feuerkraft aus Seelengegenden, von welchen ihrem jungen kleinen Mädchenherzen bisher noch keine Ahnung geflüstert hatte.

Mit einem Sehnsuchtseufzer berichtete er dann in überschwenglicher Ekstase von Marie, der Regimentstochter in Person, der entzückenden Heldin der Oper. Ein Mädchen, so grundverschieden von den gemeinen Alltagsmädchen wie ein Engel von einem sündigen Menschen. Heldenhaft, mutig und tapfer in Gebärde, Blick und Gang, militärisch keck und frisch, in einer Art Uniformröckchen, ein Fäßchen angebunden, grüßend wie ein Soldat, und schön, schön! Eine farbige Schärpe um die Schultern, [68] ein kleines feines Mäulchen und prachtvolle Augenbrauen, die sie zuweilen zornig zusammenzog; und wo sie auch ging und was sie auch tat, immer schwebte ein unnennbarer Glanz um sie herum, der sie von allen andern Menschen auf der Bühne unterschied. Und wie sie singen konnte! viel lieblicher und höher als die übrigen, das trillerte nur so heraus. Aber das Aller-allerherrlichste war doch, wenn sie mit dem Fuß stampfte und dazu fluchte: »Sapperment«, »Sapperlot«, »Sackerlot«, einmal sogar »Donnerwetter«.

»Ich kann auch Sapperment sagen«, flüsterte Gesima wehmütig und neidisch.

»Du?« und betrachtete sie, als ob sie ihm Petri wunderbaren Fischzug verspräche. Und als sie wirklich laut und deutlich Sapperment rief und mit dem Fuß dazu stampfte, jubelte er hoch auf, umschlang sie mit den Armen und quetschte sie einige Male. Plötzlich ließ er sie los, sah scharf in die Ferne, wo er einen wichtigen Gedanken bemerkte, dann legte er ihr die Hände auf die Schultern und schaute ihr fest ins Gesicht. »Willst du, willst du nächsten Winter am Kadettenball meine Tänzerin sein? Es wird dir nicht zur Unehre gereichen, denn im Spätherbst werde ich Offizier. Dann erscheine ich im Tanzsaal mit einem Schleppsäbel und einer breiten roten Schärpe; Quasten und Fransen an der Schärpe, die bis ans Knie reichen; in den Kragen und in die Aufschläge der Ärmel (schwarzsamt, wie du siehst) kommen dann noch goldgestickte Granaten; Lackstiefel und weiße Hosen verstehen sich von selbst. Also, willst du? Gesima?«

»Unter der Bedingung, daß du mir eine Verbeugung machst.«

Da wippte er mit dem Oberkörper.

»Ja, aber von einem Offizier verlange ich bessere Verbeugungen, hübschere, gefälligere. Du verbeugst dich so, daß man dir ansieht, du bist einmal ein Storch gewesen. Komm, ich will dichs lehren.«

Und führte ihn abseits in den Schatten eines Nußbaumes und [69] erteilte ihm dort auf dem Rasen eine kleine Ergänzungstanzstunde. Als ers schließlich leidlich hübsch konnte, gaben sie sich die Hand und verlobten sich feierlich zum Kadettenball.

Nachher setzten sie ihre Reise fort, nunmehr als erklärte Freunde und Kameraden, traulich und herzlich. Die junge Eintracht machte sie so vergnügt, daß sie von selber zweistimmig zu singen anfingen, immer die nämliche Melodie: das jubelnde Siegesthema aus der Regimentstochter, das ihnen, je öfter sie es wiederholten, um so lieber wurde.

Während des Singens schlenkerte Gerold zum Spiel Gesimas Arm von sich, um ihn nach dem nächsten Schritt wieder aufzufangen wie einen Pendel; und ihr Arm federte so flügelleicht, daß er dem gelindesten Druck seiner Finger nachgab. Weil er aber dazu beständig in den blauen Himmel schaute, kam ihm vor, als ob ihre Stimme nicht neben ihm, sondern dort oben jauchzte, mit himmelblauen Tönen und silbersprühenden Aufleuchtern, sooft sie eine höhere seligere Note nahm.

Wer ihnen begegnete, vermählte sie mit dem Blick, lächelte ihnen wohlwollend einen Gruß zu und schaute ihnen nach. Eine Kleinkinderschar, die sie einholten, gaffte sie mit offenen Mündern an. »Nehmt euch ein Beispiel«, mahnte die Kindergärtnerin, auf Gerold und Gesima zeigend. »Tobias mit dem Engel Raphael«, vermutete ein naseweises Stimmchen aus der Kinderschar.

[70] Das verräterische Springseil

Also singend gelangten sie zu einem komischen Zwergstädtchen, das bloß aus einer einzigen Straße bestand. »Weidenbach«, belehrte Gesima. Am Eingang des Städtchens stand Hansli in feindseliger Stellung, die Beine gespreizt, mit höhnischem Gebärdenspiel ein Stück Brot vorzeigend und verzehrend, in der Hoffnung, Neid zu erwecken; aber beim Näherrücken des gefährlichen Kanoniers stahl er sich vorsichtig um die Ecke, den Durchpaß freigebend, und die Verbündeten zogen in Weidenbach ein.

Appetitliche Gerüche von Fleischbrühe und Körbelkraut grüßten die Vorübergehenden; aus kühlen, verhängten Stuben klapperten Teller und Löffel, ein sonnenfeindlicher Hut- und Handschuhladen entsandte einen muffigen Hauch fremdländischen Aroms. Durch schwarze Hausflure gewahrte man besonnte Hofwinkelchen, ähnlich den Sentisbrugger Glückseligkeiten, nur auf andern Stengeln. Auf der Schattenseite der Straße trieb ein Scherenschleifer seinen Wetzstein, daß das Schnurren und Kritzen das stille Städtchen erfüllte. Neben ihm erschien, aus einem Hausgang tretend, von einem Völklein neugieriger Kinder gefolgt, eine Magd mit einer Mäusefalle, gleichgültigen Blickes das Städtchen nach Zerstreuungen absuchend, als ob sie ein Haushaltungsgeschäft besorgte wie ein anderes. Eine aufgeregte Katze schmiegte sich kosend an ihre Füße, weiche, flehende Töne gespannter Mordlust jammernd. Schaudernd beschleunigte Gerold seine Schritte und schaute kummervoll zum Himmel, ob nicht das teuflische Henkerspiel dort oben einen Schmutzfleck in der Welt zurücklassen werde. Neben der Herzensangst des Mitleids quälte ihn überdies ein dumpfes Schuldgefühl, da ihm sein Gewissen [71] zuflüsterte, alles, was immer geschehe, gehe die Verantwortlichkeit sämtlicher Gegenwärtiger an. Und dazu surrte das Rädchen des Scherenschleifers geschäftig weiter, und seine scharfen Messer kreischten so schrill, daß es einen bis ins Knochenmark fror, wenn man sich an die Stelle des Wetzsteines lebendiges Fleisch dachte. Als er aber seinen Abscheu vor dem schauderhaften Benehmen der Katzen mit den Mäusen aussprach, wurde er von Gesima gescholten.

»Geschieht den Mäusen nichts als recht«, urteilte sie, »warum fressen sie die Vorhänge!«

Vor einem Zuckerbäckerladen am Ausgang des Städtchens gestand Gesima, Hunger zu verspüren. »Ich habe kein Geld«, bedauerte Gerold. »Hingegen ich! fünfzig Rappen!« Und überredete ihn einzutreten.

»Guten Tag, Kinder, was ist euch gefällig?« fragte die freundliche Verkäuferin. Nach einigem Zaudern entschied sich Gesima für Pomeranzen. »Wieviel für fünfzig Rappen?« »Vier, und eine fünfte obendrein, weil ihrs seid. Aber ist das nicht, oder täusche ich mich, Gesima Weißenstein von Bischofshardt? Wie kommen denn Sie dazu, Fräulein, am heißen Mittag zu Fuß auf der Landstraße zu reisen? Wollen Sie nicht vielleicht ein wenig ausruhen und einen Teller Suppe essen?« Doch Gesima verneinte dankend.

Jenseits des Städtchens spähten sie nach einem Plätzchen, wo sie die Pomeranzen am behaglichsten verspeisen könnten. Über dem Straßenbord auf der Höhe eines Wiesenraines ruhten zwei Heuwagen, haushoch überladen, zur Heimfahrt bereit, aber noch nicht mit Pferden bespannt. In den Zwischenraum dieser beiden Wagen setzten sie sich wie in ein Stübchen, mit einer leuchtenden, weißen Wolke zum Dach. Nun klaubte das Mädchen mit der Daumenbreite die dicken, pelzigen Goldschalen zu einem Kranz auseinander und bot das Kunststück ihrem Beschützer an. »Nimm!« Während sie so einträchtig schmausten,[72] schlich sich unten auf der Straße Hansli herbei und guckte ihnen zu, furchtsam und begehrlich wie ein fremder Hund vor der Gasttafel; es fehlte bloß, daß er winselte. »Kannst fasten«, riefen sie ihm schadenvergnügt zu, »hasts verdient, ist dir gesund«, und so oft sie eine Pomeranze erledigt hatten, schickten sie ihm die Schalen ins Gesicht. Dann warf er den Kopf nach allen Richtungen, wie der Dächsel, wenn eine Wespe vorüberfliegt, prüfte mit gierigem Blick die enttäuschende Bescherung und nahm betrübt seine demütige Kapuzinerstellung wieder ein.

Ein Hausierer, den Wiesenrain schräg hinansteigend, erschien vor dem luftigen Speisestübchen, auf den Schultern statt der Epauletten grellfarbige Tücher, Hosenträger und Springseile, in dem baumelnden Hängekorbe Knöpfe, Ringe, Nadeln, Salben, Schwefelhölzchen, ein ganzer Jahrmarkt. Und beim Gehen stützte er den Korb mit dem Knie, als ob er Drehorgel spielen wollte.

