[329] Die Fahrt und die Kajüte

Die Glocke hatte halb nach acht geschlagen, als der General die Galerie der Cottage betrat. Der Onkel war nicht mehr zu Hause, aber Miß Murky war es. Er ließ sich anmelden, wurde angenommen und trat ein. Wie er die eine Salontüre öffnete, schwebte sie ihm durch die andere entgegen, heiter wie der junge Maitag, blühend wie die soeben entfaltete Rose.

»Sie sind früh!« sprach sie, ihm mit holder Freundlichkeit die Hand zum Willkommen reichend.

Er ergriff sie und drückte sie entzückt an die Lippen.

»Es ist recht artig, daß Sie eilen, eine einsame Maid zu trösten. Ich bin ganz verlassen, auch Ihr Onkel ist bereits fort.«

Er stand in ihren Anblick wie verloren. So majestätisch und wieder kindlich graziös war sie Königin und Kind zugleich!

»Warum reden Sie nicht?« fragte sie mit einer Stimme, die wie Silberglöckchen tönte, »Sie sind blaß, hatten Sie eine böse Nacht?«

»Eine sehr glückliche!«

»Wieso?«

»Ich verbrachte sie in Ihrer Nähe.«

»Sie waren nicht in der Kajüte?« rief sie betroffen.

»Doch, doch. Ich begleitete nicht nur Kapitän Murky zur Kajüte, sondern ging auch in mein Schlafzimmer, versuchte es, zu schlafen. Wer hätte aber nach einem solchen Tage schlafen können! So warf ich mich denn aufs Pferd, um mein Paradies zu bewachen.«

»Ihren Onkel haben Sie sich auf alle Fälle verbunden; da wir denn aber doch nicht mehr in den gefährlichen Zeiten leben, wo häßliche Riesen arme Jungfrauen rauben, so hätten Sie schlafen sollen. Papa wird erschrocken sein, wenn er Sie nicht gefunden hat. Er hält viel auf Sie.«

[330] »Worauf ich stolzer bin – stolzer! Die Achtung Kapitän Murkys ist mir teurer als die irgendeines Menschen.«

»Oh, er ist der beste, der zärtlichste Vater!«

»Der glücklichste!«

»Es soll auch meine einzige Aufgabe sein, so wie es gewiß meine heiligste Pflicht ist, ihn dazu zu machen!« versetzte sie mit tiefer Rührung.

»Aber wir dürfen«, fuhr sie nach einer kurzen Pause wieder in etwas lebhafterem Tone fort, »ihn nicht zu lange auf uns warten lassen. Ihr Verschwinden wird ihn gewiß ängstigen, denn die Nachtluft ist hierzulande sehr gefährlich. Sie haben doch gefrühstückt? Nicht? Bless me! Welche Unvorsichtigkeit! Geschwind müssen Sie noch zuvor etwas nehmen.«

»Nein, nein, wir wollen fort!« protestierte er.

Es half jedoch nichts, sie eilte zur Klingelschnur, zog diese.

»Eile, Betsy«, rief sie der eintretenden Kammerzofe entgegen, »und bringe heißes Wasser zu Tee! Oder ziehen Sie Kaffee vor?«

»Was Sie wollen.«

»Wir haben bereits gefrühstückt. Ihr Onkel mußte zeitlich nach Natchez hinein, und ich wollte mich auch nicht unbereit finden lassen. Sie sehen, ich bin es nicht.«

»Betsy, bist du da?« rief sie geschäftig der eintretenden Kammerzofe entgegen. »Nun kommen Sie, der Tee wird Ihnen gewiß gut tun. Sie hätten nicht nachtschwärmen sollen. Tun Sie das ja nicht mehr, versprechen Sie es.«

»Ich verspreche es.«

»Wohl, dafür sollen Sie eine Tasse Tee haben, oder vielmehr zwei«, verhieß sie drollig. »Zwei müssen Sie mir nehmen.«

»Von Ihrer Hand nehme ich alles.«

»Auch das Böse?«

»Selbst Gift.«

»Oh, Sie sind gar zu gefügig. Zu gefügig aber müssen Sie wieder nicht sein. Sind Sie es?«

»Sind Sie es?«

»Nicht immer«, sprach sie schalkhaft das Köpfchen wiegend, »jetzt müssen Sie es aber sein und die Tasse austrinken, während ich auf einen Augenblick gehe, um meine Wagentoilette zu vollenden. Ich bin den Augenblick wieder da.«

[331] »Vergessen Sie mir aber nicht, den Tee auszutrinken«, rief sie neckend noch in der Türe, »wollen Sie?«

»Ich muß ja.«

Sie verschwand, und er, ihr nachstarrend, vergaß richtig Tee und Versprechen.

