Wilhelm Heinrich Riehl
Kulturgeschichtliche Novellen

[5] Vorwort.

Der Roman folgt dem Fortgange der Geschichtschreibung; Novellistik und Historik einer Epoche erläutern sich gegenseitig. So macht sich jetzt der mächtige Zug zur Kulturgeschichte bereits in der Romandichtung bemerkbar. Der populärste Historiker unserer Zeit, Macaulay, dankt wohl die Hälfte seiner Volksbeliebtheit der Kunst, womit er die Gesittungszustände einer Periode in ihrem inneren Zusammenhange – unter sich, wie mit der Staatsgeschichte – erfaßt und doch zugleich in ihren bunten Einzelgebilden mit dem Pinsel des Genremalers auszuführen weiß. Darum sagt man etwa vom dritten Kapitel seiner »Geschichte Englands«: es liest sich wie ein Roman. Denn dieses Kapitel glänzt eben durch kulturgeschichtliche Genremalerei.

Der Novellist mag hier einen Fingerzeig sehen. Unser historisches Gefühl erträgt es nicht mehr, daß man uns große Staats- und Kriegsaktionen im Romane [5] genrehaft ausmalt, daß die Haupthelden der Geschichte, deren Charaktere seit unseren Knabenjahren festgeformt vor unserem Geiste stehen, von dem Romandichter frei umgebildet, oder in ihren Zügen klein ausgearbeitet werden. Der Dramatiker, der sich der idealeren Form des Verses bedient, den die Bühne zwingt, nicht auszumalen, sondern sein Gebilde breit, in großen Umrissen anzulegen, – der Dramatiker darf uns einen im Aeußeren ungeschichtlichen Wallenstein oder Egmont bieten. Der Novellist dagegen, in der realistischen Prosa schreibend, gibt unserer historischen Bildung eine Ohrfeige, wenn er mit dem Anscheine, als erzähle er wirkliche Geschichte, weltbekannte Thatsachen umkehrt, und, nach Bedarf der Komposition, große Männer klein zuschneidet und kleine in die Größe zieht.

In der Tragödie begehren wir Wahrheit der historischen Idee; im Roman und der Novelle neben dieser inneren Wahrheit auch noch eine äußere des geschichtlichen Kostüms.

Die alten historischen Romane, welche uns weltgeschichtliche Ereignisse, die sich allenfalls dramatisieren ließen, episch in Prosa erzählen, sind uns darum jetzt trocken und hohl geworden oder unwahr.

[6] Mir dünkt, die Aufgabe der historischen Novellistik liege nach dieser Seite darin, auf dein Grund der Gesittungszustände einer gegebenen Zeit freigeformte Charaktere in ihren Leidenschaften und Konflikten walten zu lassen. Die Scene ist historisch. Es sind dann aber – kurz gesagt – erfundene Personen, die in den Vordergrund treten, die mit feinem Pinsel ausgemalt werden sollen, – eine erfundene Handlung, die sich episch frei gestalten kann, keine geschichtliche, wenigstens keine weltgeschichtliche. Denn in den Winkeln der Spezialgeschichte können wir allerdings noch Intriguen und Helden aufspüren, die novellistisch bildsam sind, ohne daß wir durch die poetische Freiheit das historische Bewußtsein der Nation beleidigen. Weltgeschichtliche Geschicke mögen von ferne hereinragen, weltgeschichtliche Personen im Hintergrunde über die Bühne des historischen Romanes schreiten. Der Boden aber, worauf sich die erfundene Handlung bewegt, ruhe auf den Pfeilern der Zeitgeschichte; die Luft, worin die erdichteten Personen atmen, sei die Luft ihres Jahrhunderts; die Gedanken, davon sie bewegt werden, seien ein Spiegel der weltgeschichtlichen Ideen ihrer Tage.

Dies nenne ich kulturgeschichtliche Novellistik.

[7] Hier läßt sich die innere Wahrheit der historischen Idee und die genrehafte Treue des historischen Kostüms vereinigen; aber auch nur hier. Der Dichter kann ein durchgebildetes Kunstwerk hinstellen, dem das kulturgeschichtliche Detail eine handgreifliche Lebensfrische gibt, deren das Drama entbehren muß; ein Kunstwerk, welches nicht bloß geschichtliche Zustände schildert, sondern in seinem Kern jenes höchsten sittlichen Inhaltes voll ist, der uns in jeglichem Menschengeschick die Hand des gerechten Gottes erkennen läßt. In solch echtem kulturgeschichtlichem Roman hat die Geschichte keine wächserne Nase und die Poesie behält doch Hand und Fuß. Ich lebe der Ueberzeugung, daß die Zukunft der modernen Epik in dem kulturgeschichtlichen Roman gegründet werden muß.

In meinen »kulturgeschichtlichen Novellen« habe ich dieses neue Feld in einer vielleicht neuen Weise urbar zu machen versucht. Ein Kulturhistoriker hat diese Novellen geschrieben, dem sie aus seinen liebsten Studien, aus seinen traulichsten Jugenderinnerungen so unter der Hand hervorgewachsen sind: würde sich nun diese Hand zugleich als eine künstlerisch gestaltende erweisen, dann könnte man's ein glückliches Zusammentreffen nennen.

[8] Vielleicht begehrt man Näheres über die Fundgruben, woraus ich das Material der Novellen geschöpft.

In dem »Stadtpfeifer«, »Ovid bei Hofe« und »Meister Martin Hildebrand« sind eine große Menge von Familienüberlieferungen verarbeitet. Nicht was ich in Büchern gelesen, sondern was ich als Knabe im großväterlichen und väterlichen Hause erzählen hörte von der guten alten Zeit, wie sich dieselbe im kleinbürgerlichen Leben eines kleinen Fürstensitzes des vorigen Jahrhunderts abspann, die Hausmärchen meiner Jugend waren es, womit ich diesen Erzählungen individuelle Farbe gab. In solchen mündlichen Ueberlieferungen sind oft die feinsten Züge zur kulturgeschichtlichen Charakteristik einer Epoche erhalten und – begraben. Durch die Novelle können sie lebendig bewahrt bleiben; durch das Geschichtsbuch nicht. Denn es sind diese Züge meist so innig mit bestimmten Personen und zufälligen Ereignissen verknüpft, daß der Kulturhistoriker, auch wenn er noch so speziell und genrehaft arbeitet, doch nichts damit anfangen kann. Der kulturgeschichtliche Novellist dagegen wird in diesen persönlichen Anekdoten und Charakteristiken oft gerade die leisesten Atemzüge vergangener [9] Geschlechter belauschen und uns ihr geheimstes Seelenleben in einer Wärme und Unmittelbarkeit mitempfinden lassen, bis zu welcher die Darstellungsmittel der Geschichte nicht mehr reichen.

Das historische Genrebild »Gräfin Ursula« gründet sich im Thatsächlichen auf die Mitteilungen, wie sie C.F. Keller aus neu eröffneten archivalischen Quellen in seinem Buche über den dreißigjährigen Krieg in Nassau (Gotha 1854) gegeben. Dieser wertvollen, für den Kulturhistoriker äußerst ausgiebigen Schrift verdanke ich auch den Stoff oder Anregung zu manchem Detail in den »Werken der Barmherzigkeit«.

Die Novelle »Amphion« (die lediglich wie die leichten »Vorspielscherze« unserer modernen Dramatiker angesehen sein will) beruht auf einer historischen Anekdote, die unter dem Artikel »Ernst Gottlob Baron« in jedem Tonkünstlerlexikon zu lesen ist. Barons Schriften, unvergängliche Denkmale der aufgeblasenen Pedanterie der Zopfzeit, gaben die Züge zu seiner persönlichen Charakteristik. Für die mit der musikalischen Spezialgeschichte minder Vertrauten bemerke ich nur, daß die ästhetischen Grillen, Bizarrerien und Ungeheuerlichkeiten, wie ich sie hier gezeichnet, [10] keineswegs Karikatur sind. In den Tagen Handels und Bachs ist die Modemusik und das Virtuosentum wirklich bis zu dieser Stufe künstlerischen Wahnwitzes aufgestiegen, ja ich habe eher gemildert als karikiert. Uebrigens verwahre ich mich feierlich gegen die Unterstellung, daß »Amphion« eine Tendenznovelle sei, und als habe ich etwa in dem Virtuosen Baronius eine Satire auf Franz Liszt und in dem mit symbolischer Musik gedankenmalenden Komponisten Baronius eine Satire auf Richard Wagner schreiben wollen. Nur die Zöpfe des achtzehnten nicht des neunzehnten Jahrhunderts habe ich gezeichnet.

Zu der kleinen Erzählung »Im Jahr des Herrn« wurde ich durch die Fulder Annalen angeregt. Wenn man das bald strohdürre, bald alttestamentlich schwülstige Mönchslatein unserer alten Annalisten liest, dann fühlt man sich doch manchmal seltsam bewegt, durch einen frischen Hauch aus dem deutschen Urwald, der plötzlich in die schwüle Luft der Klosterzelle hereinweht. Das empfand ich recht lebhaft bei der in den Annalen kannibalisch rohen und dennoch anziehenden Anekdote, die meiner Erzählung zu Grunde liegt. Ich suchte menschlich und sittlich zu gestalten, was der Mönch von Fulda als [11] eine That fast der reinen Bestialität berichtet, und doch mich den Personen jenes Gepräge der Urfrische und Urkraft zu bewahren, das uns selbst in der Wüstenei der späteren karolingischen Zeit noch als das Vermächtnis einer edleren Vergangenheit und als die Verheißung einer besseren Zukunft erquickt.

München, am 18. März 1856.

W. H. R. [12]

[1] Der Stadtpfeifer.
1847.

[1][3]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

Das war eine angstvolle Hochzeit! – Als der Weilburger Stadtpfeifer Kullmann mit seiner Braut vor den Altar trat, dröhnten dumpfe Kanonenschläge aus der Ferne herüber. Die Gemeinde war ohnehin diesmal klein beisammen, und wie nun gar die unheimlichen Töne den Leuten durch Mark und Bein schütterten, schlich einer nach dem anderen sacht davon, und da der Pfarrer aus der Sakristei schritt, stand nur noch das Brautpaar mit den nächsten Angehörigen, dem Küster und einigen Hochzeitgästen, in dem Chor der Dorfkirche.

Der siebenjährige Krieg hatte seine Verwüstung auch in die westlichen Gaue Deutschlands getragen; die Franzosen unter dem Herzoge von Broglie hielten das Lahnthal und den Westerwald besetzt und suchten durch Niederhessen nach Hannover vorzudringen. Sie setzten eben dem Bergschloß Dillenburg heftig zu, und die wechselweise Herausforderung und Antwort der Geschütze war es, was in den Wölbungen der Kirche des benachbarten Ebersbach dem Hochzeitszug so schaurig in die Ohren klang.

[3] Den Stadtpfeifer überlief es kalt; er zitterte nicht, er war auch nicht mutlos, aber er hörte auch nicht die Worte des Pfarrers. So schneidend war es ihm noch nicht in die Seele eingegangen, welch große Verantwortung er auf sich nehme durch die Verheiratung in so Ungewissen Tagen, als jetzt, wo die Kanonen ihm zum Altare läuteten. Die Braut an seiner Seite hatte nicht geweint; die roten Wangen des Bauernmädchens waren blaß geworden, aber sie stand fest und heftete den Blick voll Zuversicht unverwandt auf den Geistlichen.

»Ihr werdet's vielleicht Kindern und Enkeln noch erzählen,« sprach der Pfarrer, »daß der 14. Juli 1760, ein Tag der Angst, euer Hochzeittag war. Da, werdet ihr sagen, war kein lustiger Tanz, kein fröhliches Schmausen, die Franzosen spielten zur Hochzeit auf im tiefsten Baß, und den Spielleuten selber brachte es wohl gar den Tod. Aber Heil euch, wenn ihr dann hinzufüget: In Sorgen begannen wir den Ehestand, darum ist es nachgehends so hell und fröhlich geworden in unserem Hause. Zuerst erkannten wir die schweren Pflichten des eigenen Herdes, dann schmeckten wir dessen stille Süßigkeit. Stehet fest! Kummer und Trübsal sind groß, aber ein treues Weib macht uns eitel Freude daraus.«

Der Stadtpfeifer hatte aufgehorcht bei diesen Worten. Er war ernst von Aussehen und doch eine leicht gefugte Seele, bei der es gar flink von einer Tonart in die andere überging. Wer von der Musik leben muß, der wird das rasche Modulieren gewohnt. [4] So verließ ihn auch bei dieser Ansprache plötzlich das qualvolle Zagen. Er blickte auf seine Christine, wie sie so mutig dastand, und eine helle Freude durchleuchtete sein Gemüt; und weil just die Kanonen doppelt stark brummten, war es ihm, als sei er ein Fürst, und als donnerten da draußen die Jubelsalven, weil der Priester Christinens Hand in die seine legte.

Als der Hochzeitzug die Kirche verließ, schwirrte und summte schon das ganze Dorf wie ein gestörter Bienenstand. Ganz Ebersbach war vor Schreck toll geworden. Es waren Fronhäuser Fuhrleute gekommen, die erzählten, heute noch müsse das Dillenburger Schloß fallen; morgen stünden die Franzosen in Ebersbach; denn auch General Chabot rücke jetzt von Siegen und Graf Guerchy von Hachenburg gegen die Dill herab, – da werde es Einquartierung geben, Erpressung, Plünderung, – wenn man so einem verfluchten Franzosen nicht die Perücke mit Goldstaub pudere, die Stiefel mit Mandelöl schmiere und das Gewissen mit Kronenthalern, dann schlage er das ganze Haus zusammen.

Auf diese Botschaft hin gingen die wenigen Hochzeitgäste durch, ohne Abschied, als wären sie nicht bloß Nassau-Oranier, sondern wirkliche ganze Holländer gewesen. Und wenn sie sich nun auch gewaltsam zum Schmause niedergelassen hätten! Die Stühle würden mit ihnen davongelaufen sein, so wirbelte die Angst in den armen Teufeln.

Im Hause der Braut, einem stattlichen Bauernhause, stand ein langer Tisch gedeckt, der des Morgens, als die Gäste warmes Bier – die Brautsuppe – [5] vor dem Kirchgange genossen hatten, noch dicht besetzt gewesen war. Jetzt fand sich niemand an der Tafel ein, als das Paar und der Vater der Braut, und wer sonst zur Verwandtschaft gehörte. Selbst der Pfarrer blieb zu Hause, und der Küster kam nur, um sich seinen Braten und Kuchen und sein Geldgeschenk heimzutragen, bevor sich die Franzosen an den gedeckten Tisch setzten.

Der alte Hans Schneider, der Vater der Braut, ließ sich nicht merken, wieviel Unheimliches ihm eine solche Hochzeit vorbedeute. Er war der Mann, der allezeit das rechte Wort zu reden wußte. »Herr Sohn,« sagte er, »wir sind selb fünfe. So mager ist noch kein Hochzeittisch in unserer ganzen Freundschaft besetzt gewesen. Aber lasse Er sich das ungegessene Traktament nicht allzuschwer im Magen liegen. Es ist besser, man geht im Regen aus und läuft in die Sonne hinein, als umgekehrt. Der Einstand in die Ehe soll euch beiden eine göttliche Prüfung sein. Auf Christine vertraue ich, und auf Ihn auch, Heinrich. Er ist wohlbestellter Stadtpfeifer zu Weilburg und bläst den Bürgern morgens, abends und zu Mittag ein geistlich Lied, daß sie wissen, was an der Zeit ist, und an unseren Herrgott gedenken mögen; Er ist mein lieber Sohn, ich vertraue Ihm, aber, nichts für ungut – ich denk' und rede eben wie der alte Hans Schneider von Ebersbach –, Er ist doch immer ein Musikant. Wäre die Christine nicht so stark in der Wirtschaft, dann ging's wohl kurios mit eurem Hauswesen. Seine Bekanntschaft mit meinem einzigen [6] Kinde war mir anfangs ein Kummer, doch ich habe gesehen, daß Er ein stiller, braver Mann ist, und habe am Ende nicht ungern ja gesagt; aber – halt Er sich tapfer, Herr Sohn! Es sind Kriegszeiten! Ich drück' Ihm die Hand als Sein Vater. Bleib Er ein Stadtpfeifer und werde Er – wie soll ich's nennen? – keiner von denen, die obenhinaus wollen, kein Geiger, kein Notenfresser, oder wie man die vornehmen musikalischen Lumpen sonst heißt. Wer morgens, mittags und abends der Stadt den Choral bläst, der ist doch gleichsam ein Stück von einem Pfarrer, und wenn Ihr zum Tanze aufspielt, so ist das wenigstens eine Musik, davon man weiß, zu was sie nütze ist.«

Christine schob sich, etwas besorgt, zwischen die beiden und sprach: »Vater, wir wollen schon tüchtig zusammenhalten.«

»Weg mit dir!« rief der Alte, der nun erst recht aufgeräumt wurde. »Hier braucht's keine Mittelperson. Mein Schwiegersohn weiß schon, wie's gemeint ist, wenn ich ihm sage, er solle auf die Stadtpfeiferei leben und sterben, so gleichsam als ein Bauer unter den Musikanten und unter dem ganzen Bürgersvolk. Der Stadtpfeifer soll leben! hoch – auf seinem Turm und die Frau Stadtpfeiferin mit ihm!«

Als der Alte die Gesundheit ausbrachte, hatte sich ein vierschrötiger Mann im blauen Kittel an die Thüre postiert und schaute sich verwundert das Quintett unserer Hochzeitgesellschaft an. Es war der von den Brautleuten längst erwartete Fuhrmann Philipp Ketter von Weilburg; sein Wagen war bereits unten [7] im Hofe eingestellt, groß genug, um das Ehepaar samt Christinens Aussteuer aufzunehmen. Ein herzhafter Trunk Wein löste des Fuhrmanns Zunge, und er berichtete, daß man die Holzwege nach der Lahn hinüber wohl passieren könne, die Hauptstraße dagegen sei vom Kriegsvolk besetzt. Das war den jungen Eheleuten ein Trost, denn sie gedachten morgen schon nach Weilburg zu fahren. Aus dieser Stadt lautete die Botschaft freilich betrübter. Französische Husaren, ein übermütig Volk, waren seit zwei Tagen aus dem Niederlahngau eingerückt. »Sieben Generale,« sprach Philipp – und es war schon nicht erst zum siebentenmal, daß er sein Glas füllte – »kommen zur Einquartierung; denn die Franzosen, spricht der Perückenmacher, wollen Weilburg als einen Platz ansehen und gegen den Herzog von Braunschweig verteidigen; der Hofbäcker dagegen meint, so ein Esel wäre selbst der Franzos nicht, daß er eine Stadt halten wolle, deren Besatzung man von den gegenüberstehenden Felsen mit Steinen totwerfen könne.«

Die Zuhörer sahen sich bedenklich an; aber die Brautleute faßten sich bei der Hand und sprachen: »Wir gehen doch!« Dem Stadtpfeifer zwar wurde es insgeheim etwas schwül. »O weh!« rief er endlich und fuhr sich wild durch die schön gepuderten Haare, »jetzt sind mir alle Kirmessen im Juli verhagelt durch das Kriegsvolk!«

»Das hat keine Not,« beruhigte Philipp, sich selbst mit dem zwölften Glase beruhigend, »die Franzosen tanzen mit; sie sind artige Leute und gar nicht [8] so schwarz, wie sie der Hofbäcker brennt, wenn er im Ritter beim siebenten Schoppen angekommen ist. Seht, vorgestern sind die Franzosen eingerückt. Am selben Tage hadert einer ihrer Husaren mit der alten Nickelin und massakriert sie; – am Abend wird dem Mörder der Prozeß gemacht, und gestern morgen ist er auf der Heide am Windhof füsiliert worden. Was sagt Ihr dazu, Stadtpfeifer? Ich sage, die Franzosen sind prompte Leute.«

»Ei, geht zum Teufel, Philipp! Prompter wär' es doch gewesen, wenn der Husar die Nickelin gar nicht massakriert hätte« – und schlich sich hinaus, damit die anderen seine Verwirrung nicht merkten. Prinz Camille hatte schwerlich geahnt, in welche Verlegenheit er den Weilburger Stadtpfeifer dadurch brächte, daß er seine Truppen lahnaufwärts ziehen ließ. Ja, der Stadtpfeifer war sehr leichtsinnig gewesen! In seiner Tasche trug er zwei große Geldstücke, das waren zwei Kronthaler – im Augenblicke sein ganzes bares Vermögen. Mit dem einen Kronthaler sollte der Ueberzug nach Weilburg bestritten werden; der andere bildete den ganzen Kapitalfonds, womit er die neue Haushaltung begründen wollte. Er gedachte aber gleich in den ersten Tagen auf den Kirmessen ein schönes Stück Geld zu verdienen, und dann wäre es schon weitergegangen. Jetzt drohten die Franzosen die Rechnung zu verderben. Der Krieg war auch in Weilburg. Wer wird tanzen wollen, wo die französischen Husaren gleich mit Mord und Standrecht ihren Einzug halten? Es ward dem Stadtpfeifer [9] himmelangst, da ihm die nächsten Wochen heiß vor die Seele traten. Und wie stand es gar in den nächsten Monaten, wenn das Ding so fortgehen sollte?

Als Heinrich Kullmann, von solchen Gedanken gequält, vor die Hausthüre trat, kam ein altes Weib auf ihn zu. »Das ist ein Hochzeithaus,« sprach sie, »und Ihr tragt den Rosenstrauß im Knopfloch und seid der Bräutigam. Euer Ehrentag ist mein Unglückstag!«

»Was ist Euch begegnet, Mayerin?« fragte der Stadtpfeifer, der das Weib wohl kannte, das in einem kleinen, einsamen Häuschen an der Dillenburger Straße wohnte.

»Ich bin eine Bettelfrau geworden über Nacht,« antwortete sie schluchzend. »Die Franzosen haben mir alles genommen, die Kühe weggetrieben, das Haus niedergebrannt, ja selbst die Apfelbäume, die doch unser Herrgott so schön wachsen ließ, haben sie zusammengebauen. Des Teufels Barbiere sind diese Heiden, denn ein Elsässer, der mir die köstlichsten Würste gestohlen, sagte mir in seinem Hundedeutsch, die ganze Straße müsse rasiert werden wegen der Festung, ich solle mich trösten, das sei Kriegskunst, und dabei biß er in eine Wurst, daß mir vom bloßen Zusehen das Wasser in die Zähne und in die Augen trat.«

Dies aber erzählte die Frau unter so kläglichem Gewimmer, daß der Stadtpfeifer am Schluß in die Tasche griff und gab ihr den einen Kronthaler – der war bestimmt gewesen, die Haushaltung anzufangen –; dann wandte er sich rasch um und ging wieder hinauf[10] zum Hochzeittische und ward nun so lustig, als habe er tausend Kronthaler gewonnen.

Am anderen Tage gab es kurzen Abschied zwischen Eltern und Kindern, wie das Bauernart ist. Aber ernst und tiefempfunden war das Lebewohl dennoch; denn jedes, gedachte der ungewissen Zukunft und der Not des Augenblicks. Allein sie war hüben so groß wie drüben, und der Stadtpfeifer mußte zurück auf seinen Turm. Philipp Ketter hatte schon dreimal zum Aufbruch gemahnt, schon dreimal den Valettrunk gethan, da bestieg das junge Ehepaar endlich seinen Leiterwagen.

Es war kein lustiger Reisetag. Ein durchdringender Sommerregen rauschte in Strömen herab. Selbst der dichtbelaubte Buchenwald konnte keinen rechten Schutz mehr geben; die Pfade waren schlüpfrig, und die zahlreichen Bergwasser wuchsen zusehends, jede Rinne füllte sich zu einem neuen Bach. Darum war es kein Wunder, daß Philipp Pferd und Wagen auf den holprigen Holzwegen kaum vorwärts bringen mochte. Er hatte sich aber auch wider den Regen so tief in eine wollene Decke gewickelt, daß der Schimmel so ziemlich seinen eigenen Gedanken nachgehen konnte, und nur wenn der Wagn wider einen Stein oder eine Wurzel stieß, als ob alle Räder brechen müßten, rief der Fuhrmann dem Pferde hintendrein eine Vermahnung zu; den Kopf ließ er aber doch in der Decke.

Ueber den hinteren Teil des Wagens war ein Linnentuch gespannt, darunter saßen die jungen Eheleute. Es war gar nicht unbehaglich, sich in der Ecke [11] unter der Leinwand aufs Stroh zu kauern und der Musik des ringsum durch die Blätter niederrauschenden Regens zu lauschen, während selten ein Tröpfchen durch das Tuch hereindrang.

Da pflogen die Leutchen nun das traulichste Gespräch, woben goldene Träume, wie's für eine Hochzeitreise sich schickt, und wenn sie auch in Phillip Ketters Leiterwagen gemacht wird. Der arme Stadtpfeifer ließ die Erinnerung seliger Vergangenheit, die Hoffnung seliger Zukunft an seinem Ohre vorüberrauschen wie ein Kind; es war ja noch süßere Musik darin, als in dem draußen niederrauschenden Sommerregen, und nur selten führte ein Dämon seine Hand nach der Hosentasche, daß es ihn durchzuckte, wenn er auf einen Augenblick des einzigen Kronthalers gedachte. Aber schon in der nächsten Minute war er wieder unermeßlich reich. Ja, der Stadtpfeifer war ein Kind, eines von den Kindern, von denen geschrieben steht, daß wir nicht ins Himmelreich kommen sollen, wenn wir nicht werden, wie ihrer eines.

So verging die Zeit der langen Fahrt und keines wußte wie, der Fuhrmann, weil er schlief, die Liebenden, weil sie träumten. Da schreckte das Gesicht Philipp Ketters, das grinsend zum Leinwanddach hereinschaute, auf einmal den Stadtpfeifer und seine Frau aus dem anmutigsten Gespräche. »Schauet rechts die Lichtung hinauf; da kommt eine ganze Rotte Franzosen!« Und als ob das gar nichts zu bedeuten habe, kroch er rasch wieder unter seine Wollendecke und ließ den Wagen schnurstracks den Franzosen entgegengehen. [12] Der Stadtpfeifer lupfte die Leinwand und starrte hinaus nach der drohenden Gefahr. Allein ob auch in seinen Zügen bewegte Gedanken zuckten, sprach er doch kein Wort, gleich als wenn er samt dem Philipp verhext wäre.

Christine sah den beiden eine Weile zu; dann machte sie sich hervor, riß dem Holzklotz, dem Philipp, Zügel und Peitsche aus der Hand und trieb den Gaul seitab in den Wald hinein. Und wie der Wagen auch drohend rechts und links schwankte auf dem ungleichen Boden, Christine brachte ihn durch ins Dickicht und hielt dann still.

Die Soldaten mochten den Wagen noch nicht erblickt haben, oder es gelüstete sie nicht, das unansehnliche Fuhrwerk bei dem Unwetter von den ohnedies trügerischen Pfaden abweichend, in den dicken Wald zu verfolgen.

Die drei Leute von unserer Hochzeitfahrt harrten lautlos einen ängstlichen Augenblick: jetzt waren die Franzosen vorbeigezogen.

»Was ist dir angekommen, Heinrich,« rief nun Christine, tief aufatmend, »daß du so starr und stumm in die Luft geschaut, und hast den Tolpatsch, den Philipp, nicht zurückgehalten, der mitten unter das Soldatenvolk fahren wollte?«

»Unser Gespräch von vorher klang noch fort in meinem Geiste. Sieh, Christine, wenn ich einmal ein Thema fest gepackt habe, dann muß es durch alle Formen des Kontrapunktes durchgearbeitet werden. Was kümmert mich ein Kriegsmarsch, wenn ich mitten [13] in einem zärtlichen Menuett bin? Ich war bei dir, bei unserer künftigen Glückseligkeit hoch oben im Pfeiferstübchen auf dem Schloßturm von Weilburg – wie konnte ich zugleich hier bei den Franzosen sein?«

»Da sieht man schon, wer künftig das Regiment in der Pfeiferstube führen wird,« brummte der Fuhrmann vor sich hin und kroch in seine Decke zurück.

Der Stadtpfeifer aber gestand nachgehends, er hätte es, da seine Frau so mutig die Zügel faßte, eine Weile gar nicht ungern gesehen, wenn die Franzosen ihnen nachgelaufen wären und sie ein bißchen geplündert hätten: denn wenn er gar keinen Kronthaler mehr gehabt, dann wäre er doch außer Verlegenheit gewesen wegen des einzigen Kronthalers, mit dem er seine neue Haushaltung begründen wollte.

Unsere Reisenden hatten durch große Umwege den Belagerungskreis von Dillenburg vermieden, so geschah es, daß sie erst am späten Nachmittage in Beilstein den ersten Halt machen konnten. Jetzt ein Dorf, war Beilstein zu selbiger Zeit noch ein Städtchen; das gräfliche Schloß mit den stolzen Strebepfeilern an den hohen Mauern drohte freilich schon den Verfall und war nur noch von einem Amtmanne bewohnt. Im Schloßgarten trieben die verschnittenen Hainbuchen und Linden bereits wilde Sprossen über die geraden Linien der alten Gartenkunst hinaus, da seit Jahren keine Schere mehr über sie gekommen. Das Städtchen liegt tief im Thalgrund, und die Höhen ringsum sind ödes Heideland, mit Basaltblöcken übersät, zwischen denen niederes Gebüsch verstreut ist [14] – eine rechte Westerwälder Landschaft. Und heute hatte der Regenhimmel noch seinen grauen Ton darüber gebreitet, daß der öde Grund wie gemacht war für die Scene, die sich jetzt auf demselben entwickeln sollte.

»Schau!« rief der Stadtpfeifer seinem Weibe zu, indem er an das Fenster des Wirtshauses trat, wo sie eben eingestellt. »Dort kommen unsere Leute den Berg herabmarschiert!«

Und in der That sah man die Dillenburger Besatzung langsam in das Thal einrücken. Es waren etwa noch dreihundert Mann. Die Gemeinen hatten kein Gewehr, nur ihre Tornister hatte man ihnen gelassen; die Offiziere dagegen durften noch den Degen tragen; zwei bedeckte Wagen hatten die Sieger den Kapitulierenden gleichfalls mitzunehmen gestattet, und diese kargen kriegerischen Ehren waren alles, was die tapfere Mannschaft durch vierzehntägige heiße Gegenwehr sich erringen konnte. Das ungünstig gelegene Bergschloß war nicht länger mehr gegen die gut gestellten Kanonen des Ingenieurobersten Filey zu halten gewesen; gestern abend war es mit Kapitulation übergegangen. Neben der Linde, darunter einst Wilhelm der Verschwiegene, der große Oranier, über die Befreiung der Niederlande Rats gepflogen, war jetzt die Fahne mit den Lilien aufgepflanzt. Der Oberst von Dörings, ein mannhafter hannoverischer Kavalier, der die Verteidigung geleitet, durfte mit dem Reste der Besatzung zu dem verbündeten Heere ziehen. So erzählte der Wirt, den die Soldaten auch ans Fenster gelockt hatten.

»Das ist des Kriegs Lauf und der Welt Lauf!«[15] sprach der Stadtpfeifer. »Die braven Kerle haben gethan, was menschenmöglich war, und am Ende mußten sie doch die Schlüssel zu ihres Herrn Haus dem Feinde übergeben und ohne Gewehr abziehen! So geht es uns allen, auch wenn wir keine Soldaten sind.«

»Ganz gewiß!« fiel Christine ein. »Aber sind jene Bursche brav, dann wird auch jeder sein Gewehr schon wieder finden und nachher noch einmal so tapfer streiten. Wenn's hart an uns geht, Heinrich, und wir meinen, es wäre gar vorbei, dann sind wir allemal erst recht stark. So ist mir's immer im Sinn gewesen. Als ich noch ein klein Ding war, da wollt' ich selten vor die Thür beim schönen Wetter. Wann aber ein großer Wind kam und Regen, Schnee oder Schloßen, dann lief ich draußen herum und hatte meine Freude, mich peitschen und zausen zu lassen. Je wütender es windete, je fester pflanzte ich mich in den Boden hinein. Und wenn mich dann der Vater schalt und zornig fragte, was ich bei dem Gestürm draußen zu suchen habe, konnt' ich ihm nichts anderes antworten, als daß es doch gar so schön sei, mit Wind und Wetter zu streiten. Seht die Soldaten da drüben gehen jetzt auch in Wind und Wetter; sie werden schon wieder ins Trockene kommen.«

»Man merkt's, Frau Stadtpfeiferin, daß Ihr erst vierundzwanzig Stunden verheiratet seid,« sprach der Wirt lächelnd. »Wenn Ihr über Jahr und Tag wiederkommt, dann wollen wir weiterreden von der Lust an Sturm und Regen. Vielleicht zieht Ihr dann doch ein wenig Sonnenschein vor.«

2. Kapitel

[16] Zweites Kapitel.

Das junge Paar hauste nun auf dem Schloßturme zu Weilburg. In sinkender Nacht waren sie angekommen. Da hatte der Stadtpfeifer, als er von weitem das Lahnwehr der Weilburger Brückenmühle rauschen hörte, nicht länger an sich halten können: er mußte sein Gewissen entlasten und der Frau bekennen, daß er nur noch einen Kronthaler im Vermögen habe, daß dieser einzige aber auch bereits zur Deckung der Ueberzugskosten in Ausgabe geschrieben sei. Die Frau erschrak wohl anfangs; allein die letzten Stunden waren so traulich gewesen unter dem Linnendach des Wagens, die Lahn rauschte ihnen so heimelig entgegen, Heinrich hielt ihre Hand fest in der seinigen: – die Liebe überwindet alles, sie überwand auch diesen einzigen Kronthaler, und heiter, versöhnt mit sich und seinem Geschick stieg das Paar zuletzt Arm in Arm die hohe Wendeltreppe zum Turme hinauf, indes Philipp Ketter die schwere Heiratskiste mit der Aussteuer Christinens keuchend hinterdrein trug. Als er die Kiste oben abgesetzt, nahm er den einzigen Kronthaler in Empfang, und der Stadtpfeifer war ordentlich froh, daß er das Geldstück los war, welches ihm so viel Not gemacht.

Frau Christine waltete als die klügste Hauswirtin. Sie verkaufte sofort einige überflüssige Stücke ihrer Aussteuer, um bar Geld zu bekommen, und das durchtriebene Bauernkind wußte dabei die Sache recht heimlich abzumachen, daß nicht gleich ein Stadtklatsch daraus [17] wurde. Der Mann hatte inzwischen auch unverdientes Glück mit den Kirmessen; es ward getanzt trotz den Franzosen und mit den Franzosen. Saure Tage waren es freilich für Heinrich; er mußte oft mehrere Stunden Wegs weit zum Tanzplatz laufen, Nacht um Nacht blasen, bis in den grauenden Morgen; aber dann brachte er doch Geld nach Hause, daß er sich auf die Qual dieser Nächte freute, wie die Schulkinder auf einen Feiertag.

So ging es für den Anfang ganz leidlich. Allein Frau Christine wollte auch einen Notpfennig gewinnen auf den Winter, und Dauer dem guten Glück. Die Einrichtung der Pfeiferstube, wie sie der Stadtpfeifer von den Eltern ererbt, war gediegen und gut, ja reichlich für kleine Bürgersleute. Wo nun etwas von den schönen Tischen, Stühlen und Schränken gut anzubringen war, da verkaufte es die Frau – die Kriegsnöte entschuldigten das jetzt, freilich drückten sie auch die Preise – und schaffte recht billigen Bauernhausrat dafür an. So kam es denn bald, daß die Finanzen des Stadtpfeifers sich besserten, aber in der sonst so niedlichen Pfeiferstube sah es um so schlechter aus. Die dreibeinigen Stühle aus Eichenholz waren so grob gehobelt wie die Westerwälder Bauern, denen Christine sie abgekauft. Der Tisch stand aus Sympathie gleichfalls nur auf drei Füßen, der vierte war durch einen untergeschobenen Ziegelstein ergänzt, an die Haushaltung von Philemon und Baucis erinnernd. Die Schränke aber vollends waren so alt und wurmstichig, daß der Stadtpfeifer zu behaupten pflegte, sie rührten[18] noch aus der Mobiliarversteigerung von Adams und Evas Nachlaß her.

Aber die Eheleute waren glücklich, wenn sie am Abend einander gegenüber auf den dreibeinigen Stühlen an dem dreibeinigen Tische saßen; – und was braucht es mehr!

Das ging so bis in den September. Da kam der kühle Herbstwind und strich auch dem Stadtpfeifer gar kühl über die Stirne, denn sein Glück schien plötzlich nur ein Zugvogel zu sein, der sich zum Wegziehen anschicke mit den Störchen und Schwalben. Die Kirmessen hörten auf, die Soldatenlast ward drückender, niemand traute dem Landfrieden mehr, auch die Reichsten kündigten ihre Musikstunden, die dem Pfeifer bis dahin aufgeholfen, nirgends konnte seine Frau einen Nebenverdienst finden, und die Stadtpfeiferei warf nur zwanzig Gulden jährlich ab nebst dem freien Quartier, hundertundzwanzig Fuß über dem Straßenpflaster. Da mußte Christine bald den Notpfennig anbrechen, und er ward immer kleiner und kleiner.

In den ersten Monaten hatte sie, dem Herkommen des väterlichen Hauses getreu, an jedem Sonntag einen Kuchen gebacken. Denn in Ebersbach, wo man freilich auf Mehl und Milch und Butter nicht zu sehen brauchte, würde eine Sonntagsfeier ohne Kuchen angesehen worden sein, wie wenn man neben die Kirche gegangen wäre oder die Werktagskleider anbehalten hätte, statt festtäglichen Putzes. Der Kuchen gehörte so nötig zu einem gerechten Sonntag wie Glockengeläute, Orgelspiel und Chorgesang. Anfangs machte[19] nun das Bauernkind in der Pfeiferstube nach gewohnter Weise einen Sonntagskuchen, mächtig groß, in seiner Rundung fast vergleichbar der großen, rot aufglühenden Mondscheibe, wenn sie abends am Bergsaum aus leichtem Nebel hervortritt. Dann spürte Christine allmählich den Unterschied zwischen Dorf und Stadt, und der Sonntagskuchen ward beträchtlich kleiner, etwa wie derselbe rote Mond, wenn er nachgehends als goldene Kugel im dunstfreien Mitternachtshimmel schwimmt. Anfangs September wurde der Kuchen so klein, wie wenn man des Mondes schmales erstes Viertel zu einem Kreise zusammengelegt hätte, und als die Aequinoktialstürme den Turm umbrausten, da stand es mit dem Sonntagskuchen wie mit dem Neumond; er war nun ganz unsichtbar geworden.

In dieser Zeit geschah es, daß der Stadtpfeifer eines Abends vor dem Notenpult saß und strich die Saiten seiner Geige übend auf und ab, immer die gleiche Figur dergestalt, daß es der armen Christine, die das Spinnrad drehte, fast schwindelig wurde. Das Stübchen lag gar luftig, die vier Fenster nach den vier Winden, und der heulende Sturmwind verband sich mit dem Geigen und dem Spinnrad zu einem verzweifelt melancholischen Konzert. Die Scheiben klirrten, ein Schwarm Raben flatterte krächzend um den hohen Turm, das Lahnwehr tief unten erbrauste wild. Der Geiger spielte, als gälte es wettzukämpfen mit all diesem Getöse, aber alle Wut des Eifers ließ es ihm nicht glücken, einen einzigen Lauf rein und flink herauszubringen.

[20] Und so war's alle Tage. Eine Ausdauer hatte Heinrich Kullmann sondergleichen und auch ein gutes Verständnis der Sache; aber so sehr er das Beste zu beurteilen, so rein er es zu genießen wußte, vermochte er es doch niemals selber hervorzubringen.

Endlich warf er die Geige weg. »Ich bin zu nichts gut,« rief er unmutig, »als den Morgen und Abend mit einem Choral anzublasen. Ein kunstreicher Spielmann werde ich im Leben nicht. O Weib, das thut weh zu fühlen, wie man alles geigen soll, daß die Leute ausrufen müßten: Seht, der Weilburger Stadtpfeifer ist ein anderer Corelli! Das thut weh, jede Passage gar wunderschön im Kopf zu haben und zu wissen, bis sie in die Finger kommt, wird alles holperig und matt sein!«

Da hielt Christine das Spinnrad ein und sprach: »Laß ab von diesen Sachen, Heinrich. Treibe dein Handwerk ehrlich, daß du uns Brot schaffest, und lasse dir daran genügen. Dein eitles Begehren bricht dir den Mut. Die Steine, die man nicht heben kann, muß man liegen lassen. Der Krieg quält uns, die Hantierung stockt, und allen Leuten geht das Geld aus. Da braucht es Kraft und Gottvertrauen: geig dir das nicht aus der Seele! Zu was ist Hoffart nütze, wo man das letzte Stückchen Brot im Hause gegessen hat?«

Das Wort fiel wie Feuer auf des Stadtpfeifers Haupt. »Wie? ist vielleicht kein Brot im Hause?« rief er, jäh aufbrausend.

»Wir haben heute morgen das letzte gegessen. [21] Gott weiß, daß ich dir keinen Vorwurf machen will, indem ich's sage.«

Da nahm der Stadtpfeifer seinen Hut und rief: »Ich will uns Brot holen!« und eilte zur Thür hinaus.

Der Frau aber ward's bange, und ob sie gleich schon jetzt in den ersten Monaten ihrer Ehe ein gar festes, starkwilliges Weib war, wie sie auch ein unbeugsames Mädchen gewesen, lief sie doch dem Manne nach und bat ihn weinend, er möge dableiben, sie habe ihm ja kein böses Wort geben wollen. Aber der Stadtpfeifer war so jählings die Wendeltreppe des Turmes hinabgesprungen, daß ihre Bitten ungehört in den engen Mauern verhallten. Da ging sie zurück in die Stube, legte den Kopf in die Hände und weinte bitterlich.

Der Stadtpfeifer lief durch die stillen Straßen und wußte selbst nicht, zu welchem Ende. Es war gut, daß es bereits dunkel geworden; hätten ihn die Leute so laufen sehen, sie würden gesagt haben, Heinrich Kullmann sei übergeschnappt.

Böse und gute Gedanken stritten sich in seiner Seele. »Warum habe ich ein Weib genommen, da ich keines ernähren kann? Ein so braves Weib und doch nicht recht für einen Musikanten! Sie faßt mich nicht. Sie fordert Brot, wenn ich nach dem Bogenstrich Tartinis ringe. Und doch hat sie recht – muß ich ihr nicht Brot schaffen? Aber auch ich habe recht, denn wenn ich nur einmal den Bogenstrich gefunden, den ich fühle, dann kann sie wieder ihren Sonntagskuchen backen, so groß wie einen Mühlstein. Könnt' ich ihr nur erst Brot bringen!«

[22] Er suchte nochmals in allen Taschen nach etwas verirrter Münze, allein es fand sich nichts.

So lief der Stadtpfeifer bis über die Lahnbrücke. Jetzt war er im Freien vor der Stadt. Es war ganz dunkel geworden. Die Spukgestalten, womit der Volksglaube die Felsschluchten vor Weilburg bevölkert, tanzten vor den wirren Sinnen des Dahinstürmenden, und er stutzte plötzlich und hielt ein, mit Schauern des Spruches gedenkend, daß der Tag den Lebendigen gehöre, die Nacht aber den Toten. Er blickte gegen die Stadt zurück. Der Fluß brauste unheimlich in der schwarzen Tiefe; das alte Schloß lagerte sich über den breiten Felsrücken langgestreckt wie eine riesige Sphinx, die Wache hält an den Thüren der Thalschlucht. Aber hoch über den verlassenen Bau, aus dessen Fenstern heute kein einziges Licht zum Wasser niederglänzte, ragte der Schloßturm, und nahe seiner Spitze leuchtete ein tröstlicher Schimmer; das war die Kammer, wo Christine saß und weinte.

Der Stadtpfeifer blickte starr nach dem einzigen Licht in der Höhe, und es ward ihm in der Seele leid, daß er eben so unfreundlich seines Weibes gedacht. Und indem er so das einzige Licht in der ringsum endlos ausgebreiteten Finsternis anblickte, fiel ihm ein einfältiger Vers ein, den er manchmal von seiner Mutter hatte singen hören, der hieß:


»Wem nie durch Liebe Leid geschicht,

Dem ward auch Lieb' durch Liebe nicht

Leid kommt wohl ohne Lieb' allein;

Lieb' kann nicht ohne Leiden sein.«


[23] So schritt er denn nach einer Weile langsam zurück über die Brücke, und im Gehen wiederholte er sich wohl zehnmal immer langsamer und nachdenklicher den Vers, und seine Schritte hielten zuletzt wie von selber ein, daß er in tiefem Sinnen stehen blieb. Sein Blick senkte sich zur Erde. Da sieht er etwas glitzern: – es ist ein funkelneuer Groschen! Und wie er sich bückt, ihn aufzuheben, sieht er auf einen Schritt voraus noch einen Groschen liegen, und weiterfort noch einen – und so waren es sechse, dicht aneinander, alle so neu und glänzend, wie wenn sie eben jetzt aus der Münze kämen.

»Sechs neue Groschen in einer Reihe,« murmelte der Stadtpfeifer leise, tiefbewegt, »sechs Groschen – die hat mir unser Herrgott selber hierher gelegt, der mich nicht verlassen will – sechs Groschen kostet der Laib Brot in dieser teuren Zeit!« Und dann war es ihm nach einem Augenblick wieder unfaßbar, wie er zu dem Gelde gekommen; er erschrak vor sich selbst, als habe er's gestohlen; er prüfte fühlend und besichtigend im Schein der erleuchteten Fenster eines Hauses, ob es kein Blendwerk sei: allein es waren und blieben wirklich sechs neue, blanke Groschen. Es ward ihm aber, daß er hätte weinen mögen wie ein Kind, als er beim Hofbäcker eintrat und die sechs glänzenden Groschen niedergeschlagenen Auges auf den Tisch legte und mit zitternder Hand den Laib Brot dafür hinnahm.

Jetzt lief er noch viel schneller zum Schlosse zu rück, als er vorhin nach der Brücke gelaufen war. Er[24] preßte das Brot fest unter den Arm, als könne es ihm unversehens wieder davonfliegen. »Da kann man wohl auch sagen,« dachte er bei sich, »der Neunundneunzigste weiß nicht, wie der Hundertste zu seinem Brot kommt.«

Aber während er so hinter der Stadtmauer her den Berg hinanstieg, klang plötzlich ein leises Wimmern an sein Ohr. Er blieb stehen; die Töne schienen vom Boden herauf zu kommen.

»Was ist das?« rief er aus. »Heute abend bin ich im Finden glücklich! Da liegt ein kleines Kind – in ein paar arme Lumpen gewickelt. Wahrhaftig, Gott hat mir nicht umsonst den Zorn eingegeben, daß ich wie toll in die Nacht hinein laufen mußte!«

Und es kam ihn, wunderbar genug, über diesen zweiten Fund fast eine größere Freude, an als über den ersten, da er in den Lichtschimmer des nächsten Fensters trat und ein Papier entzifferte, das bei dem Kinde gelegen; darauf stand geschrieben: »Ein arm elendig Weib bittet den Christenmenschen, der dies findet, daß er sich um Jesu willen des Kindes erbarme. Es ist getauft und heißt mit Namen Johann Friedrich.«

Der Stadtpfeifer nahm sein Brot in den einen Arm und das Kind in den anderen und schlug den Zipfel seines langen Rockes um den armen Wurm.

»Herr Gott!« rief er, »du sollst mir nicht umsonst die Groschen auf die Straße gelegt haben!«

Dieser kurze Ausruf aber war wie ein volles, brünstiges Gebet.

[25] Erst als der Stadtpfeifer mit dem Doppelfund vor seiner Stubenthüre stand, überkam ihn Zagen und Verlegenheit! Doch schon öffnete Frau Christine und begrüßte ihn so zärtlich, als müsse der Gruß allein jede Erinnerung von Streit und Unmut tilgen.

Der Stadtpfeifer legte das Brot auf den Tisch und das Kind daneben. »Das habe ich unterwegs gefunden, Christine,« sagte er trocken und blickte, dabei die Frau so ernsthaft an, daß sie laut lachen mußte, und er selber lachte nun mit. Dann setzte er sich und erzählte treuherzig seine Geschichte und hob im Erzählen das Kind wohl ein Dutzend Mal auf, damit es ihn anlächle und er es küsse. Als er von den sechs Groschen erzählte, da ward es auch der Frau ganz fromm zu Mute; doch als er dann weiter seinen Bericht über den Fund des Kindes beendet, sprach sie: »Du thatest recht, daß du das Würmchen mitgebracht hast; morgen wollen wir zum Schultheißen gehen und ihm den Buben einhändigen.«

Den Stadtpfeifer überlief es, wie wenn er mit kaltem Wasser übergossen würde. Er erwachte erst jetzt zur klaren Ueberlegung. Daran hatte er noch gar nicht gedacht, was es heiße ein Kind aufziehen und versorgen, und daß vor allem eine Mutter dazu gehöre, die sich mit voller Liebe und Opferung des hilflosen Geschöpfes annehme. Nicht ihm, sondern der Frau kam hier das entscheidende Wort zu. Es hatte ihm so vorgeschwebt, als müsse der Kleine auf immer bei ihm in seiner Pfeiferstube bleiben und dort aufwachsen so ohne weiteres, wie ein Blumenstock, den [26] man ans Fenster stellt, zeitweilig begießt und im übrigen unserem Herrgott überläßt. Nun fühlte er auf einmal, wie gedankenlos er geträumt.

Er besann sich lange; er kämpfte lange mit sich selber. So viel Kopfbrechens hatte er sich nicht gemacht seit der Stunde, wo er den leichtsinnigen Entschluß faßte, das Bauernmädchen von Ebersbach zu heiraten.

Endlich schien auch hier der Entschluß gefunden. Mit einer Festigkeit, die der Frau ganz neu war, sprach er: »Freilich wollen wir morgen früh zum Schultheißen gehen und ihm das Findelkind anzeigen. Die Gemeinde muß für des Knaben Erziehung Geldsteuern, – es wird jetzt nicht viel herausspringen – gute Leute müssen um eine Gabe für das arme Ding angegangen werden; das hat alles seinen geweisten Weg, der durch des Schultheißen Stube führt, und du kennst ihn besser als ich. Aber so wenig wie ich diesen Laib Brot, wieder zum Bäcker trage, so wenig gebe, ich das Kind aus der Hand. Der Schultheiß würde es dem Wenigstfordernden zur Pflege ausbieten; eine Lumpenfamilie würde es ersteigern, um das Kostgeld einzustecken und den Kleinen verkümmern zu lassen.« Und er fuhr fort mit erhobener Stimme: »Nicht umsonst trieb es mich, den Weg hinter der Stadtmauer zu gehen, den man sonst im Dunkel meidet. Unser Herrgott schenkt nichts weg, nicht einmal sechs Groschen. Christine! dieses Brot wird uns gesegnet sein und das Brot wird im Hause, nie mehr ausgehen, wenn wir das Kind, um derentwillen uns das Brot geschenkt ward, behalten und zu einem frommen [27] und tüchtigen Mann erziehen. Im Unsegen werden wir das Brot essen, wenn wir das Kind hinweggeben. Anfangs wirst du die größte Last haben, nachher aber kommt sie an mich; wir wollen ehrlich teilen, was mit diesem Kind ins Haus eingezogen ist, die Sorgen und den Segen. Johann Friedrich, armes Waisenkind – Friedrich sollst du von uns genannt und ein Musikant werden! Und es soll dir besser damit glücken als deinem Pflegevater.«

Christine erschrak über die Bestimmtheit Heinrichs und seinen entschiedenen Ton. Er war ein ganz anderer geworden, seit er das Kind und das Brot auf den Tisch gelegt. Zum erstenmal empfand sie die Autorität des Ehemannes, davor sie sich beugen müsse. Die Worte von dem Segen, der nur auf Brot und Kind verbunden ruhe, durchbebten ihr abergläubisches Gemüt. So resolut sie sonst gewesen: – gerade hier, wo das Weib zu reden berufen war, fühlte sie sich als das schwache Weib. Sie erhob mancherlei Einwand, unter Thränen sogar, aber sie kam nicht auf gegen die fast religiöse Begeisterung des Mannes. Zuallerletzt verschanzte sie sich hinter die böse Nachrede der Freunde und Nachbarn. Wie werde man es ihnen, die selbst arme Leute, auslegen, daß sie ein Findelkind zu sich genommen, vermutlich, damit der Stadtpfeifer es mit seinen Projekten und Notenpapierschnitzeln großfüttere?

Heinrich sprach trutzig:


»Ziehn dir die Leut' ein schiefes Maul,

So sei im Gesichterschneiden auch nicht faul –


[28] sagt Doktor Martin Luther, und ich denke, wir sind beide gut lutherisch.«

Dann nahm er das Brot, schnitt es an und setzte den Wasserkrug auf den Tisch. »Jetzt wollen wir schweigen und in Frieden unser Abendbrot essen. Hast du aber erst geschmeckt, Christine, wie köstlich dieses Brot ist, und wie der Hofbäcker nie ein gleiches gebacken, dann werden dir die Augen aufgehen, daß du Gottes Hand erkennst, die dieses Kind gerade uns, und uns allein, überantwortet hat, wer weiß, zu welchem Ende!«

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

Das Brot ging nicht mehr aus in des Stadtpfeifers Hause. Sie hatten aber auch das Kind behalten. Mit Wasser und Milch – ein damals noch kaum erhörtes Wagnis – ward der Knabe mühselig aufgezogen. Die Hofbäckerin steuerte die Milch dazu. Andere gaben Leinwand und Kleider; auch sonstige milde Spenden mancherlei Art flossen reichlich, solange die Sache noch neu war; dann versiegte die Barmherzigkeit, und nach Jahresfrist blieben die paar Gulden allein übrig, welche die Gemeinde beitrug – der Stadtpfeifer meinte, man könne keinen Hund dafür ordentlich erziehen. Allein Heinrich Kullmann hatte jetzt einen neuen Menschen angelegt. Ein Eifer zu arbeiten, zu erwerben glühte in ihm, daß es Christinen fast bangte. Tartinis Bogenstrich war ganz vergessen, [29] unser Freund war der reine Stadtpfeifer geworden, doch, das merkte jeder, nur um Gottes willen, um des Weibes und Kindes willen. Er lief zweimal die Woche vier Stunden Wegs weit nach Wetzlar, um bei den Herren vom Reichskammergericht die Musikstunden wieder zu suchen, die er in Weilburg verloren. Da er sich für diese Tage im Turmdienst durch seine Gehilfen mußte vertreten lassen, so galt es, vorher Dispens beim Schultheißen zu gewinnen. Dieser gab abschlägigen Bescheid. Früher würde der Stadtpfeifer nunmehr beschämt sich in sich selbst verkrochen und keinen weiteren Schritt mehr gewagt haben. Jetzt dagegen ging er mannhaft zum Schultheißen und legte ihm die Sache in so beweglicher Rede vor, daß er mit der Erlaubnis in der Tasche wieder heimgehen konnte. Seit die wirkliche Not an ihn gekommen, seit er in seinem Hause einmal beinahe kein Brot mehr über Nacht gehabt hätte, war er ein Mann geworden. Und als ihm wie durch ein Wunder dennoch Brot beschert ward, nahm er mit dem Kinde freiwillig die doppelte Not auf sich, gleich als wolle er nun ein Mann werden, der für zwei Männer steht.

Das Brot ging nicht mehr aus in seinem Hause, aber schmal blieb es durch Jahr und Tag. Drei leibliche Kinder kamen nachgerade zu dem gefundenen, so daß die kleine Pfeiferstube übervoll ward. Das Herz des Vaters gehörte den eigenen Kindern; das Herz des Künstlers dem gefundenen; Johann Friedrich war noch keine vierzehn Jahre alt und konnte noch keine große Geige bewältigen, da sagte der Stadtpfeifer[30] schon: »Hinter der Stadtmauer habe ich den großen Musiker von der Gasse aufgelesen, den ich in mir selber immer vergebens gesucht.«

So ging es durch achtzehn Jahre voll Plage und Not. Die kleinen Leute verstanden aber damals noch gar trefflich die Kunst, elend und zugleich glücklich zu sein. Heinrich Kullmann kam nicht vorwärts, aber er blieb doch immer als Stadtpfeifer sitzen; er wurde oft nicht satt, aber er verhungerte auch nicht, und wenn er nur seinen ledernen Hosengürtel um zwei Löcher fester schnallte, so spürte er keinen Hunger mehr, auch bei halbleerem Magen. Weil in den Kriegszeiten jeder zurückging, so brauchte sich keiner zu schämen, wenn er verdarb. Der Stadtpfeifer machte etwa alle drei Jahre den Versuch, flügge zu werden, fiel aber immer wieder in das alte Nest auf dem Schloßturm zurück. Das nahm er hin, als hätte es nicht anders kommen können, und blieb so gutmütig, treuherzig und unpraktisch wie immer; aber er blieb jetzt auch ein Mann. Ward Christine zuweilen ungeduldig, dann sprach er: »Gottes Segen ist ja doch mit dem Kind und dem Brot über uns gekommen, vielleicht nicht ganz so reich, als wir's wünschten: – das Pferd, das den Hafer verdient, kriegt ihn nicht; aber sei versichert, um des Kindes willen wird uns für jene Welt der hier entgangene Hafer gut geschrieben – mit Zinsen.«

Es war Friede geworden in Deutschland; nur fern im Westen jenseits des Ozeans zog ein schweres Wetter auf. Doch so weit sah man nicht vom Schloßturm zu Weilburg.

[31] Kirchweih war immer ein großes Fest in dieser guten Stadt, und solenniter sollte sie auch im Jahre 1778 begangen werden. Der fürstliche Hof saß wieder in seiner alten Residenz, und die patriarchalischen kleinen Fürsten ließen in diesen Jahrzehnten den Sonnenschein gemütlicher Huld wärmer als je auf die Bürger fallen, wie die Sonne am Hochsommerabend oft noch einmal ganz besonders warm und gnädig brennt, unmittelbar bevor sie untergehen will. Wenn damals bei der berühmten Weilburger Kirmeß der Hof nicht ebensogut den Jubel mitmachte wie der Bürger und Bauer, dann hätte man es gar keine ganze Kirmeß genannt.

Des Morgens zogen die Bürger aus nach dem Schießhause, mit ihnen der Fürst, dem, wie der Vater mit Stolz schon dem Knaben erzählte, als dem ersten Bürger der Stadt das Recht des ersten Schusses zustand. Er that den ersten Schuß, er brachte den ersten Becher aus, er tanzte den ersten Tanz, und so ward er von den Weilburgern auch als der erste Fürst gepriesen.

Der Stadtpfeifer im ziegelroten Staatsrock hatte dem Zuge, dem Fürsten selber, den Marsch geblasen; jetzt spielte er am Schützenstande, nur von einem Hornbläser unterstützt, und abends sollte der Fürst und hintennach die ganze Bürgerschaft nach seiner Pfeife tanzen. Kirmeß war immer ein stolzer Tag für einen Stadtpfeifer.

Die Bürger traten der Reihe nach vor, und jeder that seinen Schuß. Da legte auch der Stadtpfeifer [32] sein Instrument auf eine Weile weg, und der Hornbläser setzte allein die Musik fort. Heinrich Kullmann war Weilburger Bürger, also hatte er, kraft fürstlicher Gnaden, das Recht eines freien Schusses, und das ließ er sich nicht, entgehen. Auf der Mauer vor dem Schießhause saß mit anderen Weibern Frau Christine und hielt ihr Jüngstgeborenes auf dem Arme; Friedrich – im Herbst wurden es achtzehn Jahre, daß man ihn an der Stadtmauer gefunden – saß daneben mit den zwei größeren Geschwistern.

Heinrich Kullmann zielte kurz: jetzt knallt die Büchse. Er hatte mitten ins Schwarze getroffen! Wer hätte solch Bauernglück dem Stadtpfeifer zugetraut, der nur jedes Jahr einmal ein Gewehr in die Hand nahm! Christine fuhr so erschrocken zusammen über ihres Mannes Geschicklichkeit, daß ihr das Kind beinahe vom Arme gefallen wäre.

Wie ward es ihr erst nachgehends zu Mut, als die Festordner vortraten, dem glücklichen Schützen den Ehrentrunk darzubringen, als die Kirmesßjungfrauen ihrem Heinrich einen gewaltigen Blumenstrauß vorsteckten, der von dem mittelsten Knopfloche des Rockes bis zur Nase reichte, und als der Fürst selber dem Glücklichen die Hand schüttelte und ihn der Fürstin und den Prinzessinnen als den Schützenkönig vorstellte! Dann kamen die Scheibenbuben selb viere aufmarschiert und brachten den ersten Preis, nämlich ein Dutzend zinnerne Teller, zwölf Löffel, Messer und Gabeln, Suppennapf, Schüsseln – die Geschirre alle von blankem, neuem Zinn – und in das Salzfaß[33] hatte der Fürst einen Dukaten gelegt und die Fürstin einen nassau-weilburgischen Kronthaler 1778er Gepräges. Das alles überreichte der Schultheiß dem Stadtpfeifer aus den Händen der Scheibenbuben.

Wie verklärte sich das Gesicht des Vielgeprüften, als er den Pokal in die Höhe hob, verstohlen nach seiner Christine und den Kindern hinüberblickte, und dann auf das Wohl des Fürsten und des ganzen fürstlichen Hauses und der guten Stadt Weilburg trank.

Er wollte zurücktreten an seinen Platz und die Hoboe wieder ergreifen, allein die Bürger ließen das nicht zu, sagten, das Horn allein sei ihnen Musik genug, und zogen den Stadtpfeifer zum Zechen in die große Bude. Wie freundlich thaten da angesichts des Fürsten gar viele, die den armen Stadtpfeifer sonst nicht von weitem ansahen. Selbst etliche Kavaliere kamen herbei, stießen mit dem Schützenkönig an und nannten ihn »lieber Kullmann«. Es waren dies aber dieselben Leute, die ihm bis dahin niemals gedankt hatten, wenn er sie auf der Straße grüßte; allein der Stadtpfeifer hatte dennoch nicht aufgehört, seinen Gruß zu entbieten, eingedenk der Verheißung des Herrn, daß so wir jemand grüßen, der dessen wert ist, der Friede, den wir ihm gewünscht, auf ihn kommen wird, so er dessen aber unwert, wird sich unser Friede wieder zu uns wenden.

Allein auch diese frohe Stunde, sollte dem Stadtpfeifer nicht unverbittert bleiben. Gerade da er im rechten Rausch der Freude schwelgte, da ihm eben so gar nichts fehlte – denn auch Frau und Kinder saßen[34] neben ihm und thaten sich gütlich – trat der Hoftrompeter hinter seinen Stuhl, ein stattlicher Mann, aber mit einem verwetterten Malefizgesicht, der drehte sich den langen ungarischen Schnurrbart und sprach: »Herr Stadtpfeifer, auf ein Wort!« und zog ihn beiseite.

»Ihr habt eine Eingabe gemacht, daß man Euch gestatten möge, mit uns zur fürstlichen Tafel zu blasen. Ei, Herr Stadtpfeifer, Ihr hättet doch wissen sollen, daß ich und meine Kameraden ›gelernte‹ Trompeter sind, Glieder der Trompeterkameradschaft, die ihr Privilegium Anno 1623 von Kaiser Ferdinandus erhalten hat, und daß wir keinem erlauben dürfen, mit uns zu blasen, der nicht durch Brief und Siegel beweist, daß er in die Kameradschaft gehöre. Ihr blast sehr schön, aber woher habt Ihr's denn? Seid Ihr in der Zunft aufgewachsen, oder habt Ihr Euch selber hineingestohlen in die Geheimnisse unserer Zungenstöße, die für die Kameradschaft ein beschworenes Geheimnis sind? Seht, und wenn der Oberhofkapellmeister Hasse von Dresden käme und spräche zu mir: Ich will mit dir blasen, dann würd' ich antworten: Mit Verlaub, Maestro, Ihr möget der gepriesenste Komponist in Deutschland und Welschland sein und der beste Trompeter dazu, aber ein ungelernter Trompeter seid Ihr doch, und nach meinem Zunfteid darf ich nicht mit Euch blasen.«

Mit diesen Worten ließ er den Schützenkönig stehen. Der blieb eine Weile starr über die Bosheit des schnurrbärtigen Satans, der seine glücklichste Stunde[35] geflissentlich abgewartet zu haben schien, um ihn wieder einmal mit einer getäuschten Hoffnung niederzuschlagen. Er ging zum Glase zurück und setzte es mit so saurem Gesichte an den Mund, als ob der gute Wein Essig wäre. Da sagte die Frau, die gerne so von ungefähr erkunden wollte, was er mit dem Hoftrompeter gehabt: »Du bist ein närrischer Mann, Heinrich! Wenn dir's schlecht geht, dann bist du wohlgemut, und wenn einmal das Glück an dich kommt, dann möchtest du weinen.«

»Nein, so ist es nicht,« erwiderte er. »Sieh, wenn ich sonst über den Schloßhof ging und der Hoftrompeter im Tressenrock stand auf der hohen Treppe vor dem Speisesaale, schmetterte seine Fanfaren und bIies die hohen Gäste zur Tafel zusammen, dann dachte ich: Der hat's besser wie du, ob du gleich ebensogut trompeten könntest, – einen leichteren Dienst, einen schöneren Rock, mehr Geld und größere Ehren! Und ich war ein Esel und bewarb mich insgeheim um die zweite Trompeterstelle neben ihm. Ich wollte wieder einmal vorwärts kommen; – nicht wahr, Christine, das haben wir schon oft gewollt? Ich habe dir's verschwiegen, weil ich dich überraschen wollte. Nun ist's wieder nichts; denn ich bin nur ein ›ungelernter‹ Trompeter, wie man mir eben sagt, ich habe mir meine Kunst gestohlen, weil ich nicht Brief und Siegel habe von der Kameradschaft. Doch was schadet's? Reich mir den kleinen Buben, daß ich ihn küsse, der wird vielleicht einmal ein gelernter Trompeter werden, ich sehe ihn schon im Tressenrock auf der großen Schloßtreppe [36] stehen. Ich aber will derweilen den Armen und Geringen meinen Choral vorblasen, daß der Schall vom Turm, wie wenn er vom Himmel herabkäme, sie mahne, tröste und erbaue: das ist doch ein ander Ding, als wenn ich vornehme Gäste, die nie hungrig sind, mit gellender Trompete zum Essen rufe. O Christine, dein seliger Vater hatte recht; Stadtpfeifer soll ich bleiben mein Leben lang, und es geht auch nichts über die Stadtpfeiferei, wenn ein Weib auf dem Turme waltet wie du!«

AIs es zum Tanze ging, war der Stadtpfeifer schon wieder getröstet, und er blies so lustig, wie wenn es gar keine gelernten Trompeter in der Welt gäbe.

Der zweite Kirchweihtag verging ihm in noch härterer Arbeit und Unruhe wie der erste; denn da ward noch viel toller und länger getanzt, da war der Jubel erst recht losgelassen. Die Hoboe ließ den Musiker nicht zur Besinnung kommen, und wenn ihm zu letzt fast der Atem ausging, so waren ihm die Gedanken schon längst ausgegangen.

Erst am dritten Tage fand er sich selber wieder in dem Frieden seines Turmstübchens. Aber mit der Ruhe kam auch das Nachdenken über die vergangenen Tage. Und oh ihn nun gleich das spiegelblanke Zinngeräte und das Goldstück und der neue Kronthaler gar freundlich anlächelten, verband sich doch mit diesem Anblick sofort der Gedanke, wie grausam es sei, daß er als Schütze, wo er nichts gelernt und kaum gezielt, sofort mitten ins Schwarze getroffen, während er als Musiker, wo er rastlos lerne und wunders wie scharf [37] ziele, sich nie auch nur einen zweiten oder dritten Ring herauszuschießen vermöge.

Christine merkte, daß der böse Geist über Saul komme, darum rief sie ihren David, den Friedrich, der eben seine Geige im obersten Dachraume bei den Krähennestern zunächst unter dem Turmknopf exerzierte. Er kam mit dem Instrument, und die Frau fragte ganz leise den hypochondrischen Mann, ob er nicht zu ihrer aller Ergötzung ein Duett mit Friedrich geigen wolle.

Der Stadtpfeifer rieb sich die Augen, lächelte und bejahte die Frage.

Es war aber etwas ganz Eigenes, wenn die beiden ihre Duette geigten. Frau Christine sagte oft: »Ich wünschte, da hörte einmal ein rechter Meister zu; er sollte den Geigern alle Ehre geben.« Wir wissen, daß der Stadtpfeifer sonst kein Hexenmeister mit dem Fiedelbogen war; aber wenn er Duette mit seinem Friedrich spielte – und nur dann – adelte sein Spiel sich wundersam. Es war schlicht und auch etwas ungelenk wie sonst – vom Bogenstrich Tartinis war noch nichts zu spüren – allein es saß eine so unendlich treuherzige, gute Seele, eine echt deutsche Gemütlichkeit, kurz, der ganze Stadtpfeifer saß in dem Spiele. Des Bogenstriches, der ihm angeboren, war er sich bewußt geworden; denn im Bogenstrich liegt die Seele des Geigers. Und dann haben selten zwei Menschen so einig Duett gespielt; Ton klang zu Ton, als ob beide aus einer Geige kämen. Aber nur, wenn der Stadtpfeifer ganz allein war mit Friedrich und seiner Frau, gelang ihm das Spiel; hörte ein [38] anderer zu – gleich war die Seele aus der Geige geflogen, der angeborene Bogenstrich wieder vergessen, und der Stadtpfeifer spielte schülerhaft neben dem stets meisterlichen Spiele des Schülers.

Wenn Christine in diesen heimlichen, glücklichsten Stunden ihren Friedrich anschaute, dann war es ihr doch auch manchmal recht traurig ums Herz. Friedrich war blaß, mager – man weiß, wie ein Bauernkind den Mageren selbstverständlich für einen Kranken hält. Frühreif an Körper und Geist, hatte er mit unbezähmbarem Eifer die Musik gelernt; nicht in körperlichem, sondern in geistigem Ringen hatte sich bei ihm die Jugend vertobt. Es war Christinen immer, als ob Friedrich nicht mehr lange Duett spielen könne mit ihrem Mann. Sie versuchte einmal anzuklopfen bei letzterem, als er des Knaben unerhörte Fortschritte rühmte, und sagte in ihrer Art: »Die Vögel, die zu früh pfeifen, frißt die Katze.« Da schnitt ihr der Mann rasch das Wort ab und sprach von anderen Dingen. Nun wußte sie, daß er ihre Furcht teile, daß er aber nichts davon reden und hören wolle.

Ehe die beiden ihr Duett begannen, verschloß der Alte, wie immer, die Thür. Dann stellten sie sich gegeneinander und spielten – ohne Noten (sie wußten's seit Jahren auswendig) – und der Vater sah dem Sohne, der Sohn dem Vater ins Auge, daß man meinte, sie sähen die Musik einander an den Augen ab, und nur darum passe Strich zu Strich so genau, als habe eine Hand beide geführt. So schön wie heute war es ihnen kaum je geglückt.

[39] Als sie im besten Zuge waren, schlich Christine horchend ans Schlüsselloch; deuchte es ihr doch, sie habe draußen Tritte gehört.

Jetzt kam der Schluß des Duetts, so zart, so rein! Als die letzten Töne sich verhauchten, mußten alle drei unwillkürlich den Atem einhalten. Da klatschte es laut vor der Thüre; eine gellende Stimme rief: »Bravo! Bravo!« und die Klinke ward zum Oeffnen niedergedrückt. Der Stadtpfeifer legte ärgerlich seine Geige weg und schloß auf.

Ein Bursche, der höchstens zwanzig Jahre zählen mochte, trat ein. »Das war prächtig gezeigt!« rief er, »da bin ich also am rechten Orte. – Guten Abend, Meister Stadtpfeifer!«

Der Angeredete dankte nicht sehr freundlich auf den übermütig gebotenen Gruß und hob die Lampe in die Höhe, um den Fremden etwas näher zu beleuchten. Der junge Mann sah fast verdächtig aus. Die Kleider, obgleich von vornehmem Schnitt, waren stark abgetragen, und das jugendliche Gesicht zeigte die etwas verlebten Züge eines ausschweifenden Jünglings.

»Ich bin Franz Anton Neubauer, der Böhme,« sprach der ungebetene Gast in stark österreichischem Accent, »Eure Freunde im Kloster Arnstein lassen Euch grüßen und empfehlen mich Eurer Gastfreundschaft.« Drauf that er, ungeheißen, ganz wie zu Hause, legte Stock und Hut ab und setzte, sich nieder.

Frau Christine zog ein schief Gesicht und zupfte ihren Heinrich am Rocke; der aber besann sich kurz, schüttelte dem Fremden die Hand und sprach: »Um[40] meiner Freunde willen sollt Ihr mir auf eine Stunde Rast willkommen sein, zumal, wenn Ihr, wie ich denke, ein Musiker seid.«

»Ei!« sagte Neubauer, »das solltet Ihr wohl wissen. Bin ich gleich noch jung, so kennt man meine Symphonien und Quartette doch schon von Wien bis Paris, und wo meine Musik nicht bekannt ist, da ist es wenigstens meine Person. Seht, ich durchziehe bereits seit zwei Jahren alle kleinen Ländchen, namentlich die geistlichen Herrschaften, und wo ich immer eine musikalische Seele finde, da kehre ich ein; am liebsten in Klöstern, bei Domherren oder auch bei gewöhnlichen Weltgeistlichen. Lutherische Pfaffen meide ich, die haben meist viele Kinder und wenig Wein. Ueberall zahle ich nur mit Musik. Bei einem unmusikalischen Menschen einzukehren, das wäre schamlose Bettelei; aber ich denke, ein frisch komponiertes Menuett ist schon Zahlung genug für ein Nachtquartier; für ein Klaviersolo kann man schon ein Mittagessen annehmen, und für eine neue Messe müssen mir die Mönche des fettesten Klosters mindestens auf einen Monat freie Zehrung, freien Trunk und Quartier geben. So reise ich schon zwei Jahre durch aller Herren Länder; wer will mir das nachmachen? Bei uns in Böhmen hat man ein Familiensprichwort: Er ist ein Neubauer, werft ihn mitten in die Moldau, und wenn er auch nicht schwimmen kann, er wird doch nicht ersaufen. Das Wort habe ich mir gemerkt, wenn ich toll in jeden Strudel springe, denn ich weiß ja doch, daß ich nicht ersaufen werde.«

[41] Dem Stadtpfeifer schien es allmählich fast lustig, dem Burschen zuzuhören, dessen Zunge so vortrefflich eingeölt war, daß sie, einmal in Bewegung gesetzt, kaum wieder stille stand. Mit vergnüglichem Lächeln lauschte er zuletzt dem jungen Maestro, der in Eisenstadt zu Joseph Haydns Füßen gesessen, und dessen wild geniale Symphonien man bereits in Paris aufführte und druckte. Neubauer hatte nicht zu viel von sich gesagt. Den vierzigjährigen Stadtpfeifer durchzuckte bei den Erzählungen des zwanzigjährigen Abenteurers, der mit seinem Talent so vermessen spielte, noch einmal das alte Gelüsten, aus der Verpuppung der Stadtpfeiferei mit Gewalt plötzlich als ein berühmter Musiker hervorzubrechen. Doch als er aufblickte und in einem Stückchen Spiegelscherbe, welches Christine, in Ermangelung eines ganzen Spiegels (gerade seinem Sitze gegenüber) an der Wand befestigt hatte, sein bereits leise ergrauendes Haar schaute, schämte er sich und ging dann höchst resigniert ins Nebenstübchen, um mit den Kindern das Abendgebet zu sprechen.

Auch Frau Christine wurde etwas milder gestimmt gegen den Fremden. Sie hielt zwar seine sämtlichen Historien für erlogen, aber für gut erlogen. Der Mann schien es ihr zu einer solchen Tüchtigkeit im Lügen gebracht zu haben, daß sie zuletzt einen gewissen Respekt vor ihm bekam.

»Seht,« sprach er zu dem Ehepaar, als der Stadtpfeifer wieder zurückkam, »dort liegt ein großer Stoß Noten; wir setzen ihn auf die Erde; er ist mein [42] Kopfkissen, und weiter brauche ich nichts für die Nacht. Ich wickle mich in meinen weitschößigen Rock, empfehle meine Seele dem heiligen Franziskus und dem heiligen Antonius und schlafe heute auf dem Fußboden so gut, wie gestern im weichen Klosterbett. Wer müd' ist, ruht auch auf einem Misthaufen sanft. Ich hätte wohl zu einem der Hofmusiker gehen können, allein ich mag es nicht. Im Vertrauen, Freund, ich komme hierher mit guten Empfehlungen als Bewerber um die erledigte Hofkapellmeisterstelle« (»Lüg du dem Teufel ein Ohr ab!« dachte Frau Christine im stillen Sinn) – »und da müßten meine Leute doch vorweg den Respekt vor mir verlieren, wenn ich in diesem Aufzuge bei einem von ihnen einsprechen würde. Stadtpfeifer, ich werfe mich in deine Arme. Ich fragte gestern im Kloster Arnstein die ehrwürdigen Brüder: ›Wer ist unter allen musikalischen Männern Weilburgs der geradeste, zuverlässigste, neidloseste?‹ Da erwiderte der witzige Pater Placidus: ›Der zum Höchsten gesetzt ist unter den Musikern der Stadt, der Stadtpfeifer oben auf dem Schloßturm.‹ Darauf beschloß ich, bei Euch Quartier zu nehmen, Euch mich anzuvertrauen. Mir fehlt das Kleid, das den Mann macht. Stadtpfeifer, Ihr müßt mir morgen früh Euern Staatsrock leihen, denn ich muß mich alsbald dem Fürsten vorstellen lassen.«

»Was? den ziegelroten Rock, den die ganze Stadt kennt?« rief Christine starr vor Staunen.

»Richtig, den ziegelroten Rock meine ich,« fuhr Neubauer kaltblütig fort. »Doch das wollen wir [43] morgen früh weiter besprechen beim Kaffee oder – ich sehe es der Hausfrau an – Ihr seid noch von der alten Mode – bei der Milchsuppe.«

Der Stadtpfeifer saß wie verzaubert. Gegenüber diesem tollen Uebermut voll genialer Blitze fühlte er sich recht als Philister, und da ihm Neubauer gar erzählte, daß er meist im Walde, auf der Gasse, wohl gar in der Gosse, am allerliebsten aber im Wirtshause komponiere – betrunken oder nüchtern, gleichviel –, da hätte er weinen mögen über sein ehrliches, ängstliches, erfolgloses Mühen hier oben auf der Turmstube.

»Ich habe nie ausführen können, was mir vorgeschwebt,« bekannte er mit rührender Offenherzigkeit, »und so sehr mich das Mittelmäßige ärgert, bin ich doch immer ein mittelmäßiger Mensch geblieben. Für mich ist mein Leben lang nur einmal etwas vom Himmel gefallen, und das war ein kleiner Bube und ein Laib Brot, die ich auf der Straße fand. Dort steht der Kleine – er ist jetzt lang wie eine Hopfenstange – und putzt seine Geige ab. Das ist das einzige, was mir je gelungen, daß ich ihn zu einem tüchtigen Geiger gemacht. Ich habe also doch etwas mehr als Mittelmäßiges vollbracht auf Erden, darum werde ich in dem Buben meinen Frieden finden.«

»Es ist wahr,« sagte Neubauer selbstgenügsam, »der Junge ist von gutem Korn und gut geschult; aber er muß hinaus in die Welt, nach Wien, nach Italien, damit er den Gesang lerne und Eleganz und Feinheit des Satzes und in alle Geheimnisse der [44] Kunst eingeweiht werde von den größten Meistern selber.«

»Das war längst mein höchster Wunsch,« erwiderte der Stadtpfeifer, »aber – –«

»Ich weiß, was weiter kommt. Ihr habt keine Gönner, kein Geld. Wartet einmal, ich will mir die Sache hintere Ohr schreiben – bei Gott« – und Neubauers Augen leuchteten auf – »der Bube verdient's! Denkt an Franz Anton Neubauer und heißt ihn einen Schuft, wenn ich Euerm Friedrich nicht den Weg nach Wien aufthue. Zu Joseph Haydn mußt du gehen, Friedrich, dem König der deutschen Meister. Da lernt man Symphonien schreiben! Denkt an mich, Stadtpfeifer: ein Mann, ein Wort!«

Frau Christine flüsterte ihrem Manne zu: »Laß dich von dem Prahler erheitern, aber glaub ihm ja keine Silbe. Indes will ich ihm jedoch einen Strohsack auf den Boden legen, weil er sich heute abend so müde gelogen hat.«

»Nur ein gereister Musikus ist fertig, die anderen sind alle bloß halb gar gekocht«, fuhr Neubauer fort. »Wißt Ihr auch, daß ich vorigen Monat in Bückeburg war und den Konzertmeister Bach, der gleich der meisten übrigen Bachischen Sippschaft niemals aus dem Nest geflogen ist, auf drei frei zu phantasierende Fugen herausgefordert habe?«

»Nein! das thatet Ihr nicht!« rief der Stadtpfeifer entschieden. »Denn mit dem nehmen's in den Fugen nur noch seine Brüder auf, seit der Alte in Leipzig gestorben ist.«

[45] »Sehr richtig. Ich habe auch Böcke über Böcke gemacht, und der gelehrte Herr spielte verzweifelt gründlich und hölzern. Denn niemals ist er weitergekommen in der Welt als von Leipzig über Eisenach nach Bückeburg; nie hat er eine welsche Primadonna karessiert, um die Feinheiten des Gesangs zu ergründen. Er spielte verzweifelt gründlich, aber meine falsch gebauten Fugen waren doch ergötzlicher, und die feinsten Herren klatschten mir Beifall. Das Publikum entscheidet; das dumme Publikum gibt mir Essen, Trinken, Kleidung, Aufmunterung für die schlechteste Musik; von den klugen Kennern hat mir noch keiner ein Glas Wein oder eine Wurst für die beste gegeben. Uebrigens habe ich mir nur einen Spaß mit dem berühmten Fugenfresser machen wollen.«

»Das war bübisch, das war frevelhaft,« strafte der Stadtpfeifer eifrig. »Wußtet Ihr auch, daß dieser Bach nicht bloß ein ehrwürdiger Meister, sondern zugleich der harmloseste, gutmütigste Mensch ist?«

»Ganz gewiß. Wäre er nicht so gutmütig, so hätte er mich von seiner Orgel heruntergeprügelt. Aber ein ungereister Musiker ist er doch, und das wollte ich ihm zeigen. Gebt Ihr immerhin dem Alter seine Ehrwürdigkeit; ich will nur, daß man der Jugend auch ihren Mutwillen gönne.«

»Narren sind auch Leut',« sprach der Stadtpfeifer, sich entrüstet abwendend.

»Und Ihr seid nicht der erste, der mich einen Narren nennt,« fügte der junge Landstreicher hinzu mit selbstgenügsamem Lächeln.

4. Kapitel

[46] Viertes Kapitel.

Es kam zu jener Zeit an jedem Sonntage ein Kapuziner von Wetzlar nach Weilburg, um den wenigen Katholiken des streng protestantischen Städtchens privatim die Messe zu lesen. Er war eine ehrliche Haut; auch die Protestanten hatten den gemütlichen Kuttenmann gern; vor allem aber liefen ihm die Kinder scharenweise nach. War er bei Laune, dann konnte er stundenlang Anekdoten und Schnurren an einer Schnur erzählen, die, in seiner niederrheinischen Mundart vorgetragen, den Weilburgern doppelt possierlich klangen. So ward er zuletzt fast in allen Häusern bekannt und suchte sein Mahl bei Gastfreunden aller Art, bei Ketzern wie bei Rechtgläubigen. Selbst auf den Schloßturm verirrte er sich mitunter; denn er kannte den Stadtpfeifer von den Jahren her, wo derselbe den Weg nach Wetzlar zweimal in der Woche nicht gescheut hatte, um das gefundene Kind großziehen zu können.

Am späten Nachmittage nach dem mit Neubauer so heiter verschwatzten Abend trat der Kapuziner wieder einmal in die Turmstube, grüßte freundlich und schaute sich neugierig nach dem Stadtpfeifer um, der in Hemdärmeln am Fenster saß, im Gesangbuch lesend.

»Man hat Euch heute gar nicht in der Stadt gesehen, Kullmann,« sprach der Kapuziner lächelnd. »Ich dachte schon, Ihr seiet krank. Da hörte ich, daß wenigstens Euer ziegelroter Rock in der Stadt umherspaziere und [47] großes Aufsehen mache, und schloß nun, es möge Euch wohl gehen, wie Epaminondas, der auch zu Hause bleiben mußte, wenn er seinen Sonntagsrock einem fahrenden Musikanten gepumpt hatte; denn er besaß nur einen einzigen, wie Ihr und ich.«

Der Stadtpfeifer erschrak über die mögliche Entweihung seines Rockes, und der Kapuziner war sogleich bereit zu erzählen, was er gehört.

»Einen schönen Lärm gab's vor einer Stunde im goldenen Löwen, als Neubauer in Eurem stadtbekannten ziegelroten Rock den Wein spürte. Zuletzt fing er gar Händel an mit einem seltsam kleinen fremden Schneider, der ruhig seinen Schoppen trank, und da der Beleidigte ihm seine Grobheiten zurückgab, faßte der berühmte Maestro den Schneider beim Kragen, hängte ihn mit der Schlinge des Rockes an einen großen Haken neben der Thür und drosch dann mit einem Selterser-Wasserkruge auf das Schneiderlein los, bis der Henkel abbrach und der Krug in Scherben auf den Boden fiel. Die Zuschauer lachten über dieses Bild, daß sie hätten bersten mögen. Ich hörte im Vorbeigehen den Jubel, da wagte ich mich auf den Flur des Wirtshauses, um zu hören, was es gebe, und –«

»Und solch einen Gesellen hast du deinen ziegel roten Sonntagsrock anziehen lassen, Heinrich!« fiel Frau Christine ein.

