[619] Arthur Schnitzler
Das neue Lied

»Ich bin nicht schuld daran, Herr von Breiteneder ... bitte sehr, das kann keiner sagen!« Karl Breiteneder hörte diese Worte wie von fern an sein Ohr schlagen und wußte doch ganz genau, daß der, der sie sprach, neben ihm einherging – ja, er spürte sogar den Weindunst, in den diese Worte gehüllt waren. Aber er erwiderte nichts. Es war ihm unmöglich, sich in Auseinandersetzungen einzulassen; er war zu müde und zerrüttet von dem furchtbaren Erlebnis dieser Nacht, und es verlangte ihn nur nach Alleinsein und frischer Luft. Darum war er auch nicht nach Hause gegangen, sondern lieber im Morgenwind die menschenleere Straße weiterspaziert, ins Freie hinaus, den bewaldeten Hügeln entgegen, die drüben aus leichten Mainebeln hervorstiegen. Aber ein Schauer nach dem anderen durchlief ihn vom Kopf bis zu den Füßen, und er spürte nichts von der wohligen Frische, die ihn sonst nach durchwachten Nächten in der Frühluft zu durchrieseln pflegte. Er hatte immer das entsetzliche Bild vor Augen, dem er entflohen war.

Der Mann neben ihm mußte ihn eben erst eingeholt haben. Was wollte denn der von ihm? ... warum verteidigte er sich? ... und warum gerade vor ihm? ... Er hatte doch nicht daran gedacht, dem alten Rebay einen lauten Vorwurf zu machen, wenn er auch sehr gut wußte, daß der die Hauptschuld trug an dem, was geschehen war. Jetzt sah er ihn von der Seite an. Wie schaute der Mensch aus! Der schwarze Gehrock war zerdrückt und fleckig, ein Knopf fehlte, die andern waren an den Rändern ausgefranst; in einem Knopfloch steckte ein Stengel mit einer abgestorbenen Blüte. Gestern Abend hatte Karl die Blume noch frisch gesehen. Mit dieser selben Nelke geschmückt, war der Kapellmeister Rebay an einem klappernden Pianino gesessen und hatte die Musik zu sämtlichen Produktionen der Gesellschaft Ladenbauer besorgt, wie er es seit bald dreißig Jahren tat. Das kleine Wirtshaus war ganz voll gewesen, bis in den Garten hinaus standen die Tische und Stühle, denn heute war, wie es mit schwarzen und [620] roten Buchstaben auf großen, gelben Zetteln zu lesen stand: »Erstes Wiederauftreten des Fräulein Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung von schwerem Leiden.«

Karl atmete tief auf. Es war ganz licht geworden, er und der Kapellmeister waren längst nicht mehr die einzigen auf der Straße. Hinter ihnen, auch von Seitenwegen, ja sogar von oben aus dem Walde, ihnen entgegen, kamen Spaziergänger. Jetzt erst fiel es Karl ein, daß heute Sonntag war. Er war froh, daß er keinerlei Verpflichtung hatte, in die Stadt zu gehen, obzwar ihm ja sein Vater auch diesmal einen versäumten Wochentag nachgesehen hätte, wie er es schon oft getan. Das alte Drechslergeschäft in der Alserstraße ging vorläufig auch ohne ihn, und der Vater wußte aus Erfahrung, daß sich die Breiteneders bisher noch immer zur rechten Zeit zu einem soliden Lebenswandel entschlossen hatten. Die Geschichte mit Marie Laden bauer war ihm allerdings nie ganz recht gewesen. »Du kannst ja machen, was du willst,« hatte er einmal milde zu Karl gesagt, »ich bin auch einmal jung gewesen ... aber in den Familien von meine Mädeln hab' ich doch nie verkehrt! Da hab' ich doch immer zu viel auf mich gehalten.«

