Arthur Schnitzler
Lebendige Stunden
Vier Einakter

[690] I. Lebendige Stunden

Ein Akt.

Anton Hausdorfer, pensionierter Beamter.


Heinrich.


Borromäus, Gärtner.


Wohlgepflegter kleiner Garten in einem Vororte Wiens. Kleines Haus im Hintergrund, mit Veranda, von der drei Stufen in den Garten her abführen. Vorn zwei Sessel, sowie ein behaglicher Lehnstuhl. Frühherbst. Der Abend ist nahe. Stille. Borromäus, der Gärtner, mit Umgraben beschäftigt. Er ist ein alter Mann mit ziemlich langen grauen Haaren. Anton Hausdorfer kommt langsam von der Veranda herunter; er ist nahe an sechzig, bartlos, straffes graues, kurzgeschnittenes Haar, junge Augen; dunkler Anzug, bequem, nicht nachlässig; breiter dunkler Strohhut.

HAUSDORFER.
Guten Abend, Borromäus.
BORROMÄUS.

Guten Abend, gnädiger Herr. Der gnädige Herr sind wohl heut nachmittag in der Stadt drin gewesen, nicht wahr?

HAUSDORFER.
Nein, nein.
BORROMÄUS.

Ich hab' nur gedacht, weil der gnädige Herr nachmittag wieder nicht in der Laube den schwarzen Kaffee getrunken hat.

HAUSDORFER.

Nein, nein, ich war nicht in der Stadt. Ich bin drin auf dem Sofa gelegen. Ich hab' nämlich ein bißchen Kopfweh gehabt. Na, was tun Sie denn? Wir werden ja bald den ganzen Garten umgegraben haben.

BORROMÄUS.

Freilich, gnädiger Herr. Es ist auch notwendig. Über Nacht kann ein Frost da sein. Ich lass' mich von diesen milden Tagen nicht betrügen, wenn's einmal Oktober ist. Erinnern sich gnädiger Herr noch an den Herbst im Jahre 93? Am Abend ist man im Freien gesessen – ja, am 28. Oktober – und in der Früh' um drei ist der Frost dagewesen. Und 87 und 88 war ganz dieselbe Geschichte. Ah nein, mich betrügen die schönen Tage nicht.

HAUSDORFER.

Sie haben schon recht, Borromäus.Schaut ihm zu. Nun, was setzen wir denn heuer ein? Er versinkt in Nachdenken, hört die Antwort kaum an.

BORROMÄUS.

Ja, davon hab' ich mit dem gnädigen Herrn grad reden wollen. Ich war nämlich heut nach Tisch beim Franz drüben. –

[690]
HAUSDORFER
zerstreut.
Bei wem?
BORROMÄUS
etwas befremdet.

Beim Gärtner vom Baron Weißeneck. Er ist hochmütig, ja, aber er versteht was. Ja, er kennt sich besser aus als ich. Ich muß es schon selber sagen. Er hat's auch in Büchern studiert. Zwanzig so Bänd' stehn bei ihm oben auf'm Kasten. Na, und darum genier' ich mich gar nicht, ihn um Rat zu fragen.

HAUSDORFER
hat nicht zugehört.
Ja, ja, das müssen S' tun.
BORROMÄUS.
Was, gnädiger Herr?
HAUSDORFER.
Was er Ihnen gesagt hat. Ja; ich bin ganz einverstanden.
BORROMÄUS
immer befremdeter.
Aber, gnädiger Herr, ich hab' ja noch gar nichts ...
HAUSDORFER
wie oben.
Es wird schon das Rechte sein.
BORROMÄUS
fast erschrocken.
Erlauben, gnädiger Herr.
HAUSDORFER
wie erwachend.
Was denn?
BORROMÄUS.

O, ich kann mir schon denken! Wenn ich mir erlauben darf zu fragen – gewiß geht's der Frau Hofrätin wieder schlechter? Da Hausdorfer nicht antwortet, verlegener. Na ja, ich denk' halt, weil sie schon drei Wochen nicht mehr bei uns heraußen gewesen ist.

HAUSDORFER.

Lassen Sie doch. Sie ist tot. Ich dank' Ihnen für Ihre Teilnahme. Die Frau Hofrätin ist tot. Er hat sich gesetzt.

BORROMÄUS
ganz erschrocken, hat die Mütze abgenommen.
Oh, oh! Pause.
HAUSDORFER.
Ja. Sie wird nimmer zu uns kommen, die Frau Hofrätin.
BORROMÄUS.

Ja, ist es denn möglich! O Gott! Ich hab' ja gar keine Ahnung gehabt, daß die Frau Hofrätin so krank war. Schüttelt den Kopf. Und war doch noch eine jüngere Frau sozusagen.

HAUSDORFER.

Na, lieber Borromäus, jung ... Allerdings, sieben Jahre jünger als ich; aber ich bin halt auch schon sechzig.

BORROMÄUS.
Ja, freilich! ...
HAUSDORFER.
Man kann auch älter werden als die Frau Hofrätin, das ist schon wahr.
BORROMÄUS.

Ja, sehn Sie, gnädiger Herr, es mag auch daher kommen, daß ich die Frau Hofrätin doch beinah Tag für Tag gesehn hab' in diesen fünfzehn oder zwanzig Jahren, – also damals –

HAUSDORFER.
Ja, vor zwanzig Jahren waren wir alle jünger.
[691]
BORROMÄUS.

Aber auch in der allerletzten Zeit hat doch die Frau Hofrätin nicht einer alten Frau gleichgeschaut! Und grad heuer im Sommer, wie sie so blaß und mager worden ist, da hätt' man geschworen ... Ja, einmal wie ich spät am Abend aus der Allee dort herausgekommen bin und die Frau Hofrätin ist da gesessen – meiner Seel', ich hab' gemeint, es ist eine jüngere Schwester von der Frau Hofrätin – entschuldigen der gnädige Herr.

HAUSDORFER
nach einer kleinen Pause.
Also, Borromäus, was hat er denn eigentlich gesagt, dieser arrogante Franz vom Baron?
BORROMÄUS.

O nein, gbädiger Herr, o nein! Ich will jetzt nicht mehr von so gleichgültigen Sachen reden. Er küßt ihm die Hand. Ich weiß, was das heißt – ich hab' auch einmal eine Frau gehabt und – begraben. Er erschrickt gleich wieder über seine eigene Bemerkung. O, ich meine nur ...

HAUSDORFER.
Es ist schon gut, Borromäus. Kleine Pause.
BORROMÄUS.
Und der junge Herr? ...
HAUSDORFER.
Was? Wie?
BORROMÄUS.

Ich meine, der junge Herr Heinrich – es ist doch schrecklich! O Gott, o Gott! Wenn ich daran denk', wie er die Frau Hofrätin in der letzten Zeit immer herausbegleitet hat und abgeholt am Abend ...

HAUSDORFER.
Ja, er ist sehr zu beklagen.
BORROMÄUS.
Er ist gewiß selber krank worden, daß er nicht kommt.
HAUSDORFER.

Nein, nein. Ich erwarte ihn jeden Tag. Er ist nämlich fort – er ist abgereist. Aber er muß jeden Tag zurückkommen. Er erholt sich halt ein wenig. Na ja, er muß doch wieder arbeiten können.

BORROMÄUS.
Ja, ja, wenn man einen Beruf hat ...
HAUSDORFER.
Und gar einen solchen! – Ein Dichter! Steht auf. Ein Dichter! Wissen Sie, was das heißt?
BORROMÄUS.
Aber gnädiger Herr! –
HAUSDORFER.

Nichts wissen Sie, gar nichts. Wir wissen das alle nicht, wir gewöhnlichen Menschen, die nichts weiter können als ihre Gärten bepflanzen ...

BORROMÄUS.
O, der gnädige Herr hat –
HAUSDORFER.

Na ja, Borromäus, Sie meinen, ich hab' früher auch noch was anderes getan – ja, ja. Aber doch nichts besseres als jetzt. In einem Bureau bin ich gesessen drin in der Stadt, tagtäglich von acht bis zwei, manchmal ist auch drei oder gar vier worden.

[692]
BORROMÄUS.

Es muß doch eine Plag' sein, täglich auf einem Fleck sitzen sechs Stunden lang. – Ich hab' den gnädigen Herrn oft bedauert in früherer Zeit, wenn er erst so spät am Abend aufs Land herausgekommen ist. Und gar im Winter –

HAUSDORFER.

Was soll man machen, Borromäus? Jetzt sitzt ein anderer auf meinem Platz, und wenn's der erlebt wie ich, kriegt er auch einmal seine Pension, und drin im Bureau sitzt wieder ein anderer! – Aber wer da drin auf meinem Platz sitzt, das ist ganz egal, das kann bald einer. Aber ein Dichter – das ist schon eine andere Art von Mensch wie unsereiner, Borromäus. Wenn so einer in Pension geht, kann's passieren, daß die Stelle recht lang unbesetzt bleibt. Ja, so einer muß auf sich schauen, das ist er der Welt schuldig – verstehen S', Borromäus?

BORROMÄUS.
Freilich.
HAUSDORFER.

Nichts verstehen S', gar nichts. Haben Sie denn gar nichts bemerkt am Heinrich? Haben Sie denn nie den Schein um seinen Kopf bemerkt? Na, sehn Sie!

BORROMÄUS
lacht zuerst, dann wird er wieder ernst.
HAUSDORFER.

Haben S' keine Angst, Borromäus, – ich bin nicht verrückt. Ich red' von keinem wirklichen Schein, nur von einem figürlichen. Sie können ihn nicht sehen, Borromäus, – ich auch nicht; – aber die Frau Hofrätin hat ihn gesehen.

BORROMÄUS.

Ah, ich weiß schon, was der gnädige Herr meint. Ja, weil der Herr Heinrich, so jung als er ist, schon so viel in der Zeitung steht und die Leut' von ihm reden – ja, ja, das ist – Geste, als wollte er den Schein um den Kopf bezeichnen.

HEINRICH
schwarz gekleidet, geht am Gartengitter vorbei.
Er grüßt und verschwindet wieder.
BORROMÄUS
ist dem Blick des Hausdorfer gefolgt.
HAUSDORFER.
Ja, da kommt er. Sitzt schweigend.
BORROMÄUS.

Erlauben der gnädige Herr – ich hab' ja noch gar keine Gelegenheit gehabt, dem Herrn Heinrich mein Beileid auszusprechen ...

HEINRICH
tritt eben aus dem Innern des Hauses auf die Terrasse.
HAUSDORFER.
Na, gehn Sie nur, gehn Sie nur, sprechen Sie ihm Ihr Beileid aus.
BORROMÄUS
geht dem Heinrich entgegen.
HEINRICH
von der Veranda herunterkommend, ergreift die Hand des Borromäus.
Ich danke Ihnen, lieber Borromäus – ich weiß ja – ich danke Ihnen sehr.
BORROMÄUS
ab.
[693]
HEINRICH
nach vorn.
HAUSDORFER
steht jetzt erst auf, geht ihm einen Schritt entgegen.
Händedruck. Na, bist du wieder zurück?
HEINRICH.
Ja; früher als ich gedacht habe. Es ist doch noch besser daheim,
HAUSDORFER
nickt.
Du bist also noch am selben Abend abgereist?
HEINRICH.

Ja. Ich bin vom Friedhof nach Hause, habe gepackt und bin fort. Ich hätte die Nacht zu Hause nicht mehr ertragen.

HAUSDORFER.
Das begreif' ich. Wo bist du denn eigentlich gewesen?
HEINRICH.
Zuerst bin ich nach Salzburg gefahren. –
HAUSDORFER.
So?
HEINRICH.

Das ist nämlich ein Ort, wo ich mich sonst immer wohl gefühlt habe. Eine Stadt des Trostes, wahrhaftig.

HAUSDORFER.
So? Gibt's solche Städte? Das wär' ja großartig.
HEINRICH.

Ja, unter gewissen Umständen gibt es solche Orte, und ich bin wirklich nicht aufs Geratewohl nach Salzburg gereist. Ich habe nämlich einmal etwas sehr Schweres oder wenigstens Trübseliges erlebt – vor sieben oder acht Jahren ... Wissen Sie, Herr Hausdorfer, so eine Geschichte, daß ich dachte, es wird überhaupt nie wieder gut ... Ja, und da bin ich fortgereist, eben nach Salzburg. Und schon am ersten Nachmittag, während eines einsamen Spazierganges in Hellbrunn, in dem reizenden Rokokogarten, linderte sich mein Schmerz und am Morgen daraufhin ich wie gesundet aufgewacht, habe sogar wieder arbeiten können.

HAUSDORFER.
Geh!
HEINRICH.
Allerdings war ich damals kaum zwanzig – überdies war Frühling; das muß man auch in Betracht ziehen.
HAUSDORFER.
Ja freilich, das muß man auch in Betracht ziehen.
HEINRICH.
Und diesmal nichts, keine Spur von Erleichterung. Im Gegenteil.
HAUSDORFER.
Also es gibt Fälle, wo Hellbrunn nicht wirkt. Wie lang bist du denn in Salzburg geblieben?
HEINRICH.

Am nächsten Tag bin ich fort. Nach München. Ich hoffte nämlich auf die beruhigende Wirkung der alten Bilder. Ich bin in die Pinakothek, in die alte, wo meine geliebten Dürer und Holbein hängen. Und wahrhaftig, dort hab' ich zum ersten Mal nach langer, nach sehr langer Zeit wieder aufgeatmet. Pause. Sie erlauben doch, daß ich Ihnen das alles erzähle. Ich habe ein wahres Bedürfnis, mich Ihnen gegenüber auszusprechen.

[694]
HAUSDORFER.
Tu's nur, tu's nur. Wird freundlicher, gibt ihm die Hand.
HEINRICH.

Ich danke Ihnen. Sitzt. Sehen Sie, Herr Hausdorfer, ich hab' es einigermaßen schmerzlich empfunden, daß wir einander im Lauf der letzten Jahre ... ich kann's nicht anders sagen – ein wenig fremder geworden sind.

HAUSDORFER.
Fremder – wieso denn?
HEINRICH.

Ja. Ich habe sehr gut gespürt, daß Sie mich nicht mehr so gern hatten, wie früher einmal, wie zu der Zeit, da ich ein Bub' war und hier auf der Wiese gespielt habe.

HAUSDORFER.

Gott, mein lieber Heinrich, das ist freilich schon recht lange her. Und schließlich wirst du ja auch zugestehen, daß du eigentlich derjenige warst – na ja, ich mein' nur so ... es ist doch natürlich, daß du deine eigenen Wege gegangen bist. Ein junger Mensch! Es war ja nicht sehr amüsant bei mir heraußen. Du hast deinen Kreis. Ich hab' dir doch mein Lebtag keinen Vorwurf gemacht – oder ja?

HEINRICH.

Aber! – Ich wollte Ihnen nur sagen, wie tief ich gerade jetzt, nach dieser mißglückten Reise – oder Flucht, empfunden habe, daß ich mit keinem Menschen so stark zusammenhänge als mit Ihnen. Sie werden mich verstehen. Wie dankbar muß ich Ihnen sein! Was sind Sie meiner armen Mutter gewesen! Wie haben Sie ihre letzten Lebensjahre verschönt!

HAUSDORFER
wehrt ab.

Ja, ja ... Erzähl' doch weiter. Also in München bist du gewesen, die Bilder hast du dir angeschaut. Und da hast du Trost gefunden.

HEINRICH.

Solang ich eben in den kühlen, stillen Sälen war. Kaum bin ich auf die Straße hinausgetreten, so war alles vorbei. Und gar die Abende, diese endlosen einsamen Abende. Ich versuchte zu arbeiten, zu denken – unmöglich! Als wäre alles in mir vernichtet. Pause. Ist aufgestanden. Wie lange wird das noch dauern!

HAUSDORFER.
Es muß schrecklich sein, wenn man eine Beschäftigung so gewöhnt ist ...
HEINRICH.

Gewöhnt? Ich bin's ja längst nicht mehr. Das ist es eben. Seit zwei, drei Jahren kann ich nichts mehr zustande bringen. Sie wissen ja ...

HAUSDORFER.
Ich weiß – freilich.
HEINRICH.

Aber es war auch eine vollkommene Unmöglichkeit. Ein geliebtes Wesen, eine Mutter leiden sehen, so leiden, und wissen, daß sie dem Tod entgegensiecht, – und daß sie es [695] ahnt! – Ja, das war das Furchtbarste. Diese Ahnung, die ich in ihren Augen schimmern sah, nachts, wenn ich an ihrem Bette saß und ihr vorlas. Große Pause. Die Wohnung hab' ich aufgegeben.

HAUSDORFER.
So? Die wär' ja auch zu groß für dich allein.
HEINRICH.

Abgesehen davon; ich könnte in diesen Räumen doch nie wieder eine Zeile schreiben. Ich würde doch Nacht für Nacht das Stöhnen aus dem Zimmer nebenan zu hören glauben, das mir ins Herz geschnitten und mir jede Fähigkeit, jede Lust zu schaffen, ja zu leben zu Grund gerichtet hat. O Gott! Pause. Und wissen Sie, was mir Doktor Heusser noch am Sonntag vor ihrem Tode gesagt hat?

HAUSDORFER.
Was denn?
HEINRICH.
Es könnte auch noch zwei bis drei Jahre dauern.
HAUSDORFER
beinahe auffahrend.
Noch zwei bis drei Jahre? So? Absichtlich ruhiger. Noch zwei bis drei Jahre hätte es dauern können?
HEINRICH.

Ja. Und die schlimmste Zeit wäre erst gekommen. Sie hätte das Zimmer nicht verlassen, hätte nicht einmal mehr die paar Stunden in der Woche haben dürfen – hier im Garten, wo ihr immer so wohl gewesen ist. Blick auf den leeren Lehnstuhl.

HAUSDORFER.
Vielleicht hätt' ich mich doch zuweilen entschlossen, hineinzufahren, glaubst du nicht?
HEINRICH
wie beschämt.

Mein verehrter Herr Hausdorfer, ich rede da immer von mir, und ich bin noch jung, und es liegt doch noch irgendwas wie eine Zukunft vor mir. Was haben Sie verloren!

HAUSDORFER.
Viel, viel.
HEINRICH.
Ich weiß, was Ihnen meine Mutter bedeutet hat; ich hab' es immer gewußt, auch schon damals.
HAUSDORFER.
Damals?
HEINRICH.
Ich war ja kein kleines Kind mehr, als der, der mein Vater war, uns verließ.
HAUSDORFER.
Ja, ja.
HEINRICH.

Ich erinnere mich noch an den Tag, da mir die Mutter sagte, der Papa sei abgereist. Und als er nicht zurückkam, hab' ich mir eine Zeit lang eingebildet, daß er gestorben sei, und in der Nacht hab' ich manchmal bitterlich geweint. Aber kurz darauf bin ich ihm auf der Straße begegnet, und zwar mit jener andern, um derentwillen er meine Mutter verlassen [696] hatte. Ich habe mich in ein Haustor versteckt, damit er mich nicht sieht, als ob ich kleiner Bub' mich vor ihm schämen müßte. Ja, ich hab' es früh verstanden, daß meine Mutter vollkommen frei war, so frei, als wenn sie verwitwet wäre.

HAUSDORFER.
Du hast uns also verziehen, scheint es.
HEINRICH
leicht verletzt.

Entschuldigen Sie, ich habe mich wahrscheinlich ungeschickt ausgedrückt. Wieder wärmer. Aber soll man denn nicht über einfache und natürliche Dinge einfach und natürlich reden können, besonders in einem solchen Augenblick? Es drängt mich, Ihnen wie einem Vater die Hand zu drücken, denn ich weiß, wie sehr meine Mutter Sie geliebt hat. Es wird immer dunkler. Auf der Straße jenseits des Gitters werden Laternen angezündet.

HAUSDORFER.

Geliebt – das war' schon was besonderes. Was hebt sich nicht alles auf der Welt, wenn's jung ist. Freunde sind wir gewesen, Heinrich, alte Leute und Freunde. Verstehst du das? Oder hat das Wort für so junge Ohren noch keinen Klang? Aber wie sollt ihr das verstehn, ihr jungen Leute, vor denen noch die Zukunft liegt, denen die Welt offensteht, – und gar ein Mensch wie du, mit solchen Aussichten. Es ist ja kein Wunder.

HEINRICH.

Sie irren sich, Herr Hausdorfer: ich begreife das sehr gut. Wenn ich Ihnen ... uns meine arme Mutter wieder zurückrufen könnte – o Gott! Wenn ich sie nur noch einmal, nur für einen Abend wieder hier sitzen sähe, wie vieles gab' ich dafür hin!

HAUSDORFER.
Vieles? Bitterer. Was?
HEINRICH
zögernd.

Es ist mir, als wenn ich meine ganze Zukunft, als wenn ich alles, was ich noch leisten, alles, was ich noch erreichen will, dafür hingeben könnte.

HAUSDORFER.
Sei nicht bös', Heinrich, das glaubst du selber nicht.
HEINRICH.
Wenn ich die Möglichkeit hätte, wenn es in meiner Macht stünde ...
HAUSDORFER.

Es ist nicht wahr, Heinrich. Auch wenn du die Macht hättest – ich kenne dich! Euch alle kenn' ich, ich weiß, wie ihr seid.

HEINRICH.
»Ihr?« Ich weiß nicht, für wen außer mir ich einzustehen habe.
HAUSDORFER.