»Der Rock macht's allein nicht aus, obgleich der ziegelrote, mein Hochzeitrock, seit achtzehn Jahren immer ein wahrer Ehrenrock gewesen ist,« erwiderte gelassen [48] der Stadtpfeifer. »Aber nun will ich auch nicht mehr glauben, daß dieser Patron meinem Friedrich den Weg nach Wien aufthun kann. Was war ich für ein Thor, daß ich eine Weile den Lügen und Prahlereien des liederlichen Buben traute!«

»Wovon redet Ihr?« fragte der Kapuziner neugierig, und der Stadtpfeifer erzählte ihm, wie Neubauer versprochen habe, seinem Friedrich zu einer Gönnerschaft zu verhelfen, daß derselbe nach Wien gehen und dort Schule machen könne.

Der Kapuziner zog ein ernsthaftes Gesicht, strich sich den langen Bart und sprach mit Gravität: »Herr Stadtpfeifer, Leute, denen man's nicht zutraut, können uns auch wohl empfehlen, daß es durchgreift, und es ist schon mancher bei Hofe weiter gekommen durch die Protektion der Kammerjungfer als durch die Protektion der Fürstin. Ich will Euch etwas erzählen. Vor ungefähr zehn Jahren war ein junger Maler in Köln, der hatte viel gelernt und wollte nach Paris gehen, um sich dort ein großes Stück Geld zu verdienen. Vier Wochen lang läuft er bei allen Baronen und Prälaten umher und bettelt sich ein ganzes Ledersäcklein voll Empfehlungsbriefe zusammen, und die zeigt er jedermann: ›Seht, wer fortkommen will, der muß hohe Empfehlungen haben.‹ – Wie er nun eines Tages an der Martinskirche vorübergeht, da ruft ihm der Fuhrmann Müller aus seinem Häuschen zu: ›Herr Gevatter, Ihr wollt nach Paris gehen?‹ – ›Ei freilich, soll ich Ihm was ausrichten?‹ – ›Nein, aber Ihr werdet Empfehlungen brauchen; ich will Euch einen [49] Brief mitgeben. Sprecht morgen bei mir vor, bis dahin soll er fertig sein.‹ – Der Maler versprach's und lachte. Ein Frachtfuhrmann wird auch die rechten Verbindungen in Paris haben! – Nach drei Wochen führte ihn ein Zufall wieder an der Martinskirche vorbei; der Fuhrmann stand vor der Hausthür und schirrte sein Pferd an. – ›Herr Gevatter! Ihr habt ja Euern Empfehlungsbrief nicht abgeholt. Wartet ein Weilchen, ich bringe ihn gleich herunter.‹ – Und ob der Maler wollte oder nicht, er mußte das Schreiben nehmen und steckte es unbesehen in die Tasche.«

»In Paris erging's ihm wunderlich. Für sein Ledersäcklein voll Briefe sagten ihm die vornehmen Pariser mehr Artigkeiten in einer Woche, als die Kölner in fünf Jahren, aber Arbeit wollte ihm kein Mensch verschaffen. Als ein Monat um war, hatte er all sein Geld verzehrt, und er durchsuchte eben den Koffer, ob nicht ein paar Heller unter die schwarze Wäsche geraten seien: da sieht er ganz unten den Brief des Fuhrmanns Müller aus einem zerrissenen Strumpf hervorgucken. Zum erstenmal kommt ihm die Neugierde, die Adresse zu lesen. Der Brief war gerichtet an den ersten Kammerdiener des Königs. Gleich läuft der Maler ins Schloß; der Kammerdiener ist nicht zu sprechen, er liest eben Sr. Majestät die Zeitung vor. Aber seine Frau ist zu Hause. Statt auf französisch begrüßt sie den Ueberbringer des Briefes auf kölnisch. Sie ist ja die Tochter des Fuhrmanns Müller. Sie schilt den Maler, daß er den Brief so spät abgebe. Heiliger Antonius, wie hätte der es ahnen sollen, [50] daß eines Kölner Frachtfuhrmannes Kind auch einmal einen königlichen Kammerdiener in Paris heiraten kann! Als der Kammerdiener heimkommt, freut er sich mit seiner Frau über den kölnischen Landsmann, und nun geht's Schlag auf Schlag. Binnen acht Tagen sitzt die Majestät dem deutschen Maler; das Bild gelingt, Prinzen und Herzoge wollen von ihm gemalt sein, der Mann wird Mode in Paris, und als er nach drei Jahren wieder gegen den Rhein zog, da war das Ledersäcklein, worin die Empfehlungsbriefe gewesen, mit Louisdors gefüllt – alles durch die Protektion des Frachtfuhrmanns hinter der Martinskirche.«

Der Kapuziner hatte kaum das letzte Wort gesprochen, so klopfte es an die Thüre. »Herein!« –

Der Stadtpfeifer stand wie vom Schlage gerührt: – der Fürst selber war es, der eintrat, und hinter ihm Neubauer, so nüchtern als möglich, im ziegelroten Sonntagsrock.

»Ich muß unseren Schützenkönig einmal in seiner hohen Residenz besuchen,« rief der Fürst, dem Stadtpfeifer herzlich die Hand schüttelnd. »Daß Er im Schießen ein Wunderthäter, habe ich ehvorgestern gesehen; nun erzählt mir mein neuer Hofkapellmeister Neubauer« – Frau Christine machte gewaltig große Augen bei diesem Wort –, »daß Er und sein Friedrich auch in der Musik wahre Wundermenschen seiet, daß ihr, gleichsam als musikalisches Zwillingspaar Duette geigtet, wie man sie in Wien nicht hören könne. Er nannte euch beide die größte Merkwürdigkeit, die gegenwärtig in Weilburg existiere. So bin ich denn [51] alsbald auf Euern Turm gestiegen, damit man mir nicht nachsage, ich suche das Schönste in der Ferne, während ich es doch in meinem eigenen Schlosse habe.«

Der Stadtpfeifer stand regungslos wie ein Thürpfosten während dieser Anrede – er war ja in Hemdärmeln! Außer dem Staatsrock, worin der neue Hofkapellmeister prangte, besaß er nur noch ein ganzes und ein zerrissenes Kamisol, beide für die Werktage bestimmt, und ein Kamisol konnte er doch nicht eigens zu Ehren des fürstlichen Besuches anziehen!

Christine hatte schon zweimal Neubauer am Aermel gezupft, ihn bittend und beschwörend, daß er in die Seitenkammer gehen und ihrem Manne den roten Rock ausliefern möge. Vergebens! Er blieb taub!

Der Fürst ließ Friedrich herbeirufen und unterhielt sich eine Weile freundlich mit dem Jungen. »Nun zu den Geigen,« rief er dann mit erhobener Stimme. »Ich möchte auch eines von den schönen Duetten hören, Stadtpfeifer, und bitte meines Vetters, des Herrn Schützenkönigs Liebden, mit rechtem empressement um diese Gunst.«

Der Stadtpfeifer blieb regungslos und schweigend wie vorher und gab nur zuweilen durch tiefe Verbeugungen ein Lebenszeichen von sich. Während der Fürst mit Friedrich sprach, hatte er gegen Neubauer halblaut hinübergerufen: »Gebt mir meinen Rock! Hört! Meinen Rock! Den Rock, oder ich schlage Euch nachher Arm und Beine entzwei!«

Der Fürst blickte den versteinerten Stadtpfeifer staunend an. Da trat Neubauer mit zierlicher Verbeugung [52] vor und sprach: »Ich erzählte Euer Durchlaucht schon, daß mein Freund die Grille hat, nur bei verschlossener Thüre zu geigen, daß er nur im Duett ein Meister ist, keineswegs aber, wenn er allein spielt. Ich vergaß noch eine andere Eigenheit. Er kann nur in Hemdärmeln so vortrefflich spielen; sobald er den Rock anzieht, wird die Geigenhaltung unsicher, der Bogenstrich steif. Ich bitte darum meinen gnädigsten Herrn in meines Freundes Namen, ihm für die Ablegung der ersten Probe seiner Kunst vor einem so hohen Kenner zu dem übrigen auch noch die Hemdärmel nachzusehen.«

Der Fürst lachte herzlich. »Die Bitte ist gewährt! Was doch so einem Musiker für Ratten durch den Kopf laufen! Aber flugs zu den Geigen! Stadtpfeifer, ich verlange viel von einem Duett in Hemdärmeln!«

Als nun Vater und Sohn ihre Instrumente richteten, war es seltsam zu sehen, wie gewandt, fein und doch so bescheiden Friedrich sich zu benehmen wußte, während der Alte so hölzern war, als seien die Hemdärmel eine Eisenrüstung, und vor dem Fürsten scheu die Augen niederschlug, dem neugebackenen Hofkapellmeister aber Blicke tödlicher Wut zuwarf. Frau Christine verlor ganz den Kopf über die Vermessenheit ihres Mannes, Duett vor den durchlauchtigen Ohren des Fürsten und den kritischen Neubauers zu spielen. Der Kapuziner hatte sich auf ihre Bitte davongeschlichen, um unten im Schlosse beim Küchenmeister einen Rock zu borgen.

[53] Das Duett klang anfangs etwas rauh und steif. Der Stadtpfeifer gedachte noch mehr der Hemdärmel als der Musik. Doch, da er dem Sohne wieder Aug' in Auge sah, schwanden ihm diese Gedanken. Es klang allmählich wie sonst; die Zuhörer waren vergessen. Friedrich blickte voll kindlicher Unbefangenheit aufwärts; der Alte sah herab mit Blicken, die so hell glänzten, daß man nicht wußte, ob von Thränen oder vor Freude. Ja, das war ein Duett! Es war das allerschönste, welches jemals in der Pfeiferstube gegeigt worden ist. Wer's nur auch mit angehört hätte! Zuerst mußte der Stadtpfeifer die Hemdärmel vergessen; jetzt sah aber auch der Fürst die Hemdärmel nicht mehr. Die Wände hallten wieder von dem lauten Lobe; doch diejenigen, denen es galt, hörten es kaum, so tief waren sie ergriffen von dem eigenen Spiel.

»Hört,« sprach der Fürst und faßte den Stadtpfeifer bei der Hand. »Euer Sohn muß nach Wien, nach Italien, daß er ein ganzer Meister wird. Rüste Er allmählich seine Abreise. Was zur Ausstattung fehlt, lasse Er bei mir fordern; die Reise- und Lehrkosten bezahle ich, und nach der Rückkehr wird sich ja wohl ein Platz in Unserer Hofkapelle für den jungen Hexenmeister finden.«

Der Stadtpfeifer hieß den Pflegesohn fortgehen, legte seine Geige nieder und sprach: »Ich würde in Freuden Dank sagen meinem gnädigsten Herrn, wenn mir die Thränen nicht zu nahe stünden. Ich glaube, heute hab' ich zum letztenmal gegeigt. Sehen Eure Durchlaucht, ich bin eigentlich ein schlechter Musikant. [54] Immer habe ich mich geplagt und konnte doch nichts zuwege bringen. Da ist mir dieser Bube vom Himmel herabgeschickt worden. Oft habe ich bei mir gedacht, ob Friedrich nicht mehr sei als ein bloßes Findelkind, so ein – wie soll ich sagen – cherubimischer Genius der Musik, der einmal menschlicherweise hier unten geigen wollte, statt droben im Konzert der Engel die Harfe zu spielen. Dann wies ich aber meine Gedanken allezeit streng zurecht und sprach zu mir: Kullmann, sei nicht närrisch! Allein, wenn mir der liebe Gott am selben Abend das Geld für einen Laib Brot auf die Straße legte, warum soll er nicht auch eigens dieses Kind für mich dorthin gelegt haben, damit ich bei ihm ein Brot der Erquickung für meinen inwendigen Menschen fände? Als ich den Buben um Gottes willen aufzog, da ward ich inne, daß mir's wenigstens gegeben sei, in einem anderen zu erwecken, was ich so deutlich in mir fühlte und doch nicht von mir geben konnte. O, wie tröstete mich das! Ich weiß nicht, war es ein Wunder oder hat es natürlich so sein müssen, – nur mit Friedrich konnte ich meistermäßig spielen und bis daher auch nur insgeheim mit ihm. Es ist uns oft recht elend gegangen, gnädigster Herr, aber es ist doch kein Mensch in ganz Weilburg so glücklich gewesen, als wir armen Leute hier oben auf dem Turm, wenn ich mit Friedrich Duett geigte. Das ist nun aus und vorbei. Jawohl, Friedrich muß hinaus. Wie sollen wir Eure fürstlichen Gnaden dafür danken? Aber mit ihm zieht das beste Stück von mir fort. Und wer weiß, ob ich [55] je wieder der ganze Stadtpfeifer werde, der ich gestern noch gewesen bin!«

»Ich will ihm ja seinen Friedrich nicht nehmen,« tröstete der Fürst tief ergriffen. »Er wird wiederkommen als vollendeter Meister, und Ihr werdet dann nicht bloß der ganze, sondern ein verdoppelter Stadtpfeifer sein.«

»Und doch ist mir's, als hätt' ich heute zum letztenmal gegeigt,« sprach Heinrich Kullmann leise vor sich hin, indes der Fürst dem lauten Dank sich entzog, für den jetzt Frau Christine Worte fand, und die Wendeltreppe hinabstieg.

Neubauer blieb noch einen Augenblick zurück. »Unglücklicher Mann,« rief er dem Stadtpfeifer zu, »warum habt Ihr meinen alten Reiserock, der neben in der Kammer hängt, nicht angezogen? Wäret Ihr nicht in den Hemdärmeln geblieben, so hätte Euch der Fürst hier auf der Stelle zum Hofmusiker ernannt: es war alles schon abgeredet!«

Der Stadtpfeifer trat gelassen näher, befühlte das Tuch seines eigenen ziegelroten Rockes und sprach: »Das Kleid sitzt Euch wie angegossen. Seht, Ihr seid gleich an den rechten Mann gekommen, in ganz Weilburg ist vielleicht kein zweiter, dessen Rock Euch so schön gepaßt hätte; ich dagegen bin ein Unglücksvogel, und wo mir endlich einmal der Hirsebrei fürstlicher Gnade geradezu vor dem Mund niederregnet, habe ich keine Schüssel, um ihn aufzufangen.«

Neubauer eilte dem Fürsten nach. In dem Augenblick, da er die Stube verließ, trat der Kapuziner[56] atemlos zur anderen Thür herein, den Rock des Küchenmeisters auf dem Arm.

»Zu spät!« rief der Stadtpfeifer und warf sich todesmüde auf einen Stuhl.

»Zu spät?« wiederholte der Kapuziner. »Dann will ich ungesäumt in den goldenen Löwen gehen, um zu erkunden, wie es Neubauer angefangen, daß er innerhalb einer Stunde ganz besoffen den Schneider mit dem Kruge prügelt und dann wieder fast wie nüchtern dem Fürsten aufwartet, so gewandt, als sei er auf dem Parkettboden zur Welt gekommen. Dieser Neubauer ist ein Mann, den man bewundern und studieren muß!«

In wenigen Tagen trat Friedrich die Reise nach Wien an.

Nun ward es still in der Turmstube. Der Stadtpfeifer blies nur noch im Dienste und im Geschäft. Die Geige hing im Schrank; Kullmann wollte sie nicht anrühren, bis er wieder mit Friedrich Duett spielen könne. Nur wenn zu Zeiten ein Brief aus Wien kam mit erwünschter Nachricht über des Sohnes Wohlbefinden, ja wohl gar mit einem beigeschlossenen eigenhändigen Schreiben Joseph Haydns – dem Stadtpfeifer zitterte allemal die Hand, wenn er das Siegel des vergötterten Meisters erbrach – über Friedrichs unerhörte Fortschritte, nur dann ging er langsam zum Schrank und schaute sich die Geige vergnügt wehmütig an; aber um keinen Preis würde er einen Strich darauf gethan haben.

So verging ein halbes Jahr gar stille, und es [57] war Winter geworden. Kapellmeister Neubauer hatte sich festgesetzt bei Hofe und die ganze alte Hofkapelle umgewälzt. Doch der Erfolg sprach für seine kecken Neuerungen. Minderen Beifall fand es, daß er allwöchentlich bald vor diesem, bald vor jenem Wirtshause um Mitternacht selber in bedenklichen Umwälzungen gefunden und vom mitleidigen Nachtwächter heimgetragen wurde.

Nach Neujahr kam eines Morgens der Kalikant der Hofkapelle auf den Turm und übergab dem Stadtpfeifer ein dickes Paket. Neubauer war ausdauernd gewesen in seiner Dankbarkeit von wegen des ziegelroten Rockes; er hatte nicht geruht beim Fürsten, bis er allmählich dessen Abneigung gegen den allzu grillenhaften Stadtpfeifer besiegte. Das Paket enthielt ein Anstellungsdekret als Hofmusikus für Heinrich Kullmann. An den Rand hatte jedoch der Fürst die eigenhändige Bemerkung geschrieben: »Nota Bene: Im Hofkonzert wird nicht in Hemdärmeln gegeigt.«

Heinrich und Christine feierten einen Tag stiller Freude. Zum Jubeltag wollte derselbe nicht werden, denn es war dem Ehepaar fast wehmütig, die altgewohnte Turmstube zu verlassen, wo sie so viel Leids und Liebes einträchtig zusammen erlebt.

Gegen Abend ging der Stadtpfeifer zu Neubauer, um ihm zu danken. Er fand den jungen Wüstling in auffallend ernster, weicher Stimmung. Als er ihm seinen Dank aussprechen und seine Freude über das unverhoffte Glück bekunden wollte, unterbrach ihn Neubauer. »Seid stille, Meister! Was ist alles Menschenwerk [58] und Menschenhoffen! Wir sind wie Gras auf den Wiesen, das am Morgen noch stolz stehet und am Abend abgemäht ist – ich weiß nicht mehr genau, wie der Spruch heißt, aber er klingt ungefähr so. Und daß ich's kurz sage – denn Ihr seid ja ein Mann und ich bin kein Pastor – heute früh habt Ihr einen Brief mit rotem Siegel erhalten; hier ist einer für Euch mit schwarzem – Morgenrot, trüber Abend – lest ihn selber.«

Der Brief enthielt die Nachricht von Friedrichs Tode. Sein schwacher Körper hatte das Uebermaß des Studierens, dem er sich hingab, nicht aushalten können. »Der Tod will seine Ursach' haben,« bemerkte Neubauer zu dieser Stelle, die sie beide nicht ganz fassen konnten, und der Stadtpfeifer fügte hinzu: »So oder so: ich habe es voraus gewußt, daß ich mein Kind nicht wiedersehen würde.«

In den ersten Tagen der Trauer saß Kullmann oft stundenlang im dunkelsten Winkel der Stube, blickte auf den Boden und faltete die Hände über dem Knie. Und als die Frau ihm freundlich zuredete in dieser Trübsal, sprach er: »Weib, tröste mich nicht. Jetzt bin ich mehr als Hoftrompeter, ich bin wirklicher Hofmusikus und habe satt zu essen; o wäre ich wieder Stadtpfeifer und wir blieben hier auf dem Turm und wären hungrig und – hätten unseren Friedrich wieder! Ach, es war mir immer im Gemüte, daß der Junge zu gut und zu zart sei für diese Welt!« Dann aber richtete er sich plötzlich hoch auf, reichte der Frau die Hand und vollendete in männlicher Fassung: »Wir [59] wollen dennoch nicht verzagen. Der Haussegen, den uns Gott gegeben, weil wir uns dieses Kindes erbarmt, wird nicht von uns genommen sein. Schicke mir unsere drei Kinder herein, daß ich mit ihnen spiele und ihnen von Friedrich erzähle. Wer Trost sucht, der findet Trost.«

Der neue Hofmusiker zog vom Turm in eine Stadtwohnung, und jener Haussegen zog mit ihm, und bald war auch die stille Zufriedenheit des Pfeiferstübchens wieder heimisch geworden in dem neuen Quartier. Ein sonniges Alter war den Eheleuten nach so viel rauhen Jahren bereitet. Christine gedachte jetzt manchmal des Wirtes zu Beilstein, der ihr auf der Hochzeitreise das Behagen des Sonnenscheins gepriesen, als sie Sturm und Regen so lustig gefunden hatte. Jetzt war sie zu des Wirtes Ansicht bekehrt.

Der Sonntagskuchen des elterlichen Hauses in Ebersbach tauchte nach mehr als achtzehnjähriger Pause mit einemmal wieder auf; zuerst kam er klein wie das erste Mondviertel auf den Tisch, dann größer, gleich dem Vollmond, dann gewaltig wie ein Mühlstein. Der Pater Kapuziner witterte den Kuchen, zu dem Frau Christine an Sonntagnachmittagen sogar ausnahmsweise einen Kaffee spendete, und ward nun ein Stammgast in Kullmanns Hause. Sowie noch ein dritter anwesend war, erzählte er dann mit großem Humor und alljährlich sich mehrenden sagenhaften Ausschmückungen die Geschichte von dem Konzert in Hemdärmeln. Als Neubauer schon längst sich zu Tode getrunken, ward seiner dabei immer noch dankend gedacht.

[60] Heinrich Kullmann rührte keine Geige mehr an. In der Kapelle blies er die Hoboe. Als er Hofmusikus ward, hatte er sich jedoch vorbehalten, an besonderen Festtagen auf dem Turme den Choral mitblasen, ja ihn dann selber auswählen zu dürfen. Erst da die Stadtpfeiferei ein Ende nahm, fühlte er, wie sehr sie ihm ans Herz gewachsen war. So blies er denn oben auf Weihnachten, Neujahr, Ostern und Pfingsten, und die Bürger merkten's gleich an dem vollen feierlichen Klang, daß der alte Heinrich Kullmann wieder auf dem Turme stehe. Außer jenen Kirchenfesten hatte er sich aber auch noch für einen persönlichen Festtag die erste Posaune ausbedungen. Es war dies der 14. Juli, sein Hochzeittag. Da überdachte er wohl in dämmernder Frühe beim Aufstehen die wunderbare Führung, mit der ihn Gott durch Leid zu Freud' gebracht, und freute sich des Segens, der nicht von seinem Hause gewichen war, obgleich er dasselbe in Leichtsinn gegründet, dann aber in Mut und Gottvertrauen gestützt und gefestigt hatte. Zweierlei war es, was ihm nach seiner Meinung diesen Segen beschert: daß er nicht bloß das Brot vom Wege aufgehoben, sondern mit dem Brote auch das Kind, und dann, daß er in dem Bauernmädchen von Ebersbach ein so unübertreffliches Weib gefunden. Was er von seinem verstorbenen Friedrich zu sagen pflegte, das sagten die Leute auch wohl von ihm: er sei fast zu gut für diese Welt und zu zart, und fügten dann hinzu: ein Glück, daß er eine so gestrenge, heftige Frau hat.

Mit frommen Gedanken, mit schmerzlich süßen [61] Erinnerungen bestieg der ehemalige Stadtpfeifer am 14. Juli den Schloßturm. Dann aber stieß er oben so mächtig in seine Tenorposaune, daß es widerhallte von den Felswänden des engen Thalkessels, und wie er die Töne aushielt, anschwellen und verklingen ließ, so machte es ihm keiner nach, ja er selbst konnte an keinem anderen Tage blasen, wie an diesem. Denn es schallte nicht bloß die Posaune, daß sie den rechten Ton gab, sondern der Stadtpfeifer sang auch inwendig bei sich den rechten Text mit, und es klang in ihm, wie ein ganzer voller Chorgesang, wie ein Tedeum nach gewonnener Schlacht, wenn sie selb viere zu blasen anhuben:


»Nun danket alle Gott

Mit Herzen, Mund und Händen,

Der große Dinge thut

An uns und allen Enden;

Der uns von Mutterleib und Kindesbeinen an

Unzählig viel zu gut und noch jetzund gethan.«


Traten die Bläser ans gegenüberstehende Fenster, um den Choral zu wiederholen, dann schmetterte der Alte noch gewaltiger drein, denn er schaute nun hinunter auf sein Haus und sang im stillen den zweiten Vers des Liedes, und dieser lautete, als habe ihn Martin Rinckart ganz besonders gedichtet für unseren Heinrich Kullmann, den Stadtpfeifer von Weilburg:


»Der ewig reiche Gott Woll' uns bei unserm Leben Ein immer fröhlich Herz Und rechten Frieden geben Und uns in seiner Gnad' erhalten fort und fort Und uns aus aller Not erlösen hier und dort.«

[62] Im Jahr des Herrn.
1855.

[63][65]

Im Jahr des Herrn 850 lag das Elend vielgestaltig auf den deutschen Landen. An den Nordküsten waren die Normannen plündernd und mordend hereingebrochen; in Thüringen und Hessen die Sorben. Dazu breitete sich eine schwere Hungersnot über alle Gaue. So ward das Maß des Jammers voll.

In Strichen, die Frieden gehabt, schätzte man's hie und da, daß je der dritte Mann Hungers gestorben; wie es aber gar in den vom Feinde verwüsteten Gauen ausgesehen, das weiß niemand zu sagen. Die Geschichte hat jenes Bild des Jammers in Vergessenheit gehüllt. Denn der Krieg war geführt worden als Vertilgungskrieg; darum zerstörte der Feind dem Feinde alle Pflanzungen und verderbte alle Feldfrucht, so daß auch der kleine Rest der hungrigen Ernte, den Gottes Barmherzigkeit übrig gelassen, durch der Menschen Erbarmungslosigkeit vernichtet ward.

Des Nachts hatten Feuerzeichen des Himmels die schwere Zeit voraus verkündet. Eine Wolke stieg auf von Norden her und eine andere kam von Osten entgegen, und feurige Strahlenbüschel ohne Unterlaß gegeneinander schleudernd, stießen sie in der obersten Höhe des Himmels zusammen und verschlangen sich[65] gleich zweien Heeren im Kampfe. Allen Menschen aber erzitterte das Herz; denn sie glaubten, der Herr habe sein Angesicht ganz abgewandt von dem deutschen Volke, und selbst die Hunde sollen dazumal kläglicher als sonst geheult, die Vögel betrüblicher gesungen haben.

Falsche Propheten standen auf am Rhein und an der Donau, und wie Vorläufer des Antichrist gemahnten sie an die Erfüllung der letzten Zeiten. Viele Meister des weltlichen Regiments aber walteten ihres Amtes so willkürlich und gottlos, als ob weder ihr Regiment, noch ihr Leben, noch die Welt jemals ein Ende nehmen könne, und der Stuhl des Weltrichters niemals über den Stühlen aller Könige dieser Welt gesetzt werde.

Nun war im vorgedachten Jahre ein freier Mann im Fulder Land – sein Name ist vergessen – der hatte sein ererbtes Gut einem adeligen Grundherrn zum Eigentum hingegeben, um dafür, ohne Knecht zu werden, doch den Schutz jenes Mächtigen zu gewinnen und sich und seinen Kindern wenigstens Nießbrauch und Zins von dem Besitz zu sichern, der noch seiner Väter volles Eigentum gewesen war. In den schweren Zeitläuften aber starb der Grundherr und seine Sippe verdarb, und ein anderer gewann seine Güter und das frühere Gut jenes Mannes mit ihnen. Der neue Gutsherr wollte nun flugs den freien Mann, der mit seinem Grund und Boden auch schon die Hälfte der Freiheit weggegeben, ganz zu seinem Eigenen machen, wie das damals bei Tausenden geschah, und in der [66] Verwirrung und Not der Zeit konnte der Bedrängte keinen Schutz finden wider den neuen mächtigen Herrn. Da kam ihm ein verzweifelter Mut, daß er das Elend vorziehen wolle der Knechtschaft. Noch lebte in ihm der Stolz und Trotz des alten Germanen, und gar manchmal schaute, er verächtlich auf diese neue Zeit, wo der streitbare Mann dem demütigen Mönch und dem zahmen Bauern zu weichen begann. Sein Großvater hatte als Knabe noch den Dienst der alten Götter im heiligen Haine gesehen. Welche Götter waren denn besser, die alten oder die neuen? Mit den alten Göttern war auch die gute alte Zeit entwichen. Und wie zur Strafe kamen jetzt lange Jahre der Trübsal heraufgezogen, und der neue Christengott hatte nicht Macht oder Lust, den Jammer von seinem Volke zu nehmen. So dachte der Mann aus dem Fulder Land. Er wollte sich selber helfen, mit oder ohne Gottes Hilfe nach der Väter Weise kraft der eigenen Faust.

Darum gürtete er eines Nachts sein Schwert und entfloh von seinem Gute, das nicht mehr sein war, um zugleich der Gewalt des neuen Herrn zu entfliehen. Er nahm nichts mit als seine drei köstlichsten Besitztümer: sein Weib, sein Kind und sein Schwert. Und weil es mitten im härtesten Winter war, so schlugen die Flüchtlinge warme Felle als Mäntel über ihr Gewand. Aber weder Speise, noch Geld oder Kleinodien konnten sie auf den Weg nehmen in dieser armen Zeit.

Sie gedachten aber gegen den oberen Main zu ziehen und von da überzudringen nach Thüringen und[67] Sachsen. Das war ein kühnes Beginnen, denn der Weg ging mitten durch ein vom Feinde verwüstetes, ausgehungertes Land, und es war in den rauhesten kurzen Tagen vor dem Jahreswechsel. Aber die Flüchtlinge waren auch hartgebackene Leute, wetterfest, mit Stahl in den Gliedern und einem wider den Hunger gepichten Magen.

War es doch auch in selbiger Zeit, wo König Ludwig, genannt der Deutsche, bei Flammersheim ein paar Rippen brach und dennoch weiter reiste, als sei er unversehrt, und keinen Seufzer ausstieß, obwohl man das Krachen in den zerbrochenen Rippen hörte, wenn sie aneinander stießen, und mit seinem Bruder Karl eine Unterredung hielt, um das Reich Lothars brüderlich zu teilen, und dann erst, als er sich sein Teil ausgemacht, nach Aachen ging, um nun bei mehrerer Muße die Rippen wieder zusammenwachsen zu lassen.

Das waren noch trotzige Zeiten, trotzige Leute und trotzige Könige, denen es auf ein zerbrochenes deutsches Reich und ein paar zerbrochene Rippen mehr oder weniger nicht ankam.

Es war am Silvesterabend, dem Abende des dritten Tages, seit der Mann aus dem Fulder Land mit Weib und Kind fliehend ins Weite irrte. Das Kind aber war zwei Jahre alt und trank noch immer an der Mutter Brust; denn so zog dieses starke Geschlecht starke Nachkommen groß, und sieben Jahre lang hatte vordem der starke Hermel der Mutter Brust getrunken. Mann und Weib trugen das Kind wechselweise [68] und hüllten es fürsorglich in ihre warmen Felle.

Der Tag war grimmig kalt gewesen. Eisiger noch brach der frühe Abend herein. In den Waldbergen der Rhön hatten sich die Wanderer verlaufen und nur am ersten Tage von der Gastfreundschaft eines selber halb verhungerten Bauern einen mageren Bissen erhalten. Hungrig hatten sie sich schon gestern abend im Schnee des Waldes gebettet.

Am anderen Morgen schritt der Mann noch guten Mutes rüstig aus; denn wer aus der Knechtschaft zur Freiheit wandert, der spürt die Mühsale des Weges nicht. Schweigend, im treuen Duldermut des Weibes zog die Genossin nebenher, das schlummernde Kind im Arme. Aber am Mittage hatten sie sich verirrt in den Schluchten des Gebirges; der Abend schlich heran und nirgends ließ sich der Rauch einer Hütte erspähen. Nur die Spuren des Wildes und der Raubtiere kreuzten sich im Schnee, und noch hatte den ganzen Tag nicht ein einziges Mal das tröstliche Wahrzeichen menschlicher Fußstapfen den Mut der Wanderer belebt. Häufiger wachte das Kind auf, weinte stärker und länger und stammelte seine bittenden Laute, denn auch ihm konnte die Mutter schon nicht mehr Nahrung genug spenden.

Da begann es dem Mann zuweilen vor den Augen zu schwimmen, und es war ihm, als bräche miteinem Schlag sein ganzer Mut zusammen. Doch nur einen Augenblick – und er erhob wieder das Angesicht, schaute trotzig vorwärts in die endlose Wildnis, und sein leichter Schritt trug ihn so sicher und[69] scheinbar frohgemutet wieder dahin, als seien die weißbereiften Zweige mit Frühlingslaub geschmückt und der vom Felsen stürzende Waldbach, darüber sich die gefrorenen Wasserdünste wie eine Rauchwolke lagerten, ein kühler Brunn im Mai.

Des Riesensohnes aus Nordland – so hatten unsere Urväter den Winter geheißen und ihm den Namen des grimmigen Mannes beigelegt mit der kalten Brust – dessen gedachte in der nächsten schwarzen Minute wieder der Mann; denn es überkam ihn, als wolle der grimmige Riese, der leibliche Vetter des Todes, ihn und sein Weib und Kind hinmorden ohne Erbarmen. Es schwindelte ihm vor Kälte, und bis auf die Knochen drangen die Schauer des Frostes.

Das Weib aber mit dem blassen Leidensgesicht war anzusehen wie eine christliche Märtyrerin, die man zur Opferung hinführte vor jenen Riesensohn. Aber ob auch sie wohl im stillen erbebte unter der Mühsal des Leibes und der Marter der Seele, deuchte ihr doch der Anblick ihres Mannes mit einemmal noch viel schrecklicher. Denn wie die Nacht niedersank und das letzte kalte Rot der untergehenden Sonne über dem Schnee der Bäume blutfarben verglühte, breitete sich über die harten Züge des Mannes ein gar furchtbarer Ausdruck. Es war, als gehe ein gewaltiger Kampf durch seine Seele. Unstet rollte das wilde Auge, die Lippen zuckten so heftig, daß er sie fest zusammenbeißen mußte, und gleich als wolle er den Feind, mit dem er inwendig rang, auch mit dem Arme niederschlagen, fuhr mehr denn einmal die Hand nach [70] dem Griff des Schwertes. Weiß besäumt vom Reif erhöhten Bart und Haupthaar die schreckenvolle. Würde des Antlitzes, und im Doppellicht des verlöschenden Abendrotes und der glühend hinter den Bergen aufsteigenden Mondscheibe erschien der Mann wie ein altheidnischer Priester, der, mit dem Zorn der Götter ringend, sich rüstet, das Sühnopfer hier im Allerheiligsten der Wildnis zu bereiten.

So waren die Wanderer zu einer Anhöhe gekommen, wo schwarze Basaltpfeiler aus der Schneedecke aufragten. Unter einem vorhängenden Felsen, den die Pfeiler im Emporsteigen wie ein Dach über sich gehoben hatten, fanden die Ermatteten Schutz vor dem Winde, ein schneefreies Plätzchen und dürres Reisholz genug, das bald zu einem lustigen Feuer aufloderte. Sie beschlossen, hier Nachtlager zu halten, aber der Hunger nagte, daß an keinen Schlummer zu denken war; auch das Kind wimmerte immer häufiger und kläglicher.

Dem Mann ließ es keine Ruhe zu sitzen oder zu liegen; er konnte nur, an die Felspfeiler gelehnt, stehend in das Spiel der Flamme starren oder mit verschränkten Armen auf und nieder gehen. Von den züngelnden Gluten wandte er den Blick in die Höhe zu dem kalten Sternenlicht des Winterhimmels und sprach zum Weibe: »Die Riesen und Helden der Vorzeit leuchten da droben als Gestirne. Sonst blickten sie uns gnädig an. Schau, wie sie jetzt so kalten Auges auf uns niedersehen, gleich dem Riesen Winter selber mit dem kalten Herzen in der Brust. Vom [71] Himmel stiegen die Götter hilfreich zur Erde, als unsere Väter noch Glauben und Opfer für sie hatten. Eure Priester haben die alten Götter aus unserer Brust vertrieben, und die Götter haben nun den Himmel für sich behalten, und den Menschen blieb das Elend.«

Das Weib erwiderte, zitternd und demütig, aber voll gläubigen Vertrauens: »Nur ein Gott ist zur Erde niedergestiegen und hat als Mensch mitgelitten für die Menschen. Da ward die Erde so ganz des Gottes voll, daß fürder kein Gott mehr niederzusteigen braucht.«

Der Mann verstummte. Ganz nahe hörte man das Geheul hungriger Wölfe. Dem schwachen Weib ward es nicht angst bei diesem Nachtgesang; doch als sie wieder aufblickte in das Gesicht ihres Mannes, da ward es ihr angst, denn sein Auge war wilder als das Auge eines Wolfes.

Und der Mann begann aufs neue: »Wo unsere Väter in Unglück verstrickt lagen, da gedachten sie ihrer Schuld und rüsteten Sühnopfer. Je schwerer Schuld und Not, um so teurer mußte die Gabe sein, die zur Sühne dargebracht wurde. Haben uns die Sänger nicht gesagt – heimlich, daß es die Mönche nicht hörten – von dem guten nordischen Könige Domaldi, den sein eigen Volk zum Altare führte, um ihn als den besten Mann des Volkes den Göttern zu opfern, damit sie die Hungersnot vom Lande nähmen? Und als das Opfermesser das Leben des Königs selber durchschnitten hatte, wich der Hunger vom Lande.«

[72] Das sprach der Mann mit dem glühenden Auge des Wolfes, und wie ergriffen von der Vollkraft tierisch-menschlicher Leidenschaft führte er Hiebe mit dem Schwerte durch die Luft. Und abermals versagte dem Weibe das Wort der Erwiderung.

Ja, das waren wildgemutete Menschen, die noch die ganze Wucht eines ungebrochenen Gefühles im Leibe spürten, zu selbiger Zeit, wo selbst ein König mit gebrochenen Rippen sich doch immer noch Manns genug fühlte, ein ganzes großes Königreich zu zerbrechen.

Und aufs neue und immer schrecklicher erhub der Mann seine Stimme: »Du hast nicht vernommen, Weib, was vorgestern der Bauer erzählte, der uns zum letztenmal speiste. So höre jetzt! Der Erzbischof Rhaban sättigt auf seinem Hofe zu Winkel täglich Hunderte von Hungrigen, die in dieser schweren Zeit aus der ganzen Gegend dort zusammenströmen. Nun geschah es unlängst, daß auch ein fast verhungertes Weib zu ihm kam mit einem kleinen Knaben. Als sie aber die Schwelle des rettenden Hauses überschritt, stürzte sie zusammen vor Schwäche und hauchte den Geist aus. Das Kind aber lag an der Brust der toten Mutter und versuchte zu saugen, als ob sie noch lebe, und die härtesten Männer konnten das nicht schauen ohne Thränen. So fiel der Stamm, damit das Reis gerettet werde. Hätte nicht vielmehr die Mutter das Kind opfern sollen, daß sie leben geblieben wäre sich und ihrem Manne und anderen Kindern?«

Da kam dem Weib die Sprache wieder. »Nein!«[73] rief sie und richtete sich hoch auf. »Selig die Mutter, welche so ihr Leben gegeben für ihr Kind. Zum Himmel schwebend wird ihre Seele den Knaben geschaut haben, der noch trinken wollte an der toten Brust und der nun doch geborgen war! Du sagst, vor Schwäche habe sie den Geist aufgegeben! O nein! Im Uebermaß der Freude zersprang ihr das Herz, als sie nach Todesmühen ihr Kind nun endlich doch gerettet sah, und von Wonne bewältigt, hauchte sie das Leben aus.«

Der Mann versank in tiefes Schweigen. Er mußte sein Gesicht verhüllen und abwenden von dem Weibe, das, friedlich auf ihr schlafendes Kind niederblickend, am Feuer saß.

Endlich raffte er sich wieder auf. Mit großen Schritten ging er am verglimmenden Feuer auf und nieder, und noch wilder als vorher rollten seine Augen.

»Wir mögen jetzt nahe der Stunde sein,« rief er, »wo das alte Jahr dem neuen die Hand reicht. Die Pfaffen, wenn sie die Jahre zählen, sagen: im Jahre des Herrn; – aber bei diesem gottverlassenen Jahr voll Schmach und Elendes sollte man billig sagen: im Jahre des Teufels!«

»Und dennoch,« sprach milde das Weib, »hat daseine Jahr, in welchem der Herr als Mensch den Menschen geboren wurde, einen solchen Ueberschuß des Heils über alle folgenden Jahre gebracht, daß auch das schlimmste Jahr nach der Geburt des Herrn immer noch ein Jahr des Herrn sein wird.«

Der Mann nahm das Kind vom Schoße der Mutter. »Die Stunde ist kostbar! Künftiges schauet [74] in der letzten Jahresstunde, wer sich mit dem Schwert umgürtet, auf das Dach seines Hauses setzt, den Blick gen Osten gewendet. Nur eines will ich heute erkunden, ob wir den morgenden Tag überleben! Ist dieser Fels mit seiner Kuppe nicht jetzt unser einziges Haus? Laß mich hinaufsteigen mit dem Kinde nach altväterlichem Brauch! Und indes ich oben die Zukunft beschwöre, gedenke du hier des sühnenden Opfertodes, in welchem das nordische Volk seinen besten Mann, den König Domaldi hinschlachtete, damit der Hunger von dem Lande genommen werde!«

Da rief das Weib verzweiflungsvoll: »So höre du vorher die Geschichte einer anderen Opferung! Höre, wie es erging, da Jehovah dem Abraham befahl, daß auch er sein bestes Gut, seinen Sohn Isaak, am Altare schlachte!«

Aber der Mann hörte nicht. Er stürmte mit dem Kinde zur Felsenkuppe hinauf und verschwand hinter den Büschen.

Das Weib wollte ihm nacheilen, die Mutter dem Kinde. Doch als sie aufstand vom Feuer, da ward erst offenbar, wie ihr der Hunger das Mark aus den Knochen gesogen, sie brach ohnmächtig zusammen.

Plötzlich weckte das Schreien ihres Kindes die Mutter wieder zum Leben, und als sie aufhorchte, klang ganz nahe seitwärts aus den Zweigen hervor Getöse wie eines Kampfes. Dann ward es totenstill.

Da raffte die Mutter sich auf; ihre Kraft war wiedergekehrt, und sie sprang hinüber ins Dickicht, von wo des Kindes Stimme getönt hatte. Und vor [75] ihr stand dort ihr Mann, vergeistert im Gesicht, das Schwert gesenkt, und im hellen Mondlicht sah man, wie Blut von dem Schwerte troff, und Arm und Gesicht des Mannes war mit Blut bespritzt. »Mein Kind!« schrie die Mutter. »Wo ist mein Kind?«

Da reichte ihr der Mann das Kind, das er im linken Arme gehalten, mit dem schützenden Felle bedeckt. Das Kind war unversehrt; es war wieder in Schlaf versunken und lächelte im Schlafe. »Wir sind beide heil und ohne Wunden!« sprach der Mann gebrochenen Tones.

Das Weib forschte, was geschehen sei. Der Mann aber sagte zitternd: »Vollende, was du vorhin begonnen: die Mär von der Opferung jenes Kindes, die Gott dem eigenen Vater befohlen!«

Und verwunderungsvoll, kaum des Wortes mächtig, erzählte das Weib die Opferung Isaaks und schloß mit den Worten der Schrift, die sie so oft im Kloster zu Fulda vernommen: »Da sprach der Engel des Herrn zu Abraham: Lege deine Hand nicht an den Knaben und thue ihm nichts. Denn nun weiß ich, daß du Gott fürchtest und hast deines einigen Sohnes nicht verschonet um meinetwillen. Da hub Abraham seine Augen auf und sahe einen Widder hinter ihm in der Hecken mit seinen Hörnern hangen, und ging hin und nahm den Widder und opferte ihn an seines Sohnes Statt zum Brandopfer.«

Als sie geendet, sprach der Mann: »So hat sich heute erneut nicht die Mär von der Opferung König Domaldis, sondern von der Opferung Isaaks. Siehe,[76] auch ich wollte unser Kind opfern! Doch nicht gleich Abraham, weil es mir Gott geboten, sondern als ein Sühnopfer den zürnenden alten Göttern, und auch, daß wir selbst uns sättigten und unser Leben retteten mit dem Fleisch des eigenen Kindes! Wie ich aber ins Gebüsch trete, taumelnd und wie mit Irrsinn geschlagen durch den eigenen Vorsatz, erschaue ich zwei Wölfe, die an dem Körper eines Rehes zerren. Da wird es wieder hell vor meinem Auge; mit dem Schwerte springe ich hinzu, das Kind ins Fell verhüllt fest an mich schließend, und schlage die Bestien nieder! Hier liegt das Reh, das uns Gott gesandt, der Widder statt des geopferten Sohnes!«

Da rief das Weib gleich einer Seherin: »Und doch ist auch das Opfer Isaaks nur die Verheißung gewesen eines größeren Opfers. Denn als die Zeit erfüllet war, hat Gott selber seinen einigen Sohn dahingegeben zum Sühneopfer für die Schuld aller Menschen. Und seit diesem letzten wahren Opfer sagen wir von jedem Jahre: Im Jahr des Herrn!«

»Ja,« sprach der Mann zerknirscht vor sich hin, »die letzte Stunde dieses Jahres hat es klar gemacht: es war auch dieses Jahr ein Jahr des Herrn!«

Am Feuer sättigten sich die beiden an dem Fleische des Rehes. Dann fielen sie in friedlichen Schlaf.

Die Morgensonne des neuen Jahres weckte die Schläfer. Sie stiegen hinauf zur Kuppe des Felsens, von wo gestern abend der Mann vergeblich die Zukunft erschauen wollte. Da that sich ein wunderbares Bild vor ihren Augen auf: das weite reiche Mainthal [77] glühte im Sonnenschimmer, Hütte an Hütte stieg aus den Gründen, und der Rauch von hundert Feuerstätten hob sich zum leichten Gewölk verschwebend in die reine Winterluft. Die Gatten küßten sich bei diesem Anblick und küßten ihr Kind und fielen nieder, und beteten. Der Mann aber wagte noch nicht wieder seiner Frau ins Auge zu schauen. Doch diese hob ihn liebreich auf und sprach: »Laß uns des alten Jahres jetzt vergessen, obgleich es kein Jahr des Teufels gewesen; denn siehe, noch ist das neue Jahr nur wenige Stunden alt, und doch hat es schon so reiche Verheißung gebracht, daß wir frohgemut zum Wanderstabe greifen. Denn die neue Pilgerfahrt beginnt, wo gestern die alte schloß: Im Jahr des Herrn

[78] Ovid bei Hofe.

In nova fert animus mutatas dicere formas Corpora.

Ov. Met. I, 1.

1855.

[79][81]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

Die Fürstin gähnte.

Der Fürst selber servierte ihr heute den Kaffee im Minnedienst des Flitterjahres ihrer Ehe. Sie saßen allein in dem traulichen kleinen Gemach, dessen Wände so ganz von Blumen verhüllt waren, daß es der Hofmarschall neuerdings als die »Grotte der Flora« in das Zimmerregister hatte eintragen lassen. Durch die weit geöffneten Fensterflügel strich die erweckende Kühle des schönsten Maimorgens, und die leise Luft spielte in dem wallenden Haare der jungen Fürstin, das, noch nicht kunstvoll geordnet, nur durch ein rotes Band zusammengehalten wurde. Eine Fülle der Anmut ergoß sich über diese »Grotte«, daß Götter selig darin hätten schwelgen können – und dennoch gähnte die Fürstin!

Der Fürst hatte einige Papiere vor sich auf dem Kaffeetisch liegen; denn er hielt eben, wie er's nannte, seinen kleinen Kabinettsrat. Dieser aber galt allezeit nur der Fürstin und ihren geistreichen Launen, und der Fürst war noch artig genug, das Tagewerk seiner Regierungsarbeiten an jedem Morgen mit diesem schwierigsten Departement des Innersten zu beginnen.

[81] Selten wohl hat ein junger Ehemann seine Gattin so ganz nach Herzenslust die anmutigste Verschwendung entfalten lassen, wie unser Fürst Karl August. Die Fürstin Eudoxia nannte den Gemahl aber bei seinem zweiten Namen Augustus, weil sie gerne ein augustisches Zeitalter des künstlerischen Prunkes und geistberauschender feiner Ueppigkeit im kleinen Reichsfürstentume hervorgezaubert hätte. Die etwas bäuerlichen Bürger der Residenzstadt ihrerseits hatten in mangelhafter Kenntnis der byzantinischen Geschichte den Namen ihrer neuen Fürstin Eudoxia nicht recht verstanden und schlechtweg zur Fürstin Eidechse verdeutscht. Und in der That sah man das kleine bewegliche Wesen mit den klugen Augen, jeden Tag mit einem anderen goldschimmernden Gewand angethan, durch die Laubgänge des Schloßgartens mehr gleiten und schlüpfen als gehen, dann mußte man bekennen, Eudoxia sei anzuschauen recht wie die klugblickende grüngoldene Eidechse, die so lustig im Frühlingsstrahle hin und her huscht, harmlos, heiter, in Lebenslust gesättigt.

Also Eudoxia durfte ihren Schönheitsphantasien, ihren künstlerischen Plänen und Launen noch ganz freien Lauf lassen, und dieser Pläne waren so viele und ihre Durchführung erforderte so starkes Kopfbrechen, daß fast an jedem Morgen der kleine Kabinettsrat am Kaffeetisch abgehalten werden mußte und oft gar schwer zum Schlusse kam.

Aber die Maisonne, welche durchs Fenster der Frühlingsgrotte so hell hereinscheint, ist ja die Maisonne des Jahres 1724, wo große und kleine Fürsten[82] noch unbekrittelt ihren Launen leben durften und Geld besaßen wie Heu, um in feinem Geschmack mit Trianon zu wetteifern und in phantastischer Pracht mit Versailles.

Ist es doch binnen Jahresfrist in der kleinen Residenz hergegangen, als gälte es, eine neue Welt zu schaffen. Bauleute sind eben noch beschäftigt, den alten Schloßbau durch zwei neue Flügel zu modernisieren. Der Schloßgarten ist völlig umgewandelt. Hier entfaltete sich der Geschmack der jungen Fürstin am reichsten. Da wurden Grotten angelegt, Laubgänge, Teiche, Wasserfälle, Brücken, griechische Tempel und chinesische Pavillons. Die massige, über und über verzierte Steinbalustrade längs der großen Terrasse prangt mit sechs kolossalen Erzvasen, von schön modelliertem, vergoldetem Laubwerk umrankt; dagegen ist Apoll mit den neun Musen bei dem Springbrunnen zur mehreren Bequemlichkeit der Gießer und der fürstlichen Kasse nur aus Blei gegossen und mit weißer Oelfarbe angestrichen, »doch also, daß es aussiehet,« wie ein gleichzeitiger begeisterter Beschreiber sagt, »als seien die statuen aus wahrhaftigem penthelischem Marmor gehauen«.

Die junge Fürstin galt für unermeßlich reich, und der Fürst hatte neuerdings eine große Erbschaft gethan, so daß beim Volke die Sage ging, des Nachts zögen ganze Karawanen von Mauleseln die Straßen zur Residenz entlang, mit Fässern und Säcken Goldes beladen, um die ungezählten Schätze zusammenzutragen, in welche der Fürst nur mit verschwenderischer Hand [83] hineinzulangen brauche. Am Ersten jedes Monats, fuhr dann die Sage fort, pflege sich Karl August ganz allein in sein Kabinett einzuschließen, um sämtliche quittierte Rechnungen der abgelaufenen vier Wochen höchsteigenhändig im Kamin zu verbrennen, damit keine Seele je erfahre, wieviel Geld er verthan und er selber nicht jezuweilen erschrecke vor den ungeheuren Summen.

Also die Fürstin gähnte.

Es geschah dies aber nicht aus Langweile, sondern aus gelinder Verzweiflung; denn die gelindeste Form der Verzweiflung zwingt zum Gähnen.

Eudoxia schwärmte gegenwärtig für Ovids »Verwandlungen«, die sie unlängst aus einer französischen Uebersetzung kennen gelernt hatte. Bereits stickte sie die Geschichte von Philemon und Baucis auf einen Ofenschirm; allein weit Größeres war noch im Werk. In dem erlesensten Zirkel des Hofes wurden Schauspiele aufgeführt, Opern sogar mit Ballett, und die Herren und Damen vom Hofe, wirkten hierbei zusammen mit einigen für diese Unterhaltung eigens berufenen Künstlern. Damals gehörte es aber zum Glanz eines Hofes, nicht bloß eigene darstellende, sondern auch eigene schöpferische Künstler zu besitzen. Nicht bloß Opern geben wollte man, sondern jeder Hof wollte auch seine eigenen Opern geben, seine eigenen Schauspiele und Ballette. Die Fürstin hatte darum einen Hofopernkomponisten von Wien verschreiben lassen in der Person des Maestro Ignaz Lämml. Da man aber bei diesem Posten ebenso bequem sparen zu können [84] glaubte, wie bei dem bleiernen Apoll mit seinen angestrichenen neun Musen, so hatte man dem guten Wiener, der nie in seinem Leben einen Vers gemacht, zugleich die Verpflichtung aufgelegt, sich zu der allmonatlich zu liefernden neuen Oper oder Kantate seinen Text selbst zu schreiben und zugleich, wenn's not thue, als Hofpoet auszuhelfen.

Nun war die Aufgabe des armen Ignaz für den laufenden Monat keine leichte. Er sollte die Geschichte von Pyramus und Thisbe zu einer Oper verarbeiten. Allein trotz ihrer Vorliebe für Ovid hatte die Fürstin doch eine bedeutende Abweichung von der Erzählung des alten Römers für das Libretto befohlen: die Oper durfte nicht tragisch schließen, Pyramus und Thisbe sollten sich am Schlusse heiraten, damit alsdann ein lustiger Tanz eintrete.

Das war zu viel für Ignaz Lämml. In einer schriftlichen Eingabe, die eben im »kleinen Kabinettsrate« vorlag, und gerade sie war es auch, welche die Fürstin zum Gähnen der gelinden Verzweiflung gebracht, erklärte der Maestro eine solche Umbildung der Fabel für ganz unmöglich.

Mit einem Anflug von Ironie verteidigte der Fürst die Ansicht des Kapellmeisters, während die Fürstin für ihre eigene Sache sprach.

Und mit all dem liebenswürdigen Eifer, dessen nur ein junger weiblicher Anwalt fähig ist, rief sie: »Ein König von Frankreich, Karl – Karl der so und so vielte (wer kann die langweiligen Namen und Zahlen behalten!) stellte das Gesetz auf, daß jede Oper heiter[85] und versöhnt enden müsse. Es gehört das gleichsam zur Hofetikette der Oper – –«

»Allein,« unterbrach der Fürst, »unsere großen Meister kehren sich längst nicht mehr an dieses Gesetz.«

»Große Meister? Ja! Aber gerade darum, weil er kein großer, sondern ein kleiner Meister ist, muß sich unser Ignaz Lämml daran kehren. Alle Kunstgesetze sind vergleichbar den Spinnweben, die großen Fliegen brechen hindurch und die kleinen werden darin gefangen. Und so soll sich unser Lämml nur ruhig gefangen geben dem ehrwürdigen Königsgesetz der Oper.«

»Wahrlich, gefangen wird er sich geben, aber die Oper nicht fertig bringen. Denn als er jüngsthin Acis und Galatea schrieb, ging es ihm wie Vetter Christian im Sprichwort, der glaubte, er habe ein Päckchen Tabak gekauft, da hatte er's gestohlen. Er bettelte und stahl sich die Verse aus allen anderen Galateen zusammen. Wo soll der Arme aber die Verse zu Pyramus und Thisbe stehlen, die sich heiraten, statt sich zu ermorden? Hättest du ihm noch die Geschichte vom Dädalus zur Bearbeitung aufgegeben, er würde die Figur des Minotaurus wenigstens an sich selbst haben abstehlen können, denn wie kann man den Ignaz Lämml besser schildern als mit Ovids Worten: ›Semibovemque virum, semivirumque bovem‹ (ein halbochsiger Mensch, ein halbmenschlicher Ochs). Aber verzeih, liebe Eudoxia, ein höchst gutmütiger Geselle ist der Kapellmeister doch und ein vortrefflicher Musikant dazu.«

Die harten Worte des Fürsten waren mit so [86] zärtlicher Schalkhaftigkeit des Tones gesprochen, daß sich Eudoxia nicht gekränkt fühlen konnte. »Unser armer Poet hat Succurs erhalten!« rief sie triumphierend in ihrer vollen anmutigen Munterkeit. »Vor einigen Wochen ist sein Sohn, ein trefflicher Sänger und ein wahrer Tausendkünstler, von Wien herübergekommen, der schneidet ihm jetzt die Verse zu. Der junge Mensch thut höchst geheimnisvoll, macht sich äußerst rar in der Stadt und im Schlosse, kaum weiß jemand, daß er hier ist – aber um so besser für uns, um so glänzender wird die Ueberraschung sein, womit wir euch Zweifler besiegen werden!«

»Nun,« sprach der Fürst, gedankenlos in den Papieren blätternd, »wenn Pyramus und Thisbe glücklich und lustig zur Ehe kommen, dann wäre ich im stande und sänge selber mit in eurer Opera.«

Es hatte ihn aber die Fürstin schon gar oft um seine Mitwirkung als um eine ganz besondere Gunst gebeten, denn Ludwig hatte ja auch zu Versailles im Ballett getanzt. Allein diese einzige Bitte hatte der Fürst immer stracks zurückgewiesen mit den Worten: »Ein Fürst soll nicht Komödie spielen!«

Jetzt aber sprang Eudoxia jubelnd auf. »Das Wort halte ich fest, welches du eben gesprochen, und dich halte ich fest bei deinem Wort!«

Karl August erschrak, sann nach – da ward ihm erst klar der gedankenlos hingeworfenen Zusage Bedeutung. Sich der dankbaren Zärtlichkeit seiner Gemahlin entwindend, sprach er mit fast feierlichem Ernste: »Der König von Frankreich, des Namens du[87] dich nicht entsinnen konntest, war Karl VI. Er hat in der That verordnet, daß jede Oper heiter und versöhnt schließen müsse. Aber schauerlich verhöhnte das Geschick diesen Satz in der letzten Komödie, die dieser König selbst gespielt. Bei einem Fastnachtsscherz trat er als wilder Mann auf, in zottiges Fell und einen Pechkittel vermummt. Da kam er einer Pechfackel zu nahe, das Pechgewand fing Feuer, und der lustige König, der jede Komödie heiter wollte geendigt wissen, starb an dem Schreck und den Brandwunden des letzten Finales dieser letzten Komödie, die er selber mitgespielt. Ein Fürst, Eudoxia, soll nicht Komödie spielen! Doch du hast mein Wort; ich werde es einlösen.«

Eine Wolke flog über das Gesicht der Fürstin, allein sie ging rascher noch vorüber wie Aprilgewölk.

Und sie zog ganz sachte die Replik des Hofkapellmeisters Ignaz Lämml hervor und präsentierte sie samt Tinte und Feder in holdester Anmut schweigend dem Fürsten, daß er den Entscheid darauf schreibe.

Lächelnd schrieb Karl August mit festen Zügen: »Die Opera Pyramus und Thisbe soll lustig mit der Liebenden Heirat schließen. Coûte-que-coûte:so will und befehl' ich's. Carolus Augustus.«

Und diesem Kabinettsbefehl ward ein Lohn, wie er Kabinettsbefehlen sonst nimmer zu werden pflegt: ein Kuß von den schönsten Lippen.

Der Fürst sprang auf, trat ans Fenster und blickte nachdenklich in den Schloßhof.

»Schau!« rief er, »welch seltsamer Aufzug! Vier Männer tragen eine ungeheure, mit Blumen bekränzte[88] Brezel, die stolzeste Geburtstagsbrezel. Sie wollen zu dem schmalen Pförtchen hinein, das zu deines Hofsängers, des Maestro Dal Segno Wohnung führt. Ah! das gilt wohl der Tochter des Welschen, der schönen Cornelia! Aber die Pforte ist zu eng – sie kommen nicht durch mit der ungeheuren Brezel. Sie gehen zurück – nein! – sie halten Kriegsrat. Was werden sie beginnen? Sie steigen zu dem großen Doppelfenster hinein! Das ist unverschämt – wider alle Schloßordnung – vor unseren Augen und am hellen Tage!«

Der Fürst klingelte. Der Kammerdiener erschien.

»Hat Er den unverschämten Kerl gesehen, der eben samt drei anderen und einer ungeheuren Brezel zu Dal Segnos Fenster eingestiegen ist? Wer war der Halunke?«

»Der Maler Friedrich Bergmann, zu Euer Durchlaucht Befehl.«

»Er soll in Arrest gehen, sechs Stunden –«

»Zu Befehl – sechs Stunden.«

»Halt! Sechs Stunden heute und morgen noch einmal sechs Stunden. Mache, daß du fortkommst! – Halt! Sogleich, auf der Stelle soll er sich auf der Wachtstube zum Arrest melden. Hörst du! Absitzen noch heute morgen!«

»Das ist hart!« lispelte die Fürstin, als sie wieder allein waren. »Der arme Bergmann!«

»Die Schloßordnung muß gewahrt werden! Und siehst du, Eudoxia, alles fängt jetzt an, hier Komödie zu spielen, selbst meine Leute! Der ganze Hof phantasiert –«

[89] »Aber warum mußte denn der Arrest des armen Bergmann verdoppelt werden?« fiel die Fürstin rasch, wie das böse Gewissen, ins Wort.

»Weil er ein gescheiter Kerl ist, ein durchtriebener Bursche, der alles kann und weiß, wenn er nur will.«

»Aber du schiebst ihn ja sonst immer zurück hinter den französischen Maler, der Hofmaler werden soll!«

»Weil er sich anstellt wie eine deutsche bête, da er doch ein deutsches Genie sein könnte weit über den Franzosen hinaus. Darum eben schicke ich ihn mit doppelter Strafportion ins Cachot, daß er zum Bewußtsein erweckt werde. Kind, du weißt nicht, wie man deutsche Künstler erzieht!«

2. Kapitel

Zweites Kapitel.

Da lag sie, die ungeheure, blumengeschmückte Brezel, das Meisterstück der Bäckerkunst, auf dem Diebswege durchs Fenster hereingebracht, noch von niemanden im Hause gesehen, verlassen in dem Zimmer der schönen Cornelia, der Tochter des italienischen Sängers. Friedrich Bergmann, der mit diesem landesüblichen Geburtstagsgeschenk einen entscheidenden Sturm auf die Liebesgunst der Göttin dieser Räume hatte ausführen wollen, war davongeschlichen zum Arrest wie ein ertappter Dieb, so nahe dem Gipfel und so grausam in die Tiefe geschleudert!

Die Thür öffnet sich und hereingeschlichen kommt ein zierlicher, spargelhaft lang aufgeschossener junger [90] Mann, fein geputzt mit Schnallenschuhen und seidenen Strümpfen und himmelblauen Kniebändern und einem rotbraunen Samtrock, der für den Fürsten selber nicht zu schlecht gewesen wäre. Erstaunt betrachtet er die einsame Brezel. Also war er heute nicht der erste Gratulant auf dem Platze? Was will der niedliche Blumenstrauß, den er in Händen trägt, gegen diese Kränze, gegen diese ungeheure Brezel! Die Brezel weckt seine Eifersucht. Nur ein Liebhaber kann eine so große Brezel backen lassen. Aber Cornelia soll es ihm büßen, dem glücklichen Anbeter, der sich bis zu dieser Stunde, da er die ungeheure Brezel erblickt, für den einzigen hielt – –

Doch stille! Es naht ihr leichter, schwebender Tritt, und der Gratulant pflanzt sich, sein Sprüchlein rüstend, mit dem niedlichen Strauß neben die ungeheure Brezel.

Cornelia tritt ein, schön wie dieser schönste Maimorgen des lustigen Jahres 1724.

Es war ein Doppelgeburtstag, und die beiden Liebenden – wir dürfen sie wohl so nennen trotz Friedrich Bergmann und seiner großen Brezel – tauschten gegeneinander Sträuße und Glückwünsche und Küsse aus. Wie sollten sie nicht füreinander bestimmt sein, wo sie an demselben Tage im Mai das Licht dieser schönen Welt erblickt!

Cornelia muß unbändig lachen über die ungeheure bekränzte Brezel. Aber sie ist zugleich gerührt, gerührt, daß ihr Franz, der erst seit einigen Monaten aus Wien nach dieser Gegend gekommen (denn der zierliche [91] Bursche ist niemand anders als jener Sohn des Hofkapellmeisters Lämml, der Tausendkünstler, von welchem die Fürstin gesprochen) – diese Landessitte der großen Geburtstagsbrezeln bereits erkundet und ihr die größte Brezel, die gewiß seit Menschengedenken in der Stadt gebacken wurde, gewidmet hat.

Franz weist anfangs den Dank zurück. Aber er besinnt sich. Ja, sie soll es ihm büßen, daß sie noch einen anderen Anbeter hat, der so große Brezeln backen läßt, und betrogen werden soll auch dieser andere – am Ende gar der Sohn des Hofbäckers! – und also nimmt Franz den Dank für die Brezel huldvoll entgegen, und wie zum Liebeszeichen verzehrt das anmutige Paar den Anschnitt von der ungeheuren köstlichen Brezel gemeinsam.

Armer Friedrich Bergmann! Indes du nun im Gefängnisse brummst, schwelgt solchergestalt dieser leichtfertige Wiener buchstäblich wie bildlich in aller Süßigkeit deiner ungeheuren Brezel.

Begeistert durch den Anschnitt der Brezel und den Humor, den jedes für sich in dem köstlichen großen Backwerk fand, wurden die beiden Liebenden zu einem neckischen Spiel der Laune hingerissen, welches sie in letzter Zeit öfters geübt, – sie machten nämlich gemeinsam Verse, gleichsam im Duett.

Es hatte damit aber eine eigene Bewandtnis.

Franz dichtete den Text zu Pyramus und Thisbe, der Oper mit dem heiteren Schluß. Er hatte mit diesem Liebesdienst seinen Vater aus einer Hölle erlöst, und der Alte wollte den Sohn seit gestern abend, wo er [92] die kühne Wendung zum glücklichen Ausgang der Oper aufgespürt, in Gold fassen. Pyramus hat den blutigen Schleier der Thisbe gefunden, der Löwin Fußstapfen im Sande entdeckt, zieht sein Schwert, um sich zu ermorden, singt aber vorher noch mit gezogenem Schwerte eine tragische Arie. Da hört ihn Thisbe, stürzt herbei – und alles weitere macht sich von selber.

Diesen Text nun dichteten Franz und Cornelia, in anmutigem Spiele improvisierend, gemeinsam. Denn, Cornelia, obgleich in Deutschland geboren und das Deutsche als ihre zweite Muttersprache redend, hatte doch noch von ihren Eltern die nationale Gabe der Improvisation ererbt, und die Stegreifverse flossen ihr so zierlich und manierlich von den Lippen, daß der gewandte junge Poet und Sänger oft kaum gleichen Schritt halten konnte.

Nach den ersten Liebesscenen zwischen Pyramus und Thisbe, die auf beiden Seiten der trennenden Wand durch den Ritz abgesungen werden müssen, erscheint laut Vorschrift der Fürstin Eudoxia das Ballett, um einen Menuett zu tanzen. Während aber die Damen und Herren vom Hofe im Stücke selber singen, sollen die Hofsänger singend eintreten bei diesen Intermezzos des Balletts, welche allegorisch den Inhalt der vorangegangenen dramatischen Scene darstellen.

Was soll man aber zu einem Menuett singen?

Es bedurfte in der That der ganzen Inspiration der großen Brezel, um diese Frage zu lösen.

Aber Cornelia weiß flinken Rat. »Wir singen einen Wechselgesang über den Menuett, vom Menuett.[93] Die Liebesscene ging vorher. Der Menuett ist der Tanz der Liebe – –«

»Halt ein!« rief Franz, »schon strömen die Verse mir zu. Also:

Menuetto.

Es hat den Menuett Gott Amor selbst erfunden:

Ihn tanze, was sich liebt! Mit gravität'schem Gang

Erscheint Frau Musika; doch weicher Liebessang

Ist wie ein Rosenkranz um ihr Gewand gewunden:

Prächtig und stolz zu sein, naiv und doch kokett,

Lüstern und spröd zugleich; das lehrt der Menuett.«


»Nun komme ich!« rief Cornelia und begann zu den Worten auch sogleich eine zierliche Menuettweise mit glockenheller Stimme zu improvisieren:

Trio.

»Das macht, es hat der Schalk, der lose Gott der Liebe,

Verteilt im Menuett des Manns, des Weibes Triebe:

Züchtig naiv sind wir, verbuhlt die Männer nur:

Drum klingt im Menuett so doppelte Natur.«


Und wie Schlag auf Schlag fiel jetzt wieder Franz ein und sang, zugleich die von Cornelia begonnene Melodie fortführend:


»Das laß ich gelten dir, o holde Göttin mein,

Ist gleich verbuhlte Art nicht Männer Art allein:

Doch teilt der Menuett des Manns, des Weibes Triebe,

So einigt er sie auch im Grundaccord der Liebe:

Drum tanzt ein liebend Paar Menuett, so sei zum Schluß

Die rechte Hauptkadenz – ein ganz verstohlner Kuß!«


Bei den letzten Versen war der Gesang in ein Parlando, bei den letzten Worten in rasches Sprechen[94] übergegangen, und ehe Cornelia sich's versah, war der Kuß geraubt.

Es trat eine lange Pause ein. Die Liebenden saßen wie verklärt vor der großen Brezel. Der Schlag der Vögel klang so hell von den Bäumen des Schloßgartens herüber; – o das war ein köstlicher Augenblick. Nur der arme Friedrich Bergmann, der diese Begeisterung doch auch wider Willen mit hatte entzünden helfen, brummte im Arrest und hatte eben wohl nicht das rechte Maibewußtsein.

Wie aus einem Traume erwachend, sprang plötzlich Franz auf. »Leichtsinnige Kinder, die wir sind! So machen wir harmlos eine Komödie in Versen, indes wir beide selber mitten drein sitzen in einer Komödie, in dem verwickeltsten Intriguenstück, das sich jemals in den Räumen dieses Schlosses abspielte. Pyramus und Thisbe! – Sind wir selber nicht auch Pyramus und Thisbe? Erst wollen wir die Gefahren unserer eigenen Liebe in Verse bringen und in Noten setzen, ehe wir an die Liebesabenteuer längst begrabener Helden denken.«

»O stille davon!« rief Cornelia leichtmütig. »Lassen wir unser Schicksal rollen, wie es rollt, gedankenlos spielend, scherzend, dem Augenblick hingegeben, und eine unbekannte Hand möge die Zügel lenken.«

»Aber der Augenblick gerade ist ja so fastnachtstoll, so köstlich, daß man ihn festhalten, in langsam bedachten Zügen schlürfen und genießen muß!« entgegnete Franz. »Unsere Väter hassen sich wie Spinne und Kröte. Und dennoch brauchen wir nicht durch[95] den Ritz in der Wand Duett zu singen wie Pyramus und Thisbe. Nein, wir singen und sprechen hier am hellen Tage in deines Vaters Wohnung ganz laut und offen. Dein Vater hört den Ton meiner Stimme arglos, nebenan in seinem Zimmer. Nur weiß er nicht, daß ich Ich bin. Er schmeichelt mir, weiht mich ein in alle Geheimnisse seiner Gesangkunst, hegt mich wie einen Sohn in seinem Hause, mich eine Maske, den Sänger Anton Howora aus Böhmen, und wenn er ahnte, daß ich auch nur ein Stück von dem Sohne des Ignaz Lämml sei – – o, es wäre eine höchst lustige und eine höchst traurige Geschichte, wie er mich dann stracks zum Teufel jagen würde!«

»Doch jeder Besuch, der hier eintritt, dich erkennt, bei deinem wahren Namen begrüßt, kann unser Lustspiel in ein thränenreiches Drama verwandeln! Noch begreife ich nicht, Franz, wie es dir gelang, die Maske volle zwei Monate zu bewahren.«

»Ihr Kleinstädter begreift das freilich nicht,« sprach Franz mit selbstgefälligem Lächeln. »In Wien lernt man dergleichen Dinge, besonders beim Theater. Als ich die lustige Kaiserstadt verließ, da dachte ich, das einförmigste Leben, gehüllt in den Nebel unendlicher Langweiligkeit, erwarte mich hier. Ich kam mir vor, wie einer, der in die Verbannung reist, etwa wie unser Freund Ovidius, als er nach dem Schwarzen Meer gesegelt ist. Tristien nur fürchtete ich hier singen zu können, Klagelieder und jammervolle, ›Briefe vom Pontus‹ zu schreiben an die tollen Genossen meines Wiener Lebens, und statt dessen mache ich Metamorphosen, [96] höchst abenteuerlich ergötzliche Verwandlungen, seit den ersten Tagen, in welchen ich den Fuß in dieses verzauberte Städtchen gesetzt! Gleich die erste Verwandlung betrifft mich selbst. Ich höre von dem Ruf des großen Gesangsmeisters Dal Segno. Ei, da gäbe es wohl eine schöne Gelegenheit, ihm einige von den Geheimnissen seiner Kunst abzulauschen, meinen Studien hier einen letzten glänzenden Schliff zu geben. Ganz arglos lege ich meinem Vater den Wunsch vor, noch ein wenig Schule bei Dal Segno zu machen. Ich erwog nicht, daß zwei so eigensinnige Tonmeister unter dem Dache desselben Schlosses ja naturgemäß gar nicht anders als in grimmigster Feindschaft leben können. Mit Zorn und Hohn verweist mir mein Vater dieses hochverräterische Ansinnen. Eigensinn zeugt Eigensinn. Nun will ich erst recht Dal Segnos Schüler sein –«

»Und da kommt,« so fiel ihm Cornelia schalkhaft in die Rede, »eines Tages ein fremder Bursche in unser Haus, der sich Anton Howora nennt, aus Prag in Böhmen, und trillert dem Vater so perlende Kadenzen vor, daß der spröde Lehrer von glühender Begierde entzündet wird, einen solchen Sänger seinen Schüler nennen zu dürfen.«

»Willst du schweigen, Spötterin! – Das ist nun meine erste Verwandlung. Die zweite wuchs aus derselben hervor; aber sie war gar viel schwieriger. Denn zuerst hatte ich nur meinen Namen verwandeln müssen; jetzt aber mußte ich mich selbst verwandeln. Ich durfte nicht aus meinen vier Pfählen herausgehen, an keinem öffentlichen Orte mich zeigen, keine Besuche machen, [97] keine Bekanntschaft anknüpfen. Denn wie hätte ich sonst meine Doppelrolle auch nur drei Tage spielen können in diesem kleinen Nest, in diesem neugierigen Schlosse, wo der Fürst selbst sich an jedem Morgen die Thorzettel vorlegen läßt, damit er jede Mücke kennt, die in seine Residenz aus oder ein geflogen ist! Wenn's stürmt und regnet, daß man keinen Hund vor die Thür jagt, dann gehe ich spazieren; in stichdunkler Nacht schaue ich mir das Innere der Stadt an und die neuen Prachtbauten des Fürsten. Nur zur Mittagessensstunde, wenn alle ordentlichen Bürger bei Tische sitzen, wage ich einmal über die Straße zu schlüpfen und verhülle mir dann das Gesicht (das ich sonst so gern recht offen zur Schau trug), als hätte ich Zahnweh –«

»Und dennoch,« unterbrach Cornelia, »würde deine Verwandlung nicht lange Stich gehalten haben, wenn mein Vater nicht ganz außer der Welt lebte, begraben in den Wust seiner Noten und Instrumente, wenn er nur ein klein wenig neugieriger wäre –«

»Etwa so neugierig wie seine Tochter Cornelia,« fiel Franz ein. »Denn die witterte alsbald etwas von der Metamorphose. Ja, Cornelia, und hättest du nichts davon gewittert und hättest mir nicht einen Zauber angethan, ich würde den Anton Howora selber bald wieder nach Böhmen heimgeschickt haben. Und gälte es die Triller des Orpheus und die Koloraturen des Arion zu erlauschen, so wäre es doch mit dieser Verwandlung auf die Dauer zu teuer bezahlt gewesen. Denn indem ich der größte Sänger geworden, wäre [98] ich zugleich vor Langweile gestorben. Ein mächtiger Gott mag Apoll sein, doch mächtiger noch ist Amor. Da sitze ich nun zu Hause, studiere wie ein Narr, nur um nicht unter die Leute gehen zu müssen, – studiere mich, ohne es selbst recht ernstlich zu wollen, zum größten Sänger, bloß um einer Liebeskomödie, willen – wahrlich, Cornelia, als Leander den Hellespont durchschwamm, zeigte er nicht größeren Liebesmut. Und dennoch werde ich bereits hier und dort erkannt in der Stadt. Nicht lange mehr hält das Spinngewebe unseres Geheimnisses. Wir müssen auf neue Verwandlung sinnen. Denn das schwöre ich dir bei dieser großen Brezel und bei meiner noch viel größeren Liebe, mein Vater, der gutmütigste Mann, wäre unversöhnlich, wenn er hinter solchen Betrug käme. Wenn ich mir dächte, daß er jemals einen Fuß in diese Wohnung setzen könnte, dächte, daß er hier seinen Sohn überraschte als Schüler seines Todfeindes, in verliebter Zwiesprach mit seines Todfeindes Tochter, wenn ich mir vorstelle das Entsetzen, die Wut in den Zügen des dicken gutmütigen Mannes – –! ein Schlaganfall wäre bei seiner Korpulenz – – –«

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

– – Da öffnete sich die Thür, und herein trat der dicke Mann selber, der Hofkapellmeister Ignaz Lämml!

– – »unausbleiblich!« vollendete Franz, und [99] der Schreck trieb ihm dieses letzte Wort überlaut, leichsam als einen artikulierten Schrei des Entsetzens aus der Kehle, und das junge Paar flog davon in ein Seitengemach, als habe es ein Gespenst gesehen. Erstaunt blickte Ignaz Lämml rundum. Er hatte den Fliehenden nicht erkannt.

»Das ist seltsam!« sprach er bedächtig zu sich selber und kopfschüttelnd. »Ich hatte gefürchtet, zur Thür hinausgeworfen zu werden, wenn ich hier eintrete, statt dessen springen die Leute von mir weg wie der Floh vom Betttuch! Was rief mir der Bursche entgegen? ›Unausbleiblich!‹ – Unsinn ist das und das Komödiantenvolk verrückt!«

Nach diesem Selbstgespräch nahm der Hofkapellmeister eine Prise und dachte darüber nach, woher es wohl komme, daß alle großen Musiker Tabakschnupfer seien.

In überwallender Rührung und Dankbarkeit über die Rettungsthat seines Sohnes, die ihn aus der verzweifelten Klemme von Pyramus und Thisbe gerissen, hatte sich Ignaz Lämml zu dem unerhörten Schritt entschlossen, die Schwelle seines Todfeindes zu überschreiten. Heute war Franzens Geburtstag. Der Alte hatte lange gesonnen, was er wohl thun möge, um dem unvergleichlichen Sohn die höchste Ueberraschung und Freude zu bereiten. Da fiel ihm ein, wie dringend ihn Franz vor einiger Zeit gebeten, daß er die letzten Feinheiten der Gesangskunst noch bei Dal Segno erlernen dürfe. Mit groben Worten hatte er damals den Sohn zurückgewiesen. Wie that das dem weichherzigen [100] Vater jetzt in der Erinnerung weh! Nun, wo sich Franz so edelmütig gerächt, hätte er fast geweint über seine vormalige Grausamkeit, denn dem dicken, zartgebackenen Mann rollten die Thränen gar leicht über das runde Gesicht. Da nahm er sich vor, zur Buße für seine Hartherzigkeit, als Zeichen des höchsten Dankes gegen den Sohn und zugleich zur glänzendsten Geburtstagsüberraschung selber zu Dal Segno zu gehen, dem Todfeind Frieden und Versöhnung zu bieten, und es koste, was es wolle, dem Sohne den Unterricht des eigensinnigen Italieners auszuwirken.

Der Gang von dem Flügel des Schlosses, wo des Gesangmeisters Wohnung, war dem guten Lämml, der nicht nur den Sohn überraschen wollte, sondern auch sich selbst überrascht hatte, in der That zu einem Bußgang geworden, so qualvoll, als hätte er einen mit Erbsen bestreuten Weg auf den Knieen abgerutscht. Aber der heitere Gedanke, was wohl sein Franz nachgehends für Augen machen möge, hielt ihm den Mut aufrecht.

Da stand er nun ganz allein in der Stube, schwur sich zu, sich auch durch den heftigsten Grobheitsangriff des Italieners nicht aus seiner Fassung bringen zu lassen und jeden Feuerbrand der Beleidigung, den jener gegen ihn schleudern würde, sofort mit einem vollen Wasserguß der ergebensten Freundlichkeit abzulöschen – und betrachtete dabei die ungeheure Brezel.

Neugierig, wie er war, ging der Alte schnüffelnd im Ring um die Brezel herum, und naschhaft war [101] er auch, drum nahm er ganz verstohlen eines der Stückchen, welche das Liebespaar abgeschnitten hatte, und kostete das treffliche Gebäck.

Und wie er nun just den ersten Bissen im Munde hat, das entwendete Stück in der Hand, da tritt der Italiener ins Zimmer, gleichfalls von außen kommend.

Eben hatte Maestro Dal Segno draußen die Mär von der verhängnisvollen Brezel vernommen, von dem Einsteigen in sein Zimmer, welches den allerhöchsten Zorn Seiner Durchlaucht erregt, aber keiner wußte ihm noch den Frevler zu nennen. Das rührte ihm schon die Galle.

Da muß er nun gar beim ersten Schritt über die Schwelle die zwei Gegenstände seines höchsten Aergers mit einem Blicke sehen: die Brezel und den Hofkapellmeister.

Die Brezel lag groß, ruhig und würdig da, aber der Kapellmeister stand neben ihr wie ein Schulknabe, den der Lehrer auf frischer Frevelthat ertappt. Er konnte nur Verbeugungen machen, denn der Bissen des trefflichen Gebäckes erstickte ihm jedes Wort seiner wohlbedachten Anrede im Munde.

So standen sich die beiden eine gute Weile gegenüber, Kampfhähnen vergleichbar, welche, die Flügel auf den Boden ausspreizend, gegenseitig auf den ersten Angriff warten.

Endlich aber kam beiden zu gleicher Zeit die Sprache wieder, und der entfesselte Strom brauste über den gebrochenen Damm.

[102] Der Hofkapellmeister begann: »Heute, als am Geburtstage –«

»Also auch Sie sind bei dieser sauberen Geburtstagsgeschichte beteiligt, auch Sie sind verflochten in das Komplott mit dieser Brezel!« unterbrach der Italiener.

»Heute, als am Geburtstage meines Sohnes Franz, Herr Kollega,« fuhr der Deutsche mit höchster Gelassenheit fort.

»Ah so! bitte um Verzeihung!« rief der Italiener etwas erleichtert dazwischen.

»Heute, als am Geburtstage meines Sohnes Franz –« der Deutsche war nun durch die verteufelte Brezel doch konfus geworden. Dreimal noch wiederholte er diesen Anfang seiner wohlstudierten Rede, konnte aber nicht weiter, ließ die wohlgesetzte Phrase fallen, modulierte aus dem hochdeutschen Eingang in seine angestammte breite Wiener Mundart und sprudelte einen schwer zu entwirrenden Knäuel von Sätzen heraus, in welchen er dem aus den Wolken gefallenen Italiener den Wunsch darlegte, daß aller Groll zwischen ihnen vergessen, und vergeben sein und daß der Maestro seinen Sohn Franz unter die Zahl seiner Schüler aufnehmen möge.

Dal Segno maß unseren Ignaz Lämml mit großen Augen vom Kopf bis zu den Füßen. Endlich fuhr er in trotzigem Tone heraus: »Ich kenne Ihren Sohn nicht; ich nehme keinen unbekannten Schüler. Wer ist er? Wo ist er? Was ist er?«

Der Kapellmeister hatte aber die Gewohnheit,[103] wenn eine Aufwallung in ihm kochte, die er niederkämpfen wollte, gewisse gangbare Rouladen vor sich hin zu singen, gleich wie andere zu demselben Zwecke das Einmaleins im stillen durchrechnen. Das machte sich nun gar ergötzlich, wie er, die Hände in den Rocktaschen, so vor sich hin sang, während ihn der Italiener von Kopf zu Fuß großaugig musterte. Auf die trotzig hervorgestoßenen Fragen aber erwiderte er ganz gelassen: »Mein Sohn ist mein und der besten Wiener Meister Schüler und befindet sich hier bereits seit mehreren Monaten.«

»Seit mehreren Monaten? Und doch hat man noch gar nichts von ihm gehört! – Gehört!« wiederholte der Italiener mit starker Betonung, darin Verachtung und Spott gemischt war, und wie zur Erläuterung des Doppelsinnes in dem Worte »gehört« sang er dem anderen einige Triller und Kadenzen in die Ohren, die sich mit den Beruhigungsrouladen des Kapellmeisters zu einem höchst wunderlichen Duett verschmolzen.

Der Kapellmeister hielt die Ohren zu und rief so laut, als sei er in einer Mühle: »Die größten Sänger vollendeten immer ihre Studien im Verborgenen, um dann als fertige Meister die Liebhaber zu überraschen, die tadelsüchtigen Momos aber mit einem Schlag niederzuschmettern!«

»Ich bedaure, keinen neuen scholarem annehmen zu können, Herr Kollega; ein junger Sänger vom seltensten ingenio, Anton Howora aus Böhmen, hat dermalen meine ganze Lehrthätigkeit für sich hinweggenommen. [104] O, ein wahrer Juwel von einem Sänger ist dieser Howora!«

»Howora? Von dem hat man ja noch gar nichts gehört! – Gehört! Herr Kollega!« rief der Kapellmeister, den giftigen Ton des Italieners nachahmend und sang nun ihm einige Triller und Kadenzen in die Ohren.

Maestro Dal Segno aber parodierte nun seinerseits mit eiskaltem Gleichmut, ebenfalls überlaut, als sei er in einer Mühle: »Die größten Sänger vollendeten immer ihre Studien im Verborgenen, um dann als fertige Meister die Liebhaber zu überraschen, die tadelsüchtigen Momos aber mit einem Schlage niederzuschmettern!«

Eine lange Pause trat ein: die Kampfesruhe zweier Fechter, welche sich eine Weile gemessen haben, ohne daß einer einen Vorteil hätte erringen können.

Der Hofkapellmeister schritt, seine Beruhigungsrouladen singend, langsam im Zimmer auf und ab.

Den Italiener aber ließ seine Heftigkeit nicht lange schweigen.