Gerold ließ er unbehelligt, dagegen das Mädchen suchte er mit zudringlichen Aufmunterungen heim, indem er ihr die Kinkerlitzchen vor die Augen spiegelte. Sie bog verächtlich den Kopf weg, als ob er ihr Ungeziefer vorgehalten hätte. Als jedoch ein Springseil an die Reihe kam, glänzten ihre Augen. Nun erlaubte er ihr, das Springseil versuchsweise zu benützen. Da sprang sie lustig in dem Schwungrade herum, wie der Mann im Monde, warf dann plötzlich das Seil weg, setzte sich nieder und schloß die Augen, dem Händler den Rücken kehrend. Jetzt hielt jener das Seil dem Gerold unter die Nase, so lange, bis dieser ganz verlegen wurde. »Wir haben kein Geld«, munkelte er endlich kleinlaut und wandte sich ebenfalls ab.

Nachdem der Krämer noch eine Zeitlang in seiner Verkaufsstellung beharrt hatte, ohne sich um die verneinende Mimik des Kanoniers zu kümmern, stieg er den Rain hinab auf die Straße und machte sich an Hansli, welcher, die Hände in den Hosen, dem Handel aufmerksam zugesehen hatte. Der gaffte eine Weile[73] das Springseil an, schnitt dann plötzlich ein schlaues Gesicht, griff in die Tasche und zeigte mit einladenden Winken dem Mädchen seinen Fünffrankentaler. Sofort eilte Gesima zu ihm hinunter, schmiegte sich an ihn und empfing nach kurzer Verhandlung das ersehnte Springseil zum Geschenk glückselig aus Hanslis Händen. Hierauf zogen sie beide, Hansli und Gesima, fröhlich ab, mit den Schultern aneinanderklebend und unter geheimnisvollem Zischeln spöttische Blicke nach dem verlassenen Kanonier zurücksendend, welcher mit zornigen Schritten nachfolgte, um das treulose Mädchen zur Pflicht zurückzumahnen.

»Du bist ja bloß ein Storch!« rief sie ihm schnippisch zu, sobald sie einen überfallssichern Zwischenraum hinter sich gelegt hatte, und Hansli ergänzte die Schmähung, indem er es für vollständig richtig und vernünftig ausgab, daß Gesima keine Gemeinschaft mit einem so unwissenden Buben pflegen möge, der mit elf Jahren noch nicht einmal gelernt habe, daß man nur ein einziges Mal auf der Welt sei und das nämliche Erlebnis nicht zweimal erlebe. Hiermit liefen sie beide in siegreichem Trab davon, mittelst dessen sie sich rasch entfernten. Dazwischen hopsten sie zur Abwechslung beiläufig über die Steinhaufen zu beiden Seiten der Straße, Hansli zu Fuß, seine Freundin im Flug durch das Schwungrad; schließlich tauchten sie am Horizont unter, Stück für Stück von den Füßen aufwärts, bis sie gänzlich versanken.

Gerold aber war empört, einfach empört. Erstens darüber, daß seine Reisegefährtin, mit welcher er vor wenigen Minuten noch so traulich die ›Regimentstochter‹ gesungen, seine Verbündete, mit welcher er sich zum Kadettenball versprochen hatte, verräterisch zum Feinde überlief, zweitens über die schändliche Veröffentlichung seiner Geheimnisse. Es war das erste Mal gewesen, daß er überhaupt einem Menschen mitgeteilt hatte, er sei ein Storch gewesen und erlebe manches zweimal; wenn er es Gesima anvertraut hatte, so war das selbstverständlich [74] unter der stillschweigenden Bedingung geschehen, sie betrachte es als einen Beweis der Freundschaft und behalte es bei sich. Und nun geht sie und schwatzt es aus und gibt ihn der Lächerlichkeit preis! Das fand er gemein, einfach gemein. Vor Groll stieß er mit den Fußspitzen den Staub vor seinen Füßen auf, daß er wie in einer Wolke einherwandelte. Dann warf er das treulose Geschöpf verächtlich aus dem Sinn. Was brauchte er eine Gesima! was ging ihn das ganze falsche Mädchengeschlecht an! Er hatte Besseres als das: seinen schönen Kadettengeneral, der ihm nicht untreu werden konnte, weil er ja sein Gefangener auf Ehrenwort war. Und nun überließ er sich wieder der beseligenden Vorstellung, wie der schöne Feind, vor ihm auf das linke Knie sinkend, sich ihm ergab, indem er ihm den Säbel waagrecht hinreichte und mit seinen blauen Augen um Gnade flehte. Weiter vermochte er die Geschichte mit aller Gedankenanstrengung nicht zu führen, er fiel ewig in diese einzige Szene zurück, die aber enthielt eine solche Süßigkeit, daß er gar nicht ungerne daran kleben blieb, wie die Fliege an einem Milchtropfen.

Während er dieses wonnige Erlebnis im Herzen abhandelte, schickte er gleichzeitig seine Blicke in die Wirklichkeit auf die Weide; das eine störte das andere nicht; im Gegenteil: je andächtiger er dem inwendigen Bilderspiel zuschaute, desto schärfer sahen seine Augen nach außen.

Die Straße führte durch grüne Wiesen und gelbe Rapsäcker wie zwischen blühenden Gartenbeeten. Oben am lerchendurchjauchzten Himmel türmten sich leuchtende Weißwolkenberge, in den Feldern gaukelte eine Kavallerie von Schmetterlingen, und die ganze Welt war vom Sonnenglast wie mit Fenstern überspiegelt, so daß die Luft flimmerte und zitterte. Von Menschen war keine Spur zu erblicken, wahrscheinlich wegen der sogenannten Mittagshitze. Was sie doch immer für ein unbegreifliches Gezeter gegen die ›Hitze‹ anhoben, die Erwachsenen! Er hatte den[75] Grundsatz: je heißer, desto lieber, denn je heißer, desto mehr Farben zwischen Himmel und Erde, desto mehr Wohlgerüche im Walde, desto mehr Leben auf dem Felde.

Dagegen Bremsen, ja, deren gab es eine Unmenge; von allen Nummern und Tonarten. Die summten dumm-tölpisch um ihn herum, wie betrunkene Racheengel um ein böses Gewissen; seine gesamte Uniform von oben bis unten war von den Musikanten gesprenkelt, grau auf dem dunkelgrünen Waffenrock, schwärzlich auf den hellen Hosen. Die Bremsen nahm er gelassen mit, ließ sich auch von den Blutstropfen nicht ärgern, die ihm von den Wangen herunterrieselten. Nur wenn ihn eine gar zu frech in die Hand stach, zielte er, ohne sich zu beeilen, nach dem Blutsauger und patschte ihm auf den Kopf. Dann fiel das Glotzauge rücklings auf die Straße, gabelte mit den Beinen, spielte mit den Armen Violine und vergrub sich mit rüttelnden Bewegungen in den Staub.

Er war zufrieden, und ihm war wohl. Hatte er nicht recht gehabt? was brauchte er Gesima! allein war ihm am wohlsten.

[76] Beim Narrenstudenten

Ein sonderbarer Mensch, wie ein Schauspieler, aber mit einer Brille auf der Nase, trat auf ihn zu, grüßte ihn beim Namen und fragte ihn, warum er so fidibum fideralla einherziehe, als ob die Welt ihm gehöre.

»Weil mir wohl ist.«

»Amen«, sprach der Fremde.

»Oder ist denn das etwas Böses?«

»Im Gegenteil, etwas ganz Vorzügliches, Beneidenswertes. Aber bist du denn Beelzebub, der Fliegenkönig, daß du beide Backen schwarz voll Bremsen hast? warum scheuchst du sie nicht weg?«

»Weil ich sie liebe.« Da aber bei diesem Spruch der andere hellauf lachte, fügte er schnell zur Entschuldigung hinzu: »Sie tönen so angenehm; das heißt, nicht die gewöhnlichen, sondern die ennetbirgischen, die welschen.« Und als der Unbekannte ihn mit aufgeräumter Miene ersuchte, er möge ihn doch gefälligst den welschen Bremsen vorstellen, da er noch nicht die Ehre habe, sie zu kennen, nahm ihn Gerold zu sich heran, hieß ihn stillestehn und sagte dann nach einer Weile: »Hörst dus jetzt? peing, pang, wie eine Metallsaite.«

»Wahrhaftig, du hast recht. Du verstehst vielleicht mehr von der Schönheit als ich mit all meinem Studieren. Überhaupt, weißt du, Gerold, du kommst mir vor wie ein Fink in einem blühenden Zwetschgenbaum, der es ganz selbstverständlich findet, daß ihm ein grünes Nest unter dem Leibe wächst. – Wollen wir ein bißchen zusammen wandern?«

»Nein.«

»Oha!« lachte der Unbekannte, schob die Brille auf die Stirn [77] und tippte sich mit der Hand auf die Nase, »da hast dus!« Hernach entfernte er sich, indem er ein Buch hervorzog und eine zweite Brille aufsetzte.

Jetzt merkte Gerold, daß er den Narrenstudenten vor sich hatte. Flugs sprang er in den Busch, raffte einen halbdürren Baumast vom Boden und schlug damit dem Unhold über den Bauch.

»Oho!« schrie dieser und zog ein Bein zum Schutz empor. Nun brach Gerold den Baumast übers Knie und schmiß ihm die Stücke einzeln ans Bein.

»Hopla, du grober Gesell!« rief der Narrenstudent, »jetzt wird mirs denn doch zu stark«, packte ihn am Arm und heischte drohend Auskunft, warum er so völkerrechtswidrig behandelt werde.

»Weil du der Narrenstudent bist«, versetzte der Kanonier trotzig, mit herausfordernder Miene.