»Haben Sie ausgetrunken?« fragte sie bei ihrem Eintritte lächelnd, mit dem Finger drohend.

»Die Tasse, die von Miß Murky eingeschenkt, ist noch immer halb voll«, plapperte die über sein Stillschweigen wahrscheinlich etwas pikante Kammerzofe.

»O der ewigen Zerstreuung!« schmollte sie, »nun trinken Sie, und zur Strafe sollten Sie eigentlich eine dritte nehmen.«

»Wer würde sich diese Strafe nicht gefallen lassen!« lachte er, die Tasse leerend und ihr dann überreichend.

»Ruhig!« mahnte sie wieder matronlich, als er mit der Tasse zugleich ihre Hand zu erfassen strebte. »Ruhig, sonst verschütten wir, und es ist ein böses Vorzeichen, zu verschütten.«

»Sind Sie abergläubisch?«

»Wie Sie fragen!« versetzte sie lachend. »In der Abtei erzogen und nicht abergläubisch sein! Alle waren wir es, wahrsagten, ließen uns wahrsagen, Theresia, Gabriele; so mußte ich mich denn wohl fügen, obwohl mein protestantischer Sinn ein bißchen dagegen rebellierte.«

Sie war wieder so mutwillig! Betsy und Margaret, die noch an Hut und Mantel und Halskragen und Locken ordneten, hatten Mühe, sie ruhig zu erhalten. Mit trunkenen Blicken hing er an ihr.

»Nun wollen wir aber denn doch gehen, denn Papa wird warten, und wir dürfen ihn nicht warten lassen. Aber austrinken müssen Sie zuvor.«

»Muß ich?«

»Tun Sie es, der Tee heitert immer auf, und Sie bedürfen der Aufheiterung, denn einigermaßen kommen Sie mir vor, als ob –«

»Als ob?«

»Sie nicht ganz bei Troste wären!« spottete sie.

Der Spott war aber wieder mit einem so schalkhaft zärtlichen Blicke gewürzt, daß er aufsprang und ihr wahrscheinlich um den Hals gefallen sein würde, wenn er sich nicht noch zu rechter Zeit besonnen hätte.

[332] »Sie werden mich noch um den Verstand bringen!« rief er wie außer sich.

»So?« fragte sie mit komischem Ernste. »So? Wirkt also meine Nähe so gefahrbringend, dann sollte ich ja billig anstehen, Ihnen im Wagen noch näher zu kommen. Und in der Tat, wenn Papa Sie mir nicht zum Beschützer auf dieser Fahrt gegeben hätte? Er hat Sie recht gerne, Papa.«

»Und seine Tochter?«

»Will sehen, inwieweit Sie sein Vertrauen rechtfertigen. Geben Sie aber acht, mein tapferer General! Die Pferde Ihres Onkels scheinen mir auch zur Schwärmerei geneigt, ein bißchen wild.«

Das waren sie nun in der Tat, aber es versprach auch, den Reiz der Fahrt zu erhöhen. Eine solche Fahrt aber ist überhaupt schon geeignet, Liebende in günstige Beziehungen zu bringen. Bereits das Erfassen der Zügel gibt dem Manne einen gewissen Halt, der, so schwankend er ist, ihn schon zum Bewußtsein dessen bringt, was er als Gentleman seiner Dame schuldig ist, während sie sich wieder im Gefühl des Schutzbedürfnisses näher an ihn anschmiegt. Der sechsundzwanzigjährige General besaß aber auch den seltenen Takt, ihr seinen Schutz auf die möglichst zarte Weise angedeihen zu lassen. Er wußte nicht bloß wie jeder Gentleman gut – er verstand es auch, mit Gefühl, wenn wir so sagen dürfen, zu fahren, mit jener gewissen hinreißenden Kaprice, die gleichsam den Impulsen eines empfänglichen Gemütes nachgebend da rasch den Zügel schießen läßt, wo alltägliche Gegenstände das Auge beleidigen, wieder lässig weilt, wo interessante Punkte vortreten.