Du mußt für niemanden einstehn. Wenn ich »ihr« sage, so weiß ich schon, wie ich das mein'. Da hab' ich [697] nämlich einen jungem Kollegen im Amt gehabt, das ist eine Geschichte von ungefähr zehn Jahren, der hat sich mit der Musik beschäftigt in seinen Mußestunden; es ist auch einmal bei einer Liedertafel vom Männergesangverein etwas von ihm aufgeführt worden; Franz Thomas hat er geheißen. Und dem ist sein einziges Kind gestorben, ein Bub', sieben Jahr war er alt, bildschön und aufgeweckt. Ich hab' ihn nämlich gekannt; er ist manchmal mit seiner Mutter gekommen, den Vater vom Bureau abzuholen. Also das Kind ist gestorben, an der Diphtheritis, in einer Nacht, und ich komm' hin Kondolenzvisit machen. Und er, der Vater nämlich, sitzt beim Klavier und spielt – ja, spielt. Dabei muß ich bemerken: das tote Kind ist im selben Zimmer aufgebahrt gelegen – und er spielt und hört nicht auf, wie ich komme, sondern nickt mir zu, und wie ich hinter ihm stehe, sagt er leise: »Hören Sie, Herr Hausdorfer, das ist für mein armes Buberl. Grad ist mir die Melodie eingefallen.« Und das tote Kind liegt daneben im Sarg. – Ja. Mir ist es über den Rücken gelaufen.

HEINRICH
hat mit sichtlichem Interesse und endlich mit einiger Befriedigung zugehört.

Nun ja. Ich verstehe ganz gut, daß viele und gerade sehr vortreffliche Menschen solchen Dingen gegenüber eine Art Grauen empfinden mögen. –

HAUSDORFER.
Grauen – ja! Das wird schon das rechte Wort sein.
HEINRICH.

Aber sagen Sie selbst, Herr Hausdorfer: sind die Leute nicht eigentlich beneidenswert, denen es so schnell gelingt, sich hinauszuretten – in ihren Beruf, in ihre Kunst? die vielleicht sogar die wunderbare Fähigkeit haben, ihren Schmerz in ihrer Weise zu gestalten, statt ihn in nutzlosen Tränen hinströmen zu lassen?

HAUSDORFER.
Gestalten? Weckt das die Toten wieder auf?
HEINRICH.

So wenig als die Tränen. Ich sage auch nicht, daß die Freude an der Arbeit das Leid über ein entschwundenes Wesen aufwiegt. Aber ist es nicht endlich das Einzige, was uns übrig bleibt: arbeiten? Werden Sie nicht Ihren Garten pflegen wie zuvor? Und ich – ja, ich ersehne den Tag, da ich wieder fähig sein werde, etwas Ordentliches zu schaffen wie früher einmal. Ins Unabänderliche müssen wir uns fügen.

HAUSDORFER.
Ins Unabänderliche, das mag ja sein.
HEINRICH.
Es war unabänderlich.
HAUSDORFER.
Nein, nein.
HEINRICH
ein wenig befremdet.

Gewiß. Mit welchen Gedanken [698] quälen Sie sich denn? Haben Sie nicht selbst erst vor sechs Wochen den Doktor gesprochen? Er hat Ihnen damals die Wahrheit nicht verschwiegen. Es hat so kommen müssen.

HAUSDORFER.
Nicht so früh! Noch nicht jetzt.
HEINRICH.

Wie können Sie das behaupten, Herr Hausdorfer? Sie nehmen doch nicht an, daß irgend etwas versäumt worden ist?

HAUSDORFER.
O nein, o nein, entschuldige. Nichts ist Versäumt worden.
HEINRICH.
Nun also!
HAUSDORFER.
Aber hast du mir nicht selbst grad erzählt, daß sie noch zwei bis drei Jahre vor sich gehabt hätte?
HEINRICH.

Ach so. Das ist schon wahr. Aber der Doktor machte auch auf die Möglichkeit eines plötzlichen Todes aufmerksam, wie Ihnen sehr wohl bekannt ist.

HAUSDORFER.

Plötzlich? – Das war' ja schon richtig. Zögernd, aber dann entschlossen. Aber ob's auch natürlich zugegangen ist, das wär' noch eine andere Frage.

HEINRICH
betreten.

Wie?! Warum diese ... Nein. Ich verstehe nicht, was Sie auf diese Vermutung bringt, zu der nicht der geringste ... Der Arzt hätte es doch merken müssen.

HAUSDORFER.

Warum denn? Man trinkt das Morphiumflascherl aus, in der Früh' wird man tot im Bett gefunden; die Angehörigen sind ja vorbereitet.

HEINRICH.

Sie sagen das mit einer so eigentümlichen Bestimmtheit ... Hat meine Mutter vielleicht eine Äußerung getan? ...

HAUSDORFER.
Laß es dir genügen – ich irr' mich nicht.
HEINRICH.
Da Sie mir so viel gesagt haben, Herr Hausdorfer, so werden Sie es wohl begreiflich finden ...
HAUSDORFER.
Ich weiß es – frag' mich nicht mehr!
HEINRICH.
Ach so. Der Brief auf ihrem Schreibtisch ...
HAUSDORFER
nickt.
Ja.

Pause.
HEINRICH
betroffen.

So, so ... Aber warum bin ich eigentlich erstaunt? Wie oft in diesen furchtbaren Nächten hab' ich mich gefragt – ja, ich gesteh' es Ihnen, auf die Gefahr, daß ich Ihnen wieder grauenhaft erscheine – was uns armselige Geschöpfe denn zwingt, so viel Elend, so viel Martern auf uns zu nehmen, wenn es doch in unserer Macht liegt, jeden Augenblick selbst ein Ende zu machen.

HAUSDORFER.
Heinrich!
[699]
HEINRICH.
Wenn meine Mutter getan hat, was Sie zu wissen behaupten, so hat sie recht getan.
HAUSDORFER.
Heinrich!
HEINRICH.
Das ist meine ehrliche Meinung.
HAUSDORFER.

Aber du weißt ja nichts, Heinrich – du weißt ja gar nichts! Sie hätte ja weiter gelitten und weiter gelebt, solang ihr der Herrgott das Leben schenkt – für mich hätt' sie weitergelebt und für sich – für die paar Stunden hier in dem Garten, der voll Erinnerungen an unsere Jugend und an unser Glück ist – gestorben ist sie deinetwegen – deinetwegen, Heinrich, daß du's weißt – für dich!

HEINRICH
immer erregter.
Für mich ... für mich? ... Ich verstehe Sie absolut nicht! ... Für mich – was heißt das?
HAUSDORFER.

Verstehst du's wirklich nicht? Kannst du dir's denn nicht denken? Hast du nicht selbst eben davon gesprochen?

HEINRICH.
Wovon?
HAUSDORFER.

Hast du mir nicht selbst erzählt, was in dir vorgegangen ist? Und du bildest dir ein, deine Mutter hat nichts gemerkt?

HEINRICH.
Was hat meine Mutter gemerkt?
HAUSDORFER.

Daß dich ihre Krankheit in deinem Beruf gestört hat, daß du nichts mehr hast arbeiten können – daß du Angst bekommen hast, es ist für immer aus mit deinem Talent – daß du – du! der Gequälte, der Gemarterte, der Ruinierte warst – das hat sie gesehen und darum ...

HEINRICH.
Darum?! – Aber es ist ja nicht möglich!
HAUSDORFER.
Nicht möglich? Es war deine Mutter, so wird's schon möglich gewesen sein.
HEINRICH.

Nein, Herr Hausdorfer, Ihr Gram bringt Sie auf Vermutungen, die durch nichts gerechtfertigt sind. Ich weiß ja sehr wohl, daß meiner Mutter mein Seelenzustand kein Geheimnis bleiben konnte, so sehr ich mich bemüht habe – aber daß das der Grund gewesen sein sollte ... nein, das ist –

HAUSDORFER
ihn heftig unterbrechend.

Warum willst du mir denn nicht glauben? Meinst du, ich lüge dir was vor? Ja, warum denn? – Da! Nimmt einen Brief aus der Tasche. Lies! lies! da! Der Brief ist bei klarem Bewußtsein geschrieben – das ist der, der auf dem Schreibtisch gelegen ist! Am letzten Abend hat sie ihn geschrieben. Und eine halbe Stunde nachher ... Ja, lies – da drin steht's ... weil sie dich leiden gesehen hat – sie dich[700] – sie dich – darum ist sie fortgegangen vor der Zeit – darum ist sie gestorben!

HEINRICH
durchfliegt den Brief.

Mutter! Mutter!Sinkt wie vernichtet nieder. Für mich! Um meinetwillen! Da bin ich ja ihr ... O Gott! O Gott! – Mutter! Er vergräbt den Kopf auf dem Lehnstuhl.

HAUSDORFER
sieht ihn an und nickt.

Große Pause.
HEINRICH
erhebt sich.

Ich will nun gehen. Ich begreife, daß Ihnen mein Anblick schmerzlich sein muß. Hier ist der Brief. Er behält ihn noch in der Hand. Er ist bei klarem Bewußtsein geschrieben und enthält die Wahrheit. Ja, ich zweifle nicht mehr. Nach einigem Zögern. Erlauben Sie mir nur, Sie auf diese Stelle aufmerksam zu machen.

HAUSDORFER.
Welche?
HEINRICH.

Diese hier. In der meine Mutter Sie beschwört – Mit dem Finger darauf weisend. »Ich beschwöre dich ...« mir von dem Inhalt dieses Briefes nichts zu verraten und mich zeitlebens in dem Glauben zu lassen, daß sie eines natürlichen Todes gestorben sei. Dieser Brief war ausschließlich für Sie und ganz gewiß nicht für mich bestimmt.

HAUSDORFER.

Ich bestimm' ihn für dich! Ich bestimm' ihn für dich! Ich erlaube mir – ich erlaube mir. Du wirst es überleben.

HEINRICH.

Sie haben durch Ihre Verfügung den ganzen Sinn dieses freiwilligen, dieses Opfertodes zerstört. Ihr Wille war es nicht, daß ich mich als Mörder fühlen, als ein Verdammter auf der Welt herumgehen sollte! Und Sie werden vielleicht später selbst empfinden, daß Sie nicht nur an mir, sondern auch an ihr ein Unrecht begangen haben, das beinah das meine aufwiegt.

HAUSDORFER.

Ich nehm's auf mich, Heinrich. Ich hab' es dir sagen dürfen, dir schon. Du wirst dich nicht lang als Schuldiger fühlen – nein! Du wirst dich aufraffen! leben! gestalten!

HEINRICH.

Das ist mein Recht, vielleicht sogar meine Pflicht. Denn mir bleibt nicht anderes übrig als mich selbst zu töten – oder den Beweis zu versuchen, daß meine Mutter – nicht vergeblich gestorben ist.

HAUSDORFER.

Heinrich! Vor einem Monat hat deine Mutter noch gelebt, und du kannst so reden? Für dich hat sie sich umgebracht, und du gehst hin und schüttelst es von dir ab? Und in ein paar Tagen nimmst du's vielleicht hin, als wär' [701] es ihre Schuldigkeit gewesen? Hab' ich nicht recht: seid ihr, nicht einer wie der andere? Hochmütig seid ihr – das ist es: hochmütig, alle, die Großen wie die Kleinen! Was ist denn' deine ganze Schreiberei, und wenn du das größte Genie bist, was ist sie denn gegen so eine Stunde, so eine lebendige Stunde, in der deine Mutter hier auf dem Lehnstuhl gesessen ist und zu uns geredet hat, oder auch geschwiegen – aber da ist sie gewesen – da! und sie hat gelebt, gelebt!

HEINRICH.

Lebendige Stunden? Sie leben doch nicht länger als der letzte, der sich ihrer erinnert. Es ist nicht der schlechteste Beruf, solchen Stunden Dauer zu verleihen, über ihre Zeit hinaus. – Leben Sie wohl, Herr Hausdorfer. Ihr Schmerz gibt Ihnen heute noch das Recht, mich mißzuverstehen. Im Frühjahr, wenn Ihr Garten aufs neue blüht, sprechen wir uns wieder. Denn auch Sie leben weiter.Er geht über die Terrasse, aus der ein breiter Lichtstrahl von der Lampe in den Garten fällt.


Vorhang.

II. Die Frau mit dem Dolche

Schauspiel in einem Akt.

Pauline.


Leonhard.


Remigio.

Kleiner Saal einer Bildergalerie mit Werken der italienischen Renaissance. An der Rückwand ein Bild, das eine sehr schöne Frau in weißer Gewandung vorstellt, etwa in der Manier des Palma Vecchio. Die Frau hat einen Dolch in der erhobenen Rechten und sieht zu Boden, als läge dort einer, den sie ermordet hat. In der Mitte des kleinen Saals ein Diwan. Zuerst Stille; dann geht langsam ein Diener vorbei. Pauline tritt ein – elegante Pelzjacke, Katalog in der Hand – von rechts, geht quer durch den Saal, betrachtet ein Bild an der linken Wand. Einige Sekunden dar auf tritt Leonhard ein – eleganter junger Mann in schwarzem Überzieher –; er bleibt hinter Pauline stehen.

[702]
LEONHARD.
Guten Morgen, gnädige Frau.
PAULINE
wendet sich um und lächelt.
Guten Morgen. Ich bin eben erst gekommen. Saal neun – es stimmt doch?
LEONHARD.
Inwiefern?
PAULINE.
Nun, wir haben das letztemal bei Numero acht aufgehört.
LEONHARD.

Richtig. Ich wußte nicht, daß Sie das so genau nehmen. Ich wagte kaum zu hoffen, daß Sie heute kommen würden.

PAULINE.
Ich hab' es Ihnen doch versprochen.
LEONHARD.
Sie blieben gestern abend noch lange alle zusammen?
PAULINE.
Bis gegen Morgen. Ja. Sie sind früh verschwunden schade. Es war ein schönes Fest.
LEONHARD.
Man hat ihn sehr gefeiert.
PAULINE.
War Ihnen das etwa unangenehm?
LEONHARD.

Die ganze Welt mag ihm zu Füßen liegen, das kümmert mich wenig. Aber Sie, Pauline, Sie haben ihn gestern abend mehr geliebt als je – Sie waren stolz auf ihn.

PAULINE.

Hab' ich keine Ursache dazu? Bewundern Sie ihn nicht selbst? Waren Sie nicht in der tiefsten Seele ergriffen und haben Sie nicht wie wahnsinnig applaudiert, als der Vorhang zum letzten Male fiel?

LEONHARD.
Sie haben es bemerkt?
PAULINE.
Ich hab' ja oft genug zu Ihnen hinuntergeschaut.
LEONHARD
küßt ihr die Hand.
PAULINE
ihm die Hand leicht entziehend.
Wollten Sie mir nicht heut ein Bild zeigen, das mir so ähnlich sein soll?
LEONHARD.
Ganz recht. Da ist es. Dieses hier.
PAULINE
vor der Frau mit dem Dolch.
Dieses. – Ja, es hat entschieden einen Zug von mir.
LEONHARD.
Ah, mehr als das – es gleicht Ihnen geradezu. Abgesehen von dem Dolch.
PAULINE.

Warum »abgesehen«? Lächelnd. Man kann nicht wissen ... Im Katalog blätternd. Numero siebenhundertsechsundzwanzig – »Frau mit dem Dolch« – unbekannter Maler – starb um 1530 ....

LEONHARD.
Es sind Ihre Augen.
PAULINE.

Sind –? Es könnten meine Augen sein. Bleiben wir doch ein wenig in diesem Saal; ich fühle mich hier sehr wohl.

LEONHARD.
Pauline –
PAULINE.

Ich glaube – nicht um Ihretwillen. Da drüben bei den [703] alten Deutschen und Niederländern neulich war mir gar nicht so behaglich, aber hier hab' ich eine Art von Heimatgefühl. Wahrhaftig, diese Leute muß ich alle schon einmal gesehen haben. Sehen Sie doch, wie bekannt mich zum Beispiel Auf ein Bild an der rechten Wand weisend. dieser Herr dort anblickt. Es würde mich nicht wundern, wenn er mich grüßte.

LEONHARD.
Wahrscheinlich hat er zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts in Ihrem Hause verkehrt.
PAULINE.

Warum nicht? Meine Mutter stammt aus Florenz. Jedenfalls hat man sich damals schöner getragen als heut, – womit ich nichts gegen Ihren neuen schwarzen Überzieher sagen will, der Ihnen vortrefflich steht.

LEONHARD
verbeugt sich.
PAULINE.
Aber trotzdem, es ist nicht zu leugnen –
LEONHARD.
Was?
PAULINE
lächelnd.
Wenn Sie mir in solch einer Tracht begegnet wären, ja dann –
LEONHARD.
Ich bin untröstlich, daß ich damals nicht das Vergnügen hatte.
PAULINE.
Was wissen Sie denn? – wir erinnern uns vielleicht nicht.
LEONHARD.
Ich versichere Sie, gnädige Frau, das hätt' ich nicht vergessen.
PAULINE
nachdenklich werdend.
Vielleicht gehört nur ein fester Wille dazu.

Pause, in der sie ihre Blicke von einem Bild zum andern schweifen läßt.
LEONHARD.
Sie wissen wohl, daß man heute überall von Ihrem Gatten spricht.
PAULINE
wieder in der Gegenwart.
Das kann ich mir denken.
LEONHARD
mit Bedeutung.
Und von Ihnen.
PAULINE.
Nun ja. Sie will weitergeben.
LEONHARD.
Pauline!
PAULINE
sich wieder zu ihm wendend, etwas zerstreut.
Nun, was wollen Sie?
LEONHARD.
Wie konnten Sie's ertragen, Pauline?
PAULINE
sieht ihn sonderbar lächelnd an.
LEONHARD.
Jeder im Theater wußte, was für ein Schauspiel man aufführte. Es war einfach die Geschichte –
PAULINE
ihn rasch unterbrechend.
Von der Prinzessin Maria, denk' ich.
LEONHARD.
So hieß es.
[704]
PAULINE.
Ja. Wer gestattet Ihnen zu vermuten, daß es ein anderes war?
LEONHARD.
Ich gestatte mir zu wissen, was die ganze Stadt weiß. Nur weiß ich noch etwas mehr.
PAULINE.
Das wäre?
LEONHARD.
Daß es gestern abend einen Augenblick gegeben hat, in dem Sie ihn haßten.
PAULINE.
Wen?
LEONHARD.

Den, für den Sie und Ihr ganzes Schicksal nichts anderes zu bedeuten hat, als eine Gelegenheit, seinen Witz oder meinethalben sein Genie zu zeigen.

PAULINE.
Vielleicht hat mein ganzes Leben gar keinen andern Sinn gehabt.
LEONHARD.

Und auch das gehört zum Sinn Ihres Lebens, daß seine Geheimnisse vor den Pöbel hin geworfen werden? Nicht pathetisch. Prinzessin Maria! und jeder wußte, es ist die, die da oben in der Loge sitzt. Meister Gottfried! und jeder wußte, der hat das Stück geschrieben. Und alle Worte und Küsse unten auf der Bühne – und sein Verrat – und ihre Verzweiflung – und seine Rückkehr und ihr Verzeihen – und alle Erbärmlichkeit und alle Glut – alles wahr – und Herr Gottfried hatte daraus ein Stück gemacht – und Prinzessin Maria saß in der Loge und sah der Komödie zu. Ah Pauline, mir war gestern immer, als müßt' ich zu Ihnen – Sie holen, Sie befreien, Sie retten. Denn wie eine Sklavin kamen Sie mir vor, wehrlos und erniedrigt. Mitleid hatt' ich mit Ihnen und habe mich zugleich geschämt.

PAULINE.
Sie haben sich geschämt – Sie? warum?
LEONHARD.
Weil ich Sie liebe, Pauline.
PAULINE
sieht ihn ruhig an.
LEONHARD.

Zürnen Sie mir nicht, Pauline. Ich weiß ja, daß mein ganzes Recht, so mit Ihnen zu reden, nur darauf beruht, daß mich nichts auf der Welt kümmert als Sie, daß ich bereit wäre, für Sie zu sterben, und daß ich jung bin.

PAULINE.

Das ist vielleicht nicht so wenig. Aber lassen wir das. Und gehen wir endlich weiter. Kommen Sie. Abwehrend. Nichts mehr, nichts mehr, ich bitte Sie.

LEONHARD
dringender.

Warum, Pauline, sagen Sie selbst, warum sind Sie heute gekommen? Warum waren Sie vorgestern hier, warum vor acht Tagen? Warum, Pauline, hat gestern, als ich schweigend neben Ihnen saß, Ihr Knie das meine berührt und [705] gebebt? Warum werden Ihre Blicke feucht, während ich zu Ihnen rede, und warum verlangen Ihre Lippen nach den meinen, während wir hier ruhig nebeneinander stehen?

PAULINE.