»Das stimmt«, sagte der Narrenstudent kopfnickend und ließ den Arm fahren. Dann fügte er mit einem eigentümlichen Lächeln hinzu: »Ein jeder, wie ers versteht. Du bist halt auch ein Stück öffentlicher Meinung; und keines von den schlechtesten. Es wäre vielleicht erträglicher, wenn einem die andern ebenso offen und ehrlich auf den Bauch schlügen; das ist ein Stimmungsausdruck wie ein anderer; und man weiß doch, woher es kommt, und kann sich dagegen wehren. Aber so kannibalisch brauchtest du deswegen gleichwohl nicht zu hauen, ich hätte auch eine bloße Andeutung verstanden. Wer weiß, ob du nicht selber einmal in den Wäldern herumläufst, der Welt zum Spott, wenn du einmal mein Alter hast und der Engel mit dem feurigen Angelhaken kommt. Ich möchte dirs zwar nicht wünschen; aber du siehst mir gerade danach aus, mit deinen Johannisaugen.«

Doch Gerold hatte Wichtigeres zu tun als zuzuhören. Ein Krokodil aus grünem Stein, das der Narrenstudent an der Uhrkette hängen hatte, bezauberte seinen Blick. »Nicht wahr, das [78] ist ein wunderbares Krokodil?« lachte der Narrenstudent. »Wenn du mich in meine Einsiedelei begleiten willst, so zeige ich dir noch viel merkwürdigere Sachen. Willst du?«

Gerold nickte und folgte dem Narrenstudenten in den Wald; über weiches Moos, längs einem Bächlein, neben Felsblöcken vorbei.

»Gelt, du hast sie lieb, deine Gesima?« forschte der Narrenstudent unterwegs.

»Ich hasse Gesima, denn sie ist ein falsches Mädchen.«

»Das ist kein Grund; man kann auch falsche Mädchen liebhaben, die falschesten vielleicht sogar am liebsten. Nicht wahr, das begreifst du nicht? Ich will dirs erklären: hast du jemals ein Eichhörnchen gehabt?«

»In einer Drille.«

»Hat es dich nie heimtückisch in den Finger gebissen?«

»O ja, mehr als einmal, wenn ich ihm zu fressen gab.«

»Und hast du dafür das Eichhörnchen totgeschlagen oder fortgeworfen?«

»Das wäre doch schade. Ich habe einfach dazu gelacht.«

»Nun siehst du, gerade so muß mans mit den Mädchen machen, wenn sie falsch sind und einem hinterlistig wehtun. Nicht sie deswegen fortstoßen, das wäre schade, sondern einfach darüber lachen. Was hat sie dir denn so Schlimmes angetan, deine Gesima? laß hören.«

Da erzählte ihm Gerold alles von Anfang an, von ihrer Freundschaft, von ihrem Bündnis zum Kadettenball, von der schmählichen Untreue Gesimas wegen des Springseils.

»Und jetzt sinnst du wahrscheinlich auf Rache?«

»Das heißt, wenn ich eine Rache wüßte, welche nicht boshaft und unedel wäre.«

»Ich weiß dir so eine; eine fürchterliche Rache, und doch keine boshafte und unedle! Nimm du sie am Kadettenball fest um den Leib und tanze mit ihr so lange, bis sie um Hilfe schreit, [79] vorwärts und rückwärts, linksum und rechtsum, und erlaube ihr den ganzen Abend nicht mit einem andern zu tanzen oder auch nur ein Wörtlein mit jemand anders zu reden als mit dir.«

Gerold lachte vergnügt: »Das ist gut! Das will ich mir merken. Und nicht wahr, deshalb, weil ich sie zum Kadettenball eingeladen habe, brauche ich sie deswegen noch lange nicht zu heiraten?«

»Kein Gedanke! noch lange, lange nicht.«

»Wen heiratet man eigentlich?«

»Seine künftige Frau.«

»Ich meine nicht so. Ich meine: wie kann man wissen, wen man heiraten soll?«

»Das macht man folgendermaßen: man stellt sämtliche Mädchen der ganzen Stadt in eine lange Reihe und hält an jede das Ohr daran, wie der Doktor, wenn man den Husten hat. Und jene, welche seufzt, als wenn sie zu viele Pastetchen gegessen hätte, die heiratet man.«

»Das ist nicht wahr, das glaube ich dir nicht.«

»Es ist freilich wahr, nur hat bei mir die Wahrheit einen Fastnachtdomino an, weil ich halt der Narrenstudent bin.«

»Ich möchte gern etwas Dummes fragen«, begann Gerold nach einer Pause zögernd.

»Bitte inständig, tu mir den Gefallen. Eine gesunde Dummheit fragen zu hören, nachdem man so viel anspruchsvollen Aberwitz hat müssen behaupten hören wie ich, das ist ja eine wahre Erlösung. Also bitte, Gerold, erbarme dich: frag eine Dummheit.«

»Ich fürchte, daß du mich auslachen wirst.«

»Ich lache niemals eine Dummheit aus, bloß eine Weisheit. Also, mutig! närrischer als ich bin kannst du doch nicht fragen.«

»Warum muß man durchaus ein Mädchen heiraten und nichts anderes?«

[80] »Ja, wolltest du lieber einen Heuschreck heiraten?«

»Das nicht, aber –«

»Aber?«

»Meinen schönen Gefangenen.«

»Was ist das für ein Bruder Benjamin?«

Da erzählte ihm Gerold errötend sein Geheimnis von dem schönen feindlichen Kadettengeneral, der ihm seit einem Jahr täglich erscheine, sobald er allein sei und nachts im Bette, im Wachen wie im Traum.

Der Narrenstudent stand mit offenem Munde still: »Sag einmal, du Riesenpudding von einem Knirps, wie alt bist du denn eigentlich?«

»Elf Jahr und zwei Monate.«

»Elf Jahr und zwei Monate! und schon Engeleien im Kopf! Gerold, du bist ein Phänomen.«

»Was bedeutet das: ›ein Phänomen‹?«

»Nichts Beleidigendes. Und wenn du je einmal das Wort Phänomen schreiben mußt, so tu mir den Gefallen und setz ein Ph an den Anfang oder meinetwegen, wenns nicht anders geht, ein F, nur nicht ein Pf, wie der Präsident vom Niedereulenbacher Cäcilienverein. Um aber auf deinen holden Kadettengeneral zurückzukommen, so will ich dir, weil du mir dein Geheimnis anvertraut hast, auch etwas Geheimnisvolles verraten, glaubs oder glaubs nicht, aber merk dirs und behalt es: der Kadettengeneral verwandelt sich später, mag sein in fünf, mag sein in sieben oder acht Jahren, in ein lebendiges Mädchen, das du sehen kannst und das ›Gerold‹ mit einem langen, langen e zu dir sagen wird, wie wenn ein h dahinterstände. Hast du sonst noch etwas zu fragen?«

»Ja. Warum erlaubt der liebe Gott den Katzen, die Mäuse so grausam zu martern, statt sie gleich zu töten?«

»Wo hast du den lieben Gott her?«

»Aus der Bibel.«

[81] »Und vom bösen Teufel, steht da nichts in der Bibel?«

»Freilich, allein der Herr Pfarrer hat uns in der Religionsstunde gesagt, es gebe doch keinen Teufel.«

»Sag dem Herrn Pfarrer einen Gruß von mir, und ich lasse ihm sagen, er sei ein Gummipfarrer; aber warte erst, bis du alle Examen gemacht hast, ehe du ihm das sagst. Überhaupt? Gerold, nimm dich in acht, du fängst an zu denken, das ist ein verpöntes Handwerk, ein unpatriotisches, gemeinschädliches, menschenfeindliches. Wenn du so fortfährst, machst du dich erstens rundum verhaßt, und zweitens findest du eines Morgens das Narrenpatent neben deiner Kaffeetasse, verlaß dich darauf! Denk nicht, Gerold! Denk nicht!«

Unter solchen Gesprächen waren sie vor ein Mooshüttchen angekommen, auf dessen Dache eine papierene Windfahne sich drehte, einen helmbewehrten Jüngling und eine gräuliche Hexe darstellend, der Jüngling mit einer Rute, die Hexe mit einem Besen in der Hand. »Das ist meine Wetterfahne«, erläuterte der Narrenstudent, »wenn der Jüngling die Hexe in die Flucht schlägt, gibt es schönes Wetter in der Welt. – Doch treten Sie gefälligst ein, Herr Kommandant, es ist eine Bank im Hüttchen, Platz genug darauf für zwei räudige Böcklein, wie wir sind. – So, jetzt mach dirs bequem. Und sieh dir an, was du magst, du darfst alles hervorziehen, alles öffnen, alles herausnehmen; für dich habe ich weder ein Verbot noch ein Geheimnis, und Ordnung gibts bei mir nicht. Unterdessen will ich den Altar rüsten. Falls du irgendeine Auskunft brauchst, so frag nur, ich bin dicht nebenbei und höre jedes Wort, das du sagst.« Damit verließ er das Hüttchen.

Gerold aber zog eine Kiste unter der Bank hervor und kramte darin. Alte Münzen kamen zum Vorschein, Versteinerungen, gepreßte Pflanzen, verschiedenfarbige Gläser. »Nicht wahr«, lachte der Narrenstudent, den Kopf durch eine Lücke in der Wand steckend, als Gerold unersättlich die Gläser vor die Augen [82] hielt, »nicht wahr, wie die Welt ein verschiedenes Gesicht macht, je nach dem Glas, durch welches man sie ansieht?«

»Warum ist dieses Heft leer?« fragte Gerold.

Wieder steckte der Narrenstudent den Kopf durchs Guckfenster. »Das Heft ist nicht leer, sondern das ist eine Art Zauberheft, mit sympathetischer Tinte bemalt; wenn du lange Zeit scharf auf ein einziges Blatt siehst, so kommt etwas Wunderbares.«

»Ja, jetzt sehe ich etwas, aber undeutlich. Früchte und Blumen oder so etwas Ähnliches.«

»Recht so, aus den gläubigen Büblein wachsen die trotzigen Männer; weißt du auch, Gerold, daß du ein Sonntagskind bist?«

Gerold schüttelte den Kopf. »Ach nein«, entgegnete er betrübt, »Sonntagskinder sind immer die jüngsten von mehreren Brüdern, ich aber bin der ältere von zweien.«

»Irrtum, mein Lieber! Irrtum! Man ist immer der Jüngste, wenn man in den tiefen Brunnen hineinlebt, wo die Zeit mit dem Eimer die Gegenwart aus der Ewigkeit schöpft; und ein Sonntagskind bedeutet nicht einen Menschen, dem alles von selber gelingt, so einen gibt es in der Wirklichkeit gar nicht, sondern einen solchen, der über die grauen Werktage hinweg schließlich an einen roten Heiligen gelangt, einerlei wann und wie. In der Zwischenzeit geht es mitunter dunkelbraun und schwarz zu. Tut weh, aber schadet nichts.« Nach diesen Worten verschwand sein Kopf wieder aus der Luke.