Die Umgebung von Natchez ist reich an Abwechselungen. Nun grandios, ja sublim durch ein Bruchstück des hehren Urwaldes oder den zeitweilig hervortretenden Wasserspiegel des majestätischen Vaters der Ströme, in der nächsten Wendung wieder idyllisch durch eine deliziöse Villa, die in Chinabäumen und Magnolien und Orangen und Zitronenbäumen Versteckens zu spielen scheint, wird sie plötzlich prosaisch, ja gemein durch eine Cottonpflanzung, deren meilenweite Baumwollenstauden mit den häßlichen Einfriedigungen wie spanische Reiter in die Augen starren. Sie flogen abwechselnd durch Gassen von Cottonfeldern, wieder weilten sie im Schatten eines Fragmentes der Urwälder, bewunderten hier die seltene Färbung einer Blüte, eines Blattes, dort die hundertvierzig Fuß [333] hohe Krone eines Cottonbaumes; dann tranken ihre Blicke aus dem goldglänzenden Spiegel des Mississippi, wieder weilte ihre Phantasie bei den Bildern der edlen Natchez, deren einstmalige Sitze am Catharineflusse sie durchfuhren. Vor einer Villa hielten sie, weil sie Ähnlichkeit mit der ihrer Freundin Gabriele, vor einer andern, weil sie ihn an seinen Landsitz in Texas, den er von einem edlen Spanier an sich gekauft, erinnerte. Während er ihr die Pracht der Baumgruppen, die milden Lüfte Texas', sie ihm die Herrlichkeiten der Schweiz, des südlichen Frankreichs schilderte, verriet sich in jedem Worte, jeder Bemerkung die edle männliche, die zart weibliche Seele – der seltenste Einklang. Sie schienen sich die Gedanken von den Lippen zu nehmen. Nun scherzend, plaudernd, lachend, stand ihnen wieder im nächsten Augenblicke eine Träne im Auge. Wie Kinder trieben sie es. Spielend wie Kinder kamen sie an der langen Allee von Chinabäumen an, an der sie vorbeigefahren sein würden – so hatten sie in ihrem Glücke alles um sich her vergessen, wenn nicht der Diener, der sie zu Pferde begleitet, vor ihr gehalten hätte.

Da erst – als sie einfuhren, kamen sie zu sich. Anfangs ließ er rasch die Allee hineintraben, dann langsamer, denn sie war still geworden. Eine Träne perlte in den schönen Augen, wie das väterliche Haus vortrat. Sie hatte es zwar schon mehrere Male seit ihrer Zurückkunft gesehen, und zwar während der Abwesenheit des Gastes ihres Vaters, der wichtiger Geschäfte halber und um seinen Dienern und Gepäcke nachzusehen, in New Orleans gewesen; die Tränen konnten also nicht die der Überraschung sein. Vielleicht galten sie einer süßen Erinnerung, vielleicht einer sonstig wehmütigen Empfindung, die sie aber jedenfalls stark zu ergreifen schien, denn sie kamen zahlreicher; die Blicke, mit denen sie das Vaterhaus betrachtete, waren die einer Scheidenden. Doch ermannte sie sich, und den wunderlieblichen Kopf schüttelnd, lächelte sie in drolliger Wehmut:

»Bin ich doch eigen, mich durch den Anblick unsers alten Hauses, das ich doch erst kürzlich gesehen, zu Tränen hinreißen zu lassen!

Aber es ist ein liebes, liebes Haus!« sprach sie leise und weich.

»Ein liebes, liebes Haus!« fiel er zärtlich ein.

»Ich würde mit Schmerzen daraus scheiden!«

»Würden Sie?« fragte er beklommen.