»Obgleich der Herr Hofkapellmeister noch nichts gehört haben von dem unübertrefflichen Sänger Anton Howora, so ist doch dessen große Reputation zu den Ohren Ihrer Durchlaucht der Frau Fürstin gedrungen, und Ihro hochfürstliche Gnaden haben mir bereits die beste Hoffnung gemacht, daß mein Schüler demnächst als Solotenorist und Hofsänger in Ihrer Kapelle angestellt werde.«

Da platzte dem Kapellmeister die Geduld, und entzwei [105] riß ihm der Faden der Beruhigungsroulade. Glühroten Gesichtes rief er: »Das ist gelogen, Herr Kollega! Meinem Sohn hat die Fürstin Hoffnung gemacht auf die vakante Hofsängerstelle und nicht Eurem namenlosen Howora oder Gomorrha – Sodom und Gomorrha! – oder wie er sich sonst ins Dreiteufels Namen schreibt.«

Der Italiener zitterte vor Wut. Aber in dem Maße wie der Wiener rot wurde gleich einer Klatschrose, ward er kreideweiß, und während jener tobte, ward er jetzt ganz still; der höchste Zorn wandelte ihn in ein Steinbild, wie er jenen zum wütenden Ajax umschuf.

Zum Hohn sang nun auch noch der Italiener ganz kaltblütig die Beruhigungsrouladen des Kapellmeisters.

Der horchte auf. »Es scheint, Ihr spielt nun meinen Part, Herr Kollega! Da heißt es fürwahr dal segno, Herr Dal Segno, da capo dal segno!«

Der Italiener erwiderte mit eisiger Gelassenheit: »Wer einen Namen trägt, wie Ihr, Lämml, der muß nicht Wortspiele machen mit anderer Leute Namen. Denn man sagt, nur aus Bescheidenheit gebt Ihr's so klein und nennt Euch Lämml, während Ihr doch eigentlich vollen Rechtsanspruch hättet, den Namen eines ausgewachsenen Schafes zu führen. Andere dagegen meinen, nein, so stehe es nicht, es sei nur ein Buchstabe verwechselt worden in Eurem Namen und der Lämmel sollte eigentlich der Lümmel heißen.«

So etwas läßt sich ein Hofkapellmeister nicht bieten.

[106] »Heiße ich der Lümmel, dann will ich auch der Lümmel sein!« rief er, und der dicke Wiener sprang mit einem Satz, den ihm kein Mensch zugetraut, auf den Italiener los, packte ihn mit beiden mächtigen Armen, hob ihn in die Höhe, hielt, anzuschauen wie der starke Mann, der sich auf dem Jahrmarkt sehen läßt, den Welschen schwebend in der Luft und schrie, hinaufschauend zu dem zornesblassen Nußknackergesicht: »Nicht eher sollst du mir loskommen, du hochkrähender welscher Hahn, bis du mir Satisfaktion versprochen hast, Satisfaktion auf der Stelle, Degen gegen Degen!«

»Laßt mich los!« ächzte der Italiener. »Ich verspreche Euch Satisfaktion.«

Da setzte der dicke Wiener das kleine Männlein wieder auf den Boden nieder, und verwunderte sich, wie es schien, über sein eigenes Heldenfeuer; denn er ward vom Augenblicke an wieder ganz der weiche Sanguiniker und zog seinen kleinen Paradedegen mit unbeschreiblichem Gleichmut.

Da sprach der Italiener: »Musikanten fechten nicht mit dem Degen; steckt doch das Ding da in die Scheide! Musikanten kämpfen mit Gesang. Wohlan! Ich stelle meinen Kämpfer: den Anton Howora, und in ihm stelle ich zugleich mich selber; denn Schmach treffe den Lehrer, wenn der Schüler unterliegt. Ihr aber lasset Euren Sohn wettsingen mit meinem böhmischen Amphion. Ueber diese beiden entbrannte der Kampf: so möge auch die Entscheidung in ihre Hände, will sagen in ihre Kehlen gelegt sein. Auf heute abend haben Ihro hochfürstliche Gnaden eine Serenade [107] im Schloßgarten befohlen. Die werde uns zum Turnier. Stellet Euren Sohn, ich stelle den Böhmen. Die Fürstin hat beiden die Hofsängerstelle verheißen: so möge Ihro Durchlaucht selber heute abend entscheiden, wer von beiden solcher Gnade würdig ist.«

Der Kapellmeister willigte ein und schlug als Aufgabe des Kampfes das Duett des großen Scarlatti vor: »Blickt gnädig, hellglänzende Sterne der Liebe!«

»Gerade dieses Duett singt Howora göttlich, unübertrefflich!« fuhr der Italiener heraus.

»Es ist eine unübertreffliche Leistung meines Sohnes,« entgegnete der Deutsche.

»Die große Schlußkadenz singt Howora mit einem Atem, der drei Ellen lang ist.«

»Gerade das ist meines Sohnes Bravourstück.«

»Howora schlägt einen Triller auf dem letzten hohen C.«

»Auf dem letzten hohen C schlägt auch mein Sohn einen Triller.«

Sie waren nahe daran, sich abermals in die Haare zu fahren; denn was der eine von Howora rühmte, das rühmte genau auch der andere vom Franz Lämml.

Als sie sich trennten, sprach der Welsche zu sich: »Der deutsche Esel wird die Weisen des göttlichen Scarlatti herausheulen wie der Nordwind, der das ganze Jahr über dieses hyperboräische Land dahinfährt!«

Und der Deutsche sprach zu sich: »Die Böhmen sind alle falsch, und wer falsch ist, der singt auch falsch. [108] Wie will dieser italienische Windbeutel dem Böhmen den tiefsinnigen Scarlatti lehren, den er selbst nicht versteht, den Scarlatti, bei dem sogar unser Händel Schule gemacht?«

Als die beiden Alten das Zimmer verlassen, schlüpfte das junge Paar aus seinem Versteck, von wo es die ganze Zwiesprache belauscht.

Bei Franz hatte es wie ein Blitz gezündet, da er die Aufforderung des Italieners zu einem Sangeswettkampf zwischen Howora und dem jungen Lämml vernahm. Sofort war ihm der Gedanke zu einer neuen Intrigue gekommen, um ihre Liebeskomödie, die schon dem Schiffbruch so nahe, wieder in die sicherste Strömung zu steuern. Aber das Gelingen heischte die kühnste Hand des Steuermannes und eine seltene Gunst von Wind und Flut. Indes sich die Alten noch stritten, hatte er bereits die Grundzüge der neuen Eingebung flüsternd mit Cornelia durchgesprochen. Die List des gewürfelten Burschen entzündete weitere List in dem Kopfe des schlauen Mädchens, und wo ein so durchtriebenes Paar gemeinsame Pläne webt, da muß wohl ein feines Netz zu stande kommen.

»Also abermals eine neue Verwandlung!« sprach Franz, als sie beide in das von den Vätern verlassene Zimmer traten. »Und diesmal mußt du, Cornelia, die Verwandelte sein.«

Cornelia wollte noch einigen Einwand erheben, Franz aber schlug ihn zurück mit den Worten: »Wie kannst du zaudern, dich auf eine halbe Stunde in die höchst ehrenwerte Gestalt des Franz Lämml zu verwandeln, [109] wo du doch diesem Franz bald ganz zu eigen gehören willst, mit Leib und Seele, und deinen Namen für den seinigen hingeben wirst für all deine Lebtage?«

Und das sprach er so fein und zärtlich, daß Cornelia verschämt zunickte und, dem Arme, den er um ihren Nacken schlingen wollte, sich entwindend, in ihr Kämmerchen schlüpfte. Von dorther aber konnte man sofort wieder ein helles, herzliches Lachen des wunderlichen Kindes hören.

Franz aber ging nun auch rasch von dannen; denn die Stunden waren gezählt und Unzähliges noch hatte er zu rüsten für das kecke Wagestück des heutigen Abends.

Doch indem er eben die Thür öffnet, tritt sein Vater ihm entgegen. Neue Scene des höchsten Erstaunens.

Franz verfärbte sich einen Augenblick, sprach aber sofort mit unbeschreiblicher Dreistigkeit: »Eben suchte ich dich auf, lieber Vater! Ich habe dir zu beichten, höchst merkwürdige Bekenntnisse abzulegen« (das Beste soll er aber doch nicht erfahren, dachte er im stillen Sinn). »Wundere dich nicht, mich hier zu treffen. Schon seit Wochen gehe ich aus und ein in diesem Hause und ergründe Dal Segnos Kunstgeheimnisse. – Unterbrich mich nicht! – Ich weiß von dem Schimpf, den dir der Italiener eben angethan, von der Ausforderung gegen einen gewissen Anton Howora. – Unterbrich mich nicht! – Ich will dich rächen. Der Italiener soll selber vor dem ganzen Hofe bekennen, [110] daß sein Schüler nichts bei ihm gelernt habe. Aber folge mir, hinweg aus diesem Hause –«

»Nur ein Wort noch muß ich mit dem Italiener reden –«

»Nicht doch, Vater! Folge mir!«

»Aber so höre doch, toller Junge! Auf ein Duett von Scarlatti habe ich den Esel gefordert, und Howora singt Tenor, und der welsche Pinsel bedachte nicht, daß die andere Stimme Sopran ist! Also muß ein anderes Duett gewählt werden –«

»Nein! Nein! Das ist gerade recht. Tenor und Sopran. Ich will schon meinen Sopran stellen –«

»Der Junge ist verrückt!«

»Nur fort mit mir, Vater, hinweg von dieser Schwelle, und ich will dir mein Komplott gegen den Italiener enthüllen, daß du staunen sollst, wie scharf ich noch meine fünf Sinne beisammen habe.«

Er sprach's und riß den Alten fast gewaltsam hinweg und führte ihn unter die Säulengänge des Schloßhofes, wo sie auf und ab spazierend lange ins Gespräch tief versunken waren. Die Mienen des Alten heiterten sich allmählich auf, und zuletzt schien er von der lustigsten Laune erfüllt. Doch sah man, wie er dann zuweilen wieder stutzte, abwehrte, Bedenken vorbrachte. Und zwischen dem Rauschen des großen Schloßbrunnens, welches den größten Teil des halblaut geführten Gespräches verschlang, konnte man zuletzt die Worte Franzens vernehmen: »Aber bedenke, Vater, es ist ja nur für eine halbe Stunde, es ist ja nur zur Demütigung des Italieners, daß du seinen Schüler[111] für den deinigen ausgibst und ihm deinen Schüler überlässest; es ist ja nur, damit er selber vor dem ganzen Hofe bekenne, daß dein Schüler unübertrefflich, der seinige aber nichts bei ihm gelernt habe.«

Hier wurden sie durch einen Bedienten des Fürsten unterbrochen, welcher den Befehl an Franz Lämml brachte, heute nachmittag vor Seiner hochfürstlichen Gnaden zu erscheinen.

»Den gleichen Auftrag habe ich auch an einen gewissen Anton Howora. Ihr könnt mir wohl die Wohnung des Mannes bezeichnen.«

»Mehr noch!« rief Franz. »Ich will sogar den Auftrag selber ausrichten. Howora ist mein bester Freund und Ihr würdet ihn doch schwer auffinden.«

So ging denn jeder von den dreien seiner Wege.

Der Kapellmeister aber nahm, durch den Schloßhof schreitend, eine Prise und sprach zu sich selbst: »So sind wir Deutsche doch gutmütige Narren! Der Italiener würde mich mit aqua toffana vergiften, durch einen Banditen erdolchen lassen, wenn wir jetzt in Welschland wären. Ich aber räche mich nur, indem ich in einer Komödie mitspiele, die so verwickelt ist, daß der Gedanke an ihre Durchführung mir die ganze Verdauung des heutigen Mittagessens stören wird – und was kommt zuletzt dabei heraus? Eine ganz harmlose Demütigung des Gecken! Wir lachen ihn bloß aus, wo er uns ermordet hätte.«

Mit diesen Gedanken strich er unter dem Fenster seines Feindes vorbei.

Da rief Maestro Dal Segno herab: »Hören Sie! [112] Auf ein Wort! Wir müssen ein anderes Duett wählen! Die erste Stimme bei Scarlatti ist – das bedachten wir vorhin wohl nicht – ist Sopran!«

»Eben darum bleibt's bei dem Duett, Herr Kollega, denn mein Sohn singt Sopran!«

»Das ist stark!« sprach der Italiener bei sich, indem er das Fenster zuschlug. »Das hätte ich dem dicken Deutschen nicht zugetraut! Hat der Kerl aus musikalischem Fanatismus seinen Sohn gar zum Kastraten machen lassen!«

4. Kapitel

Viertes Kapitel.

Wir kehren zurück zu dem Maler Friedrich Bergmann, um ihn in seinen Arrest zu begleiten.

Solcher Arrest war aber zu selbigen Zeiten bei der Hofdienerschaft etwas Alltägliches und so wenig ehrenrührig als Festungsarrest bei den Offizieren. Der Schloßturm war zu dem Ende mit Arreststuben von dreierlei Art versehen. In der untersten büßten die Hausknechte, Stubenheizer und Lampenanzünder ihre Disziplinarvergehen, in der zweiten die Bedienten und Lakaien, in der obersten die Hofoffizianten. Obgleich nun Bergmann eigentlich gar nicht zu den Hofdienern gehörte, sondern nur zeitweilig im Auftrage des Fürsten malte, so war der Schließer doch so artig, ihn aus Rücksicht auf seine Künstlerschaft in das »Offiziantenprison«, wie er's nannte, sperren zu wollen. Häufig fand sich dort recht gute Gesellschaft zusammen; heute [113] aber stand das behaglich eingerichtete Zimmer noch ganz leer.

»Ich will Menschen sehen! Ich kann nicht allein sein!« rief der Maler in wildem Unmut. »Guter Freund, führe Er mich ins Lakaienprison.«

Allein auch das Lakaienprison stand leer, nicht weil es an Sündern gemangelt hätte, sondern der Hoffourier, der Meister der Lakaien, war heute gerade bei Laune gewesen, summarisch zu verfahren und hatte die Lakaien, welche sich im Dienste verfehlt, bloß durchgeprügelt mit dem großen Amtsstock, der dazumal noch Scepter und Schwert zugleich in seiner Hand war, indes er gegenwärtig zum bloßen Scepter sich vereinfacht hat.

Aber im Hausknechtsprison war Gesellschaft zu finden, schlechte Gesellschaft freilich, wie der Schließer meinte; nämlich der Hundejunge, der alte Adam Happeler, kurzweg der Hundeadam genannt.

»So führt mich zum Hundeadam!« rief Bergmann, und der Schließer willfahrte kopfschüttelnd.

Adam schien sehr unempfindlich zu sein gegen die Ehre, welche ihm durch den Besuch des Künstlers widerfuhr. Ohne dessen Gruß zu erwidern, glotzte er ihn großaugig an, und als Bergmann ihn durch ein paar freundliche Worte aufzurütteln suchte, verzog er, immer noch schweigend, seine Gesichtsmuskeln zu dem Grinsen eines vollendeten Affenkopfes.

Es war aber der Hundeadam berühmt, ja sprichwörtlich in der ganzen Gegend wegen seines Gesichterschneidens, denn nicht bloß unwillkürlich kam es ihm [114] zuweilen an, sondern er konnte seine Züge zu beliebigem Ausdruck auch frei gestalten, mit der Virtuosität eines großen Schauspielers.

Bergmann, der bisher lediglich in seinen Unmut versunken war, fühlte sich gerührt durch das Schweigen und die hieroglyphische Freundlichkeit im Gesichte des armen Teufels. Und wie ein erwärmender Sonnenstrahl fiel plötzlich der Gedanke in seine trübe Seele, sich recht menschlich und brüderlich dem verachteten Hundeadam zu nähern, ihn in Wohlwollen zu sich heranzuziehen und, indem er Erquickung einer anderen Seele bereite, den Frieden in die eigene Brust zurückzuführen.

Der milden, schonenden Teilnahme des Malers konnte Adam in der That nicht lange widerstehen. Sein Grinsen wandelte sich in ein Schmunzeln und behagliches Lächeln. Er taute auf. Und ehe eine halbe Stunde vergangen war, hatte der Maler ein gemütliches Gespräch in Fluß gebracht.

So waren sie bald zu dem nächstliegenden Gegenstand gekommen, den zwei Arrestanten miteinander zu erörtern pflegen: zu dem Anlaß ihrer Einsperrung. »Keinem anderen Menschen würde ich beichten,« sprach Adam, »aber Euch, Herr Bergmann, beichte ich so gern wie ein Römischer einem Kapuziner; denn das soll Euch ewig gedankt sein, daß Ihr Euch so freundlich gemein macht mit mir. Halb bin ich mit Schuld hierher gekommen, halb mit Unschuld. Wenn ich das nur den Leuten verdeutschen könnte!«

»In jeder Schuld des Menschen steckt allezeit auch[115] Unschuld, Adam,« sprach Bergmann ernst vor sich hin, »niemals ist der ärgste Bösewicht ganz schuldig, so gut wie auch der Reinste niemals ganz schuldlos ist. Die Weisesten aber mühen sich vergebens, dieses Rätsel zu verdeutschen, darum tröstet Euch, Adam, wenn Ihr es auch nicht könnt.«

»Gut! So will ich Euch denn erzählen von der Schuld in meiner Unschuld, wie Ihr's nennt, und von der Schuldlosigkeit in meinen Sünden. Aber da muß ich von vorne anfangen.«

Bei diesen Worten kroch der Hundeadam aus der dunklen Ecke hervor, wo er bisher gekauert. Das helle Licht fiel auf seine scharfen fleischlosen Züge, die man je nach Umständen für die Züge eines großen Genies, eines großen Verbrechers oder eines großen Narren halten konnte.

Er begann.

»Vor vier Jahren noch war ich ein Fuhrmann, ein armer Fuhrmann, aber doch mein eigener Herr und hatte immer Brot über Nacht im Haus. Ich hatte ein Pferd, damit fuhr ich Holz und Steine zu den fürstlichen Bauten und leistete Vorspann; das Pferd ernährte mich. Ihr kennt den schlechten, steilen Weg an der Schellenwiese? Wohl! Dort fuhren wir eines Tages Holz, während der Fürst gerade mit seinem italienischen Baumeister auf dem Felsvorsprunge neben dem Wege stand, um den lustigsten Platz für das neue Jagdschloß auszusuchen. Zwei tüchtige Rappen waren vor unseren Holzwagen gespannt, mein Pferd ging voran als Vorspannpferd, müßig im Augenblicke; denn [116] wir fuhren den Berg hinunter. Da können die Deichselpferde inmitten des furchtbar steilen Abhanges den Wagen nicht länger einhalten. Erst rollt er eine Strecke vorwärts. Dann wird er durch einen mächtigen Buckel des Weges plötzlich im jählingen Hinabschießen seitwärts geschleudert, und in allen Fugen krachend stürzt er wider den steilen Rain zusammen. Mein Pferd hatte zurückgescheut, so war es zwischen den Rain und den Wagen gekommen und von dessen gewaltiger Wucht auf der Stelle erdrückt worden – – Aber was macht Ihr denn, Herr Maler? Schreibt Ihr Protokoll von meiner Geschichte? Dann erzähle ich kein Wort weiter!«

»Nicht doch, Adam. Ich bin kein Schreiber, sondern ein Maler, und nur dein Gesicht möchte ich ein wenig zu Protokoll nehmen.« Bei diesen Worten zeigte Bergmann dem Happeler sein Skizzenbuch, in welchem er eben die ersten Umrisse von dessen Gesicht zu zeichnen begonnen hatte. Denn der Erzähler hatte seine Geschichte mit einem so lebendigen und charaktervollen Mienenspiel begleitet, daß der Maler sich nicht enthalten konnte, zum Bleistift zu greifen, damit er eines oder das andere der berühmten Gesichter des Hundeadam erhaschen möge.

»Also mein armer Fuchs war zerschmettert! Und da stand ich nun händeringend, und das Blut stieg mir in den Kopf vor unbändigem Schmerz, und ich konnte kein Wort reden, als daß ich zum öfteren gen Himmel rief: ›O, du lieber Herrgott, was habe ich wider dich gesündigt, daß mich deine Hand so schwer [117] trifft!‹ Die beiden Deichselpferde, losgeschirrt, gleichfalls hart beschädigt, steckten in der stummen Trauer, womit diese sprachlosen Tiere dem Menschen das Herz bewegen, die tief herabhängenden Köpfe zusammen und beschnupperten sich gegenseitig. Wahrhaftig, diese zwei Gäule waren die einzigen zwei Kreaturen, welche im Augenblick noch menschlich mit mir zu fühlen schienen. Denn die anderen Fuhrleute fluchten; der Fürst aber kam herzu und drückte mir zwei blanke Gulden in die Hand und ging wieder weiter, um sich einen lustigen Platz für sein neues Jagdschloß zu suchen. Ich nahm aber die fürstlichen zwei Gulden gedankenlos hin; denn meine Sinne waren bei den zwei Gäulen, die sich und mich so mitleidig und betrüblich anschauten, als den einzigen menschlichen Kreaturen, die außer mir auf dem Platze waren!«

»Jetzt also war ich ein armer Mann geworden: das Pferd war ja mein Vermögen gewesen. Arm ohne meine Schuld. Die zwei Gulden des Fürsten aber brachten mir die Sünde zum Elend. Ich hatte sonst immer geglaubt, der Fürst sei ein Mann wie der liebe Gott, und wo er zugegen, da werde er alsbald alles Leid in Freude verwandeln. Und nun waren die zwei Gäule die einzigen mitfühlenden Kreaturen auf einem Platze gewesen, wo auch der Fürst zugegen war! Ich ergrimmte über die zwei Gulden, für die ich mein Leid nicht in Freude wandeln und mir kein neues Pferd kaufen konnte, und dachte Dingen nach, denen ich niemals nachgedacht. Zum Exempel: warum der Fürst nicht lieber den sündlich schlechten Weg bessern [118] lasse, statt sich zu sechs Jagdschlössern noch das siebente zu bauen. Trotzig ward ich im Gemüt, und weil ich trotzig war, kam der Fluch über meine Armut. Unverschuldet war ich arm geworden, und doch kam die Sünde über mich, weil ich arm war. Das weiß nur Gott zu reimen. Hätte mir der Fürst nicht die zwei Gulden gegeben und mit den zwei Gulden den Teufel des Trotzes und des Unmutes, so hätte ich im Segen einer schuldlosen Armut weitergelebt und gewiß wieder bessere Tage gesehen. So aber kam ich immer tiefer ins Elend und durchs Elend in die Sünde. Ich will Euch an einem Beispiel zeigen, wie ich's allgemach in selbiger Zeit trieb. An einem Herbstabend gehe ich den Fluß entlang gegen den Wald zu, in der Tasche aber hatte ich zweierlei Schlingen, von starkem Draht und von Roßhaar – Ihr wißt schon wozu! – nicht um Spatzen zu fangen! Wie ich nun so an dem milden Abend durch das stille Thal gehe, da wird mir's ganz fromm zu Mut, und ist mir, als ginge ein Engel Gottes neben mir, daß ich eben in die Tasche greifen und die verteufelten Schlingen in den Fluß schleudern will. Da höre ich die Tafelmusik fernher aus dem fürstlichen Schloß erklingen, Pauken und Trompeten, Flöten und Hoboen in jubelndem Wettgesang! Und auch vom anderen Ufer herüber erschallte Musik, eine Geige und eine Pfeife, und ich sah, wie drüben auf der Wiese die Bauernbursche mit ihren Mädeln tanzten, und hörte sie manchmal mit heller Stimme singen. Vor dem Unglück hatte ich auch mitgetanzt. Da ging mir die Seele über aus dem stillen [119] Frieden bald in verbissenen Unmut, bald in weichen Trübsinn, daß ich that, was ich seit meiner Mutter Tode nicht gethan, daß ich anfing zu greinen. Aber die Schlingen behielt ich nun vorerst doch in der Tasche.«

»Nun kam ich in den Wald. Da warf ich mich auf den Boden und las mir Bucheckern zusammen zum schmalen Abendbrote; denn der Hunger biß mich sehr. Es kam aber ein Mann des Weges, ein reicher Hofbauer, der sah meine traurige Gestalt und meine elende Mahlzeit und sprach: ›Freund, Ihr müsset wohl ein gar armer Mann sein, daß Ihr so zerlumpt hier sitzet und die Bucheckern speiset, welche Euch die Eichhörnchen übrig gelassen!‹ Und er legte mir ein paar Kreuzer in den Schoß des Kittels. Da starrte ich ihn an und räsonnierte inwendig: ›Bin ich denn nun ganz ein Bettelmann? – Hätte mir der Fürst die zwei Gulden gegeben mit solchen Worten wie der Bauer die zwei Kreuzer, ich wäre kein Bettelmann geworden!‹ Und nun zog ich die Drahtschlingen aus der Tasche und legte sie an den Waldsaum, wo die Hasen und Rehe ihren Wechsel haben, wenn sie über Nacht aus den Forsten ins Kraut gehen.«

»Da hast du doch dem Fürsten zu viel Teil aufgeladen an deinen Sünden, Adam!« unterbrach ihn der Maler.

»Meint Ihr! – Ich sage Euch, hätte der Fürst in seiner Art gesprochen, wie der Bauer, ich hätte nimmer gezweifelt, daß er der liebe Gott auf Erden sei, und mit diesem Glauben hätte ich stille weitergearbeitet [120] in meinem Unglück und mich zuletzt herausgearbeitet. So aber weckte er mir den Trotz und mit dem Trotz das Räsonnieren und mit dem Räsonnieren die Tagdieberei. Ich und der Fürst, Herr Maler, wir beide werden's am jüngsten Tage gemeinsam zu verantworten haben, daß ich den Rehen Schlingen legte!«

Wunderbar waren die Gesichter gewesen, die Adam zu dieser Erzählung geschnitten. Züge des Trotzes, des Hohnes, der Verzweiflung, der stillen, milden Betrübnis wechselten miteinander, seine Erzählung begleitend, wie Bilder den Text. Emsig zeichnete der Maler.

Adam fuhr fort.

»Mit der Tagdieberei ging's eine Weile. Nun reiste selbigesmal die Braut unseres Fürsten, die Prinzessin Eidechsia, durchs Land mit ihrem Vater. Eine Lustfahrt gab's mit ihr auf dem fürstlichen Jachtschiff den Fluß hinab. Da wurden etliche Hofdiener ausgeschickt ins Land, um allerlei Volk zusammenzuwerben, das an den Straßen liegt, und wären 's auch Krüppel und Lahme gewesen, wie im Evangelio, auf daß wir uns am Flusse aufstellten, so wie von ungefähr, hier einer neben einem Busch, dort einer ins Gras gelagert, dort einer auf dem Felsen sitzend, und wenn das Schiff mit der fürstlichen Braut vorbeifahre, solle jeder aus Kräften rufen: ›Vivat Augustus! Vivat Eidechsia!‹ Mann für Mann erhielten wir dafür aber einen Weißpfennig, ein Glas Bier und Käs und Brot. Mich hatten sie auf eine Wiese postiert und mir eine[121] Sense in die Hand gegeben, damit ich aussehe wie ein Bauer. Laut jauchzend rief ich mein Vivat, und das Echo gab meine Stimme zurück wie Waldhornklang. Da fuhr das Schiff ganz nahe ans Land, und die Eidechsia winkte mir, aufs Schiff zu kommen, und fragte mich höchst gnädig, wer ich sei, wie es mir gehe und dergleichen mehr. Ich nahm aber kein Blatt vor den Mund, sagte ihr rund heraus, was ich für ein armer Teufel sei. Das Gesicht, welches ich dazu gemacht, soll sie besonders gerührt haben. Denn nach einiger Zeit ward ich auf die Hofkammer beschieden, wo die Herren mir eröffneten, die Prinzessin Eidechsia Durchlaucht habe höchst gnädig für mich gesorgt und wolle mir ein eigenes Häuschen am Walde bauen lassen, mit einem kleinen Gärtchen dabei.«

»Nun, und das wird dich doch gerührt und gebessert haben, Adam?«

»Gerührt und – verschlechtert, ja! Denn die Geschichte mit dem Vivat war doch nicht fein, Herr Maler, warum sollte mich die gerade gebessert haben? Häuschen und Gärtchen lag ganz wunderschön, es war der schönste Platz auf weit und breit, die Prinzessin hatte ihn nach eigenem Geschmack ausgesucht, und das Häuschen sollte dienen – wie nennt ihr's doch, ihr Maler?«

»Zur Staffage der Landschaft.«

»Richtig! Zur Staffage. Wäre nur diese Staffage nicht gewesen und der Geschmack der Prinzessin! Denn in dem schönen Häuschen konnte ich nicht leben und nicht sterben. Wozu auch ein Häuschen, da ich kein [122] Pferd und kein Gewerbe mehr hatte? Im Gärtchen konnte ich keinen Krautstengel erhalten, weil die Hirsche allnächtlich aus dem schönen Wald kamen und alles abfraßen. Ging ich von meinem schönen Punkte auf Tagelohn in die Stadt, so verlief ich hin und zurück einen viertel Tag Zeit. Und als nun gar der Winter kam, da pfiff der Nordost durch unsere vier Wände, daß wir zuerst mit dem Fußboden, dann mit den Stubenthüren, dann mit den Läden und Fensterstöcken, zuletzt gar mit der Hausthür Herd und Ofen heizten. Dadurch war es aber doch zuletzt etwas zugig in dem kalten Nest geworden, wir zogen aus, und die alte Lumperei ging von vorne an.«

Der Maler hatte mittlerweile ein neues Blatt gezeichnet. Er schwieg, obgleich Adam einhielt, wie wenn er wiederum eine Entgegnung erwartete.

Der Erzähler fuhr also nach einer Weile wieder fort:

»Mein Auszug samt seinen Ursachen konnte im Schlosse nicht lange unbemerkt bleiben. Der Fürst schien einzusehen, daß mich diesmal niemand anderes als die unschuldige Eidechsia durch ihre Staffage und ihren Geschmack ruiniert, und wandte mir abermals seine Hilfe zu. Und wiederum erschien er mir fast so wie früher, als ein Statthalter Gottes auf Erden. Aber noch weit verderblicher war sein Geschenk, denn das Häuschen der Prinzessin. Er machte mich zum fürstlichen Oberhundejungen und Hundefütterer und setzte mich zum Ersten unter allen Troßbuben des Hofstaates. Herr Maler, ich bin ein verheirateter Mann, Vater von vier Kindern, und der Aelteste war damals [123] acht Jahre alt, und Fuhrmann war ich meines Zeichens, ruinierter Fuhrmann. Das ist ein Wort! Als ich nun Hundejunge und Troßbube geworden war, machten die Leute Rätsel auf mich, fragten, wo man sich am frühesten verheirate? Antwort: In unserer Residenz; denn hier hätten schon Jungen und Buben Kinder bis zu acht Jahren. Heulend kam mein Kind manchmal aus der Schule heim, wenn sie es höhnten mit dem gottlosen Rätsel. Ei, und ich hätte doch zufrieden sein sollen mit der Stelle! Nein, trotzig ward ich wieder wie vorher. Je mehr mich die anderen geringschätzten, um so vornehmer wollte ich's geben, so vornehm, daß sie mir gewiß mein armes Kind nicht mehr heulen machten. Also fing ich an, flott zu leben wie ein Fuhrmann und nicht wie ein Hundejunge. Wer aber mit großen Hunden will p ..... gehen, der muß auch das Bein hoch aufheben können.«

»Das ist ein cynisches Bild, Adam, zu deutsch ein hundemäßiges. Man sieht doch, daß du schon etwas zum Hundejungen geworden bist.«

»Meine magere Einnahme duldete aber das flotte Fuhrmannsleben nicht lange. Da schaute ich mich fleißig um in unserem Hofstaate, und weil ich von ganz unten hinaufblickte und nicht von oben herunter, so sah ich gar manches, was andere Augen nicht sehen. Die hohen Herrschaften regieren, spielen Komödie, machen Lustfahrten, wie's Fürsten ziemt. Die italienischen Musikanten, Komödianten und Schnurranten suchen möglichst viel Geld in ihre Taschen zu raffen, denn sie wissen, daß hier ihres Bleibens doch nicht [124] lange sein wird. Könnte ich nur einmal von der Leber weg mit dem Fürsten reden: ich wollte ihm ein Licht anzünden! Der Hoffourier prügelt den Lakaien, der ein halbverbranntes Lichtstümpfchen zu sich steckt, weil er es selber gern zu sich gesteckt hätte. Der Mundkoch schickt einen Topf mit Schmalz, der angeblich von den Ratten ausgefressen worden ist, dem Mundschenk zum Präsent, und der Mundschenk bringt ihm zwei ganz ausgelaufene Flaschen Burgunder dagegen, die aber noch ganz voll sind. Ei, soll da der Hundejunge allein Hunger leiden und Weib und Kind mit ihm? Nein, das soll er nicht! Was der flotte Fuhrmann in der Stadt verthut, das kann der Hundejunge im Schloß beim Hundefutter wieder einbringen. So gab ich denn meinen Hunden gelegentlich eine Wassersuppe, und wir aßen zu Hause ihre Bouillon, oder ich schnitt ihnen Brot in den Kübel und trug ihr Fleisch meinen Kindern heim. Es ist ihnen recht gesund gewesen – den Hunden meine ich – das Brot und das Wasser, namentlich wegen der Räude. Doch ein Fuchsschwänzer kam dem Ding auf die Schliche, zeigte es an, und nun sitze ich hier im Prison, obgleich ich doch nichts anderes gethan, als was die ganze Hofdienerschaft thut, ja, was ich recht eigentlich erst von ihr gelernt, denn sonst wäre mir eine solche Schelmerei in meinem Leben nicht eingefallen. Der Fürst läßt Springbrunnen im Schlosse anlegen, während die Leute drunten in der Stadt eine Viertelstunde weit laufen müssen, um ihr Trinkwasser an einem Felsenquell zu holen: er baut hier oben [125] gleichsam eine ganze Sippschaft von neuen Palästen nebeneinander, während unten in der Stadt die Leute in Baracken wohnen, daß sich Gott erbarmen möge. Das erwog ich oft zu meiner Beruhigung und sprach zu mir: Hier oben der Hof ist dem flotten Fuhrmann vergleichbar und die da drunten in der Stadt dem Hundejungen, und doch gehört beides füreinander; warum sollte es in deiner zwiegeteilten Person nicht ähnlich sein dürfen, nur mit dem Unterschiede, daß du unten in der Stadt der flotte Fuhrmann bist und hier oben im Schloß der Hundejunge? Seht, Herr Maler, es geht nichts über ein weises Gleichnis!«

Adam schwieg, und der Maler schlug sein Skizzenbuch zu. Drei solche Originalköpfe, wie er sie eben bei den drei Historien dem Gesichte des Hundeadam abgestohlen, waren ihm noch niemals in den Wurf gekommen.

»Adam, Adam!« rief er dann mit erhobenem Finger. »Du hast schier zu viel räsonniert über die Unschuld in aller Schuld. Ich will dir darum auch ein weises Gleichnis sagen, zum Lohn für deine Geschichten, Adam: Die Schlange war schuld an Evas Fall, Eva war schuld an Adams Fall; dennoch wurden Adam und Eva ohne Gnade aus dem Paradies gewiesen. Und was dem alten Adam recht war, das ist auch dem Hundeadam billig.«

5. Kapitel

[126] Fünftes Kapitel.

Als Friedrich Bergmann seine sechs Stunden abgesessen, schlich er ganz sacht an seine Arbeit; denn er schämte sich jetzt, unter die Leute zu gehen.

Die schöne Cornelia hatte zuzeiten seine Huldigungen freundlich hingenommen, wie die Huldigung so manches anderen. Der deutsche Maler aber begann stracks Häuser zu bauen auf die neckische Artigkeit des welschen Mädchens und dichtete sich in einen ernsten Liebesrausch hinein. Hätte Cornelia das alles genau gewußt, was das deutsche Gemüt so manchen lieben Tag Hohes und Schönes von ihr träumte, sie hätte recht herzlich gelacht. Und mit der großen Brezel hatte es Bergmann heute so ernst gemeint, daß kein Gläubiger sein Opfer mit tieferer Andacht auf dem Altare seines Gottes niederlegen kann, als der Maler seine Brezel vor den glühenden Augen seiner Göttin darzubringen gedachte.

Jetzt schämte er sich, wie gesagt, über allerlei: über sich selbst, über die Brezel, über den Arrest, am Ende gar halbbewußt über seinen ganzen Liebesrausch; denn das Gespräch mit dem Adam Happeler hatte ihn mächtig bewegt, aber wahrlich nicht erhoben, sondern herabgestimmt und einen Geist der Verneinung in ihm geweckt, daß er vor sich selbst erschrak.

So trostlos gemutet, schlich er, wie gesagt, an seine Arbeit.

Es war dies aber ein Werk ganz absonderlicher Art. Der Fürst traute unserem Maler wohl tüchtige [127] Begabung zu, allein – denn er war ja ein deutscher Künstler – um so weniger Geschmack und Leichtigkeit in der Ausführung. Darum bewarb sich Bergmann vergeblich um die Stelle eines Hofmalers. Man trug ihm nur untergeordnete, mehr handwerksmäßige Arbeiten auf, namentlich allerlei Ornamentmalerei bei den fürstlichen Neubauten.

Nun wurde im neuen Schloßflügel ein sogenannter chinesischer Saal angelegt. Reich vergoldetes Schnitzwerk in buntesten Formen, Drachen darstellend, die in Grotten lauerten und von Baumzweigen herab drohten, und Vögel, die sich auf Pflanzenschnörkeln wiegten, reich vergoldetes Schnitzwerk der Art bildete den Fries und teilte, in zwölf breiten Stämmen zum Sockel herabsteigend, die Wandfläche des Saales in zwölf Hauptfelder. Die Felder waren mit weißgrundierter Malerleinwand überzogen, und diesen weißen Grund mußte Friedrich Bergmann durch blaue Linien in wohl anderthalbtausend kleine Gevierte abteilen, in welche er sodann ebenso viele kleine Bildchen als leicht umrissene Skizzen gleichfalls mit blauen Farben malte, wobei Landschaftliches wechselte mit Tierstücken, Stillleben, kleinen Architektur- und Genrebildchen, Karikaturen, Charakterköpfen, Masken und Arabesken.

Was nur in seinen alten Skizzenbüchern zu finden war, das stöberte Bergmann auf, um es hier noch einmal blau zu färben und die schreckliche Zahl der eintausendfünfhundert Bildchen voll zu bringen. So waren ihm denn auch die drei Gesichter des Hundeadam, die er eben erst abgerissen, ein gefundenes Essen, [128] das er sofort an den Wänden des chinesischen Saales wieder aufzutischen begann.

Allein auch ein so bescheidenes Werk vollführte er nicht ohne die liebevolle Hingabe des Künstlers an sein Gebilde, und bald saß er ganz versunken in das wunderliche Rätselspiel dieser kühn wie im großen tragischen Stil und doch auch wieder so koboldartig gestalteten Züge vor der Leinwand.

Da griff dem in sein Werk Versunkenen plötzlich eine Hand von hinten her nach den drei Blättern mit der Bleistiftskizze.

Unmutig fuhr Bergmann auf, aber erschrocken fuhr er alsbald wieder zurück, und seine trotzige Stellung wandelte sich in eine ehrfurchtsvoll gebeugte: der Fürst stand vor ihm.

In der That, das war die Erscheinung eines Mannes, vor dem sich auch Männer beugen konnten! Eine mächtige athletische Gestalt, stand der Fürst da, fest und ruhig, recht als ein Herrscher, die Züge des großen, gleichmäßig gebauten Kopfes streng und hart, doch auch nicht ohne Milde, nicht ohne den Ton einer gewissen kräftigen Sinnlichkeit. Selbst die zu den breiten Schultern niederwallende Lockenperücke, welche eine unbedeutendere Gestalt gedrückt haben würde, erhöhte die Gravität des Ausdruckes bei diesem Jupiterkopf im Rokokostil.

Etwas zurückgelehnt, gestützt auf den wuchtigen Rohrstock mit dem dicken goldenen Knopfe, betrachtete Carolus Augustus lange und schweigend die drei Köpfe. Endlich fuhr er auf, wie aus einem Traum.

[129] »Wer hat die Köpfe gezeichnet?«

»Ich selber, hochfürstliche Gnaden!«

»Was? Er selber? Wohl! Aber ich meine, von welchem Meister hat Er sie kopiert?«

»Es sind Originalstudien.«

Der Fürst maß den Künstler mit strengem Blick. »Bursche, täusche Er mich nicht! So skizzierte Leonardo und Michelangelo und nicht Er!«

»Dennoch muß ich Euer hochfürstlichen Gnaden zu widersprechen wagen: erst vor wenigen Stunden entwarf ich diese Köpfe. Der Beweis des Originals liegt in den Physiognomien selbst. Adam Happeler, Euer hochfürstlichen Gnaden Oberhundejunge, saß mir zum Modell, und Durchlaucht werden die Züge des Hundeadam in den Zeichnungen gewiß nicht ganz verkennen.«

Der Fürst musterte aufs neue schweigend die Köpfe.

»Und solche Gesichter kann der Hundejunge zum Modell schneiden! Morbleu! das nenne ich Virtuosität! Ich habe schon so etwas davon gehört. Einen Hofnarren, der uns durch seine komischen Fratzen ergötzt, besitze ich bereits. Den Adam sollten wir als tragischen Hofnarren anstellen. Die tragische und die komische Maske leibhaftig nebeneinander, das wäre etwas für meine Frau. Der Kerl kann ja ganze Trauerspiele in seinem Gesichte schneiden!«

»Ich glaube nicht, gnädigster Fürst,« entgegnete Bergmann schon etwas kühner, »daß er sie auf Befehl und gleichsam von Amts wegen schneiden könnte. Er hat mir die Gesichter auch nicht mit Absicht zum [130] Modell vorgeschnitten. Er erzählte mir so mancherlei, was er erlebt, und da spiegelten sich die Affekte, welche ihn bewegt, und die seltsamen Gedanken, womit er das Geschehene in Ursache und Folge sich entziffert, im reichen Wechsel so getreu in seinen Zügen, daß ich's nicht lassen konnte, von diesen Zügen mir zu rauben, was eben der Augenblick festhalten ließ.«

»Ei, das müssen ja wunderliche Schicksale sein, Tragödien eines Hundejungen! Und Gedanken hat also der Kerl auch. Laß Er mich's hören, was Ihm der Hundejunge erzählt hat. Die Erlebnisse meiner Leute muß ich kennen und ihre Gedanken gleichfalls.«

Bergmann zauderte. Aber der Mann in ihm erhob sich, und er stellte sich aufrecht vor den Herrn. »Ich bin in Ungnaden bei Euer Durchlaucht, dennoch aber getröste ich mich, mein gnädigster Fürst werde mich's nicht entgelten lassen, wenn ich auf seinen Befehl auch nach strenger Wahrheit berichte, was mir zu berichten befohlen ward.« Und nach diesem Vorwort begann der Maler schlicht, doch freilich in geziemenderer Fassung, als es Adam gethan, die Geschichte des armen Teufels zu erzählen.

Gespannt lauschte der Fürst, häufig lächelnd, manchmal auch die Stirn runzelnd. Die drei Köpfe hielt er in der Hand, zumeist den Blick darauf geheftet, und zwischen die Erzählung warf er, die Köpfe kommentierend, gelegentliche Worte ein.

»Ah! Also da sehen wir den Kerl auf dem ersten Blatt, halb in weichem Schmerz, halb in trotzigem Unmut! – ein ehrliches Gesicht, das aber noch zum[131] Galgengesicht werden kann! – wie er die Augenbrauen zusammenzieht – der Spitzbube! Aber nur fortgefahren! Ich nehm's nicht übel. Zeichne Er mein Konterfei nur auch so impertinent getreu, wie Er das des Adam gezeichnet hat. Er scheint mir bei meinem Gesicht den Bleistift etwas leichter zu führen. Also! fortgefahren!«

– »Hm! Nun kommt das zweite Blatt. Eine lustige Fratze. Also leichtsinnig ist der Kerl geworden durch die Wohlthaten der Eudoxia! Das Gesindel ist wirklich noch zu schlecht für die Menschlichkeit – man muß es erst erziehen dafür! – mit Ruten und Skorpionen nämlich! – Aber Humor hat der Galgenstrick! – Schau ihm nur einmal einer in die Augen hinein; – ich kann ihm doch nicht ganz böse werden!

Nun stehen wir beim letzten und eigentlich tragischen Blatt. Ist das ein Gemisch des Ausdruckes in dieser Koboldslarve! Ein Gauner ist er, ein Mensch ohne Vernunft, ohne Religion, ohne Lebensklugheit, das beweist mir diese Zeichnung. Aber nicht doch! Sehe ich sie von neuem an, dann schaut mir auch wieder ein ganz neues Gesicht entgegen. Der Mann ergrimmt ja nur über die Schmach, die man ihm und seinen Kindern anthut, er ahmt ja nur nach, was feinere Leute auch thun! Der Bursche hat Mutterwitz! – Soll mich der Koch und der Kellermeister allein bestehlen? Warum denn nicht auch der Hundejunge? Sollen die Prinzen und Kavaliere allein Komödie spielen? Warum denn nicht auch die Troßbuben? Was der Adam da von den Springbrunnen und Baracken gesagt hat, hört Er's, Bergmann, ist [132] eine Impertinenz. Prügel hat der Taugenichts dafür verdient, und die Frechheit ist ihm auch aus diesem Bild ganz deutlich auf Nase und Stirn gezeichnet. Also ›einheizen‹ möchte mir der Hundeadam, so hat er gesagt, nicht wahr? ›Einheizen und Licht anzünden!‹ Ich soll den Hundejungen wohl gar zu meinem Minister machen! Wahrhaftig, alle Bande der Zucht und Ordnung lockern sich an diesem Hofe! Alle Bande der Zucht und Ordnung! – hat Er's gehört, Bergmann? Das gilt Ihm auch! Die Schloßordnung gehört auch zur Ordnung. Kein Wunder, daß solches Gesindel sich vermißt, uns einheizen zu wollen und Licht anzuzünden, wenn Leute wie Er am hellen Tage vor unseren Augen im Schloßhof zum Fenster einsteigen.«

Der Fürst ging eine Weile mit großen Schritten im Saale auf und ab. Dann sprach er zum Maler: »Die Köpfe des Adam, die Er da an die Wand zu malen begonnen, kratzt Er wieder weg; in meinem Festsaale will ich die Fratzen nicht sehen. Aber die Skizzen kaufe ich Ihm ab, einen Louisdor zahle ich Ihm für jedes Blatt; ich will die Blätter in meine Mappe legen, zu meinen seltenen Handzeichnungen, hört Er's, Bergmann! zu den Handzeichnungen großer Meister!«

Der Fürst schritt von dannen.

Friedrich Bergmann warf den Pinsel weg; er konnte heute nicht mehr malen. Im wirbelnden Widerkampf der Gedanken maß er noch lange den Saal, dröhnenden Schrittes auf und nieder gehend.

Aber nicht er allein hatte solche Unruhe aus dem[133] merkwürdigen Gespräche mitgenommen. Der Fürst befand sich in gleicher Lage. Er zog sich in die Einsamkeit seines Kabinetts zurück, – nicht in jenes niedliche, reizende Kabinett, worin er mit der Fürstin frühmorgens das »Departement des Innersten« abzumachen pflog, sondern in das einfache, schmucklose Kabinett, in welchem er dem ernsten, männlichen Werk des Regiments obzuliegen gewohnt war. Nur zwei charakteristische Dinge waren an den nüchternen Wänden dieses Zimmers zu erschauen. Ueber dem Schreibtische des Fürsten befand sich am Getäfel der Wand ein bescheidenes Schnitzwerk, das Emblem des Fürsten darstellend, umkränzt von dem damals üblichen Arabesken und Schnörkelzierat. Es war dieses Emblem aber eine Fackel, und durch die Schnörkel lief ein Spruchband, worin das erläuternde Motto eingegraben war: »Aliis inserviendo consumor«, zu deutsch: »Anderen dienend verzehre ich mich

Dem Schreibtisch gegenüber befand sich der Kamin und über diesem erhob sich das andere Wahrzeichen des Zimmers. Es war ein großes, in die Wand eingelassenes Familienbild, unstreitig einen der Vorfahren des Fürsten darstellend in ganzer Figur, einen Mann aus dem sechzehnten Jahrhundert, eine heldenhafte, ritterliche Gestalt, halb im Harnisch, die Hand aufs Schwert gestützt, den Kopf entblößt. Mächtig wölbte sich die Stirn, nur wenig weiße Haare noch deckten den Scheitel, ein voller schneeweißer Bart floß in zwei breiten Strömen auf den Brustharnisch herunter. [134] Wunderbar anzuschauen aber waren die Augen dieses heldenhaften Greises. Sie sendeten einen so glühenden, durchdringenden, lebensvollen Blick unter den buschigen weißen Brauen hervor, daß es fast unheimlich war, dem alten Ritter lange Aug' in Auge zu sehen. Das Beiwerk des Bildes war mit der harten, ungefügigen Technik der alten deutschen Meister gemalt, aber beim Kopf dachte man nicht mehr an die Malerei, er lebte, er sprach zu uns, und zwar in mahnender, unheimlich ernster Rede, als ob die alte Zeit den Wechsel der Jahrhunderte überdauert habe, und vor uns träte leibhaftig, längst begraben und dennoch lebend, eine andere Zunge redend, anders denkend, anders fühlend wie wir und dennoch teilend mit uns das Ewige, gemeinsam Menschliche.

Der Fürst sah in seiner inneren Unruhe bald das Emblem mit dem Motto, bald das alte Bild nachdenklich an. Endlich sprang er auf, pflanzte sich, die beiden Hände auf den vorgestellten Stock gestützt, dem Bilde gegenüber und sprach: »Was würdest du wohl sagen, alter Herr, wenn du jetzt mitten hereinträtest in unser Treiben? Dreinschlagen würdest du – aber nein! – Was soll da Dreinschlagen helfen? Dreinschlagen gegen wen? Nein, umdrehen würdest du dich auf dem Absatz, mit Verachtung uns allen den Rücken kehren und stracks wieder heimziehen in deine Gruft, wo es dir wohnlicher dünken würde als unter diesem Geschlecht. Ja, schaue mich nur recht zornig an! Ziehe nur die Brauen recht drohend nieder! Du magst ein Recht haben zu deinem Zorn, aber wir haben auch [135] ein Recht, zu sein, wie wir sind! Ei, wir müssen eben doch andere Leute sein, als Ihr es waret! Wir können nicht mehr in den alten Nestern wohnen, worinnen Ihr haustet, das ganze Jahr auf der Jagd liegen, in der Fehde! Fürsten müssen Pracht zeigen. Pracht kündet Macht! Ihr durftet noch zerstören; wir müssen aufbauen. Aliis inserviendo consumor! Das soll doch wohl heißen: Anderen leuchtend – nicht aber andere verbrennend – verzehre ich mich. Ich will meinem Hofprediger befehlen, daß er am nächsten Sonntag predige über den Text: ›Obrigkeiten sollen leuchtende, nicht brennende und fressende Lichter sein.‹ Aliis inserviendo consumor! – er mag sich einen Bibelvers zu dem Motto suchen. Und du sollst kommen und die Predigt mit anhören, alter drohender Stubengenosse! – Aufbauen! – Ja! – Aber das war einmal ein impertinentes Wort, was der Hundeadam vom Aufbauen gesprochen hat, von wegen der Baracken und Springbrunnen. Jetzt drohst du, alter Geselle, schon wieder und nickst. Hältst du's auch mit des Hundejungen Weisheit? – Es wird mir unheimlich, das Bild so stet anzuschauen! – War mir's doch auch schon, da mir der Maler vorhin die Historien erzählte, einen Augenblick, als sei ich der König David und er sei der Prophet Nathan, der da spricht vom reichen Mann, welcher das Schäflein des armen Mannes nimmt zu seinem Gelage – –! Aber wer soll der arme Mann sein? Die Leute, die in den Baracken wohnen, die das Trinkwasser draußen am Felsenquell holen? Und ich soll der reiche Mann sein? [136] Da sprach Nathan zum Könige: ›Du bist der Mann!‹ – Ja; so heißt es in der Schrift.«

Der Fürst hielt den Blick vom Bilde abgewandt.

Aber bald schaute er wieder auf und lächelte dem greisen Rittersmann zu. »Wir sind immer gute Kameraden gewesen, Alter, wir wollen's auch fürder bleiben. Schon als kleiner Knabe verkehrte ich gerne mit dir, fürchtete mich bald vor deinem Blick, bald sah ich dir stolz ins Auge. Dein Gesicht ist mir wie das eines lebenden Freundes geworden. Oft wachtest du über mir. Oft, wenn ich in schweigender Mitternacht hier einsam bei heißer Arbeit saß, schaute ich zu dir auf und holte mir frischen Mut aus deinen ehernen, weisheitsvollen Zügen. Mein treuester Hausfreund bist du, mein ältester Jugendfreund. Und doch weiß ich nicht, was diese Stirne für Gedanken barg, was für ein Herz geschlagen unter diesem Harnisch, welche Freuden, welche Leiden einst die Seele bewegt, die so stolz aus diesen Augen blitzt! Ich weiß nicht einmal, wie du geheißen, wer du eigentlich warst! – Wie? Bist du nicht einer meiner Vorfahren? Aber welcher? Das weiß ich nicht. Niemand weiß es mehr. Ein alter Kavalier, der in den Chroniken und Stammbäumen wühlte und in meinen jungen Jahren gestorben ist, soll es noch gewußt haben; mit ihm ist die Kunde begraben worden.«

Niemals war es dem Fürsten bis dahin in den Sinn gekommen, daß es doch schmachvoll gewesen, jede Familienüberlieferung von diesem merkwürdigen Bilde untergehen zu lassen. Denn was kümmerten[137] sich die Höfe jener Zeit um die finstere Vergangenheit? Sie lebten um so lustiger in der sonnigen Gegenwart. Jetzt fiel ihm jener Gedanke zum erstenmal heiß in die Seele. Und es war ihm, als müsse sich rächen die Verachtung der Vergangenheit an dem gegenwärtigen Geschlecht durch schwere Stürme der Zukunft. Und wenn er dann gedachte an sein Regiment und seinen Hof, an die Prachtbauten, die Hofkomödien und Hoffeste, dann war es ihm, als könne auch er die philosophische Zwiesprach des Malers mit dem Hundejungen auf sich beziehen und der Moral von der Unschuld in der Schuld eine Deutung geben auf alles Fürstenregiment seiner Zeitgenossen.

In diesen Gedanken ward er durch die Meldung gestört, daß der junge Franz Lämml, des Hofkapellmeisters Sohn, auf hochfürstlichen Befehl erschienen sei und im Vorzimmer warte.

Der Fürst fuhr wie aus einem Traume. Peinliche, fast beschämende Erinnerungen knüpften sich ihm an diese Meldung. Pyramus und Thisbe! Richtig, über Pyramus und Thisbe hatte er Rücksprache nehmen wollen mit dem jungen Poeten und Sänger. Er hatte ja seiner Gemahlin versprochen, mitzuspielen in der neuen Oper. Eben wollte er sich's angesichts des alten namenlosen Ritters zuschwören, ein neues Leben zu beginnen im Regiment wie bei Hofe. Da mahnt ihn der fatale Name des Franz Lämml, daß er vorerst noch einen anderen Schwur erfüllen und selber Komödie spielen müsse. Er wollte den Sänger jetzt nicht annehmen. Doch nein! Er soll kommen. Denn [138] es wäre doch nur Furcht des Fürsten vor sich selbst gewesen, vor seinem Selbst von heute morgen, mit dem jungen Mann zugleich die böse Mahnung zurückzuweisen.

Lange dauerte die Unterredung mit Franz Lämml. Sie mußte seltsame Uebergänge und zugleich seltsame Enthüllungen mit sich gebracht haben, denn als der Sänger wieder entlassen wurde, war der Fürst in ganz veränderter Stimmung. Er war fast lustig geworden. »Da heißt es wohl, anderen dienend verzehre ich mich!« sprach er zu sich selber. »Jeder, der da kommt, begehrt einen Dienst von mir. Ich will mit diesem aalglatten jungen Menschen über Pyramus und Thisbe sprechen; er aber wendet und dreht sich, bis er mir zuletzt statt der Exposition der Oper die Exposition einer Liebeskomödie gegeben hat, die er selber mit der schönen Cornelia spielt. Da sind nun alle Knoten geschlungen, hinlänglich verwickelt, nur die Lösung fehlt noch. Sie soll heute abend erfolgen. Aber wer dazu helfen muß, das soll – der Fürst selber sein! Im Namen aller Liebesheiligen und Liebesgötter beschwört mich der Bursche darum. Ist unser Hof denn ganz zu einem Minnehof geworden? Wie der alte Graubart über dem Kamin so finster dreinblickt! Aber diesmal noch vergib, alter Freund! Diesmal noch muß ich Komödie spielen – zum ersten- und letztenmal! Aber Pyramus und Thisbe? – –«

Wie eine Eingebung schien plötzlich ein Gedanke den Fürsten zu durchzucken. Er spinnt ihn aus; er sinnt und sinnt; ein Plan scheint ihm aufzugehen; ja, jetzt hat er ihn fest gepackt, klar zurecht gelegt; [139] er reibt sich vergnüglich die Hände und lacht laut auf. Dann spricht er gegen den eisbärtigen Ritter gewandt: »Alles spielt Komödie an diesem Hofe, und jeder begehrt, daß ich mitspiele. Ja, mancher meint wohl gar, er könne Komödie mit mir spielen; ich aber will ihnen zeigen, daß der Fürst allerdings Komödie spielen kann, daß er es dann aber ist, der nicht euer aller Komödiant wird, sondern der euch alle gebraucht, daß ihr seine Komödianten seid. Eudoxia glaubt die Fäden in der Hand zu haben, der Kapellmeister glaubt, sein Sohn glaubt, daß sie wiederum die Drähte ihres Puppenspieles dirigierten, der Italiener glaubt dasselbe von sich; ihr alle aber sollt euch betrogen haben: der eigentliche Meister des Theaters bin ich, alle Drähte laufen in meiner Hand zusammen, und wer zuletzt lacht und das letzte Wort hat, das ist der Fürst! Nur zwei Leute von diesem Hofe haben, wie mir deucht, keine Komödie mit mir spielen wollen: der Hundejunge und der Maler. Aber dann will ich wenigstens Komödie mit ihnen spielen: sie müssen auch noch untergebracht werden im Ensemble von Pyramus und Thisbe. Alter Ritter und Freund, Wächter des Kamins, du sollst heute abend mit mir zufrieden sein!«

Der Fürst klingelte. »Man entbiete sogleich den Maler Friedrich Bergmann zu mir!«

Der Gerufene erschien nach kurzer Frist.

Es lag aber das Kabinett des Fürsten zu ebener Erde, und die geöffneten Fenster gingen auf den Schloßgarten, wo eben Fürstin Eudoxia mit ihrer Oberhofmeisterin lustwandelte.

[140] Da sprach der Fürst zu dem eintretenden Maler recht laut, daß es die Damen draußen hören mußten: »Wir machen eine neue Oper, Bergmann, Pyramus und Thisbe, und ich selber will in dem Stück mit spielen. Da muß ich nun mit Ihm eine umständliche Beratung pflegen über das Kostüm,« – und er wiederholte mit erhobener Stimme, gegen den Garten gewendet: »über das Kostüm, Bergmann, denn das versteht ihr Maler doch wohl am besten.«

6. Kapitel

Sechstes Kapitel.

Der Tag, welcher für unsere kleine Welt im Schlosse ein so bewegter gewesen, war draußen in der Natur im tiefsten Frieden auf und nieder gegangen. In ruhiger Pracht hatte die Sonne sich verglüht über den abendfeuchten, wiesenduftigen Thalgründen, und an dem Nachthimmel, der so klar und unergründlich tief sich ausgoß wie die regungslose Fläche des stillsten Gebirgssees, kam der volle Mond aufgezogen in ruhender Majestät, und um ihn versammelte sich, zahlreicher und immer zahlreicher, sein lichtfunkelnder Hofstaat von großen und kleinen Sternen. Tiefes Schweigen lag über dem Schloßgarten. Die dichtverwachsenen Gebüsche und Baumgruppen ruhten in dunklen Massen neben den vom blauen Mondlicht traumhaft übergossenen offenen Blumenbeeten und Rasenplätzen; nur die Springbrunnen flüsterten sich von fernher leise Worte zu, und manchmal erklang ein heller Vogelschlag darein.

[141] Der Orangerieflügel des Schlosses war erleuchtet; er lief in einen gegen den Garten geöffneten Saal aus. Vor den Pforten des Saales befand sich ein Altan, von welchem man auf den zwölf breiten Stufen einer prächtigen Marmortreppe zu den Blumenbeeten herunterstieg. Die Seiten der Treppen aber waren geschmückt mit den schönsten kugelrunden Orangebäumen und auf dem Altan selbst standen seltene ausländische Sträuche, Bäumchen und Blumenstöcke zu einer Laube aufgebaut, die den hohen Herrschaften heute abend beim Anhören der Serenade als Loge dienen sollte.

Jetzt erschienen einzelne Fackeln auf dem freien Platze vor dem Altan; ihre Zahl mehrt sich; wohl zwanzig Fackelträger stellen sich im Halbkreise auf. Gleich Opferflammen in einem heiligen Haine wallt die rote, ruhelose Glut der Fackeln, lange, magisch beleuchtete Rauchsäulen nach sich ziehend, hinan zu dem dunklen Himmel mit dem ewig gleichen, ewig klaren blitzenden Demantschein seiner Sterne, und die umstehenden Gebüsche und Bäume stechen im Wiederglanz der roten Lohe gar grell hervor aus der pechschwarzen Finsternis, die nun dreifach dunkler den Hintergrund deckt. – Musikanten stellen sich auf neben den Fackelträgern. Dann erscheint eine Tänzerbande, die Paare als Mohren verkleidet. Sie reihen sich, zum Tanze gerecht, vor den Fackeln in malerische Gruppen. Alles harrt, verhaltenen Atems, des Erscheinens der Herrschaften auf dem Altan.

Lichter bewegen sich längs der großen Rundbogenfenster [142] des Saalbaues. Das kündet die Erwarteten. Mit kleinem, aber glänzendem Gefolge tritt die reizende Fürstin an der Hand des in der natürlichen Gravität angeborener Herrscherwürde einherschreitenden Gemahles aus den weiten Flügelthüren. Da schmettern die Musikanten die jubelnden, doch königlich stolzen Accorde und Rhythmen einer Sarabande; in gemessener Bewegung wogen die Gruppen der Tänzer von den Blumenbeeten vor gegen den Altan und bezeugen dem fürstlichen Paare ihre Huldigung; dann aber gehen die Fanfaren der Sarabande in den wilden Jubel eines Mohrentanzes über und in phantastisch bunten Tanzfiguren schweben nun die Paare der schwarzen Masken bald im Hintergrunde zerstreut zwischen den Blumenbeeten auf und nieder, bald einigen sie sich wieder vor den Stufen des Altans.

Ein blendender Lichtglanz hatte sich beim Eintritt der Herrschaften über den Altan ergossen und in der ruhigen, sonnigen Helle zahlloser Wachskerzen, die wiederum gar malerisch gegen den bewegten roten Fackelschein im Garten abstach, leuchtete die reichgeschmückte, jugendschöne Erscheinung der Fürstin, umringt von den bescheideneren Schönheiten ihres Gefolges, in der That wie die Feenkönigin eines Zaubermärchens. Die Gestalt des Fürsten dagegen war ganz umhüllt von einem weitfaltigen weißen spanischen Reitermantel, den er gegen Gebrauch und Etikette im Momente des Hervortretens zurückzuwerfen vergessen hatte, was ein unmerkliches Geflüster bei den Hofleuten erregte. Denn im Glanze des purpurnen [143] Sammetrockes mit Band und Stern hätte der Fürst nach zurückgeschlagenem Mantel in demselben Momente dastehen müssen, wo Lichtschimmer, Trompeten- und Paukenklang und das Anwogen der Tänzerschar zumal das prächtige Schauspiel eröffneten.

Nur wenige Worte wechselte der Fürst lächelnd mit Eudoxia, als er sie zu ihrem goldenen Sessel führte. Die stolze Heiterkeit fröhlichen Genießens, gepaart mit dem Bewußtsein, daß all diese Zauberei vor allen ihr selber in Huldigung zu Füßen gelegt sei, strahlte auf ihrem Antlitz. Auch des Fürsten Züge wurden heiter, wie im Wiederschein der Heiterkeit der Gattin. Kaum jedoch hatte der Tanz begonnen, so entfernte sich der Fürst mit leichter Entschuldigung und Verbeugung von Eudoxias Seite und zog sich in die äußerste halb dämmerige Ecke des Altans zurück, wo im Schatten der Orangenbäume ein zweiter Sessel für ihn bereit stand. Als eigentlicher Festordner und Regisseur des Schauspiels hatte er für heute diesen Platz sich vorbehalten, den geeignetsten, um unbemerkt zu beobachten. Und in der That musterte er von da die Scene mit so durchdringend aufmerksamem Blick, als gälte es die Dispositionen eines Feindes bei Entwickelung einer entscheidenden Schlacht mit dem Auge des Feldherrn wahrzunehmen.

Der Tanz war zu Ende; die Mohren verschwanden in den Gebüschen; die Musik verstummte.

Da trat der Hofmarschall vor und verkündete dem fürstlichen Zirkel auf dem Altan, es werde nun ein ritterliches Turnier beginnen, aber nicht ein Kampf [144] mit Schwert oder Lanze, sondern ein Sängerkampf. Anton Howora aus Böhmen, des Meisters Dal Segno Schüler, und Franz Lämml, der Schüler seines Vaters, des Meisters Ignaz Lämml, seien die Kämpfenden; der Preis des Siegers das allerhöchste Lob aus dem Munde seiner allergnädigsten Herrin, der durchlauchtigsten Fürstin Eudoxia, und zugleich die erledigte Hofsängerstelle. Die beiden Lehrer sollten nach vollführtem Wettgesang zuerst ihr Urteil abgeben, also, daß Meister Dal Segno den Schüler des Meisters Lämml und Meister Lämml den Schüler des Meisters Dal Segno richte. Dann werden Ihro hochfürstlichen Gnaden, wie es der Königin des Turniers gebühre, das Urteil sprechen und allerhöchst selbst den Preis zuerkennen.

Nach Beendigung dieser Rede bemerkten die Hofleute, daß der Fürst, endlich wohl seines Versehens sich erinnernd, den Mantel abgelegt hatte. Ruhig beobachtend wie bisher saß er da im dämmerigen Schatten der Orangenbäume, aber den weißen Mantel hatte er zurückgeworfen auf die Lehne des Sessels, und auf dem purpurnen Festgewande glitzerten jetzt die Brillanten des großen Ordenssternes aus dem Halbdunkel hervor.

Während die Musikanten sich zum Abzug rüsteten, brachte eine von den Mohrenmasken, die ihr Kostüm wieder mit einem großen grauen Mantel bedeckt hatte, dagegen durch die schwarze Larve noch ebensowohl nach ihrem Zeichen kenntlich als nach ihrer Person unkenntlich war, bald hier, bald dort Bewegung unter den Leuten im Garten hervor. Schon vor dem Erscheinen [145] der Herrschaften war dieser vermummte Tänzer unter der Dienerschaft auf und nieder spaziert, schier jeden, der ihm in den Weg trat, mit Fragen und spitzigen Glossen aufs Eis führend, so daß alle übereinkamen, es müsse, auch nach Gang und Manieren zu urteilen, der Hofnarr des Fürsten sein, der sich unter dieser bequemen Larve irgend ein Schelmenstück ausgesonnen; denn beim Tanze hatte man die ziemlich auffallende Gestalt nicht gesehen; er war also kein echter Mohrentänzer.

Da seht! Eben bindet der Vermummte mit einem der Fackelträger an. »Ei, mein lieber Adam, auch du hier! Wie bist du denn so rasch aus dem Prison gekommen?«

»Durch des Fürsten besondere Gnade!« erwiderte stolz der Hundejunge, bolzenstrack stehen bleibend wie ein Grenadier und soldatisch die Fackel präsentierend.

»Hm! Der Fürst ist doch ein guter Mann, Adam!«

»Jawohl, Narr! Gott segne ihn. Ein guter Mann – freilich – aber auch der gutartigste Hund hat wenigstens vier Wolfszähne.«

»So hüte dich vor den Wolfszähnen, Adam! Doch jetzt hast du im Prison ja selber geschmeckt, wie das Wasser und Brot bekommt, welches du deinen Hunden statt Rindfleisch und Bouillon gespendet!«

»Hundebrot schmeckt immer noch besser als das Zuckerbrot, womit man einen Narren füttert!« sprach Adam trotzig und wollte die Maske mit seiner Fackel verscheuchen, aber schon war sie fortgehuscht.

[146] Die beiden Maestri näherten sich dem Kampfplatz von verschiedenen Seiten, jeder von seinem Schüler begleitet. Allein wie im natürlichen Instinkt der Feindschaft blieben beide in den entgegengesetzten Ecken möglichst fern voneinander stehen. Von Zeit zu Zeit nur maß mit verstohlenem, durchbohrendem Blick der Gegner den Gegner.

Der kleine Italiener richtete sich auf den Zehen empor, um den Nebenbuhler seines Schülers zu erschauen. »Bah!« flüsterte er dann verächtlich zu dem neben ihm stehenden Franz Lämml, »eine miserable Gestalt ist dieser Sohn des Kapellmeisters, ein schmächtiger Junge! Der will Heldensänger sein? Schau das Püppchen da drüben! Das will einen Cyrus, einen Achill, einen Orest in unserer Oper darstellen!« Mit Stolz maß er dagegen den mannhaften Franz, der schier einen Kopf größer war, denn er selber.

In der That, der Sänger, welchen der Kapellmeister als seinen Schüler und angeblichen Sohn mitgebracht, war eine höchst zierliche, niedliche Figur, eher für Pagenrollen als für Helden geschaffen. Unter der Lockenperücke schaute ein allerliebstes feines Gesichtchen hervor, der großschößige Galarock saß fast etwas zu eng um die weiblich breit ausgerundeten Hüften.

Die Maske im grauen Mantel klopfte dem mädchenhaften jungen Burschen auf die Schulter. »Den Achill auf Skyros werdet Ihr trefflich spielen können, schöner Sänger, den jungen Achill, wie er als Mädchen verkleidet am Hofe des Lykomedes erscheint. Jedermann sollte dann schwören, Ihr seiet wirklich ein Mädchen. [147] Aber für einen ausgewachsenen Achilles wäret Ihr doch etwas zu klein, meint Maestro Dal Segno.«

»Lästiger Narr! Hinweg mit dir!« rief zürnend und tief errötend der Angeredete. »Du bist Narr und Spion zugleich. Schon den ganzen Abend verfolgst du mich, und spottend willst du mich ausforschen. Hinweg!«

»Da bringt Ihr uns einen schönen Soprano zur Rolle der Thisbe, Herr Hofkapellmeister,« sprach nun die Maske zu dem Alten. »Den Pyramus müssen wir wohl dort drüben im feindlichen Lager suchen?«

»Narr, schweige mir von Pyramus und Thisbe. Unverdaulichkeit am Mittag und Schlaflosigkeit um Mitternacht weckt mir dieser Name. Ein Narr kann mehr fragen, als hundert gescheite Leute zu beantworten vermögen, und eine – – gescheite Frau, die Fürstin Eidechse kann mehr Aufgaben stellen –«

»Als hundert alte Narren wie du zu lösen im stande sind,« vollendete die Maske. »Da möget Ihr wohl recht haben, Freund Kapellmeister.« Und die Maske verschwand im Gedränge der Musikanten und Diener.

Auf einen Wink des Fürsten zogen jetzt die Fackelträger ab. Tiefes Dunkel deckte den Kampfplatz. Denn wie der Gesang der Nachtigall am ergreifendsten in des Menschen Seele hineinklingt, wenn aus dem verschwiegenen Dunkel der einzige Lichtstrahl ihres Tones in ruhiger Klarheit unserem inneren Gesicht leuchtet, so sollte auch Scarlattis Doppelgebet an die »hellglänzenden Sterne der Liebe« aus dem Helldunkel [148] des mondbeschienenen Gartens zu dem Ohr der Fürstin emporsteigen, eine echte, in süße Träumerei einwiegende Serenade nach dem die Sinne erweckenden Lichtzauber, der den Mohrentanz mit seiner grellen Musik umflossen hatte.

Die beiden Sänger allein traten in den Vordergrund, nur ein klein wenig von dem Wiederschein der Wachskerzen des Altans beleuchtet. Franz begleitete mit der Laute. Zu beiden Seiten am Saume der nächsten Gebüsche standen die Meister, immer in möglichst großer Entfernung voneinander. Der ganze übrige Schwarm der Diener und Musiker war verschwunden.

Es ward stille, daß man atmen hörte. Der Fürst winkte. Der Gesang begann. Beide Stimmen trugen zuerst nacheinander die süße schlichte Weise des Themas vor, dem Texte nach ein Liebeshymnus, der aber zugleich zum Gebet zweier Liebenden wird, die sich dem Schutze des himmlischen Schicksalsgestirnes ihrer Liebe empfehlen. Der einfache Grundgesang erweiterte sich aber alsdann zu einem kunstreichen Spiel nachahmender Tonformen: eine Stimme drängt die andere, überholt sie, nimmt ihr jedes einzelne Wort der Melodie vom Munde weg, die Harmonien steigern sich, der Rhythmus hebt sich mächtiger, und die zwei Sänger singen in die Wette mit Tönen, die immer tiefer und tiefer aus dem Herzen herauszuquellen scheinen, die breiten Ströme des Gesanges brechen hervor in einer Fülle, als müßten sie den Sängern die Brust zersprengen, und die Hörer selbst packt es, als ob es auch ihnen die Brust zersprengen wolle, so [149] rätselhaft gewaltig zittert ihnen jede Bebung des begeisterungsvollen Gesanges in allen Nerven wieder.

Als der Gesang verstummt, folgt zuerst die lautlose Stille des tiefsten empfundenen Beifalles. Jedem klingt noch in innerster Seele die Weise nach:


»Blickt gnädig, hellglänzende Sterne der Liebe!«


Endlich brach die Fürstin das Schweigen, ihren Damen zuflüsternd, sie hätte nie geahnt, daß ein anderes Sängerpaar, denn zwei wirklich Liebende, mit so erschütternder Wahrheit der Empfindung von der Liebe singen könnten.

Mit ehrfurchtsvoller Verbeugung treten die Sänger ab, und der Hofmarschall ruft die beiden Meister vor, auf daß sie ihren Spruch fällten.

Der Hofkapellmeister geht im Range voran; er erhält zuerst das Wort. Lächelnd beginnt er und zwar in so seltsamem Ton, mit einem so selbstbewußten schlauen Schmunzeln, daß die Fürstin in Parenthese gegen die Oberhofmeisterin bemerkt, so schneidermäßig verzwickt wie heute habe sie den Kapellmeister noch niemals gesehen. Er spendet dem Anton Howora (doch betont er diesen Namen jedesmal ganz absonderlich und begleitet ihn mit einer Grimasse des Lächelns), dem Anton Howora das höchste Lob, rühmte das Metall seiner Stimme, die Trefflichkeit der Schule, die Wärme und Wahrheit des Vortrags. Der ganze Hof bewundert die edle Unparteilichkeit des Kapellmeisters, und selbst die Fürstin verzeiht ihm darob wieder sein schneiderhaftes Schmunzeln.

[150] In stolzer Genugthuung hört Dal Segno dieses Urteil. Die Mohrenmaske im grauen Mantel aber hatte sich an ihn herangeschlichen und flüsterte ihm zu: »Nun, Meister, Euer Gegner macht es wie ein edelmütiger Duellant, der den ersten Schuß hat und sein Pistol in die Luft abschießt. Da werdet Ihr wahrhaftig doch auch nicht nach des Feindes Brust zielen wollen?«

Dal Segno erwiderte: »Hier zu meiner Rechten steht ein Narr und zur Linken da drüben steht auch ein Narr, ich aber will als gescheiter Mann in der Mitte stehen und nach meinem Künstlergewissen sagen, was ich denke!«

Sprach's und trat mit stolzem Schritte vor gegen den Altan und fällte seinen Spruch folgendergestalt: des Kapellmeisters Sohn habe zwar mit guter Stimme und sonderlich beweglichem Ausdruck gesungen, dagegen fehle es noch gar sehr an einer guten Schule; statt ihrer zeige sich lauter Dilettantenfertigkeit, die der ersten Grundlage wahrhaft meistermäßigen Unterrichts ermangele. Die Vorzüge des jungen Sängers seien also glückliche Naturgaben; seine Schwächen dagegen lediglich eingeimpft und gehegt durch die höchst verkehrte deutsche Gesangschule.

Alle Blicke wandten sich auf den Hofkapellmeister. Allein er schien gar nicht so arg erzürnt über das Urteil des Gegners, denn er lächelte nur noch weit schlauer als vorher. Doch als der Italiener seinen Trumpf gegen die deutsche Gesangschule ausspielte, konnte Ignaz Lämml nicht länger an sich halten. Laut[151] lachend rief er dem Maestro Dal Segno entgegen: »Mein Sohn, Herr Kollega! – das heißt – ja mein Sohn, – – der kleine Mann nämlich, der eben hier sang, hat gar keine deutsche Schule, es ist die reinste italienische.«

»Es ist deutsche Schule!« rief der Italiener in wütendem Ernst.

»Italienische Schule!« rief der Deutsche berstend vor Lachen.

»Italienische!« – »Deutsche!« – ging es gleichzeitig herüber und hinüber.

Eben wollte der Hofkapellmeister vortreten, um die Lösung des Rätsels laut zu verkündigen und nun auch seinen Triumph zu genießen; da schob sich eine neue überraschende Gruppe zwischen ihn und die Stufen des Altans.

Hand in Hand trat das Sängerpaar vor und kniete an der Marmortreppe nieder, und die Blicke bittend zur Fürstin hinaufgewandt, wiederholen sie die ergreifendste Stelle des Duetts, wo beide Stimmen nach dem Wechselgesang zur Vereinigung zurückkehren, in den innigsten einschmeichelndsten Harmonien das Thema wieder aufnehmend:


»Blickt gnädig, hellglänzende Sterne der Liebe!«


Aber mit dem angeblichen Sohne des Kapellmeisters war jetzt eine merkwürdige Veränderung vorgegangen: die Perücke war verschwunden, und das lange natürliche Lockenhaar umwallte den schönsten Mädchenkopf, und halb verschämt, halb mit Bangen,[152] aber auch jetzt noch mit einer gewissen Schalkhaftigkeit schaute das reizende Gesicht Cornelias zu der erstaunten Fürstin empor.

Der Kapellmeister konnte sich nicht zurückhalten. In den eben beginnenden Bittgesang der beiden Liebenden sprudelte er die Worte: »Dort steht der echte Franz Lämml; Howora ist nur eine fabelhafte Person; das Mädchen aber ist Cornelia Dal Segno, angeblich mein Sohn; aber Dal Segno, Kollege! hört Ihr's! es ist doch italienische Schule, Eure eigene echt italienische Schule gewesen, was Ihr eben verdammt habt!«

Man rief den Kapellmeister zur Ruhe. Denn schien schon vorher das Höchste im Vortrag des Duetts geleistet zu sein, so wurde dies alles doch jetzt an Schmelz des Ausdruckes und Innigkeit der Empfindung noch weit übertroffen. Niemals hatte man ein bedrängtes Liebespaar rührender bitten hören. In wahrer Andacht lauschten alle Hörer. Und als die Sänger verstummten, mit flehenden Gebärden der Fürstin zugewandt, und abermals eine feierliche Stille eintrat, da erhob, wie zum guten Zeichen, eine Nachtigall in den nahen Büschen ihre Stimme und sang ihre Liebesklagen in die schweigende Nacht hinein, als wolle auch sie ihr Wort einlegen für die Bittenden an den Stufen des Thrones.

Franz und Cornelia erhoben sich. Hand in Hand gingen sie zu ihren Vätern. Die aber waren auch nicht ruhig geblieben, und so trafen alle viere in der Mitte des Kampfplatzes zusammen.

[153] Da gab es aber eine so wunderlich gekreuzte Unterhaltung, daß keine Feder im stande wäre, den Knäuel der doppelten Zwiesprache zu entwirren und aufzuzeichnen. Die Liebenden baten um Verzeihung, um Versöhnung, um den Segen der Väter. Der Italiener wütete; er wollte seine Tochter gar nicht wieder anerkennen, die ihn also betrogen; er wollte Franz nicht mehr vor Augen sehen, der ihm seine Lehrgeheimnisse abgelockt und dann zum Dank dafür diese Schlinge gelegt. Der Kapellmeister suchte anfänglich das Paar zu schützen vor der Wut des Italieners, aber als er merkte, daß sein Sohn die Tochter seines Todfeindes ernstlich zur Frau begehre, schrie auch er in diese verzweifelte Quartettfuge hinein: niemals werde er sich so überlisten und überpoltern lassen, niemals sein Haus mit dem Hause des falschen Welschen verbinden. Wenn das Ziel aller Listen seines Sohnes hierauf hinausgegangen, dann sage er ihm rund heraus, daß Franz selber der am meisten Betrogene sei.

Alle diese Erörterungen aber fielen im Verlauf weniger Augenblicke, während die Zuschauer auf dem Altan noch ganz in der ersten Ueberraschung über die Kette seltsamer Vorfälle befangen waren. Schnell entriß sich jetzt Franz dem Redegetümmel der erbitterten Väter und führte Cornelia abermals zurück zu den Stufen der Marmortreppe. Er schaute hinauf zu dem Fürsten, allein dieser winkte ihm aus seinem Halbversteck fast zornig und drohend abwehrend mit der Hand. Er wagte nicht näher zu treten, nun erst aufs tiefste bestürzt. Das Benehmen des Fürsten war gegen [154] die Verabredung. Derselbe hatte ihm heute nachmittag zugesichert, daß er im entscheidenden Moment als der Schützer seiner Liebe erscheinen und alles zur glücklichen Lösung führen werde. Jetzt war der gefährlichste, der letzte Augenblick der Entscheidung gekommen, und der Fürst verharrte unbeweglich, scheinbar allein teilnahmlos, auf seinem Sitze und winkte nur abwehrend, ja zornig drohend, mit der Hand!

Da schien Cornelien der Gedanke zu kommen, daß in dieser höchsten Not eines Mädchens wohl Frauenhilfe allein noch retten könne. Sie zog Franz hinüber gegen den Sitz der Fürstin und flehte dieselbe in einfachen, rührenden Worten um Schutz und Fürwort für ihre Liebe an.

Ein solches Auftreten der Sängerin war gegen alle Etikette. Eudoxia schaute darum zur Seite nach dem Fürsten. Aber er gab ihr kein Zeichen. Wie gerne wäre sie zu dem Gemahl gegangen, um nur drei Worte mit ihm zu wechseln. Doch das wäre ein noch ärgerer Bruch der Etikette gewesen. Eudoxia zauderte eine kleine Weile, dann aber siegte das Weib in ihr, und sie erhob sich, um der Sängerin freundlich zu antworten.

Allein in demselben Augenblick wurde die allgemeine Aufmerksamkeit so heftig auf einen ganz anderen Punkt gelenkt, daß Eudoxia das Wort auf der Lippe erstarb.

Zwischen die beiden zornigen Alten war die Maske im grauen Mantel getreten. Die weisen Meister wollten nicht hören auf die Worte des Narren, und ihr Zorn wälzte sich rasch auf ihn hinüber.

[155] Da ergriff, als er sich kein Gehör schaffen konnte, der Vermummte die beiden Männer und zog sie mit einer Kraft des Armes vorwärts gegen die Marmortreppe, daß die Umstehenden höchlichst erstaunten. Einige Diener wollten einspringen und der Maske wehren. Weil aber der Fürst das Ding ruhig gewähren ließ, so getrauten sie sich auch nicht, dem Hofnarren in die Freiheit seines Narrenamtes einzugreifen. Allein Ignaz Lämml stellte, wie wir wissen, seinen Mann. In augenblicklicher Ueberrumpelung hatte er sich wohl von der Maske bewältigen lassen. Nun aber faßte er seinerseits die Maske am Mantel und rief, den Verwegenen mit starker Faust schüttelnd: »Jetzt ist nicht Zeit und Ort für deine Possen, Narr! Hebe dich weg, wenn ich dich nicht wegschleudern soll!«

Da fiel der Mantel des Vermummten; zugleich nahm er die Larve ab, und vor dem entsetzten Kapellmeister, der auf die Knie niedersank, stand die majestätische Gestalt des Fürsten, nicht im purpurnen Galakleid mit Stern und Band, sondern in seinem gewöhnlichen braunen Rocke.

Alle schauten nach dem Doppelgänger des Herrn, der unter den Orangenbäumen auf dem Altan saß: – in dem Augenblick, wo der vermummte Fürst die beiden Meister in den Vordergrund zog, hatte man ihn noch dort sitzen sehen, jetzt aber war er unbemerkt verschwunden.

Der Fürst sprach in der gewohnten, einschneidend befehlenden Würde des Tons: »Das Schauspiel von Pyramus und Thisbe soll mit Musik ausgeführt werden. [156] Was suchet ihr lange bei dem alten Fabeldichter Ovid? Hier ist das liebende Paar, Pyramus und Thisbe. Dasselbe Dach, mein Schloß, herbergt beide Liebende und ihre feindlichen Väter. Heimliche Zwiesprache ist fleißig gepflogen worden. Alles trifft zu, so gut und so schlecht als es für eine Opera nötig ist. Die Katastrophe entwickelt sich wie im Ovid des Nachts, bei Mondschein unter freiem Himmel – das Grabmal des Ninus mag sich jeder nach Belieben hier in der Nähe suchen; auch an den Bestien der ovidischen Fabel fehlt es nach Unseren neuesten Entdeckungen unter Unserer hier anwesenden Dienerschaft weit weniger, als wir fast gedacht hätten. Aber die Oper soll heiter schließen, so will es das Gesetz König Karls VI. Darum müssen die Väter ihren Zorn bannen, sich versöhnen! Die Hände her, ihr Meister! Ihr zögert? Bei Unserer fürstlichen Ungnade, gebt euch die Hände! So! Und nun leget die Hände der Liebenden ineinander. Keinen Widerspruch! Es ist nur eine Hofsängerstelle erledigt, ihr Meister; die Fürstin aber wird sonder Zweifel beiden Sängern zumal den Kranz reichen. Darum müssen die beiden in die eine Stelle hineinheiraten; dann ist der Widerspruch gelöst. Wer wagt zu widersprechen? Morbleu! Haben Wir nicht ein höchsteigenhändiges Kabinettsschreiben erlassen des Wortlautes: ›Die Opera Pyramus und Thisbe soll lustig mit der Liebenden Heirat schließen: Coûte-que-coûte:so will und befehl' ich's.‹ Mit der beiden Liebenden Heirat! Hört ihr's! Keinen Widerspruch. Coûte-que-coûte:so will und befehl' [157] ich's!« Und der Fürst selber führte die beiden Liebenden vor die Väter, und trotz der ingrimmigen Gesichter, welche die Alten seitab schnitten, wagten sie doch nicht, dem fürstlichen Befehl zu widerstehen.