»O!« rief Gerold entzückt, mit saugendem Atem.

»Was freut dich so? sag an, beschreib.«

»Eine wunderschöne Reiterin, prächtig mit Wasserfarben gemalt. Hast du das gezeichnet?«

»Ich weiß nicht, was für eine Reiterin du meinst.«

»Sie sitzt auf einem Schimmel und gleicht ein wenig Gesima. Darunter steht: Hilda Maria Anita von Weißenstein, geb. Freiin – was heißt das, ›geb. Freiin‹?«

Der Narrenstudent kam aufgeregt zur Tür hereingeschossen. [83] »Wo hast du das Bild gefunden? Komm, wir wollen es geschwind wieder verstecken.« Und schob es hastig in eine Mappe, die er mit einem Schlüsselchen verschloß. Dann bekam er einen langen, peinlichen Hustenkrampf.

»Gerold, ich beneide dich um deinen Kadettengeneral«, seufzte er dann, als er wieder ein wenig zu Atem kam, »du hast ihn besiegt, er ist dein Gefangener und bleibt bei dir. – Meine Generalin dagegen – o weh! – Doch komm jetzt, der Altar ist gerüstet.«

Auf einen Steinschemel neben der Hütte war ein rotes Tuch gebreitet, und darüber in einer nackten Felsennische standen zwei farbige Wachskerzchen geklebt, »eins für dich und eins für mich«, belehrte er, »das Heiligenbild dahinter muß man sich hinzu denken; jeder, was er am liebsten hat; das ist sein Heiligenbild. Und jetzt wollen wir zu dem Heiligenbild beten, ganz kurz –, du darfst dich setzen, hier auf den Schemel, und brauchst keineswegs die Hände zu falten. ›Möge uns von denen, die wir liebhaben, niemals Böses geschehen.‹ Das genügt; das Gebet ist aus. Und jetzt kommt der Gesang, allein vorher zünden wir die Kerzen an.« Nachdem er die Kerzen angezündet hatte, nahm er eine Geige zur Hand und spielte ein Vorspiel, kunstvoll und rein, wie ein Musiker; dann begann er auf lateinisch ein Lied zu singen, während er sich mit der Geige dazu begleitete; das Lied klang so ernst und traurig, daß Gerold trotz dem Verbot die Hände faltete; und die Stimme des Narrenstudenten, sonst schwach und farblos, tönte, während er sang, überraschend stark und doch sanft und wohllautend, ungefähr wie der Ton eines Cello. Gerold hörte andächtig zu; befriedigt im Gehör und in der Seele; ihm war, er säße in einem Kirchenkonzert.

Plötzlich flog ein Stein, durch Sträucher rauschend, gegen das Hüttchen. »Da hast dus«, sagte der Narrenstudent traurig, indem er schnell die Geige weglegte, »Violinspiel und Singen am hellen Tage reizt ihren Haß. Gerold, Gerold, glaub du an Teufel! [84] und zwar an viele, viele Teufel! Das da war der Gemeindeteufel Populo, der alles anfeindet, was anders und ungewohnt ist, ob es schon niemand das mindeste zuleid tut. – Geh du jetzt deiner Wege, der Aufenthalt beim Narrenstudenten ist nicht ratsam.« Als sich jedoch Gerold dankend entfernen wollte, fügte er hinzu: »Halt! hollah! nicht so schnell! Dich begleiten wir. So einen muß man auf die gebahnte Straße stellen, sonst bleibt er uns an einer wohlriechenden Staude hangen. Nach welcher Richtung zieht es dich? Gesima zu oder Gesima entgegen?«

»Gesima entgegen.«

»Gut, so führen wir dich Gesima ›entgegen‹.« Und schritt ihm durch den Wald voran.

Während sie so hintereinander gingen, berichtete Gerold seine leichtsinnige Tat mit dem geschenkten Fünffrankenstück. Was er ihm rate, daß er nun tun solle; kommen lassen, was von selber kommen werde, oder der verdienten Strafe durch ein Bekenntnis entgegengehen.

»Überlaß das mir; ich werde es heute abend Papa erzählen; er wird nicht bloß nicht ungehalten über dich sein, sondern an dem Dragonerstücklein eine unbändige Freude haben, ich kenne ihn.«

»Hast du nicht Angst vor deinem Papa?«

»Man hat niemals Angst, für einen andern etwas zu tun. – So, hier sind wir an der Landstraße. Geh jetzt nur schräg über den Weg zu jenem Häuschen dort, wo geschrieben steht ›Althäusli‹, und leg dich auf die Bank vor der Haustür, du wirst dann schon sehen, was kommt. – Worauf wartest du noch? warum guckst du mich so sonderbar an?«

Gerold schaute verlegen auf seine Schuhe. Er danke ihm für alles, stammelte er, und es reue ihn, ihn anfänglich geschlagen zu haben, aber er könne es leider nicht aussprechen, weil er den Satz ›es tut mir leid‹ nicht herausbringe, so sehr er sich auch Mühe gebe.

[85] Der Narrenstudent lachte. »Auf den Stuhl gelegt ist auch abgeliefert; ich nehms für empfangen.«

Doch Gerold war damit nicht zufrieden. Er finde es so schön und edel zu sagen: ›Es tut mir leid.‹ Ob er ihm keine Anweisung geben könne, wie man es anfange, um diesen Spruch hervorzuringen.

»Das kommt dir plötzlich ganz von selber, wenn du einmal einen Menschen so recht von Herzen gern haben wirst. Die vier Wörtlein kommen dir dann so willig und lustig mit allen vier Beinen zwischen den Zähnen herausgesprungen, wie ein Rößlein über einen Zaun. – Fehlt dir immer noch etwas?«

»Ja, das Schlimmste von allem.« Und berichtete ihm von der Schrift, die er heute morgen unten im Waldgraben, im Geschiebe der Aar gefunden und was für ein Urteil er darunter geschrieben: ›Abscheulicher Mensch, den niemand gern hat, nicht einmal sein eigener Vater‹. »Aber ich würde es jetzt nicht mehr schreiben, ich weiß jetzt, daß es nicht wahr ist.«

»Doch, doch, es ist wahr; du hast buchstäblich richtig geschrieben. Ich bin ein abscheulicher Mensch, den niemand gern hat, nicht einmal mein eigener Vater.« Dann fing er an zu husten, steckte den Hals zwischen die Schultern und rannte mit heftigen Armschwüngen in den Wald zurück.

Nun hätte ihm Gerold gerne nachgerufen: ›Es tut mir leid‹, allein es war zu spät, der Narrenstudent war schon weit weg, im Gebüsch verschwunden. Also tat er, wie ihm befohlen war, und zog quer über die Straße schräg bis zum ›Althäusli‹ und legte sich dort auf die Bank neben der Haustür, den Kopf über die Lehne, die Beine über die andere Lehne, denn die Bank war viel zu kurz für ihn.

[86] Im Althäusli

Als er eben daran war, mit der Behaglichkeit recht in Zug zu kommen, betastete eine feuchte, kalte Hundeschnauze seine Wange, und zwei blutunterlaufene Augen glotzten ihm ins Gesicht, entschuldigten sich jedoch sofort mit gutmütigem Blinzeln, als wollten sie sagen: ›Ach so, du bists.‹ Hierauf paradierte das ganze Ungeheuer mit seinem Zottelpelze vorüber, unter freundlichen Krümmungen von Station zu Station das schwappige, schwarzangerauchte Mundstück an den Körper des Liegenden stoßend. Nachdem das gesamte Zotteltier mit Einschluß des Schweifes an ihm vorbeidefiliert war, erwies es sich, daß das Ungeheuer eine Patrontasche nach sich schleifte, über welche es sich mit kläglichem Wedeln beschwerte. Aus der Patrontasche zog Gerold den Schluß: der Hansli ist in der Nähe. Es dauerte auch nur wenige Sekunden, so kam dieser aus dem Hausgang gestürmt, mit rechthaberischem Lärm seine Patrontasche heischend. Wehe! da gewahrte er mit einem Schreckensschrei den beleidigten Bruder. »Gesima, gib acht, der Gerold ist da!« warnte er gellend als getreuer Rehbock seine Rieke und rettete sich mit schleuniger Flucht.

Gerold rührte sich nicht, aber rüstete heimlich seine Fäuste zum Empfang, die Augenlider tückisch bis auf die Wimpern geschlossen wie ein Kater, der etwas piepsen hört. Nach einiger Erwartung schien ihm, er röche etwas wie Veilchenduft; während er danach schnupperte, hüpfte ein Taschentuch, zu einer Gürtelmaus gedreht, über sein Gesicht, mit Ohren begabt und einem fabelhaft weitschweifigen Schwanze. Die Gürtelmaus schleuderte er auf die Landstraße. Dann glitt ihm ein eiskaltes Steinchen zwischen Haut und Kragen den Rücken hinab, immer [87] tiefer, Wirbel für Wirbel. Jetzt war er seiner Sache sicher: »Gesima!« Richtig, er hörte sie kichernd flüchten. Ergrimmt klemmte er die Lippen zwischen die Zähne und manövrierte sich unauffällig in eine bessere Angriffslage, mit den Zehen den Boden suchend. Lange Zeit regte sich nichts Verdächtiges mehr. Unversehens wurden ihm die Ohren von zwei weichen Händen verschlossen und seine Lippen von oben herab mit einem Kuß versiegelt. Voll Wut über diese unreinliche Gewalttat schnellte er zornschnaubend auf die Füße. Oha, diesmal war es nicht Gesima, sondern die fremde Frau, die er gestern im Postwagen zu Schönthal gesehen hatte. Während er sie verblüfft anstarrte, preßte sie ihm mit beiden Händen die Backen zusammen, so daß seine Lippen zwei Kissen bildeten, aber statt nun von ihm zu verlangen, er solle ›Pfaff‹ sagen, wie er meinte, daß sie tun werde, küßte sie ihn plötzlich noch einmal. So unappetitlich das war, so wagte er doch nicht zu murren. Jetzt erschien auch ihr Begleiter, der schöne Herr, auf der Schwelle. »Kommen Sie, Herr Oberst«, sagte er, mit einem lieblichen Lächeln um die Mundwinkel, das ihn an den Dolf gemahnte, »das Mittagessen wartet schon seit zwei Stunden auf Ihro Gnaden.« Hiemit legte er ihm die Fingerspitzen auf die Schulter und schob ihn mittels einer sanften Drehung des Handgelenkes in den Hausgang.