Was sollen diese heftigen Fragen, Leonhard? Ich leugne nichts ab; denn das find' ich widerwärtig und feig. Aber die schlimmste von allen Lügen wäre doch, wenn ich Ihnen sagte, ich liebe Sie. Es hat keinen Augenblick gegeben, in dem ich es selbst glaubte; und doch gab es einen Augenblick, in dem ich bereit war, Ihre Geliebte zu werden. Sie haben ihn versäumt und er wird nicht wiederkommen. Nie werden Sie erraten, wann das war. Ja, es ist nun einmal so. Das ist keine Schande für mich und keine Ehre für Sie. Es ist millionenmal dagewesen. Nur sagen andere Frauen in meinem Fall: Ich hege für Sie die Liebe einer Schwester, einer Freundin – verlangen Sie keine andere. Ich, Leonhard, sage Ihnen, daß ich so ziemlich alles für Sie fühle, was Sie sich nur wünschen könnten, nur Freundschaft nicht, bei Gott, nein. Hält inne, wie verloren. Hab' ich Ihnen nicht das schon ein mal ...?

LEONHARD
aufflammend.
Nein! so haben Sie nie zu mir geredet!
PAULINE.
Sonderbar – mir war doch ganz ...
LEONHARD.
Warum schweigen Sie plötzlich?
PAULINE.

Was ist mir ...? wo bin ich ...? Verloren. Ich schweige. Allmählich erwachend. Nun ja, was ist noch weiter zu sagen? Leben Sie wohl.

LEONHARD
befremdet.
Was bedeutet das?
PAULINE.
Wir sehen uns heut zum letztenmal, das ist alles.
LEONHARD.
Zum letztenmal?
PAULINE.
Ja. Morgen früh reise ich mit meinem Gatten nach Italien.
LEONHARD.
Wann kommen Sie zurück?
PAULINE.
Ich weiß es nicht. Für Sie niemals.
LEONHARD.
Sie scherzen, Pauline! Davon war doch nie die Rede.
PAULINE.
Es konnte davon nicht die Rede sein. Ich weiß es selbst erst seit heute früh.
LEONHARD.
Pauline, was ist geschehen? Warum das alles?
PAULINE.

Warum? – Weil ich keine Lust habe, für – wie heißt das doch? für eine selige Stunde meine Ruhe, mein Lebensglück, vielleicht mein Leben selbst hinzugeben.

LEONHARD.
Und Ihr Gatte – was sagt er zu diesem plötzlichen Entschluß, nach Italien ...?
[706]
PAULINE.
Mein Gatte? Ich hab' ihn selbst gebeten, mit mir fortzufahren.
LEONHARD.
Unter welchem Vorwand?
PAULINE.
Unter keinem Vorwand. Ich hab' ihm die Wahrheit gesagt wie immer.
LEONHARD.
Wie immer?
PAULINE.
Ich hab' ihm am ersten Tag geschworen, ihm jede Regung meiner Seele einzugestehen, wie er mir.
LEONHARD.
Und heute früh –?
PAULINE.
Hab' ich ihm gestanden, daß ich in Gefahr bin.
LEONHARD.
Und er?
PAULINE.
Hab' ich's nicht gesagt? Wir reisen fort.
LEONHARD.
Pauline! Und Sie glauben, er wird Ihnen jemals diese Regung verzeihen?
PAULINE.
Warum nicht? Ich hab' ihm mehr vergeben.
LEONHARD.

Er ist ein Mann, und wir alle sind eitel. Er ist ein Dichter und tausendmal eitler als wir alle. Er wird Sie Ihr Leben lang büßen lassen.

PAULINE.
Das muß ich tragen.
LEONHARD.
Er wird Sie so bitter peinigen, als wenn es geschehen wäre.
PAULINE.
War' es geschehen, so würde er mich umbringen.
LEONHARD.
Was fallt Ihnen ein. Er macht ein neues Stück daraus, und am Ende ist er Ihnen noch dankbar.
PAULINE.
Möglich. Er wäre der Mann, beides zu vereinigen.
LEONHARD.
Pauline, wann reisen Sie?
PAULINE.
Ich sagte es ja: morgen.
LEONHARD.
Morgen erst? So gehört das Heute noch uns.
PAULINE.
Sie sind verrückt.
LEONHARD.
Ich erwarte Sie heut abend, Pauline.
PAULINE.
Aber Sie sind nicht bei Sinnen.
LEONHARD.
Nie war ich so vernünftig als in diesem Augenblick.
PAULINE.
Leonhard! – Und gar jetzt, da er so viel weiß.
LEONHARD.
Ich sterbe tausendmal für Sie, Pauline. Faßt ihre Hand.
PAULINE.
Nein, nein! Leben Sie wohl. Es ist lauter Unsinn. Ich liebe Sie ja gar nicht. Adieu!
LEONHARD.
Pauline!

Die Mittagsglocken beginnen zu läuten.
PAULINE.

Lassen Sie mich gehen; ich muß nach Hause. Hören Sie doch, es ist schon zwölf Uhr. Er weiß ja auch, daß ich hier bin, um Ihnen Adieu zu sagen. Und wenn ich es wagte, heute [707] abend fortzugehen ...

LEONHARD.
Nun?
PAULINE.
Wir beide wären verloren.
LEONHARD.
Ich werde warten, Pauline, ich ... Sie stehen vor dem Bild der Frau mit dem Dolch.

Die Glocken tönen fort.
PAULINE
näher blickend.
Wer liegt hier im Schatten?
LEONHARD.
Wo?
PAULINE.
Sehen Sie nicht?
LEONHARD.
Ich sehe nichts.
PAULINE.
Sie sind es.
LEONHARD.
Ich, Pauline? Was für ein sonderbarer Scherz!
PAULINE
sieht sich um.
Und alle diese ... nein ... Wer hat es gemalt?
LEONHARD.
Wir lasen ja eben: unbekannter Maler, starb um 1530.
PAULINE.
Unbekannt ...
LEONHARD.
Pauline, was haben Sie denn?
PAULINE.
Ich bin es – kennen Sie mich nicht?
LEONHARD.
Ich sagt' es ja, die Ähnlichkeit ist außerordentlich.
PAULINE.

Ich bin es, ich bin es selbst. Erkennen Sie mich nicht? Und hier im Schatten – der tote Jüngling – Sie –

LEONHARD.
Ich, Pauline? Was ist Ihnen?
PAULINE.

Erinnern Sie sich nicht, Leonhard? Sie hält ihn bei der Hand; beide setzen sich langsam auf den Divan, den Blick dem Bilde zugewendet.

LEONHARD.
Erinnern ...?
PAULINE.
Lionardo, erinnerst du dich nicht?

Plötzliche Verdunkelung der Bühne. Sehr rasche Verwandlung. Bis es wieder licht wird, tönen die Glocken weiter, dann verstummen sie plötzlich.
Das Atelier des Meisters Remigio. Morgengrauen. Links eine kleine Türe, rechts eine schwer geraffte dunkelrote Portiere. Großes Bogenfenster im Hintergrund. Im Saale einige Kopien nach antiken Plastiken. Bilder an der Wand, der Zeit entsprechend. Auf einer Staffelei rechts ziemlich vorn ein verhängtes Bild. – Nah der Portiere auf dem Boden liegt Lionardo (Leonhard) im Dunkel, nicht schlafend. Vollkommene Stille. Nach einigen Sekunden tritt Paola (Pauline) auf, in weißem Nachtgewand, ganz dem Bilde gleichend, das man in der vorigen Szene sah. Sie geht an Lionardo vorbei, ohne ihn zu sehen, langsam bis zur Staffelei, entfernt leicht den Schleier von dem Bild. Es ist das gleiche, wie in der vorigen Szene, nur noch nicht vollendet, insbesondere fehlt der ausgestreckte Arm und die [708] Hand, die den Dolch hält. Natürlich wird das Bild erst deutlicher sichtbar im Verlauf der
Szene, wenn es lichter wird.
PAOLA
betrachtet das Bild lang.
LIONARDO
ist ihr ziemlich nahe, auf dem Boden zu ihr, küßt den Saum ihres Kleides.
PAOLA
zuckt leicht.
Was fällt Euch ein? Verließt Ihr nicht das Haus?
LIONARDO.
Paola, nein! ich blieb vor Eurer Tür.
PAOLA.
Jetzt aber eilt.
LIONARDO.
Der Duft von Euren Küssen
Ist noch in meinem Haar. Ich gönn' ihn nicht
Dem Wind der Nacht, der ihn ins Weite trägt.
PAOLA.
Wie wenig klug. Der Morgen graut heran,
Ein Diener wacht vielleicht und sieht Euch gehn.
LIONARDO.
So bleib' ich denn, des Tages hier zu warten,

Steht auf.

Und meiner Arbeit glüht sein erstes Licht.
PAOLA.
Wozu die Müh'? Daß Ihr's nicht lassen könnt!
Wärt Ihr des jüngeren Bassano Schüler,
Auch des Andrea Galbi oder Franco,
Dann könnt ich Euern Eifer wohl verstehn.
Doch hier, von Unerreichbarkeit geblendet,
Wie kommt's, daß Euch der Pinsel nicht entgleitet,
Daß Ihr nicht täglich das Entworfne löscht
Und hoffnungslos, ohnmächtig und zerbrochen
Auf den geweihten Boden niedersinkt,
Drauf einer wandelt, dem kein andrer gleicht?
LIONARDO.
Ich weiß, daß ich ein Stümper bin, Paola,
Nicht wert, zu atmen, wo der Meister schafft.
Und mancher Morgen schlich so zag hervor
Aus dem Gewölk der Nacht, daß mich's versuchte,
Mein eignes Dasein lieber abzutun.
Heut aber ist ein andrer Tag, Paola,
Und nicht für allen Ruhm des Unverglichnen
[709] Geh' ich die trunkene Erinnrung preis,
Daß seine Gattin mein war heute nacht.
Fragt doch Remigio, wenn er wählen dürfte,
Was er sich wählte.
PAOLA
ernst.
Niemand hat die Wahl,
Nicht er, noch ich, noch Ihr – es fällt uns zu.
LIONARDO.
Und jedem ward nach Willen und Gebühr.
PAOLA
vor sich hin.
Ihr denkt? ...
LIONARDO.
Denn er erkennt in Euch
Kaum, was Ihr seid, ich aber mehr als Euch:
Erfüllung jeder Schönheit, die ich ahnte,
Durchflimmert Euern Leib, aus Euerm Aug'
Erglänzt mir alles Lebens Sinn zurück.
Ihm ist Euer tiefstes Wesen nichts als Anlaß
Und Stachel seiner Kunst, verrätrisch lockt
Aufs Antlitz Euch sein Kuß der Seele Glut
Zur Fördrung eines Bildes, das Euch gleicht.
Und glaubt mir, wenn dies letzte ihm gelang,
Das unvollendet seiner Rückkunft harrt,
Schwand all sein Lieben hin.
PAOLA.
Das weiß ich gut;
Denn ich bin dann nichts mehr, bin ausgeschöpft,
Und mein Lebend'ges bebt in jenem Bild.

Vor dem Bild.

Ein Rätsel, blick' ich selber mir ins Antlitz,
Nie schaut ich also, doch so könnt' ich schaun. –
Es ist, als war' mir etwas aufbewahrt,
Das besser oder schlimmer ist als alles,
Was jemals ich gedacht und je getan,
Und eine lebensdurst'ge Möglichkeit
Verbirgt sich unter halbgeschloßnen Lidern.
Wär' er doch wieder da – wär' er doch da!
Was sehnt sich so? – Dies Bild in mir?
Ich in dem Bild? – Du warst zu lange fort, –
Zu lang, Remigio! Ach ein Jahr währt ewig!
LIONARDO.
Ihr träumt, Paola! Seit er Euch verließ,
Verstrich kein Monat.
PAOLA.
Sehnsucht mißt die Zeit
[710] Nicht nach der Tage Zahl. Doch heute kommt er.
Heut endlich.
LIONARDO.
Wieder irrt Ihr. Wenn er gestern
Florenz verließ, wie seine Absicht war,
So kommt er morgen um die Mittagszeit.
PAOLA.
Nein, heut!
LIONARDO.
Unmöglich ist's, Paola. Nicht

Mit einigem Hohn.

Die Luft durchflatternd auf der Sehnsucht Schwingen,
Nein, vorgemeßnen Weg auf ird'schem Roß,
Dem ärmlichen Gesetz des Schlafs, der Nahrung
Wie wir gemeinern Leute Untertan,
Reist er nach Haus.
PAOLA.
Erst morgen! Ach, warum

Beinahe schmerzlich.

Darf ich die Stunden nicht, die unnütz leeren,
In meiner Hand wie taube Nüsse knacken?;
Ihr sagt: ein Tag – er brach noch kaum herein,
Doch gab' ich willig alles Leben hin,
Das mir noch übrig, käm' er jetzt und gleich!
LIONARDO.
Paola!
PAOLA
gleichgültig.
Was?
LIONARDO
heftig.
Paola, sieh mich an!

Er hat ihre Hand erfaßt, die er nun hält.
PAOLA
die Hand in der seinen, aber ohne sich zu ihm zu wenden.
Wozu? Ich kenn' dich doch! Nun ja, du bist
Der junge Lionardo. – Ja – ich weiß,
Und bist ein Farbenreiber. Nein? Was denn?;
Ein Page etwa an des Fürsten Hof?
Wie? oder Prinz von Arragonien?
Verzeih – kein Page, Prinz und Farbenreiber,
Ein Maler – ja – mit Namen Lionardo.
Und bist sehr hübsch, ich weiß. Weshalb verlangst du,
Daß ich dich ansehn soll? Geschloßnen Augs
Sag' ich dir mehr, und alles, was du willst.
Dein Haar ist braun und kraust sich an der Stirn,
Blau ist dein Aug', die Brauen dunkeln tief,
[711] Dein Hals ist weiß, wie eines Mädchens Hals,
Und gertengleich geschmeidig deine Glieder.
Dein Arm ist stark ... Nun, sagt' ich nicht genug?
Muß ich dich sehn? Gib doch die Hand mir frei!

Entzieht ihm die Hand.
LIONARDO.
Paola, spielst du so mit mir? Paola!
PAOLA
ohne Blick für ihn.
Ob in Florenz ihm neuer Auftrag ward?
Ist's so, dann geh' ich nächstesmal mit ihm.
Denkt, Lianardo, seit ich Mädchen war,
Hab' ich Florenz nicht mehr, des Cosmo Hoheit,
Hab' meine Brüder seither nicht gesehen.
Doch ist's nicht Heimweh, das mich plagt. Die Damen
Am Hof der Medici sind sehr galant.
Und ganz besonders, hab' ich sagen hören,
Wenn solch ein Künstler aus der Fremde kommt,
So harren sie vor seinem Schlafgemach,
Bis sie die Reihe trifft.
LIONARDO.
Was geht's dich an,
Mit wem Remigio schläft?
PAOLA
mit einem raschen Blick.
Wahr – Lionardo!
Zusammen wach sein, das allein bedeutet.
Und dennoch, wie Erfahrung lehrt, begibt sich's
Zuweilen, daß ein nächtlich Abenteuer,
So nichtig und so wesenlos es schien,
Zudringlich nachläuft in den hellen Tag
Und sich wie was Lebendiges gebärdet.
LIONARDO.
Paola, heute nacht warst du –
PAOLA.
Die Deine!?
Versuch' es auszusprechen, da es tagt!
Hab' ich mit süßem Wort dir schöngetan?
Hab' ich geflüstert wie die andern Fraun:
»Ich liebe dich und dein hab' ich gewartet«?
Vernahmst du andern Laut von diesen Lippen,
Als den beklommnen Aufschrei wilder Lust?
Es ist nicht mehr und also war es nie!
LIONARDO.
Paola, nein! es war und darum ist es!
Und wird sein, und mein Recht auf dich besteht!
[712]
PAOLA.
Ein Recht? auf mich ein Recht! Begreifst du nicht,
Daß es erlosch mit dieser Nacht Gestirnen,
Und daß du jedes Rechtes ledig bist
Trotz aller Jugend, Schönheit, Kraft und Mut,
Als wärst du häßlich wie ein Ungetüm,
Wie Knaben unreif oder lahm wie Greise?
LIONARDO.
Paola, sag', daß diese schlimmen Worte
Nur Proben meiner Zärtlichkeit bedeuten!
Laß es genug sein!
PAOLA.
Still! Der Morgen kam.
LIONARDO.
Doch wieder kommt die Nacht!
PAOLA.
Die unsre nie!
Bescheidet Euch! Zurück an Euern Platz.
LIONARDO
auf den Knien.
Dies ist der meine – oder's ist das Grab!
PAOLA.
Weh euch, wenn Ihr es wagt, mich zu berühren!
LIONARDO.
Was droht mir dieser unheilvolle Blick,
Und was versprach und hielt er diese Nacht!
PAOLA.
Genug, genug! Bei Gott! steht Ihr nicht auf,
Verfahr' ich so mit Euch, wie mein Remigio
Mit dieser roten Peregrina tat,
Die auch gelaufen kam und jammerte
Und sich im Staube wälzte, so wie Ihr:
»Ich lieb' Euch so« und »Ach, wie lieb' ich Euch!«
Und: »Ihr habt mich geherzt« und: »Denkt Ihr noch«
Und »Heute nacht« und »Ach! –«
LIONARDO.
Und Euer Mann?
PAOLA.
Hinausgejagt hat er die freche Dirne!

Große Pause.
LIONARDO
erhebt, sich langsam, dann in ganz anderem Tone.
Nein, nicht wie Peregrina bin ich – nein.
Denn wäre Peregrina, wie ich bin,
Sie hätte so getan, wie ich nun werde.
Lebt wohl!
[713]
PAOLA.
Du willst dich töten? Ich bin's wert.
LIONARDO.
Ihr seid's, Paola, darum muß ich's tun –
Vor Eurer Tür, mit Eurem Dolch, Paola.

Er nimmt den Dolch von einem kleinen Tischchen.

So wird ein jeder glauben, auch Remigio,
Daß ich's aus Gram verschmähter Liebe tat.
Ich will es tun, Paola, ja – für mich
Vor allem, denn es brennt die Schmach zu heiß,
Doch auch für Euch ein wenig, dünkt mich sehr.
PAOLA.
Für mich?
LIONARDO.
Von schlimmer Angst Euch zu befrein,
Daß ich mit einem Blicke mich verriete,
Und eure Schuld sich also offenbart.
PAOLA.
Was sagst du? Angst? Was, denkst du, daß ich fürchte?
LIONARDO.
Was manche Frau von dem erlitten hat,
Den sie betrog. Paola – atmet frei; –
Ich treffe Eurer Sorge gut ins Herz!

Wendet sich zum Gehen.
PAOLA.
Bleibt Lionardo! Sprecht's noch einmal aus,
Daß meine Feigheit in den Tod Euch sendet!
LIONARDO.
Ihr seid nicht feig, Paola; Ihr wollt leben.
Ist solches nicht des Schuldbeladnen Mut?
PAOLA.
Des Schuld'gen Mut ist, seine Schuld gestehn!
Ihr bleibt!
LIONARDO.
Paola! Euerm Gatten –
PAOLA.
Still!

Hufschläge im Hof. Beide lauschen.
PAOLA.
Hört Ihr?
LIONARDO.
Er ist's!
PAOLA.
So war sein Sehnen doch
Von tiefrer Macht als irdische Gesetze.
Er ist zurück!

Am Fenster.

Er steigt vom Pferd, er gibt
[714] Dem Knecht die Zügel. Komm! ich bin bereit!
LIONARDO.
Was wollt ihr tun?
PAOLA.
Ich sagt' es!
LIONARDO.
Nein, Paola!
Ich bitt' Euch sehr, steht ab von diesem Wahn!
Wagt's nicht! Zu sehr vertraut Ihr seiner Größe.
PAOLA.
Sein lächelnd Auge sucht mich.

Hinabwinkend.

Sei gegrüßt!
Ich fürchte sehr, du lächelst heut nicht mehr.
LIONARDO.
Doch treibt Gewissen Euch, die Schuld zu beichten,
So klagt mich an zuerst, und mich allein!
Sagt, daß ich einen Liebestrank Euch reichte,
Daß ich an Euerm Leben Euch bedroht –
Doch Euern Anteil an der Schuld verschweigt!
Mehr als die Gattin liebt er seinen Stolz,
Und was er hinwarf wie in keckem Scherz
Beim Abschiedsmahl an unsres Fürsten Tafel –
Ich hört' es wohl, ich saß Euch gegenüber,
Und da er sprach, fiel Euer Blick auf mich –
PAOLA.
Denkt Ihr noch dran?
LIONARDO.
Ich schwör' Euch, daß er's tut!
Und daß er, wie er's lachend schwur beim Fest,
Gleich einem durst'gen Tier in Eure Kehle
Die Zähne gräbt! – Ich fleh' Euch an, Paola,
– Sein Tritt ist auf der Stiege – spracht Ihr's aus,
Gibt's keinen Widerruf, nur sichern Tod!
Verzeiht mein vorschnell Wort, ich fleh' Euch an!
Nie wieder wird Euch mein verhaßter Anblick, –
Noch heut vor Abend flieh' ich diese – Stadt
Ich war ein Schatten an der Wand und schwinde.
Nicht mir gehört Ihr, doch auch diesem nicht,
Allein das Leben hat ein Recht auf Euch!
Gebt's nicht dahin. Mehr als gemeines Unglück,
Es wäre Sünde wider Licht und Frühling!
O lebt! Ihr seid zu herrlich, um zu sterben,
Und ihr verlaßt zu vieles, wenn Ihr geht!
Im Vorgemach die Türe gleitet leis –
[715] Ich glaub' an Euern Mut, Paola, ja!
Seid gnädig und vergebt mir! Ich gelobe,
Daß ich in einer Stunde nicht mehr bin.
– Die Schnalle hält er in der Hand – Paola!