»Gewiß! Es ist mir sehr teuer!«

»Es ist ein Paradies!«

[334] Das war es nun freilich nicht, eher glich es der altestamentarischen Arche oder auch einem schwedischen oder holländischen Vierundsiebziger – denn wie ein solcher war es aus Balken und Brettern zusammengezimmert; auch die entsprechende Länge und Breite hatte es: hundertundsechzig bei sechzig, Schnabel spitz, Stirn rund, obwohl einige Divinationsgabe dazu gehörte, die Form oder vielmehr Unform auszumitteln; das Türmchen mit der Glocke ließ gar so quer, und mit den weitläufigen Galerien, die um das ganze Haus herumliefen, und durch das vorspringende Dach gebildet, statt der Außenwände Jalousien hatten, über und über mit seltenen Schlingpflanzen verwoben, glich es wieder mehr einem enormen vegetabilischen Auswuchse denn Arche, Vierundsiebziger oder Herrenhause. Aber lieblich mußte es sich trotz Bizarrerie in diesen Räumen wohnen, vorausgesetzt, daß ein wenig aufgeräumt wurde; in einigen Galerien – die westliche und südliche waren geschlossen – sah es ein bißchen bunt aus. Alles lag und hing und stand und lief hier durcheinander, Sattel und Zäume und Jagdtaschen und Jagdflinten und Sporen und Brogans und Mäntel und Kapotten, und Waschtische und Becken und Kannen und Hängematten. In einer dieser letzteren wiegte sich ein Trio von Katzen, während gleich darunter ein ci-devant Champagnerkorb stand, in dem ein halbes Dutzend junger Hunde winselten. Ein Paar nobler Rassepferde streckte die schlanken Hälse über das Geländer der Galerie einem Armsessel zu, auf dem sich eine gewaltige Zibetkatze philosophischen Betrachtungen überließ, während ein paar Schritte weiter – Jagdhunde und Hühnerhunde und Dachshunde und Neufundlandhunde an einer Brut schwarzer Wechselbalge herumzerrten, die nacheinander über einen Rasenplatz hergesprungen kamen, auf dem noch einige Dutzende wie Frösche auf allen vieren ausgespreitet – wahrscheinlich zum Trocknen in der Sonne lagen, nachdem sie zuvor ihren Reinigungsprozeß ausgestanden. Dieser Prozeß ging originell genug vor einer der größeren Hütten, die vermutlich zum Spital diente, vor sich. Vor der Hütte standen zwei bejahrte Negerinnen, von denen die erste mit Bürste bewaffnet einen der schwarzen Schreihälse nach dem andern aus dem Fenster herausholte und in die ihr zur Seite stehende Badewanne ganz wie ein Ferkel eintauchte, und nachdem sie ihn tüchtig durchgerieben, an die zweite abtrat, die ihm denselben Liebesdienst mit einer Wolldecke antat, worauf sie ihn dann zum [335] gänzlichen Abtrocknen in der Sonne auf den Rasen hinbreitete, von dem er schließlich in das Wollröckchen befördert wurde.

Weiter zurück lagen die Wirtschaftsgebäude, und an diese schloß sich das in einem Walde von Chinabäumen begrabene Negerdorf an, das so ruhig dalag, daß es sich bloß durch die bläulichen Rauchsäulen, die durch die blühenden Bäume emporkräuselten, verriet; aber ungemein lieblich ließ sich aus den dahinterliegenden Cottonfeldern ein fröhlicher Gesang hören, dessen munterer Schwung an die Matrosen mahnte, wenn sie wohlgemut die Anker lichten.

Das Ganze bot ein eigentümliches Gemälde dar, bei dem offenbar seemännische Disziplin, vielleicht auch Laune den Pinsel geführt haben mußte; aber neben den harten Strichen zogen sich wieder so weiche, milde Züge durch das Gemälde hin, der Grundton erschien so patriarchalisch väterlich, daß man um keinen Preis einen Pinselstrich daraus vermißt haben würde!