Im Winkel einer modrigen Veranda war für ihn gedeckt, hinter einem Vorhang trocknender Wäsche, welche beim Durchkriechen in ihrer ganzen Reihe erbebte. »Guten Appetit«, wünschte das fremde Paar und verzog sich über ein Brücklein nach dem Gemüselabyrinth eines verwilderten Gartens. Gleich darauf erschien ein kleines, lebhaftes Jüngferchen mit einer Suppenschüssel, stellte die Schüssel auf den Tisch und setzte sich neben Gerold. Erst wartete sie, bis er ein paar Löffel voll gegessen hatte, dann fing sie an, ihn auszufragen.

»Also in der Friedlismühle seid ihr, scheint es, übernachtet?«

[88] »Ja«, antwortete er kurz, denn er war am Essen.

»Und ›Tante‹, hat sie gemeint, solltet ihr zu ihr sagen?« »Wer?« »Nun, die lange Therese.« »Ja.« »Und hast du wirklich ›Tante‹ zu ihr gesagt?« – »Nein.« Da streichelte sie ihm freundlich über den Kopf. »Der Hansli behauptet«, fuhr sie fort, »der Dolf hätte dich beim Abschied beiseite genommen und dir etwas zugeflüstert oder zugesteckt. Hat er dir etwa einen Auftrag an mich gegeben oder einen Brief?« »Ja, wer bist du denn eigentlich?« »Das Marianneli.« »Ach so, du bist das Marianneli, ja, ich habe einen Brief für dich, ich weiß aber nicht mehr genau wo«, und fing an, in seinen Taschen zu kramen. »Ich will dir suchen helfen«, rief sie, warf sich hitzig über ihn, befühlte, betastete, begriff seinen Rock und seine Hosen und durchwühlte ihm seine Taschen wie ein Zollbeamter, wobei sie ihm unbefangen ihren heißen Atem ins Gesicht hauchte, als wäre er niemand. »Jetzt erinnere ich mich«, rief er plötzlich, »im Futter des Käppi.« Wie eine Katze fuhr sie danach, riß den Brief heraus und schnellte damit in die Ecke, überflog ein paar Zeilen, zerknitterte dann plötzlich das Papier mit der Faust, warf es weit von sich und rannte mit erbarmungswürdigem Schluchzen ins Haus. Ihrem Schluchzen antworteten drinnen Verwünschungen und Scheltworte, erst einstimmig, dann mit wachsender Stimmenzahl, bis in den Oberstock, wo ein wüster Lärm anhob. Immer flennte das Mädchen zum Erbarmen, und je verzweifelter sie weinte, desto ungebärdiger tobten die übrigen. Gerold aber konnte nicht fassen, wie man jemand, der ohnehin unglücklich ist, obendrein noch schelten könne. Auch das kam ihm unbegreiflich vor, daß der gute, freundliche Onkel Dolf, während er doch selber traurig zu sein schien, einen Brief sollte geschrieben haben, der einem andern Menschen wehe tut. Wie können überhaupt Briefe so schrecklich schaden auf Entfernungen, wo selbst ein Kanonenschuß nicht reicht? Und daß er selber als Protzwagen hatte dienen müssen, der dem armen Marianneli das giftige [89] Geschoß zubrachte, das war ihm auch nicht recht. Kurz, die ganze Geschichte war ihm nicht klar und gefiel ihm nicht; offenbar lebte man da über seinen Kopf und Verstand weg, ohne sich um ihn zu kümmern. Nun, so kümmerte er sich halt auch nicht darum. Und aß gleichmütig seine Suppe. »Wirst du auch gut bedient?« erkundigte sich der fremde Herr aus dem Gemüsegarten herüber. »O ja«, versicherte Gerold überzeugt, »vorzüglich.« Und vergnügte sich weiter mit seiner Suppe.

Siehe, da begannen die Unterhosen und Strümpfe, die vor ihm am Waschseil hingen, zu hüpfen und Purzelbäume zu schlagen wie Hampelmännlein, was ihn anfänglich ergötzte. Mit der Zeit beschlich ihn jedoch der Verdacht, es möchte bei dem Marionettentheater eine böse Hand im Spiele sein, und als er jetzt die schwarzen Strümpfe Gesimas unter einem großen Mannshemd beineln sah, verbat er sich entschieden die Kasperlevorstellung, widrigenfalls er der verborgenen Drahtzieherin einen Teller anschmeißen werde, einerlei wohin, und zwar auf ihre Verantwortlichkeit und Kosten. Da wurde die Vorstellung abgebrochen.

Dagegen erschien jetzt Hansli auf der Bühne, zwar in sicherer Entfernung, jenseits des Baches am Ufer des Gemüsegartens. Von dort versuchte er Unterhandlungen anzuknüpfen, auf dem Umwege erwünschter Zeitungsnachrichten. Die Leute hier, meldete er, seien mit Onkel Dolf befreundet, der oft tagelang im Althäusli wohne. Der Zottelhund zum Beispiel sei ein Geschenk von ihm (der Seppli, der Knecht, habe es ihm gesagt), ebenso der Braune im Stall, ein herrliches junges Rößlein, mit welchem sie, wenn er recht verstanden habe, nach Bischofshardt fahren dürften; nämlich der fremde Herr meine, es wäre zu viel für Gesima, die Strecke bis zur Stadt auch noch zu Fuß, und es komme wahrscheinlich ein Gewitter. Er, der Fremde, bezahle alles, die Fahrt und das Essen; er sei auf der Hochzeitsreise und furchtbar reich. Und ähnliches mehr. Da er aber auf diese staunenswerten Nachrichten keine andere Antwort als ein unwilliges Knurren [90] erhielt, merkte er, daß die Zeit für Unterhandlungen noch nicht reif war und verzog sich in den Hintergrund.

Nachdem Gerold die Suppe aufgegessen hatte, erging er sich ein wenig. Zunächst betrachtete er die Bleistiftzeichnungen, die längs den Wänden der Veranda aufgeklebt waren; Pferde, Soldaten, Gebüsche, alles säuberlich gezeichnet, aber mit hartem Bleistift, Faber Nr. 3, höchstens 2, und unter jeder Zeichnung stand geschrieben ›Adolphus Wengimannus fecit‹, mit verschiedenen Jahreszahlen. Auch ein Kupferstich war darunter: die Preisverteilung an einem Schützenfest mit Bechern und Fahnen, und der in der Mitte, dem der Kranz aufgesetzt wurde, glich dem Dolf.

Also von Bild zu Bild vorrückend, geriet er um die Ecke biegend auf ein Brücklein. Dort nahm er am Geländer Position, beide Arme bis zum Ellenbogen auf der Brüstung, der Kopf dazwischen und der linke Fuß auf der unteren Geländerstange wie auf einem Steigbügel. So blieb er stehen.

Ohrwürmer wimmelten über die Lehne der Brücke, den Fasern des von Messern zersplissenen Holzes ausweichend, als wären es Bäume. Während er dem Gebaren der Ohrwürmer zusah, bemerkte er, daß die Messerschnitzeleien Buchstaben darstellten, aus denen er unschwer – denn die Einkerbungen hoben sich durch ihre gelbe Farbe ab – die verschlungenen Namen Dolf und Marianneli herauslas. Und über das ganze Geländer wiederholten sich die Namensverbindungen, zum Teil mit Tinte nachgeschwärzt und mit Kränzchen verschnörkelt. ›Auf ewig‹ stand in einem der Schnörkel.

Unter ihm im halbtrockenen schäbigen Bachbett, unweit des Brückleins, wateten Gesima und Hansli mit nackten Füßen auf Entdeckungsreisen, mit hoch gehaltenen Ellbogen flügelnde Seiltänzerbewegungen wippend, um das Gleichgewicht zu behaupten. Hansli hielt in jeder Hand einen Stiefel, Gesima hatte das Springseil als Gürtel um den Leib geschlungen und Schuhe und [91] Strümpfe hineingehängt. An ihren nackten dünnen Waden waren Tätowierungen zu sehen: weißliche Eindrücke und Striemen, teilweise mit einem blauschwarzen Hauch getuscht, neben regenbogenfarbigen Quetschmalen und roten Kratzstreifen.

Auf einer geräumigen Insel, von der hölzernen Pritsche des Baches gebildet, machten sie halt und errichteten dort eine Perlfischerei. Die Jagd war ergiebig, denn an der Küste erhoben sich Korallenriffe von dunkelgrünen Flaschen, irisierten Glassplittern und geblümten Topfscherben, untermengt mit Knöpfen, rostigen Geldstücken und was sonst die Ebbe hatte hangen lassen. Von diesen Schätzen ergriffen sie nach dem Strandrecht Besitz, und während Hansli immer neue Beute beibrachte, eröffnete Gesima eine Goldwäsche. Später, als sich auch lebendiges Kriechzeug erjagen ließ, gesellte sich eine Menagerie hinzu, auf einer gesteppten roten Bettdecke, die zum Trocknen von der Gartenmauer in das Bachbett gefallen war.

All dieser Gewerbefleiß konnte trotz dem Kriegszustande ungehindert aufblühen, weil der feindliche Kanonier über ihnen auf dem Brücklein, seiner Unbehilflichkeit in Angelegenheiten der Höhen- und Tiefendimension bewußt, von jeder Verkehrsstörung Umgang nahm. Als jedoch Hansli in allzugroßer Zuversichtlichkeit frecherdings seine Stiefel auf die Brücke pflanzte, bekam er sie durch einen Fußstoß zurückspediert, platsch ins Wasser.