Remigio tritt ein, heiter auf Paola zu.
PAOLA
abwehrend.
Gib acht, daß du nicht vorschnell mich umarmst.
Der hier war mein Geliebter heute nacht.

Große Pause.
REMIGIO.
Geh, Lionardo.
LIONARDO.
Tötet mich, Remigio!
Ich nehme keine Gnade von Euch an!
REMIGIO.
Nicht Gnade ist's, die dir die Türe weist,
So wenig als dir Zorn den Weg versperrte;
Nichts regt sich mir, das Lionardo gilt.
Ich brauche deiner nicht, drum sollst du gehn.
LIONARDO.
So bitt' ich Euch, Remigio: tötet mich!
REMIGIO.
Wer haßt, mag töten, – töten mag, wer liebt!
Gleichgültigkeit greift nach der Waffe nicht.
Das Glas zersplittr' ich nicht, das ärmlich schlechte,
Daraus ein Kind verbotenen Trank genoß.
Daß dir die Gabe des Bewußtseins ward,
Macht mir aus dir nichts andres, als du bist,
Erbärmliches, zufäll'ges Instrument.
LIONARDO.
Ich bat um Tod, doch jetzt verlang' ich ihn!
REMIGIO.
Mir gilt dein Wunsch so wenig als dein Flehn.
LIONARDO.
So zwing' ich Euch dazu!
REMIGIO.
Mich zwang noch keiner!
LIONARDO.
Ich stell' mich auf den Markt und schrei' es aus,
Daß ich heut nacht Paolas Gunst genoß!
[716]
REMIGIO.
So wird man's eine Stunde früher wissen.
LIONARDO.
Im Angesicht des Hofes höhn' ich Euch,
Der aus Bequemlichkeit den Großen spielt!
'nen Schurken nenn' ich Euch und lüge laut,
Daß Euer Weib ins Schlafgemach mich lockte!
REMIGIO.
Begrabne schmähn wird man Euch übelnehmen.
LIONARDO.
Noch einmal: – tötet mich! Es könnte sein,
Daß Ihr die rechte Zeit dazu versäumt,
Denn neue Lust zu leben regt sich mir,
Und mich bedünkt, ich hab' noch was zu tun,
Da ich Euch hasse, wie noch nie ein Mann
Auf Erden einen andern Mann gehaßt!
Wohl tat ich's immer, doch ich weiß es erst,
Seit Eures Hochmuts gift'ger Regenschauer
Auf das gebeugte Haupt herniederschlägt.
Ich hass' Euch so, daß ich Euch töten will,
Wo immer in der Welt Ihr mir begegnet,
Und hass' Euch tausendfach, weil aller Tod
Von meiner Hand Euch doch nicht töten kann,
Der Ihr der Welt fortlebt in Euerm Werk,
In ihrer Sehnsucht Euerm Weib, und mir
In meinem Haß, der stärker als der Tod!
Und dennoch tot' ich Euch; denn daß es nutzlos,
Jagt meinen Willen wie mit Peitschen auf!
Laßt mich nicht fort, Remigio! So gewiß
Als hätten Tausend Euren Tod gelobt,
Seid Ihr im gleichen Augenblick verloren,
Da diese Türe hinter mir sich schloß!
REMIGIO
geht zur Tür und öffnet sie.
Weit offen steht sie – gehe deinen Weg.

Er wendet sich wieder; Lionardo geht zur Tür.
PAOLA.
Laß ihn nicht fort! Er hält den Schwur, Remigio!
LIONARDO
sich wendend.
So wahr ich lebe!
PAOLA.
Ja, so wahr du lebst!

Sie eilt auf ihn zu und sticht ihm den Dolch in den Hals.
[717]
LIONARDO
sinkt sterbend zu Boden.

In diesem Augenblick sieht Paola genau so aus, wie auf dem Bild in der ersten Szene, den Dolch in der Hand und den Blick auf den toten Lionardo gerichtet.
REMIGIO.
Paola!

Sehr große Pause, Paola bleibt regungslos bis zum Schluß der Szene stehen.
REMIGIO
betrachtet sie lang; allmählich verändern sich seine Züge, werden gefaßt, beinahe heiter.
War dies der Sinn? Ist mein Gebet erhört,
Daß für mein Bildnis mir Erleuchtung werde?
Ja, so rollend' ich's! Der du dies gefügt,
O Himmel, eine Stunde lang gewähre
Der Seele Frieden, Ruhe dieser Hand.

Er geht zu der Türe, sperrt sie ab; dann geht er zur Staffelei.
PAOLA
steht regungslos wie früher.

Rasche Verwandlung. – Plötzlich tönen die Glocken wieder, wie am Schlusse der ersten Szene. – Der kleine Saal wie im Anfang.
PAULINE.
Erinnerst du dich –?
LEONHARD.
Wo sind Sie? – Pauline?
PAULINE
noch wie im Traum.
Kommt alles wieder, was wir einst erlebt ... Lionardo – Muß es wiederkommen?
LEONHARD.
Pauline ... was ist Ihnen –?
PAULINE
wie erwachend.
Leonhard –? Sieht um sich.
LEONHARD.
Sie waren einen Augenblick lang wie verloren.
PAULINE.
Einen Augenblick –?
LEONHARD.
Wo waren Sie?
PAULINE.

Wo ich war? Ihn lange betrachtend. Da Sie's nicht wissen, können Sie's auch nicht verstehen. – Steht auf. Leben Sie wohl! ... Entfernt sich von ihm.

LEONHARD.
Pauline – auf immer –?
PAULINE.
Auf – immer –!?
LEONHARD.
Und heut abend ...
PAULINE.

Heut abend.'.–.? Heut abend –? In ihren Zügen drückt sich allmählich die Überzeugung aus, daß ein Schicksal über ihr ist, dem sie nicht entrinnen kann. Sie reicht Leonhard die Hand, sieht ihm ernst und fest ins Auge und sagt, nicht mit dem Ausdruck der Liebe, sondern der Entschlossenheit. Ich komme. Dann gebt sie rasch ab.


Vorhang.

[718]

III. Die letzten Masken

Schauspiel in einem Akt.

Karl Rademacher, Journalist.


Florian Jackwerth, Schauspieler.


Alexander Weihgast.


Dr. Halmschlöger,

Dr. Tann, Sekundaärzte im Wiener Allgemeinen Krankenhaus.


Juliane Paschanda, Wärterin.


Ein kleinerer Raum – sogenanntes »Extrakammerl« – im Allgemeinen Krankenhaus, in Verbindung mit einem großen Krankensaal; statt der Türe ein beweglicher Leinenvorhang. Links ein Bett. In der Mitte ein länglicher Tisch, darauf Papiere, Fläschchen usw. Zwei Sessel. Ein Lehnstuhl neben dem Bett. Auf dem Tisch eine brennende Kerze.
Karl Rademacher, über 50 Jahre, sehr herabgekommen, ganz grau, auf dem Lehnstuhl, mit geschlossenen Augen. Florian Jackwerth, etwa 28
Jahre, sehr leuchtende, wie fieberische Augen, glatt rasiert, mager, in einem Leinenschlafrock, den er gelegentlich in bedeutende Falten legt. Die Wärterin, Juliane Paschanda, dick, gutmütig, noch nicht alt, am Tisch mit einer Schreibarbeit beschäftigt.

FLORIAN
schlägt den Vorhang zurück, kommt eben aus dem Saal, der von einer Hängelampe schwach beleuchtet ist, tritt zur Wärterin.
Immer fleißig, das Fräulein Paschanda.
WÄRTERIN.

Ja, sind Sie schon wieder aufgestanden? Was wird denn der Herr Sekundarius sagen! Gehn S' doch schlafen.

FLORIAN.

Gewiß, ich denke sogar einen langen Schlaf zu tun. Kann ich Ihnen nicht behilflich sein, schönes Weib? Ich mein' nicht beim Schlafen.

WÄRTERIN
kümmert sich nicht.
FLORIAN
schleicht zu Rademacher hin.
Schaun Sie, Fräulein Paschanda – so schaun S' doch her!
WÄRTERIN.
Was wollen Sie denn?
FLORIAN
wieder zu ihr.
Meiner Seel', ich hab' gemeint, er ist schon tot.
WÄRTERIN.
Das dauert schon noch eine Weile.
FLORIAN.
Glauben Sie, glauben Sie? – Also gute Nacht, Fräulein Juliane Paschanda.
[719]
WÄRTERIN.
Ich bin kein Fräulein, ich bin Frau.
FLORIAN.
Ah so! Habe noch nicht die Ehre gehabt, den Herrn Gemahl kennen zu lernen.
WÄRTERIN.
Ich wünsch' es Ihnen auch nicht. Er ist Diener in der Leichenkammer.
FLORIAN.

Danke bestens, danke bestens. Habe keinerlei Verwendung. Sie, Frau Paschanda, Vertraulich. haben Sie das Fräulein gesehn, das mir heute nachmittag die Ehre ihres Besuchs erwiesen hat?

WÄRTERIN.
Ja; die mit dem roten Hut.
FLORIAN
ärgerlich.

Roter Hut – roter Hut ... Es war eine Kollegin von mir – jawohl! Wir waren zusammen engagiert im vorigen Jahr – in Olmütz. Erste Liebhaberin jenes Fräulein – jugendlicher Held der ergebenst Unterzeichnete. Schaun Sie mich an, bitte – ich brauche nicht mehr zu sagen. – Jawohl, ich habe ihr eine Korrespondenzkarte geschrieben ... einfach eine Karte – und sie ist gleich gekommen. Es gibt noch Treue beim Theater. Und sie hat mir versprochen, sie wird sich umschaun, mit einem Agenten wird sie sprechen – damit ich ein Sommerengagement krieg', wenn ich aus diesem Lokal entlassen werde. Deswegen kann ein Fräulein ein sehr gutes Herz haben, wenn sie auch einen roten Hut trägt, Frau von Paschanda. Immer gereizter, später hustend. Sie kommt vielleicht noch einmal her – ich werd' ihr halt schreiben, sie soll sich nächstens einen blauen Hut aufsetzen – weil die Frau Paschanda die rote Farb' nicht vertragen kann.

WÄRTERIN.
Pst! pst! die Leute wollen schlafen.Lauscht.
FLORIAN.
Was ist denn?
WÄRTERIN.
Ich hab' geglaubt, der Herr Sekundarius –

Die Krankenhausuhr schlägt.
FLORIAN.
Wie spät ist's denn?
WÄRTERIN.
Neun.
FLORIAN.
Wer hat denn heut die Nachtvisit'?
WÄRTERIN.
Der Doktor Halmschlöger.
FLORIAN.

Ah, der Doktor Halmschlöger. Ein feiner Herr, nur etwas eingebildet. Sieht, daß Rademacher wach wurde. Habe die Ehre, Herr von Rademacher.

RADEMACHER
nickt.
FLORIAN
kopiert den Doktor Halmschlöger.

Nun, mein lieber Rademacher, wie befinden Sie sich heute? Tut, als ob er den Überzieher ablegte und ihn der Wärterin reichte. Ach, Hebe Frau Paschanda, [720] wollen Sie nicht die Güte haben ... Danke sehr.

WÄRTERIN
wider Willen lachend.
Wie Sie die Leut' nachmachen können.
FLORIAN
andrer Ton; als ginge er von einem Bett zum andern.
Nichts Neues? Nichts Neues? Nichts Neues? Gut – gut – gut ...
WÄRTERIN.
Das ist ja der Herr Primarius. Wenn der das wüßt'!
FLORIAN.

Na warten Sie nur, das ist noch gar nichts. Er läßt sich plötzlich auf einen Sessel fallen, sein Gesicht scheint schmerzverzerrt, und er verdreht die Augen.

WÄRTERIN.
Ja, um Gotteswillen, das ist ja –
FLORIAN
einen Augenblick die Kopie unterbrechend.
Na, wer?
WÄRTERIN.

Der vom Bett siebzehn, der Engstl – der Dachdecker, der vorgestern gestorben ist. Na, werden Sie nicht aufhören! Sie versündigen sich ja.

FLORIAN.

Ja, meine liebe Frau Paschanda, meinen Sie, unsereiner ist umsonst im Spital herin? Da kann man was lernen.

WÄRTERIN.
Der Herr Sekundarius kommt.

Ab in den Saal. – Wie sie den Vorhang zurückschlägt, sieht man Halmschlöger und Tann in der Tiefe der Bühne.
FLORIAN.
Jawohl, Herr Rademacher, ich mache hier nämlich meine Studien.
RADEMACHER.
So?
FLORIAN.

Ja, für unsereiner rentiert sich das, im Spital zu liegen. Sie meinen, ich kann das nicht brauchen, weil ich Komiker bin? Gefehlt! Das ist nämlich eine Entdeckung, die ich gemacht habe, Herr Rademacher. Wichtig. Aus dem traurigen, ja selbst dem schmerzstarrenden Antlitz jedes Individuums läßt sich durch geniale schauspielerische Intuition die lustige Visage berechnen. Wenn ich einmal einen sterben gesehn hab', weiß ich akkurat, wie er ausschaut, wenn man ihm einen guten Witz erzählt hat. – Aber was haben Sie denn, Herr Rademacher? Kourage! Nicht den Humor verlieren. Schaun Sie mich an – ha! Vor acht Tagen war ich aufgegeben – nicht! nur von den Herren Doktoren, das war' nicht so gefährlich gewesen, aber von mir selber! Und jetzt bin ich kreuzfidel. Und in acht Tagen – gehorsamster Diener! So lebe wohl, du stilles Haus! Womit ich mir erlaube, Euer Hochwohlgeboren zu meinem ersten Auftreten ergebenst einzuladen. Hustet.

RADEMACHER.
Wird wohl kaum möglich sein.
FLORIAN.
Ist es nicht sonderbar? Wenn wir beide gesund geblieben wären, so wären wie vielleicht Todfeinde.
[721]
RADEMACHER.
Wieso denn?
FLORIAN.

Na, ich hätt' Komödie gespielt, und Sie hätten eine Rezension geschrieben und mich verrissen, und Leut', die mich verreißen, hab' ich nie leiden können. Und so sind wir die besten Freunde geworden. – Ja, sagen Sie, Herr Rademacher, hab' ich auch so dreing'schaut vor acht Tagen wie Sie?

RADEMACHER.
Es ist vielleicht doch ein Unterschied.
FLORIAN.
Lächerlich! Man muß nur einen festen Willen haben. Wissen Sie, wie ich gesund geworden bin?
RADEMACHER
sieht ihn an.

FLORIAN. Sie brauchen mich nicht so anzuschaun – es fehlt nicht mehr viel. Ich hab' die traurigen Gedanken einfach nicht aufkommen lassen!

RADEMACHER.
Wie haben Sie denn das gemacht?
FLORIAN.

Ich hab' einfach allen Leuten, auf die ich einen Zorn gehabt hab', innerlich die fürchterlichsten Grobheiten gesagt. Oh, das erleichtert, das erleichtert, sag' ich Ihnen! Ich hab' mir sogar ausstudiert, wem ich als Geist erscheinen würde, wenn ich einmal gestorben bin. – Also da ist vor allem ein Kolleg' von Ihnen, in Olmütz – ein boshaftes Luder! Na, und dann der Herr Direktor, der mir die halbe Gasch' abgezogen hat fürs Extemporieren. Dabei haben die Leut' überhaupt nur über mich gelacht und gar nicht über die Stück'. Er hätt' froh sein können, der Herr Direktor. Statt dessen – na wart', wart'! Ich hätt' ja ein Talent zum Erscheinen – oh, ich hätt' auch im Himmel mein anständiges Auskommen gehabt. – Ich hätt' nämlich ein Engagement bei den Spiritisten angenommen.


Dr. Halmschlöger und Dr. Tann kommen, und die Wärterin.
TANN
junger, etwas nachlässig gekleideter Mensch, Hut auf dem Kopf, nicht brennende Virginia im Mund.
Jetzt bitt' ich dich aber, Halmschlöger, sei so gut, halt' dich da nicht auch wieder so lang auf.
HALMSCHLÖGER
sorgfältig gekleideter junger Mensch mit Zwicker und kleinem blonden Vollbart; Überzieher umgeworfen.
Nein, ich bin gleich fertig.
TANN.
Oder ich geh' voraus ins Kaffeehaus.
HALMSCHLÖGER.
Ich bin gleich fertig.
[722]
FLORIAN.
Habe die Ehre, Herr Doktor.
HALMSCHLÖGER.
Warum liegen Sie denn nicht im Bett? Zur Wärterin. Paschanda!
FLORIAN.

Ich bin ja so ausgeschlafen, Herr Doktor; es geht mir ja famos. Ich erlaube mir, den Herrn Doktor zu meinem Wiederauftreten ...

HALMSCHLÖGER
einen Moment amüsiert, wendet sich dann ab.
Ja, ja. Zu Rademacher hin. Nun, mein lieber Rademacher, wie befinden Sie sich?
FLORIAN
macht der Wärterin ein Zeichen, das sich auf seine frühere Kopie bezieht.
RADEMACHER.
Schlecht geht's mir, Herr Doktor.
HALMSCHLÖGER
die Tafel zu Häupten des Bettes betrachtend; Wärterin hält das Licht.

39,4 – na! Gestern haben wir doch 40 gehabt. Wärterin nickt. Es geht ja besser. Na, gute Nacht. Will gehen.

RADEMACHER.
Herr Doktor!
HALMSCHLÖGER.
Wünschen Sie was?
RADEMACHER.
Ich bitte, Herr Doktor, wie lang kann's denn noch dauern?
HALMSCHLÖGER.
Ja, ein bißchen Geduld müssen Sie noch haben.
RADEMACHER.
Ich mein's nicht so, Herr Doktor. Ich mein':
Wann ist es aus mit mir?
TANN
hat sich zum Tisch gesetzt, blättert gedankenlos in den Papieren.
HALMSCHLÖGER. Aber was reden Sie denn? Zur Wärterin. Hat er seine Tropfen genommen?
WÄRTERIN.
Um 1/2 8, Herr Sekundarius.
RADEMACHER.

Herr Doktor, ich bitte recht schön, behandeln Sie mich nicht wie den ersten Besten. Oh, entschuldigen Herr Doktor –

HALMSCHLÖGER
etwas ungeduldig, aber freundlich.
Leiser, leiser.
RADEMACHER.

Ich bitte, nur noch ein Wort, Herr Doktor. Entschlossen. Ich muß nämlich die Wahrheit wissen – ich muß – aus einer ganz bestimmten Ursache! –

HALMSCHLÖGER.

Die Wahrheit ... Ich hoffe zuversichtlich – Nun, die Zukunft ist in gewissem Sinn uns allen verschlossen – aber ich kann sagen –

RADEMACHER.

Herr Doktor, – wenn ich nun aber noch etwas sehr Wichtiges vorhätte – irgendwas, wovon das Schicksal anderer Leute abhängig ist – und meine Ruhe – die Ruhe meiner Sterbestunde ...

HALMSCHLÖGER.

Aber, aber! – Wollen Sie sich nicht näher [723] erklären? Immer freundlich. Aber möglichst kurz, wenn ich bitten darf. Ich habe noch zwei Zimmer vor mir. Denken Sie, wenn jeder so lang – Also bitte.

RADEMACHER.
Herr Doktor, ich muß noch mit jemandem sprechen.
HALMSCHLÖGER.

Nun, Sie können ja dem Betreffenden schreiben, wenn es Sie beruhigt. Morgen nachmittag zwischen vier und fünf dürfen Sie empfangen, wen Sie wollen. Ich habe gar nichts dagegen.

RADEMACHER.

Herr Doktor – das ist zu spät – das kann zu spät sein – ich fühl's ... morgen früh ist vielleicht alles vorbei. Noch heute muß ich mit – dem Betreffenden reden.

HALMSCHLÖGER.

Das ist nicht möglich. Was soll das Ganze? Wenn Ihnen so viel darauf ankommt, hätten Sie ja schon gestern ...

RADEMACHER
dringend.

Herr Doktor! Sie sind immer sehr gut zu mir gewesen – ich weiß ja, daß ich ein bißchen zudringlich bin – aber sehen Sie, Herr Doktor, wenn es einmal ganz sicher ist, daß einen morgen oder übermorgen die gewissen Herrn im weißen Kittel hinuntertragen, da bildet man sich halt ein, man kann keck werden und mehr verlangen als ein anderer.

TANN.
Also, Halmschlöger, was ist denn?
HALMSCHLÖGER.
Moment. – Etwas ungeduldig. Also bitte, in Kürze, was wünschen Sie?
RADEMACHER.
Ich muß unbedingt einen Freund von mir sprechen. Einen gewissen Herrn Weihgast – Alexander Weihgast.
HALMSCHLÖGER.
Weihgast? Meinen Sie den bekannten Dichter Weihgast?
RADEMACHER.
Ja!
HALMSCHLÖGER.
Das ist ein Freund von Ihnen?
RADEMACHER.
Gewesen, gewesen – in früherer Zeit.
HALMSCHLÖGER.
Also schreiben Sie ihm eine Karte.
RADEMACHER.
Was hilft mir das? Er findet mich nicht mehr. Ich muß ihn noch heut sprechen – gleich ...
HALMSCHLÖGER
bestimmt.