Hätte er auf den Vater gehört – dachte Karl jetzt – so wäre ihm mancherlei erspart geblieben. Aber er hatte die Marie sehr gern gehabt. Sie war ein gutmütiges Geschöpf, hing an ihm, ohne viel Worte zu machen, und wenn sie Arm in Arm mit ihm spazieren ging, hätte sie keiner für eine gehalten, die schon so manches erlebt hatte. Übrigens ging es bei ihren Eltern so anständig zu wie in einem bürgerlichen Hause. Die Wohnung war nett gehalten, auf der Etagere standen Bücher; öfters kam der Bruder des alten Ladenbauer zu Besuch, der als Beamter beim Magistrat angestellt war, und dann wurde über sehr ernste Dinge geredet: Politik, Wahlen und Gemeindewesen. Am Sonntag spielte Karl oben manchmal Tarock; mit dem alten Ladenbauer und mit dem verrückten Jedek, demselben, der abends im Clownkostüm auf Gläser- und Tellerrändern Walzer und Märsche exekutierte; und wenn er gewann, bekam er sein Geld ohne weiteres ausbezahlt, was ihm in seinem Kaffeehaus durchaus nicht so regelmäßig passierte. In der Nische am Fenster, vor dem Glasbilder mit Schweizer Landschaften hingen, saß die blasse lange Frau Jedek, die abends in der Vorstellung langweilige Gedichte vortrug, plauderte mit der Marie und nickte dazu beinahe ununterbrochen. Marie sah aber zu Karl herüber, grüßte ihn scherzend mit der Hand oder setzte sich zu ihm und schaute ihm in die Karten. Ihr [621] Bruder war in einem großen Geschäft angestellt, und wenn ihm Karl eine Zigarre gab, so revanchierte er sich sofort. Auch brachte er seiner Schwester, die er sehr verehrte, zuweilen von einem Stadtzuckerbäcker etwas zum Naschen mit. Und wenn er sich empfahl, sagte er mit halbgeschlossenen Augen: »Leider daß ich anderweitig versagt bin ...« – Freilich, am liebsten war Karl mit Marie allein. Und er dachte an einen Morgen, an dem er mit ihr denselben Weg gegangen war, den er jetzt ging, dem leise rauschenden Wald entgegen, der dort oben auf dem Hügel anfing. Sie waren beide müde gewesen, denn sie kamen geradenwegs aus dem Kaffeehaus, wo sie bis zum Morgengrauen mit der ganzen Volkssängergesellschaft zusammengesessen waren; nun legten sie sich unter eine Buche am Rand eines Wiesenhanges und schliefen ein. Erst in der heißen Stille des Sommermittags wachten sie auf, gingen noch weiter hinein in den Wald, plauderten und lachten den ganzen Tag, ohne zu wissen warum, und erst spät abends zur Vorstellung brachte er sie wieder in die Stadt ... So schöne Erinnerungen gab es manche, und die beiden lebten sehr vergnügt, ohne an die Zukunft zu denken. Zu Beginn des Winters erkrankte Marie plötzlich. Der Doktor hatte jeden Besuch strenge verboten, denn die Krankheit war eine Gehirnentzündung oder so etwas ähnliches, und jede Aufregung sollte vermieden werden. Karl ging anfangs täglich zu den Ladenbauers, sich erkundigen; später aber, als die Sache sich länger hinzog, nur jeden zweiten und dritten Tag. Einmal sagte ihm Frau Ladenbauer an der Türe: »Also heut' dürfen Sie schon hineinkommen, Herr von Breiteneder. Aber bitt' schön, daß Sie sich nicht verraten.« – »Warum soll denn ich mich verraten?« fragte Karl, »was ist denn g'schehn?« – »Ja, mit den Augen ist leider keine Hilfe mehr.« – »Wieso denn?« – »Sie sieht halt nichts mehr ..., das ist ihr leider Gottes von der Krankheit zurückgeblieben. Aber sie weiß noch nicht, daß es unheilbar ist ... Nehmen Sie sich zusammen, daß sie nichts merkt.« Da stammelte Karl nur ein paar Worte und ging. Er hatte plötzlich Angst, Marie wiederzusehen. Es war ihm, als hätte er nichts an ihr so gern gehabt, als ihre Augen, die so hell gewesen waren und mit denen sie immer gelacht hatte. Er wollte morgen kommen. Aber er kam nicht, nicht am nächsten und nicht am übernächsten Tage. Und immer weiter schob er den Besuch hinaus. Er wollte sie erst wiedersehen, nahm er sich vor, bis sie sich selbst in ihr Schicksal gefunden haben konnte. Dann fügte es sich, daß er eine Geschäftsreise antreten mußte, auf die [622] der Vater schon lange gedrungen hatte. Er kam weit herum, war in Berlin, Dresden, Köln, Leipzig, Prag. Einmal schrieb er an die alte Frau Ladenbauer eine Karte, in der stand: Gleich nach seiner Rückkehr würde er hinaufkommen, und er ließe die Marie schön grüßen. – Im Frühjahr kam er zurück; aber zu den Ladenbauers ging er nicht. Er konnte sich nicht entschließen ... Natürlich dachte er auch von Tag zu Tag weniger an sie und nahm sich vor, sie ganz zu vergessen. Er war ja nicht der erste und nicht der einzige gewesen. Er hörte auch gar nichts von ihr, beruhigte sich mehr und mehr, und aus irgend einem Grunde bildete er sich manchmal ein, daß Marie auf dem Land bei Verwandten lebte, von denen er sie manchmal sprechen gehört hatte.