Befriedigt lächelte Eudoxia dem Fürsten zu, und er winkte ihr dankend seinen Gruß entgegen. Aber noch kehrte er nicht auf den Altan zurück. »Wo ist denn unseres Herrn Bruders Liebden hingekommen, unser leibhaftiges Konterfei, das dort auf dem Stuhle saß? Bergmann! Wo steckt Er? Komm Er zu uns, Bergmann!«

Der Gerufene schlich aus dem Gebüsch hervor. Er besaß Takt genug, jetzt die Abzeichen der fürstlichen Würde in Gewand und Schmuck wieder mit dem weißen Mantel zu verhüllen. Als der Fürst seiner ansichtig wurde, bemerkte er sogleich das verzweifelte Gesicht des Malers, der an des Fürsten Stelle in die dämmerige Ecke geschlüpft war in dem Augenblicke, wo die Rede des Hofmarschalls die allgemeine Aufmerksamkeit abzog.

»Du hast den Fürsten brav gespielt, Bergmann!« sprach er leise, ihn zur Seite ziehend. »Aber wie? Hat dir die Sorge der Herrscherwürde schon binnen einer Stunde alle Heiterkeit von der Stirn genommen? Mensch, was machst du für ein Armensündergesicht!«

Der Maler erwiderte: »Alle freuen sich über den heiteren Ausgang der Komödie, nur ich muß den Fürsten spielen, und also geht die Historie für mich ohne Liebe aus! O wenn Eure hochfürstlichen Gnaden wüßten, was ich aushielt, als dieser Franz mit meiner Cornelia [158] vorhin bittend mir nahte, bittend, daßichich! – ihnen helfen solle, Durchlaucht würden mir die Bezähmung meiner kochenden Wut hoch anrechnen! Aber geängstigt habe ich die Verräterin wenigstens, als ich abwehrte und drohte, so zornig wie nur menschenmöglich, wo ich kein Wort sprechen oder dem Franz nicht wenigstens meinen Stuhl an den Kopf werfen durfte!«

»Freue Er sich, Bergmann, daß es so gekommen! Diese Cornelia ist nichts für Ihn. Sie hat ihren Vater betrogen, sie wird auch ihren Mann betrügen. Für den Franz paßt sie gerade darum, denn der betrügt sie wieder, und so machen sie sich gegenseitig etwas weis, und das gibt oft die glücklichsten Ehen. Sei Er froh, daß Ihm der Wiener Windbeutel diese Liebschaft abgenommen. Als ich vorhin den Hofnarren spielte, habe ich der schlauen Dirne auf den Zahn gefühlt, auch von Seinetwegen, Bergmann. Glaube Er mir, sie hatte nur ihren Spaß mit Ihm. Verschmerze Er die große Bretzel! Er muß nicht in das Komödiantenpack hineinheiraten, Bergmann! Da ist alles nur Trug und Schein, Brillanten aus Glas und Goldringe aus Messing. Suche Er sich ein braves deutsches Bürgermädchen, hört Er, Bergmann, die Ihn auch verstehen und erkennen mag, und dieser lasse Er dann die allergrößte Bretzelbacken.«

Dann erhob der Fürst seine Stimme laut, daß alle es hören konnten, und sprach zum Maler: »Da Er mir heute so schöne Köpfe gezeichnet hat, Bergmann, so soll Er auch mein eigenes Porträt malen. [159] Ich lasse mich aber nur von meinem Hofmaler porträtieren –Alexander ab Apelle – versteht Er mich! – Morgen kann Er anfangen!«

»Aber,« flüsterte Bergmann, »morgen habe ich noch sechs Stunden Arrest abzusitzen von wegen der Bretzel.«

»Meinen Hofmaler habe ich nicht in Arrest geschickt!« erwiderte huldvoll der Fürst.

Dann stieg er die Stufen hinan, zum Sitze der Fürstin. »Habe ich nun mein Wort gelöst, Eudoxia? Sieh, ich habe also doch dir zum Vergnügen mitgespielt in der Komödie, und mehr Verwandlungen hat's dabei gegeben, als in irgend einer Metamorphose des Ovid. Denn« – hier sprach er leise, daß nur Eudoxia es hören konnte – »die größte Verwandlung, die mit mir selber heute vorgegangen ist, wirst du erst allmählich gewahr werden. Wunderliche Dinge habe ich erfahren, als ich diese Komödie einfädeln und spielen half! Auch dich hat das Volk da unten verwandelt: – aus meiner Eudoxia haben sie eine goldschimmernde Eidechse gemacht. Es ist doch gut, Eudoxia, wenn ein Fürst auch manchmal Komödie spielt. Sieh, es grauste mir heute förmlich vor der Pracht dieses Abends nach dem, was ich am Mittag gesehen und gehört. Wir müssen uns verwandeln, Eudoxia – aber nicht in ovidischer Weise – oder es könnte kommen, daß unsere Kronen und Hermeline noch ehe dieses Jahrhundert über den Häuptern unserer Enkel hinabgerollt ist, daß unsere Kronen und Hermeline in gar kurioser Weise verwandelt [160] würden. – Sahst du eben den Lichtschein dort am wolkenlos heiteren Maihimmel? Es wetterleuchtet in unsere Kerzen- und Sternen- und Fackelpracht hinein! Nenne mich fürder nicht mehr Augustus, liebe Eudoxia, nenne mich August. Du weißt, auf Augustus folgte Tiberius. Schau hinüber nach den dunklen Fenstern meines Kabinetts. Dort steht der graubärtige Ritter über dem Kamin, dessen Anblick hat mich heute zur Besinnung gebracht. Vielleicht steht er jetzt unsichtbar mitten unter uns und freut sich über mich! Ja, vielerlei Verwandlung haben wir heute gespielt, dieser schmiegsame Franz und ich, und ich dachte, einen von uns zweien müßte ich dir wohl vorstellen als den echten Ovid bei Hofe. Jetzt aber merke ich, der größte Fabeldichter, der Mann, der die größte Metamorphose heute mir in die Seele gedichtet, das ist der alte Ritter über dem Kamin:denn er hat den Fürsten verwandelt. Lies du deinen französischen Ovid: ich will mit dem Ritter über dem Kamin sprechen und er soll mein deutscher Ovid sein. – Aber ich habe dir immer noch eine neue Verwandlung vorzuführen. – He! Adam tritt näher! Adam Happeler!«

Adam erschien mit seiner Fackel und pflanzte sich am Fuße der Treppe auf.

»Das ist der Adam Happeler, Eudoxia, dem du das Häuschen bauen ließest, worin er verdarb, der dann Hundejunge ward, wobei er nicht gedieh. Weil er sich nun vermessen hat, mir einheizen und Licht anzünden zu wollen, wenn er's nur dürfe, so habe ich ihn zu meinem Stubenheizer und Lampenanzünder [161] gemacht, da darf er's ja nach Herzenslust. Aber ich will dir einen Spruch mitgeben ins neue Amt, Adam: Auch der gutartigste Hund hat vier Wolfszähne! Hüte dich, Adam! Wenn du wieder Spitzbubereien treibst, dann wanderst du nicht in das kleine Prison, sondern ins große Zuchthaus.«

Adam schnitt ein halb glückseliges, halb verlegenes Gesicht bei dieser Anrede, und das gab ihm gerade ein Aussehen, wie wenn er niesen wolle und könne nicht. Der Fürst rief darum lachend: »Bergmann, so male Er mir den Adam mit seiner Fackel in den chinesischen Saal. Die anderen Köpfe bleiben in der Mappe.«

Dann aber wandte sich der Fürst zu seinem Hofe und kündete den Aufbruch an zu einer Gondelfahrt auf dem Flusse, die den festlichen Abend beschließen solle. »Adam, eröffne den Zug mit deiner Fackel! Du sollst Uns heute abend ganz besonders das Licht tragen, die Fackel, die zugleich Unser Emblem ist! Auf, meine Herren, folgen Sie dem fürstlichen Zeichen der Fackel!« Und während sich der Zug bildete, murmelte der Fürst, seiner Gattin den Arm bietend, für sich die Worte des Mottos zum Emblem:


»Aliis inserviendo consumor.«

[162] Die Werke der Barmherzigkeit.
(1846 und 1856.)

[163][165]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

Der junge Grobschmied Konrad vom Weyher stand vor dem Amboß. »Tummle dich, Gesell! den Takt gehalten!« rief er lachend, indes er den wuchtigen Hammer leicht und sicher durch die Luft schwang, daß die Funkengarben beim Niederschlag den ganzen dämmerigen Raum durchsprühten und erleuchteten.

Dem Gesellen ging's nicht so flink ab – denn er trug Mieder und Röckchen und war eine frische Bauerndirne. Aber sie führte ihren Hammer auch nicht schlecht. Da war noch Nerv in dem sonngebräunten Arme der Jungfrau und doch ründete er sich zugleich in den feinsten Linien.

War eine Reihe tüchtiger Streiche geführt, dann stellte der Schmied den Hammer auf den Amboß, stützte den linken Ellbogen auf den Stiel, bog sich mit dem rechten Arm hinüber zu dem Mädchen, küßte sie, und lustig ging's wieder fort in der Arbeit.

In den Zweitakt des Hammerschlags sangen Meister und Gesell zuweilen ein zweistimmiges Stücklein. Aber halbwegs brachen sie dann meist die Weise wieder ab, weil sie nicht wußten, was süßer sei: zu singen oder zu reden.

[165] »He, Grete! Wir zwei beide, du und ich, sind doch noch die einzigen Männer im Ort! Hielten wir das Nest nicht noch ein wenig zusammen, aus Schrecken vor Schwed und Kroat, vor Hunger und Pest wäre es längst gar auseinandergefallen!«

»Freilich, Konrad! Du bist gleichsam der Schultheiß und ich bin der Pfarrer.«

Das durfte Grete in Wahrheit sagen. Der rechte Pfarrer war, nachdem er mehrmals von Freund und Feind ausgeplündert und mißhandelt worden, davongelaufen ins Hessenland. Der Schultheiß aber war nur zu sehr da geblieben. Denn in dieser Zeit der allgemeinen Zuchtlosigkeit des Dreißigjährigen Krieges füllten die Beamten ihre Taschen, wetteiferten im Malträtieren des Volkes mit der hohen Generalität sämtlicher kriegführenden Parteien, schierten sich den Teufel um ihr Amt, und jeder waltete des Rechts nach seinem eigenen Corpus juris. Grete aber pflegte die Kranken, tröstete die Bedrängten – ja, sie war jetzt der rechte Pfarrer im Dorfe; und Konrad hielt die Bürger zu mutiger und kluger That zusammen, wenn neue Einquartierung kam, neue Plünderung, neue Stall-und Tafelrequisition für das Vieh und die Herren Offiziere, neue Gelderpressungen bald für einen großen Herrn, bald für einen großen Spitzbuben. Denn bei solcher Gelegenheit pflegte der Schultheiß über Land zu reiten, und wenn der Sturm vorbei war, kam er wieder heim.

»Wenn der lustige Hammerschlag so ins Ohr klingt, Grete, trapp, trapp! trapp, trapp! dann ist [166] mir's oft, als sei das Rosseshufschlag und wie der Sturm sause ich auf meinem Rosse übers Feld dahin, als Soldat, Grete! Denn alle sind geschunden in dieser Zeit, nur der Soldat jubiliert! Jeder Soldat ist ein König worden, drum ist auch jeder so grob gegen den Schmied, wenn er sein Pferd beschlagen läßt. Aber mir Prügel zu geben, das hat doch noch kein Schwede und kein Kaiserlicher gewagt, da doch alle Schmiede der Umgegend wenigstens jedes Quartal einmal durchgefuchtelt werden. Ja, mein Schatz, wir wollen auch unter die Soldaten gehen!«

»Ach nein!« sprach Grete, nicht ganz so lustig wie vorher, »dann zögen ja die zwei letzten Männer fort aus dem Dorfe und wäre kein Schultheiß und kein Pfarrer mehr da, um die Gemeinde noch leidlich zusammenzuhalten!«

Es war dies Dorf aber Löhnberg an der Lahn, in der Grafschaft Nassau-Katzenellnbogen. Ehe der Krieg ausbrach, wohnten sechzig Familien innerhalb der Ringmauern – denn das Dorf besaß Stadtprivilegien; – von sechzig Feuerstätten aber rauchten jetzt nur noch zehn. Auf einer Anhöhe vor der Mauer liegt die Schmiedewerkstätte. Das Gebirg beginnt hier steiler das Flußthal einzuengen; in fast senkrecht jähem Fall steigt ein bewaldeter Berg der Schmiede gegenüber zu dem stillen, dunkelgrünen, schilfgesäumten Wasserspiegel nieder, und rechts im Vordergrunde erheben sich auf Felsklippen die Trümmer des Schlosses, welches Herr Graf Georg von Dillenburg nicht lange vor dem Kriege erst neu aufgebaut hatte.

[167] Verachtet mir diesen Landstrich nicht, die rauhe Schönheit dieses Gaues, den armen ehrenfesten Menschenschlag! Tretet ein wenig vor aus des Schmiedes Thür, dann blickt ihr links in ein lustiges Wiesenthal; die wohlgeschützte Mittagseite seiner Berghänge ist von dem letzten, nördlichsten Rebgelände des Lahngrundes bedeckt. Es wächst da der Löhnberger Rote, der war in alter Zeit so berühmt wie sein Nachbar und Vetter, der Runkeler, und noch vor hundert und mehr Jahren soll ein Graf von Braunfels die Herren des Wetzlarer Reichskammergerichts mit einem Weine traktiert haben, den er bei Löhnberg in einem mit besonders heißer Sonne begnadeten Jahre selbst gezogen, und als der gräfliche Wirt nach der Tafel den Gästen zu raten gab, was für Wein sie getrunken, meinten die Herren, es sei ein kostbarer Burgunder gewesen. Doch läßt der Chronist unentschieden, ob der gute Geschmack des Löhnbergers oder der schlechte des Reichskammergerichts dieses Urteil eingegeben habe.

Daß aber neben dem firnen Roten auch firne Menschen in guten Jahrgängen in diesen Thälern gewachsen sind, davon soll diese Geschichte Kunde geben.

Es war im hohen Sommer, frühmorgens gegen drei Uhr, als die beiden in der Schmiede schon so scharf drauf los arbeiteten. Hätte Grete, die Braut des Schmieds, ihm nicht zugleich den Liebesdienst gethan, als Geselle einzutreten, so hätte Konrads Ofen wohl kalt müssen stehen bleiben. Denn weit und breit fand sich keine junge arbeitsfähige Mannschaft mehr fürs Handwerk.

[168] Nicht bloß der Krieg, auch seine Gevatterin, die Pest, zog durch das Land. Ganze Dörfer starben aus; die fleißigsten Hände erlahmten und sorgten nur noch für die nächste Notdurft. Verzweiflung fraß das geschlagene Volk, und die Leute in diesen protestantischen Gauen fragten, ob denn unser Herrgott katholisch geworden sei, daß er so das ganze Land verderbe.

Ein furchtbarer Wahn hatte sich allmählich der Geister bemächtigt, alles menschliche Mitgefühl ertötend. Wer jäh an der Pest starb, den glaubte man durch Gottes Finger als einen Schuldigen abgeurteilt, durch Gottes Schwert als einen Armensünder gerichtet, und stritt, ob ihm ein ehrlich Begräbnis zu gönnen sei. Ja, man ließ die Pestkranken verschmachten, weil man vorgab, ihnen zu helfen sei nicht besser, als einen Dieb vom Galgen abzuschneiden. Vor drei Wochen noch hatte Konrad seinen verstorbenen Vetter auf einer Leiter selbst aus dem Hause tragen müssen, weil ihm die Gemeinde die Bahre verweigerte.

Jetzt aber erging ein geistliches Rundschreiben an alle Gemeinden, worin mit Worten der Schrift bewiesen stand, daß man auch in diesen Sterbensläuften dem Tode freudig sich fügen müsse, und wer an der Pest in dem Herrn sterbe, der werde in Christo wieder auferstehen, so gut wie die anderen. Also sei er nicht in der letzten Not zu verlassen und bei Nacht wie ein Hund zu verscharren.

Da erkannte sich die Selbstsucht, welche dem Aberglauben unter den Mantel gekrochen war, in ihrer Blöße, und mancher kehrte um und nahm sich wieder der verlassenen Kranken an.

[169] In solchen Zeiten tritt der Mensch dem Menschen näher. Die Schutzhegen des Herkommens fallen; der sittliche Ernst, der in den Tagen allgemeiner Gefahr alles Volk überkommt, kann des Schildes der Sitte entbehren. So hielt sich auch der Schmied und seine Braut in Zucht und Ehren, ob sie gleich in dem halb ausgestorbenen Dorfe so fessellos hätten zusammen leben können, wie auf einer einsamen Insel. Nicht mehr Menschenfurcht war es, sondern die größere Nähe Gottes, was jetzt ihren Verkehr auch äußerlich in Maß und Schranken hielt.

»Fürchtest du dich nicht mehr, Konrad?« fragte Grete lächelnd und legte den Hammer nieder.

»Wenn uns unser Herrgott haben will, dann kann er uns auch ohne Pest kriegen,« antwortete Konrad. »Und so halte ich's denn mit jenem neunzigjährigen Weibchen, das eine schwere Krankheit in sich spürte und also gebetet hat: Herr, wie du willt! Doch wiss' – ich eil' noch nicht.«

»An die Pest denke ich nicht,« rief Grete, »sondern an den Schultheißen. Du hast mir viel zulieb gethan, da du um meinetwillen schon vor der Morgenglocke die Kohlen einzulegen wagtest, und nicht in mich drangst, dir zu sagen, weshalb ich des Nachmittags nicht schmieden kann und wo ich mich zu dieser Zeit umhertreibe. Daran habe ich deine echte Liebe erkannt.«

Nun gerade hätte der Schmied erst recht gerne gefragt, wo sie nachmittags hingehe. Aber Grete hielt ihm die Hand vor den Mund. Dann flüsterte sie [170] ganz heimlich: »Als ich vorhin durch die Gäßchen zur Schmiede schlüpfte, hat der Ortsknecht aus dem Fenster geschaut und mir zugerufen: ›Grete, ich will Sie verwarnt haben! Der Schultheiß drückt noch die Augen zu, wenn ihr vor der Morgenglocke die Kohlen einlegt. Will er sie aber nicht mehr zudrücken, dann steckt er euch beide in den Turm!‹«

Es war nämlich vor längerer Zeit ein scharfes Mandat ergangen in den Dillenburger Landen, daß kein Schmied seine Esse heizen solle, bevor um vier Uhr das Morgenglöckchen geläutet habe. Denn auf den Dörfern waren wiederholt Feuersbrünste ausgebrochen, denen man bei den strohgedeckten Lehmhütten des Gebirgs kaum wehren konnte, veranlaßt durch das Schmieden in der Frühe, wann die Nachbarn noch im Schlafe lagen. Ueberdies riß der Unfug, schon um zwei Uhr am Amboß zu stehen, meist doch nur deshalb ein, weil Meister und Gesellen des Nachmittags in den Schenken faulenzen wollten.

Aber was galt ein solches Gesetz jetzt, wo alle Ordnung gelöst, wo alles Eigentum verwahrlost war, und selbst Wald- und Heidebrände manchmal bis zu den menschenleeren Dörfern drangen, dieselben umloderten und in Asche legten!

Konrad erwiderte darum gleichgültig: »Heuer, wo es im Gau wenigstens alle Tag einmal brennt, und der Tod stündlich an unserer Thür vorübergeht, fürchtet man sich nicht vor der alten Feuerordnung und dem Schultheißen von Löhnberg.«

2. Kapitel

[171] Zweites Kapitel.

Als Grete gegen Mittag die Schmiede verließ, schlüpfte sie auf Umwegen, scheu zurückblickend, ob Konrad ihr nicht nachschaue, in den Garten hinter des Schultheißen Haus; der lag wüste in dieser traurigen Zeit, die Beete von Nesseln, Quecken und Nachtschatten überwuchert, die Obstbäume durch Moos und Flechten verderbt. Der zerrissene Zaun ließ das Mädchen ein, neben der verriegelten Pforte. Denn frei und offen von der Straße her hätte Grete nicht zu des Schultheißen Hausthür einzugehen gewagt. Sie wollte auch nicht ins Haus, sondern in die Scheuer.

Auch hier sah es nicht aus, als erwarte man fröhlichen Erntesegen. Die Räume oben und unten waren verfallen, verunreinigt, alles öde und leer. Nur in dem dunkelsten Winkel lagen noch ein paar Gebund Stroh aufgehäuft und zwischen diesen etwas altes Bettwerk. Grete schlich sacht hinzu. Ein altes, krankes Weib lag in den Strohbündeln und Kissen.

»Wie geht es Euch, Frau Base?« sprach das Mädchen mild und herzlich.

Da erhob sich die hinfällige Gestalt und erwiderte mit matter Stimme: »Die Menschen haben mich verlassen, darum nimmt der Herr mich auf!«

Es war dies aber des Schultheißen Ehefrau. Als die Pest ihre Wangen rötete, ließ der Mann sein Weib aus dem Hause in die Scheuer bringen. Denn ob er gleich äußerlich, ganz wie es einem Schultheißen ziemt, den Mutigen spielte, erbebte er doch insgeheim [172] aus Furcht vor der Ansteckung und verstand den Pestkranken ebenso geschickt aus dem Wege zu gehen, wie den fremden Truppen. Und da er sich's eben nicht so gar traurig dachte, wenn die Frau, welche ihm in letzterer Zeit häufig eine lästige Sittenrichterin geworden, unversehens abführe, so wollte er jetzt gerade erst noch recht lange frei und lustig leben, und nicht sogleich wieder in jener Welt mit der eben erst quittierten Hälfte aufs neue zusammentreffen. Darum hielt er sich ganz fern von der Scheuer, begann selbst das Wohnhaus zu meiden und schickte nur täglich einmal den Ortsknecht aus, daß er durch das große Loch in der Wand schaue, ob die Kranke sich noch rege, und ihr von außen mit einer langen Hopfenstange einen Topf voll Suppe neben die Kissen schiebe.

Hätte sich nun Grete der verlassenen Base nicht angenommen, dann wäre die Frau alsbald elend verschmachtet wie tausend andere. Denn auch der Ortsknecht ging nur bis gegen die Scheuer, wagte aber niemals durchs große Loch zu schauen, geschweige den Topf hineinzuschieben, und aß die Suppe gemeinhin selber im Garten aus. Vor ihrem Konrad aber machte Grete das strengste Hehl aus ihrer Krankenpflege in den Nachmittagsstunden, die sich nicht auf die Scheuer des Schultheißen allein beschränkte. Denn sie fürchtete, es möge dem Schmied vor ihr grauseln, daß er selber die Pest bekäme, wenn er wisse, wie sie gleich einer Spitalschwester täglich in den Pesthäusern hantiere. Zudem hätte man sie, wofern ihre stille Barmherzigkeit ruchbar geworden, sicherlich gewaltsam von [173] dem Schmied getrennt. Denn die Pfleger der Kranken wurden in den Gemeinden von allem Verkehr abgeschlossen, gleich als seien sie selbst verpestet; am Sonntag durften sie nicht einmal zu den Kirchen eintreten, sondern mußten, vor den Kirchenfenstern stehend, erhaschen, was ihnen draußen etwa von Gottes Wort zu Ohren drang.

Grete brachte dem verlassenen Weib einen Teller Suppe. Allein die Base winkte abwehrend. Sie begehrte keine Speise mehr; nur nach geistlicher Tröstung verlangte sie. Darauf erwiderte Grete: »Der Pfarrer ist ins Hessenland geflohen vor dem Kriegsvolk und der Pest; aber weil Ihr's gestern schon gewünscht, habe ich meinen Vater bestellt, der hält in dieser Not die Kirche und reicht die Sakramente.«

Es war aber Gretens Vater Veit Kreglinger, der Glöckner und Kirchendiener, der zugleich einen kleinen Kramladen hielt. Vom Volk ward er nur der »Prophet« genannt, und er that sich selber etwas zu gute auf diesen Beinamen. Denn man schrieb ihm Sehergabe zu. Als eines Tages ein Feldgerichtsschöffe gesund und frisch über die Straße ging, hatte der Glöckner plötzlich wie aus höherer Eingebung gerufen: »Dem sieht der Tod zu den Augen heraus; morgen kann der Schreiner ihm den Sarg machen!« Die Bauern schüttelten die Köpfe und glaubten's nicht, und der Schöff, der es gehört, lachte. Aber am anderen Morgen war er tot und kalt. Seit dem Tage glaubten die Löhnberger, daß dem Veit da ein Licht brenne, wo anderen tiefes Dunkel ist, und nannten [174] ihn den Propheten. Zuletzt glaubte er selber, daß er ein Prophet sei, schaute mit seinen scharfen grauen Augen den Leuten die geheimsten Gedanken aus der Seele heraus und that manchen bewährten Spruch. Ja, er betrieb die Sache fachmäßig. Als Glöckner konnte er jederzeit auf den Kirchturm steigen, hatte also eine astrologische Warte umsonst. Er schleppte sich allerlei Kram von alten Kalendern, Wappenbüchern, Aspektentafeln und alchimistischen Schriften zusammen, und wann er über diese Scharteken kam, dann saß er den ganzen Tag angenagelt auf seinem dreibeinigen Stuhle, wie Pythia auf dem Dreifuß. Seine Weisheit nahm dabei sichtlich zu und sein Kramladen ging sichtlich zurück, und manchmal läutete er die Morgenglocke am hellen Mittage und die Abendglocke nach Mitternacht.

Also der geistliche Trost des Propheten war es, den Grete verheißen hatte.

Die Schultheißin zog jetzt aus ihrem Täschchen zwei silberne Armspangen und sprach: »Merk auf, Grete, da ich noch Jungfrau war, schenkte mir der Schultheiß, mein Bräutigam, diese Spangen. Mit Jubel empfing ich sie – unter Kummer und Sorgen habe ich sie wie ein Heiligtum bewahrt während des traurigen Ehestandes. Du allein hast mich getröstet in dieser letzten Not. Nimm die Spangen zu meinem Gedächtnis. Aber du mußt sie nicht alle Tage tragen: nur auf Ostern, Pfingsten und Weihnachten. – Was war mein Leben, daß mir's vor dem Sterben bangen sollte: einmal muß es ja doch gestorben sein, und da [175] sogar der Kaiser, der König, ja auch unser gnädiger Fürst selber daran muß, dürfen sich gemeine Leute nicht zu hart beklagen. – Nur um meinen Mann thut mir's leid, obgleich er mich so übel traktiert hat. Aber er dauert mich doch, wenn ich dran denke, wer ihm jetzt das Weißzeug in stand halten und seine Hafergrütze so kochen soll, wie er sie am liebsten ißt!«

Grete nahm die Spangen mit thränendem Auge und wickelte sie in ihre Schürze. Da sprach die Frau: »Es flimmert mir vor dem Gesicht! Grete, du mußt die Spangen nicht alle Tage tragen; nur an hohen Festen – damit du nicht stolz wirst. Du brauchst sie dann auch nicht allzu oft zu putzen – das zehrt am Silber.«

Wieder nach einer Weile rief die Frau auffahrend: »Was packst du mich so eiskalt an den Füßen, Grete?«

Die Angeredete aber stand weit ab. »Das muß der Tod sein, der die Base an den Füßen packt,« dachte sie und starrte nach den Kissen hinüber, als müsse sie den Tod dort leibhaftig erblicken, den Knochenmann mit der Sense, wie er die Base an den Füßen packt. Aber friedlichen Antlitzes sank, das arme Weib in das Kissen zurück und sprach im Verscheiden: »Die Menschen haben mich verlassen, darum nimmt mich der Herr zu sich auf.«

Das Mädchen blickte schweigend auf die Leiche, die Hände gefaltet. Sie wollte sich eben entfernen, als ihr Vater, der Glöckner, in die Scheuer trat.

Er schaute in den dunklen Winkel.

[176] »Sie ist tot!« sagte er, – und Grete wiederholte: »Sie ist tot!«

Da aber packte sie plötzlich der Schauer des Lebens vor dem Tode. Die bis dahin ungekannte Furcht vor der Pest kam über sie; sie schaute entsetzt die Leiche an, wie sie zwischen den Strohbündeln und dem alten Bettzeug tief zurückgesunken lag, und wollte entfliehen.

Veit aber griff das Mädchen fest beim Arme: »Bleib, Grete! Graust dir's auch? Was fürchtest du dich? Ich sage dir: der Himmel will es nicht, daß wir beide an dieser Pestilenz sterben sollen. Was verheißen ist, das wird sich erfüllen!«

Und das sprach der Glöckner in der That wie ein Prophet, und die kleine Gestalt des Vaters deuchte dem Mädchen jetzt größer und ehrwürdiger denn je; das von Not und Arbeit und frühen Kriegsstrapazen tief gefurchte Gesicht leuchtete in Begeisterung wie eines Jünglings Antlitz. Das einzige prophetische Wort nahm den Schauer wieder aus des Kindes Herzen.

Doch kaum hatte Veit die Verheißung gesprochen, so rief eine Stimme hinter ihm: »Versündigt Euch nicht! Treibt Euer Spiel der Wahrsagerei im Wirtshaus, aber nicht im Sterbehaus!«

Veit schaute ingrimmig um nach dem Redenden, schrak aber zusammen bei seinem Anblick. Denn ein ganz fremder Mann stand vor ihm. Er trug die Kleidung gemeiner Leute, doch sein Gesicht war zu fein, zu bleich, zu vornehm für den groben Linnenkittel. Der Glöckner aber sammelte sich rasch, maß den Unbekannten [177] lange mit dem stechendsten Blick seines grauen Auges und sprach dann mit der vollen Würde des Propheten: »Ich will Euch nachzudenken geben über meine Seherkraft. Zum erstenmal erblicke ich Euch. Dennoch sehe ich Euch an den Augen an, daß Ihr ein katholischer Kreuzkopf seid. Fort von hier! In Weilburg liegt ein schwedischer Kornett, dessen Profoß hat einen Strick für kaiserliche Spione!«

»Veit!« erwiderte der Fremde gelassen und ohne eine Miene seines bleichen Gesichts zu verziehen. »Man nennt dich den Propheten. Siehe, ich bin auch bloß ein Prophet, kein Spion. Aber ein Prophet wie du bin ich nicht. Im Namen meines Gottes weissage ich nur den Tod den Sündern; das Leben denen, die Buße thun; den Segen der Kirche allen Gläubigen.«

»Das heißt der päpstlichen Kirche! Nicht wahr?« rief der Glöckner.

»Der Papst trägt den Schlüssel zu des Himmels Hallen.«

»Wo die höllischen Flammen zum Fenster herausschlagen!« vollendete der Glöckner, mit einem Worte Luthers jenen gangbaren katholischen Feldruf parodierend. Denn als Glöckner war er selbst ja ein halber Pfarrer und hatte Polemika und Apologetika studiert.

Aber auch der Fremde stellte einen gelehrten Mann im Streit. »Der jenes Wort aufgebracht, war bei Lebzeiten selber der rechte Oberpförtner der Hölle; jetzt aber ist er's nicht mehr, denn er sitzt nun in der Hölle mitten drein.«

So war die Flamme des Streits angeblasen, als[178] Grete schreckensbleich dem Vater ins Ohr flüsterte: »Fort von hier, Vater! Der mit uns spricht, ist der Pestmann!«

Es ging nämlich damals der Glaube unter dem Volk, die Pest habe einen Boten ausgeschickt durch das Land, ein bleiches, unheimliches Männlein, und wo es sich zeige, da ziehe die Pest ein, und wer den bleichen Mann mit Augen schaue, der sauge mit dem Blick sich die Pest ins Blut, wie man im Anschauen des Basilisken den Tod sich erschaut.

Aber der Glöckner war ein alter Soldat und kein Holländer; er hielt stand und flüsterte dem Mädchen zu: »Wende den Blick ab! Ich will's schon erproben, ob er der Pestmann ist.«

Und Veit kehrte sich gegen die Leiche und sprach zu dem Fremden: »Lutherisch oder päpstlich, gleichviel! Ihr sollt mir einen Bescheid thun. Im Wirtshaus kündet man sich als Freund, indem man Bescheid thut in einem Trunk; im Sterbehaus sollt Ihr Bescheid thun in einem Gebet. Ich will die Verse sprechen, die man hier zu Lande spricht an der Stätte, wo eben eine Seele abgerufen wurde, und im stillen möget Ihr nachbeten.«

Drauf hub der Glöckner an, jenes geheimnisvolle Lied zu sprechen, welches so manches Menschenalter als ein schützender Zauber wider Schwert und Pestilenz galt, und von so manchem Kriegsmann noch eben vertrauensvoll angestimmt ward, während schon der tödliche Schuß nach seiner Brust eilte. Von diesem Zauberlied, so meinte der Glöckner, könne der bleiche [179] Fremde nicht standhalten, wenn er wirklich der Pestmann sei.

Alle drei knieten nieder. Da hub der Alte feierlich, mit gefalteten Händen an:


»Mitten wir im Leben sind

Mit dem Tod umfangen:

Wen suchen wir, der Hilfe thu,

Daß wir Gnad' erlangen?

Das bist du, Herr, alleine.

Uns reuet unser Missethat,

Die dich, Herr, erzürnet hat.

Heiliger Herre Gott,

Heiliger starker Gott,

Heiliger barmherziger Heiland, du ewiger Gott,

Laß uns nicht versinken in des bittern Todes Not.

Kyrie eleison!«


Veit schaute auf zu dem Fremden. Er hatte im stillen mitgebetet. Also war er nicht der Pestmann. Aber ein Katholik war er. Denn mit seinem Luchsauge hatte der Prophet beim ersten Blick einen Rosenkranz wahrgenommen, den der Fremde, schlecht verborgen, im Schlitze seines Kittels trug. Nun nahm es ihn aber doch wieder wunder, daß der katholische Mann den lutherischen Vers im stillen mitgebetet. Der Unbekannte schien dem Glöckner dieses Bedenken im Gesicht zu lesen; denn er sprach: »Die Worte, die du gesprochen, sind freilich Luthers Worte; das Lied aber ward von einem heiligeren Manne gesungen, und nur verdeutscht hat es euer falscher Prophet. So mochte ich im stillen wohl diese Worte nachbeten, welche Abt Notker von St. Gallen vor vielen [180] hundert Jahren aus bebendem Herzen gedichtet, da ihm in der Wildnis des Martinstobels der Tod urplötzlich zur Seite getreten war.«

Der Glöckner sah den Fremden mit großen Augen an über die Worte, welche er nur halb verstand.

Der Fremde aber fuhr fort: »Sind wir einig gewesen in unserem Gebet, dann können wir auch noch einig werden im Glauben, und einig wollen wir sein in guten Werken, Veit! Auf Wiedersehen!«

Langsamen Schrittes ging der rätselhafte Mann hinweg.

Veit blieb noch lange stehen, zerknirscht, ärgerlich, gekränkt in seinem Hochmut, irre gemacht an der eigenen Weisheit, dann wieder von heimlichem Grausen durchrieselt, von Staunen erfüllt über den Mann, der ihn niedergeschlagen, wie der echte Prophet den falschen.

Endlich weckte ihn die Tochter aus seinem Sinnen; sie faßte ihn am Arme und zog ihn leise aus der Scheuer hinweg, indem sie, auf die Pestleiche deutend, unter Thränen flüsterte:


»Mitten wir im Leben sind

Mit dem Tod umfangen!«


Als die beiden durch die öden Straßen nach Hause gingen, begegnete ihnen der Schultheiß. Er schien recht guter Dinge zu sein und hielt seine Base Grete an, indem er sie äußerst zuthunlich begrüßte. Das war so seine Gewohnheit, denn er hatte schon lange ein Auge auf das hübsche Kind und schickte, [181] nach der Art eines verliebten Bauernburschen, die lustigen, oft doppelsinnigen und zweideutigen Grüße gleichsam zum Rekognoszieren aus, damit er aus der Art der Gegenwehr entnehmen könne, ob ein ernstlicherer Angriff zu wagen sei. Aber Grete hatte allezeit mit scharfem Witz die forschenden Epigramme des Schultheißen wider ihn selbst zurückgeworfen.

Heute konnte sie ihm keine Silbe erwidern. Schweigend blickte sie in den Boden hinein.

Das nahm der Schultheiß für ein gutes Zeichen und sprach: »Du hast rote Augen, Schätzchen. Du sollst nicht länger verweint sein, sondern hell und fröhlich sehen, weil du das schönste Mädchen im Dorfe bist.«

Da fand Grete die Sprache wieder, blickte zornig strafend dem Schultheißen ins Auge und rief auf sein Haus deutend mit leiser, unheimlicher Stimme: »Herr Schultheiß, in jenem Hause liegt ein Totes! Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!«

Während der Schultheiß von Schreck überlaufen nach seinem Hause starrte, als wolle er durch die Mauer hindurchsehen, was darinnen vorgegangen, schritt Grete mit ihrem Vater rasch davon.

Der alte Veit aber sang laut den Vers eines Volksliedes, daß es dem Schultheißen noch von weit her ins Ohr tönte:


»Und als mein' Frau gestorben war,

Da legt man sie aufs Stroh,

Ich sollte drüber weinen

Und war doch gar so froh!«


[182] Wie ein Trunkener irrte der Schultheiß hinaus ins Feld, und immer weiter trieb es ihn hinweg von dem Sterbehause. Es war ihm aber, als säße ihm ein kleiner Teufel auf dem Nacken, der ihm unaufhörlich den gottlosen Vers des Glöckners ins Ohr flüstere. Er versuchte zu beten, aber unvermerkt verschwanden ihm wieder die Worte des Gebetes und statt mit Amen schloß sein Beten mit dem Vers des Glöckners, wie mit einer Gotteslästerung.

»Das Lumpenpack hat mir den verdammten Vers angehext, doch ich will's ihm heimzahlen!« rief er grimmig. »Ich weiß wohl, warum die Dirne mich verhöhnt! Der Schmied liegt ihr im Sinn. Jetzt soll er mir aber spüren, daß Gerichtssäcke keinen Boden haben!« Und dann packte es ihn wieder, daß er wie ein Wahnsinniger den Vers vor sich hinbrummen mußte:


»Und als mein' Frau gestorben war, Da legt man sie aufs Stroh, Ich sollte drüber weinen Und war doch gar so froh!«

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

Als Konrad und Grete in der Morgenfrühe wieder verbotenerweise am Amboß standen, schaute der Schmied finster darein. Die heimlichen Gänge des Mädchens nach des Schultheißen Haus waren den Nachbarn nicht unbemerkt geblieben, des alten Sünders Neigung zu der schönen Base war längst ortskundig. Böse Zungen, [183] die trotz Krieg und Pestilenz nicht aussterben, hatten sich auf ihre Beobachtungen sogleich einen Vers gemacht.

Der Schmied brummte abgerissene Sätze und schlug bei jedem Satz heftiger auf das rote Eisen. »Der Lästerteufel, Grete, kann Halseisen und Schandzettel auch an einen lichten Sonnenstrahl hängen, wie Sankt Goar seine Mütze. – Gleich dem Spürhund steht dieser Teufel auf loses Geschwätz. Find't er keins, so macht er eins. – Der Ruf, das Recht, das Auge dulden keinen Spaß; der Ruf besonders bei Weibern, und mit Gewalt kann man eine Fiedel an einem Eichbaume zerschlagen. – Nicht alle Weg' sind Kirchenweg', man meint oft selber, man gehe in die Kirche und findet sich zuletzt nebenan im Wirtshaus. Und darum sage ich dir, Grete, daß ich dir alles zulieb thun will, aber auch, daß wir heute zum letztenmal vor der Morgenglocke am Amboß stehen.«

Das Mädchen, welches den Vorwürfen nur mit einem ruhigen Blick in das Auge des Schmieds geantwortet hatte, erwiderte jetzt: »Es ist auch nicht mehr nötig, Konrad, daß wir so frühe schmieden. Die Base ist tot. Nun brauche ich nicht mehr über tags in des Schultheißen Haus zu gehen.«

Konrad sann eine Weile, als könne er den Zusammenhang zwischen dieser Rechtfertigung und seinen Vorwürfen nicht so geschwind begreifen. Endlich fragte er beschämt und erschrocken zugleich: »Also bist du es gewesen, die des Schultheißen Frau gepflegt, da er sie verstoßen?«

[184] »Und war es denn so Arges, Christi Gebot zu thun, daß du darüber erschrecken magst?«

Der Schmied blickte sie lange schweigend an, dann küßte er sie und sprach: »Du hast recht, mein Mädchen, du mein Herz, meine Krone! Dennoch wird es hart an uns beide kommen. Der Schultheiß ist jetzt unser Todfeind. Denn ein Filou läßt sich alles gefallen, nur nicht, daß andere Leute so unter seiner Nase besser sind als er.«

Da rief Grete begeistert: »Es ist ein Gott im Himmel!« Und sie hob den schweren Hammer und begann wieder lustig die Arbeit. Aber schnell ließ sie den Hammer auch wieder sinken, ward sehr nachdenklich und flüsterte: »Doch hab' ich vergessen, daß unser Herrgott nicht Schultheiß von Löhnberg ist.«

»Die Herren vom Rat, die den obrigkeitlichen Spieß nicht umsonst tragen, sind gar streng und ängstlich geworden wegen des frühen Feuerns, vornehmlich seit Driedorf niederbrannte,« sagte Konrad. »Das Feuer loderte früh morgens so reißend schnell in den Strohdächern auf, daß die Leute Löcher in die Stadtmauer brechen mußten, um ihr nacktes Leben zu flüchten, denn eh man sich's versah, sperrte die Flamme die beiden Thore.«

Grete schaute träumerisch in die rote Glut der Kohlen, in dieses heiße Leben, das leuchtend und sprühend sich selbst verzehrte. Der rote Abglanz schien ihre Züge zu verdüstern.

»Schau auf, Mädchen!« rief plötzlich der Schmied. »Da schlägt ja Rauch und Flamme aus dem Gebälk![185] Wo kommt der dicke Qualm her und das Feuer? Das kann nicht von der Esse kommen!«

Grete that im ersten Schreck einen hellen Schrei – so weit konnte sie das Weib nicht verleugnen –, dann aber faßte sie sich mannhaft. »Stille, Konrad! lange den Kübel Wasser her! Wir müssen's vertuschen. Es ist ja gleich gelöscht. Wenn's nur keinen Lärm gibt!«

Aber schon war's zu spät. Als Konrad vor die Thür trat, sah er die ganze Dachfirste in Brand. »Es geht nicht mit rechten Dingen zu!« rief er verzweifelt. »Dort oben haben unsere Kohlen nicht gezündet.«

Die Leute im Dorfe, in den hohen Sommertagen zeitig zur Feldarbeit gerüstet, hatten das Feuer schon bemerkt. Hie und da kam einer herbeigeschlichen, legte die Hände auf den Rücken und schaute sich die Flamme an. Denn Feuersbrünste waren damals wie das tägliche Brot, und außer dem Eigentümer ästimierte niemand mehr den Brand eines einzelstehenden Häuschens. Auch fehlte das Wasser bei der Schmiede. Eine große Lache unten neben dem Backhause war von der Hitze halb ausgetrocknet; ein naher Ziehbrunnen hatte nur einen Eimer. Die ganze Scene ging wie im Fiebertraum an Konrads Sinnen vorüber. Er wachte erst auf, als er den Schultheiß ordnungsmäßig anreiten sah, eine schwere Hiebwaffe zum Zeichen der Amtswürde im Ledergehänge tragend. Und hinter ihm drein keuchten die Ortsknechte und Nachtwächter, vier Männer mit alten Spießen und Hellebarden.

[186] Der Schultheiß ritt hart an Konrad und rief scharf und trocken: »Du hast Kohlen eingelegt vor der Morgenglocke, dafür sollst du mir in den Turm, und hast das Feuer nicht ausgeschrieen, noch um Hilfe gerufen, dafür sollst du nach der Feuerordnung um fünf Gulden gestraft werden.«

Dann aber wandte er sich gegen die müßigen Gaffer und trieb das stumpfsinnige Volk mit der flachen Klinge zusammen, und die Scharwächter halfen mit ihren Spießen dazu, daß bald alle Hände aus den Hosentaschen fuhren und zugriffen wider den Brand. Ein paar starke Knechte stiegen auf die Leitern und rissen mit den Haken das brennende Dachgebälk hinweg. Männer und Weiber bildeten flugs doppelte Reihen nach dem Ziehbrunnen und nach der Pfütze am Backhaus; sie brachten Eimer; die eine Hälfte langte die vollen Eimer heraus, die andere reichte die leeren zurück.

Die Männer mit den Spießen arretierten inzwischen den Schmied, als eben die Flamme am hellsten über seiner Schmiede zusammenschlug und das Gebälk niederzukrachen begann.

Da drängte sich ein Mann aus der Menge vor und rief: »Habt ihr denn nicht gesehen, daß dort in der Schmiede noch ein Weib steckt?«

Und gleichzeitig schrie der alte Glöckner: »Mein Kind, mein Kind!« und sprang hinein in die brennende Schmiede. Aber ein solcher Strom von Glut und Rauch fuhr ihm unter der Thüre entgegen, daß er besinnungslos zurücktaumelte und zu Boden stürzte.

[187] Alle standen starr vor Entsetzen, ein schauerliches Schweigen ging durch den eben noch so laut geschäftigen Kreis. Noch einen Augenblick und die glühenden Mauern und Balken mußten zusammenstürzen, und das junge Leben da drinnen war gleich eines zähen Ketzers oder einer alten Hexe Gebein in einem qualmenden Aschenhaufen begraben. Keiner wagte mehr ein Glied zu rühren; atemlos harrten alle.

Plötzlich trat ein Mann aus dem brennenden Hause hervor – niemand hatte ihn hineingehen sehen, und viele behaupteten nachgehends, die Flammen hätten sich vor ihm auseinander gethan wie zwei Thorflügel – und auf seinen Armen trug er die Tochter des Glöckners aus den Flammen. In lautem Freudenrufe brach sich das angstvolle Harren der Umstehenden.

Doch als der Fremde das bewußtlose Mädchen zu den Füßen des Vaters niedergelegt hatte, und die Bauern dem Retter näher ins Gesicht schauten, wichen alle zurück.

»Es ist der Pestmann!« flüsterten sie, und selbst der Schultheiß wandte rasch sein Pferd, um den tödlichen Anblick zu vermeiden.

Lächelnd schritt der Fremde mit dem blassen Gesicht durch das zur Seite weichende Volk. Kein Wort des Dankes ward ihm nachgerufen.

Als der Glöckner mit seinem Kinde wieder zu Sinnen kam, war der Retter längst verschwunden. »Der Pestmann selber,« rief man ihm zu, »hat Eure Grete aus dem Feuer getragen.«

Der Glöckner legte einen Augenblick sinnend die[188] Hand an die Stirn; dann war es, als gehe plötzlich ein helles Licht seinem Geiste auf. »Der Mann war nicht der Pestmann! Er ist ein Mann Gottes und doch keiner. Er ist – – Ich sah es wohl, wie ihm der Rauch nichts anthat, der mich zu Boden warf. Und wie er die Grete auf den Armen heraustrug! Kniet nieder und betet, ihr Heidenvolk! Die Pest hat ein Ende, das Feuer hat die Pest verzehrt, und der Mann, der die Pest nicht des Leibes, sondern der Seelen im Lande umherträgt, ist zu einem Boten des Herrn geworden. O mein Kind, wie ist dein Vater alt und schwach, daß er's diesem Manne gönnen mußte, dich zu retten! Als wir Anno zweiunddreißig das Schloß Braunfels petardierten und mitten im Brande stürmten, focht ich mit drei braven Kerls an die zwei Stunden im dicksten Rauche, bis wir den Sturmhaspel zerstört hatten. Und jetzt muß mich's niederwerfen, wo mich die Flamme nur einen Augenblick mit ihrem glühenden Odem anbläst! Aber warum habt ihr den blassen fremden Mann nicht zurückgehalten, bis ich ihm danken konnte? Doch nein – es ist besser, daß ihr ihn ziehen ließet. Ich weiß, wo ich ihn wieder treffe. Wo ein Kranker liegt ungepflegt, ein Toter unbegraben, wo eine gemarterte Seele nach Hilfe schreit, wo die Pest wütet, daß ihr alle feig davonlauft, dort finde ich den Mann wieder, den ihr den Pestmann nennet. Ist es nicht, als sei die Wiederkunft des Herrn nahe? Der Pestmann besiegt uns in guten Werken, indes die Prediger des reinen Wortes ihre Schanze verlassen und die Obrigkeit [189] nur noch darauf schaut, wie ein jeder von ihnen seinen Mammon salviere. Der arme Bauer aber betet vergeblich zu Gott, und all seine Plage ist eitel. Wo er sich schindet und martert, gibt es doch nur aus, als ob er einen Bock melke, oder von einem Esel Wolle schere, oder einem Pferd die Knochen zum Abnagen vorwerfe, daß es fett werde, oder einer Sau die Leier lehren wolle. Zum Pestmann will ich gehen, der ist noch der rechte Mann; – und hat er kein Blut in den Wangen, so hat er auch keine Furcht im Leibe, und wär's gleich eine Sünde, so rufe ich doch laut: Gott segne ihn!«

4. Kapitel

Viertes Kapitel.

Der Kirchhof zu Löhnberg liegt in einem Thälchen hinter dem Dorfe, mitten im Ackerland. Zwischen den hölzernen Kreuzen steht die alte Totenkirche, ein kahler, trauriger Bau; aber der Platz rundum ist recht freundlich. Es zieht sich ein weiter Wiesengrund zur Lahn hinab, der ist frisch und saftig grün, selbst jetzt im hohen Sommer, und die Wälder seitab sind stolz, hohen, üppigen Wuchses.

Eine Glocke hallt von Löhnberg in jenen stillen Gründen wieder. Die Totenglocke war es, die man zur Warnglocke gemacht; sie ward gezogen vor den beiden Begräbnisstunden (um sieben Uhr morgens und genau im Mittag), damit ängstliche Leute, denen es grauste, einer Pestleiche zu begegnen, zu Hause [190] bleiben möchten. Der Himmel war wolkenleer, die Luft schwül, daß sie im Sonnenlichte über die Fläche des Bodens hinzitterte; kaum daß ein Gräschen nickte oder daß unhörbar fast die Halme und Aehren in den Kornfeldern geknarrt hätten, so bleischwer lag die Todesruhe auf allen Lebendigen.

Nur eine Leiche ward heute vom Dorfe herübergetragen. Es war verordnet, daß in diesen Sterbensläuften das Trauergefolge allezeit dem Sarg vorausgehe. Dieser Vorsicht bedurfte es heute nicht. Die bei den Träger bildeten zugleich das ganze Gefolge, und hätten sie nicht der verstorbenen Frau des Schultheißen die letzte Ehre als einen freiwilligen Liebesdienst erwiesen, so würde die Leiche wie tausend andere in einem ungeweihten Loche verwest sein gleich dem Aas eines gefallenen Viehes.

Als sich die beiden Männer mit dem roh gefügten Kasten, der als Sarg dienen mußte, dem Kirchhofthore näherten, fanden sie eine grausige Schildwacht vor demselben. Zwei große abgemagerte Hunde, in denen der Hunger die Wolfsnatur wieder geweckt, daß sie auf Schlachtfeldern und Kirchhöfen ihre Speise suchten, schauten die Männer knurrend, mit gefletschtem Gebisse an. Doch als diese herzhaft gegen sie herantraten, flohen die Bestien ganz wie ein Raubwild, so entwöhnt waren sie des Anblickes lebender Menschen.

Am Chor der Kirchhofskapelle setzten die Träger den Sarg nieder und begannen eilfertig den Boden zu einer flachen Grube aufzuschaufeln. Nach einer Weile sah der eine – es war der Glöckner – indes [191] er ein wenig verschnaufte, den anderen mit großen Augen an und sprach: »Kamerad, wir sind ein Paar Totengräber, wie sich's selten zusammenfindet. Aber so schmächtig und blaß Ihr aussehet, scheint Ihr doch das harte Geschäft aus dem Fundament zu verstehen. Unser Herrgott hat allerlei Kostgänger von allerlei Geschmack, doch ein Geschmack wie der Eurige ist mir noch nicht vorgekommen. In dem Pesthaus kneipt Ihr Euch ein wie in der Schenke, unter dem Galgen tummelt Ihr Euch wie unter einem Kirmesbaum, und wenn Ihr einmal extra frische Luft schöpfen wollt, dann spaziert Ihr auf den Kirchhof und pfuscht dem Totengräber ins Handwerk.«

»Sagt lieber, es gibt allerlei Soldaten,« er widerte der bleiche Fremde. »Es gibt Soldaten, die im Dienste ihres irdischen Herrn und zur Sättigung ihrer eigenen Lüste morden, plündern und verwüsten. Ich bin ein Soldat, der im Dienste seines himmlischen Herrn und daß ich meiner Seelen Seeligkeit gewinne, zu heilen sucht, zu retten, zu erquicken, zu beschützen. Wenn Ihr begreift, daß sich der weltliche Kriegsmann lustig in die Schlacht stürzen mag, warum könnt Ihr nicht fassen, daß ein Streiter des Herrn in stiller Freudigkeit durch alle leibliche Gefahr hindurchgehe, um da und dort eine Seele aus des Satans Händen zu retten?«

Schweigend hörte der Glöckner zu, und ohne daß beide ein Wort weiter wechselten, vollendeten sie die Grube und senkten die Leiche ein. Der Fremde erhob sich, als wolle er ein Gebet sprechen; der Glöckner[192] aber rief ihn scharf an: »Halt, Freund, den Segen spreche ich!«

Danach warfen sie rasch die Schollen auf den Sarg, gleich als fürchteten sie sich, je länger je mehr, auf dem Kirchhof zu bleiben. Der Glöckner murmelte bei jedem Wurf: »So leicht der Schultheißin, so schwer dem Schultheiß!«

Da fragte ihn der andere, was dieser Spruch bedeute. Veit fuhr anfangs fort, als ob er nichts gehört habe, endlich brummte er aber doch zur Antwort, ohne aufzublicken: »Dem Schultheißen soll jede Scholle, die ich auf dieses Grab werfe, wie ein Fels auf die Brust fallen, der guten Frau Katharine aber soll die Erde leicht sein. Seht! während ich allein aus ganz Löhnberg der Schultheißin die letzte Ehre erweise, beschimpft und ruiniert der Schultheiß mein Kind.«

»Und warum übt Ihr denn den gefährlichen Liebesdienst?«

»Wie?« rief Veit, scharf aufblickend: »War Frau Katharine nicht meine Base? Soll ein Glied meiner Freundschaft unbegraben bleiben? War sie nicht eine gute Frau, die ich mit eigenen Händen begraben hätte, auch wenn sie mich gar nichts anginge? Und muß ich' s nicht meiner Grete zulieb thun, die der Base in der letzten Not beigestanden hat, und die nun um ihrer Barmherzigkeit willen leiden muß? Aber so leicht der Schultheißin, so schwer dem Schultheiß!«

»Seht, Veit,« sprach nun der Fremde lächelnd, »wenn Ihr um deswillen Euch nicht scheuet, auf dem[193] Kirchhof frische Luft zu schöpfen, wie konntet Ihr Euch wundern, daß ich aus so viel beweglicheren Gründen das Gleiche thue?«

Der Glöckner ließ die Schaufel stehen, als versage ihm die Kraft, und blickte lange traurig in die halbgefüllte Grube. Da ging ihm endlich das Herz auf, und er vertraute dem Genossen, was ihn schon den ganzen Morgen so trübsinnig gemacht, daß er fast kein Wort reden, sondern viel eher habe heulen mögen.

Der Schultheiß hatte auch die Grete einstecken lassen. Die silbernen Armspangen, die man bei ihr gesehen, konnten den Verdacht eines Diebstahles rechtfertigen. »Man kann allerlei Geschrei machen,« sagte Veit, »denn es ist vorgekommen, daß diebische Hexen, welche der Pestkranken warten sollten, denselben die Kehle voll Heidekraut stopften, damit sie nicht schreien konnten und erstickten. Inzwischen plünderten dann die verfluchten Weibsbilder das Haus aus.«

»Und glaubt Ihr, daß der Schultheiß Eure Grete wirklich solcher Frevel bezichtige?«

»O nein, so weit wird er nicht gehen. Aber zwicken und ängstigen und verderben wird er uns alle, mich und die Grete und den Schmied, und wird nicht ruhen, bis er uns aus Löhnberg vertrieben hat. Denn Ihr wißt, wie es die großen Herren samt ihren Amtleuten und Dienern in dieser betrübten Zeit treiben. Ueberall machen sie Halbpart mit den plündernden und pressenden Soldaten; darum können sie's nicht ertragen, wenn ein paar gescheite und ehrliche Leute [194] daneben stehen und das Ding mit anschauen. Außer uns dreien sind aber alle gescheite Leute in Löhnberg gestorben und verdorben, die anderen sind nur noch eine Gemeinde von Eseln. Auch trägt's ein Schelm nicht gern, wenn sein Nachbar besser ist wie er, und daß die Grete von des alten Sünders Liebesanträgen nichts hat wissen wollen, hat ihn erst recht teufelswild gemacht. Kurzum, einer muß weichen aus dem Dorf, wir oder der Schultheiß. Aber dies sage ich, und es wird sich erfüllen: von dem Tage an, wo ich diese Schollen auf dieses Grab geworfen, wird der Schultheiß auch keine frohe und gesunde Stunde mehr haben!«

»Ihr frevelt, Veit!« rief der Fremde. »Wie wollt Ihr wissen, was Gott über dieses Mannes Zukunft verhängt hat?«

Da erhub der alte Veit seine Stimme mächtig und sprach, indes er das letzte Rasenstück zu Häupten des vollendeten Grabes legte: »Es gibt allerlei Erkenntnis. Ich bin ein ungelehrter Mann, und die Erkenntnis, die Euer ist, hab' ich nicht. Aber es gibt auch noch eine andere Erkenntnis, die den Menschen bei Nacht überschleicht, wie der Tau die Wiese, eine Erkenntnis, die in allen Wesen steckt, in Blumen, Gras und Bäumen, im Tiere und auch im Menschen, aber lauterer meist im Ungelehrten als im Gelehrten. Das ist jene Erkenntnis, welche den Blättern des Linden- und Weidenbaumes sagt, daß sie auf St. Veitstag sich wenden sollen zur Weissagung, daß nun in wenig Tagen auch die Sonne, wenn sie am höchsten [195] kommt, sich wenden wird; das ist jene Erkenntnis, welche es dem Wunderborn zu Glonach eingibt, daß sein Wasser bei nahender Friedenszeit der Menschen Herz erfreut wie ein guter Wein, bei drohendem Krieg aber Blut und Asche führt; jene Erkenntnis, welche der Sonne gebietet, daß sie am Osterabend tanze, nach den Worten des Psalms, und zwar tanzt sie – das sage ich Euch von wegen des Rosenkranzes, den Ihr tragt – nicht auf den Ostertag des gregorianischen, sondern des julianischen Kalenders. Ruft der Kuckuck nicht mit heiserer Stimme, wenn im Mai noch Frost kommen soll, verkündet er nicht teure Zeit, wenn er nach Johanni ruft? Heult nicht der Hund dumpf und schaurig, wo ein Mensch in kurzem sterben wird? Ahnt nicht das Käuzlein, welches sich wochenlang vor des Kranken Fenster setzt und klagend ruft: ›Komm mit,‹ bis dem Sterbenden der letzte Atem ausgegangen ist, wann und wo der Tod über die Schwelle schreiten wird? Warum sollte dies nicht gleicherweise der Mensch vorahnen können?«

»Auch ein gescheites Huhn Veit, läuft manchmal in die Brennesseln. Wißt Ihr denn, ob Eure eingebildete Weisheit nicht ein Spiel des Teufels mit Eurer armen Seele ist? Tier und Pflanze mögen uns dunkle Vorzeichen geben; der Mensch aber soll sich nicht vermessen, mehr wissen zu wollen, als was ihm Gott durch die Kirche offenbart und durch den klaren, allen gemeinen Verstand.«

Da wurde der Glöckner noch stolzer als zuvor und sprach: »Ihr sollt mich nicht für einen Hexenmeister,[196] Gaukler oder Narren halten. Was ich noch keinem Menschen erzählt, will ich Euch erzählen. Vor fünfzehn Jahren lag ich todkrank. Es war ein großer Jammer; denkt Euch meine Frau mit den kleinen Kindern. Ich wußte ganz deutlich, daß man mich verloren gab; in einer hellen Stunde, wo mich der Fiebertraum verließ, hörte ich, wie meine Frau zu den Kindern sagte: Gehet hinauf auf die Kammer und betet, daß euer Vater nicht sterbe; denn jetzt ist bald alles verloren. Aber wenn gar kein Heulen und Flehen mehr hilft, dann hat doch oft noch das Gebet eines kleinen Kindes geholfen; denn der Bitte eines unschuldigen Kindes vermag der liebe Gott am schwersten zu widerstehen. Diese Worte hörte ich, wußte nun, wie es mit mir stand und dachte: jetzt muß es also gestorben sein. Da kam es mir aber gar grausam vor, daß ich jetzt schon fortgehen solle und Weib und Kind so hilflos zurücklassen, und ich bat den Herrn Christus, er möge mir ein Zeichen geben, ob ich denn nicht noch eine kleine Frist länger leben dürfe, und fiel in eine tiefe Ohnmacht. Wie ich aber wieder zu Sinnen kam, da hörte ich eine Stimme – ob ich gleich keinen Menschen sah – die sagte mir klar und vernehmlich, fünfundsiebzig Jahre müsse ich erst überdauern, dann sei es Zeit, mich zur Abfahrt zu rüsten. So ist's verheißen und so wird's geschehen. Von der Stunde an war meinem inneren Gesicht eine helle Leuchte aufgesteckt. Ich las fleißiger als zuvor in der Bibel, ich trug mir alte Kalender und Aspektentafeln zusammen, man nannte mich einen Propheten.«

[197] »Und glauben die anderen an Eure Prophetenkraft?«

»Sie bauen Häuser darauf!« entgegnete Veit fast trotzig fest.

»Und baut Ihr selber Häuser darauf?«

Da stutzte der Prophet. »Ich werde wohl manchmal irre an mir selbst. Das sage ich Euch, Euch allein! Aber das glaubet mir, auf jene Verheißung, die meines eigenen Lebens Länge betrifft, baue ich Häuser. Ich kenne seitdem keine Todesfurcht mehr; mit dem fünfundsiebzigsten Jahre mag sie kommen. In der Schlacht wie in der Pest bin ich so sorglos mitten hindurchgegangen, als sei das alles nur ein Kinderspiel. Und wenn die anderen sehen, daß einer so an sich glaubt, dann glauben sie auch an ihn. – Aber mir deucht, Ihr müsset wohl auch eine solche Verheißung haben, da Ihr den Tod so gar nicht fürchtet. Und sehet, die Leute glauben darum, Ihr seiet zum wenigsten ein Gespenst oder der Ehegemahl der Pest, oder ein Stück vom leibhaftigen Teufel. Und wenn Ihr nun inne werdet, wie Ihr mit Eurem Verständnis und Eurer Kraft dieses einfältige Volk überragt, kommt Euch da nicht auch manchmal der Gedanke, den Leuten etwas zu prophezeien?«

»Ich prophezeie niemals,« erwiderte der Fremde würdevoll. »Ich verkünde nur, was allen geoffenbart ist, nicht ein Geheimwissen, das mir allein enthüllet wäre. Aber so verdunkelt ist das Gedächtnis dieser Offenbarung, daß in diesen Zeiten als ein Prophet erscheint, wer doch nur ein Prediger ist.«

[198] Die zwei wunderlichen Totengräber gingen vom Kirchhof ins Dorf zurück. Dort hatte sich inzwischen ein seltsames Schauspiel gerüstet. Der Schultheiß hatte kurze Justiz geübt.

Eine Trommel ging durch die Gassen und lockte in den wenigen bewohnten Häusern halb furchtsame, halb neugierige Gesichter ans Fenster. Aber jeden überlief es, als er den Aufzug erblickte und dessen Sinn erriet. Der Ausrufer zog mit dem Trommler voran und hinterdrein schritt, von den zwei Ortsknechten begleitet, mit einem Strohkranz um den Kopf – Grete, als sei sie des Diebstahls überwiesen. Ueber der Stirn waren die silbernen Spangen im Kranze befestigt, damit jedermann sehen möge, was die Delinquentin gestohlen habe. In gemessenen Zeiträumen schwieg die Trommel, und dann verkündete der Ausrufer Vergehen und Urteil der Bestraften. Es war dies die gelindeste Strafe und doch die beschimpfendste; einem Dieb, der noch nicht reif war für den Turm oder den Galgen, gab man gleichsam die erste Verwarnung, das consilium abeundi durch Austrommeln.

In einer harten und rohen Zeit wird auch der einzelne härter und männlicher oder stumpfer in seinen Empfindungen. Wir ertrügen's nicht, was unsere Vorfahren ertragen haben, die in dreißigjährigem Elend groß gewachsen.

Grete war blaß, ihre Kniee zitterten wohl auch, und die Lippen zuckten und zwinkerten manchmal, wie wenn das Weinen hervorbrechen wolle. Doch in diesen Zügen voll tiefer Scham und mächtigen Schmerzes [199] war zugleich das Bewußtsein des Stolzes der gekränkten Unschuld ausgesprochen. Die Braut im Strohkranze erschien nicht wie eine Verbrecherin; sie erinnerte an die Bräute aus der alten Zeit, die einen Distelkranz zum hochzeitlichen Kirchgang aufsetzten; einen Kranz aus Kreuzdisteln, daß sie auch in der Freude des Hochzeitstages eingedenk seien des künftigen Kreuzes der Ehe.

»Man sieht ihr die Betrübnis nicht sonderlich an,« meinte ein Weib aus der kleinen Schar der Gaffer. Aber ein alter Mann antwortete darauf mit dem alten Spruch: »Das Hemd bedeckt alle Herzenspein! Und keiner weiß, wie's in des Mädchens Herzen aussieht.«

Der Schultheiß hörte die Trommel von fern in der Ratsstube. Er hatte nämlich dort seither sein Quartier aufschlagen, da er noch nicht wagte, in sein eigenes Haus zurückzukehren. Der Aufzug mußte bald um die Ecke biegen und aus den Fenstern des Rathauses sichtbar werden.

Da ging die Thür auf, und Veit, der Glöckner, trat herein und mit ihm der fremde Mann. Des Glöckners Gesicht war von wilder Zornesglut übergossen. Wie hätte er jetzt noch an sich halten können. Er ballte die Faust, er rollte die Augen; hätte ihn der Fremde nicht gleich einem Zauberer in der wildesten Wut gebannt, er würde den Schultheißen auf der Stelle erwürgt haben.

»Herr Vetter,« rief er, »ich will Euch nur eine kleine Geschichte erzählen. Seht, da Ihr Eure Frau [200] freventlich verstoßen und in der Scheuer elend hattet umkommen lassen, ward sie von dem Mädchen, das man eben austrommelt, getreu verpflegt. Das wißt Ihr. Das letzte Andenken, was die Base der Grete sterbend vermachte, waren die Armspangen. Ihr wollt mein Zeugnis nicht gelten lassen. Gut! Die Wahrheit wird schon noch an den Tag kommen. Da Eure Frau noch nicht kalt geworden war, begegneten wir einander; wir dachten an die tote Base, Ihr aber wolltet schön thun mit der Grete. Wißt Ihr noch, wie sie da aufs Sterbehaus zeigte und sprach: Herr Schultheiß, es liegt ein Totes drinnen! Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't! – Ihr wißt das noch. Kommt her ans Fenster« – und er riß den Widerstrebenden mit starkem Arm dorthin – »seht hier, Herr Vetter: die Trommel voran – das blasse Kind mit dem Strohkranz in den Haaren – auch ein kleines Häuflein gaffenden Lumpenvolkes stumm hintendrein, – Herr Schultheiß, unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!«

In diesem Augenblicke erschaute der Schultheiß den fremden Mann, den Pestmann, der bis dahin unbemerkt im Hintergrund gestanden hatte.

Entsetzt fuhr er zurück, als sei der Eindruck der Worte des Glöckners nichts gegen den Schrecken dieses Anblicks, und stotterte: »Was wollt Ihr hier?«

In ganz ruhigem, kaltem Ton, der seltsam abstach gegen die Wut des Glöckners und das Entsetzen des Schultheißen, erwiderte der Angeredete: »Ich habe nur meinem Freunde, Veit Kreglinger, das Geleit [201] hierher gegeben, und wir beide kommen soeben von dem Begräbnis Eurer verstorbenen Frau. Auch ich hoffe, die Wahrheit wird an den Tag kommen. Binnen heute und vierzehn Tagen, Herr Schultheiß, werdet Ihr Rechenschaft geben müssen über Euer Richteramt, Gedenkt an mich!«

Mit diesen Worten zog er den Glöckner hinweg aus der Ratstube. Der Schultheiß aber stand wie eine Bildsäule. Auf die Straße konnte er nicht blicken, dort ging der Zug mit dem Mädchen, und in das Zimmer noch weniger, dort war der Pestmann. So stand er als ein armer Sünder mitten inne zwischen dem Anblick seines Verbrechens und der rächenden Gerechtigkeit.

Als aber der Glöckner und der Fremde die Treppe hinabstiegen, konnte sich Veit trotz seines Zornes und Schmerzes doch nicht enthalten, dem Begleiter zuzuflüstern: »Vorhin habt Ihr gesagt, Ihr prophezeitet niemals, seht, eben habt, Ihr doch prophezeit!«

5. Kapitel

Fünftes Kapitel.

Der Schultheiß war nicht ganz so schlimm wie er aussah. In ruhigen Zeiten wäre er ein polizeimäßig rechtschaffener Mann gewesen, der nichts Schlimmes gethan hätte, damit ihm nichts Schlimmes widerführe. Aber für die Zügellosigkeit der Kriegsjahre langte seine Sittlichkeit nicht. Er ließ sich geben und fiel so aus einer Lumperei in die andere. Dennoch [202] wußte er seine Haltung als gestrenger Dorfregent lange zu bewahren. Indem er anderen imponierte, schaffte er sich Mut, und indem er andere abstrafte, machte er sich selber warm für Tugend und Gerechtigkeit.

Als der Glöckner mit seinem Genossen hinweggegangen war, fand der Schultheiß bald die Fassung wieder. Es ward ihm ganz lächerlich, daß er sich von den beiden Burschen so hatte erschrecken lassen. Ein verwünschtes Ding war es nur, daß ihm der lüderliche Vers fortwährend im Kopf summte, den ihm der Glöckner zu Ohren gesungen, als selbiger von der Leiche seiner Frau kam:


»Und als mein' Frau gestorben war,

Da legt' man sie aufs Stroh,

Ich sollte drüber weinen

Und war doch gar so froh!«


Da sich der Schultheiß ins Bett legte, war es ihm, als sei ein wahrer Herenspruch in dem Vers. Hundert-und tausendmal mußte er ihn in verzweifelter Lustigkeit vor sich hinsingen und konnte nicht einschlafen. Er wollte sich auf ernstere Gedanken bringen; aber die waren so unheimlich wie die lustigen. Binnen vierzehn Tagen sollte er zur Rechenschaft gefordert werden über sein Richteramt. So hatte der Pestmann prophezeit. Damit hatte er ihm doch wohl auf diese Frist den Tod verheißen, und der Pestmann mußte sicherlich kompetent sein in diesem Stück. »Aber wenn ich auch demnächst zum Teufel fahren müßte, [203] in den nächsten vierzehn Tagen thue ich es nun erst gerade nicht, dem Pestmann zum Trotz!« So sprach der Schultheiß zu sich selbst. Dann ward er aber plötzlich wieder sehr nachdenklich. Wenn diese Hitze, die ihn durchglühte, schon das Fieber der Krankheit wäre? Er hielt gar oft die Hand an die Stirn und den Puls – der ging zwar etwas rascher, doch nicht so rasch, wie ihn das Fieber, sondern nur wie ihn das böse Gewissen zu treiben pflegt – und fragte sich, ob er denn wirklich schon von der Pest befallen sei? und dazwischen sangen ihm unheimliche Stimmen aus jeder Ecke der Kammer in hundertfachem Chor den Vers entgegen:


»Und als mein' Frau gestorben war,

Da legt' man sie aufs Stroh –«


Doch der Schultheiß war kein Schwachkopf, der vor Angst krank wird. Er kämpfte sich tapfer durch die wüste Nacht, und als er sich des anderen Morgens nicht den Schlaf, sondern bloß die Ermattung aus den Augen wusch, wusch er auch die bösen Träume aus seiner Seele.

Er wollte auf andere Gedanken kommen und ging darum in die große Ratsstube, die zu Zeiten auch als Gerichtsstube diente, um dort zu arbeiten. Ueber der Thür stand nach der Sitte der Zeit ein alttestamentlicher Spruch, der war dem Schultheißen seit den Kindertagen wohlbekannt; doch gar lange hatte er die Steinschrift nicht wieder gelesen. Jetzt blieb er stehen und las:


[204] »Sehet zu, was ihr thuet: denn ihr haltet das Gericht nicht den Menschen, sondern dem Herrn, und er sitzt mit euch im Ge richt

2. Chron. 19, 6.


Da fuhr dem Schultheißen ein Schreck durch die Glieder; denn mit dem Spruch ging ihm der andere Spruch durch den Sinn, den ihm Grete vor dem Sterbehause und gestern der Glöckner zugerufen: »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't.« Und nun war auch der Spuk der Nacht für den ganzen Tag wieder losgelassen im Kopfe des Schultheißen. Der leichtfertige Vers, der ihn gestern im wachen Traum gequält, und der bedenksame Spruch klangen ihm fort und fort im Ohr zusammen wie Glockengeläute, das nicht stimmen will. Am Abend sagte der gemarterte Mann zum Ortsknecht, seinem einzigen Vertrauten: »Es läutet mir im Kopf mit zwei Glocken, die wollen nicht rein miteinander klingen; es ist ein Geläut, das mich in des Teufels Kirche ruft!« Als die Abendglocke vom Löhnberger Kirchturme in das friedliche Thal hinaustönte, wollte es dem Schultheißen fast den Kopf zersprengen, so daß er die Ohren in ein Kissen steckte. Denn der alte Veit war es ja, der die Glocke zog, und es war dem Schultheißen, als riefe ihm der Glöckner fortwährend durch den Gesang der Glocke zu: »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't.« Und da die Abendglocke längst verstummt war, mußte der Schultheiß den Spruch doch noch lange nach dem Taktmaß und Tonfall des Geläutes vor sich hin singen.

[205] Am folgenden Morgen bemerkte der Ortsknecht dem Schultheißen: der Herr sehe sehr blaß und hohläugig aus. Da flog es dem Schultheißen rot wie Scharlach über das überwachte Gesicht, und er gab dem Ortsknecht eine Ohrfeige dafür, daß derselbe rot und weiß nicht unterscheiden könne.

Nach einer Weile zog er den Knecht ans Fenster, deutete auf einen Tannenbaum, worauf ein Rabe saß, und fragte, wie ihm das Geschrei klinge, das der schwarze Vogel rastlos ausstoße.

Der Ortsknecht sprach: »Der Vogel ruft seinen eigenen Namen – Rab! Rab!«

»Nein,« entgegnete zornig der Schultheiß, »wärest du nicht ein tauber Esel, so würdest du hören, daß dieser Vogel Grab! Grab! ruft. Grab! Grab! schreit er mir schon seit zwei Stunden ins Ohr. Seit zwei Stunden mühe ich mich, ihn zu verjagen; aber je mehr ich scheuche und lärme, um so fester bleibt er sitzen und um so lauter und deutlicher ruft er mir zu: Grab! Grab! Laufe, was du kannst; bringe mir den alten Glöckner hierher und seinen Spießgesellen, den Mann, dessen Namen man nicht nennen darf, den fremden Mann, der mit seinem weißen Käsegesicht dreinschaut wie der Tod von Ypern. Sie sollen den Zauber lösen, den sie auf diesen Vogel gelegt haben, sie sollen mir den Vogel verscheuchen, sie allein können das, oder ich liefere sie an den Brandpfahl als überwiesene Hexenmeister. Ah, der Rabe schreit immer stärker! Ich merke schon, man muß etwas sanftere Saiten aufziehen gegen seine Gebieter. Ich verspreche [206] ihnen sicheres Geleit – hörst du! – nur den Raben sollen sie mir zur Ruhe bringen. Alle Gunst und Freundlichkeit sei ihnen gewährt – den verfluchten Spitzbuben – allein es ist besser, in die Suppe geblasen, als das Maul verbrannt – nur den schwarzen Vogel sollen sie fortjagen. Oder vielleicht hat es gar dem Pestmann gefallen, sich selber in diesen Raben zu verwandeln? Dann würde ich Euch raten, hochansehnlicher Herr im schwarzen Rock, Euch mit mir gütlich auszugleichen, zu schweigen und abzuziehen. Obgleich ein großer Zauberer, könntet Ihr doch über kurz oder lang einmal in meine richterlichen Hände fallen – auch die besten Schwimmer ersaufen zuweilen – und da wäre dann ein Dienst des anderen wert!«

So sprach der Schultheiß nicht im Fieber, nicht übergeschnappt, sondern bei klaren Sinnen; nur das böse Gewissen ließ jetzt auch die Pulse seines Geistes etwas rascher gehen, wie schon seit vorgestern abend die Pulse seines Leibes.

Der Ortsknecht kam mit der Meldung zurück, daß der Glöckner samt seiner Tochter und dem Pestmann spurlos verschwunden seien. Von der ganzen Sippschaft sei nur noch Konrad, der Schmied, zu haben, der fest im Turme sitze. Ob er den Schmied nicht bringen solle, damit er als künftiger Schwiegersohn des alten Hexenmeisters den Raben verscheuche.

Der Schultheiß erwiderte aber rasch und fest: »Nein; der Schmied bleibt sitzen. Um seinetwillen schreit der Rabe nicht. Er hat das Feuer vor der Morgenglocke angezündet; er büßt seine gerechte Strafe.«

[207] Noch am selben Tage sprachen die Löhnberger Bauern von nichts anderem, als daß der alte Veit und der Pestmann dem Schultheißen prophezeit haben, binnen vierzehn Tagen müsse er um seiner Sünden willen an der Pest sterben.

Allein so scharf man auch von Stund' an des Schultheißen Mienen und Reden bewachte – er schien so sorglos zu leben wie einer. Nur der Ortsknecht konnte von anderen Dingen berichten, und die kranke Gesichtsfarbe, die eingefallenen Wangen mochten erraten lassen, wie es dem Schultheißen in einsamen, unbewachten Stunden und in den schlaflosen Nächten zu Mute sei. Im Amte begann der Mann strenger, gerechter, exemplarischer zu werden als je vorher; und die Löhnberger meinten, hätte man ihrem Schultheißen nur von Anfang an die Pest verheißen, dann würden sie das beste Regiment im ganzen Land gehabt haben.

Je mehr die Frist der vierzehn Tage ablief, um so größer ward die Selbstquälerei des Schultheißen. Vor dem letzten Tag fürchtete er sich am meisten. Denn obgleich mit jedem glücklich überstandenen Tage die Wahrscheinlichkeit größer ward, daß die ganze Prophezeiung Trug gewesen, so wurde doch auf der anderen Seite die Möglichkeit der Erfüllung auf einen immer kleineren und bestimmteren Zeitraum zusammengedrängt. Wir sind alle zur Todesstrafe verurteilt, aber für die höchste Seelenqual, die wir dem gröbsten Verbrecher diktieren, halten wir es dennoch, die Todesstunde bestimmt voraus zu wissen.

[208] Der Schultheiß zweifelte zuletzt gar nicht mehr, daß ihn in der Nacht vom dreizehnten zum vierzehnten Tag die Pest befallen werde. Er beschloß darum, sich für diese Nacht wenigstens in die festeste Citadelle vor der gefürchteten Feindin zurückzuziehen. Die Citadelle glaubte er in dem Gemeindebackofen gefunden zu haben. Schwitzen ist ein Universalmittel des Bauern; besonders hielt man es für ein gutes Präservativ wider die Pest. Mit dem Angstschweiß hatte es der Schultheiß schon seit dreizehn Nächten genügend versucht; er wollte jetzt zur eigentlich medizinischen Schwitzkur schreiten.

Den Tag über – es war Montag – hatten die Ortsbürger ihr Brot für die Woche gebacken, so daß der Ofen die Nacht hindurch noch eine gewaltige Wärme hielt. Aber ganz allein die Nacht im Backhause zu verbringen, wagte der Schultheiß schon nicht mehr. Er weihte daher seinen letzten Freund, den Ortsknecht, in das Geheimnis ein, befahl ihm, Mantel und Hellebarde zu nehmen und die Nacht im Backhause Schildwacht zu stehen.

Das Gemeindebackhaus von Löhnberg lag aber – und liegt noch – außer der Ringmauer am Fuße des Schloßberges neben dem kleinen Weiher, oberhalb dessen die abgebrannte Schmiede gestanden hatte. Der Thürbalken zeigte den Hausspruch:


»Hier wird gebacken Brot und Kuchen

– Den thun die Weibsleut gern versuchen –;

Versuch uns Herr mit keiner Not

Und segne unser täglich Brot.«


[209] Zuerst trat man in eine kleine Backstube, deren Hintergrund dann mit dem Ofen abschloß.

Als es dunkelte und stille geworden war, schlich der Schultheiß mit seinem Begleiter zu diesem einsamen Häuschen. Eine mehr als südländische Hitze glühte noch nach in dem Ofen; denn damals sparte man noch kein Holz; dazu roch der Ofen gar köstlich nach frisch gebackenem Brot.

Nachdem der Schultheiß die verglommenen Kohlen gehörig untersucht hatte, damit er nicht am Ende selber über Nacht gebacken werde, kroch er in den Ofen und schloß die Thür so, daß er nur durch einen kleinen Ritz in die Backstube sehen und notdürftig frische Luft einziehen konnte. Dem Ortsknecht befahl er, nicht vor der Thür, sondern in der Backstube Wache zu halten, auf daß ihn niemand vom Wege aus erspähe. Damit der arme Teufel nicht gleichfalls wenigstens eine Schwitzkur zweiten Grades mitmachen müsse, war ihm erlaubt, die Thür ins Freie offen zu lassen.

Der Mann im Ofen hatte alsbald eine unsägliche Hitze auszuhalten; er schwitzte im voraus zur Präservierung für mindestens zwei ganze Pestepidemien. Dennoch ertrug er diese äußere Hitze leicht. Inwendig dagegen verzehrte ihn eine weit schrecklichere Glut.

»Wenn es schon so heiß ist in diesem ausgebrannten Backofen,« sprach er zu sich selbst, »wieviel heißer muß es dann noch in der Hölle sein!« Der anfangs so süße Brotgeruch deuchte ihm nach einer Stunde schon unerträglich, aber wieviel unerträglicher möge der Geruch erst in des Teufels Backofen [210] werden, wo man tausendmal tausend Jahre nichts als Pech und Schwefel zu riechen bekomme! Zuletzt befiel ihn ein solcher Abscheu vor dem Geruch des Brotes, daß es ihm war, als könne er niemals mehr mit Genuß ein Stück Brot essen, als sei der Segen, der in dem Hausspruch des Backhauses erbeten war, von nun an von seinem Brote genommen. Und er gedachte dabei zum erstenmal so manchen Mannes, der in den letzten Jahren in seiner Gemeinde Hungers gestorben, ohne daß er sein Stück Brot mit ihm hatte brechen mögen.

Der arme Sünder im Backofen versuchte zu beten. Da kam ihm der Gedanke, sein Gebet sei wohl zu vergleichen dem Gesang der drei Männer im Feuerofen, so daß er selber anhub zu singen. Aber der Teufel mußte ihn reiten, daß sein Gesang immer wieder in den Vers überging:


»Und als mein' Frau gestorben war,

Da legt man sie aufs Stroh –«


und sein Gebet und Gesang erschienen ihm wie ein Spott auf die Schrift, denn solche Verse hatten Sadrach, Mesach und Abednego nicht gesungen, da sie im glühenden Ofen Nebukadnezars saßen.

Der Schultheiß schaute, als es mit dem Beten nicht glücken wollte, durch den Ritz hinaus, und durch die offene Thür konnte er sogleich ins Freie sehen. Aber da lagen auch die Trümmer von der Brandstätte des Schmiedes vor seinen Augen, und der leichtfertige Vers des Glöckners samt dem Drohspruch seiner Tochter erschütterten ihm wieder das Gehirn.

[211] In der Verzweiflung wollte er ein Gespräch mit seinem Wächter, dem Ortsknecht, anknüpfen, der wider die Wand der Backstube gelehnt regungslos dastand, als sei er eingeschlafen. Der Schultheiß sagte ihm freundliche Worte und suchte recht zuthunlich aus seinem Backofen heraus zu plaudern. Aber der Kerl gab keine Antwort. Der Schultheiß erhob seine Stimme immer lauter, rief ihn bei Namen – keine Antwort erfolgte. Da sprang er endlich in heller Wut aus seinem Backofen hervor, doch auch nicht ohne Angst, der Teufel möge seinem Spießgesellen bereits zum Vorspiel den Hals umgedreht haben. Doch als er ihn am Mantel faßte und aufrütteln wollte, blieb der Mantel in seiner Hand, und der Stock, daran der Mantel gehangen, fiel um, und der Hut, der auf dem Stock gesessen, rollte zur Erde, und nur der Spieß blieb fest stehen, denn der Ortsknecht hatte ihn tief in den Boden eingestochen, als er sich davonschlich, um sich zu Hause ins gute Bett zu legen und dem unheimlichen Schultheißen nur Hut, Mantel und Spieß zur Schildwacht zurückzulassen.