Herr Rademacher, es ist unmöglich. Und Schluß. Mild. Um Sie zu beruhigen, werde ich Herrn Weihgast, den ich zufällig persönlich kenne, noch heute ein Wort schreiben und ihm anheimstellen, Sie morgen zu einer beliebigen Stunde aufzusuchen.

RADEMACHER.
Sie kennen den Herrn Weihgast, Herr Doktor? Plötzlich. So bringen Sie ihn her – bringen Sie ihn her!
[724]
HALMSCHLÖGER.
Na, hören Sie, hören Sie, Herr Rademacher, da weiß man wirklich nicht mehr –
RADEMACHER
in großer Aufregung.

Herr Doktor, ich weiß ja, es ist unverschämt von mir, – aber Sie sind ja doch ein Mensch, Herr Doktor, und fassen die Dinge menschlich auf. Nicht wie manche andere, die nur nach der Schablone urteilen. Und Sie wissen, Herr Doktor – da ist einer, der morgen sterben muß, und der hat noch einen Wunsch, an dem ihm ungeheuer viel liegt, und ich kann ihm den Wunsch erfüllen ... Ich bitte Sie, Herr Doktor, gehn Sie zu ihm hin, holen Sie mir ihn her!

HALMSCHLÖGER
schwankend, sieht auf die Uhr.

Ja – wenn ich für meinen Teil mich dazu entschließen wollte – ich bitte Sie, Herr Rademacher, wie kann ich es verlangen – um diese Zeit ... wahrhaftig, es ist eine so sonderbare Zumutung! Überlegen Sie doch selbst.

RADEMACHER.

Oh, Herr Doktor, ich kenne meinen Freund Weihgast. Wenn Sie dem sagen: Sein alter Freund Rademacher stirbt im Allgemeinen Krankenhaus und will ihn noch einmal sehen – oh, das läßt er sich nicht entgehen. – Ich beschwöre Sie, Herr Doktor – für Sie ist es einfach ein Weg, – nicht wahr? Und für mich – für mich ...

HALMSCHLÖGER.

Ja, das ist es eben! Für mich hat es natürlich nichts zu bedeuten. Aber für Sie – jawohl, für Sie könnte die Aufregung von schlimmen Folgen sein.

RADEMACHER.

Herr Doktor – Herr Doktor! Wir sind ja Männer! – Auf eine Stund' früher oder später kommt's doch nicht an.

HALMSCHLÖGER
beschwichtigend.
Na, na, na!Nach kurzer Überlegung. Also ich fahre hin.
RADEMACHER
will danken.
HALMSCHLÖGER
abwehrend.

Ich kann natürlich keine Garantie n übernehmen, daß ich ihn herbringe. Aber da Ihnen so viel dran zu Hegen scheint, –Da Rademacher wieder danken will. Schon gut, schon gut. Wendet sich ab.

TANN.
Na endlich!
HALMSCHLÖGER.

Lieber Tann, ich werd' dich sehr bitten, – schau' du indes auf die andern Zimmer, es ist nichts Besonderes – zwei Injektionen – die Wärterin wird dir schon sagen –

TANN.
Ja, was ist denn, was ist denn?
HALMSCHLÖGER.

Eine sonderbare Geschichte. Der arme Teufel bittet mich, ihm einen alten Freund herzuholen, dem er offenbar [725] etwas Wichtiges anzuvertrauen hat. Weißt du, wen? Den Weihgast, diesen Dichter.

TANN.

Na, und du gehst hin? Ja, sag', bist denn du ein Dienstmann? Na, hör' zu, die Leut' nützen hier einfach deine Gutmütigkeit aus.

HALMSCHLÖGER.

Lieber Freund, das ist Empfindungssache. Meiner Ansicht nach sind gerade solche Dinge das Allerinteressanteste in unserm Beruf.

TANN.
Auch eine Auffassung.
HALMSCHLÖGER.
Also willst du so gut Sein?
TANN.
Natürlich. Mit dem Kaffeehaus ist heut nichts mehr?
HALMSCHLÖGER.

Ich komm' vielleicht noch hin.

HALMSCHLÖGER, TANN UND WÄRTERIN ab. FLORIAN kommt wieder herein. Ja, was haben denn Sie so lang mit dem Doktor zu reden gehabt?

RADEMACHER
erregt, fast heiter.
Ich krieg' noch einen Besuch – ich krieg' noch einen Besuch.
FLORIAN
interessiert.
Was? Einen Besuch? Jetzt? Mitten in der Nacht?
RADEMACHER.

Ja, mein lieber Jackwerth – geben Sie nur acht, da gibt's wieder was zu lernen ... an meinem Besuch nämlich. Den Herrn müssen Sie sich anschaun, wenn er hereinkommt zu mir, und nachher, wenn er wieder von mir fortgeht ... Ah! Immer erregter. Wenn ich's nur erleb' – wenn ich's nur erleb'! – Geben S' mir ein Glas Wasser, Jackwerth – ich bitt' recht schön. Geschieht; er trinkt gierig. Dank schön – dank schön. – Ja, so lang wird die Maschine schon noch halten ... Beinahe mit Angst. Wenn er nur kommt ... wenn er nur kommt ...

FLORIAN.
Von wem reden Sie denn?
RADEMACHER
vor sich hin.

Ihm schreiben? ... Nein, davon hätt' ich nichts ... Nein, da muß ich ihn haben – da – mir gegenüber ... Aug' in Aug', Stirn an Stirn – ah! ...

FLORIAN
wie besorgt.
Herr Rademacher ...
RADEMACHER.

Haben Sie keine Angst um mich – es ist ganz überflüssig. Es wird mir ganz leicht, meiner Seel', ich fürcht' mich nicht einmal mehr vorm Sterben ... Es wird gar nicht so arg sein, wenn der erst dagewesen ist ... Ah,

FLORIAN.
Jackwerth, was kann ich für Sie tun?
FLORIAN
erstaunt.
Wieso?
RADEMACHER.

Ich möchte mich Ihnen dankbar erweisen. Sie haben mich nämlich auf diese Idee gebracht – jawohl. Ich [726] werde Sie zu meinem Erben einsetzen. Der Schlüssel von meinem Schreibtisch Hegt unterm Polster. – Sie glauben, das ist nichts Besonderes? – Wer weiß? Sie könnten sich täuschen ... Da sind vielleicht Meisterwerke aufbewahrt! Mir wird immer leichter – meiner Seel' ... Am Ende werd' ich wieder gesund!

FLORIAN.
Aber sicher!
RADEMACHER.

Wenn ich gesund werde – ich schwör's, wenn ich je wieder den Fuß aus dem Spital setz', so fang' ich von frischem an – ja. Ich fang' wieder an.

FLORIAN.
Was denn?
RADEMACHER.

Zu kämpfen – jawohl, zu kämpfen! Ich probier's wieder. Ich geb's noch nicht auf – nein. Ich bin ja noch nicht so alt, – vierundfünfzig ... Ist das überhaupt ein Alter, wenn man gesund ist? Ich bin wer.

FLORIAN.

Jackwerth – ich bin wer, das können Sie mir glauben. Ich hab' nur Malheur gehabt. Ich bin so viel wie mancher andere, der auf dem hohen Roß sitzt, mein lieber Herr – und ich kann's mit manchem aufnehmen, der sich für was Besseres hält wie ich, weil er mehr Glück gehabt hat. Fiebrisch. Wenn er nur kommt ... wenn er nur kommt ... Ich bitt' dich, mein Herrgott, wenn du mich auch vierundfünfzig Jahre lang im Such gelassen hast, gib mir wenigstens die letzte Viertelstunde noch Kraft, daß es sich ausgleicht, so gut, als es geht. Laß mich's erleben, daß er da vor mir sitzt – bleich, vernichtet – so klein gegen mich, als er sich sein Leben lang überlegen gefühlt hat ... Ja, mein lieber Jackwerth, der, den ich da erwarte, das ist nämlich ein Jugendfreund von mir. Und vor fünfundzwanzig Jahren – und auch noch vor zwanzig – waren wir sehr gut miteinander, denn wir haben beide auf demselben Fleck angefangen – nur daß wir dann einen verschiedenen Weg gegangen sind – er immer höher hinauf und ich immer tiefer hinunter. Und heut ist es so weit, daß er ein reicher und berühmter Dichter ist, und ich bin ein armer Teufel von Journalist und krepier' im Spital. – Aber es macht nichts, es macht nichts – denn jetzt kommt der Moment, wo ich ihn zerschmettern kann ... und ich werd' es tun! Wenn er nur kommt – wenn er nur kommt! Ich weiß, Herr Jackwerth, heute nachmittag war Ihre Geliebte bei Ihnen – aber was ist denn alle Glut, mit der man ein geliebtes Wesen erwartet gegen die Sehnsucht nach einem, den man haßt, den man sein ganzes Leben lang gehaßt hat und dem man vergessen hat, es zu sagen.

[727]
FLORIAN.
Aber Sie regen sich ja fürchterlich auf, Herr Rademacher! – Sie verlieren ja Ihre Stimm'.
RADEMACHER.
Haben Sie keine Angst – wenn er einmal da ist, werd' ich schon reden können.
FLORIAN.

Wer weiß, wer weiß? – Hören Sie, Herr Rademacher, ich werd' Ihnen einen Vorschlag machen. Halten wir doch eine Probe ab. – Ja, Herr Rademacher, ich mach' keinen Spaß. Ich kenn' mich doch aus. Verstehen Sie mich: Es kommt ja immer drauf an, wie man die Sachen bringt, nicht wahr? Was haben Sie denn schon davon, wenn Sie ihm sagen: »Du bist ein niederträchtiger Mensch, und ich hasse dich« – das wirkt ja nicht. Da denkt er sich: Du schimpfst mir lang gut, wenn du daherin liegst im Kammerl mit 39 Grad und ich geh' gemütlich spazieren und rauch' mein Zigarrl.

RADEMACHER.

Ich werd' ihm noch ganz was anderes sagen. Darüber, daß einer niederträchtig ist, tröstet er sich bald. Aber daß er lächerlich war sein Leben lang für die Menschen, die er vielleicht am meisten geliebt hat – das verwindet er nicht.

FLORIAN.

Also reden Sie, reden Sie. Stellen Sie sich vor, ich bin der Jugendfreund. Ich steh' da, ich hab' den Sack voller Geld, den Kopf voller Einbildung – Spielend. »Hier bin ich, alter Freund. Du hast mich zu sprechen gewünscht. Bitte.« Na also.

RADEMACHER
fiebrisch, sich immer mehr in Wut hineinredend.

Jawohl, ich hab' dich rufen lassen. Aber nicht, um von dir Abschied zu nehmen, in Erinnerung alter Freundschaft – nein, um dir etwas zu erzählen, eh' es zu spät ist.

FLORIAN
spielend.
»Du spannst mich auf die Folter, alter Kumpan. Was wünschest du mir mitzuteilen?« Also – also!
RADEMACHER.

Du meinst, daß du mehr bist als ich? – Mein lieber Freund, zu den Großen haben wir beide nie gehört, und in den Tiefen, wo wir zu Haus sind, gibt's in solchen Stunden keinen Unterschied. Deine ganze Größe ist eitel Trug und Schwindel. Dein Ruhm – ein Haufen Zeitungsblätter, der in den Wind verweht am Tag nach deinem Tod. Deine Freunde? – Schmeichler, die vor dem Erfolg auf dem Bauch liegen, Neidlinge, die die Faust im Sack ballen, wenn du den Rücken kehrst, Dummköpfe, denen du für ihre Bewunderung gerade klein genug bist. – Aber du bist ja so klug, um das zuweilen selbst zu ahnen. Ich hätte dich nicht herbemüht, um dir das mitzuteilen. Daß ich dir jetzt noch was anderes sagen will, ist [728] möglicherweise eine Gemeinheit. – Aber es ist nicht zu glauben, wie wenig einem dran liegt, gemein zu sein, wenn kein Tag mehr kommt, an dem man sich darüber schämen müßte. Er steht auf. Ich hab' ja schon hundertmal Lust gehabt, dir's ins Gesicht zu schreien in den letzten Jahren, wenn wir einander zufällig auf der Straße begegnet sind und du die Gnade hattest, ein freundliches Wort an mich zu richten. Mein lieber Freund, nicht nur ich kenne dich, wie tausend andere – auch dein geliebtes Weib kennt dich besser als du ahnst und hat dich schon vor zwanzig Jahren durchschaut – in der Blüte deiner Jugend und deiner Erfolge. – Ja, durchschaut – und ich weiß es besser als irgendeiner ... Denn sie war meine Geliebte zwei Jahre lang, und hundertmal ist sie zu mir gelaufen, angewidert von deiner Nichtigkeit und Leere und hat mit mir auf und davon wollen. Aber ich war arm und sie war feig, und darum ist sie bei dir geblieben und hat dich betrogen! Es war bequemer für uns alle.

FLORIAN.
»Ha, Elender! Du lügst!«
RADEMACHER.

Ich? – Wie erwachend. Ach so ... Sie, Jackwerth, Sie haben den Schlüssel. Wenn er mir's nicht glaubt – im Schreibtisch sind auch die Briefe. Sie sind mein Testamentsverweser. – Überhaupt, in meinem Schreibtisch, da sind Schätze mancherlei – wer weiß, vielleicht ist nichts anderes nötig, um sie zu würdigen, als daß ich gestorben bin. – Ja, dann werden sich die Leute schon um mich kümmern. Insbesondere, wenn es heißt, daß ich in Not und Elend gestorben bin – denn ich sterbe in Not und Elend, wie ich gelebt habe. An meinem Grab wird schon einer reden. Ja, geben Sie nur acht, – Pflichttreue – Tüchtigkeit – Opfer seines Berufes ... Ja, das ist wahr. Florian Jackwerth, seit ich einen Beruf habe, bin ich sein Opfer – vom ersten Augenblick an bin ich ein Opfer meines Berufes gewesen. Und wissen Sie, woran ich zugrund geh'? Sie meinen an den lateinischen Vokabeln, die da auf der Tafel stehn –? Oh nein! An Gall', daß ich vor Leuten hab' Buckerln machen müssen, die ich verachtet hab', um eine Stellung zu kriegen. Am Ekel, daß ich Dinge hab' schreiben müssen, an die ich nicht geglaubt hab', um nicht zu verhungern. Am Zorn, daß ich für die infamsten Leutausbeuter hab' Zeilen schinden müssen, die ihr Geld erschwindelt und ergaunert haben, und daß ich ihnen noch dabei geholfen hab' mit meinem Talent. Ich kann mich zwar nicht [729] beklagen: Von der Verachtung und dem Haß gegen das Gesindel hab' ich immer meinen Teil abbekommen – nur leider von was anderm nicht.

WÄRTERIN
kommt.
Der Herr Sekundarius.
RADEMACHER
erschrocken.
Allein?
WÄRTERIN.
Nein, es ist ein Herr mit ihm.
RADEMACHER
dankerfüllter Blick.
FLORIAN.
Jetzt nehmen Sie sich zusammen. Schad', daß ich nicht dabei sein kann. Schleicht sich dann hinaus.

Halmschlöger und Weihgast kommen.
HALMSCHLÖGER.
Also hier ist der Kranke.
WEIHGAST
elegant gekleideter, sehr gut erhaltener Herr von etwa 55 Jahren, grauer Follbart, dunkler Überzieher, Spazierstock.

So – hier. Zu Rademacher hin, herzlich. Rademacher – ist es möglich? Rademacher – so sehn wir uns wieder! Mein lieber Freund!

RADEMACHER.
Ich danke dir sehr, daß du gekommen bist.
HALMSCHLÖGER
hat gewinkt; die Wärterin brachte einen Sessel für Weihgast.

Und nun erlauben Sie mir, Herr Weihgast, daß ich als Arzt die Bitte an Sie richte, die Unterredung nicht länger als eine Viertelstunde auszudehnen. Ich werde so frei sein, nach der angegebenen Zeit selbst wiederzukommen und Sie hinab zu begleiten.

WEIHGAST.
Ich danke Ihnen, Herr Doktor, Sie sind sehr liebenswürdig.
HALMSCHLÖGER.
Oh, zu danken habe ausschließlich ich. Es gehört wirklich kein geringer Opfermut dazu ...
WEIHGAST
wehrt ab.
Aber, aber ...
HALMSCHLÖGER.

Nun, Herr Rademacher, auf Wiedersehen. Droht ihm ärztlich freundlich, er möge sich nicht aufregen. Dann wechselt er einige Worte mit der Wärterin und gebt mit ihr ab.

WEIHGAST
die Wärterin bat ihm den Überzieher abgenommen; er hat sich gesetzt; sehr herzlich, beinahe echt.

Nun, sag' mir einmal, mein lieber Rademacher, was ist das für eine Idee, sich hierher zu legen – ins Krankenhaus –!

RADEMACHER.
Oh, ich bin zufrieden, man ist hier sehr gut aufgehoben.
WEIHGAST.

Ja, gewiß bist du in den besten Händen. Doktor Halmschlöger ist ein sehr tüchtiger junger Arzt und, was mehr ist, ein vortrefflicher Mensch. Wie man ja den Menschen [730] an sich überhaupt nie von dem Berufsmenschen trennen kann. Aber trotzdem – du entschuldigst schon – warum hast du dich nicht an mich gewandt?

RADEMACHER.
Wie hätt' ich ...
WEIHGAST.

Wenn du dich auch eine Reihe von Jahren um deinen alten Freund nicht mehr gekümmert hast, du kannst dir wohl denken, daß ich dir unter diesen Umständen in jeder Weise zur Verfügung ...

RADEMACHER.
Laß doch das, laß doch das.
WEIHGAST.

Nun ja – bitte. Es war wahrhaftig nicht bös' gemeint. Immerhin, es ist auch jetzt nicht zu spät. – Doktor Halmschlöger sagt mir, es ist nur eine Frage der Zeit, der guten Pflege ... in ein paar Wochen verläßt du das Spital, und was eine Nachkur auf dem Lande betrifft ...

RADEMACHER.
Von all diesen Dingen ist nicht mehr die Rede.
WEIHGAST.

Auch von dieser Hypochondrie hat mir Doktor Halmschlöger Mitteilung gemacht – ja. Er verträgt den auf ihn gerichteten Blick Rademachers nicht gut, schaut aber nicht fort. Also, du hast mich rufen lassen, wolltest mit mir sprechen. Nun, ich bin bereit. Warum lächelst du? – Nein, es ist der Schimmer von dem Licht. Die Beleuchtung ist hier nicht ganz auf der Höhe. – Nun, ich warte. Ich werde Herrn Doktor Halmschlöger erklären, daß du von den ersten fünf Minuten keinen Gebrauch gemacht hast. Nun? –

RADEMACHER
hatte schon einige Male die Lippen geöffnet, halb, als wollte er reden.
Auch jetzt; aber er schweigt wieder. – Pause.
WEIHGAST.

Wie ist's dir denn immer ergangen?Leicht verlegen. Hm, die Frage ist etwas ungeschickt in diesem Moment. Ich bin ein wenig befangen, ich will es dir gestehn; denn, äußerlich betrachtet, möchte man wohl glauben, daß ich derjenige bin, dessen Los besser gefallen ist. Und doch – wenn man die Sache so nimmt, wie sie ja doch eigentlich genommen werden muß – wer hat mehr Enttäuschungen erlebt? Immer der, der scheinbar mehr erreicht hat. – Das klingt paradox, und doch ist es so. – Ah, wenn ich dir erzählen wollte ... nichts als Kämpfe – nichts als Sorgen – Ich weiß nicht, ob du die Bewegung der letzten Zeit so verfolgt hast. Nun stürzen sie über mich her ... Wer? Die Jungen. Wenn man bedenkt, daß man vor zehn Jahren selbst noch ein Junger war. Jetzt versuchen sie, mich zu entthronen ... Wenn man diese neuen Revuen liest ... Ah, es ist, um Übelkeiten zu bekommen! Mit Hohn, [731] mit Herablassung behandeln sie mich. Es ist ja jämmerlich! Da hat man nun redlich gearbeitet und gestrebt, hat sein Bestes gegeben – und nun ... Ah, sei froh, daß du von all den Dingen nichts weißt. Wenn ich heute wählen könnte, – heute mein Leben von neuem beginnen ...

RADEMACHER.
Nun?
WEIHGAST.

Ein Bauer auf dem Land möcht ich sein, ein Schafhirt, ein Nordpolfahrer – ah, was du willst! – Nur nichts von der Literatur. – Aber es ist noch nicht aller Tage Abend.

RADEMACHER
sonderbar lächelnd.
Willst du an den Nordpol?
WEIHGAST.

Ah nein. Aber in der nächsten Saison, zu Beginn, kommt ein neues Stück von mir. Da sollen sie sehen, da sollen sie sehen! Ah, ich lass' mich nicht unterkriegen! Wartet nur! wartet nur! – Nun, wenn alles gut geht, so sollst du dabei sein, mein alter Freund. Ich verspreche dir, dir Billette zu schicken. Obwohl euer Blatt im allgemeinen verflucht wenig Notiz von mir nimmt. Ja, meine letzten zwei Bücher wurden bei euch direkt totgeschwiegen. Aber du hast ja mit dem Ressort nichts zu tun. Na! – Übrigens, was für gleichgültiges albernes Zeug ... So erzähle mir doch endlich. Was hast du mir zu sagen? Wenn dir das laute Sprechen Mühe macht ... ich kann ja auch ganz nahe rücken. – Hm ... Pause. Was meine Frau dazu sagen wird, wenn ich ihr erzähle, daß unser alter Rademacher im Allgemeinen Krankenhaus liegt ... Dein Stolz, mein lieber Rademacher, dein verdammter Stolz ... Na, wir wollen nicht davon reden ... Übrigens ist meine Frau augenblicklich nicht in Wien – in Abbazia. Immer etwas leidend.