»Ja, es ist ein Paradies!« rief in stillem Entzücken der General, der nun mit der reizenden Gebieterin vor dem Rasenplatze angekommen. »Es ist weit mehr Paradies als das Uncle Duncans, es hat etwas so alttestamentarisch Patriarchalisches!«

»Es ist natürlich«, versetzte ruhig Miß Murky, »und das spricht das Gemüt an. Es ist wunderbar«, fuhr sie bewegter fort, »welch ein offenes, helles Auge Papa für das Natürliche, Wahre hat. Alles Unnatürliche, Unwahre widersteht ihm.«

»Das ist immer so bei wahrhaft edlen Menschen. Dieser Sinn unterscheidet sie von den herzlosen, die sich jeder Form anschmiegen.«

»Papa kann das nicht, und deshalb steht er auch so einsam.«

»Nennen Sie das einsam stehen, Miß Murky, geliebt zu sein wie er?«

»Er ist innig geliebt von so vielen, geachtet, ja verehrt von mehreren, aber doch steht er einsam«, versetzte sie sinnend.

»Wissen Sie, Miß Murky«, fiel er, der Unterhaltung zart eine andere Wendung gebend, ein, »was ich jetzt wünschte?«

»Was?«

»Daß einige unserer abolitionistischen französischen Freunde da wären, dieses herrliche, patriarchalische Gemälde zu sehen.«

»Warum?«

[336] »Sie würden von ihren antisklavischen, ich möchte sagen, antisozialen Ideen zurückkommen. Wie oft wurde mir nicht die Sklaverei, die empörende Behandlung unserer Sklaven vorgeworfen!«

»Ich habe nie einen solchen Vorwurf gehört«, versetzte wieder ruhig sie, »aber wenn ich auch hätte, er würde mich kaum bewogen haben, mir über diesen Punkt den Kopf zu zerbrechen. Wir haben sie einmal, diese Sklaverei, und selbst wenn sie ein Übel wäre, würde ich eher zu versöhnen, zu vermitteln, als dagegen zu kämpfen suchen.«

Er schaute sie erwartend an.

»Uns Weibern steht das Ankämpfen gegen bürgerliche oder politische Verhältnisse nicht wohl an, unsere Rolle ist eine versöhnende.«

»Sie haben recht!« versetzte er. –

Der Wagen hielt nun. Der General sprang aus und half ihr absteigen. In dem Augenblicke gingen die Jalousien der südlichen Galerie auf, und Kapitän Murky trat heraus. Wie die beiden Liebenden ihm entgegeneilten, die dargebotene Hand erfaßten, weilten seine Blicke forschend auf ihr. Die Spuren der Tränen waren nicht ganz verwischt.

»Alexandrine!« sprach er in liebevollem, besorgtem Tone.

»Vater!« erwiderte sie etwas betroffen.

Der Vater schaute noch einen Augenblick sie, dann den General an. Die innige Harmonie, die zwischen beiden aufleuchtete, schien ihn wieder zu beruhigen.

»Meine teure Alexandrine! fühlst du ganz wohl – glücklich?«

»Ganz wohl und glücklich!« versetzte sie, und abermals perlte ihr eine Träne aus den Augen.

»Und Sie, General?«

Der General erfaßte die Hand des Kapitäns und drückte sie an die Lippen.

»Eigentlich, mein lieber General«, sprach nach einer kurzen Pause der Kapitän, »sollte ich Sie ein bißchen ausschelten wegen Ihrer gestrigen oder heutigen Desertion.«

»Ich habe es schon getan, Papa!«

Und sie lächelte, während die Träne noch perlte, entzückt den Vater, wieder den General an.

»Du hast recht getan, Alexandrine, und mir die Mühe erspart. Du weißt, ich tue es nicht gerne. Aber lassen Sie sich es gesagt sein, [337] tun Sie es nicht ein zweites Mal, unsere Nachtluft läßt nicht mit sich scherzen.«

»Ich will es nicht mehr tun.«

Er nickte freundlich, und Arm in Arm gingen sie der Galerie zu deren sämtliche Jalousien mittlerweile aufgerollt waren.

Diese bot freilich einen ganz andern Anblick dar als die westliche und nördliche. Zwar war auch hierin noch nicht alles in Ordnung; Blumentöpfe und Ottomanen und Sessel standen noch nicht an ihrem rechten Platze, konnten aber leicht darauf gebracht werden.