Der Schultheiß aber kroch ganz gebrochen in seinen Backofen zurück und schloß die Thür so fest, daß er schier hätte ersticken mögen, und schaute auch nicht mehr zum Ritz hinaus. Der Ortsknecht war der einzige gewesen, dem er sich stets huldvoll erwiesen, vordem ein Bettler, der ihm nun sein ganzes Wohlergehen zu danken hatte. Und dieser einzige schlich sich feige davon, wo sein Gönner die erste kleine Aufopferung von ihm forderte, und ließ ihm eine Vogelscheuche [212] statt eines hilfreichen Freundes zurück! Da schaute der Schultheiß zum erstenmal seine eigene Herzlosigkeit wie im Spiegel; denn sein eiskalter Egoismus war die Quelle seiner schwersten Sünden gewesen. Er hätte weinen mögen darüber, daß ihm ein so lumpigter Gesell wie der Ortsknecht die Freundschaft gekündigt, und es war ihm, als stehe er jetzt schon vor dem Gericht, welches ihm der Pestmann verheißen hatte. Jetzt fühlte er erst, wie es seiner Frau mochte gewesen sein, da er sie in ihrer letzten Not verlassen.

»Aber soll ich denn dafür,« so dachte er dann wieder, »sogleich mit dem Leben daran? Laufen doch so viele größere Spitzbuben im Lande herum, die keineswegs mit der Pest gestraft werden, die alt werden wie Methusalem! Ist Gottes Gerechtigkeit wie der Menschen Gerechtigkeit, die den kleinen Dieben eiserne Ketten anlegt, den großen goldene? Nein, an mir ist noch lange nicht die Reihe, daß ich für meine Sünden den Tod erleiden müßte! Weil Gott gerecht ist, darum kann er mich jetzt noch nicht vor sein Gericht fordern.« So appellierte der Schächer an Gottes Gerechtigkeit, um der Gerechtigkeit Gottes zu entrinnen, und mit diesem tröstlichen Gedanken über seine noch zurückstehende Anciennität unter den mitlebenden bösen Subjekten versank der in seinem Backofen fast bis zur Ohnmacht erschlaffte Mann endlich in tiefen Schlaf.

Die Sonne stand schon hoch, als der Ortsknecht atemlos zurückgelaufen kam ins Backhaus, die Ofenthür aufriß und ein über das andere Mal schrie: »Herr Schultheiß! Die Herren aus der Stadt sind gekommen, [213] um wieder einmal einen Rugtag in Löhnberg abzuhalten. Binnen einer halben Stunde sollt Ihr auf dem Rathaus erscheinen, auch die Gemeinde schnell zusammenrufen lassen zum Ruggericht.«

Der Schultheiß, der eben noch vom jüngsten Gerichte geträumt, wachte auf wie zum neuen Leben, da er nur vom Ruggericht hörte. Wäre der treulose Ortsknecht mit einer anderen Botschaft gekommen, so hätte er ihm den Schädel eingeschlagen; jetzt mochte er ihm fast um den Hals fallen vor Freude. Die Nacht war vorüber, er war nicht pestkrank; die Weissagung des Pestmannes erfüllt, er war vor sein Gericht gefordert. Er lachte über sich selbst, obgleich der sonst so starke Mann vor Schwäche kaum aus dem Backofen kriechen konnte. War nicht heute St. Bartholomäi, wo alljährlich das Ruggericht in Löhnberg abgehalten zu werden pflegte? Das konnte man auch ohne Prophetengabe wissen. Aber das Herkommen war durch Krieg und Pest in den letzten Jahren in Vergessenheit geraten, und der Schultheiß hatte am wenigsten an den Bartholomäustag gedacht. Vor einem Gericht von irdischen Richtern fürchtete er sich aber nicht; die Richter, dachte er, sind alle nicht besser wie ich, und keine Krähe hackt der anderen ein Auge aus. Darum freute er sich des Rugtages, als sei derselbe ein Blitzableiter für den Donnerschlag des geweissagten himmlischen Gerichts.

Die Männer vom Ruggericht, Amtleute, Schultheißen, Heimberger und Geschworene, saßen bereits im Ratszimmer, als der Schultheiß von Löhnberg eintrat, verstört in Gesicht und Kleidung und die ganze[214] Stube mit frischem Bratgeruch erfüllend. Die wenigen Gemeindemitglieder, welche die Schrecknisse der letzten Jahre überlebt hatten, fanden bequem Platz in dem kleinen Raum. Das Ruggericht hatte vor versammelter Gemeinde die Thätigkeit der Ortspolizei zu prüfen und sowohl regelmäßig in bestimmten Terminen als auch unversehens solche Visitationen anzustellen, dann aber auch Vergehen, die über die Zuständigkeit der Schultheißen hinausgingen, zur Aburteilung zu bringen. Während der Pest hatte man das Rügen und Aburteilen unserem Herrgott allein überlassen, drum sah es das Volk als ein Zeichen der verschwindenden Krankheit an, daß jetzt auch die Amtleute sich wieder herauswagten zum Rügen.

So elend der Schultheiß aussah, stand er doch fest an seinem Platze und stellte seinen Mann mit gewohnter Gravität.

Der geschworene Schreiber verlas die sechzehn Rugartikel, in welchen gefragt wurde, ob einer in der Gemeinde sei, der gestohlen oder betrogen oder Gottes Wort verachtet habe und was sonst überhaupt zu den Polizeivergehen gehörte. Auf jeden Artikel mußte der Schultheiß Antwort geben, und der Schreiber nahm sie zu Protokoll.

Schon war der sechzehnte und letzte Artikel verlesen, der die selbigesmal für die Löhnberger sehr unverfängliche Frage enthielt, ob jemand in der Gemeinde sei, der verbotene, ehrenrührige Bücher verbreitet habe, und die Gemeinde wollte auseinandergehen, indem man die Schlußformel der Rugartikel für einen leeren Schnörkel anzusehen gewohnt war, [215] als der Amtmann Stille gebot und dem Schreiber befahl, auch den Schlußparagraphen langsam und vernehmlich vorzulesen.

Derselbe lautete: »Würde sich aber bei Unseren Schultheißen und Heimbergern einige Parteilichkeit befinden, oder daß sie jemand mit Wissen fälschlich in Recht und Ehren gekränkt, so wollen Wir selbige mit sonderlichem Ernst hierumb ansehen und zur Rechenschaft ziehen lassen.«

Als der Schreiber diese Worte verlesen, öffnete der Amtsdiener einen Weg durch die versammelten Bauern und führte den Schmied in die Ratsstube und den Glöckner mit seinem Kind, der Grete.

Der alte Veit trat gegen den Protokolltisch vor und sprach: »Mit Verlaub! Ich klage unseren Schultheißen an, daß er mein Kind mit Wissen falsch verurteilt und in seinen Ehren gekränkt hat.«

Der Schultheiß fuhr vom Stuhl auf und rief: »Man lasse diesen Menschen nicht zur Klage, der ein verfluchter Wahrsager und Hexenmeister ist, reif zum Verbrennen!«

Veit aber trat keck ganz nahe vor den Wütenden und sprach kalt: »Herr Schultheiß, ich will Euch einen Spruch sagen, den führen sonst die Hexenmeister nicht im Munde: Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!«

Da brach mit einem Schlage die Selbstbeherrschung des Schultheißen zusammen, und das Geheimnis seines gemarterten Geistes lag offen am Tage. »Schafft mir diese drei Gesichter fort!« rief er, wie im Fieber erglühend und zitternd. »Schon seit vierzehn Tagen verfolgen mich diese Fratzen und das vierte bleiche Totengesicht [216] dazu, und wo ich mich hinwende, da steht der alte Veit, der Hexenmeister, und ruft mir seinen verruchten Spruch ins Ohr!«

Die Geschworenen sahen sich bei diesem Auftritte staunend an. Da aber der Schultheiß, wie von einem Wutanfalle übermannt, nicht nachließ mit Schreien und Toben wider den Glöckner, so hieß ihn der Amtmann in ein Seitenstübchen führen, bis er wieder zur Ruhe gekommen sei.

Dann befahl er dem Glöckner, wahrhaftig, daß er's beschwören könne, zu erzählen, was er wisse. Veit berichtete in schlichten Worten, wie der Schultheiß so schändlich die kranke Frau von sich gestoßen, Grete aber aus freier Christenpflicht der verlassenen Base sich angenommen und deshalb den Konrad dahin vermocht habe, die Esse vor der Zeit zu heizen.

Er berichtete dann die Wahrheit wegen der silbernen Armspangen, sprach von des Schultheißen unehrenhafter Neigung und seiner Rachsucht und stellte den ganzen Vortrag mit so beweglicher Treuherzigkeit, daß er auch noch andere Leute als die Geschworenen dieses Ruggerichts hätte überzeugen müssen.

Dann aber wandte er sich gegen die Bauern und sagte mit erhobener Stimme, ihnen habe er noch etwas ganz besonderes Neues zu berichten. Ihm selber würde es niemals gelungen sein, die Schliche des Schultheißen vor dieses Gericht zu bringen; ein Besserer habe ihm dazu geholfen, das sei der Mann, den sie den Pestmann genannt. Der sei sein und Gretens bester Zeuge gewesen, der habe nach Dillenburg Kunde gelangen [217] lassen von dem Wesen, welches der Schultheiß in Löhnberg treibe; auf das Betreiben von des Pestmanns hohen Gönnern und Freunden habe sich das Gericht zum erstenmal wieder aufgemacht gen Löhnberg. Keiner in dieser Stube, auch die Herren Amtleute nicht, wisse genau, wer der Pestmann eigentlich sei; er selber allein wisse es, freilich erst seit gestern. Und dann erhub der Alte seine Stimme immer mächtiger und fing an zu reden wie ein Prediger. »Viele Kranke, Gefangene, Hungernde, Verlassene lagen in diesen Zeiten an den Straßen, die Priester kamen und gingen vorüber, die Leviten und gingen vorüber, wie im Evangelio. Nur dieser einzige Mann kam aus fremdem Land in unsere Gegend, und da er all das Elend sah, jammerte ihn dessen, und er verband unsere Wunden, goß Oel und Wein darein; er heilte die Kranken, tröstete die Sterbenden und begrub die Toten. Wo die Pest war, da war auch er, darum nanntet ihr ihn den Pestmann. Aber nicht gebracht hat er die Pest, sondern bekämpft hat er sie und hat sein Leben eingesetzt bei diesen Werken der Barmherzigkeit. Und dieser einzige, der uns alle zu Schanden machte, war kein Priester und kein Levit, er war ein Samariter. Der Pestmann war ein – Jesuit; er schrieb sich Rutgerus Hesselmann. Aus Westfalen ins Hadamarische berufen zur Bekehrung treuer protestantischer Christen, wußte er ein besseres Amt zu üben, indem er Buße predigend und Hilfe spendend auf dem Westerwald und im Lahngrund umherzog, und wo er einen Verlassenen fand, da fragte er nicht, ob derselbe lutherisch [218] sei oder päpstlich. Wo er eine Leiche am Wege liegen sah, lutherisch oder päpstlich, da lud er sie ganz allein auf seine Schultern und grub ihr eine Ruhestatt in geweihter Erde. Einen Jesuiten wie diesen gibt es in der Welt nicht wieder. Statt den Haß zu predigen, wirkte er Werke der Liebe. Wider die Pest und den Hunger und die Verzweiflung führte er sein Schwert gewaltiger, als je ein anderer Jesuit das seinige wider Luther, Zwingli und Calvin geführt. Zum Lohn für sein Rittertum holte er sich zuletzt selber die Pest. Gestern ist der, den ihr den Pestmann nanntet, droben in Rennerod an der Pest gestorben. Lutherische und Katholiken standen an seinem Bett, und treue protestantische Pfarrer klagten um den Jesuiten. Das ist die Geschichte vom barmherzigen Samariter, wie sie im Evangelio geschrieben steht, und hier wie dort ruft euch Jesus am Schlusse zu: So gehet hin und thuet desgleichen!«

Als der Glöckner geendet, war es still in der Ratsstube wie in der Kirche. Es war, als beteten sie alle für den verstorbenen Jesuiten.

Endlich befahl der vorsitzende Amtmann, nun den Schultheißen wieder vorzuführen. Als man die Thür des Seitenstübchens öffnete, fand man ihn regungslos am Boden liegen. Er war vom Schlage getroffen. Nicht an der Pest hatte er sterben sollen. Seine eigene Leidenschaft und sein böses Gewissen hatte ihn erwürgt, da der hartherzige Mann eben an der Thür auf die begeisterten Worte des Glöckners vom barmherzigen Samariter horchte. Der Zufall hatte es gefügt, daß [219] das Gemach, wohin man ihn in der Eile gebracht, das Armensünderstübchen gewesen, und die Bauern behaupteten, dort als in des Teufels Hauptquartier habe der Teufel selber dem Schultheißen den Hals umgedreht.

Der Glöckner prophezeite von Stund' an nicht mehr; aber als der weise Patriarch von Löhnberg war er von da immer höher geachtet in der Gemeinde und brachte sein Alter noch weit über fünfundsiebzig Jahre. Nur eine seiner Prophezeiungen ging noch in Erfüllung: das Feuer bei dem Brande des Schmieds hatte in der That die Pest verzehrt. Nach der Schultheißin starb niemand mehr in Löhnberg an der Pest. Bessere Zeiten kamen wieder, Friede, Gesundheit und Gedeihen. Die Ueberlebenden waren geläutert durch das Feuer der Trübsal; der Tod der zu Grunde Gegangenen war für sie ein Opfertod gewesen, daraus ein neues Leben sproß.

Am schönsten Maientage standen Konrad und Grete vor dem Altar. Da rief der Pfarrer warnend und ermutigend allen Versammelten das Wort ins Gedächtnis: »Unser Herrgott spricht nit, aber er richt't!« und eingedenk der Werke der Barmherzigkeit, die der Schmied und seine Braut in den Tagen der schwersten Bedrängnis geübt, predigte er nachgehends über den Text vom barmherzigen Samariter. Da ward auch des Rutgerus Hesselmann nicht vergessen.

Der alte Veit aber zog an diesem Tage mit seinem nervigen Arme gar mächtig die Kirchenglocken, und niemals sollen sie wieder so voll und schön in das stille Lahnthal hinausgeklungen haben.

[220] Amphion.
1856.

[221][223]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

In der weltberühmten Schenke zur »Sirene« in Jena sah es traurig aus. Der Besitzer war gestorben; statt der vermuteten Reichtümer hatte er Schulden hinterlassen. Freilich Schulden in dem kleinen Maßstab der alten Zeit, etliche hundert Gulden, womit das Haus überlastet war. Aber es war auch in der Art der alten Zeit, daß die einzige Erbin der »Sirene«, Eva, die zwanzigjährige Tochter des verstorbenen Schenkwirts, fast ihr Herz abgedrückt wähnte durch den Gedanken an diese kleine Ueberschuldung, die ihres Vaters Gedächtnis verunehrte, den guten Ruf der Sirene auf lange Jahre befleckte und – sie selbst – Eva – vielleicht hinausstieß, daß sie ihr Lebtag Gesindebrot essen mußte.

Im Hause wohnte noch die alte Großmutter, aber an ihr hatte Eva keinen Trost. Taub, stumpfen Geistes, der Welt abgestorben, saß sie in ihrem Winkel und spann, sie hatte kein Auge mehr für das Gegenwärtige; sie war nur noch ein Schattenbild vergangener Tage, das gespenstisch seelenlos unter den Lebenden umging.

Da konnte die arme Eva keine andere teilnehmende Seele finden, als den zeitweiligen Reichsverweser [223] der »Sirene«, den jungen Küfermeister Friedrich Ritter. Er hatte schon lange bei des Vaters Lebzeiten in den Kellern gewirtschaftet und dann auch über der Erde die Schenke so leidlich in Rand und Band gehalten. Er war ein frischer Bursche, rührig, heiter, voll Selbstvertrauen, und unvermerkt war er mit Eva zu einer Herzlichkeit und Zärtlichkeit gekommen, daß es beiden zuletzt vorkam, als hätten sie von Kindesbeinen an zusammengelebt – da sie sich doch erst seit ein paar Jahren kannten – und müßten auch zusammenbleiben bis ans Ende. Das ging aber alles so in der Stille; der Vater merkte nichts davon und die taube Großmutter noch viel weniger.

Es war an einem Oktobernachmittag; die Sonne schien mild durch die achteckigen Scheiben in die stille Schenkstube. Nur die Großmutter spann in der Ecke, die Katze saß neben ihr auf dem Schemel und schnurrte, und die Mücken, die jetzt das Freie flohen, summten zahllos an Decke und Wänden umher. Gäste hatten sich noch keine eingefunden; denn vor Feierabend gingen meist nur verlumpte Trunkenbolde ins Wirtshaus.

Vorn auf einer Bank saßen Eva und Friedrich.

»Ich bin eine Bettlerin seit des Vaters Tod,« sprach die Trauernde, »jetzt werden unsere Hände in Ewigkeit nicht ineinander gelegt werden.«

»Ei, Eva, was verloren ist, muß man wieder erobern. Nur Geduld. Es läutet so lang, bis es endlich Kirmes wird. Ich will mich zusammenthun, schaffen und raffinieren, daß man mich für einen Goldmacher und Hexenmeister halten soll, und eh du [224] dich's versiehst, sind die leidigen fünfhundert Gulden getilgt und wir haben unseren eigenen, freien Besitz!«

»Ja, wenn uns die Gläubiger so lange warten lassen!« sagte Eva kleinlaut.

»Meinst du, man könne nicht auch rasch zu einem schönen Stück Geld kommen? Hast du nicht gehört von dem Lautenschläger Baronius, der eben in Jena verweilt? Ein wahrer Teufel von einem Musikanten. Er gab gestern abend ein Konzert in der Aula der Universität und nimmt einen gestrichenen Säckel von fünfhundert Gulden mit nach Haus. Fünfhundert Gulden in zwei Stunden, ich glaube, so viel verdient der römische König nicht. Freilich, ich werde es auch nicht, denn nur wo Würste sind, kommen Würste hin. Schau aber auch, was der Teufelskerl alles spielen kann; hier habe ich den Anschlagzettel. Der lautet so:


Laus Deo.

Jena am 15. Octobris 1720.
Mit hoher obrigkeitlicher Bewilligung
wird
Ernst Gottlieb Baronius

Cand. juris, königl. preußischer Cammermusicus, berühmtester Lautenspieler und wahrer Amphion dieser Zeit


ein musicalisches Divertimento auf der Laute zu geben die Ehre haben.


Es werden executiret

1) Das Allererschröcklichste (Allegro furioso).
2) Das Allererfreulichste (Andante amoroso). Ein Gegenspiel für die Laute.
[225] 3) Die zwölf Ebenteuer des Herculis für die Laute eingerichtet.
4) Diana und Endymion, ein Zwiespiel für die Laute.
5) Furientanz.
6) Die Belagerung Trojae, Sinfonia in drei Sätzen für die Laute.
Haud ignarus in harmoniis aliquid inesse ad rempublicam conservandam utilitatis.‹ Plut. de Mus.
›Musicae ignoratio Scripturae intellectum impedit‹. S. August. de doctr. Christi. 1«

»Ach, das ist ein gelehrter Zettel,« sagte Eva, »und mag auch eine gar gelehrte Musik sein! Wenn doch der kunstreiche Mann unser Leid wüßte und ein rechter Christ wäre, dann würde er uns die fünfhundert Gulden schenken, die er auf diesen Zettel hin in zwei Stunden verdient, er würde uns glücklich machen und in anderen zwei Stunden hätte er sich wieder andere fünfhundert Gulden zusammengespielt.«

»Liebe Eva, so großgemutet ist gar selten ein Musikant. Je größer der Künstler, je kleiner der Christ. Die's am weitesten gebracht, haben sich zuletzt alle dem Teufel verschrieben. Die Musici stimmen [226] die Saiten auf ihren Instrumenten, sagt man, aber die Saiten ihres Gemüts lassen sie übel gestimmt.«

Nun erhob sich die taube Großmutter von ihrem Spinnrad, wo sie einiges von dem Inhalte des Gesprächs erlauscht hatte. Ueberlaut, nach tauber Leute Weise rief sie: »Hexengold und Musikantensold verfliegt über Nacht. Zu meiner Zeit kam auch ein gewaltiger Geigenvirtuos hierher, man nannte ihn nur Damian von Gußbach nach seinem Geburtsort, denn seinen rechten Namen wußte er selber nicht. Der spielte die Geige bald unter dem Kinn, bald auf dem Kopf, bald auf seinem Rücken, bald zwischen den Beinen wie ein Bassettchen. Er spielte mit dem Fiedelbogen über den Saiten und unter den Saiten, auf den Haaren und dem Holz, kurzum er spielte, wie man wollte, und doch kam immer etwas wie eine schöne Musik heraus, daß es ein wahres Mirakel war. Wer zwei Weißpfennige zahlte, der konnte ihn den ganzen Abend hören. Anfangs war es ein Zulauf, daß er seinen Hut gestrichen voll Weißpfennige bekam, und die ganze Stadt sprach von Damian von Gußbach, wie sie jetzt von Baronius sprechen. Aber als er öfter wiederkam, wurden der Weißpfennige immer weniger, und eines Morgens ist er meinem seligen Manne plötzlich durchgegangen mit Hinterlassung beträchtlicher Zehr-und Logisschulden und ist nicht wieder gesehen worden. So geht es mit all der Flitterherrlichkeit von Musikanten und Komödianten.«

Eva und Friedrich schraken zusammen, denn sie sahen plötzlich, daß sie nicht mehr allein in der Stube waren.

[227] Die stattliche Gestalt eines fremden jungen Mannes stand mitten im Zimmer, eine auffallende, anziehende Erscheinung. Das Gesicht war fast wie eines Mohren geformt und von merkwürdig bräunlicher Färbung, aber aus den großen, glänzenden Augen blitzte Geist und Selbstvertrauen. Eine mächtige Perücke schloß die Stirne ein, zu beiden Seiten mit großen hörnerartigen Wulsten, die den Kopf fast viereckig machten. Ein roter Sammetrock, seine Spitzenmanschetten und Jabot, schwarze Sammethosen, ein zierlicher Degen, große Schuhschnallen, mit funkelnden Edelsteinen besetzt, bildeten die einfache, aber höchst gewählte Kleidung, welche den vornehmen Mann verkündete.

»Ich habe Euch schon mehrmals angeredet,« sprach er lächelnd zu Friedrich, »aber zuerst waret Ihr so vertieft in den Konzertzettel und dann in Eure Glossen über den Lautenspieler, daß Ihr gar kein Ohr für mich hattet. Ich erwarte Freunde hier. Bringt mir darum eine Kanne Wein, nicht vom schlechten und nicht vom besten, sondern von jenem guten, womit man das rechte Fundament legt, daß man weiter vom besseren und vom besten noch mit Lust trinken mag.«

Als Friedrich den Wein brachte, klopfte ihm der vornehme Gast auf die Schultern und sprach: »Ueber die großen Musici seid Ihr schlecht berichtet. Sie verdienen ihr Geld nicht so leicht als Ihr glaubt. Musikantensold ist auch kein Hexengold. Freilich ein glücklicher Abend bringt rasch reichen Lohn. Aber von den durcharbeiteten Nächten, von den Wochen und [228] Monaten, im wahren verzehrenden Fieber des Studiums hingebracht, von all der martervollen Arbeit, die es heischt, bis einer so weit gekommen ist, wie dieser Baronius, davon lasset Ihr Euch in Eurem kühlen Keller nichts träumen. Und wenn's der Musikus dann so weit gebracht hat, wie muß er schaffen, um sich über dem Wasser zu halten! Das geht nicht mehr wie beim Damian von Gußbach. Wer jetzt ein gerechter Virtuos will heißen, der muß auch ein Komponist sein, im reinen Satz so sattelfest wie der erste Kapellmeister. Auch ein Gelehrter muß er sein, in der Geschichte seines Instruments und seiner Kunst wohlbewandert, in den alten heiligen und Profanskribenten wohl belesen. Denn ein großer Musikus muß heutzutage seine Bücher schreiben so gut wie seine Noten, mit Gelehrsamkeit wohl ausstaffierte Bücher, schneidig voll Feuer, Witz und Grobheit, sonst wird er totgeschrieben von den Kollegen. Es ärgert einen Hund, wenn er einen anderen in die Küche gehen sieht; so geht es auch mit den Künstlern und dem Kunsttempel. Aber versteht Ihr mich auch, Freund, denn Ihr sehet mich gar wunderlich an?«

»Freilich, freilich!« rief Friedrich eilfertig. »Das klingt ja alles so schön und gelehrt, fast gerade wie der Konzertzettel des Herrn Baronius.«

Dann ging er auf die Seite zu seiner Eva und flüsterte: »Wenn der Rotrock nicht der Teufel ist, dann muß es der Baronius in eigener Person sein.«

Fußnoten

1 »Wohl weiß ich, daß in den musikalischen Harmonien etwas sitzt, was förderlich ist, den Staat zu erhalten.« Plutarch über die Musik.

»Die Unkenntnis der Musik hindert das Verständnis der heiligen Schrift.« Der heilige Augustinus über die Lehre Christi.

2. Kapitel

[230] Zweites Kapitel.

Nach einer Weile trat ein mächtig großer, breitschulteriger junger Mann in die Schenkstube, wohl ein angehender Dreißiger und seiner Kleidung nach doch noch ein Student. Denn eine Schar wohlgesetzter Männer, darunter auch verheiratete Leute, bildete damals noch immer wie in alten Zeiten den Adel der bemoosten Häupter, und von halbreifen Jünglingen, wie sie jetzt die Hörsäle füllen, war noch wenig zu sehen auf deutschen Hochschulen. Der Student trug sein natürliches Haar, bis auf die Schultern niederwallend, dazu einen stattlichen Schnurrbart und Kinnbart, und wie er so stolz hereinschritt, die linke Hand auf das Gefäß des Stoßdegens gestemmt, sah man's ihm gleich an, daß er kein gewöhnlicher Student und Obskurant sein könne, sondern ein Mann von burschikosen Ehren und Würden. Er war in der That Senior des Faßbinderordens, der herrschergewaltigste Student der ganzen Hochschule.

Als er den feinen Mann im roten Sammetrock erblickte, eilt er auf ihn zu, umarmte ihn, küßte ihn, schrie laut auf vor Freuden und wollte ihn kaum wieder loslassen. »Ich gratuliere, Freund Baronius! Das war ein Sieg, ein Triumph! Wie mich jeder Beifallruf freute, als gälte er mir, jeder Lorbeerkranz, als sei er mir hingeworfen! Aber ich habe auch redlich mitgearbeitet, Freund! Sämtliche Mitglieder des Faßbinderordens hatte ich ins Konzert geschafft; da standen wir im geschlossenen Treffen, und nach jeder Nummer[230] schlugen wir frisch zuerst an mit einem wahren Rottenfeuer des Klatschens und Jubelns; und uns gegenüber in der anderen Ecke des Saales war der ganze Lilienorden aufgepflanzt, den habe ich auch halb in der Tasche, und sowie ich nickend das Signal gab, fuhren die braven Burschen von den Lilien gleichfalls drein wie wütend. Zuletzt, nimm mir's nicht übel, hatten meine Leute fast mehr Freude daran, sich selber klatschen, als dich spielen zu hören. Ach, du bist ein gemachter Mann, überschüttet mit Geld und Ehren, berühmt durchs ganze Reich – ich habe mit dir meine Studien begonnen, ich bin nichts und werde nichts, ich bleibe der ewige Student!«

»Beneide mich nicht allzusehr,« erwiderte Baronius, den Arm auf die Schulter des Freundes legend. »Du bist wohl glücklicher als ich. Der Erfolg in der Kunst macht unersättlich. Das nagt an mir, das verzehrt mich, daß ich weiter, weiter, immer weiter will. Ich genieße meine Triumphe nicht, denn für mich sind es längst keine Triumphe mehr. Es gab Meister, die Größeres leisteten, unendlich Größeres; es martert mich zu Tode, daß ich's ihnen nicht nachmachen kann. Ich schreibe eben an einer Geschichte des Lautenspiels. Jedes Blatt, welches ich in den Geschichtsbüchern umwende, verstimmt mich, daß ich heulen möchte vor ungesättigtem Ehrgeiz. Amphion bewegte Steine mit seinem Lautenspiel, er bezauberte Bäume und Felsen. Jetzt mag sich einer die Finger abspielen, er wird darum noch keinen Stein um einen Zoll von seiner Stelle rücken. Doch das mögen Fabeln [231] sein und die Geschichte ist auch schon sehr lange her. Orpheus hielt gar den Wind auf mit den Tönen seiner Laute. Auch diese Kunst will ich gern verloren geben; man könnte durch sie leicht als Wettermacher und Hexenmeister zu bösen Geschichten kommen. Aber daß beide, Amphion und Orpheus, durch ihr Spiel die wilden Tiere gebändigt und gezähmt haben, das ist doch wohl keine Fabel. Wie erbärmliche Stümper sind wir da gegen diese Meister. Nicht einen Hund, nicht eine Katze mag unser Lautenspiel noch fesseln, geschweige denn einen Hirsch, Wolf oder Bären. Hund und Katze laufen davon, wenn ich nur drei Accorde anschlage, und zwingt man die Bestien zu bleiben, dann heulen sie immer höher, je schöner und heftiger man spielt. Was ist unsere ganze gepriesene Malerkunst, bevor es nicht wieder gelingt, jene Traube zu malen, nach denen die Spatzen geflogen sind? Doch die Wunderwerke der klassischen Zeit will ich alle noch verschmerzen; wer will überhaupt in Wettkampf treten mit Griechenland und Rom? Aber auch in den finsteren mittleren Zeiten, ja in ganz naheliegenden Jahrhunderten sind Wunderdinge auf der Laute geleistet worden, für uns so unerreichbar, daß wir uns beschämt verkriechen, daß wir unsere Lauten an der Wand zerschlagen müssen angesichts jener obskuren Meister, deren Namen man nicht einmal recht kennt. Sieh, Freund, das frißt an mir, das macht mir schlaflose Nächte, das läßt mich in Zorn und Wut die Laute üben in ihren höchsten Schwierigkeiten, bis mir das Instrument aus der Hand gleitet vor Ermattung. [232] Nicht eher gewinne ich Ruhe und Zufriedenheit, bis ich diese namenlosen Zauberer besiegt habe.«

»Und worin bestand denn deren Kunst?« unterbrach der Senior. »Aber halt! Rede nicht weiter, bevor wir uns gesetzt haben, bevor Eva mir eine Kanne Rheinwein kredenzt, und bevor wir angestoßen und einen guten Trunk gethan. Denn deine Rede tönt süß wie deine Laute, aber sie baut sich breit und groß, wie deine Musik, wenn du das jüngste Gericht spielst, und ist so festgefugt, daß man nirgends ein Loch hineinbrechen kann. Nichts für ungut, Freund! Glück auf! Also auf die Ueberwindung des Orpheus und Amphion und aller namenlosen mittelalterlichen Lautenspieler!«

Da stießen sie an und tranken. Dann fuhr Baronius also fort:

»Es wird uns von glaubwürdigen Chronisten berichtet, daß am Hofe König Erichs von Dänemark ein Lautenspieler gewesen von so großer Kraft des Ausdrucks, daß er durch sein Spiel die Zuhörer zu jeder Leidenschaft stimmen und hinreißen konnte. Der König, der davon vernommen, wollte diesen Triumph der Kunst mit Augen sehen und befahl darum dem Musiker, vor seinen Rittern und Hofleuten kriegerische Weisen so zu spielen, daß alle zum Kampf entflammt würden. Der Lautenspieler war seiner Sache dermaßen gewiß, daß er bat, alle Waffen fortzuschaffen und Wächter vor dem Saale aufzustellen, welche die Streitenden sofort auseinanderreißen könnten. Damit die Wache aber nicht auch in den allgemeinen Taumel [233] hineingezogen würde, sollte sie rechtzeitig dem Meister die Laute wegnehmen und so der bestrickenden Musik ein Ende machen. Der Lautenspieler begann ein weiches Adagio; da wurden alle Zuhörer tief betrübt, daß ihnen fast das Weinen ankam. Dann ging er über in ein fröhlich bewegtes Allegro; da glänzte Heiterkeit auf allen Gesichtern, und kaum konnten sich die Jüngeren des Tanzes enthalten. Nun erschallte ein kriegerischer Marsch, der sich allmählich zu einer so heftigen, stürmischen, wildaufregenden Kriegsmusik erweiterte, daß alle wie von Sinnen kamen. Zorn und Wut erfüllte die sonst freundlichen Gemüter. Vergebens suchte man, rief man nach den Waffen. Da begann in der äußersten Wut der ganze Hof mit Fäusten sich zu schlagen, bis die Wachen mit Schwertern und Hellebarden hereindrangen, um Frieden zu schaffen. Aber beim Anblick des ungeheuren Tumultes vergaßen sie dem selbst wie wahnsinnig rasenden Musiker die Laute hinwegzunehmen. König Erich riß einem der Wächter das Schwert von der Seite, rannte damit ins Getümmel hinein und stieß vier seiner Getreuen nieder. Nun erst schlug einer der Wächter dem Lautenisten mit der Hellebarde sein Instrument in Stücke, und plötzlich, da es still geworden, beruhigten sich die Gemüter. Der König wollte verzweifeln vor Reue und Kummer über den vierfachen Mord. Zur Sühne unternahm er eine Wallfahrt nach Jerusalem; auf der Rückreise ereilte ihn der Tod auf Cypern. Sieh, Freund, das war ein Triumph der Kunst; und solange ich nicht vermag, was jener Lautenspieler vermocht, bin ich ein Stümper.«

[234] Der Senior erwiderte trocken: »Also du meinst, wenn man eine so verzweifelte Musik macht, daß sich die Leute darüber totschlagen, dann hat man den Gipfel der Kunst erreicht? Nein, lieber Baronius, rechtfertige dich nicht; verstehe Scherz; ich will jetzt auch im Ernste reden. Sieh, du hast mir diese Geschichte von König Erich und seinem Lautenspieler früher schon öfters erzählt und immer das gleiche Leid geklagt. Ich habe inzwischen fleißig darüber nachgedacht und möchte dir nur eine Frage vorlegen: Hast du denn schon den Versuch gemacht, ob du nicht auch so unmittelbar die Leidenschaften der Menschen erregen könntest durch dein Spiel und ist dir der Versuch mißglückt?«

Baronius gestand, daß er's noch nicht versucht habe. Zugleich begann sein Auge zu leuchten und zu blitzen, seine Wangen röteten sich, sein ganzes Gesicht ward von Begeisterung überstrahlt. »Ja, daran liegt's,« rief er, »daß ich's noch nicht versucht habe; wenn ich's versuchte, es würde mir gelingen. Das fühle ich auf einmal mit einer inneren Gewißheit, die nicht trügt! Wahrlich, Freund, du hast mir den rechten Weg gezeigt.«

»So laß deine Laute holen,« rief der Senior in einem seltsam sarkastischen Ton, der aber dem schwärmerisch begeisterten Musiker ganz entging. »Flugs an die Probe.«

»An die Probe? Aber vor wem? Mit wem? Vor dir, Freund, ja, vor dir allein, das ist genug. Gleich jenem Tragiker, der nur einen Zuhörer zum Vorlesen seines Trauerspieles fand und ausrief: dieser [235] einzige sei ihm eine glänzendere Hörerschaft als das ganze Volk von Athen, denn es war Plato – gleich jenem Tragiker will ich in dir allein das entscheidende Auditorium finden, denn du warst es, der mir mit seiner Klugheit das rechte Licht angezündet in dieser Angstfrage meines Ehrgeizes, wo ich schon so lang im Dunklen tappte.«

»Ich bin nicht Plato, Freund,« erwiderte der Senior, »und für unsere Probe würde doch auch ein einzelner kaum genügen und wäre er selbst Plato in eigener Person. Sieh, da kommen Zuhörer. Der ganze Orden der Faßbinder wird hier aufziehen, fünfundzwanzig auserlesene Studenten, zu jeder Leidenschaft meist über das Maß aufgelegt, da kannst du erproben, wie weit der Zauber deiner Laute reicht.«

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

Der Senior machte sich los von seinem Freunde Baronius und ging zu den Studenten. Er mußte ihnen etwas Lustiges mitzuteilen haben, denn wo er mit einem gesprochen, lächelte ein jeder seltsam in sich hinein, und einer schien's dann dem anderen weiterzusagen, so daß sich zuletzt allgemeine Heiterkeit über das ganze Völkchen verbreitete. Ja, einige der Erregtesten bissen die Lippen zusammen oder schlichen zur Thür hinaus, daß sie nicht herausplatzten mit lautem Lachen.

Inzwischen nahm der Senior auch Eva beiseite und sprach lange mit ihr. Das sah Friedrich gar [236] nicht gerne. Er wollte hinübergehen, um dem vertraulichen Diskurs ein Ende zu machen: da ward er von Baronius zum Gespräch gestellt, und bei dem Respekt, den er einmal vor diesem Herrn hatte, wagte er es nun nicht, zu Eva hinüber zu entschlüpfen.

»Ihr seid wohl kein sonderlicher Liebhaber und Kenner der Musik?« fragte der berühmte Virtuose.

»O, ein lustiges Liedchen hör' ich schon gern und einen lustigen Tanz noch viel lieber. Von aller anderen Musik verstehe ich nichts. Und warum müßte ich just etwas davon verstehen? Versteht Ihr doch wohl auch nichts von der edlen Kunst der Küferei. Zudem ist ja der Geschmack überhaupt verschieden. Der eine zieht eine gute Musik, der andere ein gutes Glas Wein vor. Wer will entscheiden, wessen Geschmack der bessere sei?«

Baronius lächelte. »Du sprichst genau wie König Archidamus von Sparta, der, als ihm ein gefeierter Musiker gerühmt wurde, auf seinen Koch deutete und rief: Dieser ist mir der gefeiertste Meister, denn er kocht die besten Suppen. Wenn du aber die Musik mit der Küferei zusammenstellst, so wisse, Freund, daß schon Plutarch sagt, die Götter hätten die Musik erfunden. Darum soll Freude an der Musik und Verständnis der Musik allen Menschen als etwas Göttliches gemein sein; die Küferei dagegen –«

»Küferei, ja, Herr, das ist das rechte Wort!« rief Friedrich wie aus einem Traum auffahrend. »Und die Kellnerei dazu! Ein jeder schau auf seine Schanz! Eva plaudert; ich höre Euch zu; indessen warten dort [237] fünfundzwanzig Gäste auf den Wein.« Mit diesen Worten lief er davon, allen Respektes vor dem großen Künstler vergessend. Aber es war nicht bloß das plötzlich erwachte Pflichtgefühl, was den jungen Küfermeister mit einemmal das Netz der schönen Worte des Musikers zerreißen hieß. Er hatte gesehen, wie Eva mit dem Senior lächelte, fortwährend lächelte, ja sogar lachte: das hatte ihn gepackt. Er rannte fast ein paar Studenten um, bevor er an den Schenktisch kam. Der Senior und Eva winkten ihn zu sich hinüber, aber Friedrich sah es nicht oder wollte es nicht sehen. Er schenkte Wein aus mit einem wütenden Eifer, blind für alles andere; als ob das Heil der Welt daran hänge, daß binnen fünf Minuten die fünfundzwanzig Kannen gefüllt seien.

Inzwischen begrüßte Baronius die Studenten höchst freundlich. Es war ein seltsames Gemisch von Wohlwollen, Aufgeblasenheit, Pedanterie und Genialität in dem jungen Manne; aber wenn man ihn näher beobachtete, mußte man ihm doch zuletzt herzlich gut sein; denn nie ist es einem Künstler ein heiligerer Ernst gewesen um seine Kunst, und die komische Pedanterie samt dem tollen Ehrgeiz quoll doch zuletzt hervor aus der glühenden und reinen Begeisterung, für die es nichts Höheres auf der Welt gab, als ein ganz vollendetes Lautenspiel. Die Studenten fühlten wohl diese wahre Natur heraus, die in dem Virtuosen steckte. Sie grüßten ihn herzlich und ganz wie ihresgleichen, und das ist ja die höchste Ehre, die der Student dem Philister erweisen mag.

[238] Man brachte die Laute des Künstlers. Eine atemlose Stille ging durch die Stube, als er zu stimmen und ein wenig zu präludieren begann.

Da erhob sich der Senior. »Erst einen Becher Weins! Ein Hoch auf die Musik! Dann singen wir einen lustigen Liedervers – denn wir wollen nicht stumme Fische sein, wo die Musik ihr Höchstes und Herrlichstes zeigen soll. Ein Studentenlied gehört auch zum Höchsten und Herrlichsten – rümpfe nur die Nase, Freund Baronius, es ist doch also. Haben wir nach herkömmlicher Art unseren Vers gesungen, dann magst du dein Lautenspiel beginnen und uns bestricken und bezaubern als der größte Hexenmeister.«

So geschah es, wie der Senior vorgesagt. Hell erklangen die Becher, mächtig donnerte das Hoch auf die »edle Sing- und Klingkunst«, und ein kräftiges, lustiges Lied brauste, von den frischen, jugendlichen Kehlen angestimmt, wie ein klarer, gewaltig hervorbrechender Strom durch die hallenden Räume.

Als der Chor geendet, hielt Baronius auf seiner Laute das Thema des Liedes fest, aber er spielte es in Moll, er verlangsamte das Zeitmaß, er wandelte die lustige Weise in eine gar traurige. Da lagerte sich nach und nach Schwermut auf allen Gesichtern, jeder schien in sich selber versunken, den düstersten Gedanken nachhängend. Einige Studenten, die dem Weinglase besonders heftig zusprachen, begannen zu wehklagen, daß man hätte denken mögen, es sei schon in dieser frühen Stunde jene wunderliche Stimmung über sie gekommen, die der Bursch das »besoffene Elend« [239] nennt. Eva selber hatte sich in die Ecke auf einen Stuhl geworfen, verhüllte ihr Gesichtchen mit dem Schnupftuch und schluchzte so vernehmlich, daß man's über das Lautenspiel hinaus hören konnte.

Das Gesicht des Virtuosen strahlte vor Begeisterung. Nur zwei Zuhörer blieben stumpf, er mochte so kläglich spielen, wie er wollte: die taube Großmutter und Friedrich.

Der junge Küfermeister schaute darein mit aufgerissenen Augen und weitgeöffnetem Mund, wie einer, den man mit plötzlichem Wasserguß aus dem tiefsten Schlafe weckt. »Entweder ist die ganze Gesellschaft zu Eseln geworden oder ich bin allein der Esel!« rief er, doch nur mit halber Stimme, aus Furcht vor den Studenten. Aber der Lautenspieler, der eben sein Pianissimo säuselte, hatte den Ausdruck wohl verstanden.

»Freund,« rief er dem Küfer zu, »du allein bist verstockt und fühllos. Ein Barbar bist du, barbarischer noch als jener Skythenkönig, der, da er den trefflichsten Sänger gehört, ausrief, lieber wolle er doch sein Pferd schreien hören.«

Da lief dem Friedrich dann doch die Galle über; aller Respekt vor dem roten Sammetrock, der großen Perücke und den Brillantschnallen auf den Schuhen, der ihn bisher gefangen gehalten, war wie weggeblasen, und er rief überlaut, daß man gar nichts mehr hören konnte von dem Adagio lamentoso der Laute: »Ihr vergleicht mich heute abend mit lauter Königen, aber mit Königen, die nach Eurer Meinung rechte Dummköpfe [240] gewesen sind. Ich will nicht so hoch hinaus! ich halte es mit ehrlichen, geringen Leuten, die Grütze im Kopfe haben, auch wenn sie nichts von Eurem Geklimper verstehen. Ein jedes Schwein bleib bei seinem Trog, und ein Donnerwetter soll dreinschlagen, wenn ich mir länger Grobheiten hier in meiner Stube sagen lasse!«

Der Virtuos hatte während der ganzen Rede Friedrichs das zarteste Adagio durchgeführt mit wunderbarer Delikatesse und einschmeichelndem Wohlklang; denn so gedachte er zu siegen über den Schreier und ihn doch zuletzt zu zähmen, wie Orpheus und Amphion die wilden Bestien. Aber das alles prallte ab wie an einem Schuppenpanzer, oder vielmehr Friedrich hatte gar nichts gehört von den zähmenden und besänftigenden Melodien.

Als er seine mannhafte Rede geendet und noch zornglühender dastand wie vorher, da schloß auch Baronius tief ergrimmt über die Niederlage sein Adagio mit einem so gewaltthätigen Accord, als ob er die Laute zusammenreißen wolle, und rief: »Nein! Ein so von allen Musen verlassener Mensch ist mir in meinem Leben noch nicht vorgekommen!«

Dann griff er wieder zu dem Instrument. Jetzt aber erklangen ganz andere Weisen. Selbst vom Zorn ergriffen flog der Künstler mit wahrer Wut durch die Saiten; die kecksten Uebergänge, die grellsten Läufe reihten sich aneinander: das Tempo stürmte, daß auch dem phlegmatischen Zuschauer die Pulse heftiger zu schlagen begannen; es war in der That eine wild [241] aufregende, unstete, unheimliche Musik. Das sah man den Studenten an; sie erwachten aus ihrem melancholischen Sinnen; sie wurden sichtlich unruhiger. Baronius selber schnitt schon ein gar grimmiges Gesicht. Es schien anzustecken. Denn bald schauten sich die Studenten zornmutig an; der eine ballte die Faust, der andere schlug auf den Tisch, der dritte stampfte mit dem Fuß. Als der Lautenspieler des inneward, war bei ihm nun geradezu der Teufel los. Er suchte sich zu steigern über alles Maß; er raste in den Saiten, daß man meinte, sie sollten alle vom Griffbrett wegspringen. Es gab keine verrückte, teufelmäßige Harmonie mehr, die er nicht anschlug; der Rhythmus wirbelte, als ob der Spieler von der Tarantel gestochen sei. Tartinis Teufelssonate war Aeolsharfengesäusel gegen diese Höllenmusik. Da mußte man aber auch die Wirkung auf die Zuhörer sehen! Hier prügelten sich ein paar, dort lagen sich zwei in den Haaren, andere hatten die Degen gezogen und fochten auf Leben und Tod. Der Senior, an den sich aus Instinkt der Autorität doch keiner seiner Leute wagte, warf, um dem Zorne Luft zu machen, alle Gläser und Krüge, deren er habhaft werden konnte, wider die Wand, so daß man vor dieser Musik des Tumults und Skandals zu letzt von der dämonischen Laute fast gar nichts mehr hören konnte. Friedrich rief ein über das andere Mal, ob denn nun alle Welt verrückt geworden oder ob er allein der Narr sei, kreidete aber dazwischen mit großer Pünktlichkeit jedes Glas und jeden Krug an, den der Senior an der Wand zerschmetterte. [242] Als aber gar Eva auf ihn zustürzte, zornglühend wie alle die übrigen, ihm ein Fäustchen unter die Nase machte, ihn mit Vorwürfen, mit giftigen Spott- und Scheltworten überschüttete, da war es ihm, als ob er selber ganz von Sinnen komme. Die ganze Stube ging im Wirbel mit ihm herum; er ward irr an seinen eigenen Augen und Ohren, zuletzt auch an seinem Gehirn. Verzweifelnd setzte er sich abgewandten Gesichts in einen Winkel, und ein furchtbarer Trübsinn kam über ihn über die Tollheit dieser Menschen, daß er hätte heulen mögen.

Inzwischen war der Lärm so arg geworden, daß der Senior aufsprang und den Degen zog, um seinem Freunde Baronius die Laute in Stücke zu schlagen. Dieser rettete sein Instrument kaum durch den kühnsten Seitensprung und lief dann in den sicheren Winkel, wo eben Friedrich saß, nun flugs die friedlichsten, beruhigendsten Accorde anstimmend. Da heiterte sich der Himmel der Schenkstube sichtlich wieder auf. Die Raufenden ließen einander los, die Fechtenden steckten ihre Degen ein und ein allgemeines Gelächter erscholl, wie man sich so für nichts und wieder nichts habe erhitzen können.

Baronius schwamm in Seligkeit, als ihm plötzlich die taube Großmutter ganz nahe vors Gesicht trat. Sie hatte schon lange von ihrem Spinnrad aus in den Lärm hineingerufen, aber niemand hatte sie gehört. »Wie setzt Ihr dieses friedliche Haus in Unruhe! Zu meiner Zeit hat man kurzen Prozeß gemacht mit Leuten wie Ihr seid und sie des Henkers [243] Knecht überliefert, daß er mit seinen Pfriemen untersuche, ob ihr Blut wie das eines Teufelsgenossen oder wie eines Christenmenschen fließe. Ihr verblendet unsere Gäste durch Zauberei, daß sie sich untereinander die Hälse abschneiden. Ihr anderen trauet doch dem nicht, was ihr sehet und höret von diesem Mann; es ist lauter Blendwerk mit seinem Lautenspiel. So verblendete zu meiner Zeit eine Hexe die ganze Stadt, indem sie auf dem Marktplatz ein Seil aufs höchste Dach spannte und uns allen darauf zu tanzen schien, wie auf ebener Erde. In der That jedoch tanzte sie nur auf etlichen Strohhalmen, die sie aufs Pflaster gelegt hatte.«

Die Studenten lachten; die Alte, die gesprochen wie eine Seherin, schritt würdevoll zu ihrem Spinnrad zurück.

Der Senior rief dem Freunde zu: »Siehe, selbst die taube Großmutter hast du in Zorn gespielt, und Friedrich sitzt dort in Melancholie versunken, gleich als ob jetzt erst dein Adagio lamentoso bei ihm zu wirken beginne. Wie es scheint, bedarf es immer erst einer Viertelstunde, bis seine Nerven umgestimmt sind, denn er ist langsamen Geistes und hart von Begriff.«

»Lassen wir noch eine Weile den Scherz,« sprach Baronius, körperlich erschöpft und doch noch voll Glut und Drang im Geiste. Und indes er seine beim letzten Sturme so stark verschobene Perücke ordnete und dann seine Laute aufs neue stimmte, bat er die Studenten, sich nur auf wenige Minuten noch einmal ruhig niederzusetzen, damit ein würdiger Schluß sein heutiges [244] Tagewerk kröne, das ihm selber wie ein Traum, wie ein Wunder vor den Sinnen auf- und niedergehe.

Alle saßen wieder friedlich bei einander. Da stimmte der Virtuos die zärtlichste, süßeste Liebesweise an. Eine Weile schauten die Zuhörer nur vergnüglich, dann selig lächelnd drein, dann aber entfaltete sich zusehends eine wunderbare Wirkung dieser Musik. Die noch vor wenigen Minuten auf Tod und Leben gekämpft, umschlangen sich jetzt mit den Armen, drückten sich die Hände, daß man's knacken hörte, schwuren sich ewige Freundschaft, küßten sich: es war ein Bild der allgemeinen Zärtlichkeit, Liebe und Hingebung, daß man hätte meinen sollen, auch die Tische, Stühle und Bänke müßten sich gerührt umarmen und die Krüge und Kannen zum Kuß gegeneinander rücken.

Die zärtlichste Gruppe aber erstand im Vordergrunde. Eva kam bei den liebetrunkenen Klängen des Andante amoroso ganz schüchtern und verschämt von der Seite hergeschlichen. Man sah, das natürliche Gefühl der Weiblichkeit hielt sie zurück; aber andererseits war es die unwiderstehliche magische Gewalt in den Accorden der Laute, die sie vorwärts zog. Da half kein Widerstand. Sie mußte näher, immer näher zu dem Zauberer. Auf einem Stuhle neben dem seinigen sank sie nieder und schaute ihm in die begeisterten Augen so freundlich, so liebevoll, daß Baronius fast seine Laute weggeworfen hätte, um das schöne Kind zu umarmen. Aber nein, er mußte sein Spiel steigern, noch zärtlicher, noch rührender mußte es erklingen, noch glühender mußte die Liebe in Eva entfacht werden. [245] Er überbot sich selber an Zartheit, Tiefe und Fülle des Ausdrucks; man mußte gestehen, so süße, reizend dahinschwebende und doch so tief empfundene Musik hatte noch keiner auf der Laute gehört. Und doch spielte der Künstler selber fast bewußtlos. Sein Auge hing an Evas Auge. Ja, das war Liebe, wahre Liebe, die er entzündet hatte durch die göttliche Musik, Liebe für ihn, wachsend mit jedem Accord. Wog dieser höchste Sieg der Kunst über ein Menschenherz nicht unendlich schwerer, als die Kunststücke des Orpheus, Amphion und Arion, Steine zu bewegen, Bäume zu bezaubern, Bestien zu bändigen, Fische zu dressieren? Und hatte er's nicht sogar sich selber angethan? Ja, sich selber spielte er hinein in die wahrste Liebe zu Eva. In ihre klaren Augen hatte er auch vorhin schon geblickt und war kalt geblieben: jetzt, wo die Musik hinzukam, schaute er hinein wie in einen tiefen, stillen, klaren See, aus dessen dunklem Grunde ihm die Glückseligkeit seines ganzen künftigen Lebens entgegenschimmerte.

»Halt! es ist genug mit der Gaukelei!« rief plötzlich Friedrich, zornglühend zwischen Baronius und Eva tretend.

»Still! bis das Stück ausgespielt ist!« flüsterte ihm der Senior zu, mit so drohender Gebärde, daß Friedrich erschrocken und verstummt auf einen Augenblick zurücktrat.

Baronius spielte lächelnd und mit großem Selbstgefühl weiter: er war jetzt zu gewiß, daß seine Liebes-und Freundschaftsmusik alsbald den Zorn des Küfers niederschlagen werde.

[246] »Du siehst,« sagte der Senior seinem Freunde ins Ohr, »bei diesem Burschen wirkt alles erst eine Viertelstunde später. Vorhin packte ihn die Melancholie, als wir bereits beim Zorn waren, jetzt packt ihn der Zorn, da wir bei der Liebe sind. Gib acht, nachher wird auch noch die Liebe bei ihm hervorbrechen, wenn wir längst mit derselben fertig geworden.«

Da stand von der anderen Seite eine viel schlimmere Gegnerin als Friedrich wider den Lautenspieler auf, die taube Großmutter; die konnte Baronius mit keiner Musik mehr fangen.

»Schäme dich ins Herz hinein, Eva!« rief sie. »Wie kannst du mit diesem verruchten Musikanten liebäugeln! Ein Musikant! Ei wie doch die Welt anders geworden ist! Zu Damian von Gußbachs Zeiten sahen die Musikanten anders aus. Ist der Lautenschläger geputzt wie ein Graf! Staatsperücke, Sammetrock, Schuhschnallen mit Edelsteinen! Ja, ja, das will immer höher hinaus, jawohl, wenn Dreck Mist wird, dann will er gefahren sein!«

Weiter kam die Alte nicht. Der Senior hatte ein paar handfesten Studenten gewinkt, die faßten die Großmutter ganz artig unter beiden Armen und zogen sie zu ihrem Spinnrad zurück mit dem Bedeuten, wenn sie sich hier nicht ruhig verhalte, so werde man sie auf ihre Kammer abführen. Sie saß nun auch fest wie eine Bildsäule und murmelte nur fortwährend unverständliche Worte heftig in sich hinein.

Jetzt aber ermannte sich Friedrich wieder. »Die alte Frau hat doch recht! Eva, ins Herz hinein sollst [247] du dich schämen! Meine Augen aber sollen den Skandal nicht weiter mit ansehen.« Damit ging er zur Thür hinaus und warf dieselbe so wütend ins Schloß, daß man hätte denken sollen, sie müsse aus allen Fugen fahren.

Die Stimmung war nun doch gestört. Eva schaute nicht mehr dem Lautenspieler ins Auge, sie blickte beschämt vor sich nieder, als wollte sie ein Loch in den Boden sehen. Die Studenten waren aus ihren freundschaftlichen Verschlingungen auch etwas herausgekommen, flüsterten dies und jenes miteinander und sprachen zur Kurzweil der Weinkanne fleißiger zu, als es sich mit dem Geist der reinen Liebe und Zärtlichkeit vertrug. Man sah, sie waren fast ärgerlich, als Baronius sein Andante amoroso in neuen Variationen wieder anhub, um die vorige Stimmung wiederzugewinnen.

Allein es wollte auch dem Virtuosen nicht so glücken wie vorher. Er spielte viel kunstreicher, doch viel weniger das Herz ergreifend. Zu endlosen Perioden spann er jetzt sein Thema aus; aller Schmuck der Läufe und Harpeggien, der Kadenzen und Fiorituren ward aufgeboten. Es half alles nichts. Eva sah in den Boden hinein, die Studenten blieben unruhig. Baronius wollte sich selbst überbieten, in wahrer Verzweiflung spielte er immer bunter, immer überladener. Es war zuletzt nicht mehr zum Anhören.

Da winkte der Senior seinen Burschen vom Faßbinderorden. Und mitten in das zopfige Geklimper hinein erscholl plötzlich urkräftig und den ganzen[248] Kunstkram des Lautenspielers vor sich niederschmetternd ein lustiges, neckisches Studentenlied. Das Herz mußte einem aufgehen bei diesen echten, ursprünglichen Klängen; nur dem Virtuosen schnürten sie die Brust zusammen, und er versuchte anfangs noch, wie eine Pause nach einem Vers eintrat, mit seinem Andante amoroso durchzubrechen. Aber eher hätten die Musensöhne die ganze Nacht in einem Stück fort gesungen, als daß sie das Andante amoroso in seiner letzten Fassung noch einmal hätten schmecken mögen. Zuletzt packte der Gesang selbst den Lautenspieler; er legte sein Instrument beiseite und stimmte ein in den Chorus zum großen Jubel der Studenten.

Begeistert tranken diese ihm zu, nachdem der Gesang beendet war. Doch als sich der Virtuos etwas verkühlt und von seiner Ueberrumpelung erholt hatte und flugs wieder zur Laute griff, da stimmten die Studenten auch flugs wieder einen neuen Chor an, denn nun wollten sie den Musiker niedersingen um jeden Preis. Es war ein Lied in klaren, hellen Durtönen und klang doch ganz herzergreifend wehmütig, je nachdem man's sang, je nachdem man den Text verstand und ihn mit der einfachen Weise in Einklang zu setzen wußte. Denn dies gerade sind die rührendsten Volkslieder, die nicht wimmern und klagen in ihrer Melodie, sondern ruhig dahinschweben, fast wie ein heiterer Sang und doch in Verbindung mit dem schwermütigen Text so ganz von ferne her leise traurig anklingen, daß es unser tiefstes Gemüt erbeben macht. Das Lied der Studenten aber lautete:


[249]

»Gedenke, o wie weit, wie weit

Liegt bald die goldne Burschenzeit.


Zerstiebt ist dann der Freunde Schar,

Die wie mit Erz verkettet war.


Vergebens schauest du zurück:

Ein kurzer Traum war Burschenglück.


Vergebens spähest du umher:

Einmal Bursch und nimmermehr.


Drum halte Bursch die Stunde fest:

Für dein Lebtag bist du selig gewest.


Gedenke, o wie weit, wie weit

Liegt bald die goldne Burschenzeit.«


Baronius hatte anfangs geschwiegen; dann hatte er leise mitgesungen; dann hatte er zur Laute gegriffen und den im Pianissimo dahinschwebenden Chorgesang wunderbar schön in einfachen Accorden begleitet. Als das Lied verklang, saß er schweigend da, in sich versunken, Thränen standen ihm in den Augen. Er gedachte seiner eigenen harmlosen Burschenzeit und seines jetzigen unsteten, überreizten, friedlosen Lebens. Der Gesang hatte ihn mächtig gepackt.

Endlich fuhr er auf wie aus einem Traum, sah den Senior mit großen Augen an und rief:

»Was war das?«

»Das war Musik!« erwiderte der Freund.

»Das war Musik!« wiederholte der Virtuose leise und nachdenklich.

»Ja, Freund, wahrhaftige Musik, denn sie hat selbst dir das Wasser in die Augen getrieben.«

[250] »Und was ich vorhin auf der Laute gespielt, war das nicht auch Musik, wahrhaftige Musik?«

»Zum Teil – gewiß.«

»Wie, nur zum Teil? Und habe ich euch nicht mit den Accorden meiner Laute in tiefe Melancholie eingesponnen, zu Zorn und Wut erregt, zu Liebe und Freundschaft begeistert?«

»Verzeihe,« erwiderte der Senior lächelnd, »daß wir ein wenig Komödie mit dir gespielt haben. Du hast mir so oft erzählt von Amphion, Orpheus und Arion, denen du es gleich thun möchtest, und dann vollends von König Erich mit seinem Lautenspieler, daß mir's ordentlich bange wurde um deinen Verstand. Da dachte ich, die schmerzhafteste Kur sei hier der beste Freundschaftsdienst. Sieh, ich bin sehr grausam gegen dich, weil ich dir von Herzen gut bin. Aber es muß heraus. Du hast heute gespielt wie ein Gott, tausendmal besser wie Amphion und Orpheus und der verfluchte Däne, namentlich bei dem ersten Andante amoroso, das war wahrhaftige Musik. Aber wir haben auch gespielt. Brave Schauspieler sind meine Ordensbrüder und Schwester Eva dazu. Sie haben die Schwermütigen vortrefflich dargestellt, gewütet, getobt und gerauft, als ob sie in der That alle des Teufels wären, und sich umschlungen und geherzt, wie die Seligen im Elysium. Allein, du siehst, bester Freund, es war doch alles nur Lug und Trug, alles verabredet. Als du so zornig durch die Saiten rastest, hätten wir deine Phantasie und deine Finger bewundert, aber keinem von uns wäre es eingefallen, [251] den anderen an der Kehle zu packen, wenn's nicht vorher so ausgemacht gewesen wäre. Nur einen hatte ich vergessen ins Geheimnis zu ziehen, und der war auch dein einziger aufrichtiger Zuhörer: Friedrich! Der klagte nicht mit, der wütete nicht mit, der seufzte nicht mit. Du hältst ihn für einen musikalischen Esel. Du thust ihm unrecht. Er ist ein natürlicher, gesunder Mensch, mit seinen Fässern freilich besser vertraut als mit der Laute, aber doch nicht ganz, wie du meintest, von den Musen verlassen. Sieh, er hat sich wieder herbeigeschlichen, als wir zu singen begannen, unstreitig, weil er aus dem Gesang herauszuhören glaubte, jetzt seien wir wieder vernünftige Menschen geworden, wie er fortgelaufen, weil er uns alle für Narren hielt, als du 's mit deinem Lautenspiel immer ärger triebst.«

Der Wechsel der Leidenschaften auf dem Gesichte des Baronius war während dieser Anrede noch viel rascher und greller gewesen, als vorhin die Uebergänge auf der Laute. Doch zum Schlusse biß er die Lippen zusammen, faßte sich und schwieg. Nach langer Pause fuhr er wieder auf.

»Also die Lieder, die ihr gesungen, waren Musik?«

»Ja, wahrhaftige Musik!« erwiderte der Senior so fest und ernst, als ob er vor seinem Richter stünde und eine Aussage beteure, daran Freiheit und Leben hinge.

»Und mein Andante amoroso war auch wahrhaftige Musik?«

»Ja, das erste, aber beileibe nicht das zweite. Das erste ergriff uns alle, ergriff dich selber, so [252] tief wie nur immer eines unserer schönsten Lieder. Das zweite war zum Verzweifeln langweilig. Bedenke doch, du berühmter Künstler, daß die wahre Musik uns nicht zu kaltem Staunen verzaubern, daß sie uns erquicken, erheitern, erwärmen soll, ja, und auch die Leidenschaft soll sie in allen ihren Tiefen aufregen, sie soll uns schütteln, daß es uns eiskalt den Rücken hinabrieselt. Aber wenn solche Bursche wie du und deine Genossen uns nach Belieben willenlos hinreißen könnten zu jeder That der Leidenschaft, so wäre die Musik wahrlich nicht mehr die göttliche Kunst, sie wäre das gefährlichste Werkzeug des Teufels, das je einem Menschen in die Hand gegeben worden. Heftiger als Scipio und Cato müßte man dann eisern für die Verbannung der Musik aus dem Staate – – doch du hörst mich nicht!«

»Freilich höre ich dich,« rief der Lautenspieler aufspringend, und seine Wange glühte wieder, sein großes Auge glänzte und blitzte wieder wie vorhin als er glaubte, er habe den Lautenspieler des Königs Erich erreicht. »Ich gebe dir recht in allem, ich bin ein Narr gewesen, ich danke dir für deine Kur mit Feuer und Eisen. Aber das erste Andante amoroso war also doch wahrhaftige Musik, nicht wahr? Ich bin geschlagen auf allen Seiten, und doch habe ich mit diesem Andante einen Sieg erfochten, der mich alle die Niederlagen für nichts ansehen läßt.«

Er wandte sich gegen Eva, die schon lange mit Friedrich ganz nahe getreten war, dem merkwürdigen Gespräch lauschend.

[253] Er sprach zu dem Mädchen: »Als ich das Andante spielte und du mir in die Augen schautest, nicht wahr, da spieltest du keine Komödie? Nein, dieser Blick sprach wahrhaftige Liebe, wie mein Andante wahrhaftige Musik war. Dieser Blick gehört mein, er ist das Beste, was ich heute gewonnen, wie das Thema des Andantes der beste musikalische Gewinn des heutigen Tages. Du schweigst, Eva? Sei versichert, auch mir drang die Liebe ins Herz; o, ich hätte niemals so spielen können, hätte ich nicht aus der vollen Seligkeit der ersten erwachenden Liebe herausgespielt. Dies ist mein Sieg, dies mein Gewinn des Wettkampfs von heute. Sei mein, Eva, für immer, wie du mein warst in jenem schönsten Augenblick.«

Eva schwieg eine lange Weile und blickte zu Boden. Dann aber erhob sie plötzlich das Köpfchen; sie hatte sich gesammelt. Mit der weichsten, einschmeichelndsten Stimme sagte sie: »Eure Kunst hat in der That mich besiegt. Ich wollte anfangs die Liebende spielen, dann aber kam bei der schönen Musik das wahrhaftige Gefühl der Liebe über mich. Aber merket wohl, Eure Kunst, sage ich, hat mich besiegt, nicht Eure Person. Meine Blicke mögen wohl wahrhaftige Liebe gesprochen haben, aber ob sie gleich zeitweilig zu Euch aufschauten, waren doch meine Gedanken nicht bei Euch. Sie waren hier bei Friedrich; nach ihm schielte ich hinüber, so oft Ihr auf das Griffbrett Eurer Laute blicktet, aber er hat's nicht gemerkt und den Scherz für Ernst ersehen und ist plump und grob darein gefahren, wie's eben die Männer machen. Doch [254] das thut nichts,« schloß sie, schelmisch Friedrichs Hand fassend – »weiß ich doch, was ich an ihm habe, und man hat ihm heute auch gar arg mitgespielt.«

Friedrich, dem es beim Anfang von Evas Rede etwas schwül geworden war, hatte nachgehends immer heller und lustiger drein geschaut, daß sein Gesicht fast aussah wie die aufgehende und endlich wie die mit allen Strahlen leuchtende Sonne.

»Habe ich' s nicht gesagt?« rief der Senior dem Lautenspieler zu, »Friedrich, der hart von Begriff, kommt immer eine Viertelstunde hinterdrein. Jetzt ist er erst bei der Liebe angelangt und wir sind schon wieder weit von der Liebe hinweg.«

Baronius that, als ob er den unzeitigen Scherz nicht höre. Er setzte sich in eine einsame Ecke. Es war ein tiefes Weh, das ihm durch die Seele ging. Er klimperte fast unhörbar auf der Laute das Thema, welches jenen seligen Augenblick hervorgezaubert, gleich als wolle er sich noch einmal an der süß-schmerzlichen Erinnerung erquicken. Dann legte er die Laute weg, sprang auf, ging mit starken Schritten in der Stube oftmals auf und ab; endlich trat er wieder zu den Genossen. Seine Mienen waren ernst, nahezu traurig. Aber er hatte sich gefaßt mit der Selbstbeherrschung eines echten Mannes. Er rief Eva und Friedrich zu sich.

»Seht,« sprach er in mildem Ton, der gegen seine sonstige herrische Redeweise auffallend abstach, »dieser musikalische Kampf hat mich in einen solchen Taumel gerissen, daß ich ganz vergessen, was ich erst unmittelbar vorher gehört. Habe ich nicht hinter euch [255] gestanden, als ihr meinen Konzertzettel laset und von eurer Liebe und eurer Aussicht zur Heirat spracht? Das hatte ich alles rein vergessen, Friedrich, wie hätte ich sonst an deine Eva denken können? Und sagte Eva nicht damals, wenn der Lautenspieler unser Leid wüßte und ein rechter Christ wäre, dann würde er, der in zwei Stunden fünfhundert Gulden verdient, uns die fünfhundert Gulden schenken, womit die ›Sirene‹ überschuldet ist und in zwei anderen Stunden sich flugs andere fünfhundert Gulden zusammenspielen, und uns glücklich machen, daß wir heiraten könnten? Sagtest du das nicht ungefähr so, Eva? Und Friedrich meinte, so großgemutet sei gar selten ein Musikant. Nun wohl, Eva, ich bin ein rechter Christ. Zudem heiße ich Baronius, darum will ich einmal handeln wie ein Baron. Die fünfhundert Gulden, welche ich gestern abend erspielt, sind kein Hexengold gewesen, sie sind nicht davongeflogen, sie liegen alle noch wohl gezählt in der Kasse. Da sie euch glücklich machen, so schenke ich sie euch – stille! keine Einwendung! Wenn ihr sie nicht nehmt, dann schenke ich sie der Sirene als dem Hause, worin ich kuriert worden bin, damit auch die Sirene wieder kuriert und frei werde. Und nun gebt euch die Hände und seid glücklich und denkt nicht mehr so schlecht von den Musikanten!«

Die Studenten brachten ein donnerndes Hoch, zuerst diesem echten Baron, wenn auch ohne Helm und Schild, dann dem Brautpaar.

Friedrich und Eva vermochten kaum ihren Dank in Worte zu fassen, besonders kam es Friedrich hart [256] an. Aber sein Respekt war jetzt wieder grenzenlos geworden, und zwar galt er jetzt nicht mehr der Perücke, dem Sammetrock und den Schuhschnallen: er galt dem Mann.

»Bringt vom besten Wein!« rief der Senior. »Weg mit diesem ordinären Trank in so feierlicher Stunde. Bringt Bacharacher von dem bewußten Jahrgang, den besten Tropfen, der im Keller liegt. Jetzt hat uns dieser verfluchte Musikant doch noch besiegt, total besiegt. Freund Baronius, deine letzte Rede war Musik, wahrhaftige Musik, die schönste Musik, die wir heute noch gehört. Wer sich darauf keinen Spieß trinkt, der ist ein erbärmlicher Philister. Bei Gott, das hätte ich dem Musikanten nicht zugetraut, der kann mehr als Lautenschlagen und Brot essen!«

»Ich bin ein geschlagener Mann,« rief der Virtuos, »aber ich bitte euch, wenn ihr mich lieb habt, gebt mir wenigstens das Zeugnis, daß ich heute die Laute gespielt, wie keiner von euch es je gehört, wie kein Lebender mir es nachmachen wird. Und, nicht wahr, Kinder, das Andante amoroso war doch wenigstens wahrhaftige Musik?«

»Freilich, freilich!« riefen die Studenten. »Lauter wahrhaftige Musik! Wer daran zweifelt, der ist gefordert auf zahllose Gänge ohne Binden und Bandagen. Baronius hoch! Unser Amphion hoch! Der größte Lautenspieler aller Zeiten hoch!«

»Jetzt das Gaudeamus igitur!« rief der Senior mit Donnerstimme, »der Bacharacher steht auf dem Tisch; solch festlicher Wein heischt festlichen Gesang!«

[257] Der Chor brauste durch die Stube. Baronius sang nicht mit. Nachdenklich saß er da, die Stirne in die Hand gestützt.

»Warum singst du nicht mit?« fragte der Senior, als die Pause nach dem ersten Vers eintrat und die Becher zusammenklangen.

»Ich denke nach über das, was wahrhaftige Musik ist. Das wird mir noch lange zu schaffen machen. Ich spüre eine Umwälzung in meinem ganzen musikalischen Menschen. Laß mich in Ruhe, Freund. Ich gehe jetzt nach Hause und schließe mich drei Tage ein, um zu ergründen, wo die wahrhaftige Musik anfängt; komme ich dann aus meiner Höhle, so bin ich wieder auf Leben und Tod dein alter lustiger Baronius!«

»Heiliger Gott,« rief der Senior, »sucht der Mensch drei Tage lang mit der Laterne nach der wahrhaftigen Musik, indes wir sie haben und festhalten und wissen gar nicht, wie wir dazu gekommen sind. Freilich sind wir auch keine Musikanten.«

Dann ging er zurück zu den Ordensbrüdern. »Weiter, weiter: Pereat tristitia!«

Während der Vers gesungen wurde, schlich sich Baronius davon. Der Senior sah es. »Ein guter Kerl, ein teufelmäßig geschickter Kerl, ein nobles Haus wie wenige,« dachte er im stillen Sinne, mit gewaltigem Baß weiter singend. »Aber einen Sparren zu viel hat er doch, wie alle Musikanten.«

[258] Gräfin Ursula.
1856.

[259][261]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

Im Schlosse zu Hadamar saß Frau Gräfin Ursula, des Grafen Johann Ludwig von Nassau-Hadamar Gemahlin, und führte die Nähnadel so emsig, daß die Kammerfrau, gleich ihr mit weiblicher Handarbeit beschäftigt, kaum in die Wette nähen konnte. Der erste Blick ließ in der Gräfin die bedeutende Frau erkennen. Mittelgroß, schwächlich von Statur, etwas vorwärts gebeugt, obgleich noch in jungen Jahren, zeigte doch ihr Kopf eine Würde und Hoheit, daß man die nach äußerlichem Maße unscheinbare Erscheinung eine wahrhaft königliche nennen mußte. Das Gesicht war bleich; man sah, häufiges Siechtum lastete auf dem jugendlichen Körper; aber die großen schwarzen Augen strahlten das Bild eines mächtigen Geistes aus, der zu herrschen wußte über die Schwäche dieses gebrechlichen Leibes. Die hochgewölbte Stirn, die kräftig hervortretende, doch nicht übergroße Nase verkündeten die männliche Seele, die in diesem unansehnlichen Weibe wohnte; die feingeschnittenen, in den sprechendsten Linien gezeichneten Lippen ließen die reiche Beredsamkeit ahnen, wie sie je nach Umständen weiblich fein und geistreich oder männlich gewaltig, diesem Munde entquoll. Und [261] doch spielte bei allem Adel, bei aller Hoheit ein Zug des Wohlwollens um diese Lippen, der herzgewinnend jeden Unbefangenen zu der hohen Dame hinzog, als könne sie nur seine Freundin sein.

In einem höchst einfachen Gewand von schwarzem Wollenstoff erschien die Gräfin geschmackvoll zwar gekleidet, doch viel schmuckloser als die Frauen ihres Gefolges und Dienstes. Auch ihr Zimmer bekundete den gleichen Geist strenger Schlichtheit und Sparsamkeit. Wenn sie von ihrem Gemahl, der fürstlichen Glanz und Prunk liebte, zur Rede gestellt wurde wegen des Uebermaßes von Schmucklosigkeit, dann pflegte sie zu antworten, in diesen bösen Zeiten, wo der Bürger verhungere und auch die Fürsten nicht fett würden, zieme es wohl den Gewaltigen, voranzugehen in der Entsagung und sich das Beispiel jenes Alfons von Arragonien zu merken, der, bürgerlich gekleidet und wohnend, zu sagen pflegte, er wolle lieber in der wahren Würde der Gewalt und in Tugend und Sittenstrenge als der erste seines Volkes glänzen, denn durch das Blitzen des Diadems und das Schimmern des Purpurs.

Es war freilich eine böse Zeit, denn es war das Jahr 1629, in welchem Kaiser Ferdinand der deutschen Nation mit dem Restitutionsedikt jenes verhängnisvolle Maigeschenk gemacht hatte, welches den bereits elfjährigen Krieg zu einem dreißigjährigen weiter spinnen sollte.

Da mochte das einfache Gewand, das einfache Gemach der Gräfin wohl zu dem Ernste der Zeit passen.[262] Und dennoch, obgleich das Gemach so einfach, erschien es als ein fürstliches, wie die Gräfin dem ersten Blick als eine fürstliche Dame, obgleich sie schlichter gekleidet war als ihre Kammerfrauen. Die hohen Wände des Zimmers waren schmucklos; die puritanische Strenge der eifrig reformierten Herrscherin verschmähte sinnenreizendes Bildwerk. Dafür zeichnete sich der mit schöner gotischer Steinmetzarbeit gezierte Erker durch eigentümlichen Schmuck aus. An den schmalen Wänden waren Spruchbänder in abenteuerlicher Verschlingung gemalt und auf denselben standen Bibelverse, die sich alle mahnend, ermunternd, drohend auf den fürstlichen Beruf bezogen. Die Füllungen zwischen den Gewölbrippen der zierlichen Decke prangten in tiefblauer Farbe, und Sonne, Mond und Sterne, in Gold aufgetragen, wandelten an diesem Firmamente friedlich nebeneinander. Den Schlußstein der Kuppe aber bildeten vereint das nassauische Wappen mit dem aufsteigenden Löwen und das lippesche mit seinen Schwalben, Sternen und Rosen; denn Gräfin Ursula stammte aus dem Geschlecht der Grafen von Lippe. Im Kreise aber um die Wappen stand der Wahlspruch der Gräfin geschrieben: »Im Glauben fest.« Aus den Fenstern des Erkers, unter denen die Elb, ein Nebenflüßchen der Lahn, vorüberrauschte, blickte man auf die Häuser der Stadt Hadamar. Das Schloß, schon keine Burg mehr, erhob sich inmitten der Stadt, die bürgerlichen Wohnungen überragend, und doch als wäre es aus denselben hervorgewachsen wie das neue Fürstentum aus dem neuen Volkstum.

[263] Die Gräfin saß mit ihrer Näharbeit an einem kunstreichen Tischchen, in den Niederlanden verfertigt und charakteristisch für die Zeit und für den, der es benutzte. Auf der einen Seite war es ein Nähtisch, auf der anderen ein kleines Klavier von drei Oktaven, entsprechend den bescheidenen Ansprüchen jener Tage. Auf dem Brettchen über der Klaviatur, wo wir jetzt die Firma des Fabrikanten zu suchen gewohnt sind, war der Bibelvers eingelegt: »Lobe den Herrn mit Saitenspiel und Harfen.« Und dieser Mahnung entsprechend lag ein Notenbuch mit Psalmen und geistlichen Liedern aufgeschlagen auf dem Pult. Auf der anderen Seite zeigte das Nähtischchen jene unübersehbare Fülle von kleinen Gefächern, Schublädchen, geheimen Kästchen und ähnlichen Dingen, wie sie unsere Vorfahren liebten. Selbst die mit elfenbeinernem Schnitzwerk zierlich eingelegte Elle, die zur Seite am Tische hing, war nicht ohne ihr biblisches Motto. Warnend stand auf derselben der Spruch des Jesus Sirach eingegraben: »Wie ein Nagel in der Mauer zwischen zweien Steinen stecket, also stecket auch Sünde zwischen Käufer und Verkäufer.« Aber nur ein Halbschied des Nähtisches war für Garn, Seide, Nadeln und Scheren bestimmt, die andere Hälfte diente zur Aufstellung einer kleinen Apotheke. Schon der eingelegte Bibelspruch am Rande zeigte diese Bestimmung an: »Der Herr lasset die Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht.« Die gebildeteren Frauen hatten in jenen Tagen den ärztlichen Beruf, der ihnen als ein Erbteil aus uralter Zeit zugefallen [264] war, noch keineswegs aufgegeben, und an jedem Morgen fanden sich Kranke von nah und fern in den Vorsälen des hadamarischen Schlosses ein, um von der Gräfin Rat und Hilfe zu erbitten.

Freilich in den letzten Jahren waren es nicht bloß Kranke gewesen; Scharen von Notleidenden aller Art drangen in das Schloß, um hier, als bei den Leuten, die an Macht und Rang zunächst nach unserem Herrgott kamen, Rettung zu suchen. In den schlimmsten Tagen war das Schloß förmlich belagert werden von Schwärmen halbverhungerter Menschen, die mit dem herzzerreißenden Rufe »Brot! Brot!« stundenlang unter den Fenstern auf und nieder wogten. Denn wo niemand mehr helfen konnte, da mußte doch der Graf noch Hilfe haben. So meinte das Volk, welches noch den vollen Glauben an die unantastbare höchste Macht und Weisheit des patriarchalischen Fürsten in sich trug. Und der Graf und die Gräfin thaten das Menschenmögliche, diesen Glauben nicht zu Schanden zu machen. Oft schon hatte man den letzten Brotlaib, der im Schlosse war, den Unglücklichen hinausgegeben. An festen Tagen ward Speise unter alle bedürftigeren Einwohner der Stadt verteilt. Täglich wurden die reichlichen Ueberreste der herrschaftlichen Tafel aufs Land hinaus zu Kranken und Schwachen geschickt. Ja, die Gräfin ging selber hin, wo die Not groß war, und oft sah man sie, den Korb mit Speisen und Arzneien selbst im Arm tragend, zu den Häusern der Kranken und Armen eilen.

Es war noch keine eigentliche Kriegsverwüstung[265] über das hadamarische Land gekommen. Aber die steten Truppendurchmärsche, Einquartierungen, Requisitionen und Kontributionen, die sich seit zehn Jahren ununterbrochen gefolgt, drückten härter als der unmittelbare Krieg. Dazu kamen Mißjahre und ihr natürliches Gefolge, Seuchen. Auch heuer war alles übel geraten. Das Korn stand meist so licht, daß man zwischen den Halmen spazieren gehen konnte. Das Obst war nicht gezeitigt. Hanf und Flachs waren so klein geblieben, daß die Fasern, wie der Bauer pfiffig zu sagen pflegt, nur für Kinderhemden langten, nicht für ein großes Mannshemd. Mastvieh war in der Gegend so rar, wie heutzutage ein Hirsch oder Reh, und ward, wo sich ein Stück blicken ließ, von den Soldaten nicht minder eifrig gejagt.

Unter diesen schwierigen Umständen entfaltete Graf Johann Ludwig eine ebenso bewunderungswürdige Thätigkeit als kluger Fürst, wie seine Frau als Mutter der Armen und Kranken. Schlauen Geistes, gewandt in den Formen, glatt, beredt, mit Glanz und Geld imponierend, wo es nötig war, rastlos geschäftig, wußte er mit allen kriegführenden Parteien sein Abkommen zu treffen und, wenn es auch nicht immer gelang, doch in gar vielen Fällen die schwerste Last der Durchmärsche, Einlagerungen und Gelderpressungen von seinem Ländchen abzuwälzen. Sah es trotzdem so schlimm in der beneideten hadamarischen Grafschaft aus, um wieviel schlimmer noch mußte es in den angrenzenden Gebieten stehen! Johann Ludwig erntete für seine Klugheit und seinen Eifer, der ihn oft monatelang [266] nicht aus dem Sattel kommen ließ, das volle Maß der Volksbeliebtheit. Man sagte damals nicht mit Unrecht, der hadamarische Graf könne seine Grafschaft an einem Haar weiter ziehen, als andere Fürsten ihr Land an Ketten. Er sollte bald Anlaß haben zu erproben, wie weit er sein Land nach sich ziehen könne.

Wir kehren zurück in das Gemach der Gräfin Ursula.

Sie hatte auf eine Weile die Arbeit aus der Hand gelegt und den Deckel über das kunstreiche Nähtischchen geworfen. Ein banges Träumen und Sinnen über kam sie. Doch jetzt nicht zum erstenmal, es war ihr schon öfters so ergangen in den letzten Tagen. Ihr Gemahl war nach Wien gereist, um dort die Ungnade des Kaisers von sich und den Grafen von Nassau-Diez und Nassau-Dillenburg abzuwenden; denn man hatte ihnen vor dem Reichshofrat allen Ernstes den Prozeß zu machen begonnen, weil sie dem Kurfürsten von der Pfalz zehn Lehenreiter ins Feld gestellt. Außerdem wollte Johann Ludwig Erleichterung für sein in der letzten Zeit von den Kaiserlichen wieder schwer geplagtes Land unmittelbar am Throne des Kaisers erwirken.

Nun war seit vielen Wochen kein Brief des Grafen nach Hadamar gekommen, noch sonst eine Kunde von ihm. Dagegen hatten vor vierzehn Tagen die kaiserlichen Offiziere die strengste Ordre erhalten, das Land thunlichst zu räumen, alle Naturalrequisitionen zu bezahlen und überhaupt die Grafschaft Hadamar in jedem Betracht zu schonen als Freundesland. Also war der Aufenthalt des Grafen in Wien vom glänzendsten Erfolg [267] begleitet, und dennoch ließ er nicht eine Silbe von sich hören.

Das mochte die Gräfin wohl nachdenklich machen. Unheimlich fast berührte sie's, daß sie eben jetzt ihren Blick gar nicht abwenden konnte von dem Deckel des Nähtisches, in dessen Mittelschild ihr Wahlspruch geschrieben stand: »Im Glauben fest.« Immer aufs neue mußte sie heute diese Worte lesen und ihnen nachgrübeln, sie wußte selbst nicht warum.

Da wurde sie aus ihrem Sinnen durch die Meldung geweckt, daß Pfarrer Niesener aus dem benachbarten Rennerod in wichtigen Dingen um Gehör bitte.

Die Gräfin kannte den Pfarrer wohl, denn namentlich an den kleineren protestantischen Höfen bildeten damals die Geistlichen ein Hauptelement der Geselligkeit, und sowohl in den engeren Zirkeln wie bei den großen Gelagen durften sie vor anderen sich erlauben, ein kühnes, freimütiges Wort in die Unterhaltung zu werfen.

Der Pfarrer trat ein, artig und unterthänig in seinen Manieren und dennoch fest und zuversichtlich, wie einer, der des Umganges mit den Großen dieser Welt gewohnt ist.