Mit der Zeit bemerkte Gerold, daß der fremde Herr, der dort im Gemüsegarten auf einem Feldstuhl saß, etwas zeichnete, während seine Frau ihm lächelnd zusah. Was er zeichnete, konnte er natürlich von hier aus nicht sehen, aber schon allein die Tätigkeit des Zeichnens für sich, wie er mit gescheiten Maleraugen den Kopf bald aufhob, bald über das Blatt beugte, fesselte seine Aufmerksamkeit. Jetzt hielt jener den Bleistift quer vor die Augen, und beide, der Herr und die Dame, schauten Gerold scharf an. Da begriff er, daß er selber, Gerold, zur Zeichenvorlage diente. [92] Von nun an hielt er es für seine Pflicht, weder zu zucken noch zu mucken, da er die liebe Zeichenkunst verehrte und ihre Schwierigkeiten aus eigener Erfahrung zu ermessen vermochte.

Während dessen schlich sich Gesima durch den Garten, stellte sich hinter den Zeichner, guckte ihm, auf den Zehen stehend, über die Schulter und gab über seinen Kopf hinweg dem Kanonier Taubstummensignale, um ihn zu benachrichtigen, welches Stück seiner Person jeweilen unter dem Bleistift geboren würde. Die Augen beschrieb sie als zwei Schützenscheiben mit je einem Punkt darin, den Mund als einen queren Säbelstrich, der das Gesicht in zwei Hälften spaltete, zur Versinnbildlichung der Ohren faßte sie ihre Ohrläppchen, streckte die Zungenspitze hervor und schob allmählich ihre Hände dem Kopf entlang ins Unendliche.

Hansli aber, nachdem er seinerseits die Sachlage erspäht hatte, nützte die heilsame Versteinerung des grollenden Bruders für seine Friedensbestrebungen aus. Sicher, daß der Kanonier nicht ausschlagen durfte, faßte er ihn einfach an den Frackschößen und ließ seine Versöhnungsrede fließen, unbekümmert um die grimmigen Papagenotöne, welche ihm aus den geschlossenen Lippen entgegenknurrten. Ob es sich auch lohne, wegen eines minderwertigen Mädchengeschöpfes einander zu befehden; sie wären immer brüderlich einträchtig zusammen ausgekommen, bis dieser verwünschte verräterische Rotschopf den Frieden verpfuscht habe. Von Gesima wolle er nichts mehr wissen, denn sie hintergehe den einen wie den andern. »Weißt du, was sie von dir gesagt hat? Du seiest ein grausamer Mensch, daß du den Katzen nicht einmal gönnest, Mäuse zu fressen. Und dann hat sie noch gesagt, sie bedanke sich für jemand, der alles zweimal erlebe; sie habe genug daran, daß man ihr im letzten Winter einen Zahn auszog, sie wolle sich ihn nicht noch einmal ausziehen lassen. Sogar einen Witz hat sie über dich gemacht.« – »Das hingegen glaube ich nicht«, knirschte Gerold, »das wäre zu gemein.« »Ich[93] kann dir sogar sagen, was für einen: sie hat gesagt, du gehörest gewiß zur schweren Artillerie, man sehe dirs an.«

Das wirkte. Vieles konnte Gerold ertragen, aber Witze! Anspielungen auf sein Körpergewicht! nein, das war zu viel, das brachte ihn außer sich. Also billigte jetzt sein zorniger Blick den Separatfrieden mit dem Bruder, durch welchen Gesima ausgeschlossen und von beiden Parteien verstoßen wurde. Den feierlichen Handschlag, da Gerold sich nicht rühren durfte, ersetzten sie durch einen Nielenstengel, den Hansli dem Verbündeten in die Hand schob. Indem jeder ein Ende des Stengels in der Hand hielt, war das Bundessinnbild hergestellt.

Und sofort gab Hansli die neue Gruppierung der Mächte Gesima zu verstehen, indem er auf dem Brücklein eine lebhafte Pantomime von spöttischen Gebärden und herausfordernden Sprüngen aufführte. Um aber völlig ehrlich und unzweideutig zu handeln, schien ihm eine förmliche Kriegserklärung schicklich. Ist nirgends ein Stück Papier? Dort lag so etwas am Boden, ein zerknitterter Brief, zwar eng beschrieben, doch hinten am Ende zwischen der letzten Zeile, wo es hieß: ›glaube nicht, daß ich dich darum weniger lieb habe‹, und der Unterschrift ›Dolf‹ fand er noch etwas Raum. Dort hinein schrieb er: ›häßliche Gesima, hast rote Haare‹, hierauf schmeichelte er den Zottelhund heran, schob ihm die Botschaft unters Halsband und bedeutete dem Mädchen durch Zeichen, den Hund an sich zu lokken. Dieses schnippte mit den Fingern, empfing den Hund, las das Sendschreiben, kritzelte etwas hin, und Hansli schmeichelte den Briefhund wieder herüber. Zuoberst auf dem Papier, über dem Titel ›Mein armes, armes Marianneli‹ erhielt er den Bescheid: ›Böser Hansli, hast eine Warze am linken Zeigefinger.‹

Weiterer Korrespondenz wehrte ein Naturereignis: mitten aus dem blauen Himmel schoß plötzlich ein Schauer von silberglänzendem Regen in großen Tropfen hernieder, daß alle Welt kreischend flüchtete. Die drei Kinder, von der höheren Gewalt [94] vereinigt, fanden sich auf der Veranda zusammen, das fremde Hochzeitspaar hatte der Schreck in ein Gartenhäuschen gescheucht. Da war der Regen auch schon zu Ende, wie mit einer Hagschere abgeschnitten.

Ein joviales Milchgesicht guckte aus dem Hausgang. »Kommt, der Wagen ist fertig«, meldete er, »macht schnell, wir mögen just noch knapp nach Bischofshardt, ehe das Bombardement beginnt, die Wolken hocken ja am Dürenberg haushoch wie schwarze Stiere aufeinander.«

Erst stattete Gerold nach dem Gartenhäuschen hin über dem gastfreundlichen Fremden geschwind noch seinen Dank ab, die Absätze zusammenschlagend, die Hand am Käppi, und eine der neuen Verbeugungen ausführend, die er von Gesima gelernt hatte, dann hasteten sie durch den Hausgang.

»Auf den Bock«, bettelten die Buben. Das Milchgesicht packte einen nach dem andern am Kragen und lud sie auf den Bock wie junge Hunde. »Seppli heiß ich«, erklärte er, während er zwischen ihnen Platz nahm. Da wurde im Oberstock ein Fenster aufgerissen, und das verweinte Gesicht des Marianneli erschien zwischen dem Rahmen, um ihnen etwas zuzurufen; statt dessen schnellte sie linksgeschwenkt um und schrie in die Stube zurück: »Und ich will keinen andern, und ich nehme keinen andern.«

Der Seppli grinste schmunzelnd. »Da ist Feuer im Dachboden! aber ich weiß manchen im Kanton, der sie gerne tröstete. Ich auch. – Was ist? sind wir fertig? können wir reisen?« Und schon tat der Braune einen ungeduldigen Ruck.

Allein von hinten wimmerte Gesima kläglich. Sie konnte nicht einsteigen, der Wagentritt war ihr zu hoch, so daß ihr Füßchen beständig ins Leere tappte, wie ein Pudel, wenn er das Pfötchen geben will. Mit einem Satz sprang Gerold auf die Erde, umringte von hinten her, unter ihren Achseln durch, ihre Brust und hob sie also, mit den Knien und dem Bauch nachhelfend, ächzend in den Wagen.

[95] »Es tut mir leid«, flüsterte sie zum Dank und reichte ihm bittend die Hand hin. Ob diesem Spruch wurde ihm mit einem Male weich, so daß er beinahe ihren Handschlag angenommen hätte; da erinnerte er sich, daß sie ihn einen schweren Kanonier genannt hatte, darum verhärtete er gewaltsam sein Herz und stieg ohne ein freundschaftliches Wörtlein wieder auf seinen Sitz.

Kaum war er von neuem oben angelangt, so rollte das Fuhrwerk klingelnd von dannen.

[96] Die Regimentstochter

War das ein Fest! Pfeilschnell und glatt durch den Forst getragen wie auf einer Eisbahn, ohne einen Ruck, auf dem weichen Kutschersitz, hoch über der Erde, auf halber Höhe der Bäume, an welchen noch die glitzernden Regentropfen hingen! Und wie er mit den Beinen ausgriff, der Braune, feurig, als ob er mit Pulver geladen wäre und nur auf den Zunder wartete, um zu explodieren! Aber sonderbar sah er aus, so von der Kutscherperspektive betrachtet: wie eine Gitarre mit zwei Ohren zum Aufdrehen und mit den Zügeln als Saiten. Ob wohl ein Pferd aus dieser Perspektive, genau so gezeichnet, wie mans sieht, noch als ein Pferd würde erkannt werden, fragte sich Gerold.

Dann ging es ans Betteln. Sie möchten ebenfalls ein wenig leiten dürfen, oder wenigstens die Geißel halten! Der Seppli schnitt ein bedenkliches Gesicht. Das Gevatterspielen mit Zügel und Geißel, meinte er, wenn einer nichts davon verstehe, sei ein gefährliches Vergnügen mit dem Braunen; ohnehin hitzig wie der Teufel – »nicht umsonst hat ihn der Dolf gekauft!« – habe er obendrein noch Hafer gepickt. »Zwar, wenn ihr sehr, sehr vorsichtig sein wollt und mir aufs Wort gehorchen und die Zügel ruhig halten und die Geißel nur brauchen, wenn ichs erlaube, so könnte mans ja versuchen, unter dem Vorbehalt, daß ihr mir augenblicklich die Leitung zurückgebt, sobald ichs verlange.« Hiermit überreichte er unter fortwährenden Mahnungen und Anweisungen dem Hansli behutsam die Zügel.