»Ich habe die Anordnung dieser Galerie ganz dir überlassen wollen, so wie des Drawing room«, hob wieder der Kapitän an. »Da hat dir Freund Duncan die Anfänge zu einem kleinen Konservatorium gesendet«, fuhr er fort, auf mehrere Reihen von seltenen Pflanzen und Blumen in zierlichen Fayencetöpfen deutend. »Bist du nicht froh?«

Sie hatte aber bereits die holden Kinder Floras begrüßt, war von Blume zu Blume geeilt.

»Er ist ein lieber, lieber Mann!« rief sie.

»Ein sehr guter Gedanke!« fiel der General ein.

»Das soll nun meine erste Unterhaltung sein«, rief wieder sie, »die Blumen und Pflanzen zu ordnen.«

»Darf ich helfen?« fragte eifrig der General.

»Wir wollen sie zusammen ordnen«, beruhigte sie ihn.

»Zuvor mußt du aber noch das Drawing room sehen. Es sind Leute da, die auf deine Befehle harren.«

»Auf meine?« rief sie verwundert.

»Auf wessen sonst? Bist du nicht die Frau vom Hause, die Herrin, der wir uns alle fügen müssen?«

»Wie du nur so sagen kannst, Papa?«

»Ganz im Ernste, Alexandrine, sag' ich's, ganz im Ernste!« versicherte der Papa. »Aber jetzt, liebes Kind! schau einen Augenblick hinüber; auch in deinem Schlafkabinette ist noch ein und das andere zu ordnen, und, wie gesagt, im Drawing room warten die Leute auf dich.«

»Willst du nicht mitkommen, Papa, mich mit deinem Rate zu unterstützen?«

»General Morse wird so gut sein«, versetzte freundlich der Vater, [338] »ich will unterdessen in die Apotheke, um für Josepha eine Arznei zu bereiten 1. Sie ist krank.«

»Wie, die arme Josepha krank?«

»Seit vorgestern«, versetzte der Vater, »es geht ihr aber besser, ich war soeben bei ihr. Ich wollte dir gestern nichts davon sagen, sie war schlimm daran. Ich würde sie sehr ungerne verlieren.«

»Darf ich mit dir, sie zu besuchen?«

»Wenn du willst.«

»Und ich auch?« fragte der General.

»Wenn Sie wollen.«

Und während nun der Kapitän in die Hausapotheke ging, eilten die beiden dem Drawing room zu. Zuvor warf sie aber noch einen Blick in ihr Schlafkabinett, in das er jedoch, obwohl es an die Galerie anstieß, nicht zugelassen wurde. Dafür wies sie ihn ins Drawing room, welches zwar ursprünglich ziemlich kajütenmäßig ausgesehen haben mußte, denn die Wände waren mit Louisiana-Kirschholze, die Dielen mit andern einheimischen Holzarten parketiert, was allerdings ein etwas schweres, nordisches Aussehen verlieh; aber ein paar in die Balkenwände neu eingeschnittene Flügeltüren, die in die Galerie hinausführten, versprachen, diesem Übelstande recht gefällig abzuhelfen. Sie waren von ihr angegeben worden, und sie war recht begierig zu sehen, wie sich die bereits eingesetzten Türpfosten ausnehmen würden. Aber während sie einen Blick in ihr Kabinett geworfen, hatten Phelim und die ganze Schar schwarzer und weißer Angehörigen ihre Anwesenheit ausgemittelt, und alle kamen gesprungen, um die teure Missus zu sehen. Phelim tanzte mit einem Rundsprunge auf sie zu, die andern erfaßten, da er ihre beiden Hände bereits im Besitz hatte, sie am Kleide, um dieses wenigstens zu küssen. Es war ein Jubel, ein Frohlocken, dem man es wohl ansah, daß er aus dem Herzen kam. Sie wies keine der Huldigungen, so ungestüm sie auch waren, zurück, empfing alle mit hinreißender[339] Güte; und doch war wieder etwas so wahrhaft Ladymäßiges in dieser Güte, daß Schwarze und Weiße allmählich wieder zu sich kamen, ja der rotnasige Phelim dem General bei Jasus und bei St. Patrick zuschwor, sie sei die erste Lady, und keine zweite gäbe es, weder in Irland noch anderswo, und wer es nicht glaube, der solle verdammt sein.