Die Gräfin begrüßte ihn herzlich und hieß ihn niedersitzen. »Ihr wollt von wichtigen Dingen reden? Fast habt Ihr mich erschreckt mit diesem Wort.«

»Von den wichtigsten Dingen, meine gnädigste Gräfin, die sich seit Jahr und Tag, seit mir's gedenkt, ereignet haben.«

»Ihr habt Kunde vom Grafen! Schlimme Kunde! O, sprecht sie aus, ohne Umschweife, ohne Einleitung.[268] Der Herr hat mich stark gemacht in meiner Schwachheit.«

»Ich habe Kunde vom Grafen. Er befindet sich gesund und wohl in Wien. Aber so kann ich meinen Bericht nicht anfangen. Erlaubt, gnädige Gräfin, daß ich weit aushole, um der Sache willen, wie um Euretwillen, daß ich, wie ein geschwätziges altes Bauernweib, von dem scheinbar Fernsten und Gleichgültigsten ausgehe. Wenn ich's nicht in der Ordnung erzählen kann, dann bringe ich gar nichts heraus, was ich Euch sagen muß.«

Die Gräfin lächelte und winkte zustimmend. »Ich bin schon in Geduld gefaßt. Redet, wie Ihr's Euch ausgedacht, wie es Euch ums Herz ist. Ich will schweigen und folgen wie ein Lamm.« Als sie, innerlich erbebend, daß sie kaum die Fassung behalten konnte, diese Worte gesprochen, blickte sie wieder auf den Tisch und auf den Spruch: »Im Glauben fest.« Aber jetzt war es ihr mit einemmal nicht mehr unheimlich, über denselben zu grübeln; die Worte leuchteten ihr vielmehr entgegen wie ein helles Licht des Trostes und gaben ihr Kraft und Mut zurück, den Pfarrer ruhig anzuhören.

Derselbe begann: »Ein Vetter des Pfarrers Textor in Mengerskirchen ist, wie Euer gräfliche Gnaden wohl wissen, mit dem gnädigsten Herrn Grafen als Sekretär nach Wien gegangen. Er ist ein feiner Kopf, ein ausgelernter Jurist, dazu ein wahrhaftiger Mann, auf dessen Wort man Häuser bauen darf. Dieser hat einen Brief, so dick wie ein kleines Buch, nach Mengerskirchen geschrieben voll unerhörter und [269] doch gewiß glaubwürdiger Nachricht über das, was sich im letzten Monat in Wien zugetragen. Der Brief jagte dem Pfarrer Textor einen solchen Schrecken ein, daß er ihn gar nicht für sich allein zu behalten wagte; er berief darum die Geistlichen der ganzen Umgegend zusammen, um ihnen das Schreiben mitzuteilen und zu fragen, wie man dessen Inhalt vor Euer gräflichen Gnaden bringen solle. Aber ich muß noch etwas weiter ausholen.«

»Ihr seid grausam gründlich, Niesener! Doch ich habe Geduld gelobt,« sagte die Gräfin, kaum ihrer Sinne mächtig.

»Ja, harret aus in der Geduld, Ihr werdet sie brauchen und wir werden sie brauchen!« rief der Prediger, von seinem Sitze sich erhebend im hohen priesterlichen Ton. »Selig, wer beharret bis ans Ende! Dort steht der Spruch geschrieben, der jetzt der rechte Wahlspruch ist: Im Glauben fest. – Doch ich will ruhig erzählen; höret mich ruhig an.«

»Schon in Koblenz hat sich der gnädige Herr Graf gerne mit den Jesuiten herumgestritten; er ist ein beredter Herr; er disputiert gerne, denn er disputiert keck, den Gegner blendend, siegreich, ehe man die Hand umdreht. Da imponierte ihm die verschmitzte Dialektik der Jesuiten gewaltig, ihre feinen Ausfälle und Finten im Redegefecht, ihre schillernden Schein gründe, ihre bestrickenden Trugschlüsse. Er disputierte mit ihnen, aber er bewunderte und beneidete sie wie ein guter Fechter den besseren. Auf der Reise nach Wien stieß der Herr Graf in Mainz auf den Jesuiten[270] Ziegler, den Beichtvater des Kurfürsten. Da gab es sogleich wieder ein theologisches Turnier und gewaltiges Lanzenbrechen. Der Jesuit spürte schon, daß der streitlustige hohe Herr nicht so ganz fest im zwinglischen Sattel saß, und schrieb flugs an seinen hochberühmten Kollegen in Wien, den Pater Lämmermann, des Kaisers Beichtvater, und empfahl den ritterlichen Herrn den Schlingen seiner Dialektik aufs dringendste. So schob ein Jesuit meinen gnädigsten Grafen dem anderen zu, und Euer Gemahl kam aus bloßer Streitlust dahin, daß er sich zuletzt diesem und jenem katholischen Lehrsatz anbequemte und glaubte doch ein guter reformierter Christ zu bleiben. Es ist schon lange allerlei Gerede darüber umgelaufen, daß selbst Graf Moritz, Euer Herr Schwager, ausrief: ›Man spricht gar wunderlich von meinem Bruder; der Teufel mag die Accommodisten holen.‹ Das ist soldatisch roh gesprochen, aber im Grunde hat er doch recht. Nehmt mir's nicht übel, gnädigste Gräfin; ich rede hier rückhaltslos, ohne Menschenfurcht, nur meinem Gott verantwortlich, wie es der Herr fordert von einem Prediger seines Evangeliums.«

»Ich sage Euch ja, ich bin geduldig wie ein Lamm,« erwiderte die Gräfin mit erstickter Stimme. »Aber weiter, weiter! Ich weiß ja schon alles, was jetzt kommen wird. Ihr gewinnt einen Gotteslohn, wenn Ihr mich nur um ein kleines rascher foltert.«

Der Pfarrer fuhr fort: »In Wien richtete der Herr Graf anfangs nichts aus beim Kaiser mit seinen Mahnungen, Wünschen und Bitten. Er dachte schon [271] an die Heimreise. Da schlug eines Tages der rauhe Nord kaiserlicher Ungnade so plötzlich in den Zephyr der zärtlichsten Gunst um, daß es kein Mensch sich enträtseln konnte. Es hatte aber inzwischen ohne Zweifel Pater Lämmermann die Briefe des Pater Ziegler empfangen und dem Kaiser gemeldet, daß hier eine Seele und obendrein die Seele eines vielberühmten Reichsstandes wieder einzufangen sei in das papistische Netz. Wo aber Ferdinandus dergleichen wittert, da hat er nicht Ruh' noch Rast; er ist ein Seelenfischer, so eifrig daß man ihn einen wahren Petrus des Teufels nennen könnte, besonders wenn es große Herren zu fangen gilt, die Geld im Säckel haben und Kriegsvolk in ihren Festen. Der gnädigste Herr Graf ward eingeladen zur feierlichen Grundsteinlegung eines Mönchsklosters auf dem Kalenberg, die der Kaiser selbst vornahm, und nach der Feierlichkeit speiste er ganz allein mit der Majestät und dem Pater Lämmermann. Es mögen dem Herrn Grafen glänzende Bilder vorgehalten worden sein, als er so mit dem Kaiser allein war, glänzende Bilder der staatsmännischen Laufbahn, auf welche sein Ehrgeiz steht. Der Sonnenschein ist ohnedies jetzt auf des Kaisers Seite. Da ist Ehre zu gewinnen, Reichtum, Land, und Volk; und wir Protestanten sind ja dermalen arme, geschlagene Leute. Und mit dem Pater Lämmermann muß bei jener Tafel auch wieder weidlich turniert worden sein in geistlichen Streitfragen, und der mit allen Hunden gehetzte Pater scheint meinen gnädigsten Herrn zuletzt ganz sattel-und bügellos gemacht und ihm das Schwert an den[272] Hals gesetzt zu haben, daß er sich für völlig überwunden erklärte. Sieben Stunden sollen sie disputiert haben in einem Atem. Der Herr Graf ging gar nicht zurück in die Stadt; er quartierte sich vielmehr sogleich ins Profeßhaus der Jesuiten. Dort sind sie, als in des Teufels Hofburg, längst auf hohe Gäste eingerichtet. Sie haben ein eigenes Fürstenzimmer, in welches sich unser gnädigster Herr Graf sieben Tage lang einsperrte. Sieben Tage lang disputierte er ohne Unterlaß mit den Jesuiten, solange nur Kopf und Atem aushielt. Er würde nicht zum Essen gekommen sein, denn auch über Tisch wollte er mit dem ihn bedienenden Bruder disputieren, wenn man ihm nicht die Bedienung ganz entzogen und die Speisen samt und sonders auf die Tafel gestellt hätte, ihn dann ganz sich selbst überlassend, damit er nur auf drei Minuten sich verschnaufe. Obgleich ihn nun die Jesuiten schon fast ganz bekehrt oder richtiger verkehrt hatten, konnte der Graf sich doch der tiefsten Scham nicht erwehren bei dem Gedanken, wie er nun seinen Brüdern und Verwandten gegenübertreten würde als Ueberläufer zu einer so verhaßten Religion. Darum hat er auch den Mut noch nicht gefunden, an Euch zu schreiben. Da sperrte er sich noch ein paar Tage ein im Fürstenzimmer, mit diesen Gedanken sich quälend. Die Jesuiten boten alle Kunst auf, ihm dagegen den Ruhm und die Ehren auszumalen, welche seiner als eines Katholiken von seiten des Kaisers warteten:


›Des Voglers Pfeif' gar süße sang,

Als er thäte den Vogelfang.‹


[273] Da soll eines Tages ein Wunder geschehen sein, fast ein Seitenstück zu der Bekehrung des Saulus, indem den gnädigen Herrn Grafen, während eben eine Messe für ihn gelesen wurde, plötzlich ein Schauder überlief, daß seine Gebeine wankten und zitterten und ein Lichtstrom sein Inneres durchfloß, daß ihm alle Zweifel schwanden und er den in der katholischen Kirche allein gegenwärtigen Gott gleichsam mit Händen zu greifen glaubte. Er sprang auf, lief zu dem auf dem hohen Chore messelesenden Priester und rief: ›Mein Vater, ich bin katholisch; in diesem Glauben will ich leben und sterben!‹ Die Jesuiten wußten den Augenblick beim Schopf zu fassen; der Pater Lämmermann nahm dem Neubekehrten die Beichte ab, und am Tage Mariä Geburt – –«

»O haltet ein! Helft meiner gnädigen Frau! Sie sitzt starr und tot in ihrem Stuhle!« rief die Kammerfrau und sprang an die Apotheke des kunstreichen Tisches.

Der Pfarrer faßte die Gräfin bei der Hand; er schüttelte sie, er rief sie an. Sie blieb starr, bleich, regungslos.

Aber die starken Essenzen führten allmählich das Leben zurück.

Nur eine kleine Weile schaute die Gräfin unstet umher, als wolle sie sich zurechtfinden über das Vorgefallene. Dann erhob sie sich langsam, in voller Ruhe und Majestät, heftete ihr großes, durchdringendes Auge fest auf den Pfarrer und sprach: »Der Geist und der geistigste Sinn des Ohres kann noch lebendig sein, wenn auch der ganze Mensch bereits in Erstarrung [274] versunken erscheint. Ich habe alles klar vernommen. Vollendet ohne Scheu, ohne Schonung: ›Und am Tage Mariä Geburt – –‹«

»Und am Tage Mariä Geburt,« fuhr der Pfarrer fort, langsam die Worte wägend und mit erhobener Stimme, als müsse der letzte Tropfen des Kelches, der bitterste, am langsamsten getrunken werden, »schwur Graf Johann Ludwig von Nassau-Hadamar den Glauben seiner Väter ab und trat über in die Kirche des Papstes. Ich bin zu Ende, so stehet alles in dem Briefe geschrieben.«

Die Gräfin saß schweigend in ihrem Sessel. »Ich bin ein Weib,« rief sie, »und habe doch keine Thränen. Das Unglück, welches Gott über mein Haus und mein Land verhängt, ist zu groß, als daß man darüber weinen könnte.«

Da Niesener solches hörte, faßte er sich ein Herz und sprach weihevoll wie ein echter Priester des Herrn: »So weiß ich auch, daß du treu bleiben wirst der reinen Lehre, daß du nicht dulden wirst, daß ein Mensch sich zwischen dir und deinen Gott stelle und sei es auch dein eigener Eheherr. Auf dir steht unsere Hoffnung; Glück und Unglück des ganzen hadamarischen Landes ist doch zuletzt in deine Hand gelegt. Sei eingedenk des Wortes: Wo du dich zu mir hältst, will ich mich zu dir halten, spricht der Herr!«

Die Gräfin deutete auf ihren Wahlspruch und sprach fest: »Dies ist mein Bekenntnis. Mit Gottes Hilfe werde ich ausharren. Wo es aber sein müßte, da wollte ich mich lieber von meinem Eheherrn scheiden, [275] das Land quittieren und als eine Bettlerin wieder heimziehen in die väterliche Burg, denn daß ich abtrünnig würde vom Glauben meines Hauses.«

Drauf sagte Niesener treuherzig: »So habe ich denn nur noch eine Bitte, die mich selbst betrifft. Seht, gnädigste Gräfin, als wir Geistlichen versammelt waren, und alle einmütig der Ansicht, daß Euch vor allen der Inhalt des traurigen Briefes mitgeteilt werden müsse, da wollte sich unter den vielen beredten Männern dennoch keiner finden, der diese Botschaft übernommen hätte. Jeder fürchtete die natürliche Ungnade, die den Boten einer solchen Hiobspost treffen müsse, und jeder schützte seine Unbehilflichkeit vor, auf dem Boden fürstlicher Zimmer im rechten Schritt zu gehen. So blieb die Sache zuletzt an mir hängen, wie das mit mißlichen Dingen gewöhnlich zu geschehen pflegt. Darum wollte ich nun Euer hochgräfliche Gnaden bitten, mir nicht gram und ungnädig zu werden, weil ich ein so schlimmer und rauher Bote gewesen bin. Es ist doch alles nur meiner gnädigen Gräfin zulieb geschehen und unserem Glauben und unserem Land zum Frommen. Ich selber habe ja nur Herzklopfen und Todesangst von der Sache gehabt und eine schlaflose Nacht.«

Die Gräfin faßte lächelnd seine Hand. »Seid im Gegenteil versichert, solange ich lebe, will ich Euch vor anderen in Gnaden gewogen bleiben. Ihr waret ein rauher Bote, aber ein wahrhaftiger, getreuer, und habt mich getröstet und gestärkt mit wenigen Worten, wie nie ein anderer Prediger mit den längsten Reden. Das soll Euch unvergessen sein. Und wenn, wider [276] Vermuten, die reformierten Pfarrer sollten des Dienstes entsetzt und außer Landes gejagt werden, dann will ich im Gedächtnis dieser Stunde alles dafür einsetzen, daß Ihr in den lippeschen Landschaften eine neue Kirche und einen neuen Herd findet.«

Mit diesen Worten entließ sie den Geistlichen.

2. Kapitel

Zweites Kapitel.

Graf Johann Ludwig hatte durch seinen Uebertritt in Wien alles erkauft, was er begehrte, und noch viel mehr dazu wurde ihm unerbeten in den Schoß geworfen. Er war der gefeierte Mann, der einflußreichste, der Freund des Kaisers, dem keine Bitte fehlschlug, von allen Großen aufgesucht und mit Schmeicheleien überschüttet, von dem mächtigen Klerus bewundert, vom Legaten des Papstes wie ein Heiliger gepriesen: da waren mit einemmal all seine Träume von Macht, Glanz und Ruhm wirklich geworden, er spielte die ersehnte große Rolle in der großen Welt, und das stille Schloß zu Hadamar mit der bleichen, ernsten, frommen Frau ward ganz vergessen über diesen Herrlichkeiten; und wollte ja die Erinnerung an die Heimat gewaltsam aufsteigen, ein mahnender Geist aus frisch geschlossener Gruft, dann wurde sie ebenso gewaltsam zurückgedrängt im Taumel des bewegten Wiener Lebens. So ging es fort durch mehr als vier Monate bis tief in den Dezember hinein. Der Graf, sonst der liebevollste Gatte, schrieb in dieser ganzen [277] Zeit keine Zeile an seine Gemahlin, halb aus Scham, halb aus Furcht, die Worte seines Weibes möchten ihn an sich selber wieder irre machen. Erst als er gegen Weihnachten die Abreise nicht länger verschieben konnte, meldete er der Gräfin in wenigen Zeilen, daß er zur katholischen Religion übergetreten sei; er wolle sie nicht zwingen, ihm zu folgen; der reformierte Privatgottesdienst in der kleinen Schloßkapelle durch ihren Hofprediger solle ihr unverwehrt bleiben, ja sie könne selbst die Töchter protestantisch erziehen; die Prinzen dagegen müßten gleich dem Vater und dem ganzen Land zurückkehren zur alleinseligmachenden Kirche. Zugleich ging ein Rundschreiben an alle gräflichen Diener nach Hadamar ab, worin ihnen befohlen war, sich bereit zu halten zum Eintritt in den neuen Glauben ihres Fürsten und Herrn oder der Verweisung vom Dienst und aus dem Lande gewärtig zu sein.

Der Brief an die Gräfin war in seiner schneidenden Kälte und Kürze noch unendlich verletzender gewesen als das fünfmonatliche Schweigen. Lange ging die entschlossene Frau mit sich selbst zu Rate, ob es nun nicht an der Zeit sei, den bis dahin so glücklichen, jetzt so peinlichen Ehebund aufzulösen. Aber der Blick auf ihre Kinder, der Blick auf ihr Land, welchem sie in den letzten schweren Monaten im vollen Sinne des Wortes Fürstin gewesen, bewog sie, auszuharren. Sie ward jetzt erst inne, wie fremd ihr die Kinderheimat an der Lippe geworden war, wie heimatlich dagegen dieses Land, dem die Jahre ihres Wirkens und Strebens und ihres Leidens angehörten. [278] Sie hatte ein Buch, darein sie an jedem Abend ihr Haupttagewerk verzeichnete, mit Beifügung eines Verses oder Spruches, meist aus der Bibel oder einem Kirchenlied, der als Motto gleichsam den besonderen Charakter des Tages aussprechen sollte. Heute, wo die Gräfin nichts gethan, als mit sich gekämpft, schrieb sie auch nichts in das Buch als zwei Verse und zwar eines heidnischen Poeten, Verse, die Ovid aus der Verbannung geschrieben:


»Nescio qua natale solum dulcedine cunctos

Ducit et immemores non sinit esse sui.«


und verfaßte dann selber neben den lateinischen Text folgende der Verskunst jener Zeit entsprechende Uebersetzung:


»Ich weiß nicht mit was Süßigkeit

Des Vaterlands Anmütigkeit

Den Menschen zeucht, also daß er

Solch's in Vergeß stell nimmermehr.«


Der Graf eilte nicht allzusehr auf seiner Rückreise. Wer mit bösem Gewissen heimfährt, dem ist der krummste Weg der nächste und der langsamste Fuhrmann der beste. In München gab es für Johann Ludwig willkommenen Aufenthalt, in Nürnberg nicht minder; allein so langsam er auch reiste, endlich kam er doch in Hadamar an.

Das Wiedersehen der Ehegatten war minder hart, als beide es erwartet hatten. Die Gräfin konnte sich der Thränen nicht erwehren, aber sie schwieg. Der Graf war liebevoll wie in den alten glücklichen Tagen; beredt und überzeugend stellte er seinen Glaubenswechsel [279] als einen Akt der reinen politischen Notwendigkeit dar, zur Selbsterhaltung, zur Rettung der übrigen Grafen der nassau-ottonischen Linie, zur Erlösung seines Volkes von aller Bedrückung. Er war, wenn man ihn hörte, das Opferlamm geworden für alle nassauischen Lande und sein Uebertritt der höchste Akt patriotischer Selbstentsagung und Selbstverleugnung. Als der gewandte Herr wieder hier und da die Macht seiner Persönlichkeit entfaltete, drang diese Ansicht auch immer mehr im Volke durch, die alte Popularität des Grafen lebte wieder auf und in wenigen Wochen konnte die vorher aufgeregte Grafschaft wieder für völlig beruhigt gelten. In der That, es bewährte sich das Wort: Wo andere Herren ihr Land an Ketten weiterziehen mußten, da zog Graf Johann Ludwig das seinige an einem Haare nach sich.

Mit äußerster Klugheit und Vorsicht ward die Bekehrung der Grafschaft eingeleitet. Der Graf hatte nur zwei Jesuiten mitgebracht, die Patres Prack und Ringel. Allein beide reichten vorerst vollkommen aus. Sie gingen ganz sachte voran, wußten hier und dort einen einflußreichen Mann herumzukriegen, predigten dann im volkstümlichsten Ton, mit allem Salz örtlicher und persönlicher Beziehungen die Rede würzend. Bald satirisch, bald humoristisch, niedrig komisch, bald pathetisch und im großen Stil gehalten, erschienen die Predigten dem Volke unendlich kurzweiliger als die gleichförmig ernsten, feierlichen, überall mit Bibelsprüchen durchspickten Kanzelreden der reformierten Pfarrer. Da gab es dann immer ungeheueren Zulauf,[280] wo ein Jesuit auftrat. Aber Schwärme von Zuhörern, die aus bloßer Neugierde gekommen waren, drängten sich am Schluß der Predigt zum Beichtstuhl, so daß binnen wenigen Monaten die zwei Jesuiten allein die halbe Grafschaft wieder katholisch machten. Als nun gar zwischen Hadamar und Elz plötzlich eine Mineralquelle sprudelte, die angeblich durch das Gebet der Jesuiten aus dem Boden gelockt war, und Hunderte von Kranken aller Art, die von dieser Quelle tranken, ihren Rosenkranz beteten, sangen und tagelang auf den Knieen lagen, geheilt zurückkehrten: da fehlte es auch nicht länger an einem Mirakel, und die Bevölkerung ging scharenweise zu den Jesuiten über.

Der Graf selber hatte in öffentlicher Versammlung der Bürger von Hadamar erklärt, daß das Land wieder katholisch werden müsse. Er ließ überall im Lande durch die Schultheißen auf öffentlichem Markte ausrufen, daß der reformierte Glaube abgeschafft und der katholische wieder eingesetzt sei. Vorerst seien die Unterthanen gehalten, den gregorianischen Kalender zu führen, die katholischen Fest und Fasttage zu respektieren, und wenn es zum Vaterunser läute, nicht bloß das Vaterunser, sondern auch den englischen Gruß zu beten.

Das riefen die Schultheißen aus wie eine Polizeiverordnung, und weiteres begehrte man noch nicht. Von der Lehre und den Sakramenten, vom Papst, vom Kultus war nicht die Rede. Man wollte sich, nach dem Plane der Jesuiten, ganz allmählich einschleichen mit dem römischen Glauben, und so gelang es auch ganz vortrefflich.

[281] Inzwischen ward den protestantischen Predigern der Dienst gekündigt. Wo sie nicht wollten katholisch werden und eine politische Bestallung annehmen, sollten sie in kürzestem Termin ihre Pfarrhäuser verlassen. Die meisten gingen alsbald außer Landes. Einige wurden noch eine Weile geduldet, darunter auch Johann Jakob Niesener in Rennerod.

Am schwersten klagten die Jesuiten über die Gräfin, als die wahre Patronin der protestantischen Ketzerei im Lande, die das Bekehrungswerk unendlich erschwere. Allein der Graf duldete einmal und nicht wieder, daß die Patres hierüber ein Wort sprachen. Die Gräfin war immer eifriger geworden in der Ergründung ihres religiösen Bekenntnisses und in der Erfüllung ihrer sittlichen und kirchlichen Pflichten, je mehr der Katholizismus im Lande um sich griff. Die Jesuiten selber mußten ihr nachsagen, daß sie wie eine Heilige lebe. Täglich waren einige Stunden dem Gebet gewidmet und dem Bibellesen, an welchem alle Hofdamen teilnehmen mußten. Die ganze Sittenstrenge, Entsagung und Enthaltsamkeit, wie sie die reformierte Kirchenzucht in ihrer äußersten Härte gebietet, waltete von nun an am Hofe der Gräfin Ursula. Sie zog allmählich das ganze Hofgesinde, auch das katholische, in diese Strenge der christlichen Ehrbarkeit. Sieghaft bewährte es sich hier, daß die unerbittliche Moral und die strenge kirchliche Zucht zwar die rauheste, aber auch die stärkste Seite des reformierten Bekenntnisses sei. Jede Woche genoß die Gräfin das heilige Abendmahl; der Tag, wo dies geschah, war der eifrigsten Gewissensprüfung [282] gewidmet. Kein Sonn- und Festtag durfte durch irgend ein weltliches Geschäft entweiht werden.

Bei dieser äußersten Strenge in der Durchführung der eigenen religiösen Ueberzeugungen war jedoch die Gräfin keineswegs schroff gegen Andersgläubige, am wenigsten gegen ihren Gemahl. Hier zeigte sich ihre edle vermittelnde Weiblichkeit, die Freiheit und Hoheit ihres Geistes in wunderbarem Licht. Der Graf merkte kaum etwas von der fast übertriebenen Strenge ihres religiösen Wandels. An Tagen, wo er fasten mußte, fastete sie mit, ja sie genoß dann nicht einmal auf ihrem Gemache eine Fleischspeise, um den katholischen Dienern keinen Anstoß zu geben. War der Graf verreist, so beobachtete sie dieselbe Rücksicht gegen die im Katholizismus erzogenen Söhne. Nie versuchte sie ihre religiöse Ueberzeugung dem Manne aufzudrängen, denn sie wußte, daß er, wenn auch aus ganz anderen Gründen als sie, nunmehr ebenso festgewurzelt in seiner Ueberzeugung stand. Aber nie duldete sie auch den leisesten Angriff auf ihr Bekenntnis. So gelang ihr das unendlich schwere Werk, einträchtig mit ihrem Ehegatten zu leben. Ja sie gewann ihn dergestalt durch ihre Milde und Sittenreinheit, daß er zum großen Entsetzen des Pater Prack diesem einmal ins Gesicht behauptete, seine Frau werde selig werden, ohne der alleinseligmachenden Kirche anzugehören; denn eine solche Ketzerin wiege vor dem allwissenden Gott wohl manches Dutzend guter Katholiken auf.

Es war überhaupt eine seltsame Mischung katholischen und protestantischen Wesens an dem gräflichen [283] Hofe. Dies zeigte sich namentlich bei der Tafel, die früher für gewöhnlich fast nur ein Familientisch gewesen, seit des Grafen Rückkehr von Wien aber sich bedeutend erweitert und eine gewisse politische Bedeutung gewonnen hatte. Zwar war die Familie, bis zu den vier- und sechsjährigen Söhnen und Töchtern abwärts, nicht verdrängt: dem hatte sich die Gräfin entschieden widersetzt. Allein die Tafel war jetzt eine öffentliche und die Tischreden, die man dort pflog, oft entscheidender für das Regiment als die längsten Verhandlungen im gräflichen Kabinett.

Der Graf lud nämlich alle seine höheren Diener, ja auch die vornehmsten Bürger der Stadt, die Reihe um an seinen Tisch, um sich dieser Leute zu versichern, um sie herüberzuziehen zu den Jesuiten, um ihnen den Feuereifer für die Katholisierung des Landes, der ihn selbst beseelte, gleichfalls einzuhauchen. Selbst die hervorragenderen protestantischen Geistlichen wurden zu der Zeit, wo sie bereits ihrer Stellen entsetzt waren, immer noch zur gräflichen Tafel gebeten, weil man es doch noch nicht ganz aufgab, die Seele des einen oder anderen zu gewinnen, oder auch, weil der Graf die Pfarrer zur Würze seiner Tischunterhaltung, nämlich zum Disputieren, nicht entbehren konnte. Denn die regelmäßigen Stammgäste des herrschaftlichen Tisches waren andererseits die beiden Jesuiten Prack und Ringel, und da machte es nun dem Grafen eine kindische Freude, die Jesuiten und die reformierten Pfarrer hintereinander zu hetzen. Allein die letzteren waren meist so klug, einen Kampf nicht anzunehmen, bei dem sie mit [284] gefesselten Armen fechten mußten. Ließ sich ja einer fortreißen, dann hatte er jedesmal verlorenes Spiel, da wohl der Gegner, nicht aber er selbst, das letzte entscheidende Wort aussprechen durfte, und die unbehilflichen Landpfarrer auch ohnedies rasch gefangen waren von den in allen dialektischen Künsten gewiegten Jesuiten. Die Freude aber, die der Graf über einen solchen Kampf und über den Sieg seiner Patres hatte, schrieb er allezeit auch dem armen geschlagenen Pfarrer zu gut und wandte den hitzigen, unklugen, streitfertigen Geistlichen, die ihm den Hofnarren ersparten, seine volle Gunst zu, während er die vorsichtigen und schweigsamen nicht ausstehen konnte.

Zu den letzteren gehörte der Pfarrer Niesener von Rennerod, der heute mit dem gräflichen Rat Sprenger und den beiden Jesuiten zu der ausnahmsweise kleinen herrschaftlichen Tafel geladen war. Der Graf hätte ums Leben gern gehabt, daß Niesener, den man den gescheitesten und bibelfestesten Pfarrer im ganzen Lande nannte, einmal angebunden hätte mit den Jesuiten. Gleich nach dem Tischgebet mußte Pater Prack den Satz zur Verhandlung bringen: Wer Herr über das Land ist, der ist auch Herr über den Glauben des Landes – cujus regio ejus et religio. Es war dies ja der Satz, kraft dessen Johann Ludwig eben mit List und Gewalt das Land katholisch zu machen sich berechtigt glaubte, weil er selber katholisch geworden war, ein Satz, den bis dahin im alten Glauben an die von Gott gesetzte Macht der Fürsten nur wenige anzutasten sich erkühnt hatten, während gegenwärtig [285] der Wendepunkt eingetreten war, wo man da und dort Zweifel zu erheben und über den berühmten Satz heftig zu streiten begann.

Prack hielt Niesener geradezu dieses politische Dogma vor und fragte den Pfarrer, wie er es denn mit seiner Unterthanenpflicht vereinbaren könne, reformiert zu bleiben, da doch sein Fürst und Herr zur katholischen Kirche zurückgekehrt sei? Auch auf den Rat Sprenger, von dem man nicht recht wußte, war er noch reformiert oder war er bereits katholisch, ward dabei ein verdächtiger Seitenblick geworfen.

Niesener erwiderte trocken: »Im Evangelium stehet nirgends geschrieben: cujus regio ejus et religio. Wenn die Obrigkeit von uns fordert, daß wir thun sollen wider Gott und unserer Seelen Seligkeit, daß wir das reine Wort nicht hören und bekennen sollen, daß wir das Sakrament nicht nehmen sollen nach Christi Befehl, dann mögen wir kurzweg antworten: Man soll Gott mehr gehorchen als den Menschen. Warum sonst hätten sich die Märtyrer totschlagen lassen? Die Gewaltigen, die Sankt Paulum enthaupteten und Sankt Petrum kreuzigten, hatten auch wohl ungefähr so einen Satz im Sinn wie cujus regio ejus et religio. Hätten darum Paulus und Petrus der Obrigkeit folgen und heidnisch werden sollen?«

»So bestreitet Ihr also die Rechtsgültigkeit des Satzes cujus regio ejus et religio?« rief der Jesuit, rot vor Eifer, denn er glaubte schon, der Pfarrer habe jetzt endlich einmal angebissen.

»Ich habe gesprochen, um mir nur ein klein wenig[286] Luft zu machen, daß ich meine Suppe zu Ende essen und verdauen kann,« sagte Niesener gelassen. »Jetzt werde ich schweigen.«

Der Graf warf Niesener einen zornigen Blick zu und rief: »Seht da, Niesener, Ihr habt, als Ihr Euch Luft machtet, das Salzfaß mit dem Aermel umgeworfen. Das ist ein schlechtes Zeichen: es bedeutet Streit, Streit des Gastes mit dem Wirt.«

»Das wolle Gott verhüten, daß ich mit meinem gnädigen Herrn jemals in Streit geraten könne,« sagte der Pfarrer bescheiden, und die Unterhaltung verstummte.

Der Graf wandte sich leise zu dem Pater Ringel und flüsterte mit zornig zusammengezogenen Brauen: »Es ist eine Feindschaft der Natur, des Instinktes zwischen mir und diesem Niesener wie zwischen Kröte und Spinne. Er hat mir nicht mehr zuleid gethan als die anderen. Aber ich mag das Gesicht dieses Menschen nicht sehen! Wir müssen ihn heute noch auf den Sand setzen.«

Als der mächtige Rindsbraten kam, trank der Graf seinen Gästen die Gesundheit zu. Dem Grafen kam die Lust, Niesener wieder anzuzapfen. »Ich sehe, lieber Pfarrer, auf eine Gesundheit anzustoßen, läuft nicht wider Euern Glauben. Da Ihr nun bloß thut und glaubt, was in der Bibel steht, so möchte ich Euch doch bitten, mir zu sagen, wo es in der Bibel erlaubt wird, eine Gesundheit auszubringen oder darauf anzustoßen?« Der Graf glaubte aber, vom Gesundheittrinken stehe gar nichts in der Bibel.

Allein da war er bei Niesener übel angekommen. Derselbe erhob sich und lächelte gar vergnügt in sich[287] hinein und sprach: »Im Propheten Jeremias lesen wir, daß die Juden beim Leichenschmaus sich gegenseitig einen Becher Weins zugetrunken und dabei untereinander getröstet haben. Und zwar haben sie nach der ältesten Ausleger Meinung sich Gesundheit und ein langes Leben gewünscht. Nehemias war Schenke des Artaxerxes, und so oft er dem König den Becher kredenzt, sprach er: ›Gott gebe dir, König, ein langes Leben!‹ Heißt das nicht auch Gesundheit zutrinken? Gott der Herr selber trinket gleichsam allen Frommen die Gesundheit eines geheiligten Lebens zu, wenn er, wie der 75. Psalm sagt, einen Becher in der Hand hat, mit starkem Wein voll eingeschenkt, davon er auch den Frommen zu trinken gibt, während die Gottlosen die Hefen aussaufen müssen. In diesem Sinne will auch David im 116. Psalm den heilsamen Kelch nehmen, aus welchem er sich selber eine geistliche Gesundheit zutrinkt. Und ist nicht, wenn wir das Unheilige mit dem Heiligsten vergleichen dürfen, der Kelch von Christi Nachtmahl selbst ein Gesundbecher gewesen, den er der ganzen sündigen Menschheit zugebracht, daß sie genese?«

»Unser Pfarrer weiß die Schriftstellen wohl zu wenden, bis sie sagen, was er wünscht,« rief der Graf lächelnd gegen die Jesuiten. »Doch das muß man gestehen, in seiner Bibel ist er zu Hause.«

Dann wandte er sich an den Rat Sprenger, einen gewandten, im Dienste grau gewordenen Hagestolzen, der spöttisch alle Dinge kritisierte und aus dessen Charakter niemand klug werden konnte, einen echten Diplomaten, in politischen und Rechtsgeschäften vielerprobt, [288] den unentbehrlichen Diener seines nach staatsmännischen Ehren geizenden Herrn. »Ihr seid so still, lieber Rat, Ihr denkt wohl, wo die Theologen reden, da müssen die Laien schweigen.«

Der Rat antwortete in seinem satirischen Tone: »Freilich schweigen die Laien, wo die Geistlichen reden. Ich will Euch einen Vers darauf sagen:


Presbyteri ›labiis orant,‹ Laicique ›laborant;‹

Plebs, dum pro populo Presbyter ›orat,‹ ›arat. 1«


»Ei, lieber Rat, man hat mir immer Eure Kunst gerühmt, lateinische Verse aus dem Stegreif zu machen,« rief der Graf, »aber daß Ihr sie im Augenblick so spitzig und witzig und doch so elegant herausbrächtet, das hätte ich nicht gedacht.«

»Diese Verse, gnädigster Herr Graf, sind auch nicht beim köstlichen Wein improvisiert worden. Es ist vielleicht gerade umgekehrt der Hunger gewesen, der sie so spitzig und witzig gemacht hat. Sie gehören nicht mir, sie sind bloß ein Citat. Ein englischer Schulmeister, der vor ein paar Jahren in Armut und Elend gestorben ist, John Owen, hat sie gemacht, ein Mann so voll Geist und Witz in seinen Epigrammen, daß sie jetzt, nachdem der Dichter jämmerlich verkommen, in allen Ländern gedruckt werden. Hätte der Mann bei Lebzeiten nur die Hälfte von dem gehabt,[289] was jetzt die Buchbinder an seinen Büchern verdienen, er wäre gewiß nicht Hungers gestorben. Aber ob seine Epigramme so ergötzlich beißend geworden wären, wenn seine Zähne mehr zu beißen gehabt, das ist eine andere Frage.«

Der Graf hörte den Schluß von des Rates Bemerkungen nicht mehr. Es war ihm ein Brief übergeben worden, der seine ganze Aufmerksamkeit gefangen nahm, und, wie es schien, nicht in erfreulichster Weise, denn seine Stirne ward gewaltig finster über dem Lesen. Er stampfte mit dem Fuß und warf das Schreiben zornig auf den Tisch, als er zu Ende gekommen. Sein erster Blick begegnete dem Pfarrer Niesener; es war ein Blick wütender Erbitterung und tödlicher Feindschaft.

In abgebrochenen Sätzen, in einem Tone des atemlosen Zornes, welchen man sonst an dem durch seine Selbstbeherrschung glänzenden Manne nie gehört hatte, rief der Graf: »Es muß ein Exempel statuiert werden an dem Verräter im eigenen Lande! – Ich bin umgeben von falschen, meineidigen Gesellen. – Der Kopf muß dem Schurken herunter, der diesen Verrat geübt. Ich kenne ihn! Mit meiner Gnade habe ich ihn sicher gemacht! In mein Haus habe ich ihn gezogen, arglos kein Geheimnis vor ihm zugedeckt, und das hat der Judas genützt, um dem Feinde landesverräterischerweise mitzuteilen, was er nur durch mein Vertrauen auskundschaften konnte. – Pfarrer Niesener! Ihr seid mein Gast nicht mehr; Ihr seid arretiert. Schweigt! Antwortet, wenn ich Euch frage! Es geht[290] Euch an den Hals, Niesener! Regt Euch nicht von der Stelle, bis man Euch in den Turm führt!«

Eine peinliche Pause folgte. Die Tischgenossen saßen wie versteinert, selbst die beiden Jesuiten sahen sich erstaunt und fragend an.

Die Gräfin gewann zuerst die Besinnung und das Wort wieder. Sie wandte sich an den Grafen. »Du redest schrecklich, die Gedanken zerstückend wie ein Fieberkranker. Sammle dich. Was ist vorgefallen? Erzähle uns den Hergang, wofern er kein Geheimnis ist, und indem du ruhig erzählst, wirst du auch noch einmal ruhiger den Zusammenhang prüfen.«

Der Graf schaute auf, als sei er bisher mit seinen Gedanken ganz wo anders gewesen und erkenne jetzt erst, in welcher Gesellschaft er sich befinde. Völlig gesammelt, mit der Ruhe und Glätte, die ihm sonst stets gleich blieb, doch immer noch mit schwerem Ernste, sprach er: »Du weißt, Ursula, seit Wochen setzen die holländischen Streifcorps, die der Baron von Gent von Soest aus über den Westerwald herüberschickt, unser plattes Land in Schrecken. Wo sie einen katholischen Priester, ja nur einen Mesner, Küster oder Schulmeister wittern, da machen sie Jagd auf denselben, gieriger als der heftigste Jäger auf einen Zwanzigender. Am liebsten möchten sie mir hier meine beiden Patres wegfangen, aber es glückt ihnen nicht, weil ich den frommen Männern allemal zwölf Reiter Bedeckung aufs Land mitgebe. Hölle und Teufel! Ist das eine Zeit! Nicht mehr Herr zu sein im eigenen Hause! Drüben im Braunfelsischen haben's die Ketzer [291] nicht besser gemacht mit der Pfaffenhetze. Sprenger, habt Ihr nichts Neues von drüben gehört?«

»Mit Verlaub, gräfliche Gnaden, im Braunfelsischen sind es nicht die Holländer gewesen, sondern eigentlich der kaiserliche Kommandant von Braunfels, der mit der Jagd auf die Pfaffen angefangen hat. Um den Grafen von Diez zu vexieren, ließ er den reformierten Pfarrer von Dauborn am Ostermontag aus dem Bette holen und nach Braunfels führen und forderte neunhundert Reichsthaler Lösegeld. Da waren die Holländer auch nicht faul, den ihrem Feldmarschall, dem Grafen von Diez, zugefügten Schimpf zu rächen, brachen ins Kloster Altenburg, nahmen den Prior weg und forderten gleichfalls neunhundert Reichsthaler. Was war zu machen? Man verglich sich, und es gab eine kuriose Abrechnung. Jede Partei zahlte der anderen neunhundert Reichsthaler und gab der anderen ihren Pfaffen zurück. Da hatten also beide schließlich wieder ganz das Gleiche, was sie vorher gehabt. Das war viel Müh' um nichts. Allein der kaiserliche Kommandant hatte nun einmal den Holländern gelehrt, wie bequem und einträglich es sei, Pfaffen zu fangen und dann Lösegeld zu fordern, und jetzt legen sich diese Krämersoldaten auf den Pfaffenfang wie ihre Brüder daheim auf den Heringsfang, und sind vor lauter Jagdlust zu gar keinem ordentlichen Kriegsdienst mehr zu bringen, und was das Schlimmste ist, ganze Scharen von gaunerischem Gesindel laufen als Wilderer neben jenen Jägern her und ziehen mit Hörnerklang durch den ganzen [292] Westerwald und den Lahngrund, um Jesuiten zu jagen.«

»Genug!« rief der Graf, etwas aufgebracht über die allzu humoristische Ausführung des Rates. »Schon haben wir die Schmach auf uns nehmen müssen, die katholischen Weltpriester, die ich zur Vollendung des Werkes dieser frommen Patres unlängst ins Land gerufen, aus den Pfarrhäusern zu quartieren und in Bauernhäuser zu verstecken, damit sie nicht geradezu aufgehoben würden. In Bauerntracht vermummt gehen sie von einem Dorf zum anderen, um ihres Amtes zu warten. Wo sie öffentlich Kirche halten, muß eine starke Mannschaft vor der Kirchenthüre aufgestellt werden. Nun wird mir eben geschrieben, daß trotz aller Vorsicht den Holländern die Verstecke der Priester in den Bauernhäusern dennoch sind verraten und die Priester selbst in ihrer Bauerntracht kenntlich bezeichnet worden, und zwar im ganzen oberen hadamarischen Land – in der ganzen Gegend von Rennerod, Pfarrer Niesener! – Daraufhin sind die Räuber gestern nacht ins Land eingebrochen und haben mir alle meine kaum erst aus Wien verschriebenen Priester aufgehoben und nach Soest abgeführt und fordern ungeheures Lösegeld für die vielen Pfaffen. Sprenger! ist denn an Euch noch gar keine Nachricht eingegangen über den verteufelten Streich?«

Der Rat schien sehr zerstreut. »Eine Nachricht? Nein, gnädigster Herr. Ueber das, was Ihr vom Jesuiten Holthausen erzähltet, habe ich wohl ein Gerücht vernommen –«

[293] »Was ist das?« rief der Graf. »Ich weiß nichts von dem Jesuiten Holthausen.«

Der Rat erschrak, doch faßte er sich rasch. »Nun, den Jesuiten haben sie auch weggefangen und ihm einen Soldatenrock angethan und weite holländische Hosen und ihm ein Gewehr auf die Schulter gelegt – ach, der dicke Mann soll zum Erbarmen ausgesehen haben in der Maskerade, denn an dem Rock waren alle Nähte geplatzt, weil, glaub' ich, in der ganzen holländischen Armee kein Rock zu finden ist, der ihm paßt. Und als der arme Jesuit gar im Geschwindschritt in der Reihe marschieren mußte, da soll er nach zehn Minuten schier umgesunken sein – kurzum, sie haben ihn unter die Soldaten gesteckt.«

»Wie? und das meldet Ihr mir jetzt erst?« rief der Graf zornig.

»Verzeihen, gräfliche Gnaden, ich erfuhr es unmittelbar vor Tafel und, wie gesagt, nur vom Hörensagen, nur als ein Gerücht, und da hielt ich's für unerlaubt, Euch das Essen zu verderben mit dem Klatsch, und wollte mit der Meldung warten, bis abgespeist wäre.«

»Also Ihr glaubt, zur Beförderung der Verdauung eigne sich eine schlechte Nachricht besser als zur Anregung des Appetits? Doch bei Gott, jetzt ist nicht Zeit zu scherzen! Der Verräter muß bestraft werden. Nur ein Mann, der in allen Stücken volles Vertrauen genossen, kann den Holländern die Priester und ihr Versteck bezeichnet haben; denn nur ganz wenige der sichersten Leute wußten um das Geheimnis. Es kann aber auch nur ein Mann gewesen sein, der in der [294] Gegend von Rennerod, in allen Dörfern und Häusern der Nachbarschaft so bekannt ist wie in seinem eigenen Hause. Pfarrer Niesener, seht Euch für, es geht Euch an den Hals, wenn die Sache auf Euch herauskommt. Augenblicklich muß der Verräter entlarvt, augenblicklich muß er gestraft werden. Da ist nicht Zeit, umständlich den Prozeß zu machen; es gilt ein Exempel zu statuieren. Niesener, Ihr werdet vor ein Kriegsgericht gestellt – noch heute nachmittag – und wenn Ihr heute abend dem Henker nicht verfallen seid, wenn Ihr wirklich wider Vermuten freigesprochen würdet, dann packt Ihr Euch dennoch morgen aus den hadamarischen Landen, denn nun will ich keinen reformierten Pfaffen mehr sehen, ich will keine Leute mehr hegen, die, wie Ihr vorhin vor meinen Ohren gethan, mir das Recht bestreiten, mein Land wieder katholisch zu machen, die sich täglich durch ihr Gewissen können verpflichtet fühlen, an mir zum Verräter zu werden, und, wenn sie mir ungehorsam sind, am Ende noch glauben, sie hätten gethan, wie Sankt Peter und Paul, die heiligen Apostel und Märtyrer, gegen das heidnische Regiment in Rom.«

Niesener erwiderte kein Wort. Sein Auge hing an dem Gesichte der Gräfin, als ob er von ihr allein noch Rettung erwarte.

In der That nahm nun, da alle verstummten, die Gräfin das Wort. »Du sprichst jetzt recht wie ein Gewaltiger dieser Welt, lieber Mann. Aber vergiß nicht des Wortes, daß einst die Gewaltigen auch gewaltig sollen gerichtet werden von dem Herrn. Es [295] sind heute schon so manche Neuigkeiten hier erzählt werden: erlaube mir, daß ich auch eine höchst merkwürdige Kunde mitteile, die mir in der Frühe von einem Manne von der Weil berichtet ward; und jetzt erscheint es mir als eine rechte Fügung Gottes, daß ich die Erzählung dieses Bauern gerade am heutigen Tage vernommen und in dieser Stunde dir wieder erzählen kann. Es lebte vor ungefähr zehn Jahren ein Edelmann, Henn von Wehrdorf, zu Essershausen an der Weil, ein einsamer Mann ohne Verwandte, ohne Freunde. Der war eines Tages spurlos verschwunden. Niemand wußte, wo er hingekommen. Da wurde vor etwa zwei Monaten dem Gerichte heimlich die Anzeige gemacht, ein gewisser Johannes Schütze aus Kröfftelbach, ein übel berufener Mann, habe jenen Henn von Wehrdorf im Walde nahe bei Essershausen umgebracht. Schütze wird eingezogen. Er leugnet. Aber die Folter preßte ihm doch zuletzt das Geständnis aus. Nun führt man ihn in den Wald, damit er zeige, wohin er den Gemordeten verscharrt. Er kann den Platz nicht finden; aber aus Furcht vor Wiederholung der peinlichen Frage behauptet er, weil es schon so lange her, könne er sich des Platzes nicht mehr entsinnen. Er wird zum Tode verurteilt. Der Gerichtsherr unterschreibt ohne Besinnen das Urteil. Man war seiner Sache so gewiß, daß man keinen Tag Aufschub gab. Alles ward übereilt. Es sollte wohl auch ein Exempel statuiert werden. Vor acht Tagen war es, da stand Hans Schütze auf dem Blutgerüst und der Henker hinter ihm. Da sagte der [296] arme Sünder mit fester Stimme zu allem Volk ringsum: ›Ich muß jetzt sterben, weil ich den Henn von Wehrdorf soll ermordet haben; aber ich will es auf meinen Teil Himmelreichs nehmen, daß ich denselben mein Lebtage nicht gekannt, ja wenn ich ihn Zeit meines Lebens einmal gesehen habe, will ich nimmermehr selig werden.‹ Und als er schon vor dem Block kniete, rief er noch einmal, er hoffe, seine Unschuld solle an den Tag kommen, und der Edelmann werde, so Gott wolle, lebend wiederkehren, noch ehe die Raben seinen Leichnam würden gefressen haben. Drauf legte man ihm den Kopf vor die Füße. Vorgestern ist Henn von Wehrdorf wiedergekommen; er war vor zehn Jahren in den Krieg gegangen, hatte dort sein Glück probiert, wie tausend andere, und hatte es auch gewonnen, wie wenige von den Tausenden. Denn er kehrte als ein reicher, mit Ehren bedeckter Offizier heim. Sieh, der Gerichtsherr und sein Richter haben auch gewaltig und rasch gerichtet, als die Gewaltigen dieser Welt. Aber bedenke, wie es ihnen jetzt zu Mute sein mag! Und doch haben sie nach allen Formen Rechtens verfahren, und Schütze war ein übel berufener Mann. Allein sie wollten ein Exempel statuieren. Sie haben es statuiert, doch nicht an dem armen Sünder, sondern an sich selbst.«

Der Graf biß sich in die Lippen und schwieg.

»Man führe den Pfarrer Niesener in den Turm!« rief er dann – und die Tafel, wie noch keine im Schlosse gehalten worden, war aufgehoben.

Fußnoten

1 Dieses Distichon ist geradezu unübersetzbar, da seine Spitzen in Wortspielen bestehen, die im Deutschen nicht wiederzugeben sind. Dem Sinn nach besagt es, daß die Laien mit den Händen schaffen, während die Pfaffen ihre Lippen bloß betend exerzieren.

3. Kapitel

[298] Drittes Kapitel.

Des anderen Morgens in aller Frühe, als noch kaum die erste Dämmerung schwach zu schimmern begann, öffnete der Graf leise die Thüre des Kabinettes der Gräfin. Er wußte, sie stand lange vor der Sonne auf, und so fand er sie denn auch, völlig angekleidet, vor ihrem Betpult knieen. Er blieb schweigend im Hintergrunde stehen, bis sie ihr Gebet beendet hatte.

Als sie sich erhoben, und die Gatten sich den Morgengruß geboten, war die Verwunderung, den Grafen so frühe auf den Beinen zu sehen, auf der Gräfin Seite; denn ihr war gar wohl bekannt, wie sehr er es liebte, des Abends den Tag in die Nacht und des Morgens die Nacht in den Tag zu tragen.

»Ich will von nun an,« sagte er scherzend, »dem Beispiele jenes Königs folgen, dessen Namen du, als die Gelehrtere, besser weißt als ich, jenes Königs, der so pünktlich die Morgenstunden ausnutzte, daß er zu sagen pflegte: Wehe dem Lande, dessen Fürst lange schläft. Doch nein, ich störe dich nicht so frühe, um zu scherzen. Siehe, ich habe die ganze Nacht gar nicht geschlafen, weil mir deine Geschichte von dem Johannes Schütz nicht aus dem Kopf gehen wollte.«

»Und was hat das Kriegsgericht gestern über den Pfarrer entschieden?« unterbrach ihn die Gräfin.

»Es ist kein Kriegsgericht abgehalten worden. Niesener sitzt im Turm. Ich will mir reifer erwägen, wie die Sache anzufassen ist. Gestern ließen mich deine Worte kalt, aber heute nacht hat mir der Gedanke [298] an die voreiligen Richter keine Ruhe gegeben, daß ich bald bei dem Pfarrer, bald bei dem schuldlos Geköpften war. Wie ist doch der Mensch ein anderer am Tage und in der Nacht, wahrlich, nicht minder als blendendes Sonnenlicht vom tiefsten Dunkel ist derselbe Mann unterschieden nach dem Stand der Gestirne.«

»Es ist nicht der Stand der Gestirne, der dich zum Nachdenken gebracht!« rief die Gräfin begeistert. »Gott ist es, der in der Finsternis dein Herz erleuchtet hat. O merke auf dieses Licht!«

Der Graf wurde weich, wie er es leicht werden konnte. »Ich habe niemand an diesem Hofe, der mir die Wahrheit sagt außer dir. So sprich auch jetzt aus, was du denkst. Was würdest du thun an meiner Stelle? Wie wolltest du den Verräter entdecken? Wie ihn bestrafen? Rasch entdecken, rasch bestrafen! Denn wo hier die rächende Gerechtigkeit nicht einschlägt wie ein Blitz, ist alle spätere Strafe ein eitles Spiel.«

»Gibt es keine weiteren Verdachtsgründe gegen Niesener, als die du gestern ausgesprochen?« fragte die Gräfin.

»Keine!«

»So laß ihn frei auf sein Ehrenwort, nach Rennerod zurückzukehren, dort stille zu sitzen und den Ort auf keine Meile Wegs zu verlassen, bis man ihn ruft, sich dem Gericht zu stellen.«

»Das geht nicht an!« rief der Graf fast erzürnt über den Vorschlag. »Und unterdessen sollen wir langsam der Sache nachspüren lassen, während der Fuchs entschlüpfen wird! Niesener wird seine Spießgesellen [299] inzwischen warnen, sie werden sich verabreden, komplottieren –«

»Niesener hat keine Spießgesellen,« fiel die Gräfin ein, »er komplottiert auch nicht. Auf sein Wort wird er sich ruhig halten und mit keinem Menschen von der Sache reden. Dafür bürge ich.«

»Ei, du scheinst ja diesen Pfarrer sehr genau zu kennen, daß du in einer solchen Kapitalsache so frischweg für ihn Bürge stehst. Hättest du mir die fatale Geschichte von Johannes Schütze nicht erzählt, ich wüßte, was ich thäte! Niesener freilassen auf Ehrenwort! Nein, das geht nicht an.« Damit wollte er das Gemach verlassen.

»Warum wundert man sich, daß die Mächtigsten am schwersten in den Himmel kommen,« rief die Gräfin aus, »da sie so schwer auf die Stimme eines ehrlichen, ungefärbten Mahners hören?«

Der Graf schaute sein Weib fast verwundert an; dann entfernte er sich schweigend.

Doch indem er ging, war schon bei ihm beschlossen, den Pfarrer auf Ehrenwort nach Rennerod zu schicken; denn für die nächste Nacht wenigstens wollte er einen gesunden Schlaf haben. Aber wie es bei unselbständigen Menschen gewöhnlich ist, obgleich er that, wie seine Frau ihm anempfohlen, würde er doch ums Leben nicht ihr dies augenblicklich zugestanden haben. Er wollte sich den Schein geben, als handle er niemals nach fremden Ratschlägen, sondern nur nach eigenem Ermessen. So hatte ihn gestern bei Tafel die Erzählung seiner Frau augenblicklich gepackt, obgleich er es heute leugnete, und die Bemerkung über den Tag- [300] und Nachtmenschen war nur eine glatt gedrehte Phrase, ein Epigramm, womit er die Bewegung seines Herzens maskieren wollte.

Niesener verpfändete sein Wort und ging nach Hause. Die furchtbare Bitterkeit, die ihn durchdrang über die unwürdige Behandlung, machte ihn so verschlossen, daß er nirgends ein Wort zu seiner Verteidigung sprach. Ja nur mit Mühe und stoßweise brachte er es über sich, den Hergang seiner Frau zu erzählen. Sie war ein schlichtes, festes Weib, ohne hervorragende Eigenschaften, auf dem Lande großgewachsen, etwas ungefügig, aber mit praktischem Blicke und rühriger Thatkraft gerüstet. Sie nahm die schlimme Kunde nicht ohne Zittern, doch mit Fassung hin, richtete die Haushaltung, die ohnedies in letzter Zeit schon höchst knapp gehalten war, noch knapper ein, so daß sie noch etwa ein Vierteljahr zusehen konnten. Denn von Einkünften war natürlich längst nicht mehr die Rede, und hätten nicht alte Freunde und gute Nachbarn heimlich bald einen Korb voll Eier, bald Gemüse, ein Säckchen Getreide, einen Schinken und ähnliche Dinge in die Küche der Pfarrerin gestellt, so würde sie auch jetzt schon schwerlich ausgekommen sein.

Der Pfarrer hielt sein Wort aufs strengste. Er blieb auf seinem Pathmos, wie er's nannte, und machte sich aus übertriebener Gewissenhaftigkeit sein Haus zu einem Gefängnisse. Er wagte nicht eine halbe Stunde Wegs weit in der Gemarkung des Orts umherzuspazieren. Keine Silbe ging von seinen Lippen über die schwebende Untersuchung. Den letzten kleinen Rest[301] häuslicher Seelsorge bei einigen heimlichen Reformierten, die er vordem noch geübt, gab er ganz auf. Den ganzen Tag saß er über der Bibel und den theologischen Lehr- und Streitschriften, die seine kleine Bibliothek bildeten.

Das ging so mehrere Wochen.

Da kam eines Tags der gräfliche Rat Sprenger im Sturm angeritten an das ärmliche Bauernhaus, wo Niesener jetzt wohnte. Eilfertig, daß Mann und Frau erschraken, trat er in die Stube, kaum grüßend.

»Ich wollte Euch im Vorübergehen nur eine Warnung und einen guten Rat ins Haus werfen. Niesener, macht Euch aus dem Staube! Verlaßt diesen Ort heute noch, säumt keine Stunde, oder es wird Euch übel ergehen.«

»Ich habe dem Grafen das Wort gegeben, hier zu bleiben; ich werde mich dem Gericht stellen.«

»Ach, Ihr mißversteht mich, Pfarrer. Um den Grafen und die Untersuchung handelt es sich jetzt gar nicht. Ich darf nicht alles aussprechen, was ich weiß. Aber nur das eine sage ich Euch als Euer wahrer Freund, verlaßt Rennerod zur Stunde und geht an einen sicheren Ort, geht meinetwegen nach Hadamar und stellt Euch unter den Schutz der Herrschaften selber; dann habt Ihr ja Euer Wort dem Sinn und Wesen nach gehalten.«

»Und dennoch würde ich es brechen,« rief der unbeugsame Pfarrer, »denn ich habe geschworen, in Rennerod zu bleiben.«

Die Pfarrerin drang unter Thränen in den Rat, [302] daß er die drohende Gefahr nur um etwas näher bezeichnen möge.

»Habt Ihr nicht gehört, Niesener, wie ich neulich an dem unseligen Tag von der Pfaffenhetze im Braunfelsischen erzählte? Der kaiserliche Kommandant stiehlt den Reformierten ihren Pfarrer aus dem Bett, dafür stehlen ihm die Holländer seinen Prior aus der Klosterzelle – oder vielleicht auch aus dem Klosterkeller, vom Weihrauchfaß oder vom Weinfaß hinweg – gleichviel. Meint Ihr denn, die benachbarten katholischen Herren, die der holländische Oberst in Soest auch bereits mit dem Jesuitenfang zu molestieren beginnt, könnten nicht gleichfalls auf den Gedanken kommen, so ein Dutzend reformierte Pfarrer aus der Nachbarschaft als Repressalie wegzufangen? Und da wäret Ihr der erste, Niesener. Besonders den Kurkölnern sitzet Ihr gar bequem hier in Rennerod; die brauchen nur die Hand auszustrecken, so haben sie Euch. Und da ich mein Geheimnis nun doch so weit ausgeplaudert, so mag es auch ganz heraus; denn wahrlich, die Gelassenheit, womit Ihr das alles anhöret – ein anderer wäre schon davongelaufen, ehe ich nur ausgesprochen – könnte einen Heiligen zum Fluchen bringen. Ihr stehet auf der Liste, Niesener, obenan auf der Liste der Kölnischen, und wenn Ihr Euch nicht gleich aus dem Staube macht, dann sitzt Ihr in ein paar Tagen in Köln im Turm, und man wird das doppelte Lösegeld für Euch fordern wie für den Pfarrer von Dauborn. Frau Pfarrerin, redet Eurem Manne zu! Es geht Euch hier freilich noch so leidlich wohl« der Rat schaute [303] bei diesen Worten mit einem etwas verdächtigen Blick in der kahlen Stube umher – »und wenn Ihr so ins Weite hinauszögert, möchte es Euch mit den Kindern wohl anfangs etwas schlechter gehen. Aber besser Kraut und Rüben in Ruh', als einen gemästeten Ochsen in Unruh'.«

»Ach, lieber Herr Rat,« entgegnete die Pfarrerin, »von gemästeten Ochsen haben wir seit Jahr und Tag nichts mehr geschmeckt und essen selbst Kraut und Rüben in Unruh'. Aber wenn mein Mann sich einmal einen Gedanken fest in den Kopf gesetzt hat, den könnt Ihr ihm nicht herausbringen, und den bringe ich ihm auch nicht heraus. Doch seht, er will reden.«

»Ich sitze hier, weil ich meinem Herrn das Wort darauf gegeben,« sprach der Pfarrer ruhig und fest. »Halte ich mein Wort, dann ist auch der Graf durch seine Ehre verbunden, mich zu schützen. Denn nur weil ich ihm und meinem Worte getreu, bestehe ich die Gefahr. Meldet dem Grafen, was Ihr uns eben erzählt, und er wird sich in seinem Gewissen verpflichtet fühlen, mich nach Hadamar unter seinen persönlichen Schutz zu rufen, oder mir eine Bedeckung herauszusenden, wie er sie ja auch seinen Jesuiten mitgibt. Sollten mich aber die Kölnischen inzwischen hinwegführen, dann wird der Graf mich, seinen Gefangenen, alsbald zurückfordern, und die eigenen Bundesgenossen werden ihm dies wahrlich nicht abschlagen und kein Lösegeld begehren.«

»O, Pfarrer, wie seid Ihr ein großer Moralist und ein kleiner Politiker!« rief der Rat. »Habt Ihr denn ganz vergessen, wie oft Ihr den Grafen erzürntet?[304] Kleine Wunden und große Herren muß man nicht gering achten. Wenn Ihr zum Teufel fahrt, gleichviel wie, – so oder so – dem Grafen wird's eben recht sein. Doch gesetzt, er sei in dem Punkte Eures Ehrenwortes ein Moralist wie Ihr – es ist möglich; wer kann den wetterwendischen Herrn durchschauen? – meint Ihr dann, daß er die Macht hätte, Euch zu helfen? Die Kölner und Trierer und die Herren in Wien zweifeln fortwährend an seinem rechten katholischen Eifer. Wenn er nun gar einem ketzerischen Pfarrer seine Reiter zur Bedeckung stellte, das wäre ärger, als wenn er sich von Euch eine Predigt in der Schloßkirche halten ließe statt zum Pater Prack zur Messe zu gehen. Haben Euch aber die Kölnischen vollends in den Klauen, dann kann der Graf Euch nicht wieder herausreißen. Das hieße abermals Oel in das Feuer des Mißtrauens gießen. Ihr meint wohl, als Günstling des Kaisers sei er mächtig auch neben dem Kurfürsten! O, wie irret Ihr Euch. Lauter wohlriechender Dunst ist die kaiserliche Gunst für den Neubekehrten. Freilich, der Graf thut gegenüber den anderen nassauischen Grafen, als ob er gewaltig an Macht gewonnen habe. Ach ja, er ist ein gar kluger Herr. Aber Ihr wißt, wer in den Zähnen stochert, hat darum nicht immer Fleisch gegessen. Ich sage Euch, nicht die Macht hat der Graf, Euch den kurkölnischen Dragonern zu entreißen, außer er löste Euch auf den Heller aus, und zwar aus seinem eigenen Geldbeutel, und das gäbe erst den größten Skandal bei der ganzen katholischen Klerisei. Jetzt habe ich gesprochen. Bedenkt es wohl[305] und rasch. Ich muß fort. Heute noch sehe ich Euch in Hadamar, oder Ihr sitzt übermorgen im Baienturm zu Köln.«

Es geschah, was vorauszusehen war. Der Pfarrer blieb in Rennerod und bestellte sein Haus im Laufe des Tages. Am Abend kamen zwölf kurkölnische Dragoner. Der Pfarrer protestierte feierlich gegen jede Hinwegführung, da er bereits auf Ehrenwort Gefangener des Grafen von Hadamar hier in Rennerod sei. Die rohesten unter den Soldaten wollten ihm ins Gesicht lachen, konnten aber doch nicht recht, so würdig erschien ihnen der Mann. Da er nicht gutwillig mitgehen wollte, so machten sie kurzen Prozeß, banden ihm die Hände, trugen ihn aufs Pferd, ein Dragoner schwang sich hinter ihm in den Sattel und fort ging's im scharfen Trab über den Westerwald auf Köln zu.

Des anderen Morgens wanderte Nieseners Frau in aller Frühe nach Hadamar, niedergeschlagen, aber nicht hoffnungslos. Die feste Zuversicht ihres Mannes auf die Hilfe des Grafen hatte sich auch ihr mitgeteilt. Niesener hatte sie am Nachmittag genau unterrichtet, wie sie im schlimmsten Falle, der eben eingetreten war, die Sache vor die Herrschaften bringen solle, er hatte ihr namentlich das Hervorheben aller der Punkte, die er dem Rat Sprenger geltend gemacht, aufs schärfste eingeprägt, und ihr anempfohlen, nicht sogleich zum Grafen, sondern zuerst zur Gräfin zu gehen.

Die Frau bewahrte jedes Wort, jeden Wink ihres Mannes in treuem Herzen und trat so, beklommen zwar, doch in sicherer Haltung vor die hohe Dame; denn sie wußte sich wohlgerüstet für die beste Sache.

[306] Die Gräfin nahm den Vortrag des armen Weibes mild und gnädig entgegen, und versprach, denselben ihrem Gemahl getreulich zu wiederholen und nach Kräften zu Gunsten des unglücklichen Pfarrers zu wirken. Zugleich lud sie die Pfarrerin ein, bis zur Rückkehr ihres Mannes mit den Kindern nach Hadamar hinüberzuziehen, dann wolle sie mit ihrem Schutz und ihrer Hilfe der verwaisten Familie gerne täglich nahe sein.

Getröstet und hoffnungsmutig ging die Pfarrersfrau, rascheren Schrittes, als sie gekommen, den beschwerlichen Weg nach Rennerod zurück, entschlossen, der Aufforderung der Gräfin in den nächsten Tagen zu entsprechen und sich mit ihrer kleinen Armut nach Hadamar zu wenden.

Unterdessen hatte die Gräfin ihrem Gemahl die Geschichte von dem Raub des Pfarrers Niesener in beweglichen Worten vorgetragen. Allein sie fand ihn gar nicht überrascht von der Nachricht.

»Der Pfarrer ist ein Esel,« rief er, zum großen Erstaunen der Gräfin, die ihm das Herz tief gerührt zu haben glaubte. »Eine solche starre Buchstabenauslegung des Ehrenwortes kann denn doch auch nur in dem Gehirn eines reformierten Pfaffen wachsen. Habe ich nicht selbst gestern morgen noch den Rat Sprenger im Galopp nach Rennerod gejagt, daß er dem Pfarrer begreiflich mache, er möge nach Hadamar kommen, weil ich wußte, die Kölnischen würden ihn heute nacht aufheben?«

»Und hat der Rat in deinem Namen diese Aufforderung dem Pfarrer überbracht?«

[307] »Nein, behüte Gott! Nur so von ungefähr und wie aus eigenem Antrieb sollte er den Pfarrer warnen. Gerade darauf hatte Pater Prack am entschiedensten gedrungen,« entgegnete der Graf. Doch kaum war der »Pater Prack« seinen Lippen entschlüpft, so fuhr er zusammen, als habe er sich den Mund verbrannt, und setzte hinzu: »Es war zugleich das Ergebnis meiner reifsten Erwägungen, daß nur eine solche namenlose Warnung, eine Mahnung ohne Unterschrift, nach Rennerod gehen dürfe, wenn ich selber mich nicht den schlimmsten persönlichen Mißdeutungen aussetzen wollte.«

»Und wenn nun der Pfarrer auf die Mahnung ohne Unterschrift nach Hadamar gekommen wäre, hätte dann nicht Pater Prack vielleicht weiter geraten, ihn wegen Wortbruchs zur Verantwortung zu ziehen?«

Der Graf fuhr zornig auf. »Diese Frage, Ursula, hätte ich nicht von dir erwartet. Ich taste dir deinen Hofprediger nicht an, laß du mir auch meinen Jesuiten ungeschoren.«

Die Gräfin erschrak über ihre eigene Unvorsichtigkeit, biß die Lippen zusammen und schwieg. Jede weitere Rede vom Pfarrer Niesener war für heute abgeschnitten.

Doch am anderen Morgen wußte die Unermüdliche auch dieses mißliebige Thema ohne Zwang und ganz wie von ungefähr wieder in Anregung zu bringen. Sie besaß in hohem Grade jene nicht zu erlernende natürliche Glücksgabe geistreicher Frauen, das Gespräch zu lenken, ohne daß jemand die leitende Hand sah.

Der Graf hatte sich jetzt eine sehr entschiedene Meinung über die Sache des Pfarrers gebildet. Ohne[308] Zweifel hatte er inzwischen mit den Jesuiten Rats darüber gepflogen. Im ganzen Land, sagte er, stehe der Glaube fest, Niesener sei der Mann, der die Priester an die Holländer verraten. Auch in Köln sei man dieser Ansicht und werde dort wohl ganz bestimmte Gründe dafür haben. Lediglich deshalb habe der Kurfürst den Pfarrer aufheben lassen. Wenn Niesener schuldlos, dann werde er sich in Köln reinigen, und alles sei abgemacht. Diese Wegführung sei also gar nichts anderes, als daß der Kurfürst von Köln die nachbarliche Freundschaft gehabt, ihm eine lästige Untersuchung vom Halse zu nehmen. Man müsse nun die Sache ihren Gang gehen lassen und Gott danken, daß jetzt in Köln entschieden werde, was man sonst in Hadamar hätte entscheiden müssen.

Die Gräfin war nicht wenig erstaunt über diese Rede. »Bist du denn ein Unterthan des Kurfürsten von Köln geworden,« rief sie, »oder ist er dein Gerichtsherr, daß er vor seinen Richterstuhl zieht, was vor den deinigen gehört? Bei Gott! als selbständiger deutscher Reichsfürst würde ich's nicht dulden, daß ein anderer den schlechtesten Strauchdieb aufhinge, der mir gehört und den ich allein aufzuhängen befugt bin. Wie willst du in einem so wichtigen Fall aus bloßer Bequemlichkeit deine köstlichsten Fürstenrechte vergeben? Steht die Sache, wie du sagst, dann fordert deine Fürstenehre, daß du auf augenblickliche Zurückführung des Pfarrers dringst. Er war dein Gefangener. Auf den Schutz bauend, den jeder Eingekerkerte von seinem Kerkermeister fordern muß, blieb er in Rennerod. Um [309] das Wort, das er dir gegeben, nicht zu brechen, hielt er aus, obgleich er die Gefahr kannte; er vertraute auf die Ehre und die Macht seines Grafen und Herrn. Zwiefach gefährdet ist deine Fürstenehre, wenn du ihn dem Kölner überlassest. War er gewissenhaft gegen dich bis zum äußersten, so soll der Fürst nicht zurückstehen an Gewissenhaftigkeit gegen den Unterthan!«

Der Graf ging unruhig auf und ab. »Dieser Niesener schafft mir Verdruß, wo ich nur mit ihm in Berührung komme. Zum erstenmal in meinem Leben war ich gestern gerührt über des Mannes Unglück. Ich will mein Bestes thun, ihm einmal eine Gnade erweisen, ich lasse ihn warnen, herüberrufen – Sprenger hat mir meinen Hengst beinahe zu Schanden geritten – und nun gerade ist der Kerl ein Narr, bleibt stecken in seiner Zwinglischen Moral, stürzt sich ins Elend und mich in neuen Verdruß!«

Da sagte die Gräfin sehr ernst: »Es ist nicht bloßdeine Ehre, die hier befleckt wird, sondern auch die meinige. Ich habe dir geraten zu dieser freien Haft in Rennerod, weil ich Nieseners sittliche Strenge kannte. Eben diese seine Strenge hat uns Pflichten aufgeladen, die wir gegen ihn erfüllen müssen, wie er die seinigen gegen uns erfüllt hat. Ich bin mit haftbar dabei. Bleibst du müßig, dann werde ich wenigstens meine Ehre zu retten suchen. Ich werde meinen letzten Schmuck verkaufen, um Lösegeld für Niesener zu gewinnen. Bei Gott, ich werde ihn loskaufen, so wahr ich Gräfin von Hadamar bin, so wahr ich in Ehre und Treue hinter keinem Manne zurückstehe!«

[310] »Mache mir nicht zu warm,« rief der Graf, »oder du verdirbst alles. Ich will einen Pakt mit dir schließen. Den Pfarrer darfst du nie und nimmer loskaufen: das ist eine Privateinmischung in Staatsangelegenheiten, die ich auch von meiner Frau nicht dulde. Also, höre den Pakt! Ist Niesener unschuldig, kannst du mir seine Unschuld erweisen und vor allem den wahren Verräter ausfinden, dann werde ich den Pfarrer von den Kölnischen zurückfordern – ohne Lösegeld – und sollte ich selbst darum den Fuß in den Steigbügel setzen. So weit gehe ich und keinen Schritt weiter. Hier meine Hand darauf! Und nun genug von dem Pfarrer. Der Teufelskerl macht mir mehr zu schaffen, als meine übrigen Unterthanen alle miteinander.«

4. Kapitel

Viertes Kapitel.

Das Morgenrot ging in tiefem Purpur auf über den flachen Bergen des Elbgrundes. Die Gräfin saß im Erker und schaute in die rote Glut und wie im Traum rannen ihr die Farbentöne des unheimlich grell leuchtenden Himmels zu allerlei abenteuerlichen Bildern zusammen, daß sie sich die Augen rieb und sich fast schämte, kaum erst erwacht, schon wieder zu träumen. Das Sinnenspiel des Traumes verwandelte sich ihr dann in mystisches Spinnen und Weben, in ein träumendes Grübeln über die Dinge jener Welt, und oftmals blickte sie in den immer goldener glänzenden Lichtschein und sprach dabei vor sich hin Verse von dem himmlischen Morgenrot und dem Sonnenaufgang [311] über dem neuen Jerusalem, wie sie aus den mystischen Dichtern des ersten Jahrhunderts der protestantischen Kirche in Fülle ihr in den Sinn kamen. Schwachen Leibes, aber um so erregter im Gemüte – denn sie hoffte binnen kurzem wieder Mutter zu werden – ergab sie sich neuerdings immer häufiger solch dämmerigem Dichten und Klingen der religiösen Phantasie.

Ein heftiger innerer Kampf erwuchs ihr heute aus ihrem beschaulichen Sinnen. Sie fragte sich, ob denn nicht auch jetzt noch, wie in alten heiligen Zeiten, Gott mit unmittelbarer Eingebung den brünstig Betenden begnade, wenn er so tief und fest in das göttliche Wesen zu schauen versuche, wie sie eben in das schon fast blendende Morgenrot, das ihr ein Sinnbild des göttlichen Lichtes war? Sie spann die Frage weiter und verband dieselbe mit den Gedanken, von denen sie seit gestern, da der Graf den Pakt wegen Nieseners mit ihr geschlossen, unablässig verfolgt war. Sollte Gott nicht hier, wo alle Menschenweisheit zu Schanden zu werden drohte, unmittelbar ein Zeichen geben, daß die Unschuld des Verfolgten an den Tag käme? Und wenn sie selber das schwache Werkzeug wäre, das Gott sich zu diesem Gnadenwerk erlesen?

Die ersten Strahlen, der oberste schmale, lichtsprühende Rand der Sonne, blitzten über den Bergen auf, als die Gräfin eben am tiefsten in diesen Gedanken versunken war. Und es ward Licht! Von den Bergen ergoß sich der goldene Strom ins Thal, und auch in dem Geiste der Gräfin ging die Sonne auf. Es däuchte ihr plötzlich ein Frevel, daß sie sich [312] ganz besonders würdig gehalten eines unmittelbaren Verkehrs mit Gott, ein Frevel, daß sie da schon die letzte Hilfe eines göttlichen Zeichens fordere, wo der Eifer und Scharfsinn menschlichen Forschens noch lange nicht erschöpft war.

Sie blickte hinab auf das rauschende Flüßchen, auf die friedlichen, immer noch leidlich wohl erhaltenen Häuser der Stadt, aus deren Schornsteinen eben der erste Rauch in die reine Luft aufwirbelte, sie gedachte des Segens, den Gott ihrem und ihres Gemahls frommem und klugem Walten geschenkt, daß sie die Stadt und die Grafschaft bis dahin in so erträglichem Zustande hatten erhalten können, während der Krieg schon alle anderen Herrschaften ringsum in Grund und Boden hinein verwüstet hatte; da fand ihr Geist auch vollends den scharfen Blick für die Dinge dieser Welt wieder. Und was ihr vorhin durch unmittelbare göttliche Eingebung nicht gekommen war, das fuhr ihr jetzt bei kurzem, klarem Besinnen mit einem Schlage wie ein Blitz in die Seele. Sie jubelte auf im stillen. Sie hatte einen Haltepunkt gefunden, wo sie sicherlich erfolgreiche Forschungen über den Verräter der katholischen Priester anknüpfen konnte.

Kaum konnte die Gräfin die späteren Morgenstunden erwarten, um sogleich ihre Untersuchung zu beginnen.

Sie ließ den Rat Sprenger rufen.

Der alte Diplomat, der gerade nicht sonderlich in Gunsten bei seiner Herrin stand, war etwas betroffen von dieser Citation zu so ungewöhnlicher Stunde. [313] Indessen wußte er die scharfen Falten seines spitzen Fuchsgesichtes doch so glatt und freundlich zu machen, daß ihm kein Mensch die innere Beklommenheit angemerkt hätte.

Die Gräfin hieß ihn niedersitzen; denn sie wollte viel und gründlich mit ihm reden.

Sie begann, dem Rat ganz einfach und ehrlich die gegenwärtige Lage der Niesenerschen Angelegenheit darzulegen. Sprenger wußte bereits alles, was sie ihm sagte; allein die Klarheit und Ordnung, in welcher der wunderbar helle Geist dieser Frau die Thatsachen übersichtlich zusammenfaßte, verglich und in ihren Motiven verknüpfte, machte doch einen sichtlichen Eindruck auf den zähen Graukopf. Jetzt, wo diese Begebenheiten, die er bisher nur vereinzelt kritisiert, in ihrem inneren Zusammenhang vor ihm aufwuchsen, trat ihm auch die sittliche Würde Nieseners so imponierend entgegen, daß es ihn inwendig schüttelte, daß es ihm ward, als müsse er sich vor dem Pfarrer beugen. Als die Gräfin mit ihrem Rückblick auf die Thatsachen zu Ende gekommen, heftete sie plötzlich ihr großes schwarzes Auge durchdringend auf den Rat. »So stehen die Sachen. Ich kenne nur einen Menschen, der noch mehr davon weiß, der namentlich über die Wegführung der Priester genauer unterrichtet ist, und dieser einzige seid Ihr

Dies sprach sie mit einer Bestimmtheit, daß der Angeredete zusammenfuhr und vor ihrem durchdringenden Blicke die Augen niederschlug, als habe er in die Sonne gesehen. »Ich bin ein Mann der Schreibstube,« [314] sagte er ausweichend. »Mein gnädigster Herr betraut mich mit seinen Geheimnissen und ich bewahre sie; eigene Geheimnisse habe ich keine. Ich komme wohl viel im Lande umher, aber jedermann verschließt sich vor dem gräflichen Diener –«

Die Gräfin unterbrach ihn mit fast drohender Strenge. »Sprenger, in diesem Tone reden wir nicht miteinander. Ihr wißt näheres über die Wegführung der Priester. Ich weiß es. Ihr selbst habt Euch verraten, als der Graf bei Tafel die erste Nachricht empfing. Kaum hörtet Ihr zu, als er die Thatsache erzählte. Denn Ihr wußtet sie schon, Ihr wußtet mehr, als in dem Briefe stand. Wie hätte sonst unser Rat Sprenger die Ohren gespitzt bei einer solchen Neuigkeit! Ihr wußtet um den Vorgang und habt Euerem Herrn keine Meldung gemacht. Ihr habt Euch damals übel mit einem Witze herausgeholfen. Warum behieltet Ihr ein Geheimnis, was zuerst mitzuteilen Euch Gunst gewonnen hätte? Ich sage ein schweres Wort, Sprenger, aber ich sage es nach redlicher Prüfung vor Gott aus voller Ueberzeugung: Ihr schwiegt, weil Ihr selber mit verstrickt seid in diese Geschichte! Ihr habt ja überall die Hand im Spiel, warum nicht auch hier? Blickt mich an! Schaut mir offen ins Auge! Seht! Ihr seid ein so gewürfelter Diplomat und könnt es nicht! Es soll Euch kein Leids geschehen, bei meinem fürstlichen Wort! Bekennt offen, damit die Unschuld nicht länger verfolgt werde, damit meine Seele Ruhe gewinne und – Sprenger – auch die Eure.«

[315] Der Rat erwiderte gefaßt, kaum merklich erregter als sonst: »Ich habe nichts zu bekennen. Spannt mich auf die Folter: ich kann kein Wort weiter berichten, als was Ihr selber schon erzählt habt.«

»Ihr bekennt jetzt nicht zum erstenmal, Sprenger, Ihr habt schon bekannt, Ihr habt Euch schon verraten!« rief die Gräfin und die schwache Stimme der kranken Frau war furchtbar anzuhören, wie des gewaltigsten Richters. »Habt Ihr Euch damals nicht schon als einen Wissenden verraten, da Ihr, aus Eurer Achtlosigkeit erweckt, von dem Raub des Jesuiten Holthausen Kunde gabt, die niemand wußte, die niemand erfragt hatte? Seht, damals hat Euch der Teufel einen Strick gelegt, und trotz all Eurer Schlauheithabt Ihr damals bekannt, was, wie Ihr jetzt sagt, Euch selbst die Folter nicht herauspressen soll.«

Ruhig erwiderte Sprenger: »Meine hohe Herrschaft kann meinen Kopf fordern und ich muß ihn hingeben; aber keine Silbe einer Antwort werdet Ihr mir abzwingen mit einer solchen Inquisition.«

Die Gräfin schwieg. Sie fühlte, daß es auf diesem Wege nicht gehe. Mit tiefem innerem Widerwillen schlug sie andere Saiten an. Denn wie sie eben gesprochen, das war der Ton, wie er ihr jetzt so recht von Herzen ging. Sie bezwang sich um der Sache willen.

»Ihr seid ein alter Freund Nieseners?« fragte sie ruhiger und milder.

»Wir waren Schulgenossen und haben durchs ganze Leben zusammengehalten.«

[316] »Und erkennt Ihr es nicht als eine Pflicht der Freundschaft, mit mir gemeine Sache zu machen, daß ich siegreich für Euren Freund aus diesem Kampf wider seine übermächtigen Gegner hervorgehe?«

»Nein! gnädigste Gräfin. Ich habe für ihn gethan, was Freundespflicht war. Ich habe ihn gewarnt. Nun der phantastische Moralist aus reiner Grille seinen Kopf freiwillig in die Schlinge gesteckt, halte ich mich nicht verpflichtet, aus reiner Freundschaft den meinigen auch noch dazu zu stecken.«

Die Gräfin überlief es kalt. Es dauerte eine Weile, bis sie das Gespräch fortsetzen konnte.

»Irre ich nicht, Sprenger, so seid Ihr Protestant?«

»Das ist eine kitzlige Frage. Kein Mensch als Ihr, gestrenge Herrin, würde eine runde und klare Antwort darauf aus mir herausbringen. Es sind wunderliche Zeiten. Die beiden Religionen mengen sich im Lande noch immer stark durcheinander. Nichts als Kraut und Rüben, trotz des katholischen Eifers unseres gnädigsten Herrn. Da mache ich nun das Ding mit, so lange es geht. Meine Religion hat sich auch noch nicht recht abgeklärt, gerade wie die des hadamarischen Landes. Verbreitete ich nicht einen starken katholischen Geruch um mich, so hätten mich ja die Patres Jesuiten längst aus dem Kabinett Seiner gräflichen Gnaden hinausgebissen. Aber um nun auch eine runde und klare Antwort zu geben, Euch – und Euch allein: – eigentlich bin ich ein Reformierter. Noch nie habe ich eine Messe besucht. Und vermutlich werde ich auch für die nächste Zeit reformiert bleiben. [317] Man hat doch auch seine Ueberzeugungen und so eine gewisse Anhänglichkeit an den ererbten Glauben, wie an einen alten Sessel, einen alten Tisch aus dem väterlichen Hause. Das Gewohnte ist immer das Bequemste, namentlich für ältere Leute.«

Die Gräfin hatte den Rat um seine Religion befragt, weil sie voraussetzte, daß er Protestant sei, und ihn beschwören wollte, um des bedrängten Glaubens willen den Glaubensgenossen wenigstens retten zu helfen, wenn er den Freund nicht retten wolle. Allein als sie jenes wunderliche Bekenntnis vernommen, wandte sie sich voll Abscheu hinweg. Nach ihrer strengen Auffassung hätte eine solche Lästerung den Tod verdient, so gut wie Raub und Mord, und sie wußte nicht, was schrecklicher sei, solche Glaubenslosigkeit selber oder der leichtfertig spöttische Ton, in welchem der Rat sein Bekenntnis abgelegt hatte. Diese Vortragsweise, die oft zur übermütigsten Satire ausartete, war ihm aber ganz zur anderen Natur geworden; denn durch den leichten Spott, den er über alles ausgoß, hatte Sprenger zuerst des Grafen Gunst gewonnen, der vor allen Dingen heiter angeregt sein wollte. Er durfte sich zuletzt auch das Keckste herausnehmen, wenn es nur witzig war und etwas zu lachen gab. Bloß in Sachen der Religion mußte er seinem Spott und Witz den festesten Zaum anlegen. Hier verstand der Graf keinen Spaß, namentlich seit der Bekehrungseifer über ihn gekommen. Darum erschrak der Rat doch ein wenig, als er seine Rede beendet und den üblen Eindruck auf die noch viel strengere Gräfin wahrnahm. Allein die [318] Worte waren einmal heraus, kein Mensch konnte sie wieder einfangen, und Sprenger beruhigte sich nach seiner Weise sehr rasch.