Da führte ihn gestern abends – er wollte Bekannte besuchen, die in der Nähe wohnten – der Zufall an dem Wirtshaus vorüber, wo die Vorstellungen der Gesellschaft Ladenbauer stattzufinden pflegten. Ganz in Gedanken wollte er schon vorübergehen, da fiel ihm das gelbe Plakat ins Auge, er wußte, wo er war, und ein Stich ging ihm durchs Herz, bevor er ein Wort gelesen hatte. Aber dann, wie er es mit schwarzen und roten Buchstaben vor sich sah: »Erstes Auftreten der Maria Ladenbauer, genannt die ›weiße Amsel‹, nach ihrer Genesung,« da blieb er wie gelähmt stehen. Und in diesem Augenblick stand der Rebay neben ihm, wie aus dem Boden gewachsen: den weißen Strubelkopf unbedeckt, den schäbigen schwarzen Zylinder in der Hand und mit einer frischen Blume im Knopfloch. Er begrüßte Karl: »Der Herr Breiteneder – nein, so was! Nicht wahr, beehren uns heute wieder! Die Fräul'n Marie wird ja ganz weg sein vor Freud', wenn sie hört, daß sich die frühern Freund' doch noch um sie umschau'n. Das arme Ding! Viel haben wir mit ihr ausg'standen, Herr von Breiteneder; aber jetzt hat sie sich derfangt.« Er redete noch eine ganze Menge, und Karl rührte sich nicht, obwohl er am liebsten weit fort gewesen wäre. Aber plötzlich regte sich eine Hoffnung in ihm, und er fragte den Rebay, ob denn die Marie gar nichts sehe – ob sie nicht doch wenigstens einen Schein habe. »Einen Schein?« erwiderte der andere. »Was fällt Ihnen denn ein, Herr von Breiteneder! ... Nichts sieht sie, gar nichts!« Er rief es mit seltsamer Fröhlichkeit. »Alles kohlrabenschwarz vor ihr ... Aber werden sich schon überzeugen, Herr von Breiteneder, hat alles seine guten Seiten, wenn man so sagen darf – und ein Stimme hat das Mädel, schöner als je! ... Na, Sie werden ja seh'n, Herr von Breiteneder. – Und gut is sie – seelengut! Noch viel freundlicher, als [623] sie eh' schon war. Na, Sie kennen sie ja – haha! – Ah, es kommen heut mehrere, die sie kennen ... natürlich nicht so gut wie Sie, Herr von Breiteneder; denn jetzt ist es natürlich vorbei mit die gewissen G'schichten. Aber das wird auch schon wieder kommen! Ich hab' eine gekannt, die war blind und hat Zwillinge gekriegt – haha! – Schauen S', wer da is,« sagte er plötzlich, und Karl stand mit ihm vor der Kassa, an der Frau Ladenbauer saß. Sie war aufgedunsen und bleich und sah ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Sie gab ihm ein Billet, er zahlte, wußte kaum, was mit ihm geschah. Plötzlich aber stieß er hervor: »Nicht der Marie sagen, um Gotteswillen Frau Ladenbauer ... nichts der Marie sagen, daß ich da bin! ... Herr Rebay, nichts ihr sagen!«

»Is schon gut,« sagte Frau Ladenbauer und beschäftigte sich mit anderen Leuten, die Billetts verlangten.

»Von mir kein Wörterl,« sagte Rebay. »Aber nachher, das wird eine Überraschung sein! Da kommen S' doch mit? Großes Fest – hoho! Habe die Ehre, Herr von Breiteneder.« Und er war verschwunden. Karl durchschritt den gefüllten Saal, und im Garten, der sich ohne weiteres anschloß, setzte er sich ganz hinten an einen Tisch, wo vor ihm schon zwei alte Leute Platz genommen hatten, eine Frau und ein Mann. Sie sprachen nichts miteinander, betrachteten stumm den neuen Gast, und nickten einander traurig zu. Karl saß da und wartete. Die Vorstellung begann, und Karl hörte die altbekannten Sachen wieder. Nur schien ihm alles eigentümlich verändert, weil er noch nie so weit vom Podium gesessen war. Zuerst spielte der Kapellmeister Rebay eine sogenannte Ouvertüre, von der zu Karl nur vereinzelte harte Akkorde drangen, dann trat als erste die Ungarin Ilka auf, in hellrotem Kleid, mit gespornten Stiefeln, sang ungarische Lieder und tanzte Czardas. Hierauf folgte ein humoristischer Vortrag des Komikers Wiegel-Wagel; er trat im zeisiggrünen Frack auf, teilte mit, daß er soeben aus Afrika angekommen wäre, und berichtete allerlei unsinnige Abenteuer, deren Abschluß seine Hochzeit mit einer alten Witwe bildete. Dann kam ein Duett zwischen Herrn und Frau Ladenbauer; beide trugen Tiroler Kostüm. Nach ihnen, in schmutziger weißer Clowntracht, folgte der närrische kleine Jedek, zeigte zuerst seine Jongleurkünste, irrte mit riesigen Augen unter den Leuten umher, als wenn er jemanden suchte; dann stellte er Teller in Reihen vor sich auf, hämmerte mit einem Holzstab einen Marsch darauf, ordnete Gläser und spielte auf den Rändern mit feuchten Fingern eine wehmütige Walzermelodie. [624] Dabei sah er zur Decke auf und lächelte selig. Er trat ab, und Rebay hieb wieder auf die Tasten ein, in festlichen Klängen. Ein Flüstern drang vom Saal in den Garten, die Leute steckten die Köpfe zusammen, und plötzlich stand Marie auf dem Podium. Der Vater, der sie hinaufgeführt hatte, war gleich wieder wie hinabgetaucht; und sie stand allein. Und Karl sah sie oben stehen, mit den erloschenen Augen in dem süßen blassen Gesicht; er sah ganz deutlich, wie sie zuerst nur die Lippen bewegte und ein bißchen lächelte. Ohne es selbst zu merken, war er vom Sessel aufgesprungen, lehnte an der grünen Laterne und hätte beinah aufgeschrien vor Mitleid und Angst. – Und nun fing sie an zu singen. Mit einer ganz fremden Stimme, leise, viel leiser als früher. Es war ein Lied, das sie immer gesungen, und das Karl mindestens fünfzigmal gehört hatte, aber die Stimme blieb ihm seltsam fremd, und erst als der Refrain kam »Mich heißens' die weiße Amsel, im G'schäft und auch zu Haus,« glaubte er, den Klang der Stimme wiederzuerkennen. Sie sang alle drei Strophen, Rebay begleitete sie, und nach seiner Gewohnheit blickte er öfters streng zu ihr auf. Als sie zu Ende war, setzte Applaus ein, laut und donnerd. Marie lächelte und verbeugte sich. Die Mutter kam die drei Stufen aufs Podium hinauf, Marie griff mit den Armen in die Luft, als suchte sie die Hände der Mutter, aber der Applaus war so stark, daß sie gleich ihr zweites Lied singen mußte, das Karl auch schon an die fünfzigmal gehört hatte. Es fing an: »Heut' geh' ich mit mein Schatz aufs Land ...«, und Marie warf den Kopf so vergnügt in die Höhe, wiegte sich so leicht hin und her, als wenn sie wirklich mit ihrem Schatz aufs Land gehen, den blauen Himmel, die grünen Wiesen sehen und im Freien tanzen könnte, wie sie's in dem Lied erzählte. Und dann sang sie das dritte, das neue Lied. –