Und jetzt wandte sie sich wieder, um den Arbeitern nachzusehen, hier Winke zu geben, dort Zufriedenheit auszudrücken! Gerade hielt sie mit ihrem Begleiter vor dem Fenstergesimse, als der Kapitän eintrat.

»Papa!« rief sie lebhaft, »höre nur, du weißt, diese Arabesken hier wollte ich vergoldet haben, und siehe, wie jetzt der General einen Blick auf sie wirft, findet er, daß sie vergoldet sein müssen. Ist das nicht artig?«

»Sehr artig!« versetzte gemütlich der Kapitän. »Aber jetzt wollen wir zu Josephen, wenn ihr es zufrieden seid.«

»Gewiß!« fielen die beiden ein.

»Bei Jasus! einen Augenblick Geduld, Hinnies!« schrie hier Phelim, »Phöbe und Psyche haben Kinderwäsche, will nur zuvor sehen, ob sie fertig sind.«

»Sei so gut!« ermunterte sie ihn.

Er sprang fort, kam aber sogleich mit der Nachricht zurück, daß sie fertig und der Weg nun offen sei.


Das Negerdorf war ein anderer reizender Zug in diesem südlichen Gemälde, der Hintergrund gleichsam, der aber erst dem Vordergrunde seine eigentümlich patriarchalische Betonung verlieh. Es bestand aus zwei Reihen von Hütten; jede dieser Hütten hatte einen Chinabaum vor der Tür, in dessen Doppelgrün 2 das Häuschen wie begraben lag. Die meisten hatten so wie das Herrenhaus kleine Galerien, auf denen hie und da die Patriarchen des schwarzen Völkchens saßen, ihren 'bacca rauchend, während die Mütterchen, ihnen vorplappernd, Gemüse putzten oder sonstige leichte Arbeiten verrichteten. Sowie aber die drei, gefolgt von Phelim und sämtlichen Kindern, am Eingange des Dorfes anlangten, erhoben sich auch alle die oncles [340] und aunties 3, warfen Pfeifen und Gemüse weg und brachen auf, um den lieben Massa und Missus zu begrüßen.

Es war wirklich rührend zu schauen, mit welcher Hast, welchem liebenden Verlangen die achtzig- und neunzigjährigen Alten herbeitrippelten und mit welcher Güte, Zärtlichkeit sie alle empfing, diesen streichelte, jenen beschenkte, einen dritten tröstete, einer vierten abzuhelfen versprach. Der Kapitän schien ganz vergessen, keiner und keine beachtete ihn. Sie ließen ihn ungehindert der Hütte Josephens zugehen, in der er schon eine geraume Weile war, ehe Alexandrine ihn vermißte. Jetzt eilte sie ihm mit ihrem Schatten, dem General, nach.

Wie sie in die Tür eintrat, kreischte auch die Kranke vor Freude auf und wollte ihre teure Missus, nur die teure Missus, die sie als Kind gewiegt, auf den Armen getragen, nochmals in die Arme schließen.

Man hat im Norden keinen Begriff von der Liebe und Zärtlichkeit, mit der unsere Schwarzen an ihren Herren und Frauen, diese wieder an ihren Angehörigen hängen; es ist wohl das liebevollste Band, das Abhängige und Unabhängige heutzutage umschließt, denn es ist von Kindheit an in die Naturen eingewoben. Hier allein herrscht noch etwas von jenem alttestamentarischen Verhältnisse, das leider heutzutage verschwunden, nur in den Lettern der heiligen Bücher noch erscheint.

Der junge General fühlte so bewegt, daß er es nicht länger auszuhalten vermochte. Tränen kamen ihm in die Augen, er trat erschüttert zurück, eilte, Tränen und sich zu verbergen.

Hinter der Hütte erhob sich schützend eine Pride of China, ihr blütenreiches Gezweige über das Dach hinbreitend. Auf die Bank, die unter dem Baume angebracht war, warf er sich hin, um über die Szenen der letzten zwei Tage, sein unsägliches Glück, den unendlichen Reichtum ihrer Güte, Milde, und was wir milk of human kindness 4 nennen, ungestört Freudentränen Lauf zu lassen. Er wußte sich nicht mehr zu fassen, er mußte seinem vor Freude und Wehmut gepreßten[341] Herzen Luft machen. Er hielt sich beide Hände vor das Gesicht, um ungehindert ausweinen zu können.