Ha! das nenn ich einmal einen Unterricht! Wenn man solche Stunden und solche Lehrer in der Schule hätte! das wäre eine Hochzeit! was meinst du, Gerold? Es war auch erstaunlich, [97] welche Wunder der Regierungskunst man von da oben auszurichten vermochte! nur ein klein, klein wenig die Daumen gerückt, so nahm das ganze Fuhrwerk einen andern Weg, und zwar genau dahin, wohin man gewünscht hatte. Jetzt bekam Gerold sachte die Geißel zugelangt, hinten herum: »Aber ums Himmels-Heilandswillen nicht damit fuchteln oder fackeln, aufrecht halten und ruhig wie eine brennende Kerze, und nur gebrauchen, wenn ichs befehle, und dann bloß sachte die Haut streifen, etwa so wie ein Fischer die Angelschnur übers Wasser zieht, und ja an keine andere Körperstelle als aufs Kreuz. So, jetzt kannst du ihm einmal sanft aufs Kreuz tupfen, aber sanft, sage ich, wie Watte auf einen bösen Finger.« O Seligkeit! Kaum berührte die Spitze des tänzelnden Zwickes das Rückenfell, so verdoppelte sich urplötzlich, doch ruhig die Schnelligkeit der Reise, als wäre ein gezähmter Blitzfunken dem Braunen in den Leib gefahren.

Inzwischen begann hinter ihnen in der Versenkung des Wagens Gesima an ihr Dasein zu erinnern. Zunächst als Einleitung hüstelte sie. »Tu, als wenn dus nicht hörtest«, riet Hansli dem Bruder. Dann kam ein Potpourri aus der Regimentstochter. Gerold seufzte, der schönen alten Zeit vor Weidenbach gedenkend, blieb aber fest. Hernach verlauteten Selbstgespräche, mit nachdrücklicher Stimme geredet, fürs Publikum. Sie werde zum Kadettenball weiße Stiefelchen anziehen, verkündete sie, und ihre Bernsteinhalskette. Jetzt horchte Gerold mit einem Ohr nach hinten; dabei geriet jedoch seine Geißel in flunkernde Bewegung, so daß ihm das Geißelrecht vom Seppli aberkannt wurde.

Dann kam ein Rezitativ, frei die Tonleiter bergauf und bergab: »Von dem Postwagen will Gesima nichts sagen, und wie die Soldaten Gerold und Hansli daneben geraten.« Dem Rezitativ folgte eine Polka: »Stammt auch vom Storch der Kanonier, darüber zu spotten hat keine Manier.« »Laß dich nur nicht fangen«, mahnte Hansli, »sie will dir bloß schmeicheln. Denk an die Fabel von Odysseus und den Sirenen.« Zur Strafe dafür kam dem Hansli [98] ein Marsch auf den Rücken getrommelt. Fuchswütend drehte er sich um. Durch diese Drehung steuerte er aber das Fuhrwerk quer über die Straße, weshalb ihm nunmehr vom Seppli das Recht der Zügel abgesprochen wurde.

Danach blieb es ein Weilchen still. Dann ertönte ein leises, klägliches Wimmern. Mitleidig schaute sich Gerold um. Da steigerte sich das Wimmern zum Weinen. »Ach Gott!« stöhnte Gerold und stieg ohne weiteres, den Seppli als Schwungbrett und Geländer benützend, zu Gesima in die Wagenwiege hinunter, setzte sich an ihre Seite und tröstete sie, indem er mit dem linken Arm ihren Leib umfaßte und mit der andern Hand ihr übers Gesicht und über die Knie strich. Nun hörte sie auf zu weinen, Gerold aber blieb vorsorglich neben ihr sitzen für den Fall eines neuen Schmerzensausbruches.

Darüber war er scheints ein wenig eingenickt, denn wie er aufsah, saß Gesima nicht mehr neben ihm, sondern neben dem Seppli, sicher mit den Zügeln kutschierend, wie eine Fee im hirschbespannten Muschelwagen, während das Milchgesicht, der Seppli, ihr vergnügt zuschmunzelte, als ob man ihm Mehlbrei ums Maul geschmiert hätte. »Auch gut«, dachte Gerold, »so habe ich besser Platz«, und legte sich bequem auf den Rücken, aufwärts nach dem Himmel in die Wetterwolkensäule starrend, die wie der schiefe Turm von Pisa schräg gegen die Sonne wuchs und sie schon fast verschlungen hatte, und so schwarz, daß man meinte, es müsse ein weißer Pfau kommen und daran vorüberfliegen. Bis ihm der Schlummer die Augenlider zudrückte.


Plötzlich tat der Wagen einen harten Ruck, und wie Gerold aus dem Schlaf emporschreckte, war der Wagen ganz am Rande der Straße, und Seppli stand auf dem Boden neben dem Pferde, das er mit gestemmten Fäusten am Zaum hielt. Ein prachtvoller Adjutant, schmuck wie aus einer Weihnachtsschachtel, es fehlte [99] bloß die Holzwolle, kam herangesprengt. »Oskar«, grüßte Gesima fröhlich und klatschte in die Hände. »Mein Vetter«, erklärte sie den Buben. »Mama kommt mit dem Wagen«, rief ihr der Adjutant entgegen. »Haltet Ihr den Braunen auch gut?« wandte er sich zum Seppli. »Keine Gefahr, ich bin bloß zur Sicherheit abgesprungen.« Dann sprengte Oskar im Galopp einige hundert Schritt zurück, Zeichen mit dem Säbel winkend; und kam bald an der Seite eines zweispännigen Wagens wieder, des nämlichen Wagens, den sie gestern in Schönthal gesehen hatten, aber ein Diener saß neben dem Kutscher und eine schöne Dame im Wagen: die Reiterin aus dem Bilde, das Gerold beim Narrenstudenten gesehen hatte.

»Mama!« jubelte Gesima. Der Diener hob erst Gesima herunter, dann die beiden Buben. »Kommt«, mahnte die Dame freundlich, nachdem Gesima neben ihr Platz genommen, »sonst werden wir alle miteinander naß, es donnert schon.« Und Gesima winkte einladend. Da stiegen sie munter ein, der Wagenschlag tat sich zu, und fort ging es im Saus, sanft talabwärts zwischen Landhäusern, Gärten und Kapellen, einer großmächtigen Stadt mit glitzernden Türmen und Zinnen entgegen.

Schon waren sie unten in der Talmulde angelangt und erblickten das Stadttor, da – sehe ich recht? ist es ein Traum? – kam seitwärts vom Felde her eine Schwadron Dragoner geritten! nein, wahrhaftig, leibhafte Dragoner! eine ganze Schwadron! farbenleuchtend, helmfunkelnd! und siehe dort auf einem Parallelwege eine zweite! und hinter ihnen im fahlen Gewittersonnenschein noch andere Reiterhaufen, ein unermeßlicher paradiesischer Reichtum! Auf ein Fingerzeichen der Dame hielt der Wagen still, am Rande der Straße, und die ganze märchenhafte Kavalleriemasse (– »ein Regiment!« erläuterte Gerold) begann, auf die Landstraße schwenkend, an ihnen vorüberzurauschen. Die Rosse rieben sich aneinander, daß die Säbelscheiden klirrten, die helmgeschmückten Dragonerköpfe, je nach [100] dem Tanz der Hufe, juckten auf und nieder, und hie und da versuchte – o Wonne! – ein widerspenstiges Pferd sich zu bäumen und auszuschlagen.

»Ein Oberst!« jauchzte Gerold. – Doch was ist das? wie darf sie das wagen? Gesima winkte, weiß Gott, die Unverschämte, dem Oberst mit dem Taschentuch! Der Oberst aber, statt sich darüber zu er zürnen, machte ein freundliches Gesicht und kam in kurzem Galopp gegen den Wagen gesprengt. »Papa! Papa!« rief Gesima. »Mein Mann«, erklärte die Dame. Da schauten die Kadetten einander mit großen Augen an – »Gesima hat einen Oberst zum Vater!« – und betrachteten das Mädchen mit scheuen Blicken, wie ein überirdisches Wesen. »Seid ihr alle drei wohl und gesund?« fragte der Oberst in herzlichem Tone. Dann ritt er vorüber. Gleich darauf erscholl ein fröhlicher Trompetermarsch, und mit klingendem Spiel fuhr der Wagen in stolzem Zuge, Dragoner vorn, Dragoner hinten, durchs Stadttor.

In einer stillen Seitenstraße, vor einem ernsten grauen Palaste wurde angehalten, Gesima mit ihrer Mama verschwanden in der Tür, die Kadetten wurden von zwei schwarzbefrackten Dienern eine breite teppichbelegte Treppe hinaufgeleitet, an einem majestätischen indigoblauen Vorhang vorüber, hinter welchem man erwartete, Wallenstein hervortreten zu sehen, in ein feierliches Gastzimmer. Dort wurden sie weiblichen Dienstboten überantwortet. Ein Bad nach dem langen Marsch auf der heißen, staubigen Landstraße würde ihnen gewiß wohltun, meinte die eine von ihnen, die Frau Landammann wäre der nämlichen Ansicht. Also wurden sie in eine marmorne Badestube geführt und, nachdem ihnen die Brause, der warme und der kalte Kran erklärt, die Seife und jedem sein Handtuch gezeigt worden war, allein gelassen.