RADEMACHER.
Hoffentlich nicht ernst?
WEIHGAST
drückt ihm die Hand.

Gott sei Dank, nein. Mein Lieber, dann stund' es auch mit mir schlecht. Wahrhaftig, bei ihr find' ich mich selbst – den Glauben an mich selbst wieder, wenn ich nah daran bin, ihn zu verlieren – die Kraft zu schaffen, die Lust zu leben. Und je älter man wird, um so mehr fühlt man, daß dies doch der einzige wahre Zusammenhang ist, den es gibt. Denn die Kinder ... o Gott!

RADEMACHER.
Was ist's mit ihnen? Was machen sie?
WEIHGAST.

Meine Tochter ist verheiratet. Ja, ich bin schon zweifacher Großvater. Man sieht's mir nicht an, ich weiß. Und mein Bub' – Bub'!! – dient heuer sein Freiwilligenjahr – macht Schulden – hat neulich ein Duell gehabt mit einem jungen [732] Baron Wallerskirch – wegen eines Frauenzimmers ... Ja, mein Lieber, immer dieselben Dummheiten. So wird man alt, und das Leben nimmt seinen Lauf.

RADEMACHER.
Ja, ja. Pause.
WEIHGAST.

Nun, die Zeit verrinnt. Ich warte. Was hast du mir zu sagen? Ich bin bereit, alles, was du wünschest ... Soll ich vielleicht bei der Konkordia Schritte tun? Oder kann ich vielleicht in der Redaktion des »Neuen Tags« für den Fall deiner baldigen Wiederherstellung ... Oder – du entschuldigst, daß ich auch von solchen Dingen spreche – kann ich dir irgendwie mit dem schnöden Mammon ...

RADEMACHER.

Laß, laß. Ich brauche nichts – nichts ... Ich hab' i dich nur noch einmal sehen wollen, mein alter Freund, – das ist alles. Ja. Reicht ihm die Hand.

WEIHGAST.

So? Wahrhaftig es rührt mich. Ja. – Nun, wenn du wieder gesund bist, so hoff' ich, wir werden einander wieder öfter ... na!


Peinliche Pause. – Man hört das Ticken der Uhr aus dem Nebensaal.
HALMSCHLÖGER
kommt.
Nun, da bin ich wieder. Ich bin hoffentlich nicht zu pünktlich?
WEIHGAST
erhebt sich, sichtlich befreit.
Ja, wir sind bereits zu Ende.
HALMSCHLÖGER.
Nun das freut mich. Und ich hoffe, unser Patiet ist beruhigt – nicht wahr?
RADEMACHER
nickt.
Ich danke.
WEIHGAST.

Also auf Wiedersehen, lieber Freund. Wenn der Herr Doktor gestattet, so schau' ich in ein paar Tagen wieder einmal nach.

HALMSCHLÖGER.
Gewiß. Ich werde Auftrag geben, daß man Sie zu jeder Zeit ...
WEIHGAST.
Oh, ich wünsche nicht, daß Sie meinetwegen eine Ausnahme machen.
HALMSCHLÖGER.
Paschanda!
WÄRTERIN
reicht Weihgast den Überzieher.

WEIHGAST. Also nochmals Adieu und gute Besserung und nicht kleinmütig sein. Gegen den Ausgang mit Halmschlöger.

FLORIAN
kommt hinter dem Vorhang hervor.
Habe die Ehre, Herr Doktor, habe die Ehre!
HALMSCHLÖGER.
Na hören Sie, Sie schlafen noch immer nicht!
WEIHGAST.
Was ist das für ein Mensch? Er hat mich in einer so sonderbaren Weise fixiert ...
HALMSCHLÖGER.
Ein armer Teufel von Schauspieler.
[733]
WEIHGAST.
So, so.
HALMSCHLÖGER.
Hat keine Ahnung, daß er in spätestens acht Tagen unter der Erde liegen wird.
WEIHGAST.
So, so.

Blicke Weihgasts und Florians begegnen einander.
HALMSCHLÖGER.

Drum halt' ich auch jede Strenge für überflüssig. Regeln für Sterbende – das hat doch keinen rechten Sinn.

WEIHGAST.

Sehr richtig. – Es hat mich wirklich gefreut, bei dieser Gelegenheit Ihre nähere Bekanntschaft zu machen und Sie sozusagen einmal bei der Arbeit zu belauschen. Es war mir überhaupt in vieler Beziehung interessant.

HALMSCHLÖGER.

Nun, wenn ich fragen darf, war es wirklich etwas so Wichtiges, was Ihnen Ihr Freund mitzuteilen hatte?

WEIHGAST.

Keine Idee. Wir haben in längst vergangener Zeit miteinander verkehrt, er wollte mich noch einmal sehen ... das war alles. Ich glaube übrigens, daß ihn mein Kommen sehr beruhigt hat. Im Gehen.

WÄRTERIN.
Küss' die Hand.
WEIHGAST.
Ach so. Gibt ihr ein Trinkgeld.

Halmschlöger, Weihgast ab, hinter ihnen auch die Wärterin.
FLORIAN
rasch zu Rademacher bin.

Na also, was war denn? Der Mensch muß eine kolossale Selbstbeherrschung haben. Ich versteh' mich doch auf Physiognomien – aber ich hab' ihm nichts angemerkt. Wie hat er's denn aufgenommen?

RADEMACHER
ohne auf ihn zu hören.
Wie armselig sind doch die Leute, die auch morgen noch leben müssen.
FLORIAN.
Herr Rademacher – also was ist denn? Wie steht's mit dem Schlüssel zum Schreibtisch?
RADEMACHER
erwachend.
Schreibtisch –? – Machen S', was Sie wollen. Verbrennen meinetwegen!
FLORIAN.
Und die Schätze? Die Meisterwerke?
RADEMACHER.

Meisterwerke! – Und wenn schon ... Nachwelt gibt's auch nur für die Lebendigen. Wie seherisch. Jetzt ist er unten. Jetzt geht er durch die Allee – durchs Tor – jetzt ist er auf der Straße – die Laternen brennen – die Wagen rollen – Leute kommen von oben ... und unten ... Er ist langsam aufgestanden.

FLORIAN.
Herr Rademacher! Er betrachtet ihn genau.
RADEMACHER.

Was hab' ich mit ihm zu schaffen? Was geht mich sein Glück, was gehn mich seine Sorgen an? Was haben wir zwei miteinander zu reden gehabt? He! was? ... Er faßt Florian [734] bei der Hand. Was hat unsereiner mit den Leuten zu schaffen, die morgen noch auf der Welt sein werden?

FLORIAN
in Angst.
Was wollen Sie denn von mir? – Frau Paschanda!
WÄRTERIN
kommt mit dem Licht.
RADEMACHER
läßt die Hand Florians los.
Löschen Sie's aus, Frau Paschanda – ich brauch' keins mehr ... Er sinkt auf den Sessel.
FLORIAN
am Vorhang; hält sich mit beiden Händen daran; zur Wärterin.
Aber jetzt – nicht wahr?

Vorhang.

IV. Literatur

Lustspiel in einem Akt.

Margarete.


Klemens.


Gilbert.

Anständig, aber gar nicht reich möbliertes Zimmer, in dem Margarete wohnt. Ein kleiner Kamin. Ein Tisch, ein kleiner Schreibtisch, Sessel, ein Schrank, zwei Fenster im Hintergrund, Türe rechts und links.

Erste Szene

In einem Fauteuil am Kamin lehnt Klemens in sehr elegantem dunkelgrauem Sakkoanzug. Er raucht eine Zigarette und liest Zeitung. Margarete steht am Fenster, dann geht sie hin und her, endlich hinter Klemens, spielt mit ihren Händen in seinem Haar. Sie scheint etwas unruhig.

KLEMENS
weiter lesend, faßt ihre Hand und küßt sie.

Horner ist seiner Sache sicher – vielmehr meiner Sache; Waterloo fünf zu eins, Barometer zwanzig zu eins, Busserl sieben zu eins, Attila sechzehn zu eins.

[735]
MARGARETE.
Sechzehn zu eins!
KLEMENS.
Lord Byron anderthalb zu eins – das sind wir, mein Schatz!
MARGARETE.
Ich weiß.
KLEMENS.
Dabei haben wir noch sechs Wochen bis zum Rennen.
MARGARETE.
Offenbar hält er es für tote Gewißheit.
KLEMENS.
Nein, wie sie schon alle diese Ausdrücke kennt! Bravo!
MARGARETE.

Diese Ausdrücke habe ich früher gekannt als dich. Ist es übrigens ausgemacht, daß du den Lord selbst reitest?

KLEMENS.

Wie kannst du denn fragen! – Damenpreis! Wen sollt' ich denn reiten lassen? Und wenn der Horner nicht wüßt', daß ich ihn reit', stund' er nicht anderthalb zu eins – darauf kannst du dich verlassen.

MARGARETE.

Das glaub' ich. – Du bist so schön, wenn du zu Pferd sitzt, einfach zum Totschießen! Nie werd' ich vergessen, wie du in München, grad am Tag, an dem ich dich kennen gelernt ...

KLEMENS.

Erinner' mich nicht daran. Da hab' ich Pech gehabt. Nie hätt' der Windisch das Rennen gewonnen, wenn er beim Start nicht zehn Längen profitiert hätt'. Aber diesmal – na! – Und am Tag drauf reisen wir ab.

MARGARETE.
Abend.
KLEMENS.
Ja. – Warum?
MARGARETE.
Weil wir vormittag heiraten, nehm' ich an.
KLEMENS.
Ja, ja mein Schatz.
MARGARETE.
Ich bin sehr glücklich. Umarmung. Und wohin werden wir reisen?
KLEMENS.
Ich denke, wir sind doch einig? – Aufs Gut.
MARGARETE.
Ja, später. Aber gehen wir nicht zuerst ein bißchen an die Riviera?
KLEMENS.
Das wird vom Damenpreis abhängen; wenn ich ihn gewinn' ...
MARGARETE.
Tote Gewißheit.
KLEMENS.
Im übrigen, im April ist die Riviera absolut nicht mehr elegant.
MARGARETE.
Ach deswegen!
KLEMENS.

Aber Kind, natürlich deswegen. Du hast noch aus früherer Zeit so gewisse Vorstellungen von Eleganz, so ... du entschuldigst schon – so ein bißl aus die Witzblätter.

MARGARETE.
Kle, ich bitte dich –
[736]
KLEMENS.
Na also, wir werden schon sehen. Liest weiter. Badegast fünfzehn zu eins –
MARGARETE.
Badegast? – Der geht ja gar nicht mit.
KLEMENS.
Woher weißt du denn das?
MARGARETE.
Der Szigrati hat's mir selber gesagt.
KLEMENS.
Wieso denn? Wo denn?
MARGARETE.
Na, heut früh in der Freudenau, während du mit dem Milner geredet hast.
KLEMENS.
Der Szigrati ist mir auch nicht die richtige G'sellschaft für dich.
MARGARETE.
Eifersüchtig?
KLEMENS.
Aber nein! ... Im übrigen, ich werde dich von jetzt an ganz einfach als meine Braut vorstellen.
MARGARETE
küßt ihn.
KLEMENS.
Also, was hat er dir gesagt, der Szigrati?
MARGARETE.
Daß er den Badegast im Damenpreis gar nicht mitschickt.
KLEMENS.

Na, dem Szigrati darfst du nicht alles glauben, er verbreitet jetzt das Gerücht, daß der Badegast nicht mitgeht, damit die Odds länger werden.

MARGARETE.
Geh, das ist ja wie eine Spekulation.
KLEMENS.

Ja, glaubst du, unter uns gibt's keine Spekulanten? Für manche ist das Ganze nur ein Geschäft. Glaubst du, so ein Mensch wie der Szigrati hat das geringste Interesse für den Sport? Er könnt' ebensogut auf die Börs' gehen. Im übrigen, für'n Badegast könnt' man ihm ruhig hundert gegen eins legen.

MARGARETE.
So? Ich hab' heut früh gefunden, er sieht wunderbar aus.
KLEMENS.
Den Badegast hat sie auch g'sehn!
MARGARETE.
Freilich! Hat ihn nicht der Butters heut früh hinterm Busserl herumgaloppiert?
KLEMENS.

Aber der Butters reit't ja nicht für den Szigrati. Das ist ein Stallbursch gewesen. – Übrigens kann der Badegast aussehen, wie er will, egal – er ist ein Blender. Na, Margaret', bei deinem Talent wirst du die wahren Größen bald von den falschen unterscheiden lernen. Es ist ja wirklich unglaublich, mit welcher Geschwindigkeit du dich in alle diese Dinge sozusagen eingearbeitet hast. Es übertrifft meine kühnsten Erwartungen.

MARGARETE
ärgerlich.

Warum übertrifft's denn deine Erwartungen? [737] Du weißt ganz gut, daß mir alle diese Dinge gar nicht so neu sind. – Im Haus von meinen Eltern haben sehr elegante Leute verkehrt – der Graf Libowski und so verschiedene, – und auch bei meinem Mann ...

KLEMENS.
Na ja, selbstverständlich. Im Prinzip hab' ich auch gar nichts gegen die Baumwollindustrie.
MARGARETE.

Was hat das mit meinen persönlichen Anschauungen zu tun, daß mein Mann eine Baumwollspinnerei gehabt hat? Ich hab' mich immer auf meine eigene Weise weitergebildet. Im übrigen reden wir nicht mehr von dieser Zeit, die liegt fern, Gott sei Dank!

KLEMENS.
Aber es gibt eine andere, die näher liegt.
MARGARETE.
Gewiß. Warum?
KLEMENS.

Na, ich mein' nur, in deiner Münchener Gesellschaft kannst du doch nicht viel von sportlichen Dingen gehört haben, soweit ich das beurteilen kann.

MARGARETE.

Möchtest du nicht bald aufhören, mir die Gesellschaft zum Vorwurf zu machen, in der du mich kennen gelernt hast.

KLEMENS.

Vorwurf? – Davon kann gar keine Rede sein! Es ist und bleibt mir nur unbegreiflich, wie du zu den Leuten gekommen bist.

MARGARETE.
Du redst gerade, als wenn es eine Verbrecherbande gewesen war'!
KLEMENS.

Kind, ich geb' dir mein Wort: Einige haben absolut ausgesehn wie Straßenräuber. Es ist mir ganz unbegreiflich, wie du's mit deinem ausgeprägten Sinn ... Na, ich will ja gar nichts andres sagen als für – Reinlichkeit und gute Parfüms unter diesen Menschen hast aushaken, mit ihnen an einem Tisch sitzen können.

MARGARETE
lächelnd.
Hast du's nicht auch getan?
KLEMENS.

Neben ihnen – nicht mit ihnen. Ja – und um deinetwillen, ausschließlich um deinetwillen, wie du sehr wohl weißt. Übrigens will ich gar nicht leugnen, daß einige bei näherer Bekanntschaft gewonnen haben; es waren ganz interessante Leut' darunter. Du darfst auch nicht glauben, mein Schatz, daß ich mich über alle Menschen, die schlecht angezogen sind, erhaben fühle. – Daran liegt's ja auch nicht. In ihrem ganzen Benehmen, in ihrem Wesen ist irgendwas, das einen nervös macht.

MARGARETE.
Das läßt sich doch nicht so schlechthin behaupten.
[738]
KLEMENS.

Na, sei nur nicht beleidigt, Schatz. Ich hab's ja schon gesagt: es sind sehr interessante Leute drunter. Aber wie sich eine Dame unter ihnen auf die Dauer wohlfühlen kann, das werde ich nie und nimmer begreifen.

MARGARETE.

Du vergißt eben eins, mein lieber Klemens, daß ich in gewissem Sinn auch zu ihnen gehöre oder wenigstens gehört hab'.

KLEMENS.
Na, ich bitt' dich recht schön!
MARGARETE.
Es waren Künstler und Künstlerinnen.
KLEMENS.
Na, jetzt sind wir glücklich wieder bei dem Thema.
MARGARETE.
Ja, und das ist eben meine ewige Kränkung, daß du da nicht mitkannst.
KLEMENS.

»Nicht mitkannst« – das hab' ich sehr gern! Ich kann schon ganz gut mit – du weißt, was mich an deiner Schreiberei geniert hat, und du weißt, daß es etwas ganz Persönliches ist.

MARGARETE.

Nun, es gibt Frauen, die in meiner damaligen Situation Schlimmeres getan hätten, als Gedichte zu schreiben.

KLEMENS.

Aber solche! solche! Er nimmt ein kleines Buch vom Kaminsims. Darum handelt es sich. Ich kann dir versichern, sooft ich's daliegen seh', sooft ich nur dran denke, schäm' ich mich, daß es von dir ist.

MARGARETE.

Dafür fehlt dir das Verständnis ... Na, sei nicht bös' – wenn du das hättest, wärst du eben vollkommen und das soll wahrscheinlich nicht sein. – Aber was geniert dich denn dran? Du weißt doch, daß ich nichts von alledem erlebt habe.

KLEMENS.
Ich hoffe.
MARGARETE.
Daß es Phantasien sind.
KLEMENS.

Da muß ich halt fragen: wie kann eine Dame so phantasieren? Liest. »An deinem Halse häng' ich trunken und sauge mich an deinen Lippen fest ...« Kopfschüttelnd. Wie kann eine Dame so was niederschreiben, – wie kann eine Dame so was drucken lassen? Jeder Mensch, der das liest, muß sich doch die Verfasserin vorstellen und den betreffenden Hals und – die betreffende Trunkenheit.

MARGARETE.
Wenn ich dir versichere, daß ein solcher Hals nie existiert hat.
KLEMENS.

Ich kann mir's auch nicht vorstellen. Das ist ja mein Glück – und deins, Margarete. Aber wie bist du zu solchen Phantasien gekommen? Auf deinen ersten Mann können sich [739] doch alle diese glühenden Liebesgedichte nicht beziehen – der hat dich ja überhaupt nicht verstanden, wie du immer sagst.

MARGARETE.

Natürlich nicht! Deswegen hab' ich mich ja von ihm scheiden lassen. Du kennst ja die Geschichte. Neben einem Menschen, der für nichts Sinn hat als für Essen und Trinken und Baumwolle, habe ich nicht existieren können.

KLEMENS.
Ja, ja. Aber das ist jetzt drei Jahre her, und die Gedichte hast du doch später geschrieben.
MARGARETE.
Nun ja. – Bedenke doch die Lage, in der ich mich befand –
KLEMENS.

Wieso? Du hast doch keine Entbehrungen zu leiden gehabt? In dieser Hinsicht hat sich ja dein Mann, das muß man ihm lassen, sehr anständig benommen. Du warst nicht darauf angewiesen, dir Geld zu verdienen. Und wenn sie dir schon für ein Gedicht hundert Gulden geben – mehr zahlen sie doch gewiß nicht – du warst doch nicht gezwungen, so ein Buch zu schreiben.

MARGARETE.

Liebster Kle, ich meinte »Lage« auch nicht in materiellem Sinn; ich meinte meinen Seelenzustand. Hast du denn eine Ahnung ... Als du mich kennen lerntest, war es ja schon viel besser, da hatt' ich mich in mancherlei gefunden, aber anfangs! – Ich war ja so ratlos, so zerfahren ... Alles mögliche hab' ich versucht, gemalt hab' ich – sogar eine englische Lektion hab' ich gegeben in der Pension, wo ich gewohnt hab'. Denk' dir nur, mit zweiundzwanzig Jahren dastehen als geschiedene Frau, niemanden haben –

KLEMENS.
Warum bist du nicht ruhig in Wien geblieben?
MARGARETE.

Weil ich mit meiner Familie auseinander war. Es hat mich ja niemand verstanden. Na, diese Leute! Glaubst du, irgendwer von meiner Familie hat begriffen, daß man auch noch was anderes vom Leben will als einen Mann und schöne Kleider und eine soziale Position? O Gott! Wenn ich ein Kind gehabt hätt', war' vielleicht alles anders gekommen – möglich, vielleicht auch nicht. Ich bin ja sehr kompliziert. Im übrigen, darfst du dich beklagen? War es nicht endlich das beste, was ich überhaupt tun konnte, nach München zu gehen? Hätt' ich dich sonst kennen gelernt?

KLEMENS.
Nun ja, aber du bist doch nicht mit der Absicht hingefahren.
MARGARETE.

Ich wollte frei werden – ich meine: innerlich frei. Ich habe sehen wollen, ob ich aus eigner Kraft weiterkommen [740] kann. Und du wirst gestehen: Es hat ganz den Anschein gehabt. Ich war auf dem besten Weg, berühmt zu werden.

KLEMENS.
...?
MARGARETE.
Aber du warst mir eben lieber als der Ruhm.
KLEMENS
gutmütig.
Und sicherer.
MARGARETE.