Eine zarte dritte zog ihm diese weg. Sie, in ihrem schönsten Liebreize Engel und Grazie zugleich, stand vor ihm, sah ihn zärtlich an, sprach aber nicht; nur schlug ihr Busen bewegter.

Unwillkürlich glitt er von der Bank herab auf die Knie, die er umfaßte; aber eine Weile vermochte er kein Wort hervorzubringen.

»Alexandrine!« schluchzte er endlich; »Alexandrine! Herrliche! Engelgleiche! Ich kann es nicht länger verbergen, ich muß reden, es würde mich erwürgen. Seit ich Sie zum ersten Male in Paris sah, seit dieser Zeit öffneten sich mir die Tore des Paradieses.«

Sie sprach nicht.

»Ich liebte, ich liebte Sie beim ersten Anblick, jetzt, jetzt bete ich Sie an. Ich kann nicht ohne Sie leben. Ich bin Ihrer nicht würdig, ich weiß es; aber, so helfe mir Gott! ich kann nicht ohne Sie sein.«

Sie ließ sich auf der Bank ihm zur Seite nieder, sprach aber noch immer nicht, nur der Busen hob sich stärker.

»Sie reden nicht? Sie schweigen? Sie verstoßen mich?« schluchzte er. »Hat Sie mein kühnes Geständnis beleidigt?«

Er ergriff die Hand, preßte sie an die Lippen. Wie er sie so preßte, fühlte er den leisen Widerdruck.

»Alexandrine!« rief er plötzlich mit leuchtenden Augen.

Sie schwieg noch immer; aber jetzt kam eine Träne, eine zweite – dritte; der Engelskopf senkte sich ihm auf Nacken und Brust.

Er umschlang sie, wagte es, einen Kuß auf die Korallenlippen zu drücken.

Sie hatte die Augen geschlossen, er fühlte aber den erwidernden Druck der Lippen.

Jetzt sprang er auf, an ihre Seite.

»Alexandrine!« flehte er, »Alexandrine!«

»Edward!« versetzte sie.

»Wollen Sie, wollen Sie«, flehte er, »mein sein?«

»Dein sein!« flüsterte sie.

Eine Weile saßen sie sprachlos, im Gefühle ihres Glückes schauten sie einander mit trunkenen, schwimmenden Blicken an, dann erhoben sie sich, um den Vater zu suchen.

Fußnoten

1 In der Regel haben Pflanzungen nicht nur Hausapotheken, sondern die größeren auch eigene Ärzte. Von den weniger bedeutenden vereinigen sich gewöhnlich mehrere, um einen Arzt ausschließlich für sich und ihre Sklaven zu unterhalten. Dasselbe ist der Fall mit Predigern. Auf jeder größeren Pflanzung befindet sich eine Hauskapelle, in der der Hausgottesdienst gehalten wird. Wenn kein Prediger da ist, verrichtet der Hausherr, im Falle er Mitglied der Episkopalkirche ist, den Gottesdienst. Auf den Pflanzungen, die sich in der Nähe einer Stadt befinden, erhalten die Neger an Sonntagen ihre Pässe, um den Gottesdienst in der Stadt zu besuchen. Häufig tritt der Fall ein, daß Prediger zehn und zwanzig Meilen herbeigeschafft werden, um die Leichenpredigt für einen abgeschiedenen Schwarzen zu halten.

2 Der Pride of China hat ein doppeltes Grün, ein lichtes und ein dunkles. Die Blätter, die sich in Gestalt winziger Parasole an den Zweigen ansetzen, wachsen nämlich den ganzen Sommer hindurch nach und geben so dem ohnedem herrlichen Baume eine eigentümliche Frische.

3 Die Schwarzen beiderlei Geschlechts unter vierzig Jahren werden durchgängig in den Vereinten Staatenboys oder girls, Buben, Mädchen, die Alten wiederaunties, oncles, Tantchen, Onkelchen angeredet, eine Anrede, die immer im zärtlich liebevollen Tone gegeben und angenommen wird.

4 Milch menschlicher Güte.


License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Sealsfield, Charles. Die Fahrt und die Kajüte. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0005-0A11-8