»Hier wäre ein kleines Garterl,« sagte Herr Rebay, und Karl fuhr zusammen. Es war heller Sonnenschein; weit erglänzte die Straße, ringsum war es licht und lebendig. »Da könnt' man sich hineinsetzen,« fuhr Rebay fort, »auf ein Glas Wein; ich hab' schon einen argen Durst – es wird ein heißer Tag.«

»Ob's heiß wird!« sagte irgendwer hinter ihnen. Breiteneder wandte sich um ... Wie, der war ihm auch nachgelaufen? ... Was wollte denn der von ihm? ... Es war der närrische Jedek; man hatte ihn nie anders geheißen, aber es war zweifellos, daß er in der nächsten Zeit ernstlich und vollkommen verrückt werden mußte. Vor ein paar Tagen hatte er seine lange blasse Frau am Leben bedroht, und es war rätselhaft, daß man ihn frei herumlaufen [625] ließ. Jetzt schlich er in seiner zwerghaften Kleinheit neben Karl einher; aus dem gelblichen Gesichte glotzten aufgerissene, unerklärlich lustige Augen ins Weite, auf dem Kopf saß ihm das stadtbekannte, graue weiche Hütel mit der verschlissenen Feder, in der Hand hielt er ein dünnes Spazierstaberl. Und nun, den andern plötzlich voraus, war er in das kleine Gasthausgärtchen hineingehüpft, hatte auf einer Holzbank, die an dem niederen Häuschen lehnte, Platz genommen, schlug mit dem Spazierstock heftig auf den grüngestrichnen Tisch und rief nach dem Kellner. Die beiden anderen folgten ihm. Längs des grünen Holzgitters zog die weiße Straße weiter nach oben, an kleinen, traurigen Villen vorbei, und verlor sich in den Wald.

Der Kellner brachte Wein. Rebay legt den Zylinder auf den Tisch, fuhr sich durch das weiße Haar, rieb sich dann mit beiden Händen nach seiner Gewohnheit die glatten Wangen, schob Jedeks Glas beiseite, und beugte sich über den Tisch zu Karl hin. »Ich bin doch nicht auf'n Kopf g'fallen, Herr von Breiteneder! Ich weiß doch, was ich tu'! ... Warum soll denn ich schuld sein? ... Wissen S', für wen ich Couplets geschrieben hab' in meinen jüngeren Jahren? ... Für'n Matras! Das ist keine Kleinigkeit! Und haben Aufsehen gemacht! Text und Musik von mir! Und viele sind in andere Stück' eingelegt worden!«

»Lassen S' das Glas steh'n,« sägte Jedek und kicherte in sich hinein.

»Ich bitte, Herr von Breiteneder,« fuhr Rebay fort und schob das Glas wieder von sich. »Sie kennen mich doch, und Sie wissen, daß ich ein anständiger Mensch bin! Auch gibt's in meinen Couplets niemals eine Unanständigkeit, niemals eine Zote! ... Und das Couplet, wegen dem der alte Ladenbauer damals is verurteilt worden, war von einem andern! ... Und heut' bin ich achtundsechzig, Herr von Breiteneder – das ist ein Numero! Und wissen S', wie lang ich bei der G'sellschaft Ladenbauer bin? ... Da hat der Eduard Ladenbauer noch gelebt, der die G'sellschaft gegründet hat. Und die Marie kenn' ich von ihrer Geburt an. Neunundzwanzig Jahr bin ich bei die Ladenbauers – im nächsten März hab' ich Jubiläum ... Und ich hab' meine Melodien nicht g'stohlen – sie sind von mir, alles von mir! Und wissen Sie, wie viel man in der Zeit auf die Werkeln g'spielt hat? ... Achtzehn! Net wahr, Jedek? ...«

Jedek lachte immerfort lautlos, mit aufgerissenen Augen. Jetzt hatte er alle drei Gläser vor seinen Platz hingeschoben und begann [626] mit seinen Fingern leicht über die Ränder zu streichen. Es klang fein, ein bißchen rührend, wie ferne Oboen- und Klarinettentöne. Breiteneder hatte diese Kunstfertigkeit immer sehr bewundert, aber in diesem Augenblick vertrug er die Klänge durchaus nicht. An den andern Tischen hörte man zu; einige Leute nickten befriedigt, ein dicker Herr patschte in die Hände. Plötzlich schob Jedek alle drei Gläser wieder fort, kreuzte die Arme und starrte auf die weiße Straße, über die immer mehr und mehr Menschen aufwärts dem Wald entgegenwanderten. Karl flimmerte es vor den Augen, und es war ihm, als wenn die Leute hinter Spinneweben tänzelten und schwebten. Er rieb sich die Stirn und die Lider, er wollte zu sich kommen. Er konnte ja nichts dafür! Es war ein schreckliches Unglück – aber er hatte doch nicht Schuld daran! Und plötzlich stand er auf, denn als er an das Ende dachte, wollte es ihm die Brust zersprengen. »Gehen wir«, sagte er.