Daran hab' ich noch nie gedacht. Ich habe dich vom ersten Moment an geliebt, das war es. Denn einen wie dich hab' ich mir immer geträumt. Ich hab's immer gewußt, glücklich machen kann mich nur einer wie du. Rass', – das ist kein leerer Wahn. Was ist alles andere dagegen! Siehst du, drum glaub' ich auch im mer –

KLEMENS.
Was denn?
MARGARETE.
Ich meine zuweilen, daß auch in mir adeliges Blut fließt.
KLEMENS.
Wieso denn?
MARGARETE.
Nun ja, es war' doch möglich.
KLEMENS.
Das versteh' ich nicht.
MARGARETE.
Ich habe dir ja gesagt, daß im Haus meiner Eltern Aristokraten verkehrt haben ...
KLEMENS.
Na, und wenn schon –
MARGARETE.
Wer weiß –?
KLEMENS.
Margret, geh –! wie kann man so was nur reden!
MARGARETE.

Vor dir darf man halt nicht sagen, was man sich denkt. Das fehlt dir, – sonst wärst du eben vollkommen Sie schmeichelt sich an ihn heran. Ich habe dich ja so unglaublich gern. Gleich am ersten Abend, wie du ins Kaffeehaus gekommen bist, mit dem Wangenheim – gleich hab' ich's gewußt: der ist es! Wahrhaftig, du bist unter die Leute getreten wie aus einer andern Welt.

KLEMENS.

Hoff' ich. Und sehr dazugehörig hast du, Gott sei Dank, auch nicht ausgesehen. Nein, wenn ich mich an diese Gesellschaft erinner' – an die Russin zum Beispiel, die ausgeschaut hat wie ein Student mit ihren kurzgeschnittenen Haaren – nur daß sie kein Kappel getragen hat.

MARGARETE.
Das ist eine sehr begabte Malerin, die Baranzewitsch.
KLEMENS.

Ich weiß. Du hast sie mir ja in der Pinakothek gezeigt; da ist sie auf der Leiter gestanden und hat kopiert. – Und dann der Kerl mit dem polnischen Namen –

MARGARETE
beginnt.
Zrkd ...
KLEMENS.

Bemüh' dich nicht, hast es ja jetzt nimmer notwendig. [741] Der hat einmal was vorgelesen im Kaffeehaus, wie ich dabei war, ohne sich im geringsten zu genieren.

MARGARETE.
Das ist ein sehr großes Talent, du kannst es mir glauben.
KLEMENS.

Aber natürlich! Talentiert sind sie ja alle im Kaffeehaus. – Na, und dann dieser Bengel, die ser unerträgliche –

MARGARETE.
Wer?
KLEMENS.

Du weißt schon, wen ich mein'. Der immer die taktlosen Bemerkungen über die Aristokratie gemacht hat.

MARGARETE.
Gilbert, sicher meinst du Gilbert.
KLEMENS.

Ja. Ich will gewiß nicht alle meine Standesgenossen verteidigen, Lumpen gibt's überall, sogar unter den Dichtern, hab' ich mir sagen lassen – aber es ist doch manierlos von einem Menschen, wenn einer von uns dabei ist ...

MARGARETE.
Das war so seine Art.
KLEMENS.
Ich hab' mich damals zusammennehmen müssen, um nicht grob zu werden.
MARGARETE.

Es war ein interessanter Mensch bei alledem – ja. Und dann kam noch dazu, daß er sehr eifersüchtig auf dich war.

KLEMENS.
Das hab' ich auch zu bemerken geglaubt. Pause.
MARGARETE.

Ach Gott, es waren alle auf dich eifersüchtig. Natürlich ... Du warst so anders. Und dann, es haben mir alle den Hof gemacht, grade weil ich gegen alle ganz gleich war. Das mußt du doch bemerkt haben – nicht? Warum lachst du denn?

KLEMENS.

Komisch! Wenn mir das einer prophezeit hätte, daß ich einen Stammgast aus dem »Café Maximilian« heiraten werde! Am besten gefallen haben mir eigentlich die zwei jungen Maler, sie waren wirklich wie aus einem Theaterstück. Weißt du, die sich so ähnlich gesehen und alles gemeinschaftlich gehabt haben, – mir scheint, auch die Russin auf der Leiter.

MARGARETE.
Um solche Sachen habe ich mich nie gekümmert.
KLEMENS.
Die zwei müssen übrigens Juden gewesen sein, nicht?
MARGARETE.
Warum denn?
KLEMENS.
Na, weil sie immer so Witze gemacht haben – und dann die Aussprache ...
MARGARETE.
Antisemitische Bemerkungen kannst du dir schenken.
KLEMENS.

Aber Kind, sei doch nicht so empfindlich. Ich weiß ja, [742] daß du nur Halbblut bist. Und ich hab' wirklich nichts gegen die Juden. Ich hab' einmal sogar einen Lehrer gehabt, der mich in Griechisch vorbereitet hat, vor der Matura, das war ein Jud', meiner Seel'. Und ein ausgezeichneter Mensch. Man kommt ja mit allerlei Leuten zusammen ... Ich bedaure auch nicht, deine Gesellschaft in München kennen gelernt zu haben; das gehört alles zur Lebenserfahrung. – Aber schau', ich muß dir doch vorgekommen sein wie ein Retter aus der Not.

MARGARETE.
Ja, das ist schon wahr. Kle, Kle!Umarmung.
KLEMENS.
Was lachst denn?
MARGARETE.
Mir fällt was ein.
KLEMENS.
Na?
MARGARETE.
»An deinem Halse häng' ich trunken ...«
KLEMENS
unmutig.
Bitt' dich, mußt du einen immer wieder aus der Illusion reißen!
MARGARETE.

Sag', Kle: Du wärst also wirklich nicht stolz, wenn deine Geliebte, deine Frau eine große und berühmte Dichterin wäre?

KLEMENS.

Ich hab' dir schon gesagt: meinetwegen halt mich für borniert in der Hinsicht, aber ich versichere dich, wenn du heut wieder anfingst, Gedichte zu schreiben, oder sie gar drucken ließest, in denen du meinethalben mich anschwärmst und der Welt von unserm Liebesglück erzähltest – Nichts war's mit dem Heiraten, auf und davon ging ich dir!

MARGARETE.
Und das sagt ein Mensch, der ein Dutzend stadtbekannte Verhältnisse gehabt hat!
KLEMENS.

Mein Schatz, stadtbekannt hin, stadtbekannt her – ich hab's niemandem erzählt, ich hab's nicht drucken lassen, wenn mir eine trunken am Hals gehängt ist, und ein jeder hat sich's um einen Gulden fünfzig kaufen können! Darauf kommt's an! Ich weiß ja, daß es Leute gibt, die davon leben; aber ich find' es im höchsten Grad unfein. Ich sag' dir, mir kommt's ärger vor, als wenn sich eine im Trikot als griechische Statue beim Ronacher hinausstellt. So eine griechische Statue sagt doch nicht Mau! Aber was so ein Dichter alles ausplauscht, das geht über den Spaß!

MARGARETE
unruhig.
Liebster, du vergißt nur, daß der Dichter nicht immer die Wahrheit sagt.
KLEMENS.
Na, und wenn er aufschneidt, ist's vielleicht schöner?
MARGARETE.
Das nennt man dann nicht »aufschneiden«, das heißt »stilisieren«.
[743]
KLEMENS.
Was ist denn das schon wieder für ein Wort!
MARGARETE.
Oder wir erzählen Dinge, die wir gar nicht erlebt, die wir geträumt, die wir einfach erfunden haben.
KLEMENS.
Ich bitt' dich, liebe Margret, sag' doch nicht immer »wir«. Du gehörst ja Gott sei Dank nimmer dazu.
MARGARETE.
Wer weiß!
KLEMENS.
Was heißt das?
MARGARETE
zärtlich.
Klemens, ich muß es dir sagen!
KLEMENS.
Nun, was gibt's denn?
MARGARETE.
Ich gehör' dazu! Ich hab' das Dichten nicht aufgegeben.
KLEMENS.
Inwiefern?
MARGARETE.

Das ist doch sehr einfach: ich schreib' eben noch immer – oder ich habe wenigstens was geschrieben. Ja, so etwas ist stärker, als andere Menschen begreifen können. Ich glaub', ich wäre zu Grund gegangen, wenn ich nicht geschrieben hätte.

KLEMENS.
Also was hast du denn schon wieder geschrieben?
MARGARETE.

Einen Roman. Ich hatte zuviel auf dem Herzen. Ich wäre daran erstickt. Bis heut hab' ich dir's verschwiegen; endlich muß es doch heraus. Künigel ist entzückt davon.

KLEMENS.
Wer ist Künigel?
MARGARETE.
Mein Verleger.
KLEMENS.
Es hat ihn also schon wer gelesen?
MARGARETE.
Ja. Und noch viele werden ihn lesen. Klemens, du wirst stolz sein – glaube mir!
KLEMENS.

Du irrst dich, liebes Kind. Ich finde das von dir ... Was kommen denn eigentlich für Sachen drin vor?

MARGARETE.

Das läßt sich nicht so leichthin sagen. Der Roman enthält sozusagen das meiste, was über das meiste zu sagen ist.

KLEMENS.
Alle Achtung!
MARGARETE.

Und darum kann ich dir auch versprechen, daß ich von nun an keine Feder mehr anrühre. Es ist nicht mehr notwendig.

KLEMENS.
Hast du mich lieb, Margarete, oder nicht?
MARGARETE.

Wie kannst du fragen? Dich, nur dich! Soviel ich auch beobachtet, soviel ich auch gesehen habe – erlebt hab' ich nichts. Ich habe auf dich gewartet.

KLEMENS.
Also bring ihn herein, deinen Roman.
MARGARETE.
Ja, wieso? wie meinst du das?
[744]
KLEMENS.

Daß du ihn hast schreiben müssen – gut; aber lesen soll ihn wenigstens keiner. Bring ihn her, wir wollen ihn ins Feuer werfen.

MARGARETE.
Kle!
KLEMENS.
Das verlang' ich von dir – das darf ich verlangen!
MARGARETE.
Ja, das ist nicht möglich! Das ist –
KLEMENS.

Weshalb? Wenn ich es wünsche, wenn ich erkläre, daß ich davon alles weitere abhängig mache ... Du verstehst mich ... wird es vielleicht doch möglich sein!

MARGARETE.
Aber Klemens, der Roman ist ja schon gedruckt.
KLEMENS.
Wie? gedruckt?
MARGARETE.
Ja! In wenigen Tagen wird er überall zu haben sein.
KLEMENS.
Margarete – und alles das, ohne daß du mir vorher ein Wort ...
MARGARETE.

Klemens, ich hab' nicht anders können. Wenn er erst da ist, wirst du mir verzeihen! Mehr als das: – Du wirst stolz sein!

KLEMENS.
Liebes Kind, das geht übern Spaß!
MARGARETE.
Klemens.
KLEMENS.
Adieu, Margarete.
MARGARETE.
Klemens, was heißt das – du gehst?
KLEMENS.
Wie du siehst.
MARGARETE.
Wann kommst du wieder?
KLEMENS.
Das kann ich in diesem Augenblick noch nicht sagen. Adieu.
MARGARETE.
Klemens! Will ihn halten.
KLEMENS.
Ich bitte. Ab.
MARGARETE
allein.

Klemens! Was bedeutet das? Er verläßt mich? Was soll ich denn tun? – Klemens! – Alles soll zu Ende sein? Nein, es ist ja nicht möglich! Klemens! – Ich muß ihm nach! Sie sucht nach ihrem Hut – Klingel. Ah! er kommt zurück! Er hat mir nur Angst machen wollen. – Oh, mein Klemens! Zur Türe.

GILBERT
tritt ein.

Zu dem Stubenmädchen, das die Tür geöffnet hat. Ich sagte Ihnen ja, daß die gnädige Frau zu Hause ist. – Guten Tag, Margarete.

MARGARETE
betreten.
Sie sind es?
GILBERT.
Ich bin es – ich, Amandus Gilbert.
MARGARETE.
Ich bin ja so erstaunt ...
GILBERT.

Das seh' ich. Aber es liegt kein Grund vor. Ich befinde mich hier nur auf der Durchreise; ich fahre nach Italien. Und eigentlich komme ich nur zu dir, um dir in Erinnerung alter [745] Kameradschaft mein neuestes Werk zu bringen. Überreicht ihr das Buch. Da sie es nicht gleich nimmt, legt er es auf den Tisch.

MARGARETE.
Sie sind sehr liebenswürdig, ich danke Ihnen.
GILBERT.
Bitte. Du hast ein gewisses Anrecht auf dieses Buch. – Also hier wohnst du.
MARGARETE.
Jawohl. Aber ...
GILBERT.

Übergangsstadium, ich weiß. Für ein möbliertes Zimmer sieht es leidlich genug aus. Allerdings, diese Familienporträts an den Wänden würden mich wahnsinnig machen.

MARGARETE.
Meine Hauswirtin ist die Witwe eines Generals.
GILBERT.
Du brauchst dich nicht zu entschuldigen.
MARGARETE.
Entschuldigen? Fällt mir wahrhaftig nicht ein.
GILBERT.
Es ist sonderbar, jetzt daran zu denken ...
MARGARETE.
Woran denken Sie?
GILBERT.

Warum soll ich's nicht sagen? An das kleine Zimmer in der Steinsdorfer Straße, mit dem Balkon auf die Isar. Erinnerst du dich, Margarete?

MARGARETE.
Wollen wir nicht lieber beim »Sie« bleiben?
GILBERT.

Wie du willst ... wie Sie wollen, Margarete. Pause. Plötzlich. Sie haben sich jämmerlich benommen, Margarete.

MARGARETE.
Was?!
GILBERT.

Oder wünschen Sie, daß ich in Umschreibungen rede? Ich finde leider kein anderes Wort. – Und es war so überflüssig, Margarete. Mit der Ehrlichkeit war' es ebensogut gegangen. Es war gar nicht notwendig, München bei Nacht und Nebel zu verlassen.

MARGARETE.

Es war weder Nacht noch Nebel. Ich bin um acht Uhr dreißig früh bei hellem Sonnenschein mit dem Expreß abgereist.

GILBERT.
Immerhin, man hätte sich vorher Lebewohl sagen können, nicht wahr? Setzt sich.
MARGARETE.
Der Baron kann jeden Augenblick kommen.
GILBERT.

Was tut das? Sie haben ihm gewiß nicht gesagt, daß Sie einst in meinen Armen gelegen sind und mich angebetet haben. Ich bin eben ein guter Bekannter aus München. Und ein guter Bekannter darf Sie wohl besuchen?

MARGARETE.
Jeder andere, Sie nicht!
GILBERT.

Weshalb? Sie mißverstehen mich noch immer. Ich komme wirklich nur als guter Bekannter. Alles andere ist vorbei, längst vorbei ... Na, Sie werden ja sehen. Deutet auf sein Buch.

[746]
MARGARETE.
Was ist denn das?
GILBERT.
Mein neuester Roman.
MARGARETE.
Sie schreiben Romane?
GILBERT.
Allerdings.
MARGARETE.
Seit wann können Sie denn das?
GILBERT.
Wie meinen Sie?
MARGARETE.

Ach Gott, ich erinnere mich, daß Ihr eigentliches Gebiet die kleine Skizze, die Beobachtung alltäglicher Vorkommnisse ...

GILBERT
aufgeregt.

Mein Gebiet? ... Mein Gebiet ist die Welt! Ich schreibe, was mir beliebt! Ich lasse mich nicht umgrenzen. Ich weiß nicht, was mich abhalten sollte, einen Roman zu schreiben!

MARGARETE.
Nun, die Ansicht der maßgebenden Kritik war ja doch ...
GILBERT.
Wer ist maßgebend?
MARGARETE.
Ich erinnere mich zum Beispiel an ein Feuilleton von Neumann in der Allgemeinen ...
GILBERT
wütend.
Neumann ist ein Kretin! Ich habe ihn geohrfeigt!
MARGARETE.
Sie haben ihn ...?
GILBERT.

Innerlich hab' ich ihn geohrfeigt! Du warst damals ebenso empört wie ich. Wir waren vollkommen einig, daß Neumann ein Kretin sei. »Wie darf dieses Nichts wagen ...« das waren deine Worte, »dir Grenzen abzustecken! Wie darf er es wagen, dein nächstes Buch sozusagen im Mutter leib zu erwürgen?« Du hast es gesagt! Und heute berufst du dich auf diesen Literaturhausierer!

MARGARETE.
Ich bitte, schreien Sie doch nicht. Meine Hauswirtin ...
GILBERT.
Es ist nicht mein Amt, mich um Generalswitwen zu kümmern, wenn meine Nerven vibrieren.
MARGARETE.
Ja, was hab' ich denn gesagt? Ich kann Ihre Empfindlichkeit wahrhaftig nicht begreifen.
GILBERT.

Empfindlich? Du nennst mich empfindlich? Du? Ein Weib, das die schwersten Schüttelfröste bekam, wenn der kleinste Schmock im letzten Käseblatt ein böses Wort auszusprechen wagte?

MARGARETE.
Ich erinnere mich nicht, daß über mich je ein böses Wort erschienen wäre!
GILBERT.
So? – Übrigens magst du recht haben. Gegen hübsche Weiber ist man immer galant.
[747]
MARGARETE.
Galant? Aus Galanterie hat man meine Gedichte gelobt? Und dein eigenes Urteil ...?
GILBERT.

Meines? Ich brauche nichts davon zurückzunehmen; ich erlaube mir nur zu bemerken, daß du deine paar hübschen Gedichte in unserer Zeit geschrieben hast.

MARGARETE.
Und so rechnest du sie wohl dir zum Verdienst an?
GILBERT.
Hättest du sie geschrieben, wenn ich nicht gewesen wäre? Sind sie nicht an mich?
MARGARETE.
Nein!
GILBERT.
Wie? Nicht an mich? Es ist ungeheuerlich!
MARGARETE.
Nein, sie sind nicht an dich!
GILBERT.

Ich stehe starr! Soll ich dich an die Situationen erinnern, in welchen deine schönsten Verse entstanden sind?

MARGARETE.
Sie waren an ein Ideal gerichtet ...
GILBERT
deutet auf sich.
MARGARETE.
... dessen zufälliger Vertreter auf Erden du warst.
GILBERT.

Ha! kostbar! Woher hast du das? Weißt du, wie der Franzose in einem solchen Falle sagt? »Cest de la littérature!«

MARGARETE
ihm nachäffend.

Ce n'est pas de la littérature! Das ist wahr, vollkommen wahr! Oder glaubst du im Ernst, daß ich dich mit dem schlanken Jüngling gemeint? Daß ich deine Locken besungen habe? – Du bist schon damals dick gewesen – und das waren doch niemals Locken! Sie fährt ihm in die Haare.

GILBERT
er greift bei dieser Gelegenheit ihre Hand und küßt sie.
MARGARETE weicher. Was fällt dir ein!
GILBERT.

Damals hast du sie dafür gehalten. Oder hast sie wenigstens so genannt. Nun ja, was tut man nicht alles für den Vers, für den Wohlklang! Hab' ich dich nicht einmal in einem Sonett »mein kluges Mädchen« genannt? Dabei warst du weder ... Aber nein, ich will nicht ungerecht sein – klug bist du ja gewesen, beschämend klug, widerwärtig klug! Das ist dir gelungen! Im übrigen: wundern muß man sich nicht; du warst ja immer ein Snob. Ach Gott! Jetzt hast du ja deinen Willen. Du hast ihn eingefangen, deinen adeligen Jüngling mit den wohlgepflegten Händen und dem ungepflegten Gehirn, den vortrefflichen Reiter, Fechter, Schützen, Tennisspieler, Herzensbrecher – die Marlitt hätt' ihn nicht ekliger erfinden können. Ja, was willst du denn mehr? Ob dir das auf die Dauer genügen wird, dir, die einmal Höheres gekannt hat, das ist freilich eine andere Frage. Ich kann dir nur sagen: für mich bist du eine Herabgekommene der Liebe.

[748]
MARGARETE.
Das ist dir auf der Eisenbahn eingefallen.
GILBERT.
Soeben ist es mir eingefallen, in diesem Augenblick!
MARGARETE.
So schreib's dir auf, es ist ein gutes Wort.
GILBERT.

Ich hab' noch eins für dich: Früher warst du Weib, jetzt bist du Weibchen. Ja, das bist du! Was hat dich denn zu einem Menschen von dieser Sorte hingelockt? Nichts als der Trieb, der ganz gemeine Trieb!

MARGARETE.
Ich bitte dich, du hast Ursache –!
GILBERT.
Liebes Kind, ich hatte doch jederzeit auch eine Seele bei der Hand.
MARGARETE.
Zuweilen ausschließlich –
GILBERT.

Versuche jetzt nicht, unser Verhältnis herabzuziehen – es wird dir nicht gelingen. Es bleibt das Herrlichste, was du erlebt hast.

MARGARETE.
Ach Gott, wenn ich denke, daß ich dieses Gewäsch ein Jahr lang ertragen habe.
GILBERT.

Ertragen? Du hast dich daran berauscht! Sei nicht undankbar – ich bin es auch nicht. Wie erbärmlich du dich am Ende auch benommen hast, mir kann es die Erinnerung nicht vergällen. Ich will noch mehr sagen: auch das hat dazu gehört.

MARGARETE.
Was du nicht sagst!
GILBERT.

Nämlich – diese Erklärung bin ich dir noch schuldig; höre! Gerade zu der Zeit, als du begannst, dich von mir abzuwenden, als du das Heimweh nach dem Stall bekamst – la nostalgie de l'écurie – gerade damals war ich soeben mit dir innerlich fertig geworden.