»Eine fatale Geschichte«, meinte Gerold, wie sie im dampfenden Wasserbecken lagen, »denn nicht zu leugnen, wir sind mit Gesima ein bißchen grob umgesprungen.«

[101] »Nicht unsere Schuld«, trotzte Hansli, »warum hat man uns verschwiegen, daß sie eines Obersten Kind ist?«

»Ja, was ist er nun überhaupt eigentlich, ihr Papa, Oberst oder Landammann?« fragte Gerold. »Eine dumme Frage«, antwortete Hansli, »er kann ja Landammann und Oberst zugleich sein. – Wenn es nur mit einer Strafpredigt abgeht, und ihr Papa uns nicht bei der Lehrerversammlung verklagt!«

Doch Gerold glaubte weder an eine Lehrerversammlung noch an eine Strafpredigt. »Nach meiner Meinung gibt es Großmut mit Verzeihung, das Schlimmste von allem, denn dann müssen wir uns fürchterlich schämen.«

Als sie wieder im Gastzimmer erschienen, wurden sie von der Frau Landammann mit herzlicher Miene empfangen. »Ich danke euch«, sagte sie, indem sie jedem die Hand reichte, »für den liebenswürdigen Schutz, den ihr gutartigerweise einem wildfremden Mädchen habt angedeihen lassen.«

Traurig blickte Gerold zu Boden und schüttelte den Kopf. »O nein, Frau Landammann, Gesima hat gelogen; wir sind nicht gutartig und liebenswürdig gewesen, grob und bös sind wir gewesen.«

Da streichelte sie ihm freundlich die Wangen. »Wir sind sämtlich keine fehlerlosen Engel, Gesima auch nicht. – Beiläufig eine nebensächliche Frage, sie enthält keinen Vorwurf und entspringt nicht dem Mißtrauen: Wo bist du die zwei Stunden lang allein gewesen, Gerold, während Hansli und Gesima im Althäusli zu Mittag aßen?«

»Im Wald mit dem Narrenstudenten.«

»Das ist nicht gerade die empfehlenswerteste Gesellschaft, was du freilich nicht wissen konntest. Nun, wir wollen froh sein, daß alles so gut abgelaufen ist und daß ihr alle drei gesund und wohlbehalten da seid; es war eine etwas abenteuerliche Reise. Ich glaube, ihr werdet mit Gesima noch große Freunde werden. Und mit dem Kadettenball, Gerold, bleibt es, wie du mit Gesima abgemacht [102] hast, ich genehmige euer Versprechen von Herzen. Jetzt aber kommt essen, Gesima kommt später, sie kleidet sich um.«

Obschon es noch nicht einmal völlig Abend war, wurde es auf einmal so dunkel, daß man eigentlich Licht hätte anzünden müssen; man sah kaum, was man aß. Plötzlich krachte ein steinharter Donnerschlag, der sie alle miteinander von den Sesseln aufjagte, und damit ging ein prachtmäßiges Gewitter los, mit ununterbrochenen Donnersalven aus allen Himmelsgegenden, begleitet von einem sündflutlichen Platzregen, der aus unerschöpflichen Wasserpaketchen die Dächer dampfend überschüttete. Mitunter fegte ein Blitz, statt schräg von oben, waagrecht durch die Gasse, ähnlich dem Fintenstreiche eines weißglühenden Riesendegens; dann überpurzelten sich aus den aufgeschlitzten Wolkenbäuchen die Regenströme mit verdoppelter Wucht, obgleich man schon vorher geglaubt hatte, jetzt heiße es tutti fortissimo. Ob dieser kräftigen Tafelmusik wurde den Kadetten, welche anfänglich ein wenig schüchtern getan hatten, so heimelig zumute, daß sie auftauten, herzhaft zulangten und dem Pudding tüchtig die Meinung sagten.

»Warum sollten wir nicht die gesunde Luft hereinlassen?« rief der Oberst, als der Donner fernwärts abgrollte und der Platzregen gleichmäßiger und senkrechter niederfiel. Da stellten sich die Buben ans offene Fenster, streckten die Köpfe hinaus, daß ihnen die Tropfen auf die Nase spritzten, und sangen aus Leibeskräften: »Guter Mond, du gehst so stille«. Sie möchten doch lieber das Lied vom guten Kameraden singen, lachte der Oberst, da sie doch auf der Reise so treu zusammengehalten hätten. Das taten sie. Dann kam die Frau Landammann und fragte, ob sie vielleicht das Lied ›Heimat, Heimat über alles‹ wüßten, das höre sie so gerne.

Hansli zuckte verächtlich die Achseln: »Das haben wir schon in der zweiten Klasse gehabt.« Hierauf sangen sie ihr das Lied. »Bitte noch einmal, falls ihr nicht etwa zu müde seid.« Und als [103] sie es wiederholt hatten, mochte sies zum drittenmal hören. Dabei hielt sie aber das Taschentuch vor die Augen und seufzte, so daß Gerold sich wunderte, warum jemand ein Lied, das ihn doch traurig mache, öfter hören wollte. »Was ist das eigentlich, Heimat?« fragte er.

Der Oberst antwortete: »Wenn man einmal weit, weit weg ist.«

Diese Antwort verblüffte ihn, er hatte gedacht, eher das Gegenteil.

Unterdessen hatte sich der Regen erschöpft, und an mehreren Stellen guckte das frischpolierte Himmelsblau zwischen dem schmutzigen Gewölk hernieder. »Das bedeutet Glück«, sagte der Oberst, »und wenn ihr Geduld haben könnt – könnt ihr Geduld haben?« »Ja« – »so gibt es eine Überraschung.« Dann rückte er zwei Stühle vor den Kamin, Front gegen den Feuerherd. »Setzt euch. Guckt nur fest in den Kamin – aber daß ihr euch ja nicht umdreht!! – bis ich klingle.« Hiermit verzog er sich mit seiner Frau ins Nebenzimmer, die Tür anlehnend. Die Buben aber guckten aus Leibeskräften in den Kamin.

»Was meinst du?« flüsterte Hansli, »was gibt es wohl für eine Überraschung? am Ende eine böse?«

»Warum nicht gar, es gibt überhaupt keine bösen Überraschungen.«

»Sie schreiben beide etwas im Nebenzimmer, der Oberst und seine Frau, ich habe es durch die Türspalte gesehen. Ich habe doch Angst.« Da wurde die Tür geschlossen. Nun starrten sie gewissenhafter in den Herd und enthielten sich überflüssiger Gedanken. Während dessen kam ein Sonnenstrahl zu ihnen zu Gast, der Stahlreif des Kohlenfängers begann zu glänzen, der goldene Spiegelrahmen zu leuchten, der Gabelschweif des ausgestopften Auerhahns erhielt einen blaugrünen Pfauenschweif gemalt, und die Kristallflasche daneben sprühte Kronen und Diamanten.

Unvermutet schellte die erlösende Klingel. Und wie sie aufsprangen, stand der Oberst mit seiner Frau hinter ihnen. »Hier [104] habe ich einen Brief geschrieben«, sagte er, »lest die Aufschrift.« Sie lasen: ›An Herrn Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. »Und ich auch einen«, ergänzte die Frau Oberst. Sie lasen: ›An Frau Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. »Und dieses kleine Briefchen hat Gesima gekritzelt.« Sie lasen: ›An Herrn und Frau Hauptmann Guggenbühler in Aarmünsterburg‹. – »Was darinsteht«, lächelte der Oberst geheimnisvoll, »wird euch die Regimentstochter verraten.« Und mit dem Finger winkend, führte er sie, auf den Zehen schreitend, ins Gastzimmer, dessen Balkontür flügelweit offenstand. »Kadettenbataillon Aarmünsterburg, vorwärts marsch!« rief er mit schallender Kommandostimme und schob sie auf den Altan.

Wer stand auf dem Altan? Gesima! Als Regimentstochter verkleidet, auf der Stirn ein impertinentes Mützchen mit einer Hahnenfeder, um den Hals, zum Zeichen ihrer militärischen Heldeneigenschaft, ein Miniaturfäßchen aus Schokolade an goldenen Zuckerbäckerfäden. Auf einer Art Estrade stand sie, gerade unter dem Regenbogen, als wollte sie ihn als Springseil benützen; und in der rechten Hand hielt sie einen ziselierten Degen, den sie so weit als möglich von sich wegstreckte, wie wenn sie befürchtete, er könnte losgehen.

Kaum betraten die Brüder den Altan, so gab sie sich durch Stirnrunzeln ein tyrannisches Ansehen und kommandierte, während sie mit dem Degen eigensinnig auf das Geländer klopfte, in die Straße hinunter: »Adjutant Oskar Wildstrubel! Sapperment, wo bleibt denn der Faulpelz von Adjutant?«

Da klirrten Sporen, der Adjutant von heute nachmittag schnellte vor den Balkon, salutierte mit dem Säbel und fragte: »Zu Befehl! was beliebt Ihrer Exzellenz der Regimentstochter?«

Gesima sägte mit ihrem Degen bedrohlich über das Geländer und schnauzte mit erboster Majorsstimme: »Alle Bomben und Granaten von Sevilla, aufgepaßt, Oskar! Wir Anita Maria Septuagesima, die Regimentstochter, im Namen unseres Vaters, des [105] Landammann Oberst Weißenstein in Bischofshardt, wollen hiemit und befehlen, daß der Kanonier Gerold Guggenbühler von Aarmünsterburg, desgleichen der Infanterist Hansli Guggenbühler mit nichten übermorgen in der Schule zum Appell einrücken, sapperlot, sintemalen dieselben die ganze folgende Woche bis Samstag abend anhiero in Ferien bleiben werden, sappermost, damit wir uns lustig machen, Donnerwetter!« Und mit dem Worte ›Donnerwetter‹ pflanzte sie den Degen energisch in einen Geranientopf.

»Soll pünktlich geschehen, Euer Exzellenz«, antwortete Oskar, salutierte abermals und verschwand.


Gesima aber stieg von der Estrade herab und begab sich, an Hansli vorbei, der freudebesessen auf- und niedertanzte wie ein tollgewordener Gummiball und die hinzugeschenkten Ferientage an den Fingern abzählte, zu Gerold hinüber, hielt in bescheidener Haltung vor ihm still und fragte ihn mit den Augen, ob er jetzt mit ihr zufrieden und gänzlich versöhnt sei. Gerold, mit dem Rücken ans Geländer gelehnt, zog ein finsteres Denkergesicht, musterte das heroische Maidlein vom Kopf bis zu den Füßen, und wieder von den Füßen bis zum Kopf, dann verkündete er mit der lautesten Stimme, die er aufbrachte, freudig und überzeugt: »Es tut mir leid«.

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TextGrid Repository (2012). Spitteler, Carl. Romane. Die Mädchenfeinde. Die Mädchenfeinde. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-1416-B