»Ja, frische Luft ist die Hauptsache,« entgegnete Rebay.

Jedek war plötzlich böse geworden, kein Mensch wußte, warum. Er stellte sich vor einen Tisch hin, an dem ein friedliches Paar saß, fuchtelte mit seinem Spazierstaberl herum und schrie mit hoher Stimme: »Da soll der Teufel ein Glaserer werden – Himmelsakerment!« Die beiden friedlichen Leute wurden verlegen und wollten ihn beschwichtigen; die übrigen lachten und hielten ihn für betrunken.

Breiteneder und Rebay waren schon auf der weißen Straße, und Jedek, wieder ganz ruhig geworden, kam ihnen nachgetänzelt. Er nahm sein graues Hütel ab, hing es an seinen Spazierstock und hielt den Stock mit dem Hut über die Schultern wie ein Gewehr, während er mit der anderen Hand gewaltige grüßende Bewegungen zum Himmel empor vollführte.

»Sie brauchen nicht zu glauben, daß ich mich entschuldigen will,« sagte Rebay mit klappernden Zähnen. »Oho, hab' gar keine Ursache! Durchaus nicht! Ich hab' die beste Absicht gehabt, und jedermann wird es mir zugestehen. Hab' ich denn das Lied nicht selber mit ihr einstudiert? ... Bitte sehr, jawohl! Ja, noch wie sie mit den verbundenen Augen im Zimmer gesessen is, hab' ich's einstudiert mit ihr ... Und wissen S', wie ich auf die Idee kommen bin? Es ist ein Unglück, hab' ich mir gedacht, aber es ist doch nicht alles verloren. Ihre Stimme hat sie noch, und ihr schönes Gesicht ... Auch der Mutter hab' ich's g'sagt, die ganz verzweifelt war. Frau Ladenbauer, hab' ich ihr gesagt, da ist noch nichts verloren – passen S' nur auf! Und dann, heutzutage, wo es [627] diese Blindeninstitute gibt, wo sie sogar mit der Zeit wieder lesen und schreiben lernen ... Und dann hab' ich einen gekannt – einen jungen Menschen, der ist mit zwanzig Jahren blind worden. Der hat jede Nacht von die schönsten Feuerwerk geträumt, von alle möglichen Beleuchtungen ...«

Breiteneder lachte auf. »Reden S' im Ernst?« fragte er ihn.

»Ach was!« entgegnete Rebay grob, »was wollen Sie denn? Soll ich mich umbringen, ich? ... Warum denn? – Meiner Seel', ich hab' Unglück genug gehabt auf der Welt! – Oder meinen Sie, das ist ein Leben, Herr von Breiteneder, wenn man einmal Theaterstück' geschrieben hat, wie ich als junger Mensch, und man ist mit achtundsechzig schließlich so weit, daß man auf einem elenden Klimperkasten für schäbige paar Kreuzer die heisern Ludern begleiten muß, und ihnen die Couplets schreiben ... Wissen S', was ich für ein Couplet krieg'? ... Sie möchten sich wundern, Herr von Breiteneder!«

»Aber man spielt sie auf dem Werkel,« sagte Jedek, der jetzt ganz ernst und manierlich, ja elegant neben ihnen herging.

»Was wollen denn Sie von mir?« sagte Breiteneder. Es war ihm plötzlich, als verfolgten ihn die beiden, und er wußte nicht, warum. Was hatte er mit den Leuten zu tun? ... Rebay aber sprach weiter: »Eine Existenz hab' ich dem Mädel gründen wollen! ... Verstehen S', eine neue Existenz! ... Grad mit dem neuen Lied! ... Grad mit dem! ... Und ist es vielleicht nicht schön? ... Ist es nicht rührend? ...«

Der kleine Jedek hielt plötzlich Breiteneder am Rockärmel zurück, erhob den Zeigefinger der linken Hand, Aufmerksamkeit gebietend, spitzte die Lippen und pfiff. Er pfiff die Melodie des neuen Liedes, das Marie Ladenbauer, genannt die »weiße Amsel«, heute nachts gesungen hatte. Er pfiff sie geradezu vollendet; denn auch das gehörte zu seinen Kunstfertigkeiten.

»Die Melodie hat's nicht gemacht,« sagte Breiteneder.