Nicht so die Gräfin. Sie konnte das Gespräch nicht weiterführen. Doch trieb sie's, noch ein ernstes Wort dem verlorenen Manne zu sagen.

»Ihr habt nicht gestanden um der Wahrheit, nicht um der Gerechtigkeit willen, Ihr wollt Euerem Freunde nicht helfen um der Freundschaft willen, und wenn man bei Euerem Bekenntnis Euch auffordern wollte, dem Glaubensgenossen beizuspringen, so würde das Hohn und Frevel sein. Aber sehet Euch für! Ihr werdet in dieser Verstocktheit nicht beharren. Das Gewissen ist wie das Auge, das kleinste Stäubchen, das hineinfliegt, schmerzt und brennt wie eine große Wunde, und wir gewinnen keine Ruhe, bis die Ursache des Uebels wieder entfernt ist. Ihr werdet den großen Staub auf Euerem Gewissen bald fühlen, Sprenger, ja Ihr fühlt ihn vielleicht jetzt schon. Kommt wieder zu mir, wenn Ihr ihn empfindet; obgleich wir jetzt in Groll und Bitterkeit scheiden, will ich Euch doch in Liebe wieder aufnehmen.«

Dem Rat zuckte es seltsam um die Lippen. »Ihr seid eine Frau ohnegleichen!« rief er – und es war, als ob nun ein ganz anderer spreche. – »Ich kann Euch heute nichts Weiteres sagen, und wenn Ihr noch so gewaltig an meinem Gewissen pocht. Aber Ihr sollt alles erfahren, wenn die Zeit gekommen ist – in den nächsten Tagen schon. Ich habe schon manchem Widerstand geleistet, der sich dessen nicht versah; [319] Ihr aber biegt und hämmert auch den härtesten Gesellen weich, wie der Schmied das feurige Eisen.«

»Morgen sehen wir uns wieder!« rief die Gräfin.

Der Rat verbeugte sich schweigend und ging.

Der nächste Morgen kam. Der Rat ward ängstlich im Gemache der Gräfin erwartet; er kam nicht. Man sandte nach ihm; er war nirgends zu finden. Der Graf vermißte seinen vertrauten Diener bei der Tafel. Man geriet in Unruhe; man ließ nach Sprenger suchen. Alles blieb erfolglos. Die nächsten Tage vergingen. Der gräfliche Rat war spurlos verschwunden. Auf seinem Zimmer fand man alles wohlgeordnet wie gewöhnlich. Er war in früher Morgenstunde ausgeritten in den Wald gegen die westliche Grenze der Grafschaft. Seitdem hatte ihn niemand wiedergesehen. Die schlimmsten Gerüchte kreuzten sich. Der alte Mann sollte da und dort verunglückt sein, erschlagen; am wahrscheinlichsten war es noch, daß er gleich den Priestern weggeführt worden war von einem holländischen Streifcorps.

Den größten Schrecken erregte Sprengers Verschwinden bei der Gräfin; sie harrte auf jede Kunde über den Verkommenen, wie wenn er ihr Sohn gewesen wäre. Sprenger war der einzige, der neues Licht in die Niesenersche Angelegenheit bringen konnte; er war mürbe geworden, er hatte es zugesagt – nun war mit einemmal jede Spur von ihm verloren und damit auch für die Gräfin jede Hoffnung, daß sie von ihrem Gemahl die Zurückforderung des geraubten Pfarrers jemals zu Recht begehren könne.

[320] Nach fünf in bangem Warten verschwundenen Tagen begann die Gräfin in tiefe Betrübnis zu versinken; nur religiöser Trost vermochte sie noch aufzurichten.

Da brachte ein reitender Bote aus Hachenburg einen Brief an Gräfin Ursula von Nassau-Hadamar.

Er lautete wie folgt:


»Eure hochgräflichen Gnaden habe ich, da Sie am letzten Mittwoch so heftig in mich drangen, Aufschlüsse versprochen über die Sache des Pfarrer Niesener. Hier gebe ich sie. Der Pfarrer ist ganz unschuldig. Er lebte in seinen Büchern und wußte nichts von dem Versteck und den Verkappungen der katholischen Priester, wie er überhaupt von der Welt nichts weiß. Ich allein im ganzen Lande kannte den Plan, der zum Schutze der Priester entworfen war, im einzelnen so genau wie im ganzen. Denn ich allein habe den Plan gemacht und Seine hochgräflichen Gnaden, meinen Herrn ausgenommen, war er vor keines anderen Menschen Auge gekommen. Einzelne vertraute Männer wußten wohl, wo und wie einzelne Priester versteckt waren, von allen wußte ich es allein. So bin ich es denn auch gewesen, der die Pfaffen den Holländern verraten hat. Die Bekehrungsseuche, die statt der Pest, der spanischen Schwachheit und anderer Krankheiten, womit wir in vorigen Jahren heimgesucht waren, jetzt über das Land hereingebrochen ist, ärgerte mich, und zwar um so mehr, als ich als Protestant bei Hof die katholische Maskerade spielen mußte. Um meinem Aerger Luft zu machen, zeigte ich den Holländern das [321] Versteck der Priester an, damit es auch bei uns einmal eine recht lustige Pfaffenhetze gebe, gleichsam ein ganz kunstreich eingestelltes Jagen auf dieses Schwarzwild, so jagdgerecht, wie man's noch nirgends erlebt. Es gelang bewundernswürdig. Dies ist die Wahrheit; ich schwöre es Euch.

Ich sage Euch, gnädigste Frau Gräfin, wie meinem gnädigsten Herrn Grafen, meinen unterthänigsten Dank für die vielen Gnaden, die ich an Dero Hofe genossen. Nach meinen Kräften bin ich doch wohl eifrig in meinem Dienste und meiner Herrschaft treu ergeben gewesen, wenn ich auch manchmal den Schalksnarren spielte, und meinen Humor, den der Herr Graf im Wort so sehr liebte, hinter seinem Rücken auch mitunter in die That übersetzte. Ich wäre gewiß noch lange in Hadamar geblieben. Aber wie Ihr mir am Mittwoch so schonungslos den Spiegel vorhieltet, wie Ihr mir so mächtig ins Gewissen hineinredetet, da ergriff mich's, daß ich's für eine Schande hielt, länger als ein zwiegefärbter Mann an Euerem Hofe mein Spiel zu treiben. Und daß ich den Streich mit den Pfaffen eingestehe, auch dies allein habt Ihr zuwege gebracht. Gäb' es einen Pfarrer, der einem das Herz umwenden könnte mit einer langen Predigt, wie Ihr mit drei Worten, ich ginge wahrhaftig jeden Sonntag in die Kirche. So wie ich aber gestand, war natürlich meines Bleibens in Hadamar nicht mehr. Ich beschlief die Sache noch einmal, doch Euere Worte dröhnten mir immer mächtiger in den Ohren, und so ritt ich des anderen Morgens auf und davon. Ich [322] bin hier auf sicherem Boden. Mehrere protestantische Fürsten haben mir Dienste angeboten.

Meinen Dank für Euere Huld und Gnade, Gottes Lohn für Euere Vermahnungen, und Gottes Segen auf das ganze gräfliche Haus von Nassau-Hadamar.

Ew. hochgräflichen Gnaden

unterthänigster Diener

M. Christoph Sprenger,

weiland gräfl. nass. Rat.«


Eine nähere Untersuchung bestätigte die Wahrheit von Sprengers Geständnis. Der Graf war so großmütig, oder so politisch, seinen ehemaligen Rat, der seit Jahr und Tag um alle seine Geheimnisse wußte, nicht weiter zu verfolgen. Ja, er schickte ihm seinen in Hadamar zurückgelassenen Hausrat mit freier Fuhre nach Hachenburg hinüber, um den Rat Sprenger vollständig, wie er sagte, mit Sack und Pack los zu sein.

Vierzehn Tage, nachdem Sprengers Brief in Hadamar eingelaufen war, erhielt Niesener in Köln von seinem Kerkermeister die Freiheit angekündigt. Johann Ludwig hielt Wort. Der Kurfürst war anfangs zäh wie Sohlenleder und that, wie wenn er statt des Pfarrers von Rennerod den höchsten protestantischen Reichsfürsten ausliefern solle. Aber der Hadamarer donnerte so gewaltig, daß der Kurfürst voll Aerger und Verwunderung nachgab. Der Graf fühlte sich nämlich um so freier in der Sache, als er eben ein förmliches Jesuitenkollegium in Hadamar anzulegen begann, und bei einem so glänzenden Beweis seines katholischen Eifers einem Kurfürsten von Köln schon auch einmal[323] wegen eines einzelnen reformierten Pfaffen auftrumpfen konnte.

Niesener eilte sofort zurück in die Heimat, zu Fuß, ohne Bedeckung, Gottes Schutz vertrauend. Das war ein großes Wagestück in jenen Tagen; aber es ließ dem Pfarrer nicht Ruhe, Tage oder Wochen auf eine sichere Gelegenheit zu warten. Nur sein geistliches Gewand hatte er mit dem Rocke eines Kölner Bürgers vertauscht, sonst wäre er schwerlich eine Meile weit gekommen. Wo ihn im Dickicht oder bei sinkender Nacht die Furcht überfiel, da sprach er vor sich die Worte des Psalms: »Ob ich schon wandere im finstern Thal, fürcht' ich keinen Unfall; denn der Herr ist bei mir,« – und ward wieder stark und mutig.

So kam er am Abend des dritten Tages nach Hadamar. Mit dem Staub des Weges auf seinen Schuhen, eilte er, ungesehen, niemand begrüßend, in das Schloß, um der Gräfin, die ihm allein die Freiheit gewonnen haben konnte, seinen Dank darzubringen und Gottes Segen zu verheißen.

Als er die Treppe zu den Gemächern der Gräfin hinaufstieg, war er erstaunt, einen Hellebardierer vor ihrer Thüre aufgestellt zu finden. Er rief der Wache zu, die gleichfalls verwundert auf den staubbedeckten Wanderer schaute, daß er zur gnädigen Frau Gräfin geführt zu werden wünsche, und als ihn die Wache noch immer erstaunt und fragend ansah, statt zu antworten, fügte er mit erhobener Stimme bei, er sei der Pfarrer Niesener von Rennerod, man werde ihm [324] gewiß eine Audienz von wenigen Augenblicken nicht versagen.

Da öffnete sich eine Seitenthüre, der Graf Johann Ludwig trat heraus, faßte den Pfarrer bei der Hand, die er, der stolze Graf, in schweigender Erwiderung auf Nieseners Begrüßung wie die Hand eines Freundes drückte, und führte ihn selber in das Zimmer der Gräfin.

Kerzen flammten in dem dunklen, schwarz ausgeschlagenen Gemach, Blumen hauchten einen betäubenden Duft, ein Sarg stand in der Mitte des Zimmers, und um den Sarg kniete betend der Gräfin Hausgesinde und ihr Hofprediger einträchtig neben den Jesuiten des Grafen. Im Sarge lag der entseelte Leib der Gräfin Ursula, die hohen, adeligen Züge unentstellt, nur friedlicher und versöhnter als im Leben.

Niesener brach bei diesem Anblick in Thränen aus, und der Graf weinte mit ihm und stützte sich auf den Arm dessen, den er bis dahin seinen Todfeind genannt, als seien sie ihr Leben lang Todfreunde gewesen.

Als beide sich gesammelt hatten, kniete der Pfarrer nieder an dem Sarge und betete lange im stillen, dann sprach er vernehmlich die Worte: »Selig sind die Toten, die in dem Herrn sterben, sie ruhen aus von ihrer Arbeit, und ihre Werke folgen ihnen nach.« Auch die Jesuiten sprachen »Amen!«

Niesener erhob sich, verneigte sich gegen den Grafen und entfernte sich schweigend.

Eine verfrühte Niederkunft hatte der Gräfin den[325] jähen Tod gebracht. Noch kurz vor ihrem Ende hatte sie, ihres Versprechens gegen Niesener eingedenk, denselben ihrem Vater zu einer Pfarrei im Lippeschen empfohlen. Der vielgeprüfte Mann fand in der That dort Ruhe für den Rest seines Lebens.

Als der Zustand der edlen Frau hoffnungslos zu werden begann, begehrte sie die Tröstungen ihres Predigers. Aber statt dessen schickte man ihr drei Jesuiten, die an dem schmerzhaften Sterbelager ihre ganze Beredsamkeit, die vereinte Kunst ihrer Dialektik und Sophistik aufboten, um diese Seele wenigstens noch in der letzten Stunde der katholischen Kirche zuzuführen. Groß im stillen Dulden ertrug auch Gräfin Ursula die Geistesmarter der dreifachen Bekehrungsversuche neben den körperlichen Leiden. Während die Patres demonstrierten, betete sie leise für sich in den Formen ihres Glaubens, der ihr von Gott zur Stütze ihres ganzen Lebens geschenkt worden war. Das Kind, welches sie gebar, ward, obgleich es nicht eine Stunde gelebt, und obgleich eine Prinzessin, doch von den Jesuiten geschwind nach katholischem Ritus getauft, und so wenigstens diese eine Seele gerettet. Die Mutter aber starb, wie sie gelebt, getreu ihrem Wahlspruch:

»Im Glauben fest

[326] Meister Martin Hildebrand.
1847.

[327][329]

Einen würdigeren Greis habe ich niemals gesehen als den alten Schlossermeister Martin Hildebrand, den Patriarchen meiner Vaterstadt; in kräftigeren Jahren gewaltig mit Zange und Hammer, in alten Tagen gewaltig im Rat und in der Rede und in traulicher Erzählung aus vergangener Zeit.

Der alte Hildebrand war der letzte Mann im Orte, der noch einen Zopf trug, den einzigen echten Zopf, den ich noch mit eigenen Augen geschaut. Kein böser Bube hätte ihn drum zu höhnen gewagt.

Vornehm und Gering hatten Respekt vor dem Meister, und unter den Handwerksleuten galt er dazu für ein Licht der Gelehrsamkeit. Doch war ihm dieser Ruf erst mit der Muße des Alters gekommen, denn vordem hatte er keine Zeit gehabt, gelehrt zu werden. Als ihm aber die Schlosserarbeit zu sauer ward und sein Sohn ein tüchtiger Meister im Geschäft geworden war, begann der Alte fleißig zu lesen, namentlich in alten Chroniken und in geistlichen Büchern.

Die Gottesgelahrtheit hätte er gerne ausergründet; denn er war ein heftiger lutherischer Christ und ein strenger Wächter der reinen Lehre. Darum hatte ihm die Vereinigung des lutherischen und reformierten Bekenntnisses viel Gewissensangst gemacht, und wenn am [329] Reformationsfeste, das zugleich zu einer Feier der Union geworden, der Pfarrer ausgangs der Predigt die beiden großen Reformatoren mit Namen anrief, dann paßte der alte Hildebrand auf wie ein Hechelmacher, ob er Luther zuerst nannte oder Zwingli.

Allein soviel er auch grübelte über Gottes Wort und sich seine eigenen Gedanken darüber machte, so schwieg er doch meist von diesen Dingen vor anderen, und wo man ihn fürwitzig darüber ausfragen wollte, antwortete er höchstens durch ein Lächeln, gleich als wolle er sagen, er könne wohl wunderbare Geheimnisse verkünden, aber die Siegel seines Geistes sollten verschlossen bleiben. Oder er fuhr auch die Fragenden hart an, hieß sie arbeiten und beten und das weitere in Demut unserem Herrgott anheimgeben.

Ein ganz anderer Mann war aber der alte Hildebrand, wenn man ihn im Kreis der Freunde des Hauses auf die Erlebnisse seiner früheren Jahre brachte. Da redete er wie ein Buch, und oft auch herrlicher wie manch ein Buch, und die Zuhörer, wenn sie gleich dieselbe Erzählung schon sechsmal von ihm gehört, hingen doch an seinem Munde, als künde er ihnen die neueste Mär. Denn man spürte, der Erzähler war ein ganzer Mann, der ein reiches Leben durchgekämpft mit hellem Aug' und mutigem Herzen; darum, wenn man eine von seinen kleinen Geschichten anhörte, so war es einem, als schaute man zugleich auf ein Blatt aus der großen Menschengeschichte, denn hier wie dort hatte der Finger Gottes sichtbar sein Zeichen ein geschrieben.

[330] Da pflegte dann wohl der alte Mann zu sagen, stolz über den Beifall seiner Zuhörer: wenn er nur einmal seine Erinnerungen, und was ihm so mit diesen durch die Seele ziehe, niederschreiben könne, das solle doch eine ergötzliche Chronik geben, wohl wert, an den langen Winterabenden darin zu lesen.

Nun geschah's, daß der alte Hildebrand, der nie ernstlich krank gewesen, im achtundsechzigsten Lebensjahre plötzlich von einem Fieber überwältigt wurde, welches ihn, eben weil er kein Gewohnheitspatient, um so furchtbarer schüttelte. Schwer und langsam genas der Alte, monatelang mußte er das Bett und Zimmer hüten.

Da lag oder saß er träumend, Gedanken spinnend so manchen lieben langen Tag und durfte kein Glied rühren, auch nicht viel sprechen. Und oftmals leuchtete sein Aug', als schaue es hinein in unaussprechliche Herrlichkeit, oft rollte es unstet und fast zornig, gleich als ergrimme der Geist darüber, daß er so hohe und heimliche Dinge schaue und sie doch nicht gestalten, nicht festhalten und keiner anderen Menschenseele mitteilen könne.

Als er sich allmählich zu erholen begann, griff er zum Schnitzmesser und machte allerlei drollige Holzfiguren zum Spielzeug für seine Enkel. Aber sein Geist war nicht bei dieser Arbeit. Er schob sie darum wieder beiseite, und wo er eine heimliche Stunde fand, da holte er sich nun Papier und Feder zu seinem Großvatersitz am Ofen und schrieb oft halbe Tage lang, ganz im stillen, und sagte und zeigte niemand,[331] was er schrieb, und nicht einmal seiner Frau, der er sonst alles sagte und zeigte. Wann er aber geschrieben hatte, dann kam allemal eine selige Ruhe und Versöhnung über sein Gemüt, so daß seine Frau oft sprach, es scheine, ihr Martin schreibe sich gesund, das sei ihr genug, und sie wolle gar nicht weiter wissen, was er eigentlich schreibe.

So ging es den langen Winter hindurch. Als aber das Frühjahr kam, war der alte Hildebrand wieder bei vollen Kräften. Da machte er auch dem Schreiben ein Ende.

Am Abend des Ostersonntags sprach er zu seiner Frau: »Wie ich so zwischen Leben und Sterben lag, gebrochenen Leibes, da wurde es wunderbar helle vor meinen inneren Sinnen. Ich schaute zurück in die vergangenen Tage, und alle die Geschichten, die ich Euch so oft erzählt, zogen wieder an mir vorüber, aber weit deutlicher und genauer als je vorher. Ja ich entsann mich nun des kleinsten, was ich längst vergessen, ich lebte meine ganze Jugend noch einmal durch und jeder Tag der alten Zeit lag vor mir wie im lichtesten Sonnenschein. Aber auch ergötzliche Traumbilder traten hinzu und verschlangen sich mit meinen klaren Erinnerungen wie zu einem Märchen oder Gedicht. Es waren keine eitlen Träume, denn gerade in ihnen war die Führung Gottes durch meinen ganzen Lebenslauf versinnbildet. So ungefähr muß es im Himmel oder auch in der Hölle sein, daß wir klar wieder schauen jeglichen Tag, den wir auf Erden verlebt, doch aber nicht im irdischen Licht, sondern im[332] Glanze der himmlischen Herrlichkeit oder im Widerschein des höllischen Feuers. Als ich nun genas, da wühlte es in mir, und ich hatte nicht Ruhe, bis ich diese Erinnerungen alle aufgezeichnet, wie sie in meinem Geiste neu und verklärt auferstanden waren, während mein Leib in Schmerzen gefesselt lag. Da überströmte mich das selige Gefühl der Genesung, das ich nie zuvor gekannt – gleich wie einer, der sich nie auf die Haut naßregnen läßt, gar nicht weiß, welche Wonne es ist, trockene Kleider anzulegen.«

Mit diesen Worten übergab der Meister seiner Ehefrau die Handschrift; sie führte den Titel: »Chronik des Meisters Martin Hildebrand

Mitten aus den Blättern aber nahm er vorerst einen Abschnitt heraus, von dem er der Frau sagte, sie möge ihn für sich ansehen wie eine Widmung des Buches. Und nachdem sich die beiden Alten die Sessel zurecht gerückt, begann der Meister zu lesen, was folgt.

1. In der Herberge

I. In der Herberge.

Ich, Martin Hildebrand, habe mir auf den linken Arm drei Buchstaben eingeritzt – A. E. S. – und um die Buchstaben ein Herz als Rahmen gezeichnet. Das that ich in meinem zwanzigsten Jahre, da ich von Hause weg auf die Wanderschaft ging. Die Buchstaben heißen Anna Elisabeth Schaufflerin, und alle Linien waren mit Pulver ausgeätzt, daß sie nicht zuwüchsen,[333] und ich den lieben Schatz in der Fremde niemals vergessen möchte.

Sechs Jahre lang bin ich umhergezogen und bis ins Ungarland, Mähren und Böhmen gekommen; durch Sachsen und Thüringen aber zurückmarschiert. Von der ganzen großen Wanderschaft hab' ich weiter nichts mitgebracht, als das rechte Gerück und Geschick in der Werkstatt, was den Meister macht, und beinahe einen Schnurrbart, den ich mir bei den Ungarn wachsen ließ: ein solcher war damals in deutschen Landen noch eine große Rarität.

Bei all dem Wandel und Wechsel in der Fremde ist mir nichts treu geblieben als mein lustig Gemüt und der schwere Knotenstock, den ich mir vor dem Ausmarsch in unseren Westerwälder Bergen von einer Eiche geschnitten und, wie's einem Schlossergesellen zukommt, mit fingerslanger eiserner Zwinge selbst beschlagen habe.

Ich will dir aber jetzt eine Geschichte erzählen, die mir im letzten Jahre vor der Heimkehr begegnet ist. Wenn ich daran denke, wird mir's zu Mut, wie wenn man auf dem Kirchhof umhergeht und auf den Kreuzen liest und nach einem bekannten Namen sucht.

Als Sinnspruch will ich dieser Geschichte die Bitte aus dem Vaterunser vorsetzen: »Führ uns nicht in Versuchung!«

So mir's recht gedenkt, war es im August 1779, als ich mit einem guten Kameraden, einem Schreinergesellen aus Holstein, die Werra hinab gen Münden zog. Der Fluß hat gar friedliche, liebliche Ufer; [334] niedrige Berge, aber hier ein Wäldchen, dort eine Wiese, eine Burg, ein Dorf. Je einem schönen Land ist der Wandersmann leicht guter Dinge. Darum plauderten wir recht vergnüglich, sangen, pfiffen und schritten im Takte drauf los, als wir am schönsten Sommermorgen das Städtchen Witzenhausen erreichten.

Es sieht etwas altmodisch aus, und gerade deshalb um so traulicher. Auf den Hügeln jenseits der Brücke wächst der bekannte Wein, mit dem man in ganz Hessenland den Kindern droht, wenn sie nicht zur Schule wollen. Als wir durch den Thorturm schritten, ließen die Sträflinge, die oben hinter den Gittern saßen, eine abgeschnittene Strumpfferse an einer langen Schnur vor uns herunter, um von unserer Mildthätigkeit ein paar Pfennige zu angeln. Die Thorwache saß daneben, den Pfeifenstummel im Mund und schaute gemütlich dem Fischzuge zu. Es war damals noch kein so gestrenges Regiment wie heute, und die Welt stand fest, so wie so.

Die Schlosserherberge in Witzenhausen führt als Zeichen einen großen Schlüssel über der Hausthür. Sankt Peter könnte ihn zum Himmelschlüssel brauchen.

Drinnen in der Schenkstube hängt ein seltenes Kunststück am Deckbalken, das vor langen Jahren ein wandernder Schlossergesell gestiftet hat, der seine Zeche nicht bezahlen konnte. Es ist eine wunderliche Verschlingung von geraden und krummen Linien, die Kreuz und die Quer, alles in Eisen gearbeitet. Sieht man den Knäuel nur obenhin, dann wird man nirgends Gesetz und Sinn entdecken, wonach die Linien[335] geführt seien; verfolgt man aber den Linienzug vom Mittelpunkte aus, dann kann man die Frakturbuchstaben des ganzen ABCs entziffern, die der Reihe nach in eine Figur gelegt sind.

Nur wer rechtschaffen gewandert ist, weiß, wie süß die Einkehr schmeckt; – wenn man vor der Hausthür zuerst forschend in die Tasche fühlt, ob da auch noch Kreuzer genug beisammen sind, einen guten Trunk zu zahlen, dann mit stolzer Zuversicht eintritt, den schweren Tornister abwirft und auf der Ofenbank die müden Glieder dehnt – es geht nichts über dies erkämpfte Behagen!

Das sollten wir hier nicht lange schmecken.

In der Herberge war eine seltsame Bewegung.

Der Herbergsvater und seine Frau gingen in der Stube auf und ab, ratlos, wie es schien, zuweilen halblaut miteinander streitend. Dabei warfen sie häufig bald zornige, bald ängstliche Blicke auf zwei Frauenspersonen, die in dem hintersten Winkel der Stube saßen, von allen Gästen gemieden, von allen argwöhnisch beobachtet.

Dort aber gewahrte ich ein echtes braunes Zigeunermädchen, schöner, als ich je eines bei diesen verfluchten Heiden gesehen. Um das pechschwarze Haar hatte sie ein feuerfarbenes Tuch wie einen Turban geschlungen, während arme Lumpen ihren Körper deckten. Ein älteres Weib ihres Stammes saß neben ihr.

Daheim in unseren Bergen kann man die Kinder dieses Volkes alle Tage sehen. Halbe Dörfer sind von Zigeunern bewohnt; sie reden freilich nicht mehr so[336] welsch und sind nicht mehr so diebisch wie die Wanderhorden. Aber wie diese seßhaften Zigeuner früher gewandert sind gleich den anderen, so müssen sie dereinst auch wieder von ihren Sitzen fort, wann ihre Zeit erfüllet ist; denn das Wandern ist den Zigeunern als Gottes Fluch auferlegt, und so gab er dem Volke den Namen Zigeuner, indem er zu ihm sprach: Zieh ein her! Wo aber in meinen jungen Tagen eine Wanderhorde der Zigeuner in ein offenes Dorf kam, da läutete man Sturm und die Bauern standen auf, als sei der Feind da, und bewehrten sich, um Hab und Gut zu schützen.

Wir hatten kaum Platz genommen, da erhob sich das alte Zigeunerweib. »Kocht uns eine Suppe!« rief sie befehlend. Man kehrte sich nicht an ihren Ruf.

»Ich gebe euch einen guten Rat fürs Vieh!« fügte sie nach einer Pause einschmeichelnd bei.

Aber die Wirtsleute blinzelten gegeneinander und thaten, als ob sie nichts gehört hätten.

Das alte Weib merkte das und mochte leicht den Sinn erraten. »Wir haben Geld,« rief sie hastig, »wir bezahlen so gut wie andere Leute.« Und bei diesen Worten zog sie ein ledernes Beutelchen und ließ der Reihe nach wohl zehn blanke Thaler durch die knochigen Finger gleiten.

Aber die Wirtin faßte sich ein Herz und sagte: »Ihr könnt hier ausruhen und, wenn ihr wollt, auch in unserem Stalle schlafen, aber Essen und Trinken haben wir nicht für euch.«

»Das sind böse Leute,« sprach die Zigeunerin zu[337] uns herüber, »und uns hungert gar sehr, junger Bursche.« Hierauf begann die Alte mit dem Mädchen rasch und heftig in ihrem Rotwelsch zu reden, welches der Teufel besser versteht als ich.

Ich ging zur Wirtin und fragte sie, warum sie denn den Weibern fürs Geld nichts zu essen geben wolle, da sie ihnen doch, was viel mehr sei, eine Schlafstätte angeboten habe?

Die Wirtin gab zur Antwort: »Man weiß nicht, ist es schlimmer grob sein oder freundlich sein gegen dieses Volk, das einem der Satan ins Haus schickt. Sind wir ihnen grob, dann verhexen sie uns das Vieh, sind wir ihnen freundlich, dann stehlen sie uns die Herberge aus. Wo aber ein Zigeuner schläft, da stiehlt er nie; dagegen wo er ißt oder trinkt, beraubt er den Wirt. Wäret Ihr nicht von heute, junger Freund, dann wüßtet Ihr wohl, daß auf weit und breit kein Mensch diesem Volke etwas zu essen geben mag, und zeigte die Hexe gleich ebensoviel Goldstücke, als sie vorhin gestohlene Thaler gezeigt hat.«

Ein Handwerksbursche, der schon oft Hunger gelitten, weiß, daß der Hunger auf der Wanderschaft ein doppelt bitteres Kraut ist. Darum, als die Wirtin mir und meinem Kameraden den Tisch deckte, konnte ich's doch nicht übers Herz bringen und winkte den Zigeunerinnen herbei, daß sie mit uns essen sollten.

Sie waren auch nicht träg', die Einladung anzunehmen.

Aber nun hättest du die Wirtin sehen müssen! Wütend kam sie herbeigesprungen und riß uns samt [338] den heidnischen Weibern die Schüssel weg und rief: »Ihr seid so wenig wert, daß Ihr etwas zu essen kriegt, wie das Zigeunervolk; denn Ihr wollt sie zum Diebstahl in meinem Hause verleiten.« Und zu gleicher Zeit faßte mich der Herbergsvater bei der Halsbinde. Da aber sprang mein Kamerad auf, wie der gehörnte Siegfried im Heldenbuch und brüllte den uralten Kriegsruf der Handwerksbursche, wenn's zum Prügeln geht: »Auf ihn, er ist von Ulm!« und hobelte als der tapferste Schreinergesell den Herbergsvater mit seinen beiden Fäusten weidlich ab. Die anderen Leute aus der Schenkstube aber sprangen dem Wirt zu Hilfe. Hei, wie schlugen wir da drein und zeigten dem Gesindel, daß ein deutscher Handwerksbursche nicht bloß mit dem Hut in der Hand, sondern auch mit den Fäusten fechten kann! Aber bald war ich Hammer und Amboß zugleich, allmählich mehr Amboß als Hammer, und nach acht Minuten standen wir beide unter Sankt Peters Himmelsschlüssel vor der Hausthür und die Zigeunerweiber mit uns, und auf meinen zerrissenen Rock deutend, von dem die Fetzen abfielen und auf meine blutende Nase, rief mir der Herbergsvater höhnend aus dem Fenster nach: »Wo man haut, da fallen Späne.«

So zogen wir fürbaß, und schon kam mir die Reue, daß ich den Burgfrieden der Herberge meines eigenen Zeichens gebrochen hatte.

Die Alte bot uns zum Danke, gleichsam als Feldzulage nach bestandener Schlacht, ein Stück Geld an. Wir nahmen's aber nicht, obgleich es eine gar verlockend glitzernde funkelneue Münze war.

[339] Da trat das braune Mädchen zu mir, drückte mir die Hand, schaute mich mit den großen schwarzen Augen durchdringend an und flüsterte mir ein paar Worte ins Ohr.

Die hab' ich nicht verstanden. –

Aber ihren Blick habe ich verstanden und den Druck der Hand. Solch ein Zigeunermädchen war mir wahrhaftig noch nicht vorgekommen.

Die Alte fragte, wohin wir unseren Weg zu nehmen gedächten. Der Holsteiner aber sprach: »Ich will Euch mit einem Zigeunerspruch antworten: Wir gehen, wohin uns unsere große Zeh' weist. Euch aber bitte ich, lasset die Eurige nach einer anderen Weltgegend schauen. Denn prügeln ließen wir uns wohl für Euch, aber Kameradschaft mit Euch machen, mögen wir nicht.«

So trennten wir uns.

Mein Kamerad aber rieb sich im Marschieren noch lange den Rücken, den ihm die wuchtigen Fäuste der Witzenhäuser braun und blau geschlagen, und wir schritten aus im Takte der Verse, die er dazu sang:


»Können wir uns nicht vertragen, So thun wir uns brav schlagen Und alles mit der Hand – Das ist der Handwerksstand.«

2. Beim Wildhüter

II. Beim Wildhüter.

Von Witzenhausen zieht sich ein mächtiger Wald gegen Kassel hinüber. Es müssen stolze Stämme dort stehen und dichtverschlungenes Gebüsch; denn als wir [340] in der stillen Mitternacht durch die langgedehnten Forste wanderten, konnten wir kaum den Pfad unter unseren Füßen erkennen, obgleich der Himmel ganz sternenhell war, und stießen bald wider die Aeste, bald wider die Wurzeln, so tief dunkel schattete das Laubwerk. Der Tag war schwül gewesen, und hätten uns nicht die ungastlichen Witzenhäuser zum Nachtmarsch gezwungen, so würden wir diesen wohl erquicklich gefunden haben; denn ein Gewitter hatte inzwischen die kochende Luft gekühlt. Das Gras war noch naß, und wenn ein Luftzug ging, schüttelte er schwere Tropfen von den Blättern, sonst aber ist's wieder ganz still und feierlich geworden über das weite Land hin, und hier und dort hat sich sogar ein verspätetes Johanniswürmchen, das den Juni und Juli überlebte, nach dem Regen hervorgemacht und leuchtete freundlich aus dem dunklen Grase.

Mein Kamerad, der Holsteiner, war in der Gegend wohlbekannt, denn er hatte früher einmal hier in Arbeit gestanden. Er wußte rechts und links Bescheid und konnte fast von jedem Plätzchen eine Geschichte erzählen, bald traurig, bald lustig, wie sie in den Spinnstuben von Mund zu Mund gehen. Gedenk' ich jetzt solcher Schnurren und Wandergeschichten, dann geht mir das Herz auf, wie's einem alten Fuhrmann durch alle Glieder zuckt, wenn er mit der Peitsche klatschen hört; aber damals verwünschte ich die Historien des Holsteiners, denn ich hatte meine eigenen Gedanken im Kopf, denen ich nachhängen wollte. Besonders kam mir das Zigeunermädchen nicht aus dem[341] Sinn. War mir's doch, als ob ich sie schon einmal gesehen hätte, – ich glaub' im Böhmerwalde, wo sie mit einer Truppe zog, die in den Scheunen für Geld Kunststücke machte. Jetzt aber hatte ich eine merkwürdige Aehnlichkeit entdeckt zwischen ihr und der Schaufflerin, meinem Schatz, namentlich war es die Nase des Heidenkindes, die mich erschreckte, denn sie war der Nase meiner Anna Elisabeth gleich wie ein Ei dem anderen. Und dann ergrimmte mich's wieder recht bis in die Eingeweide hinein, daß man den hungrigen Wanderern nichts zu essen gegeben und uns allesamt geprügelt und vor die Thüre geworfen hatte. Solch ein Schimpf war mir noch in keiner Herberge widerfahren.

Mein Kamerad hatte eben ein erbauliches Nachtstück von einem benachbarten Galgen erzählt, den er ganz allein um Mitternacht erklettert hatte, um von dem dörrenden Gerippe eines dort aufs Rad geflochtenen Diebes die Finger zu stehlen (denn ein Diebesfinger ist zu mancherlei Dingen nütze); und als wir an Kauffungen vorbeigingen, hatte er von diesen Fingern einen ganz natürlichen Uebergang gefunden zu den Fingern jener Nonne von Kauffungen, die dreißig Jahre lang deutlich abgedrückt zu sehen waren auf dem Backen der Aebtissin ihres Klosters, nämlich infolge einer ungeheuren Ohrfeige, welche die Nonne ihrer Aebtissin gegeben, weil dieselbe über dem Mittagessen allezeit Messe und Prozession versäumte. Da fügte es sich denn auch wieder ganz natürlich, daß mein Kamerad von dieser Ohrfeige auf die feuerfesten [342] Großallmenroder Schmelztiegel zu reden kam, denn von fernher schimmerten uns eben die Lichter des fleißigen Ortes entgegen.

Plötzlich aber hielt er an.

»Habt Ihr nicht eine dunkle Gestalt da vorn über den Hügel schleichen sehen?« fragte er, als wir an ein Plätzchen gekommen waren, wo der Wald sich lichtete.

Ich hatte nichts gesehen.

Aber der Kamerad hatte genug gesehen, um sogleich wieder eine neue Geschichte daran zu knüpfen. »Der Hügel,« sprach er, »ist mir wohl bekannt. Wenn ich früher an Sonntagsnachmittagen nach Allmenrode ging, führte mich der Fußpfad darüber hin. In den sechziger Kriegsjahren warf dort ein hessischer Grenadierlieutenant einen französischen Reiterhauptmann im Scharmützel nieder. Als der Franzose am Boden lag und die Degenspitze des Hessen auf seiner Brust spürte, rief er jämmerlich um Pardon. Da zog der Hesse seinen Degen zurück, der Franzose aber raffte sich auf, zog sein Pistol und schoß den Mann, der ihm eben erst das Leben geschenkt, von hinten meuchlings durch den Kopf. Doch sollte ihm der Frevel keinen Gewinn bringen, denn am anderen Tage ward er von den Lucknerschen Husaren niedergemacht. Jetzt reitet der Franzose nachts um in diesem Wald, manchmal bin ich ihm begegnet« – und er zog seine Korbflasche und nahm einen herzhaften Schluck Branntwein und beteuerte: »Dieser Trunk soll Gift sein, wenn ich dem Franzosen nicht begegnet bin« – und fuhr dann fort:[343] »Oben auf dem Hügel ist ein kleiner Stein, darauf steht die ganze Geschichte zu lesen. Vor ein paar Jahren war er halb versunken und bereits mit Moos überwachsen. Da machten wir uns – ein paar Allmenroder Patrioten und ich – eines Sonntags früh auf, zogen mit Hacke und Stemmeisen heraus, richteten den Stein wieder gerade und kratzten das Moos ab, damit dem verräterischen Reitersmann seine Schande auch für die Zukunft nicht geschenkt sei.«

Während der Holsteiner noch erzählte, brach ein Lichtschimmer durch die Zweige, der uns stutzig machte. Es war, als ob ein Feuer auf dem Hügel lodere, ungefähr bei dem Denkstein. Bei meinem Kameraden aber war der Teufel los, als er den rätselhaften Feuerschein sah, denn er hatte Courage im Leib, war wirklich mitternachts allein auf den Galgen gestiegen, und wohl dürstete kein zweiter Schreinergesell im heiligen römischen Reich gleich ihm nach Abenteuern. Er blies sofort zum Angriff. Denn daß das Feuer kein irdisches sei, sondern mit dem französischen Reiter zusammenhänge, schien sonder Zweifel. Wir legten unsere eisenbezwingten Knotenstöcke ein, als seien es Lanzen, und brachen durchs Dickicht, den Hügel hinan, als säßen wir hoch auf dem Streitroß.

Oben auf dem freien Raume des Hügels angekommen, fanden wir nur ein verlassenes, schon verglimmendes wirkliches Feuer, welches keinerlei Spur höllischer Bestandteile zeigte, dessen Rauch aber allerdings durch einen besonderen Geruch ausgezeichnet war: es roch nämlich, als ob in der Asche Kartoffel brieten.

[344] Seitwärts stand ein Wildhüterhäuschen. Von dorther hörten wir eine Weiberstimme. Da entbrannte dem Schreiner aufs neue die mannhafte Lust am Abenteuer. »Den Wildhüter kenne ich,« rief er, »wer zum Teufel mag die Dirne sein, die er sich bei Nacht in seine Hütte eingethan? Hallo! Hallo!« – und er blies durch die hohle Hand ein Jagdsignal – »dem Wildhüter wollen wir sein Wild aufscheuchen!«

Tollen Mutes sprangen wir hinzu. Ich kam ihm vor und stieß mit dem Knotenstocke wider die schiefe Thür der Hütte. Es war eigentlich nur, um anzuklopfen; allein im Sturm hatte ich den Stoß so übermütig geführt, daß er zugleich die Thür aus allen Fugen riß.

Ein altes Weib mit einer Laterne sprang hervor und zog einen gewaltigen Stock zum Streiche aus. Aber als sie zu gleicher Zeit mir mit der Laterne ins Gesicht leuchtete und scharf mir Aug' in Auge geschaut, ließ sie den Prügel sinken.

»Ihr seid es?« rief sie erstaunt und änderte die streitgerüstete Stellung. »Ihr sollt mir allezeit freundlich gegrüßt sein, auch wenn Ihr Euch unfreundlich anmeldet!«

Es war die alte Zigeunerin, und das Mädchen mit dem feuerfarbenen Tuch saß in der Hütte.

»Tretet ein,« fuhr die Alte mit einer Artigkeit fort, die nicht ohne Würde war. »Vorhin wolltet ihr euer Mahl mit uns teilen, jetzt teilen wir das unserige mit euch.«

Das ließen wir uns nicht zweimal sagen, und[345] drückten uns in das Innere der Hütte, wo kaum Platz war, daß sich vier Personen lagern konnten.

Diese Wildhüterhäuschen sind ganz wie Indianerhütten gebaut in Gestalt eines Zuckerhutes, dessen Spitze ein großer Schirm von Flechtwerk, mit Lehm bekleidet, überragt, um das Einschlagen von Wind und Regen in den Rauchfang zu verhindern. Mit Lehm und Rasenstücken ist dann auch der ganze übrige Bau bedeckt. Innen ist höchstens eine Feuerstatt und eine Bank. Zu Zeiten schlägt der Wildhüter dort sein Lager auf, um von Stunde zu Stunde mit Schreien, Schießen und dem Gebell seiner Hunde das Hochwild zu verscheuchen, wenn es zur Atzung scharenweis in die angrenzenden Saatfelder zieht. In eine solche verlassene Hütte hatten sich also für heute nacht die beiden Zigeunerinnen einquartiert.

Unsere Wirtinnen teilten vor allen Dingen zur Besiegelung der Freundschaft ihr Mahl mit uns. Es waren Frühkartoffeln, die sie vermutlich am Wege gestohlen und dann in dem geheimisvollen Feuer gebraten hatten, und breite Schnitten eines köstlichen Schinkens, den sie wohl auch nicht gekauft, gefunden oder geschenkt erhalten haben mochten.

Die alte Hexe trug meinem Kameraden das Mahl auf. Der schüttelte sich ein wenig, als er den Schmutz der Alten und der Hütte sah, murmelte aber dann das Sprüchlein, welches bei solchen Gelegenheiten herkömmlich ist: »Besser eine Laus im Gemüs als gar kein Fleisch« – und griff tapfer zu.

Mir aber legte das niedliche Mädchen die Speisen[346] so anmutig und reinlich vor, daß mir's köstlicher schmeckte, als hätte ich an des Fürsten Tafel gegessen.

Diese Zigeunerinnen – sonst so mißtrauisch und verschlossen gegen jeden, der nicht ihres Stammes ist – waren gegen uns zuthunlich und liebreich geworden. Ihre freundliche Dankbarkeit deuchte mir wie die eines herrenlosen Hundes, dem man Brot gegeben hat, und der uns dann die Hand leckt und wedelnd hinter uns drein läuft. Und damit will ich nichts Schlimmes gesagt haben; im Gegenteil, es soll ein großes Lob sein. Ich meine, die Dankbarkeit dieser Zigeunerweiber erschien so hingebend mit Leib und Seele, wie man das leider nur noch bei den Hunden findet.

Besonders erzeigte mir das Mädchen mit dem feuerfarbenen Tuch im pechschwarzen Haar jeden erdenklichen Liebesdienst, redete mir so freundlich zu und schaute mich stets so dankbar an mit den großen glühenden Augen, daß mir das braune Heidenkind fast so schön wie das schönste Christenmädchen erscheinen wollte, besonders weil ihr die Nase meiner Elisabeth zwischen den funkelnden Augen saß.

Als wir satt gegessen hatten, faßte sie mich am Arm und sprach: »Ich will Euch die Schicksale Eurer Wanderfahrt prophezeien,« und begann in den Linien meiner Hand zu lesen. Weil sie nun den Linienzug bis zur Handwurzel verfolgen wollte, so streifte sie mir den Rockärmel – es war am linken Arm – ein wenig zurück, und ihr scharfer Blick gewahrte das in den Arm geätzte Herz mit den Buchstaben A. E. S.

»Was bedeuten die Buchstaben?« fragte sie hastig.

[347] Ich aber erwiderte mit besonders festem Nachdruck: »Das ist der Name meines Schatzes, der Anna Elisabeth Schaufflerin, daheim aus dem Westerwalde.«

Und es war mir im Augenblicke, als sei das Herz mit den drei Buchstaben ein lichtstrahlender Engelschild, vor dem der Teufel zurückweichen müsse, und das heidnische Hexlein stand da, als ob sie wie verblendet sei von den drei Buchstaben, schlug die Augen nieder und sprach kein Wort.

»Aber du hast mir ja nichts prophezeit?« fragte ich.

»Ihr habt mich verwirrt – ich kann es jetzt nicht!« rief sie und ihre Stimme zitterte, daß ich erschrak. Sie fing hell zu weinen an, setzte sich in die hinterste Ecke des Raumes, verhüllte ihr Gesicht und redete kein Wort mehr.

Der Holsteiner hatte sich inzwischen so festgefahren bei der Alten, daß ich um guter Kameradschaft willen den Gedanken schon aufgeben mußte, heute nacht noch weiter zu wandern. Die Zigeunerin erzählte ihm nämlich die seltsamsten Historien und Abenteuer, wie sie nur solches Volk an der Straße auflesen kann. Das war dem Schreinergesellen eine gemähte Wiese. Nie in seinem Leben hat er dem Pfarrer so andächtig zugehört wie der Hexe, und er sammelte in dieser einen Nacht Vorrat genug, um damit ein ganzes Jahr lang in allen Herbergen den lustigen Patron zu spielen.

Ich legte mich in einen Winkel und versuchte zu schlafen. Da erhub sich ein großer Kampf in meiner Seele. Vor meine Augen trat meine Elisabeth. Aber seltsam genug, wenn ich mir recht lange und getreu ihre [348] Züge vorbildete, dann verwandelten sich dieselben, von der schönen Nase anfangend, allmählich in die Züge des Zigeunermädchens. Dann schalt ich mich selbst einen Esel, faßte mich, riß die Augen weit auf, schaute fest in die Ecke, wo das Kind saß. Sie hatte ihr Gesicht verhüllt, ich konnte die Nase nicht sehen, und der Spuk war vorbei. Ich dämmerte wieder ein, und das Blendwerk begann von neuem. Dergleichen hat noch kein Mensch erlebt. Denn wenn wir uns Gestalt und Gesicht einer abwesenden Braut oder des fernen Weibes recht getreu in der Seele vorbilden, dann ist dies sonst die kräftigste Stärkung der Treue, ja ein solches Bild ist ein wahrer Schild wider die Anfechtung. Solange wir uns dieses Bild noch recht klar ausmalen können, sind wir noch gar nicht reif zur Treulosigkeit. Nun hatte ich's gerade umgekehrt: je schärfer ich mir das Bild der Braut auseinanderlegte, um so gewisser ward mir, daß diese Zigeunerin ja ganz die gleichen Züge habe, und was allen anderen ein Schild wider die Anfechtung, das ward mir ein Zauberspiegel der Versuchung. Und immer hub die teuflische Gaukelei wieder bei den verschwisterten Nasen an. Da begann ich meine Gedanken anders zu wenden. Wie sonst schlaflose Leute zwölfmal das Einmaleins sprechen, so wollte ich so lange und so genau meine ganze Liebesgeschichte mit der Schaufflerin noch einmal durchdenken, bis ich darüber eingeschlafen oder des verhexten Zigeunergesichtes gänzlich quitt geworden wäre.

Also fing ich bedächtig von vorn an.

Elisabeth war die Tochter des fürstlichen Amtmannes [349] Johannes Schauffler – das klingt gar hoch – und ich war nur ein Schlossergesell. Aber ich war guter Leute Kind, und der Amtmann hatte zwölf Kinder, und wo – ohne weiteren Vergleich – der Spanferkel viele sind, da fällt das Gespülicht dünn. Trotzdem ging die Sache, wie zu erwarten stand. Der alte Amtmann war teufelmäßig dazwischen gefahren, als er etwas von der Freundschaft zwischen seiner Tochter und dem Schlossergesellen verspürte. Denn er gehörte zur Dienerschaft und mein Vater zur Bürgerschaft; das war so gut als adelig und bürgerlich. So ward uns aller weitere Verkehr gewehrt.

Aber ein Schlossergesell läßt sich nicht so leicht aus dem Feld schlagen. Reden konnte ich nun nicht mehr mit meinem Schatz; wir konnten uns nur noch verstohlen und aus mäßiger Entfernung sehen, am Fenster, im Garten. Aber kann man nicht auch mit dem Mund zum Auge reden? Ich machte mir so meine eigenen Gedanken darüber. Der Mund spricht in doppelter Weise. Innen bildet er die Tonformen des Wortes aus, aber zugleich spiegelt sich in dem fein abgestuften Gestaltenwechsel der bewegten Lippen auch außen sichtbarlich die Tonform. Wer taub ist, der sieht's den Leuten am Mund an, was sie sprechen. Und meint ihr, die Leidenschaft, welche unsere Sinne nicht nur wunderbar verwirren und trüben, sondern auch ebenso wunderbar schärfen kann, vermöchte dem Auge nicht die Kraft zu geben, daß es, auch ohne einen Laut zu hören, dem Geliebten dennoch jedes Wort am Munde absieht?

[350] So sprachen wir fast täglich geisterweise miteinander. Elisabeth stand am Fenster, schaute in die Landschaft hinaus oder begoß ihre Blumen; ich aber hatte mich in unverdächtiger Entfernung an einem alten Baumstamme aufgepflanzt und die Zwiesprach begann sofort mit Hand und Lippe.

Die stumme Sprache war uns in kurzem so natürlich, so wert geworden, daß wir beide im stillen dachten, nur dies könne die einzig echte Redeweise der Liebe sein.

Solches stellte ich mir nun recht lebhaft vor, um das Bild der Elisabeth rein und treu in meinen Sinnen zu halten und zur Abwehr des Zigeunergesichts. Aber was hatte denn das braune Kind zu mir gesprochen? Doch nur wenige, bedeutungslose Worte. Und doch hatten auch wir geisterweise viel Tieferes zusammengeredet. Nicht ihre Worte, nein, die dankbare Ergebenheit ihres Blickes, das Zittern ihrer Lippen, diestumme Sprache war es gewesen, womit auch sie mir es angethan. Dort saß sie in der Ecke, – das unstete Licht der verglimmenden Kienspäne zitterte über ihre traumhafte Gestalt, – sie verhüllte das Haupt und schwieg. – Wie viele Herzenspein mochte dieser Mantel decken, darein sie sich hüllte! Wie viele Worte mochten in dem bloßen Zittern dieser Lippen verborgen liegen! – An wessen Lippen dachte ich? – Mit ihrem Schweigen richtete sie – die Zigeunerin nämlich – mir all die Marter an, daß ich hätte aus der Haut fahren mögen. Wenn ich nur ihre verteufelt schöne Nase wieder sehen könnte, [351] nur um des Vergleichs halber? Wessen Nase? der Elisabeth oder der Zigeunerin? –

Da war ich wieder bei der Nase angekommen, und durch den neuen Spruch, womit ich das Gespenst bannen wollte, hatte ich es abermals erst recht heraufbeschworen.

Ich legte mich auf die andere Seite, schloß die Augen fest und führte meine Gedanken mit Gewalt wieder zurück zur echten Elisabeth.

Die stumme Zwiesprach genügte nicht auf die Dauer. Also mußten Briefe geschrieben werden. Das war leicht, aber sie zu besorgen war schwer.

Das Amthaus befand sich im alten Schlosse, welches weiland mit Wall und Graben tüchtig befestigt gewesen. Jetzt hatte sich freilich Mauerwerk und altes Geröll zu hohen Haufen im tiefen Graben angesammelt und den Wall bedeckte wucherndes Buschwerk. Das Fenster von Elisabeths Kämmerlein ging auf den Graben. Wenn man aber nicht vorn über die alte Zugbrücke zum Thor des Amthauses gelangte, dann war es immer noch sehr mühselig, ja gefährlich, dicht unter die Mauern des Gebäudes zu steigen. Doch das sollte meinen verliebten Mut nicht schrecken.

Ich bin zu Hause, im elterlichen Hause, ganz gewiß, nicht in der verzauberten Wächterhütte. Mitternacht ist vorüber. Ich hatte mich bisher in den Kleidern auf meinem Lager gewälzt, und ob ich gleich nach dem heißen Tagewerk der Ruhe gar sehr bedurft hätte, doch kein Auge zuthun können. Jetzt bläst der Nachtwächter ein Uhr: – das längst erwartete Zeichen. [352] Ich springe auf; zum Fenster geht's hinaus und über die Hofmauer hinüber auf die Straße. Dort ist's jetzt totenstill. Das dumpfe Getute des Nachtwächters verhallt in der Ferne. Nur ein Brunnen rauscht emsig in der einsamen Nacht. Kennt ihr diesen wundersamen Ton, das leise Gemurmel des Wassers im tiefen mitternächtigen Schweigen? Es klingt, als ob uns selber ein altes halbverklungenes Lied melodisch durch die Brust rausche.

Das alte Schloß ist rasch erreicht, der Wall rasch erklettert. Ich weiß genau, wo ich an den gefährlichen Stellen den Fuß einzusetzen, wo ich mich an einer Wurzel, wo an den Aesten zu halten habe. Das Dunkel der Nacht kann mich nicht hemmen, denn ich habe mir den Pfad noch nie anders als unter ihrem Schutze gebahnt.

Aus den Thälern ringsum dampfen, Gespenstern gleich, die weißen Nebel auf, am Himmel ist kein Mond, kein Stern zu sehen, dickes, molkiges Gewölk hängt schwer über der Stadt und dem Walde.

Das alte Schloß ist ein unheimlicher Bau! wohl wenige würden sich in dieser Stunde allein hierher wagen. Seht ihr dort oben am Dache den Vorsprung mit dem kleinen Fensterchen? Glitzert da nicht etwas ganz matt? Vielleicht ist's nur ein neuer blanker Blechbeschlag, vielleicht auch faules Holz. Aber es ist ein unheimliches Fenster. Vor hundert Jahren wohnte droben ein verführtes und verlassenes Mädchen. In der stillen Nacht, vielleicht gerade jetzt zu dieser Stunde, überkamen das arme einsame Weib jene Schmerzen, [353] unter denen sich ein neues Leben dem alten entwindet, und als sie gegen die Morgenfrühe in ihrer Verzweiflung das Kind im Schoße wimmern hörte, erwürgte sie es und schleuderte den Körper durch jenes Fenster in den Graben herab. Hätten wir Mondschein, ihr würdet drüben am Waldsaume den alten steinernen Galgen sehen können. – Das Dachstübchen ist, seit hundert Jahren unbewohnt, in demselben Zustande verblieben, worin es war, da die Kindsmörderin zum Verhör und zum Galgen geführt wurde; es sieht grauslich aus in dem engen Kämmerchen.

Allein was kümmert mich dieses Nachtgespenst? Wohnen doch da unten hinter Elisabeths Fenster alle guten Engel.

Jetzt habe ich unter diesem Fenster festen Fuß gefaßt. Ich werfe mit einem Kieselsteinchen ganz leise wider die Scheiben. Gutes Zielen thut not, denn nebenan schlafen sechse von des Amtmanns zwölfen. Das Fenster öffnet sich; ein herabgelassener Bindfaden wird die Briefe befördern. Seht, jetzt erscheint sie selber am Fenster, kaum schattenhaft erkennbar in der dunklen Nacht. Aber das um den Kopf gewundene feuerfarbene Tuch sieht man doch ganz deutlich! – Das feuerfarbene Tuch? Der Zigeunerin? Ja wahrhaftig, und der Galgen da drüben paßt ganz lustig zu ihrer Erscheinung.

Und fort ging's abermals im wilden Taumel der Gedanken auf dem betretenen Pfad. Elisabeth und die Zigeunerin flossen aufs neue in eine Gestalt zusammen, und zwischendurch grinste mich das Gespenst [354] der armen Sünderin an, die ihr Kind in den Schloßgraben schleudert. Es war die rechtschaffene Liebe, die da kämpfte mit wüstem Liebesrausch und Treubruch, dazu aber war es auch das Bild der göttlichen Rache, das drohend herniederschaute aus dem öden, grauslichen Dachstübchen.

Dieser Gedanke packte mich plötzlich mit furchtbarer Gewalt. Und abermals schalt ich mich einen Esel und sprach zu mir: Martin Hildebrand heißest du. Das sind zwei tapfere Namen. Martinus schrieb sich Doktor Luther, der kampfgerüstete Gottesmann, der dem Teufel das Tintenfaß an den Kopf warf; Hildebrand war ein großer Held in alten Ritterzeiten, der auch nicht den heidnischen Zigeunermädchen nachgelaufen sein wird. Ei, wer so ritterliche Namen trägt, muß selber auch ein guter Ritter sein. Und siehe, mit dem Segen meines Namens bannte ich das Trugbild und fühlte mich wie der Erzengel Michael, da er den Teufel unter seinen Füßen hat.

Da wachte ich auf.

Hell leuchtete die Morgensonne durch die Thür und den Rauchfang in die Hütte. Tief schlafend lag mein Kamerad neben mir. Aber die Zigeunerinnen waren verschwunden.

Ich weckte den Holsteiner, und wir rüsteten uns zum Aufbruch. Da fanden wir auf unseren Ranzen noch zwei gewaltige Stücke von dem Schinken liegen, den uns die Frauen zurückgelassen.

»Es ist doch noch Tugend bei diesen Spitzbuben,« sagte der Schreiner, indes er den Schinken in den[355] Ranzen schob, »und wenn gestohlene Katzen am besten mausen, dann wird uns gewiß auch dieser gestohlene Schinken als das köstlichste Frühstück schmecken.«

3. Auf der Grenze

III. Auf der Grenze.

Dem Handwerksburschen ist in den Grenzstädten oft eine harte Prüfung vorbehalten – er muß sich über sein Reisegeld ausweisen. Der Grenzen aber gab's selbiger Zeit noch gar viele im heiligen römischen Reich, und überall ward ein anderes Reisegeld gefordert. Der Satz, daß guter Mut halbes Zehrgeld sei, galt nur selten vor den Bürgermeistern und Stadthauptleuten; sie wollten nur immer das ganze Zehrgeld sehen und kümmerten sich nicht um den guten Mut.

Solange ich mit meinem Kameraden, dem Holsteiner, gewandert war, hatten wir uns mit einem altüberlieferten Handwerksburschenkniff durchgeholfen. Wir thaten nämlich vor dem Amthause das gemeinschaftliche Vermögen zusammen, und so mochte die Summe für den einzelnen wohl genug sein. Standen wir dann auf der Polizeistube, so drängten wir uns recht dicht aneinander, der Holsteiner zählte die Summe zuerst vor, fing mit den Hellern an und hörte, sofern wir gerade so grobes Kaliber führten, mit den Kronthalern auf. Sowie er dann das Geld wieder wegnehmen durfte, reichte er mir's flink hinter dem Rücken zu, und zählte ich die gleiche Barschaft noch einmal [356] auf den Tisch, fing aber mit den Kronthalern an und hörte mit den Hellern auf. Die Büttel und Scharwächter müßten rechte Schafsköpfe gewesen sein, wenn sie das Kunststück nicht gemerkt hätten; aber es war altes Handwerksburschenrecht, und das überlieferte Herkommen muß die Polizei nicht antasten.

Der gute alte Brauch würde uns aber jetzt in dem ersten hannoverschen Städtchen jenseits der Weser wenig geholfen haben. Denn dort sollte sich jeder über sechs Reichsthaler Zehrgeld ausweisen, und wie wir nun auch die gemeine Barschaft bei Heller und Pfennig zusammenzählen mochten, kamen doch niemals mehr als drei Reichsthaler heraus.

Vor dem Städtchen steht eine alte Linde mit dickem, knorrigem Stamm und rings um denselben zieht sich eine bequeme Steinbank. Dort saßen wir, zählten noch einmal und immer noch einmal, ob wir nicht die sechs Reichsthaler herauszählen könnten, allein es waren und blieben nur drei.

Das Wetter war zwar prächtig und der Weg, welcher zur Grenze herübergeführt hatte, wunderschön, aber eine vermaledeite Geschichte wäre es doch gewesen, wenn wir wegen mangelnder drei Reichsthaler binnen vierundzwanzig Stunden den wunderschönen Weg bei dem prächtigen Wetter wieder hätten zurückwandern müssen.

Mein Kamerad weidete sich eine Weile an meiner Verlegenheit. Da sagte er plötzlich mit bedeutungsvollem Lächeln: »Du hast in dem Wächterhäuschen tapfer geschlafen, Bruder, indes ich für uns beide gewacht [357] habe. Nimm mir Ranzen, Stock und Kittel hier in Verwahrung, daß ich mich wie ein Spaziergänger durchs Stadtthor einschleichen kann, und in einer halben Stunde hoffe ich mit dem fehlenden Gelde wieder hier zu sein.«

Und ohne auf meine Fragen zu hören, sprang er davon. Aber seine Worte ließen mich schon ahnen, daß hier wieder die Zigeunerinnen im Spiel sein müßten.

Der Holsteiner brachte dann wahrhaftig nicht bloß die drei Reichsthaler herbei: er brachte ihrer neune mit, so daß wir beide diesmal nebeneinander unser Wandergeld gleichzeitig und vollzählig hätten auf den Tisch legen können.

Ich aber faßte den Kameraden am Rock wie der Scherg den Marktdieb, und nicht loskommen sollte er mir, bis er bekannt, wie er das Geld gewonnen. »Du hast es dem alten Weibe abgeschwatzt, während ich in der Hütte schlief, und ich rühre keinen Heller von dem Diebsgeld an!« –

– »Der Alten? Nein. Die ist zäh wie Lappleder. Sie hat uns ihren Dank bereits gezahlt, und wenn der Pfarrer nur einmal predigt für ein Geld, warum sollte eine Hexe zweimal uns dienen für eine Freundlichkeit? Aber die junge ist ein Prachtmädel. Höre, Westerwälder, nicht bloß das Glück kommt dir im Schlaf, sondern auch die Mädchen. Doch nun kein Besinnen! Nimm das Geld, und dann mit fliegenden Fahnen ins Städtchen eingezogen!«

Nun aber nahm ich das Geld erst recht nicht. [358] Martin Hildebrand heiße ich nach zweien guten Kämpfern; darum wollte ich auch den guten Kampf jetzt tapfer zu Ende fechten.

Und unter dem Spott und dem zornigen Schelten meines Kameraden zog ich zum Thore hinein wie ein stolzer Sieger, und dennoch fiel mir auch das Herz bei jedem Schritt etwas tiefer gegen die Schuhe hinab; denn mein Siegerstolz war ja der eines Märtyrers, und die Ausweisung per Schub winkte im Hintergrund.

Der Thorwart rief Halt! Wir zeigten unsere Schreiben – Wanderbücher gab's dazumal noch wenige – und wurden sofort zur weiteren polizeilichen Behandlung aufs Amthaus geschickt.

Auf der Amtsstube schaute mich der Büttel zwar etwas grimmig und nachhaltig an; doch das ist man gewöhnt. Dann aber stellte er ganz höflich einen Stuhl hin und bedeutete mir schweigend, daß ich mich setzen möge. So viel Aufmerksamkeit hatte man mir noch auf keiner Amtsstube erwiesen, und ich freute mich im stillen darüber, wie auch, daß man meinem übermütigen Genossen keinen Stuhl geboten, obgleich mich doch auch wieder das geheimnisvolle Wesen des in Grobheit höflichen Büttels wunder nahm, der uns sofort allein in der Stube ließ.

Nach langem Harren erschien er wieder und zwar in Begleitung eines Bartscherers. Auch der sprach keine Silbe, zog sein Gerät hervor, seifte mich ein, und – jetzt ergriff ich den Sinn von des Büttels Höflichkeit: ich hatte den Schnurrbart ganz vergessen, den ich mir aus Ungarland mitgebracht! – Und der Barbier begann [359] mir mit einem gräßlich stumpfen Messer den Schnurrbart herunterzuscheren.

Er war erst mit der einen Hälfte fertig, da war aber mein stolzer Mut schon ganz wegrasiert. Wenn einen in Kurhannover der Büttel schon um eines unschuldigen Schnurrbarts willen aufs Blut schinden lassen durfte, was wird man da erst mit einem Handwerksburschen anfangen, der kein vollzähliges Wandergeld hat?

Ich streckte darum, während der Bartscherer an des Schnurrbarts zweite Hälfte ging, ganz sachte die hohle Hand hinter den Rücken. Mein Kamerad verstand wohl das Zeichen, aber er ließ mich eine Weile zappeln, und erst als der Schnurrbart ganz herunter war, legte er mir die Thaler in die Hand. Als ich aber das kalte Geld fest packte, brannte es mich doch wie höllisches Feuer. Und ich zeigte es danach mit einem solchen rasierten Armensündergesicht vor, als hätten mir die Hühner das Brot gefressen.

Erst als wir das Amthaus im Rücken hatten, holte ich wieder Atem aus tiefster Brust. Und abermals faßte ich den Kameraden am Rock, und nicht eher sollte er wieder loskommen, bis er versprochen hätte, mich zu dem Zigeunermädchen zurückzuführen, daß ich ihr das Darlehen heimzahlte, und als Zins wollte ich ihr dann einmal gründlich und herzbewegend die Meinung eines treuen deutschen Handwerksburschen sagen.

»Das geht nicht an,« erwiderte der Schelm ganz gelassen. »Ich will dir reinen Wein einschenken. [360] Heute nacht erwog ich, daß wir mit unserer Armut nicht einwandern könnten in den Kurstaat Hannover. Da trug ich mein christliches Bedenken der alten heidnischen Hexe vor; die aber hatte kein Geld mehr für uns. Allein die junge Hexe, die zwar den Mantel vors Gesicht zog, aber zwischen den Falten fortwährend nach dir hinüberschielte, hatte es gehört und nahm mich ganz verstohlen beiseite, da die Alte den Aufbruch rüstete, und verhieß mir Geld hier in der Stadt, wo die ganze Horde verborgen liegt. Doch mußte ich ihr mit Manneswort geloben, keiner Seele ihr Versteck zu verraten, daß nicht der ganze Schwarm ins Unglück komme, noch jemals die Rückzahlung des Geldes zu versuchen. Also sind wir quitt und das Hexengeld soll uns ebenso gut gedeihen, wie uns heute morgen der gestohlene und geschenkte Schinken geschmeckt hat.«

Da war vorerst nichts weiter zu machen. Ich aber schwur mir zu, das Geld nicht anzurühren. Die Dirne wird uns schon bald wieder begegnen, denn dieses Volk ist überall und nirgends, dann aber wollte ich ihr die Silberlinge vor die Füße werfen. Denn wer Martin Hildebrand heißt, der heißt nicht Judas Ischarioth, daß er seine Herrin und Meisterin um elendes Silber verraten sollte. – –

– – Auf der Amtsstube hatte man uns beiden ein rundes Stückchen Blech gegeben, darauf war die Ziffer II. eingeschlagen. Dieses Blechstück sollten wir auf der städtischen Rechnerei abliefern, dann würde man uns zwei Weißpfennige zur Wegsteuer darauf auszahlen. Es war das eine uralte Stiftung. Vor [361] vielen hundert Jahren hatte nämlich ein reicher Zunftmeister ein Kapital niedergelegt, von dessen Zinsen jedem durchwandernden Handwerksburschen zwei Albus Zehrgeld auf den Weg gegeben werden sollen. Auf meine Frage, warum man denn dieses Geld durch ein Blechstückchen anweise, erwiderte man mir, das stamme aus einer Zeit, wo den Leuten das Schreiben noch nicht so gut abgegangen sei wie heutzutage. Auch sei die Anweisung in Blech ganz besonders bequem; denn mit zwanzig Blechzeichen, die an jedem Samstag aus der Rechnerei als eingelöst wieder zurückgeliefert würden aufs Amt, kämen sie das ganze Jahr aus, während für diese Frist tausend geschriebene Zettel nicht langten.

Mein Kamerad, der Holsteiner, den das Zigeunergeld übermütig gemacht, spottete über das gar geringe Zehrgeld und mehr noch über die blecherne Anweisung, weil sie genau so aussah, wie jene Blechmünze, die man den Hunden umhängt zum Zeichen, daß die Hundesteuer entrichtet ist. Und als uns des anderen Tages ein Pudel in den Wurf kam, hielt er ihn fest und band ihm das Blechstück um den Hals zum großen Jubel der Gassenbuben.

Ich aber dachte, man müsse doch das Gedächtnis des alten Zunftmeisters ehren, der die schöne Stiftung gemacht, und trug mein Blech auf die Rechnerei.

Dort mußte ich lange warten. Allein ich traf in der Vorstube den Büttel, der mich hatte rasieren lassen, der war nun ebenso zuthunlich gegen den Handwerksburschen mit glattem Gesicht, als er grob gewesen[362] war gegen den schnurrbärtigen, und erzählte mir viel von der Last seiner Geschäfte.

»Denkt Euch, heute nacht um zwölfe mußte ich noch einmal heraus! Unter der Stadtmauer hatte sich eine ganze Zigeunerhorde gelagert. Einige Bürger aber, die gegen Mitternacht an jener Stelle vorbeigegangen, hörten ein so furchtbares Schreien, Streiten und Jammern, als ob's Mord und Totschlag gäbe, daß sie mir am Laden klopften und die Sache erzählten. Und wie ich dann mit der Scharwache an den Platz komme, da muß ich eine greuelhafte Geschichte sehen. Die wilden Kerle hätten ein schwaches, wunderschönes Mädchen beinahe erwürgt. Etliche aber nahmen Partei für das arme Ding. Und nun teilten sie sich, nach ihrer scheußlichen Art, Faustschläge aus; die Faust aber hatten sie dabei mit einem Tuch umwickelt, worin ihre zweischneidigen Messer verborgen steckten, so daß nach jedem Hieb das Blut hervorspritzte. Als wir aber einsprangen und die halbtote Dirne ihren Händen entrissen, sagten sie, das Schandkind habe ihr gemeines Geld veruntreut und neun Reichsthaler an einen Handwerksburschen weggeschenkt. Ein grimmiger alter Kerl aber, anzuschauen wie der Teufel selber, rief, nicht genug noch habe die Dirne an den blutigen Hieben; die Verräterin des Stammes müsse ›Feuerspeise‹ heißen. Wißt Ihr, was das bedeutet? – Die zwei ärgsten Peiniger des geschlagenen Geschöpfes konnten wir auf der Stelle fassen. Die anderen liefen davon, und das Mädchen muß sich, wer weiß in welchen Winkel verkrochen haben, denn als wir wiederkehrten, [363] war sie nirgends mehr zu finden. Die blutigen Spuren ihrer Mißhandlung könnt Ihr heute noch auf dem Platze sehen.«

Es wurde mir bald glutheiß, bald eiskalt über dieser Erzählung, und so wird mir's heute noch, wenn ich daran zurückdenke. Denn wie man sich erzählt, verbrennen die Zigeuner das Mädchen oder Weib, welches einem fremden Manne ihre Liebe zugewendet, und wen sie also dem Tode geweiht, den nennen sie »Feuerspeise«.

Auf der Lagerstätte unter der Stadtmauer habe ich ziellos stundenlang vergeblich gesucht und nichts gefunden als das zertretene Gras und die Blutspuren.

Wir wanderten weiter.

Ich mußte mich bald von dem Holsteiner trennen und sah und hörte nichts mehr von dem Zigeunermädchen.

Anfangs war mir's vor Zorn, Scham und Reue recht eigentlich, als müsse ich aus der Haut fahren. Im Kurfürstentum Hannover brauchten sie damals viel Geld wegen der alten Kriegsschulden und warben Soldaten für englischen Dienst in Ostindien. Da kam mir manchmal der Gedanke, meine Haut den Engländern zu verkaufen, das wäre schier so gut gewesen, als aus der Haut gefahren. Die vier Thaler tastete ich nicht an, obgleich mir mittlerweile manchmal der letzte Heller ausgegangen ist.

Endlich dachte ich: das Heidenkind wird wohl in selbiger Nacht totgeschlagen worden sein, und als ich – mir deucht, es war in Westfalen – eines Tages[364] an einer Kirchhofskapelle vorüberkam, wo sie eben das Totengebet über dem Sarge einer Braut sprachen, warf ich die vier Thaler in den vor der Thüre aufgestellten Opferstock, kniete zu den anderen und betete für die Seele der armen Zigeunerin, die um meinetwillen totgeschlagen worden war.

Und wie ich des brennenden Geldes ledig geworden und für die Ruhe ihrer Seele gebetet hatte, kam auch meiner Seele die Ruhe wieder; ich konnte mir wieder rein und voll das Bild meiner Elisabeth malen, und der Teufelszauber war von ihrer wunderschönen Nase genommen.

So wanderte ich denn getröstet weiter.

4. Fastnacht

IV. Fastnacht.

Köln ist immer eine lustige Stadt gewesen, namentlich aber in den Tagen meiner Wanderschaft. Die Bürger lebten herrlich und in Freuden und das übrige Volk bettelte gemütlich in den Kirchen und Straßen und fuhr auch nicht schlecht dabei. Die Schildwachen an den Thoren bettelten die einziehenden Reisenden an, und da die Stadt für eine Freistätte verdächtiger Personen aus den angrenzenden Ländern galt, so gab jeder den Löffelsoldaten gern ein Almosen, bald aus guter Laune, bald aus Furcht.

Ein ganzes Jahr hatte ich in Köln gearbeitet. Es hielt mir anfangs schwer, unterzukommen, da man [365] die lutherischen Ketzer nicht gerne sah in der heiligen Stadt, wie wir auch zwei Stunden weit nach Mühlheim in die Kirche gehen mußten. Aber als ich einmal meinen Meister gefunden, ward ich bald heimisch bei ihm, und hatte dort gute Tage. Denn die reichen Kölner, für die wir arbeiteten, sind Leute, die's lang hängen lassen, wenn sie's lang haben, und nirgends bekam der Gesell und Lehrjunge ein so kavaliermäßiges Trinkgeld, als bei den Kölner Prälaten und Domherren. Da ging es denn hoch her unter dem jungen Handwerkervolk. Ja, eine lustige Zeit war sie doch, die gute alte Zeit! Wenn die Maurer damals den Grundstein eines Hauses legten und herkömmlicherweise eine Flasche Wein hineinmauern sollten, dann tranken die Gesellen flugs den Wein weg und mauerten die leere Flasche ein für künftige Geschlechter. Die neuen französischen Papiertapeten kamen eben in Mode in den reichen Häusern von Köln und das Aufkleben derselben ward von den Tapezierern für ein besonderes Kunststück und Geheimnis ausgegeben, und die Gesellen verlangten für jedes Zimmer fünf bis sechs Maß Wein, um ihn unter den Kleister zu mischen, der nach einem geheimen Rezept zusammengesetzt werde. Dann kamen wir Bauhandwerker alle zusammen bei den Tapeziergehilfen und tranken den Wein, indes der Kleister das nötige Wasser trank. O wie ist es verkühlt und verhärtet das glutflüssige, funkensprühende Erz meiner lustigen Jugendzeit!

Also ein ganzes Jahr hatte ich in Köln gearbeitet, und nun wollte ich fortziehen aus den alten Mauern.[366] Da war es mir denn recht gelegen, daß vor Thorschluß noch die tolle Fastnacht kam.

»In drei Tagen geht es auf dem geraden Weg zurück nach dem Westerwald, die Wanderschaft hat ein Ende, und wenn ich einmal in unseren Bergen festsitze als Meister, dann gibt's für mich in zwanzig Jahren nicht wieder eine kölnische Fastnacht.« So dachte ich, als ich am Morgen des fröhlichen Tages meinen Bratenrock anlegte, nämlich den roten Rock mit den gelben bocksledernen Buchsen, worin ich konfirmiert worden bin, und mein seliger Vater war auch darin konfirmiert worden.

Da trat die Frau Meisterin zu mir, ein wohlgenährtes, rotbackiges echt kölnisches Kind, festlich aufgeputzt. Um den Kopf aber hatte sie über die Haube allezeit ein weißes Tuch gebunden, denn ob sie schon aussah wie das Leben, litt sie doch stark an der Kopfgicht.

Die gute Frau hielt große Stücke auf mich und vertraute mir manchmal ein Geheimnis. Schien es doch, als ob sie auch heute so etwas auf der Seele habe.

»Wie geht's mit der Kopfgicht, Frau Meisterin?« fragte ich wie alle Tage, so auch heute, zum Morgengruß.

Und jedesmal erwiderte sie: »Wie's Gott gefällt, aber doch herzlich schlecht.« So hatte sie mir ein ganzes Jahr lang jeden Tag geantwortet. Heute jedoch sprach sie: »Wie's Gott gefällt; aber es wird bald ein Ende haben. Das ist meine Fastnachtsfreude, [367] Martin, daß endlich ein Mittel wider das heillose Uebel gefunden ist. Heute ist ein Tag gekommen, wo wir's anwenden können.«

Und sie zog mich in die Ecke und flüsterte: »Der Meister darf um nichts wissen; er ist hinausgegangen die Gecken zu sehen, und alle die anderen laufen gleichfalls auf den Gassen herum. Das Mittel läßt sich nur ganz geheim anwenden: – ich brauche Sympathie!«

»Nun, Frau Meisterin,« sagte ich, »und ich will meine Narrenkappe aufsetzen – das ist auch Sympathie – und mit den Gecken durch die Straßen fahren.« Im stillen wünschte ich aber der guten Frau, daß ihr die Sympathie nicht auch zur Narrenkappe werden möge. Denn sie war eine herzensgute Seele, aber viel Grütze hatte sie nicht im Kopf.

Auf der Straße begegnete ich dem Meister, der nahm mich mit in die Trinkstube der Zunft. Er wußte wohl, daß er einen rechtschaffenen Gesellen an mir gehabt hatte, drum führte er mich heute – es war zum erstenmal – nicht nur in die Trinkstube, sondern er bedeutete mir auch klar, wie hoch er diese Auszeichnung anschlage, denn seine Einladung schloß er mit dem feierlichen Wort: »Danach der Mann ist, danach wird ihm die Wurst gebraten.«

In der Trinkstube aber durfte ich mich an das unterste Ende des großen Tisches setzen; denn oben saßen die Meister, und einmal wurde mir sogar von meinem Meister über den ganzen Tisch hin zugetrunken, was großes Aufsehen erregte.

[368] Danach trat der Meister zu mir und sprach ganz vertraulich: »Ich will dir noch eine Freude machen, Martin. Du sollst die kölnische Fastnacht recht gründlich gesehen haben, darum will ich dich nachher auf den Gürzenich mitnehmen. Zuvor aber gehe mit nach Hause, ich muß noch ein Stück Geld zu mir stecken für alle Fälle, und dann wollen wir's lustig treiben bis tief in die Nacht hinein.«

Als wir ins Haus traten, begegnete mir die Frau Meisterin auf der Flur.

»Wie geht's mit der Kopfgicht, Frau Meisterin?« fragte ich in herkömmlicher Weise.

»Wie's Gott gefällt, doch aber herzlich schlecht.« Das sprach sie laut; leise flüsterte sie mir dann zu: »Wann heute bei Sankt Aposteln die Vesperglücke läutet, dann fliegt die Kopfgicht zum Fenster hinaus.«

Der Meister war in die Stube gegangen, um das Geld zu holen.

Seh' ich doch noch leibhaftig das versteinerte, vergeisterte Gesicht vor mir, mit welchem der dicke ehrliche Mann zurückkam, ein Säcklein in der Hand schüttelnd, und es klang, wie wenn lauter Steine darin wären!

»Weib! ist das nicht unser Geldsäckchen? Wo ist das Geld?«

»Jesus, Maria und Joseph!« rief die Meisterin, in deren rundbackigem Gesicht nun auch die Versteinerung und Vergeisterung anfing, sprang hinzu, riß dem Meister das Säcklein aus der Hand – – [369] da rollten lauter Steine auf die Erde, lauter schöne, glatte Rheinkiesel!

Das war zu viel für eine Fastnacht, selbst für eine kölnische. Mir kam die Verwechslung fast vor wie jene von Wasser und Wein bei den Tapezierergesellen.

Der Meister konnte eine Weile nichts weiter herausbringen als lauter »Hölle« und »Teufel,« und die Meisterin nichts erwidern als »Jesus, Maria und Joseph!«

Endlich fand sie gebrochene Worte, um zu bekennen, sie habe Sympathie als Mittel gegen die Kopfgicht gebraucht; – zwei Zigeunerinnen hätten ihr das Mittel zugerichtet – den Zauber gesprochen, – und zu dem Ende – hier kam das Bekenntnis nur noch tropfenweis in großen Pausen heraus – habe das Weib einen irdenen Topf gefordert, worin sie Kräuter abkochen wolle; – auf daß aber der rechte Zauber während des Kochens über die Kräuter gesprochen werden könne, müsse ein Säckchen – nämlich ein Säckchen mit wenigstens zwanzig Thalern gefüllt, in den Dampf des Gebräus gehalten werden; – das Säckchen solle nur für den Zauber hergeliehen sein. »O, nun hat der Teufel das Geld in Kieselsteine verwandelt. Ich wollte ja anfangs nicht volle zwanzig Thaler herleihen. Da sagte die junge kleine Hexe: Ihr Christen sprecht: danach das Geld, danach die Seelmess'; so sagt der Zigeuner auch: danach das Geld, danach der Zauber. Wollt Ihr bloß den schwachen, den kleinen Zauber, dann geht es auch mit dem kleinen Geld –«

[370] »So sagte die junge, die kleine –« rief ich hinein –

»Ach ja, das kleine Weibsbild.«

»Mit dem pechschwarzen Haar und dem feuerfarbenen Tuch?«

»Ja, wie einen Turban um den Kopf gewunden –«

»Und die Alte hatte eine große Warze auf der Nase? –«

»Wie ein Groschenstück!«

»Und die Kleine hatte auch eine Nase – eine Nase –«

»Wie? Was? eine Nase –«

Ja, die Nase war es, die unheilvoll schöne Nase, die mich schon so oft verblendet hatte, und ich sah sie jetzt wieder in höllischer Klarheit und lief davon, als stürze das Hans brennend über meinem Kopf zusammen. Und ohne eigentlich selber zu wissen, was ich wollte, lief ich stundenlang die Straßen auf und ab, bis mir die Gedanken wieder ein wenig zur Ruhe kamen.

Erst in der Dämmerung kam ich wieder gegen das Haus des Meisters. Es war aber nahe der Stunde, wo von Sankt Aposteln die Vesperglocke läuten sollte.

Da sehe ich, daß mir jemand in einiger Entfernung nachfolgt. Ich bleibe stehen – die Gestalt nähert sich mir. Es war eine feine, vornehme Frauenmaske.

Als sie vor mir stand, nahm sie die Larve herunter. Jetzt kam das Versteinern und Vergeistern auch [371] an mein Gesicht. Das war meine Elisabeth, wie sie leibte und lebte. Die Gestalt aber sprach mit der feinen Stimme, die mir schon seit länger als einem Jahre, seit ich das Zigeunerkind tot geglaubt, wie der verschwebende Orgelton aus einer Gespensterkirche im Ohr geklungen hatte: »Ist das Eures Meisters Haus?«

An dieser Stimme erkannte ich, daß es wirklich die Zigeunerin sei; denn das Dämmerlicht und das ordentliche christliche Kleid des Heidenmädchens hatten die täuschende Aehnlichkeit mit meiner Braut ganz vollendet.

Ich antwortete »Ja«, wie ein Schulbube im Examen.

Da zog sie zwanzig Thaler hervor und sprach: »Hätt' ich vorausgewußt, daß jenes Weib Eure Meisterin ist, ich würde sie um aller Welt Güter nicht bestohlen haben. Ich erfuhr es erst, als sie selber davon plauderte, und da war es zu spät. Nehmt das Geld und bringt es ihr zurück.«

Jetzt kam mir Verstand und Mut und die Sprache wieder.

»Wer sich des Stehlens getraut,« rief ich, »der muß sich auch des Galgens getrauen!«

»Wer am Galgen stirbt,« erwiderte sie, »der braucht nicht im Bette zu sterben!«

»Und weißt du nicht, daß Stehlen Sünde ist?«

»Den Fremden bestehlen ist keine Sünde. Den eigenen Stamm bestehlen ist schwere Sünde; diese habe ich verübt, aber nur dir zuliebe.«

[372] »Und wo willst du hinaus mit dieser Liebe zu mir?«

»Du sollst das Pflegkind unseres Stammes werden, du sollst mit mir ziehen durch Wald und Heide, nach Nord und Süd, frei und flüchtig wie der Wind, der mit uns über die Heide braust, die Narren verachtend, die sich in Städten und Dörfern selber ihre Kerker bauen. Zum Wanderer bist du geboren, aber noch hast du nicht geschmeckt, wie selig der freie Wanderer ist, der Zigeuner!«

Kein Komödiant hat jemals schöner geredet und kein Pfarrer beweglicher. Denn es rieselte mir über den Rücken, als sie so gesprochen und in der Dämmerung verschwand, ich weiß nicht wie, und das Geld hielt ich auch in den Händen und wußte nicht, wie ich es gewonnen.

Aber stolz war ich doch, daß ich den Mut gehabt, dem verwahrlosten Mädchen den Text zu lesen über das Stehlen. Hätte ich nicht an dem Tage gerade den roten Rock getragen und die gelben bocksledernen Buchsen, worin ich und mein seliger Vater konfirmiert worden sind, ich hätte mich schwerlich so tapfer ins Zeug geworfen.

