[128] An ein Kind

Rasch erblühend zu holdem Reiz,
Trägst du unschuldvoll,
Aber nicht ahnungslos,
Gern zur Schau frühreife Schönheit.
Und Jeder, der dich erblickt,
Ermißt, von leisem Schmerz durchzuckt,
Schon alle Wonnen,
Die du dereinst gewähren kannst.
Aber wirst du es auch?
Wirst du verfallen nicht,
Wie die Meisten,
Dem alten Fluch des Geschlechts,
Das in knospender Brust
Scheue Sehnsucht birgt –
Und doch die entfaltete Pracht
Ungeliebtem dahingiebt
Um ein Nichts?
Droht nicht auch dir das Loos,
Wie schon Vielen vor dir:
[129]
Pflichtenerwägend,
Versagend und entsagend,
In unsäglicher Öde hinzusterben –
Oder erst dann Leidenschaft zu entfesseln,
Wenn du keine mehr weckst?
Wirst du nicht mit einstiger Schönheit verblaßtem Schimmer
Plötzlich beglücken wollen –
Und so,
Erkenntnißlos,
Mit dem geliebten Herzen
Auch das eigene spießen
An die grausamsten Marterpfähle des Lebens?

License
Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).
Link to license

Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Saar, Ferdinand von. An ein Kind. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-AD6F-7