»Wieso?« schrie Rebay. – Sie gingen alle rasch, liefen beinahe, trotzdem der Weg beträchtlich anstieg. »Wieso denn, Herr von Breiteneder? ... Der Text ist schuld, glauben S'? ... Ja, um Gottes willen, steht denn in dem Text was anderes, als was die Marie selbst gewußt hat? ... Und in ihrem Zimmer, wie ich's ihr einstudiert hab', hat sie nicht ein einziges Mal geweint. Sie hat g'sagt: ›Das ist ein trauriges Lied, Herr Rebay, aber schön ist's! ...‹ ›Schön ist's,‹ hat sie gesagt ... Ja freilich ist es ein trauriges Lied, Herr von Breiteneder – es ist ja auch ein trauriges [628] Los, was ihr zugestoßen ist. Da kann ich ihr doch kein lustiges Lied schreiben? ...«

Die Straße verlor sich in den Wald. Durch die Äste schimmerte die Sonne; aus den Büschen tönte Lachen, klangen Rufe. Sie gingen alle drei nebeneinander, so schnell, als wollte einer dem andern davonlaufen. Plötzlich fing Rebay wieder an: »Und die Leut' – Kreuzdonnerwetter! – haben sie nicht applaudiert wie verrückt? ... Ich hab's ja im voraus gewußt, mit dem Lied wird sie einen Riesenerfolg haben! – Und es hat ihr auch eine Freud' gemacht ... förmlich gelacht hat sie übers ganze Gesicht, und die letzte Strophe hat sie wiederholen müssen. Und es ist auch eine rührende Strophe! wie sie mir eingefallen ist, sind mir selber die Tränen ins Aug' gekommen – wissen S' wegen der Anspielung auf das andere Lied, das sie immer singt ...« Und er sang, oder er sprach vielmehr, nur daß er die Reimworte immer herausstieß wie einen Orgelton: »Wie wunderschön war es doch früher auf der Welt, – Wo die Sonn' mir hat g'schienen auf Wald und auf Feld, – Wo i Sonntag mit mein' Schatz spaziert bin aufs Land – Und er hat mich aus Lieb' nur geführt bei der Hand. – Jetzt geht mir die Sonn' nimmer auf und die Stern', – Und das Glück und die Liebe, die sind mir so fern!«

»Genug!« schrie Breiteneder, »ich hab's ja gehört!«

»Ist's vielleicht nicht schön?« sagte Rebay und schwang den Zylinder. »Es gibt nicht viele, die solche Couplets machen heutzutag. Fünf Gulden hat mir der alte Ladenbauer gegeben ... das sind meine Honorare, Herr von Breiteneder. Dabei hab' ich's noch einstudiert mit ihr.«

Und Jedek hob wieder den Zeigefinger und sang sehr leise den Refrain: »O Gott, wie bitter ist mir das gescheh'n – Daß ich nimmer soll den Frühling seh'n ...«

»Also warum, frag' ich! ...« rief Rebay. »Warum? ... Gleich nachher war ich doch bei ihr drin ... Ist nicht wahr, Jedek? ...« Und sie ist mit einem glückseligen Lächeln dag'sessen, hat ihr Viertel Wein getrunken, und ich hab' ihr die Haar' gestreichelt und hab' ihr g'sagt: »Na, siehst du, Marie, wie's den Leuten g'fallen hat? Jetzt werden gewiß auch Leut' aus der Stadt zu uns herauskommen; das Lied wird Aufsehen machen ... Und singen tust du's prachtvoll ...« Und so weiter, was man halt so red't, bei solchen Gelegenheiten ... Und der Wirt ist auch hereingekommen und hat ihr gratuliert. Und Blumen hat sie bekommen – von Ihnen waren s' nicht, Herr von Breiteneder ... Und alles [629] war in bester Ordnung ... »Also, warum soll da mein Couplet schuld sein? Das ist ja ein Blödsinn!«

Plötzlich blieb Breiteneder stehen und packte den Rebay bei den Schultern. »Warum haben S' ihr denn gesagt, daß ich da bin? ... Warum denn? ... Hab' ich Sie nicht gebeten, daß Sie's ihr nicht sagen sollen?«

»Lassen S' mich aus! Ich hab' ihr nichts gesagt! Von der Alten wird sie's gehört haben!«

»Nein,« sagte Jedek verbindlich und verbeugte sich, »ich war so frei, Herr von Breiteneder – ich war so frei. Weil ich g'wußt hab', Sie sein da, hab' ich ihr g'sagt, daß Sie da sein. Und weil sie so oft nach Ihnen g'fragt hat, während sie krank war, hab' ich ihr g'sagt: ›Der Herr Breiteneder is da ... hinten bei der Latern' is er g'standen,‹ hab' ich ihr g'sagt, ›und hat sich großartig unterhalten!‹«