MARGARETE.
Nicht möglich!
GILBERT.

Es ist charakteristisch, daß du davon nicht das geringste bemerkt hast. – Fertig war ich mit dir, ja! Ich hab' dich einfach nicht mehr gebraucht. Was du mir geben konntest, hattest du mir gegeben – dein Amt war erfüllt. Du wußtest in den Tiefen deiner Seele – du wußtest unbewußt ...

MARGARETE.
Ich bitt' dich, sprüh' nicht so!
GILBERT
unbeirrt.

Daß deine Zeit um war. Unser Verhältnis hat seinen Zweck erfüllt: ich bereue es nicht, dich geliebt zu haben.

MARGARETE.
Aber ich!
GILBERT.

Vortrefflich! In dieser kleinen Bemerkung spricht sich für den Kenner nicht weniger aus, als der tiefe Wesensunterschied zwischen dem Künstler und dem Dilettanten. Für dich, [749] Margarete, ist unser Verhältnis heute nicht mehr als die Erinnerung an ein paar tolle Nächte, an ein paar tiefgründige Gespräche in den Alleen des englischen Gartens, ich habe es zum Kunstwerk gemacht.

MARGARETE.
Ich auch.
GILBERT.
Wieso? wie meinst du das?
MARGARETE.

Was du triffst, bei Gott! das treff' ich auch! Auch ich habe einen Roman geschrieben, in den unsre einstigen Beziehungen hineinspielen, auch ich habe unsere einstige Liebe – oder was wir so nannten – der Ewigkeit aufbewahrt.

GILBERT.

Von der Ewigkeit würd' ich an deiner Stelle doch nicht reden, bevor die zweite Auflage erschienen ist.

MARGARETE.
Nun, es hat doch was anderes zu bedeuten, wenn ich einen Roman schreibe, als wenn du es tust.
GILBERT.
Das dürfte stimmen.
MARGARETE.

Denn du bist ein freier Mann, du brauchst dir die Stunden nicht zu stehlen, in denen du Künstler sein darfst, und du setzt nicht deine Zukunft aufs Spiel.

GILBERT.
Und du?
MARGARETE.

Ich hab' es getan! Vor einer halben Stunde hat mich Klemens verlassen, weil ich ihm gestand, daß ich einen Roman geschrieben habe.

GILBERT.
Verlassen? Auf immer?
MARGARETE.

Ich weiß nicht. Auch das ist möglich. Er ist im Zorn fortgegangen. Er ist unberechenbar. Was er über mich beschließen wird, kann ich nicht voraussehen.

GILBERT.

So! Also er verbietet dir zu schreiben! Er duldet nicht, daß seine Geliebte gewissermaßen von ihrem Gehirn Gebrauch macht! Ah, vortrefflich! Das ist die Blüte der Nation! So – ja! Und du, du schämst dich nicht, in den Armen eines solchen Idioten dasselbe zu empfinden, was du einst ...

MARGARETE.
Ich verbiete dir, so über ihn zu reden! Du verstehst ihn ja nicht!
GILBERT.
Ha!
MARGARETE.

Du weißt ja nicht, warum er dagegen ist, daß ich dichte! Nur aus Liebe! Er fühlt es, daß ich da in einer Welt lebe, die für ihn verschlossen ist, er schämt sich für mich, daß ich das Innerste meiner Seele vor Unberufenen ausbreite, er will mich für sich allein, ganz allein haben; und darum ist er fortgestürzt ... nein, nicht gestürzt, denn Klemens gehört nicht zu den Männern, welche fortstürzen ...

[750]
GILBERT.

Gut beobachtet. Aber fort ist er doch. Über das Tempo wollen wir nicht diskutieren. Und er ist fort, weil er nicht duldet, daß du deinem Schaffensdrang nachgibst.

MARGARETE.

Ja, wenn er auch das noch verstünde! Aber das gibt's offenbar nicht. Ich könnte ja die beste, die treueste, die edelste Frau von der Welt sein, wenn es nur den richtigen Mann auf der Welt gäbe!

GILBERT.
Jedenfalls drückst du damit aus, daß auch er nicht der
Rechte ist.
MARGARETE.
Das hab' ich nicht gesagt!
GILBERT.

So begreife doch, daß er dich einfach knechtet, zugrunde richtet, dein ureigenes Ich aus Egoismus zu ruinieren sucht. Denke doch an die Margarete, die du einmal warst! Denke an die Freiheit, in der du dich entwickeln durftest, da du mich liebtest! Denke an die erlesenen Menschen, mit denen du damals verkehrtest, denke an die Jünger, die sich um mich versammelten und die auch die deinen waren. Sehnst du dich nicht manchmal zurück? Denkst du nicht an dein kleines Zimmer mit dem Balkon – unten rauschte die Isar – Er hat ihre Hände gefaßt und drängt sich an sie.

MARGARETE.
O Gott!
GILBERT.

Es kann wieder so werden; es braucht ja nicht die Isar zu sein. – Ich will dir einen Vorschlag machen, Margarete. Sag' ihm, wenn er wiederkommen sollte, daß du in München noch einiges Dringende zu besorgen hättest, und verbringe diese Zeit mit mir. Margarete, du bist ja so schön! Wir wollen wieder glücklich sein wie einst, Margarete! Erinnerst du dich? Ganz nahe. »An deinem Halse häng' ich trunken ...«

MARGARETE
rasch von ihm weg.
Fort! fort! Nein, nein! Fort sag' ich! Ich liebe dich ja nicht mehr!
GILBERT.
O! Hm ... So? Na, da bitt' ich also um Entschuldigung. Pause. Adieu, Margarete. Adieu.
MARGARETE.
Adieu.
GILBERT.

Adieu. Sich noch einmal wendend. Willst du mir nicht wenigstens zum Abschied deinen Roman geben, wie ich dir den meinen gegeben habe?

MARGARETE.
Er ist noch nicht erschienen. Erst in der nächsten Woche wird er zu haben sein.
GILBERT.
Wenn ich fragen darf: was ist es denn eigentlich für eine Art von Roman?
[751]
MARGARETE.
Der Roman meines Lebens. Selbstverständlich so verhüllt, daß ich nicht zu erkennen bin.
GILBERT.
So? Wie hast du denn das gemacht?
MARGARETE.
Sehr einfach. Die Heldin ist vor allem keine Dichterin, sondern eine Malerin –
GILBERT.
Das ist sehr schlau.
MARGARETE.

Ihr erster Mann ist kein Baumwollfabrikant, sondern ein großer Spekulant – auch betrügt sie ihn nicht mit einem Tenor ...

GILBERT.
Haha!
MARGARETE.
Warum lachst du denn?
GILBERT.
Du hast ihn also mit einem Tenor betrogen? Das hab' ich gar nicht gewußt.
MARGARETE.
Wer sagt denn das?
GILBERT.
Du hast es mir soeben mitgeteilt.
MARGARETE.
Wieso denn? – Ich sage: die Heldin meines Buches betrügt ihren Mann mit einem Bariton.
GILBERT.
Baß wäre großartiger – Mezzosopran pikanter.
MARGARETE.

Dann geht sie nicht nach München, sondern nach Dresden, und dort hat sie ein Verhältnis mit einem Bildhauer.

GILBERT.
Das bin also ich ... verschleiert?
MARGARETE.
Sehr verschleiert. Der Bildhauer ist nämlich jung, schön und ein Genie. Trotzdem verläßt sie ihn.
GILBERT.
Wegen ...?
MARGARETE.
Rate!
GILBERT.
Vermutlich wegen eines Jockeis?
MARGARETE.
Schaf!
GILBERT.
Wegen eines Grafen? – Wegen eines Fürsten?
MARGARETE.
Nein, es ist ein Erzherzog!
GILBERT
sich verbeugend.
Du hast wirklich keine Kosten gescheut.
MARGARETE.

Ja, ein Erzherzog, der um ihretwillen den Hof verläßt, sie heiratet und mit ihr nach den Kanarischen Inseln auswandert.

GILBERT.
Kanarische Inseln – sind sehr fein! Und dann –?
MARGARETE.
Mit der Landung in ...
GILBERT.
Kanarien –
MARGARETE.
– schließt der Roman.
GILBERT.
So. Ich bin sehr gespannt, – besonders auf die Verschleierung.
MARGARETE.
Du selbst würdest mich nicht erkennen, wenn –
GILBERT.
Nun, wenn –?
[752]
MARGARETE.
Wenn nicht im drittletzten Kapitel unser ganzer Briefwechsel enthalten wäre!
GILBERT.
Was?!
MARGARETE.
Ja – alle Briefe, die du mir und die ich dir geschrieben habe, sind in den Roman aufgenommen.
GILBERT.
Ja, entschuldige – woher hattest du denn die deinen an mich? Die hab' doch ich!
MARGARETE.
Ja, ich hatte sie mir doch früher immer aufgesetzt.
GILBERT.
Aufgesetzt!?
MARGARETE.
Ja.
GILBERT.

Aufgesetzt – diese Briefe an mich, die wie in zitternder Eile hingeworfen schienen. »Noch ein Wort, Geliebter, eh' ich schlafen gehe, mir fallen die Augen zu ...« und dann, wenn dir die Augen zugefallen waren, hast du ihn ins Reine geschrieben?!

MARGARETE.
Nun, beklagst du dich vielleicht darüber?
GILBERT.

Ich hätt' es ahnen können. Ich muß ja noch froh sein, daß sie nicht einem Briefsteller für Liebende entnommen waren. Oh, wie bricht alles zusammen! Die ganze Vergangenheit ein Trümmerhaufen! ... Sie hat ihre Briefe aufgesetzt.

MARGARETE.

So sei doch froh. Wer weiß, ob meine Briefe an dich nicht das einzige sind, was von dir übrigbleiben wird.

GILBERT.
Und nebstbei ist das eine äußerst fatale Geschichte.
MARGARETE.
Warum denn?
GILBERT
auf sein Buch deutend.
Da drin sind sie nämlich auch.
MARGARETE.
Was?! Wo?
GILBERT.
In meinem Roman.
MARGARETE.
Was ist da drin?
GILBERT.
Unsere Briefe – deine und meine.
MARGARETE.

Woher hast du denn die deinen gehabt? Die hab' doch ich! – Ah, siehst du, du hast sie auch aufgesetzt!

GILBERT.

O nein, ich hab' sie nur abgeschrieben, bevor ich sie an dich absandte. Sie sollten nicht verloren gehen. Es sind sogar einige drin, die du gar nicht bekommen hast, die viel zu schön für dich waren, die du gar nicht verstanden hättest.

MARGARETE.

Ja, um Gottes willen, wenn es so ist ... In Gilberts Buch blätternd. Ja, es ist so! Ja, das ist doch ganz dasselbe, als wenn wir der Welt erzählten, daß wir zwei ... Um Himmels willen ...Aufgeregt blätternd. Ist am Ende auch der Brief aufgenommen, den du mir am Morgen nach der ersten Nacht ...

GILBERT.
Natürlich, der war doch glänzend.
[753]
MARGARETE.

Aber das ist ja entsetzlich! Es wird ein europäischer Skandal! Und Klemens, um Gottes willen! Ich fange an zu wünschen, daß er nicht mehr zurückkommt! Ich bin ja verloren! Und du mit mir! Wo immer du sein magst, er wird dich zu finden wissen, er wird dich niederschießen wie einen tollen Hund!

GILBERT
steckt sein Buch ein.
Abgeschmackter Vergleich.
MARGARETE.

Wie konntest du nur auf diese irrsinnige Idee kommen! Briefe einer Frau, die du angeblich geliebt hast ... Man sieht doch gleich, daß du kein Gentleman bist!

GILBERT.
Das find' ich aber köstlich! Hast du nicht dasselbe getan?
MARGARETE.
Ich bin eine Frau.
GILBERT.
Jetzt berufst du dich darauf!
MARGARETE.

Es ist wahr, ich habe dir nichts vorzuwerfen. Wir sind einander würdig. Ja, Klemens hat recht. Ärger als die Weiber beim Ronacher sind wir, die sich in Trikots hinausstellen. Unsere geheimsten Seligkeiten, unsere Schmerzen, alles stellen wir aus! Pfui! pfui! mich ekelt ja vor mir! Wir zwei gehören zusammen. Klemens hätte recht, wenn er mich davonjagt. Plötzlich. Komm, Amandus!

GILBERT.
Was willst du denn?
MARGARETE.
Ich nehme deinen Vorschlag an ...
GILBERT.
Was für einen Vorschlag?
MARGARETE.
Ich fliehe mit dir! Sie sucht nach Hut und Mantel.
GILBERT.
Was fällt dir ein? Was tust du denn?
MARGARETE
sehr erregt steckt sich den Hut fest.

Es kann wieder so werden wie einst, du hast es gesagt: es braucht nicht die Isar zu sein – nun, ich bin bereit!

GILBERT.

Das ist ja vollkommen verrückt! Fliehen – was heißt denn das? Sagtest du nicht selbst, er wird mich überall zu finden wissen? Wenn du bei mir bist, findet er dich auch. Es wäre viel klüger, wenn jeder für sich allein ...

MARGARETE.

Elender, jetzt willst du mich im Stich lassen?! Und vor wenigen Minuten bist du vor mir auf den Knien gelegen? Schämst du dich nicht?

GILBERT.
Weshalb? Ich bin ein kranker, nervöser Mensch ... ich bin Stimmungen unterworfen ...
MARGARETE
am Fenster, schreit.
GILBERT.
Was hast du denn? Was wird die Generalswitwe von mir denken?
[754]
MARGARETE.
Er ist's, er kommt!
GILBERT.
Nun ...
MARGARETE.
Was, du willst gehen?
GILBERT.
Ich hatte nie die Absicht, dem Herrn Baron einen Besuch zu machen.
MARGARETE.
Er trifft dich auf der Treppe. Das wäre noch ärger. Bleibe! ich werde nicht allein das Opfer sein!
GILBERT.

So sei doch nicht verrückt. Warum zitterst du denn so? Er kann doch nicht beide Romane gelesen haben. Komm doch zu dir! Leg' den Hut ab! Fort mit dem Mantel! Ist ihr behilflich. Wenn er dich in dieser Verfassung sieht, muß er ja ahnen ...

MARGARETE.

Das ist mir egal – lieber gleich, als später. Ich ertrag' es nicht, das Entsetzliche abzuwarten, ich sag' ihm sofort alles.

GILBERT.
Alles?!
MARGARETE.

Ja, solang du noch da bist. Wenn ich ihm jetzt ehrlich alles eingestehe, wird er mir vielleicht verzeihen!

GILBERT.

Und ich – und ich?! Ich habe doch wohl noch was Gescheiteres auf der Welt zu tun, als mich von einem eifersüchtigen Baron niederschießen zu lassen wie einen tollen Hund! Klingel.

MARGARETE.
Er ist's! er ist's!
GILBERT.
Du wirst nichts reden!
MARGARETE.
Ich werde reden!
GILBERT.
So?! Nun, gib acht! So werde ich meine Haut wenigstens teuer verkaufen.
MARGARETE.
Was willst du tun?
GILBERT.
Ich werde ihm Wahrheiten ins Gesicht schleudern, wie sie noch nie ein Baron gehört hat.
KLEMENS
tritt ein; etwas befremdet, sehr kühl und höflich.
Oh, Herr Gilbert, wenn ich nicht irre?
GILBERT.

Jawohl, Herr Baron. Auf einer Reise nach dem Süden begriffen, konnte ich mir nicht versagen, der gnädigen Frau meine Aufwartung zu machen.

KLEMENS.

Ach so. Pause. Ich scheine eine Unterhaltung unterbrochen zu haben, was mir sehr leid täte. Ich bitte, sich nicht stören zu lassen.

GILBERT.
Wovon sprachen wir doch eben, gnädige Frau?
KLEMENS.

Vielleicht kann ich Ihrer Erinnerung zu Hilfe kommen? In München haben Sie wenigstens immer von Ihren Büchern gesprochen ...

[755]
GILBERT.
Ah, sehr gut. Ich habe tatsächlich von meinem neuen Roman ...
KLEMENS.

Bitte, fahren Sie fort. Man kann jetzt auch mit mir über Literatur reden. Nicht wahr, Margarete? – Ist es ein naturalistischer Roman? ein symbolischer? erlebt? stilisiert?

GILBERT.
Ach Gott, in gewissem Sinn schreiben wir ja alle nur Selbsterlebtes.
KLEMENS.
Ah, das ist aber interessant.
GILBERT.

Selbst wenn einer einen Nero schreibt, so ist es dazu unumgänglich notwendig, daß er Rom innerlich angezündet hat ...

KLEMENS.
Natürlich.
GILBERT.

Woher soll man schließlich Inspirationen nehmen als aus sich selbst? Woher Modelle als aus dem Leben ringsum;

MARGARETE
immer unruhiger.
KLEMENS.

Es ist nur schade, daß die Modelle selbst so selten darum gefragt werden. Ich muß schon sagen, wenn ich eine Frau wäre, ich tät' mich bedanken, daß man den Leuten erzählt ... Scharf. In anständiger Gesellschaft nennt man das, eine Frau kompromittieren!

GILBERT.

Ich weiß nicht, ob ich mich zur anständigen Gesellschaft rechnen darf, aber ich nenne das, eine Frau adeln.

KLEMENS.
Oh!
GILBERT.

Das Wesentliche ist nur, ob's einer trifft! Denn was liegt in höherm Sinn daran, daß man von einer Frau weiß, ob sie in diesem oder jenem Bett glücklich gewesen ist.

KLEMENS.
Herr Gilbert, ich mache Sie darauf aufmerksam, daß Sie vor einer Dame reden!
GILBERT.
Ich rede vor einer Kameradin, Herr Baron, die meine Ansicht über diese Dinge teilen dürfte.
KLEMENS.
Oh!
MARGARETE
plötzlich.
Klemens! Zu seinen Füßen. Klemens!
KLEMENS
betreten.
Aber ... aber Margarete! ...
MARGARETE.
Verzeihung, Klemens!
KLEMENS.

Aber Margarete. Zu Gilbert. Es ist mir in hohem Grade peinlich, Herr Gilbert ... So steh doch auf, Margarete! Steh auf – es ist ja schon alles gut!

MARGARETE
blickt zu ihm auf.
KLEMENS. Ja. – Steh auf.
MARGARETE
Steht auf.
KLEMENS.

Es ist alles gut, es ist schon in Ordnung. Na ja, wenn ich dir sag'. Du brauchst nur noch ein Wort an Künigel hin [756] zu telephonieren. Ich hab' schon alles mit ihm ausgemacht. Wir lassen ihn einstampfen. Ist's dir recht?

GILBERT.
Wen lassen die Herrschaften einstampfen, wenn ich fragen darf? Am Ende den Roman der gnädigen Frau?
KLEMENS.

Ach, Sie wissen schon? Jedenfalls scheint es, Herr Gilbert, daß es mit der Kameradschaft nicht so weit her ist.

GILBERT.

Ja. Es bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, als um Entschuldigung zu bitten. Ich bin wahrhaftig beschämt.

KLEMENS.

Ich bedaure sehr, daß Sie einer Szene beiwohnen mußten, Herr Gilbert, die ich beinah schon eine häusliche nennen möchte.

GILBERT.

Oh! – Ich will auch nicht weiter lästig fallen. Gnädige Frau – Herr Baron – Darf ich mir nun erlauben, als äußeres Zeichen, daß jedes Mißverständnis zwischen uns geschwunden, als schwachen Beweis meiner Sympathie, Ihnen, Herr Baron, meinen Roman zu überreichen?

KLEMENS.

Sie sind sehr liebenswürdig, Herr Gilbert. Ich muß zwar sagen – deutsche Romane sind nicht mein Faible. Na, das ist halt der letzte, den ich lesen werde – oder der vorletzte –

MARGARETE, GILBERT. Der vorletzte?

KLEMENS.
Ja.
MARGARETE.
Und welcher soll denn der letzte sein ...?
KLEMENS.

Deiner, mein Kind. Zieht ein Exemplar aus der Tasche. Ein Exemplar hab' ich mir nämlich von Künigel ausgebeten, um es dir mitzubringen – oder vielmehr – uns beiden.

MARGARETE, GILBERT tauschen ratlos Blicke.

MARGARETE.
Wie gut du bist! ... Den Roman in der Hand. Ja ... er ist's ...
KLEMENS.
Wir wollen ihn zusammen lesen.
MARGARETE.

Nein – Klemens ... nein, ich nehme soviel Güte nicht an – da – Sie wirft das Buch in den Kamin. Ich will von all dem nichts mehr wissen.

GILBERT
hoch erfreut.
Aber gnädige Frau!
KLEMENS
zum Kamin.
Margarete, was tust du denn –?
MARGARETE
vor dem Kamin, Klemens in ihren Armen umfangend.
Glaubst du jetzt, daß ich Dich liebe –
GILBERT
sehr vergnügt.

Es scheint, ich bin hier vollkommen überflüssig ... Gnädige Frau, Herr Baron – Für sich. Daß mir der Schluß entgehen mußte! Ab.


Vorhang.

Notes
Entstanden 1900–1901. Erstdruck: Berlin (Fischer), 1902. Uraufführung am 04.01.1902, Deutsches Theater, Berlin.
License
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Lebendige Stunden. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D975-5