[68] Die Stunde vor dem Abschiede

Aus deinen Augen sah ich Thränen fließen:
Unglücklicher! ich hatte sie erregt,
Von zärtlichem Verlangen hingerißen
Dein Innerstes zu ungestüm bewegt.
Es nahte schon des Abschieds bange Stunde,
Verschwunden dieser Tage kurzes Glück;
Aus unserm, wie im Flug geschloßnen Bunde
Sahst du auf deinen öden Weg zurück.
O daß der Gram zerrütten soll mit Schmerzen
Der Wonne Sitz, den lieblich blühnden Leib!
Daß irgend wer zerrüttend deinem Herzen
Mit Haß zu nah getreten, zartes Weib!
Laß deine Thräne sanft hinweg mich trinken,
Laß mich sie trocknen mit gelindem Hauch!
Sieh schon sie hier in meinem Auge blinken:
O gieng' in mich dein Leiden über auch!
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Dem Mann, der seinem Glücke stürmt entgegen,
Ziemt auch der Kampf mit feindlichem Verdruß;
Doch schonend sollte Ruh des Weibes pflegen,
Denn still erwartet sie der Freude Gruß.
Willst du mir deinen Schmerz im Kuße reichen?
Gern nähm' ich Herbes von so süßem Mund.
Der Kummer müßte dem Entzücken weichen,
Der Freundin Schmachten würd' in mir gesund.

Notes
Entstanden 1799. Erstdruck in: Gedichte 1800.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Schlegel, August Wilhelm. Die Stunde vor dem Abschiede. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-D51A-8