»So?« sagte Breiteneder. Es schnürte ihm die Kehle zu, und er mußte die Augen fortwenden von dem starren Blick, den Jedek auf ihn gerichtet hielt. Ermattet ließ er sich auf eine Bank nieder, an der sie eben vorbeikamen, und schloß die Augen. Er sah sich plötzlich wieder im Garten sitzen, und die Stimme der alten Frau Ladenbauer klang ihm im Ohr: »Die Marie laßt Ihnen schön grüßen: ob Sie nicht mit uns mitkommen möchten nach der Vorstellung?« Er erinnerte sich, wie ihm da mit einemmal zumute geworden war, so wunderbar wohl, als hätte ihm die Marie alles verziehen. Er trank seinen Wein aus und ließ sich einen besseren geben. Er trank so viel, daß ihm das ganze Leben leichter vorkam. Geradezu vergnügt sah und hörte er den folgenden Produktionen zu, klatschte wie die anderen Leute, und als die Vorstellung aus war, ging er wohlgelaunt durch den Garten und den Saal ins Extrazimmer des Wirtshauses, an den runden Ecktisch, wo sich die Gesellschaft nach der Vorstellung gewöhnlich versammelte. Einige saßen schon da: der Wiegel-Wagel, Jedek mit seiner Frau, irgend ein Herr mit einer Brille, den Karl gar nicht kannte – alle begrüßten ihn und waren gar nicht besonders erstaunt, ihn wiederzusehen. Plötzlich hörte er die Stimme der Marie hinter sich: »Ich find' schon hin, Mutter, ich kenn' ja den Weg.« Er wagte nicht, sich umzuwenden, aber da saß sie schon neben ihm und sagte: »Guten Abend, Herr Breiteneder – wie geht's Ihnen denn?« Und in diesem Augenblicke erinnerte er sich auch, daß sie seinerzeit zu irgend einem jungen Menschen, der früher einmal ihr Liebhaber gewesen war, später immer »Sie« [630] und »Herr« gesagt hatte. Und dann aß sie ihr Nachtmahl; man hatte ihr alles vorgeschnitten hingesetzt, und die ganze Gesellschaft war heiter und vergnügt, als hätte sich gar nichts geändert. »Gut is' gangen,« sagte der alte Ladenbauer. »Jetzt kommen wieder bessere Zeiten.« Frau Jedek erzählte, daß alle die Stimme der Marie viel schöner gefunden hatten als früher, und Herr Wiegel-Wagel erhob sein Glas und rief: »Auf das Wohl der Wiedergenesenen!« Marie hielt ihr Glas in die Luft, alle stießen mit ihr an, auch Karl rührte mit seinem Glas an das ihre. Da war ihm, als ob sie ihre toten Augen in die seinen versenken wollte, und als könnte sie tief in ihn hineinschauen. Auch der Bruder war da, sehr elegant gekleidet, und offerierte Karl eine Zigarre. Am lustigsten war Ilka; ihr Verehrer, ein junger dicker Mann mit angstvoller Stirn, saß ihr gegenüber und unterhielt sich lebhaft mit Herrn Ladenbauer. Frau Jedek aber hatte ihren gelben Regenmantel nicht abgelegt und schaute in irgend eine Ecke, wo nichts zu sehen war. Zwei- oder dreimal kamen Leute von einem benachbarten Tisch herüber und gratulierten Marie; sie antwortete in ihrer stillen Weise wie früher, als hätte sich nicht das Allergeringste verändert. Und plötzlich sagte sie zu Karl: »Aber warum denn gar so stumm?« Jetzt erst merkte er, daß er die ganze Zeit dagesessen war, ohne den Mund aufzutun. Aber nun wurde er lebhafter als alle, beteiligte sich an der Unterhaltung; nur an Marie richtete er kein Wort. Rebay erzählte von der schönen Zeit, da er Couplets für Matras geschrieben hatte, trug den Inhalt einer Posse vor, die er vor fünfunddreißig Jahren verfertigt hatte, und spielte die Rollen selbst gewissermaßen vor. Insbesondere als böhmischer Musikant erregte er große Heiterkeit. Um eins brach man auf. Frau Ladenbauer nahm den Arm ihrer Tochter. Alle lachten, schrien ... es war ganz sonderbar; keiner fand mehr etwas Besonderes daran, daß um Marie die Welt nun ganz finster war. Karl ging neben ihr. Die Mutter fragte ihn harmlos nach allerlei: wie's zu Hause ginge, wie er sich auf der Reise unterhalten hätte, und Karl erzählte hastig von allerlei Dingen, die er gesehen, insbesondere von den Theatern und Singspielhallen, die er besucht hatte, und wunderte sich nur immer, wie sicher Marie ihren Weg ging, von der Mutter geführt, und wie ruhig und heiter sie zuhörte. Dann saßen sie alle im Kaffeehaus, einem alten, rauchigen Lokal, das um diese Zeit schon ganz leer war; und der dicke Freund der ungarischen Ilka hielt die Gesellschaft frei. Und nun, im Lärm und Trubel ringsum, war Marie ganz [631] nah an Karl gerückt, geradeso wie manchmal in früherer Zeit, so daß er die Wärme ihres Körpers spürte. Und plötzlich fühlte er gar, wie sie seine Hand berührte und streichelte, ohne daß sie ein Wort dazu sprach. Nun hätte er so gern etwas zu ihr gesagt ... irgend was Liebes, Tröstendes – aber er konnte nicht ... Er schaute sie von der Seite an, und wieder war ihm, als sähe ihn aus ihren Augen etwas an; aber nicht ein Menschenblick, sondern etwas Unheimliches, Fremdes, das er früher nicht gekannt – und es erfaßte ihn ein Grauen, als wenn ein Gespenst neben ihm säße ... Ihre Hand bebte und entfernte sich sachte von der seinen, und sie sagte leise: »Warum hast du denn Angst? Ich bin ja dieselbe.« Er vermochte wieder nicht zu antworten und redete gleich mit den anderen. Nach einiger Zeit rief plötzlich eine Stimme: »Wo ist denn die Marie?« Es war die Frau Ladenbauer. Nun fiel allen auf, daß Marie verschwunden war. »Wo ist denn die Marie?« riefen andere. Einige standen auf, der alte Ladenbauer stand an der Tür des Kaffeehauses und rief auf die Straße hinaus: »Marie!« Alle waren aufgeregt, redeten durcheinander. Einer sagte: »Aber wie kann man denn so ein Geschöpf überhaupt allein aufstehen und fortgehen lassen?« Plötzlich drang ein Ruf aus dem Hof des Hauses herein: »Bringt's Kerzen! ... Bringt's Laternen!« Und eine schrie: »Jesus Maria!« Das war wieder die Stimme der alten Frau Ladenbauer. Alle stürzten durch die kleine Kaffeehausküche in den Hof. Die Dämmerung kam schon über die Dächer geschlichen. Um den Hof des einstöckigen alten Hauses lief ein Holzgang, an der Brüstung oben lehnte ein Mann in Hemdärmeln, einen Leuchter mit brennender Kerze in der Hand, und schaute herunter. Zwei Weiber im Nachtkleid erschienen hinter ihm, ein anderer Mann rannte über die knarrende Stiege herunter. Das war es, was Karl zuerst sah. Dann sah er irgend etwas vor seinen Augen schimmern, jemand hielt einen weißen Spitzenschal in die Höhe und ließ ihn wieder fallen. Er hörte Worte neben sich: »Es hilft ja nichts mehr ... sie rührt sich nimmer ... Holt's doch einen Doktor! ... Was ist denn mit der Rettungsgesellschaft? ... Ein Wachmann! Ein Wachmann! ...« Alle flüsterten durcheinander, einige eilten auf die Straße hinaus, der einen Gestalt folgte Karl unwillkürlich mit den Augen; es war die lange Frau Jedek in dem gelben Mantel, sie hielt beide Hände verzweifelt an die Stirn, lief davon und kam nicht zurück ... Hinter Karl drängten Leute. Er mußte mit den Ellbogen nach rückwärts stoßen, um nicht über die Frau Ladenbauer [632] zu stürzen, die auf der Erde kniete, Mariens beide Hände in ihrer Hand hielt, sie hin und her bewegte und dazu schrie: »So red' doch! ... so red' doch! ...« Jetzt kam endlich einer mit einer Laterne, der Hausbesorger, in einem braunen Schlafrock und in Schlappschuhen; er leuchtete der Liegenden ins Gesicht. Dann sagte er: »Aber so ein Malheur! Und grad da am Brunnen muß sie mit'm Kopf aufg'fallen sein.« Und nun sah Karl, daß Marie neben der steinernen Umfassung des Brunnens ausgestreckt lag. Plötzlich meldete sich der Mann in Hemdärmeln auf dem Gange: »Ich hab' was poltern gehört, es ist noch keine fünf Minuten!« Und alle sahen zu ihm hinauf, aber er wiederholte nur immer: »Es sind noch keine fünf Minuten, da hab' ich's poltern gehört ...« – »Wie hat sie denn nur heraufg'funden?« flüsterte jemand hinter Karl. »Aber bitt' Sie,« erwiderte ein anderer, »das Haus ist ihr doch bekannt; da hat sie sich durch die Küche halt herausgetastet, dann hinauf über die Holzstiegen, und dann über die Brüstung hinunter – is ja net so schwer!« So flüsterte es rings um Karl, aber er kannte nicht einmal die Stimmen, obwohl es sicher lauter Bekannte waren, die redeten; und er wandte sich auch nicht um. Irgendwo in der Nachbarschaft krähte ein Hahn. Karl war es zumut wie in einem Traum. Der Hausmeister stellte die Laterne auf die Umfassung des Brunnens; die Mutter schrie: »Kommt denn nicht bald ein Doktor?« Der alte Ladenbauer hob den Kopf der Marie in die Höhe, so daß das Licht der Laterne ihr gerade ins Gesicht schien. Nun sah Karl deutlich, wie die Nasenflügel sich regten, die Lippen zuckten und wie die offenen toten Augen ihn geradeso anschauten, wie früher. Er sah jetzt auch, daß es an der Stelle, von der man den Kopf der Marie emporgehoben hatte, rot und feucht war. Er rief: »Marie! Marie!« Aber es hörte ihn niemand, und er hörte sich selber nicht. Der Mann oben im Gang stand noch immer da, lehnte über die Brüstung, die zwei Frauen neben ihm, als wohnten sie einer Vorstellung bei. Die Kerze war ausgelöscht. Violetter Frühdämmer lag über dem Hof. Frau Ladenbauer hatte den Kopf der Marie auf das zusammengefaltete weiße Spitzenruch gebettet; Karl blieb regungslos stehen und starrte hinab. Es war hell genug mit einem Mal. Er sah jetzt, daß alles in Mariens Gesicht vollkommen ruhig war und daß sich nichts bewegte als die Blutstropfen, die von der Stirne, aus den Haaren über die Wangen, über den Hals langsam auf das feuchte Steinpflaster hinabrannen; und er wußte nun, daß Marie tot war ...

[633] Karl öffnete die Augen, wie um einen bösen Traum zu verscheuchen. Er saß allein auf der Bank am Wegrande, und er sah, wie der Kapellmeister Rebay und der verrückte Jedek dieselbe Straße hinuntereilten, die sie alle miteinander heraufgegangen waren. Die beiden schienen heftig miteinander zu reden, mit fuchtelnden Händen und gewaltigen Gebärden, der Spazierstock Jedeks zeichnete sich wie eine feine Linie am Horizont ab; immer rascher gingen sie, von einer leichten Staubwolke begleitet, aber ihre Worte verklangen im Wind. Ringsherum glänzte die Landschaft, und tief unten in der Glut des Mittags schwamm und zitterte die Stadt.

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TextGrid Repository (2012). Schnitzler, Arthur. Erzählungen. Das neue Lied. Das neue Lied. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D95A-1