Als ich aber der Frau Meisterin das Geld wieder gebracht und Lob und Dank die Fülle von ihr und dem Meister gewonnen hatte, – denn sie glaubten, ich sei den ganzen Tag mit den Polizeidienern umhergelaufen, um die diebischen Weiber aufzuspüren – da fragte ich, nicht ohne einige Bosheit: »Nun, Frau Meisterin, wie geht's mit der Kopfgicht?«

[373] »Mit der Kopfgicht?« fragte sie und besann sich und fühlte an den Kopf, als suche sie was und könne es nicht finden.

Da läutete die Vesperglocke von Sankt Aposteln: – die Kopfgicht war in der That zum Fenster hinausgeflogen. Im Schreck hatte sie die Frau verloren und vergessen.

Und sie rühmte ihr Leben lang die Sympathie der Zigeuner als den heilbringenden Zauber, wodurch sie der bösen Kopfgicht quitt geworden sei.

5. Hohe Flut

V. Hohe Flut.

Nach drei Tagen war der Ranzen gepackt.

Es war eine böse Zeit fürs Wandern. Der Rhein ging so hoch, daß kein Wagen mehr auf der Landstraße längs dem Ufer fahren konnte, und die Eisschollen trieben so wild in der übermächtigen Flut, daß sich auch kein Schiff auf den Strom wagte. Im Kölner Hafen stand das Wasser drei Fuß hoch in den Warenschuppen und war so plötzlich über Nacht zu der verderblichen Höhe gestiegen, daß ganze Schiffsladungen Oel und reiche Vorräte anderer Waren in den offenen Hallen vernichtet worden waren.

Alle Freunde drangen in mich, doch nur ein paar Tage noch auszuhalten, bis die hohe Flut sich verlaufen habe. Ich aber hatte einmal meinen Kopf darauf gesetzt, auf den 28. Februar zu gehen, und also ging ich, und wenn es Pflastersteine geregnet hätte.

[374] O wie mächtig sehnte ich mich nach unserem öden, neblichten und doch so trauten Westerwald! Keinen Tag länger würde ich's in Köln ausgehalten haben. Sechs Jahre lang war ich unterwegs und wußte niemals was vom Heimweh, und in den letzten drei Tagen kommt mir's, daß ich hätte greinen mögen wie ein Kind, wenn ich an die Westerwälder Nebel dachte!

Am Nachmittag zog ich aus und wanderte selbigen Abend noch bis Bonn. Das ging ganz gut. Das hohe Wasser hatte mich wenig angefochten, und schon dachte ich ebenso leicht des anderen Tages bis Koblenz marschieren zu können.

Aber weiter stromaufwärts sah es anders aus. Schon am Rolandseck, wo sich die Felsen eng zusammendrängen, war keine Uferstraße mehr gangbar. Da galt es, bergauf und bergab zu klettern, hier durch die Weinberge sich zu winden, dort durch wildverwachsenes Dorngestrüpp auf immer neuen Umwegen, je nachdem die gewaltige Ueberschwemmung sich tiefer in das Land hineinreckte oder eng gepackt in jähen Strudeln dahinschoß.

Hei! das war mir eine Lust, so mit dem Weg und dem Sturm zu kämpfen und die gierige Flut zu betrügen, wenn sie mir da und dort den Weg vertrat! Da brauste mein Wandermut auf wie ein junger Wein, und wie ich so ein Hemmnis um das andere zu nichte machte, fühlte sich auch mein inwendiger Mensch mächtig stark, und es ward mir wie einem Genesenden, und ich spottete meiner selbst, daß ich mich so gemartert um die Zigeunerdirne. Aber [375] wie? War es nicht auch derselbe junge Wein der Wanderlust, den mir die Zigeunerin verheißen hatte? Was anders fühlte ich denn jetzt, als die Seligkeit, die sie mir verkündet, durch Wald und Heide zu ziehen, frei und flüchtig wie der Wind, der mit uns über die Heide braust? Zum Wanderer sei ich geboren – so hatte sie gesagt, ja, und ich fühlte es jetzt, und alte, böse Gedanken überkamen mich, auch eine Hochflut, und ich gedachte wieder, wie ich mich den hannöverschen Werbern hatte verkaufen wollen, um bequemer aus der Haut zu fahren. Wahrlich, es war mir wiederum ergangen wie mit den Gesichtszügen meiner Braut, wie mit dem Traum von unserer stummen Liebe: mit meinem Wandermut hatte ich den Teufel bannen wollen, und mit meinem Wandermut hatte ich ihn erst recht beschworen. Und wäre die Dirne mir in dem Augenblick in den Weg gekommen, ich wäre mit ihr bis zur Hölle gelaufen, rein um der Seligkeit des Laufens willen.

Am Rolandseck stand ein schwer bepackter Frachtwagen mitten im Wasser, wohl fünfzig Schritt weit in der Flut; die Pferde waren längst ausgespannt und gerettet; aber die hohen Wogen steigen bereits über die Räder, und wenn ein tüchtiger Trieb Eisschollen kommt, dann schwankt die ungeheure Last des Wagens rechts und links auf ihren Achsen. Ich hatte eine Minute den Blick abgewandt von dem Wagen, denn der schlüpfrige Pfad unter meinen Füßen forderte ein wachsames Auge. Als ich wieder zurückblickte – war der mächtige Frachtwagen spurlos in den Fluten versunken.

[376] Bei Remagen hatten sich die größten Schiffe mitten auf der Koblenzer Landstraße vor Anker gelegt und ihre Taue an den Alleebäumen zu beiden Seiten befestigt, und doch mochten sie sicher noch ein paar Fuß Wasser über Not unter dem Kiel haben. Die wilden Wogen brandeten aller Orten zerstörerisch in den Baumpflanzungen und Gärten. Bei Linz, wo die Ufer weit und flach sich hinlagern, sah ich einen kleinen Kahn, der über das überflutete Ackerland hinausfuhr. Aber auch da noch waren die Strudel so wild, daß der Kahn bald rund im Kreise herumgerissen, bald pfeilschnell ein Stück stromabwärts gestoßen wurde, während sich die rastlos Rudernden vergebens müheten, das Ufer zu erreichen.

So woget das Herz des Gottlosen stets ungestüm und kann nicht stille sein, gleich der hohen Flut – wie die Schrift sagt. Hörst du's, wanderlustige Zigeunerdirne! und die Diebe zählen auch zu den Gottlosen! Aber sie weiß ja nicht, daß Stehlen Sünde ist – wie sollte sie eine Gottlose sein?

In der Brohl hatte ich ein kleines Kind gesehen, wie es, fest in die Wiege gebunden, vom Strom angespült wurde. Das Kind war tot, unversehrt, kaum merklich blaß und lächelte wie im Schlaf. Selbst die umstehenden Schiffer, steinharte Männer, vom Wetter und der Sonne braun geglüht, wurden weich bei diesem Anblick.

Wo ich in ein Wirtshaus trat, da saßen die Leute zusammen und fragten mich aus, wie es weiter unten stehe, und kaum wollten sie mir's glauben, daß [377] ich den bösen Weg habe überwinden können, und prophezeiten mir immer, ich komme gewiß keine halbe Stunde mehr über das Dorf hinaus, und doch bin ich mit Gottes Hilfe stets weiter gedrungen.

Wo ich einsprach, da hatte ein jeder von seinem Unglück zu erzählen. Dem einen war die Flut so jählings in den Keller gedrungen, daß sie ihm alle Fässer an die Decke drückte und zersprengte, und nun der ganze Keller gleichsam ein großer Kübel war voll Rheinwein mit Rheinwasser gemischt. Der andere hatte seine Kühe auf den Speicher schleppen müssen; den dritten hatte das Wasser ganz aus dem Hause vertrieben, und in der That war ich an manchem sonst stattlichen Bau vorbeigegangen, der jetzt nur noch mit der Dachfirst einen Fuß hoch über die Wellen ragte.

Eine Stunde Wegs unter Andernach waren alle tieferen Pfade überschwemmt, daß ich bis zum Kamm des steilen Bergzuges hinansteigen mußte, so hoch, daß mir zuletzt selbst der hohe Hammerstein auf der anderen Seite tief unter den Füßen lag. Der Sturm da oben auf der kahlen, felsigen Höhe faßte brausend meinen flatternden Kittel und zerrte und wütete, ihn mir zu entreißen; ich selbst aber, mit dem schweren Ranzen beladen, vermochte kaum den Windstößen standzuhalten und fest auf den Beinen zu bleiben.

Als ich den Gipfel der jähen Steige erklomm, rastete ich eine Weile und blickte noch einmal in die Tiefe hinunter. Da sah ich ein Weib hinter mir den Pfad heraufsteigen; – sie winkte mir, – rief mir zu, – aber ihre Worte verschlang der Sturm.

[378] Ja, ich erkannte es gleich, das feuerfarbene Tuch, welches um ihren Kopf flatterte – – es erfaßte mich eine gräßliche Angst. Als eine Hexe fährt sie daher im Sturm und hat dir's angethan, daß dir ihr Landstreicherleben jetzt so herrlich dünkt, und eine Diebin so schön, daß du sie vor Gott entschuldigen willst und sagen, sie habe gestohlen und sei doch nicht gottlos. Darum, weil sie eine Hexe ist, erblaßte sie, als sie das Herz mit den Buchstaben A. E. S., das Zeichen einer treuen und frommen Liebe, auf deinem Arme eingeätzt sah.

Und ob mir's gleich bleischwer in die Beine fiel, und der buckligte Pfad in den Klippen jeden Augenblick einen Sturz bringen konnte, und bald da, bald dort ein Dornstrauch mich am Rocke zurückhielt, rannte ich doch davon, als sei mir ein Mörder auf den Fersen. Sie lief mir eine Weile nach, winkte und rief immer lauter – es klang mir wie eine Warnung – aber wer konnte die Worte verstehen in dem rasenden Sturmgeheul? Nicht bloß dem Mädchen wollte ich durch das Laufen entrinnen, mehr noch der Versuchung, die mir im eigenen Herzen entgegenwinkte und entgegenrief. Zu Boden wollte ich sie laufen: zu Boden laufen meine grauenhafte, ziellose Wanderlust, Gift mit Gift vertreiben, und ich flog die Felsenpfade hinauf, hinunter wie der lüftige Teufel. Endlich mußte ich einen Augenblick verschnaufen. Ich schaute zurück. Das Mädchen war verschwunden.

Als ich da oben ging, sah ich tief unten auf dem übermächtigen Strome ein einziges Schiff, schwer [379] beladen, pfeilschnell dahinfahren. Wer mochten die Waghälse sein, jetzt, wo die kecksten Schiffer sich nicht aufs Wasser getrauten? Ich erkannte die rote Flagge und sah eine bunte Menschenmenge auf dem Verdeck – es war ein Schiff mit Werbesoldaten. Und wenn ihnen die Kerls auch alle krepierten, die Seelenverkäufer können's nicht abwarten, bis sich die hohe Flut verlaufen hat, und müssen in jedem Frühjahr die Schiffahrt eröffnen. So wie der Sturm eine Sekunde schwieg, hörte ich den Gesang dieser verzweiflungsmutigen Verkauften gedämpft heraufklingen. Es war ein Soldatenlied eigener Art, ein Spott- und Klagelied, sie aber sangen's mit lautem Jubel:


»Ach ich armer Werbsoldat,

Der nur den Tag drei Kreuzer hat

Und anderthalb Pfund Brot,

Wie leid' ich schwere Not!


Fürs Geld laß ich mir waschen

Mein Hemd und die Gamaschen,

Und wenn ich das nicht thu',

Krieg' ich noch Schläg' dazu.«


Ein solches Lied, von solchen Leuten mit toller Lust gesungen, denen die gegenwärtige Stunde jeden Augenblick zur Todesstunde werden konnte, war grausig anzuhören. Und es war mir, als zögen hinter dem Schiffe her wie ein Gespensterschwarm die Klagen und Verwünschungen der verlassenen Eltern, Weiber, Kinder, Bräute, denen die meisten dieser Gesellen, gleichfalls in toller Wanderlust, freventlich fortgelaufen waren, und wann die Wellen so hoch an dem Schiffe [380] aufschlugen und die drängenden Eisschollen es oft mitten im Laufe quer schoben, dann wußte ich da droben nicht mehr, ob der Sturm im Augenblicke nur den Gesang verschlungen hatte oder das Wasser und der Hölle Abgrund auch die Sänger! Aber jetzt haben sie wieder gutes Fahrwasser gewonnen. Horch! man hört sie auch wieder singen –


»Und wenn ich das nicht thu',

Krieg' ich noch Schläg' dazu.«


Da kam mir die volle Besinnung wieder, und ich gelobte mir fester als jemals, als ein ehrlicher Schlossermeister auf dem Westerwalde leben und sterben zu wollen.

Oben in den Schluchten des Bergzuges hatte ich mich verlaufen. Ich war entsetzlich müde, aber ich eilte unaufhaltsam vorwärts, die pfadlosen Steigen auf und ab; nur manchmal, wenn mich Hunger und Müdigkeit gar zu arg überwältigten, kniete ich auf die Erde nieder und raffte mir eine Handvoll halbgetauten Schnee zusammen, den ich gierig aufsog.

Endlich konnte ich wieder ins Thal hinabsteigen.

Da sah es traurig aus. In dem engen Wiesengrunde hatte mir die Flut nur einen schmalen und gefährlichen Weg übrig gelassen, aber das Wasser stand hier ganz ruhig wie ein Landsee in dem geschlossenen Becken. Im Vordergrund lag ein rings umspültes altes Kirchlein, dichtes Weidengebüsch umgab den daran grenzenden Kirchhof, dessen Kreuze und Steine nur noch halb aus dem stillen Wasserspiegel ragten. Der Wind schwieg, und Schneegewölk und molkige Nebelmassen [381] hatten sich wie mit einem Schlag von den Bergen niedergesenkt; sie wandelten den Tag in Dämmerlicht und hüllten das ganze Land in ein unabsehbares Grau, so daß ich, obgleich mir die Berge fast auf der Nase lagen, in ein weites Meer hinauszuschauen glaubte.

Ich konnte nicht vorwärts, nicht zurück und stand da wie von Gott und der Welt verlassen, wie mir's niemals auf der ganzen Wanderschaft begegnet war.

Da holte mich das Zigeunermädchen ein.

»Warum habt Ihr auf mein Rufen nicht gehört? Ich wußte wohl, daß Ihr den Weg verfehlen würdet!«

Ich biß die Zähne zusammen und erwiderte kein Wort. Denn je mehr ich mich der Heimat näherte, um so fester ward mir der Sinn, um so reiner die Gedanken. Es war der Segen der Heimkehr, der jetzt schon halb auf mir ruhte.

Furchtbar wehe that es mir, also zu schweigen, und dem Heidenkind hat es wohl viel weher gethan, das las ich auf ihrem verstörten Gesichte.

Schweigend führte sie mich nun den schmalen Pfad mitten durch die Flut, und manchmal dünkte sie mir wieder wie ein rettender Engel, vor dem die Wasser auseinander wichen. Bei einbrechender Nacht kamen wir nach Andernach.

Ich vermochte nicht in glatten Worten den Dank auszusprechen. War sie mir nicht wieder gefolgt mit der Treue und Dankbarkeit eines Hundes, den wir fortjagen und der immer wiederkommt, um uns freundlich anzuwedeln, mit seinem großen, rätselvollen Auge [382] anzuschauen und unsere Hand zu lecken? Für solche herzbewegende Hundetreue fand ich keinen gangbaren Spruch des Dankes. Ich drückte ihr nur die Hand, wie man den Hund zum Danke streichelt.

Nun wir uns aber trennten, ging ihr noch einmal der Mund auf, und sie beschwor mich, um meiner eigenen Sicherheit willen heute abend nicht weiter zu wandern. Ich sagte dies, glaub' ich, gedankenlos zu, allein im stillen Sinne nahm ich mir dennoch vor, trotz der Dunkelheit bis zum nächsten Dorfe stromaufwärts zu gehen, denn in den Städten ist teuere Herberge.

Vor Andernach kamen mir ein paar Bauersleute entgegen. »Ihr kommt keine Viertelstunde mehr vorwärts vor dem Wasser,« riefen sie, »kehrt doch um!« Ich aber war trotzig und dachte: Hab' ich heute schon so oft die Flut betrogen, dann werde ich es jetzt auch zum letztenmal können, und schritt mutig in die Nacht hinein.

Ich hatte aber nicht bedacht, daß ein gar wildes Eifelwasser, die Nette, eine halbe Stunde über Andernach in den Rhein fällt, und so stand ich auf einmal wieder vor der Flut, und hätte ich sie umgehen wollen, dann hätte ich wohl bis in die Eifel hinaufgehen können, denn die Nette ist das schlimmste Weib, wenn sie wild wird, wirft alle Brücken ab und füllt das ganze weite Thal aus.

Wie ich nun sehe, daß ich in eine Sackgasse gerannt bin, und ganz verblüfft vor dem endlosen Wasser stehe, – es war schon schwarze Nacht geworden –[383] höre ich drüben eine Männerstimme meinen Rufen antworten: »Wartet eine Weile, ich komme mit dem Nachen und hole Euch über die Nette!«

Also fasse ich mich in Geduld, lehne mich an eine niedere Gartenmauer – etwas abseits stand ein alter Nußbaum – und sehe ruhig zu, wie das Wasser von Minute zu Minute mächtiger aufschwillt und schon vor meinen Füßen zu plätschern beginnt.

Der Mann mit dem Nachen kam nicht.

Ich rufe, er antwortet nicht. Ich warte und warte, aber kein Nachen läßt sich hören. So mochten zwei, drei Stunden vergangen, es mochte gewiß zehn Uhr geworden sein.

Da sehe ich erst, daß das Wasser rings um mich her alles überströmt hatte, und auch unter den Füßen begann mir's naß zu werden. Jetzt wäre ich gerne zurückgegangen; aber wie sollte ich den Weg finden? Konnte ich in der Nacht erraten, wo hier das Wasser zu durchwaten war, oder wo es mannstief stand?

Ich schwang mich auf die Gartenmauer. Hier war ich vorerst in Sicherheit. Meine Lebtage werde ich's nicht vergessen, wie grauenhaft schön die unendliche Wasserfläche in dem weiten dunklen Thale aussah. Dem stürmischen Tag war eine ganz stille Nacht gefolgt. Fern dort drüben erglänzte eine Reihe von Lichtern mitten in der Flut, so friedlich glitzernd in dem dunklen, regungslosen Wasserspiegel, wie droben die Sterne im Himmelsraum. Es war das Städtchen Neuwied, welches ganz unter Wasser stand. Dazwischen hörte ich immerfort das leise unheimliche Geplätscher [384] der ganz sacht, aber sicher andringenden Wogen. Wie oft mühte sich mein Ohr, den rettenden Ruderschlag in dem Plätschern zu erkennen! Aber es war und blieb immer nur das eintönige, emsige Geräusch der öden Wassermasse.

Da überlief es mich wie Todesangst, denn schon stieg mir das Wasser selbst auf der Mauer bis an die Füße heran. Ich begann eine Art Zwiesprache mit dem lieben Gott, worin ich ihm in Demut vorhielt, wie wenig geeignet gerade der gegenwärtige Zeitpunkt sei, mich von der Welt zu rufen. Und wenn er, der liebe Gott, mich so wunderbar bis zur Nette geführt, dann könne er mich doch wohl auch noch ein paar Stunden Wegs weiter auf den Westerwald führen, da es nicht abzusehen sei, warum ich gleichsam vor der Hausthür nun noch im Hochwasser ersaufen solle.

Endlich raffte ich mich zusammen und schwang mich keck zu einem dicken Aste des Nußbaumes hinüber, der hinter der Mauer stand. Da saß ich nun in den Zweigen, für die Nacht geborgen, und obgleich ich noch jezuweilen meinen Ruf erneuerte, verfiel ich doch allmählich in einen fieberhaften Schlaf. Gottes Engel haben mich gehalten, daß ich nicht herabgestürzt bin.

War mir's doch im Traume, als ob meine zeitweilig erneuerten Rufe erst fernher, dann immer näher erwidert würden. Aber es klang wie von einer Frauenstimme. Und dann deuchte mir's, als komme das Zigeunermädchen als ein Meerweibchen, wie man sie auf den Stadtbrunnen sieht, zu mir herübergeschwommen [385] und locke mich mit ihrem Gesang zu sich hinab in die Tiefe.

Die weibliche Stimme tönt immer lauter. Nein, es war kein bloßer Traum. Ich wache auf. Da sehe ich ziemlich weit von mir ganz vorn im Strome das Mädchen auf dem äußersten Endpunkte der Mauer sitzen. Sie schrie bald aus Leibeskräften um Hilfe, bald rief sie mir zu, mich aufrecht zu halten, denn sie mochte sehen, wie ich, vom Schlaf auftaumelnd, auf meinem gefährlichen Sitze wankte und fast herabgefallen wäre.

Rasch erkannte ich ihre Lage.

»Komm zu mir auf den Baum! Nicht eine Viertelstunde mehr wirst du auf der Mauer sitzen können. Das Wasser reißt dich weg, die Mauer stürzt ein!«

»Ich komme nicht!« rief sie. »Wolf und Lamm werden Freunde auf dem schmalen Stückchen Rettungsland, wenn der Tod ringsum nach ihnen den Rachen aufsperrt, nicht aber Menschen, die sich fliehen. Dich zu retten bin ich hier, nicht mich!« Und sie verdoppelte ihren Hilferuf in die schwarze Nacht hinein.

»Ich fliehe dich nicht,« entgegnete ich, »ich bin dir gut, nur her zu mir!«

Da sprach sie, und es klang mir wieder beim Geplätscher der Wasser wie ein Gesang des Meerweibes in meinem Traume: »Meine Horde hat mich jetzt ausgestoßen um deinetwillen. Die Gottlose, die Verfluchte, die du mich genannt, bin ich jetzt ganz geworden um deinetwillen. Es gibt nur eine Erlösung für mich. Sei du mein! Laß uns selb zwei frei die [386] Erde durchwandern. In Norwegen, in Spanien finden wir Stämme, die uns aufnehmen. Nur so du mir dies versprichst, komme ich zu dir auf den Baum. Schwur und Siegel unserer Verlöbnis sei es, daß ich in dieser Stunde der Todesnot zu dir auf den Baum komme!«

Da erzitterte mir das Herz. Und es ward mir einen Augenblick fast zu Mut wie in jener Nacht in der Wildhüterhütte. Aber ich gedachte auch wie in jener Nacht an das Herz mit den Buchstaben A. E. S., welches ich auf dem linken Arme trage, und gedachte, daß ich Martin Hildebrand heiße. Und es war mir, als ob die zwei mannhaften Streiter dieses Namens jetzt leibhaftig mir zur Seite träten. Zur Linken stand Doktor Martin Luther, der geistliche Ritter, und hielt seine große Bibel vor mich gleichwie einen Schild; zur Rechten stand der alte Hildebrand, der weltliche Rittersmann, und erhub wie zum Angriff seinen mächtig großen Ritterspieß – –

– – Und da kam die Hilfe, der Seele zumal und dem Leib!

In einer Mühle, die weiter aufwärts an der Nette liegt, hatte man des Mädchens Ruf vernommen. Der Ruderschlag nahete. Ich sah, wie der Nachen, mit den Wirbeln kämpfend, mählich dem Baume zufuhr. Aber ich konnte meine Blicke nicht mehr rechts oder links schweifen lassen; denn zur Rechten und Linken standen wie Männer aus Erz die Gestalten der beiden tapferen Streiter; immer mußte ich das Auge geradeaus auf die Spitze des rettenden Nachens heften.

[387] Ich hörte ein dumpfes Rollen – – wer gibt auf alle unheimlichen Töne acht in dieser schrecklichen Stunde.

Jetzt hat der Kahn den Baum erreicht. Ich springe hinein, der Schiffer stößt ab.

»Halt,« rufe ich. »Erst dort hinüber an die Mauerecke, dort sitzt noch ein Weib, das wir retten müssen!«

»Ich sehe nichts!«

Auch ich konnte nirgends mehr das feuerfarbene Tuch erblicken.

»Aber steuert nur auf die äußerste Mauerecke zu!« rufe ich verzweiflungsvoll.

Der Schiffer blickte scharf hinüber nach der Stelle.

»Die Mauerecke ist verschwunden,« spricht er; »als ich herüberfuhr, habe ich etwas rollen hören: das muß die einstürzende Mauer gewesen sein.«

Wir suchten und riefen noch lange. – Wir erhielten keine Antwort. Nur das Wasser plätscherte und wirbelte etwas stärker über dem versunkenen Mauerstücke. – –

»So ist die Zigeunerin ertrunken!« sprach ich endlich halblaut und kaum vermochte ich das Wort über die Lippen zu bringen.

»Wie? nur eine Zigeunerin war's!« rief der Schiffer. »Und darum haben wir so lange gesucht? Das Gesindel kann ja gar nicht ersaufen. Werft eine Zigeunerin mitten in den Rhein, und wenn sie schon nicht schwimmen kann, ersäuft sie doch nicht. Daran erprobt man ja gerade die Hexen, daß das Wasser [388] sie nicht verschlingen mag, damit es für sich nicht raube, was dem Feuer oder dem Strick gehört!«

Und rasch wandte er den Kahn dem Lande zu.

Das ist geschehen am 28. Februar 1781, und jedes Jahr hab' ich mir für diesen Tag ein Kreuzlein in den Kalender gemacht.

Am anderen Tage ging ich bei Koblenz über den Rhein und erreichte die heimatlichen Berge.

Da saß ich nun warm an meines Vaters Herd, und wo der Has geheckt ist, da sitzt er gern. Ich hatte einen neuen Menschen angezogen; an der Nette war es mir armem Sünder ergangen, wie einem größeren bei Damaskus. Aus dem unsteten, wilden Burschen war ich über Nacht ein gesetzter Mann geworden.

In Jahr und Tag hielt ich Hochzeit mit meiner lieben Anna Elisabeth, deren Gedächtnis ich so fest im Herzen getragen habe auf der ganzen langen Wanderschaft; zwar nicht ohne Anfechtung, aber der Herr ließ die Versuchung immer so ein Ende gewinnen, daß ich es konnte ertragen.

Wunderlich ging mir es aber nun mit den Buchstaben A. E. S. auf meinem linken Arm. Wenn ich sie betrachtete, dann mußte ich immer an die Zigeunerin denken (ganz ähnlich und doch anders wie vordem bei ihrer Nase an die Schaufflerin), an das braune Heidenkind, das mir soviel Treue und Dank erwies, das mir nachfolgte, dankbar wie ein Hund und von mir gestoßen, wie man nur einen Hund wegstößt. Ja, es ward mir bei der Geschichte noch manchmal wirr im[389] Kopfe. Warum hat sie mir so viel Lieb's und Gut's erweisen wollen? Sieh, es war doch alles nur Liebe, hervorgeblüht aus Dankgefühl für eine einzige ganz kleine, arme Freundlichkeit, – ich sage noch einmal: recht wie bei dem edelsten Hunde!

Wenn Zigeuner durch unsere Stadt ziehen mit ihren kleinen langhaarigen Schimmeln, die Männer das Haar in lange Zöpfe geflochten, jedes Weib einen schreienden kleinen Balg auf dem Rücken, voran die bösen Bullenbeißer mit den struppigen Haaren: dann schaue ich allemal zum Fenster hinaus, aber mein Zigeunermädchen ist nicht unter ihnen.

Dann klang mir auch lange noch das dumpfe Geroll der einstürzenden Mauer in den Ohren. Es lautete fast, wie wenn man die Schollen auf einen Sarg rollen läßt.

Und nun fällt mir noch ein: – ich habe niemals erfahren, wie das braune Mädchen geheißen hat, weder mit ihrem Zigeunernamen, noch mit ihrem Namen, welchen sie bei den Christen führte.

Meine eigenen Namen aber hielt ich seitdem besonders hoch in Ehren und sah mich vor, sie nicht mit Schanden zu verunzieren, damit ich wohl bestehen könne vor meinen beiden Wächtern, dem Doktor Martinus mit seinem Glaubensschild, der großen Bibel, und dem alten Hildebrand mit seinem großmächtigen Ritterspieß.

[390] Die Lehrjahre eines Humanisten.
1856.

[391][393]

1. Kapitel

Erstes Kapitel.

»Melancholie steigt auf aus dickem Geblüt. Was kann ich dafür, daß mein Blut schwarz und dick fließt? Da hilft kein Purgieren und Aderlassen. Alle Kräfte Himmels und der Erden wirken zusammen, um einen einzigen Menschen so zu machen, wie er ist: wie soll ich selber mich anders machen können?

Mit eigener Willensstärke soll ich mich erlösen aus meinem Trübsinn. Aber Wille ist ja nur bewußte Lebenskraft. Ich suche die verlorene Lebenskraft wieder: wie kann ich sie durch den Willen gewinnen, der nur aufkeimt aus der Lebenskraft, der in ihr enthalten ist und eins mit ihr?

Paracelsus schreibt: des Menschen Wille könne so stark werden, daß einer durch den Geist allein, durch bloßes inbrünstiges Wollen, ohne Schwert einen anderen steche – aber das Rezept zu dieser Willensstärke hat er uns nicht hinterlassen.

So bleibe ich preisgegeben der Melancholie, dem dicken Blute, dazu auch der Hypochondrie, die mir das viele Studieren in den Unterleib gehext hat.

Ueberall siehet der Mensch Krankheit vor sich, Elend an Leib und Seele, Not und Tod. Nur im größten Leichtsinn mögen wir fröhlich sein. Die sichere[393] Erkenntnis unserer Schwachheit ohne die sicheren Mittel, ihr zu wehren, das ist der größte Fluch, der auf das Menschengeschlecht geladen ward. Das Tier erkennt nicht einmal seine Gebrechlichkeit: dennoch weiß es sicherer ihr zu steuern. Die Schlange, wenn sie aus der Höhle kriecht, heilt ihr verdunkeltes Auge mit Fenchel; die Rebhühner und Krähen purgieren sich im Frühjahr, damit sie für den ganzen Sommer gesund bleiben, und der wirkliche vierbeinige Esel weiß mit Hirschzunge sicherere Kuren zu vollbringen, als mancher Esel von der medizinischen Fakultät mit einer ganzen Apotheke. Darum sind auch etliche Aerzte der Meinung, die Menschen hätten die Heilkunst eigentlich vom lieben Vieh gelernt.

Jetzt, wo ich zum erstenmal im Leben nicht Herr meines Körpers bin und mein schwacher Leib den Geist mit Schwermut schlägt, jetzt begreife ich Calanus, den Gymnosophisten, der, als er die erste Leibesschwachheit verspürte und zum erstenmal im Leben ein wenig krank zu werden anfing, sich selber verbrannte. Freilich war Calanus damals dreiundsiebzig Jahre alt, und ich bin erst dreiundzwanzig. Will darum noch eine Weile zuwarten mit dem Verbrennen.«

So schrieb Johannes Piscator, der hypochondrische Philosoph, seine Gedanken nieder als ein Selbstgespräch und setzte auch gleich das Datum darunter: »am ersten März 1561.«

Vor zehn Jahren schon war der jetzt dreiundzwanzigjährige junge Mann ein gelehrtes Wunderkind gewesen. Der dreizehnjährige Knabe nahm es mit [394] jedem Professor im Diskutieren auf und sprach griechisch und lateinisch wie Wasser; sein Gedächtnis war ganz gespickt mit Historien und Citaten aus den Alten, und im sechzehnten Jahre schon ward er für würdig erachtet, als Magister der freien Künste lehrend aufzutreten. Sein Ruhm ging durch ganz Schwaben, sein Heimatland, denn keiner machte ja glänzender als der sechzehnjährige Magister den Spruch zu Schanden, daß die Schwaben erst mit dem vierzigsten Jahre gescheit werden.

Aber nach kurzer Frist geriet Johannes Piscator wieder in Vergessenheit. Aus dem frühreifen Knaben ward wirklich ein tüchtiger Gelehrter. Das war vielleicht ein noch größeres Wunder als seine Frühreife. Wäre er ein recht origineller Lump geworden, so hätten sich wohl Liebhaber gefunden, die ihm von Zeit zu Zeit auf die Strümpfe geholfen und seinen Ruhm neu aufgefrischt hätten. Da er aber nur ein ordentlicher, fleißiger, gelehrter Mann, also etwas ganz Gewöhnliches geworden war, so ließen ihn seine früheren Gönner fallen. So stand denn der dreiundzwanzigjährige Johannes verlassen in der Welt, ein ungefreundeter Mann, ohne Eltern und Verwandte, ohne Geld und Gut, ohne Amt; aller Künste Magister, nur nicht der Kunst, sich selbst zu beherrschen und sich selbst zu helfen.

Er war nach Ulm gewandert, um dort mit gelegentlicher gelehrter Fronarbeit ein Stückchen Brot zu gewinnen. Da sich die reichen Herren von Ulm nicht sonderlich beeilten, Freundschaft mit ihm zu [395] schließen, so begnügte er sich einstweilen mit dem Umgang des Platon und Aristoteles, des Cicero und Tacitus. Er fand, diese seien doch seine besten Freunde, denn sie hielten buchstäblich aus als Freunde bei Salz und Brot.

Gar oft zog Johannes Piscator an den Sommernachmittagen hinaus in die nahen Wälder, um sich in den Himbeeren und Erdbeeren sein Mittags- und Abendessen zu suchen. Allmählich jedoch verspürte er bei dieser Lebensweise die Wahrheit des Spruches: »Lang gefastet ist kein Brot gespart.« Denn die Kraft seines Körpers nahm sichtlich ab, und Trübsinn lagerte sich über seine Seele. Verlassen und allein, erschrak er plötzlich vor dem Gedanken, daß er krank werden könne. Bis dahin hatte er's nämlich noch gar nicht für möglich gehalten, krank zu werden. Die Bauern sagen: »Es ist nichts ungesunder als krank sein.« Ueber diesen Spruch grübelte Johannes Piscator so lange, bis er krank war bei gesundem Leibe. Was er nur sah und hörte, erinnerte ihn fortan an Siechtum, Gebrechlichkeit und Tod. Er machte lieber eine Viertelstunde Umweg, als daß er am städtischen Spital vorbeigegangen wäre, und kündigte seinem Flickschneider die magere Kundschaft, weil derselbe Kirchhof hieß. In der Physika des Simon Artopäus hatte der hypochondrische Gelehrte gelesen, daß jene Leute, von denen der achtzigjährige Sohn eines Tages weinend vor der Hütte saß, weil er von seinem Vater Schläge erhalten, darum, daß er seinen Großvater hatte aus dem Bett fallen lassen – daß jene Leute zu[396] so hohen Jahren gekommen, weil sie neben einer Diät von Milch, Brot und Salz fleißig Hollunderbeeren gegessen. Darum begann er auch täglich Hollunderbeeren zu schlucken. Eine alte Schwäbin verriet ihm dagegen, die ältesten Leute im Schwabenland würden diejenigen, welche allabendlich eine gebrannte Mehlsuppe verspeisten. Doppelt genäht hält besser. Johannes Piscator suchte darum, so oft es seine Mittel erlaubten, die Hollunderbeeren mit der gebrannten Mehlsuppe zu verbinden.

Bei dieser braunen Suppe saß er eben auf seinem Kämmerchen und hatte die eingangs gegebenen Betrachtungen niedergeschrieben; allein obgleich er in Wort und Schrift zu dem leidlich mutigen Schluß gekommen war, so blies er doch in Gedanken alsbald wieder Trübsal. Man hätte den krummgesessenen Gelehrten lebenssatt nennen können, wenn er sich nicht täglich krank geängstigt hätte um die Erhaltung seines Lebens.

Da kam polternd ein schwerbestiefelter Reiter die Treppe heraufgestiegen zu dem hohen Olymp der Dachstube und öffnete die Thür, ohne anzuklopfen.

»Grüß dich Gott, Johannes!« rief er. »Du erkennst mich nicht? Freilich! Der Bart und der Soldatenrock macht einen neuen Mann! Ich bin ja Hunold, der mit dir auf einer Schulbank gesessen. Wir wollten beide Magister werden; du bist's und ich bin jetzt Dienstmann des Grafen Albrecht von Löwenstein.«

Piscator schüttelte ihm herzlich die Hand. »Gäbst du mir deinen Sold, Freund, – ich gebe dir gern meinen Magister dafür.«

[397] »Das ist's ja eben, weshalb ich von Heilbronn herübergeritten bin. Ich soll dir Sold bieten und den Magister sollst du dazubehalten.« Er warf einen schweren Beutel voll Geld auf den Tisch. »Seht her! Hier liegt das Handgeld. Der Sold kommt später. O Freund, Sold ist ein schönes Wort und lauter Schönes reimt sich darauf: Gold, hold und« – hier strich er sich selbstgefällig den Schnurrbart und pflanzte sich breit in stattlicher Manneshaltung vor den verkümmerten Humanisten – »Hunold.«

»Und du willst mich auch für eueren Reiterdienst anwerben?«

»Daß Gott verhüte! Reite du fort und fort auf deinen Pergamentbänden; unsere Pferde sind uns zu lieb, als daß wir das geringste derselben dir zwischen die Beine zu geben wagten. Aber fahren sollst du, fahren ins gelobte Land, nach Jerusalem. Ein venetianisches Schiff wird dich nach Joppe tragen, und höchstens auf Eseln wirst du dann sanft von einer heiligen Stätte zur anderen gewiegt werden. Doch ich muß dir ausführlich und in der Ordnung meines Herrn Begehren kund thun.«

Sie setzten sich.

»Hast du keinen Trunk Wein, Johannes?«

»Wasser! Klares, kühles, köstliches Wasser, Hunold!«

»Hinweg damit! Ein Reitersmann muß auch in der Wüste fechten können: ich kann auch mit trockenem Mund meinen Auftrag ausrichten, und doch soll dir der Mund wässern, indem ich spreche.«

[398] Hunold berichtete, daß sein Gebieter, Graf Albrecht von Löwenstein, entschlossen sei, mit seinem Bruder Friedrich und vierundzwanzig anderen deutschen Rittern und Herren, zu denen noch zehn vornehme Holländer stoßen würden, eine Wallfahrt nach Jerusalem und dem Berge Sinai anzutreten. Mit Gefolge und Dienerschaft werde man also wohl an hundert Mann stark sein. Große Fährlichkeiten seien zu bestehen; vor Jahr und Tag versehe sich keiner der Rückkehr. Aber auch ewiger Ruhm vor der Welt und ewige Seligkeit sei die Krone der Pilgerfahrt. Der ganze Zug sei nun gerüstet; binnen heute und sechs Tagen würden alle Reisegenossen in Innsbruck versammelt sein, dann gehe es unverweilt über die Berge nach Venedig. Nur ein Mann scheine seinem Herrn noch zu fehlen: nämlich ein Gelehrter, der lateinisch wohl zu sprechen und zu schreiben wisse, über alle merkwürdigen Orte und Antiquitäten in Italien, auf den griechischen Inseln und im heiligen Lande Auskunft geben könne, und dazu fähig, eine genaue Chronik der Pilgerfahrt, Kindern und Kindeskindern zum Gedächtnis und zur Erbauung, in wohlgesetztem Deutsch oder Latein zu verfassen.

»Mein Herr hat von dir gehört, Johannes,« – so schloß Hunold seine Rede, »er glaubt, du seiest tüchtig zu diesem Dienst wie keiner; dazu ledig, kinderlos, freundlos, ein Mann, der jeden Tag sein Bündel schnüren kann. Hier liegt das Handgeld auf dem Tisch, womit du dich reisemäßig ausstatten sollst, wenn du einschlägst und diesen Brief unterschreibest.[399] Schlag ein, Johannes, es ist das beste Teil! Drei Tage hast du Frist, dich von Ulm loszumachen; dann aber mußt du flink auf die Beine, damit du zum Termin am Sammelplatz in Innsbruck bist.«

Mit der ganzen Heftigkeit eines Melancholikers, dem die äußersten Affekte sich berühren, sprang Piscator auf, wie verwandelt, schlug ein, unterschrieb den Brief und griff, sonst ein so großer Geldverächter, mit gieriger Hand nach dem Beutel.

»Ich ziehe mit, Hunold! nicht um des ewigen Ruhmes und der ewigen Seligkeit willen, die du verheißest, sondern damit mich Hunger und Hypochondrie hier in Ulm nicht totbeißen. Freund, hier habe ich's erfahren, daß der Hunger rohe Bohnen gar kocht! Besser, der Türke schlägt mir den Schädel ein, als daß ich hier krepiere vor Aerger über das Ulmer Krämerpack, das mich nicht kennen, nicht anerkennen wollte, das mich ohne Arbeit und Brot hätte sitzen lassen, bis die Hühner Zähne kriegen! Was werden die stolzen Kaufherren für Augen machen, wenn sie von dieser Berufung des verlumpten Johannes Piscator hören! Ich werde meine drei Tage Frist noch in Ulm aushalten, nicht um meine Angelegenheiten zu ordnen (denn das wäre in einer halben Stunde geschehen), sondern um diese Krämer noch einmal recht zu ärgern, um vor ihnen einher zu stolzieren, nun auch meinerseits mit dem Geld in der Tasche zu klimpern, um ihnen ein Schnippchen unter der Nase zu schlagen. Heiliger Erasmus und Melanchthon, heiliger Camerarius und Reuchlinus, in welcher Barbarei sind diese [400] Geldsäcke gefangen! Euklid lief bei Nacht fünf Meilen weit, um den Sokrates zu hören; ich kam ihnen bei Tag ins Haus, und sie hörten mich nicht. Du machst dir kein Bild von dem Ingrimm, der mich in Ulm ergriffen hat über alles Kaufmannsvolk der Welt! Wie Cicero gegen den Catilina donnere ich oft stundenlang einsam auf meiner Stube lateinisch gegen die Krämer. Hinweg aus diesem Krämernest! Das Sprichwort sagt: Ein armer Jud' kann nicht wuchern, aber auch der ärmste Ulmer wuchert doch. Ueber die Thür ihres Kaufhauses sollten sie ihr Motto schreiben:


Lügen und Trügen sind so wert,

Daß man ihr' zu allen Käufen begehrt.


Als der Teufel seine fünf Töchter an die Stände der Menschen verheiratete, gab er dem Adel die älteste Tochter, Arrogantia, die Mutter der Hoffahrt; den Bauern die zweite, Falsitas, die Mutter der Verschmitztheit und des Betrugs; den Handwerkern das Zwillingsschwesterpaar Invidia und Avaritia, von denen der Neid und Geiz ausgegangen; endlich den Geistlichen die Jungfrau Hypokrisis, die Heuchelei. Da nun für die Kaufleute eine sechste Tochter nicht mehr vorhanden war, so erlaubte er ihnen zu buhlen mit allen fünfen, also daß sich sämtliche Teufelei auf Erden: Hoffahrt, Betrug, Neid, Geiz und Heuchelwerk bei den Kaufleuten einträchtig zusammengefunden. Sieh, Hunold, diese Geschichte, die halb in den vitis Patrum steht, halb meine eigene Erfindung ist, habe ich in die schönsten lateinischen Verse gebracht, und zum Abschied von Ulm würde ich sie an der Rathausthür anschlagen, [401] wenn die Dummköpfe, die es treffen soll, lateinische Verse lesen könnten!«

Hunold sprach: »Das Wasser, das du trinkest, muß Weines Kraft haben, denn so trunken wie heute habe ich dich nüchtern noch niemals donnern hören.«

Johannes verkühlte sich aber ebenso rasch wieder, als er heiß geworden, und da er bei weiterer Erkundigung hörte, daß Hunold nicht mitziehe nach Jerusalem, und da es sich gar bei Aufzählung sämtlicher Reisegenossen fand, daß der gelehrte Humanist von allen nicht einen einzigen persönlich kenne, ward es ihm sogar sehr kühl. Denn als echter Stubensitzer fürchtete er sich vor fremden Gesichtern. Doch Wort und Handschlag war gegeben, das Handgeld eingestrichen, die Unterschrift geschrieben: also stand die Sache fest und die Freunde trennten sich, Hunold vergnügt, seinen Auftrag so gut vollzogen zu haben, Johannes zwischen Freude und Besorgnis schwankend, aber doch voll Hoffnung auf bessere Tage.

In großer Aufregung ging Piscator den ganzen Abend in seiner Kammer auf und ab, immer auf der Pilgerfahrt nach Jerusalem begriffen, und als er sich zu Bette legte, war er doch noch nicht weiter gekommen, als bis zur Einschiffung in Venedig und einer heiteren Landung an den jonischen Inseln. Als ihn der Schlaf bewältigte, spann der wirkliche Traum den Faden der wachen Träume weiter. Ein gewaltiger Sturm erhob sich, da sie kaum wieder einige Meilen in See waren. Welch Dröhnen, Pfeifen, Heulen, Krachen! Alle Winde waren aus ihren Schläuchen [402] gelassen, gegeneinander wütend wie in der Aeneide, oder nacheinander wie in der Odyssee.


»So durch den Meerschwall trieben Orkan' ihn dorthin und dorthin;

Bald daß stürmend ihn Notas dem Boreas gab zur Verfolgung,

Bald daß wieder ihn Euros des Zephyros Sturme zurückwarf.«


Das Schiff flog aus dem Abgrund zum Himmel und vom Himmel zum Abgrund, wie in Ovids Klageliedern. Von den Stürmen aus allen Klassikern ward der arme Schläfer im Bett herumgeworfen. So etwas träumt man nur einmal im Leben. Die Matrosen fluchten und die Pilger lagen betend auf den Knieen; die einen riefen die heilige Jungfrau an, die anderen wandten sich direkt an unseren Herrgott. Da trieb die Todesangst auch unseren Humanisten zum Gebet. Allein es fiel ihm kein anderes ein als das Gebet aus Ovids Seesturm; und neben seinem Bücherschrein knieend sprach er mit tiefer Inbrunst:


»Dî maris et coeli – quid enim nisi vota supersunt? –

Solvere quassatae parcite membra ratis!«


»He da! Auf die Beine! Gearbeitet statt gebetet!« rief der Schiffspatron mitten in die klassische Andacht hinein, und zog den Betenden unsanft am Arme in die Höhe. »Das Schiff muß erleichtert werden! Alle Fracht über Bord! Flugs hier mit Eurem Bücherplunder angefangen!«

Und mit Seufzen und Jammern begann der Aermste seine Heiligtümer in die Flut zu werfen. Auf den Wellen tanzten Cicero und Sallust, Homer, Virgil, Plato und Aristoteles, die er allesamt bequemlichkeitshalber [403] zu einer Reise nach dem Berge Sinai mitgenommen. Und die Bücher, welche Piscator hinauswarf, wurden ihm schwer in den Händen wie Blei, daß er sie kaum über Bord bringen konnte, und wieviel Bücher er auch davontrug, mehrten sie sich doch immer wieder in dem Schrein; zuletzt warf er ganze Stöße von Schriftstellern ins Wasser, deren Namen er in seinem Leben nicht gehört hatte, und zu allerletzt zwanzig Bände seiner eigenen sämtlichen Werke, die noch gar nicht erschienen waren. Als er aber solchergestalt alle seine köstlichen Schätze geopfert, glättete sich das Meer, als hätte man Oel auf die Wogen gegossen, der blaue Himmel brach aus dem zerrissenen Gewölk und nach langer ruhiger Fahrt liefen die Pilger endlich in einen Hafen der Insel Cypern ein. Da lief auch der Träumer in den Hafen eines eisernen, traumlosen Schlafes, aus dem ihn erst der späte Morgen weckte.

Es war kein erquickliches Erwachen. Johannes fühlte seine Glieder kalt und steif, den Kopf schwer, die Nase verschnupft, daß er niesend in die Höhe fuhr. Da schaute er rings um sich gräuelvolle Verwüstung. Als er im Sturme die Bücher über Bord warf, hatte er fast sein sämtliches Bettzeug weit in die Stube hinausgeschleudert (darum waren ihm auch die Bücher im Arm so schwer geworden); und nackt und bloß hatte er die ganze kalte Märznacht auf dem Strohsack gelegen!

Jammer und Reue überkam ihn, wie er nun in aller Nüchternheit eines schlechten Morgens seiner verbrieften [404] Verpflichtung von gestern gedachte. »Wenn ich bei dem bloßen Traum von einem Seesturm einen solchen Rheumatismus davontrage, was wird erst aus mir werden bei einem wirklichen Sturme! Was mir gestern abend der gescheiteste Streich meines Lebens deuchte, war, wie es scheint, der dümmste. Da wir uns für Weise hielten, sind wir zu Narren geworden, wie Paulus an die Römer schreibt. Aber ein Mann, ein Wort! Was man geladen hat, muß man auch fahren. Und den Ulmern muß ich entrinnen und meinen krankgesessenen Unterleib kurieren! Ja, und jetzt will ich ausgehen und trotz meinem Schnupfen die Ulmer ärgern drei Tage lang. Zum Teufel mit allen Bedenken, wenn man die Rathaustreppe herabsteigt und sein Wort gesprochen hat!«

Es ging doch nicht so leicht ab mit den drei Tagen. Piscator ärgerte die Ulmer, aber der Reue über seine Voreiligkeit entrann er darum doch nicht. Als ihn die Rache nicht zerstreuen wollte, suchte er wieder Trost bei seinen Büchern. Er nahm den Philosophen Seneca vor, er las Boethius de consolatione philosophiae. Vergebens. Auch die Philosophie des »letzten Römers« tröstete ihn nicht.

So trat er dann am vierten Tage recht trübselig seine Wanderschaft über Augsburg nach Innsbruck an. In seiner Ledertasche trug er ein halbes Dutzend Klassiker und etwas weiße Wäsche. Allein auch die kleine Last drückte den des Tragens und Wanderns Ungewohnten, und er war kaum drei Stunden gegangen, da schlich er bereits so elend dahin, [405] als habe er den härtesten Tagemarsch zurückgelegt, ließ den Kopf hängen und sah zu Boden wie ein Hühnerdieb.

Am Rande eines steilen Abhanges, der sich jäh zur Donau niederzog, setzte er sich zur Rast auf einen Stein. Die Gegend ist wild und rauh, und kahl und langweilig dazu. Ihr Anblick, selbst im Morgenschein der Märzsonne, vermochte den hypochondrischen Pilger nicht aufzuheitern.

Die Donau, hier noch als ein verheerender Bergstrom über die Hochfläche brausend, benagt die felsenlosen Sandhügel, daß sie zu steilen Hängen abstürzen, und breitet auf dem anderen Ufer hundert Arme zu einem verwirrten Knäuel von Bächen und Altwassern in die Ebene, uferlos, um nach jeder Schneeschmelze, jeder Regenwoche sich ein neues Bett zu wühlen und unter neuen Geröllbänken fruchtbares Land zu begraben. Die von den Wasserarmen umschlungenen Auen deckt undurchdringliches Gestrüpp, üppigster Baumwuchs, dem keine Axt naht, eine Urwildnis, deren vom Sturm gefällte, vom Wetter gebleichte Stämme bekunden, daß nie ein Kahn diese tückischen Strudel durchschneidet und keines Menschen Fuß die Inseln betritt. So war es damals.

Auf der Landseite schweifte der Blick unseres Wanderers über die endlose kahle Hochfläche und die graugrüne Sumpfniederung des Ulmer Rieses. Wer noch nicht melancholisch ist, der kann es bei diesem Anblick werden. Nur manchmal bei besonderer Gunst von Luft und Licht erhalten die öden Gründe einen[406] prächtigen Abschluß. Es steigen dann, von leisem, blauem Dufte überhaucht, die vielgestaltigen Gipfel und Kämme der Vorarlberger, Allgäuer und bayrischen Alpen am Saume des Himmels auf, ein Traumgebilde der zartesten Farben und Formen. Und mit jener geheimen Macht, womit uns die Dichtung dem gemeinen Leben entrückt, zieht uns dieses verschwimmende Bild des Hochgebirges zu sich hinüber, daß wir uns selbst aus der umliegenden Oede hinwegdichten zu waldbeschatteten Alpenseen, auf lichte Matten, unter die Riesendome des Urgesteines, von deren Kuppen der ewige Schnee seine Quellen, Bäche und Wasserstürze vieltönig ringsum niederbrausen läßt.

Johannes Piscator, der jetzt auch die Schneegipfel am Horizont erblickte, dachte nicht an die Landschaftspracht des Gebirgs, sondern an das, was hinter den Bergen lag – an Innsbruck; an die Straße, die über diese Joche ging – nach Venedig und so weiter. So ward es ihm nicht leicht und frei beim Anblick der Alpenkette, sondern nun gar erst recht schwül und beklommen.

Da kam von Augsburg her ein Wanderer des Weges, der schritt anders aus wie vorhin unser unglückseliger Gelehrter! Das ging vorwärts wie der Wind und mit einer Kraft und Leichtigkeit der Bewegung, daß es eine Lust war, dem Burschen nachzuschauen.

Der Humanist erschrak über die kraftgedrungene Gestalt, die so recht im griechischen Heroenschritt auf ihn zugestiegen kam; denn keine Menschenseele war[407] sonst weit und breit, und der schnellfüßige Achilles wandelte sich dem furchtsamen Magister rasch in einen Gauner und Straßenräuber. Doch als der stattliche Jüngling dem Rastenden ein treuherziges »Grüß Gott!« entgegenrief, schwand demselben die Furcht; denn es war ihm, als ob einer, der in Gottes Namen grüßt, nicht Raub und Mord sinnen könne.

Ein paar Worte wurden hin und her gewechselt, die sich bald zu einem Gespräch ausspannen, und der neue Ankömmling fand es endlich bequemer, sich gleichfalls niederzusetzen, als stehend die Unterredung weiter zu führen.

Er bot dem Magister einen Schluck aus seiner Feldflasche und einen Bissen Fleisch und Brot.

Piscator lehnte dankend ab. »Ich frühstücke niemals. Natura paucis contenta.«

»Ihr müßt ein Schulmeister sein, Freund,« entgegnete der andere. »Einmal, weil Ihr auf der Reise nicht eßt, wann Ihr etwas kriegt, obgleich Ihr hungrig seid, wie Schulmeister gewöhnlich sind, und wie ich's Euch auch jetzt an den Augen ansehe; und dann weil Ihr schon bei dem dritten Wort mit den verfluchten lateinischen Brocken um Euch werft.«

Mit gutmütigem Lächeln nickte Piscator bejahend.

»Nun seht, da gibt es gleich eine Verwandtschaft zwischen uns,« rief der Fremde. »Mein Vater ist auch ein Schulmeister. Er ist so gelehrt, daß er seinen ehrlichen deutschen Namen Fischer nicht mehr tragen mochte und sich selber in einen Piscator übersetzte. Er wollte mich auch gelehrt machen, aber ich widerstand hartnäckig. [408] Da that er mich zu einem Küfermeister in die Lehre: dem lief ich davon; darauf zu einem Schlosser: den hätte ich beinahe selbst in einem Streite zu Blech gehämmert. Endlich versuchte man, ob ich nicht durch den als den gröbsten Mann in ganz Franken bekannten Lebzelter Sturm in Nürnberg zu einem brauchbaren Bürger zu erziehen sei. Darüber bin ich dreiundzwanzig Jahre alt geworden, habe wirklich bei dem alten Sturm volle zwölf Monate als Lehrling ausgehalten und will jetzt mein Glück weiter versuchen bei der löblichen Lebzelter- und Wachszieherzunft in Ulm.«

»Ihr heißet Piscator,« rief der Gelehrte; »so schreibe ich mich auch – Johannes Piscator aus Beutelsbach, der freien Künste Magister.«

»Gerhard Piscator aus Schweinfurt, einjähriger Lebzelterjunge!« fügte der andere hinzu.

»O, wenn ich doch in Eurer Haut stäke, Vetter Gerhard, wie in Eurem Namen! Die Lebzelterei ist wohl ein recht friedliches, harmloses, ungefährliches Geschäft?«

»Das eben ist zum Verzweifeln, Vetter Johannes. Wenn Ihr Euch kein heißes Wachs auf die Finger tropfen laßt, so hat's gar keine Gefahr bei dem Handwerk. Doch wo drückt Euch denn der Schuh so stark, daß Ihr aus der Haut fahren möchtet, Magister?«

»Ich habe mich dem Grafen von Löwenstein als Reisebeschreiber verdungen zu einer Fahrt nach Jerusalem –«

»Wie? Ihr seid einer dieses berühmten Zuges? [409] O, könnte ich mit Euch ziehen über Land und Meer, statt in Ulm Lebkuchenmänner zu backen!«

Der Magister sprach trocken: »Ich bin ein ruhiger Mann, den Büchern ergeben, die ich daheim lassen muß, den gelehrten Arbeiten, für die eine deutsche Dachkammer und nicht ein venetianisches Schiff oder ein palästinensischer Reitesel die rechte Werkstatt ist. Fährlichkeiten liebe ich nicht. Mir graust vor der Seefahrt –«

»Auf die See möcht' ich ums Leben gern!« rief der Lebzelter begeistert. »Mitten hinein in den ärgsten Sturm! Und einen Schiffbruch möchte ich erleben, wo das Schiff mitten entzwei bricht wie ein verbackener Lebkuchen! Alle meine Genossen ertrinken vor meinen Augen; ich allein werde nackt und bloß auf eine Klippe geschleudert –«

»O Freund,« rief der Magister hohen Tones, »Ihr würdet anders sprechen, wenn Ihr jemals einen Seesturm miterlebt hättet!«

»Ihr habt also einen erlebt, Magister? Ihr seid zur See gewesen?«

»Ja! Halb und halb. Nämlich der bloße Traum von einem Seesturm hat mir einen bodenlosen Rheumatismus gebracht; nun denket erst, wie mir's bei einem wirklichen Sturme ergehen mag! Ersaufen wir aber auch nicht, dann wird die Landreise noch gefährlicher wie die Seefahrt. Türkische Raubscharen umschwärmen uns –«

»Ha! Bruder Johannes von Beutelsbach, einem Türken den Kopf zu spalten wäre mir lieber, als [410] wenn ich die größte Wachskerze in der ganzen Christenheit gegossen hätte!«

»Wer dem Türken entrinnt, den frißt die Pest.«

»Die kriege ich nicht! Ich bin pestfest. In Nürnberg hat sie mir Meister Sturm jeden Tag zwanzigmal auf den Hals gewünscht, und sie ist doch nicht gekommen!«

»Ei, zum Teufel, ritterlicher Lebzelter, wenn dir das alles so wohl gefällt, dann gehe du doch nur gleich statt meiner nach Jerusalem. Ein Piscator um den anderen! Ob der Beutelsbacher mit dem Schweinfurter und der Johannes mit dem Gerhard verwechselt ist, wen kümmert das? Wenn die Fische im griechischen Meer nur einen Piscator zu fressen kriegen, so ist meiner Ehre schon genug gethan. Es gilt, Gerhard! Ein Magisterdiplom gegen einen Lehrlingsbrief!«

Der Lebzelter erwog ernstlich. »Nein!« rief er endlich, »es geht nicht an. Seht, den Magister könnte ich schon machen, nicht aber Ihr den einjährigen Lehrjungen. Wo wollt Ihr dazu Kenntnisse und Geschick hernehmen?«

Dennoch ward die Sache weiter durchgesprochen; aus dem Scherz ward Ernst. Keiner der Pilger kannte den erwarteten Gelehrten. Gerhard mochte bis zur Einschiffung in der That ganz gut den Magister spielen, und nachher konnte man ihn nicht mehr zurückschicken. Nach Ulm durfte Johannes nun freilich nicht als Lebzelter gehen; allein auch in Augsburg wußte sein neuer Freund einen offenen Platz; dahin wollte er den Humanisten [411] empfehlen. Endlich schlugen sie ein. Der abenteuernde Bursche nahm das Diplom und das Handgeld, der verzagte Philosoph den Brief und des Lehrjungen drei Batzen. Der Lehrling nahm den Hut und Degen des Magisters, und der Magister die Mütze und den Stock des Lehrjungen. Nur seine Klassiker gab Johannes nicht heraus. Nähere Verhaltungsmaßregeln wollten sie auf dem gemeinsamen Marsch austauschen; denn beide mußten ja jetzt gegen Augsburg ziehen.

Gerhard begann sofort ein Examen mit dem Magister. »Wie wirst du dich nun einführen, wenn du nach Augsburg zu Meister Furtenbacher, dem Lebzelter, kommst?«

Johannes wollte demselben schlechtweg guten Tag sagen, sein Schreiben vorzeigen und ihn um die ledige Lehrlingsstelle bitten.

Da wäre Gerhard fast geborsten vor Lachen und ließ den gelehrten Mann gar nicht ausreden. »Mit Spott würde man den einjährigen Lehrjungen fortjagen, der so unkundig alles Zunftbrauches! Zuerst mußt du dir in Augsburg einen Bürgen suchen, der gut steht, daß du alles bezahlst, was du deinem Meister etwa verderben oder veruntreuen könntest.«

»Wer aber wird mir bürgen wollen?«

Gerhard schaute den Genossen mit der Miene überlegener Pfiffigkeit an. »Ich gebe dir ein Briefchen an die alte Magd deines Meisters. Bevor du ihn besuchst, schleichst du dich abends ungesehen in die Küche und übergibst der Alten den Zettel. Sie wird dich [412] zum nächsten Abend wiederkommen heißen, und ein schönes, junges Mädchen wird dich dann vermutlich zu dem Manne führen, der für dich bürgen soll.«

»Das ist ein abenteuerlicher Eingang?« seufzte Johannes.

»Freilich, Vetter! Vielleicht erlebst du bei der Lebzelterei mehr Abenteuer, als ich auf meiner Reise nach Jerusalem. Doch weiter. Vorgestellt durch den Bürgen machst du dann dem Lehrherrn deine Reverenz und einigst dich mit ihm über Aufgeld und Lehrgeld.«

»Wie? Ich soll auch noch Lehrgeld zahlen?«

Gerhard blieb stehen und rief: »Heiliger Michael, Patron der Lebzelter, erbarme dich dieses Menschen, der Magister ist und noch nicht weiß, daß man für alles, was man auf der Welt lernt, Lehrgeld zahlen muß!«

Dann griff er in die Tasche und fuhr fort: »Vetter, du hast allzu gutmütig mir vorhin all deine klingende Habe ausgeliefert: nimm hier zehn Gulden zurück, damit du Aufgeld und Lehrgeld zahlen kannst und deinen Bürgen und das schöne Mädchen nicht zu Schanden bringst. Also, nachdem Vorgedachtes vereinbart ist und dein Meister dich gedungen hat, gehst du anderen Morgens mit dem Meister und dem Bürgen zu dem Führer der Lebzelterhauptlade, damit dich derselbe einschreibe und dir die Handwerksordnung zustelle. Hierauf hast du allen anderen Zunftmeistern einen Respektsbesuch zu machen. Der Führer der Hauptlade wird dich dann auf den nächsten Sonntag berufen, daß du unter seinem und deines Meisters[413] Vortritt in die St. Annakirche gehest, um dort in den Stühlen der Lebzelterinnung den göttlichen Segen auf deine Augsburger Lehrzeit herabzuflehen, und am Abend dieses Sonntags mußt du dann den Gesellen des Hauses ein Traktament geben, so reich, als es dein Beutel erlaubt. Hierbei aber sind wiederum viele besondere Regeln genau zu merken, die ich dir jetzt einzeln aufzählen will.«

Dem Magister wirbelte der Kopf schon von den bisherigen Vorschriften. Die ganze Angst eines Stubengelehrten vor dem Eintritt in eine neue, geregelte und doch verwickelte, ganz nüchtern praktische Lebensführung überfiel ihn wie ein Fieber. Jetzt deuchte ihm wieder bequemer, nach Jerusalem zu ziehen, als Lehrjunge bei den Lebzeltern zu werden, und beinahe hätte er den Tausch bereut.

Als die Wanderer spät abends nach Zusmarshausen kamen, war Gerhard eben bei den Vorschriften angelangt, wie sich ein Lehrjunge beim Feilhalten von Lebkuchen und Wachsarbeiten auf den Jahrmärkten zu benehmen habe. Er machte nur eine Pause im Dozieren, zuerst um zu essen, dann um den geheimnisvollen Brief an die alte Magd des Meisters Furtenbacher zu schreiben. Er war jetzt in der That der Magister und Johannes Piscator der zu seinen Füßen sitzende Lehrjunge geworden.

Als sich beide ermüdet auf die Streu gestreckt hatten, sprach Gerhard noch tief bis in die Nacht hinein über die leichteste Art, den Backofen zu heizen, und über die sicherste, die Wachsbleiche zu bewachen [414] und doch dabei zu schlafen. Ueber der letzten Untersuchung war Johannes ins Schnarchen geraten. Gerhard zog darum nun auch endlich die wollene Decke übers Ohr und indem er vor sich hinmurmelte: Ein Glück, daß ich diesen Magister als Lehrjungen zu Furtenbacher schicken kann; er wird im Hause hilfreich und nützlich sein, – meinen Platz in der Werkstatt für mich offen halten, falls mich die Lust anwandeln sollte, später wieder einmal bei den Honigtöpfen zu sitzen, – und, was das Wichtigste, Galanterien sind von ihm nicht zu fürchten: – der gute, dumme Vetter; er ist auch nicht schuld, daß die Frösche keine Schwänze haben! – indem er solches murmelte, schlief er ein.

2. Kapitel

Zweites Kapitel.

Als Johannes Piscator in Augsburg angekommen, that er pflichtlich, wie ihm sein Namensvetter geheißen. Aber er that es in einer Stimmung, die gar nicht zu beschreiben ist. Da er zur alten Magd des Lebzelters schlich, um ihr den Brief zu übergeben, biß ihn die Reue, daß er ein Gesicht schnitt wie – nach Bauernrede – ein Topf voll Teufel. In die Lechkanäle, die in raschem Gewoge die Stadt durchfluten, hätte er springen mögen trotz seiner Wasserfurcht, so unwürdig erschien er jetzt sich selber. War die Verschreibung zur Pilgerfahrt schon eine große Narrheit gewesen, dann war der Einzug in die Lebzelterwerkstatt [415] eine noch viel größere. Schwer belastete jetzt der Betrug sein Gewissen, mit welchem er den edlen Rittern einen Schweinfurter Lebzelter als Archäologen, Latinisten und Schriftsteller aufgebunden. Der andere Piscator, um den sich Verwandte und Freunde kümmerten, nahm es sorglos hin als einen lustigen Streich, als eine Abenteurerei, die in den Grundrechten der Jugend verbrieft ist, davonzulaufen nach Jerusalem. Auch Trotz und Grimm und Hoffnungslosigkeit machten ihm, wie wir später sehen werden, den Abzug leicht. Johannes dagegen, der einsame, freundlose Mann, der niemand in Sorgen setzte, wenn er jetzt ein einzigesmal in seinen jungen Jahren einen tollen Jugendstreich begann, wollte verzweifeln über seinen eigenen Leichtsinn.

Es geschah, wie Gerhard vorgesagt. Nachdem die Magd das Brieflein gelesen – eine Magd, die lesen gelernt, war damals noch eine Rarität – und ein zweites, eingeschlossenes, sorgfältig aufgehoben hatte, hieß sie den Magister morgen zur selben Stunde wiederkommen, und als er wiederkam, stand das verheißene schöne Mädchen schon am Platz, tief in den Mantel gehüllt, bereit, den Fremden zu seinem Handwerksbürgen zu führen. Sie grüßte mit stummer Verbeugung, und auch als Johannes, von dem Mädchen und der Alten begleitet, durch die Straßen schlüpfte, fiel von keiner Seite ein Wort. An einem großen Haus, welches fast wie der Flügel eines Klosters aussah und an eine Kirche angebaut war, pochte die Magd ans Thor und blieb dann auf dem Vorplatz zurück.

[416] Durch ein altertümlich überwölbtes Treppenhaus stiegen die beiden hinauf zu den bewohnten Räumen. Piscator, der zu irgend einem Zunftmeister zu kommen wähnte, erstaunte nicht wenig, als sie in die Stube eines Gelehrten traten. Da waren Bücher die Fülle an den Wänden aufgestellt, daß dem Magister Lebzelter das Herz pochte, und Wohlstand und Behagen schien auch hier einmal die Frucht der Erforschung der Weisheit geworden zu sein. Eine ehrwürdige Gestalt, ein Mann von wohl sechzig Jahren mit langen silbergrauen Locken, erhob sich gegen die Eintretenden. Als Johannes den Gelehrten im weitfaltigen, pelzbesetzten Hausgewand gebieterisch vor sich stehen sah, war es ihm, als steige die Erscheinung eines der humanistischen Wissensfürsten seiner Universitätsjahre vor ihm aus der Erde, und er selber müsse versinken vor Scham über die Maske, in der er jetzt einem solchen Manne gegenübertrat.

»Vetter,« rief Judith in munterem, fast schalkhaftem Ton, »hier bringe ich Euch den Lehrjungen, dem Ihr Bürge sein wollt. Macht's untereinander ab; ich plaudere derweil mit Eurer Schwester.« Und im Fortgehen warf sie dem Magister die Worte zu: »Es ist mein Vetter, der Herr Scholarch Kaspar Notthaft, der hier vor Euch steht.«

Der Scholarch erhob das Licht und musterte seinen Empfohlenen vom Kopf bis zu den Füßen mit einem Blick, als wolle er ihn durch und durch sehen. Da er die struppigen Haare, die unordentliche Kleidung wahrnahm, lächelte er freundlich. Das Lächeln ward noch [417] freundlicher, als er des Lehrjungen Gesichtszüge prüfte: – eine starke Nase, viel zu energisch, um schön zu sein; tiefliegende, blöde graue Augen, aus denen einer bei dem berühmten Gelehrten Piscator das versteckte Funkeln des Geistes herausgelesen hätte, während der Scholarch bei dem Lehrjungen Piscator nur Schüchternheit und Einfalt aus demselben Blicke entzifferte; die von der Arbeit der Gedanken gerunzelte Stirn – der Scholarch sah bei dem Lebzelter nur die Runzeln, nicht die Gedanken –; überhaupt einen reif durchgebildeten Kopf, der aber das Gelehrtenprivilegium der Häßlichkeit etwas stark für sich in Anspruch genommen hatte. Als aber vollends der Scholarch die zusammengesessene Gestalt unseres Johannes wahrnahm und die mageren Beine, deren Linienführung keineswegs dem griechischen Ideal entsprach, drückte er ihm unter freundlichstem Lachen die Hand und sprach: »Ich will Euer Bürge sein, Piscator. Ihr wißt, es ist das bei uns nur noch eine leere Form, und seit Menschengedenken hat kein Handwerksbürge für einen Lehrjungen wirklich mit dem Geldbeutel eingestanden. Aber hier in Augsburg übt der Bürge auch noch eine andere Pflicht. Er soll des Lehrlings Patron werden, der ihn schirmt vor Uebervorteilung durch gaunerisches Volk, vor Mißhandlung durch die Mitgesellen (wenn der Meister gegen diese nicht Schutz geben will); er soll sein zweiter Vater, gleichsam sein Handwerkstaufpate sein, und wo der Meister ein gewissenloser Mann wäre, soll der Lehrjunge bei dem Bürgen selbst gegen den Meister Recht [418] finden bei Mißhandlung, Betrug und Ueberbürdung in der Arbeit.«

Da der Scholarch eine Weile einhielt, so nahm Piscator des Augenblicks wahr, um nun doch auch einmal ein Wort zu reden, und sprach: »Wenn sich nämlich der Ueberbürdete nicht selbst hilft gleich den Ochsen von Su –« (er wollte sagen: Susa, besann sich aber sofort) – »von Sulzbach, die täglich hundert Eimer Wasser führten; als man jedoch den hundertundersten noch zufügen wollte, waren sie nicht mehr von der Stelle zu bringen.«

Der Scholarch horchte auf und dachte bei sich: »Wie doch die Geschichten der alten Autoren Gemeingut werden! Es erzählt sich also jetzt der Schweinfurter Pfahlbürger diese Anekdote ganz, wie sie uns in den Klassikern berichtet wird, nur daß er statt Susa die Variante Sulzbach macht!« Dann sprach er laut gegen den verkappten Magister: »Ich zähle Euch meine Pflichten als Bürge nicht auf, damit Ihr etwa meint, Ihr könntet den trefflichen Meister Furtenbacher bei mir verklagen, wenn Ihr lüderlich und faul seid. Allein es gibt gewisse Menschen, die sich nun schlechterdings nicht allein forthelfen können, die durch ihre Gutmütigkeit jeden herausfordern, daß er sie rupfe und ausbeute: solche Menschen bedürfen der Vaterschaft eines mannhaften Bürgen. Meister Furtenbacher kann sich nur um die Lebzelterei bekümmern; ich will für das übrige sorgen. Meine menschenfreundliche Base hat mir schon ungefähr gesagt, auf welcher Seite es not thut, Euch eine Krücke unterzustellen. [419] Ihr seid mir ein wildfremder Mensch. Dennoch bürge ich für Euch – die Weiber haben mir wahrlich den ganzen Tag genügend darum im Ohr gelegen,« dachte er im stillen, fuhr aber laut fort: – »damit Ihr seht, daß es doch noch Leute gibt, die einen gutmütigen, der Welt unkundigen Menschen für Gotteslohn beschützen, statt ihn zu rupfen und zu betrügen. – Und hiermit gute Nacht!«

So entließ er den verblüfften Johannes, dem nun eine, wenn auch noch sehr schwache Lichtdämmerung auf die seltsame Art und Weise fiel, wie er in Augsburg zu einem Bürgen gekommen war.

Auf dem Vorplatz fand er die Magd, die ihm den Heimweg zeigte, da Jungfer Judith die Abendstunden noch mit der Schwester des Scholarchen verplaudern werde.

Heldenmütig bestand Piscator in den nächsten Tagen die verwickelten Aufnahmeförmlichkeiten in die Lebzelterwerkstatt. Selbst das Traktament, welches er den Mitgesellen zu geben hatte, lief glatt vom Stapel, und ob der Magister schon über allerlei Unanstelligkeit einen kleinen Spott einstecken mußte, so kam er doch, wie man so sagt, glücklich mit dem blauen Auge davon.

Als dieser Sturm überstanden, ward es ihm mit jedem Tage ruhiger zu Mute. Zum erstenmal begann er den Frieden des Hauses zu schmecken. Der Zwang zur Ordnung, den er gefürchtet, erquickte ihn. Von Handwerksarbeit kam ihm wenig in seine Hände, da der Meister auf den ersten Blick sein Ungeschick erkannte. [420] Er konnte kaum begreifen, wie einer ein ganzes Jahr bei dem gestrengen Meister Sturm in Nürnberg gelernt und doch eigentlich gar nichts gelernt habe, und räsonnierte dann über die schlechte neue Zeit, wo man den Lehrjungen zum Hausknecht mache, ihn nur in der Küche, im Feld und unter dem Gesinde arbeiten lasse und darüber die Unterweisung im Handwerk versäume. Da er aber fürchtete, der ungeschickte Bursche möge am Backofen mit dem Feuer Unheil stiften, die Honigtöpfe nicht rein fegen, die irdenen Gefäße zerbrechen, Teig in den Modeln sitzen lassen, daß die Ritter und Frauen auf den nächsten Lebkuchen etwa ohne Hände und Füße zum Vorschein kämen, und wohl gar in Gedanken den Honig selber trinken, statt ihn in den Teig zu gießen: so machte er's gerade so, wie er's bei Meister Sturm tadelnd voraussetzte, und gebrauchte unseren armen Magister fast nur zum Stubenkehren, Stiefelschmieren, Wassertragen, zum Hacken und Graben im Garten und im Acker. Allein Johannes befand sich hierbei wohler als in der Werkstatt, er fühlte den Segen der Handarbeit und lernte im Haus und für das Haus leben.

Wenn er so an Sonntag Nachmittagen manchmal stundenlang allein in des Meisters Stube sitzen durfte, dann ward es ihm ganz selig im Gemüte. Die Frühlingssonne schien durch die achteckigen Scheiben so lustig in das helle, reinliche Gemach. Crescenz, die alte Magd, die lesen konnte – denn sie war von guter Herkunft und selbst eine entfernte Verwandte des Hauses – sorgte für eine Reinlichkeit, [421] die ein Holländer bewundert hätte. Der Boden war blütenweiß gescheuert, und das Täfelwerk am Wandsockel und an der Decke stets so glänzend im nußbraunen Lack gehalten, als sei es gestern erst gefirnißt worden; um tausend Gulden wäre kein Spinngeweb in den Ecken zu finden gewesen, und die metallenen Prunkgeräte aus dem kunstreich ausgeschnitzten Schrein spiegelten das Licht blendend zurück, daß sie leuchteten wie die goldenen Schalen, Schüsseln und Becken im Tempel Salomonis. Judith, des Meisters einziges Kind, verwaltete das Hauswesen gemeinsam mit Crescenz in geteilter Herrschaft; die Mutter war gestorben. Wenn Crescenz rein hielt, dann sorgte Judith für den Schmuck des Hauses, wie sie selber des Hauses schönster Schmuck war. In den Fensternischen hatte sie kleine Wintergärten angelegt, die jetzt im März in voller Blüte standen. Die Distelfinken, Drosseln und Amseln, mit ihren Käfigen eine halbe Wand füllend, waren ihrer besonderen Pflege empfohlen. Ueberall ordnete und schmückte ihre Hand; der Eindruck des Wohlstandes, des Behagens, der sonnigen Heiterkeit, den die Wohnstube wie das ganze Haus machte, war ihr eigenstes Werk. Da war es denn kein Wunder, daß der Meister an Sommer- und Winterabenden am liebsten friedlich in seiner trauten Stube saß, mit seinem Geschwisterkindsvetter, dem Scholarchen, der das tägliche Brot im Hause war, ein Glas Wein leerte, und sich ruhig und nur selten den Mund öffnend, von dem vielerfahrenen Mann über Gott und die Welt unterhalten ließ. »Weit von unserem [422] Haus ist nah' bei unserem Schaden!« pflegte Meister Furtenbacher den Freunden zu erwidern, die ihn manchmal zu einem Gelag hinauslocken wollten. Allein er hatte gut predigen; denn in einem Hause wie dem seinen war es in der That heimlicher und bequemer wie in irgend einer Schenke der Welt.

Wenn nun der Meister am Sonntag Nachmittag im Festkleid in seinen Garten spaziert war und Johannes so allein in der Stube saß, da befiel ihn wohl eine Ahnung von dem Heiligtum, in welches er hier gekommen, und von der Heiligen, die über diese Räume einen so verklärenden Schein ergoß – von Judith. Es ward ihm dann ganz fromm ums Herz. Er vergaß den Klassiker, den er sich zur heimlichen Lektüre in die Tasche gesteckt, und gedachte wohl gar der Eindrücke, die er heute morgen aus der Kirche mitgenommen, aus derselben Kirche, wo auch Judith gebetet hatte. Vorher hatte er nicht viel aufs Kirchengehen gehalten; seit er Wunderkind gewesen, hatte er etwa jährlich einmal eine Predigt gehört. Allein die ehrsame Lebzelterzunft war strenge in diesem Stück. Da mußte gebetet werden beim Aufstehen und Schlafengehen, vor Tisch, nach Tisch, beim Schiedläuten und bei der Vaterunserglocke. An allen hohen Festtagen mußten Gesellen und Lehrlinge kommunizieren, und daß sie an jedem Sonntage wenigstens einmal zur Kirche gingen, verstand sich ganz von selber. Anfangs war dieses fromme Wesen dem Humanisten etwas gegen den Strich gegangen, allein allmählich fand er ein Gefallen daran, nicht weil er sofort im Innern [423] davon ergriffen worden wäre, sondern weil ihm die Stetigkeit der religiösen Formen wohlthat und die Ordnung, die Würde, welche durch dieselbe in das Haus kam, und weil er sich in diesen religiösen Uebungen den anderen Familienmitgliedern näher gebracht fühlte.

Seltsame Gedanken überkamen ihn auch manchmal, wenn er so allein in der Stube saß und die einzige bildliche Darstellung betrachtete, die an den Wänden angebracht war. Sie bestand in einem Kunststück der Wachsbildnerei, welches Furtenbacher selbst verfertigt hatte, als Meisterstück und zugleich als Brautgeschenk für seine verstorbene Frau; denn Meisterwerden und Heiraten folgten bei ihm Schlag auf Schlag. In einem breiten Rahmen stand ein reicher Blumenstrauß, frei aus buntfarbigem Wachse geformt; ganz versteckt aber hinter den Blumen, dem flüchtigen Beschauer kaum sichtbar, zeigte sich ein Kreuz mit dem Gekreuzigten, und rings um den Rahmen liefen die Verse:


»Manch' schöne Blum' dein Auge sicht:

Die Blume des Lebens siehst du nicht.«


Das deutete sich der Humanist aus in dem allegorisierenden Geschmacke seiner Zeit. Waren nicht seine trauten heidnischen Poeten die schönen Blumen, welche ihm die Blume des Lebens verbargen? Und konnte nicht das Kreuz harmonisch neben der Antike stehen, wie der Gekreuzigte neben den Blumen auf diesem Bild? Mußte er – Johannes – die klassischen Heiligtümer seiner Jünglingsjahre daran geben, [424] um die christlichen Heiligtümer seines Knabenalters, da er noch so fromm mit der seligen Mutter betete, wiederzugewinnen? War nicht auch der Scholarch Kaspar Notthaft ein gewaltiger Latinist und Gräcist und doch ein exemplarischer Christ dazu? Ging er nicht jeden Sonntag in die Kirche und sang mit seiner Base Judith aus einem Gesangbuch?

»Aber beim Zeus!« fügte Piscator diesen Betrachtungen in lautem Selbstgespräche bei: – »Es wäre mir lieber, der reiche Mann schaffte sich ein eigenes Gesangbuch an; es ärgert mich, die beiden aus einem Buche singen zu sehen, und ich weiß selbst nicht warum!«

Der Meister und seine Tochter, der Scholarch und die alte Magd gewannen den stillen, traurigen Lehrjungen täglich lieber, und obgleich er als angehender Zwanziger aussah wie ein angehender Vierziger und in Küche und Werkstatt manches Unheil stiftete, ward er doch das Schoßkind der ganzen Familie.

Um so aufsässiger wurden ihm die Gesellen. Der schweigsame Bursche war den lustigen Kameraden unausstehlich. Als sie auf dem Gelag, welches ihnen Piscator bei seinem Einstand gegeben, den Wein maßweise soffen, eingedenk der Regel, daß der Wein der beste ist, welcher nichts kostet, da war es dem hypochondrischen Philosophen im Unmut entfahren, daß er die Zecher als »Epicuri de grege porci« – (Schweine von der Herde Epicurs) – anrief. Die Gesellen versicherten seitdem, es sei ein Hauptspaß, den Lehrjungen angetrunken zu sehen; denn alsdann spreche er lateinisch. Sie versuchten darum auf alle[425] Weise, ihn ins Wirtshaus zu locken; allein vergebens. Da es in Güte nicht ging, wollten sie ihn mit Drohungen pressen. Ein Lehrjunge hat nach der Zunftordnung den Gesellen mancherlei Dienst zu leisten, ja er ist in vielen Stücken recht eigentlich der Gesellen Knecht, und sie reden ihn mit »du« an, während er ihnen mit »ihr« antworten muß. Die Gesellen versprachen, unserem Johannes wenigstens die Hälfte seiner Dienstlasten zu schenken, wenn er mit ihnen am Sonntag ins Wirtshaus gehe. »Und etliche Seidel Bier darfst du uns auch setzen für die Ablösung deiner Servitute,« rief einer. »Wer gut schmeert, der gut fährt!« ein anderer. »Freilich,« sagte ein dritter, »wir werden in Zukunft die weitere Verleihung unserer Gnaden nach deiner Freigebigkeit messen: Danach das Geld, danach die Seelmeß!«

Piscator aber wich nicht vor den Andringenden, hielt ein kleines Büchlein, betitelt: Ordnung der wohlehrsamen augsburgischen Lebzelterhauptlade, wie einen Schild entgegen und sprach: »Wollt ihr Gesellen, daß der Lehrjunge euch lehre, was Handwerksrecht ist? Hier steht geschrieben im dreizehnten Hauptstück: Es ist einem Lehrjungen verboten, mit dem Gesellen zu zechen oder zu spielen, auf widriges Betreten ist sowohl der Gesell als Lehrjung strafwürdig.«

Mit diesen Worten kehrte er ihnen den Rücken. Die Gesellen aber ärgerten und höhnten ihn von da an, wo sie nur konnten.

Die Gelegenheit fand sich bald, wo dem armen Piscator für seine Anwendung des Zunftgesetzes die[426] Hölle recht heiß gemacht wurde. Ein wandernder Gesell aus Franken sprach bei Meister Furtenbacher ein. Er war schon bei allen anderen Zunftmeistern der Stadt gewesen, hatte ihnen den Handwerksgruß geboten, aber bei keinem Arbeit gefunden. Da behielt ihn endlich unser Meister aus Mitleid auf ein paar Wochen probeweise, obgleich er seiner nicht bedurfte.

Als der Franke in die Werkstatt trat, den Degen an der Seite und den Mantel über das Felleisen auf beide Schultern zurückgeschlagen, wie es die Zunftordnung will, reichte ihm Piscator freundlich die Hand und sprach: »Seid mir in Gott willkommen von wegen des Handwerks« – genau wie das alles im zwölften Hauptstück der Ordnung der augsburgischen Lebzelterhauptlade vorgeschrieben steht. Dann bat er ihn, niederzusitzen, und zog ihm die bespritzten Stiefeln aus; denn es war sehr schmutzig. Alle diese Nebenzweige des Lebzelterhandwerks hatte der gelehrte Mann bereits unter den Fußtritten und Rippenstößen der Gesellen vortrefflich erlernt, auch im Stiefelschmieren eine Virtuosität gewonnen, auf die ein Hausknecht hätte reisen können. Der Fremde, dem die Frechheit auf die Stirn geschrieben stand, hatte von Anbeginn den alten Lehrjungen höhnisch angeschaut, und da ihm die anderen Gesellen mittlerweile zugewinkt, daß er denselben ein wenig zum besten haben solle, so setzte er der Bescheidenheit Piscators die ausgesuchteste Unverschämtheit entgegen. Als dieser das Amt des Stiefelausziehens vollendet hatte, forderte der grobe Gesell auch die Abnahme des Mantels. Piscator that, wie [427] befohlen. Nun setzte sich der Franke noch einmal so breit in den Stuhl und begehrte, daß ihm der Lehrjunge auch Degen und Mütze abnehmen solle. Die anderen Gesellen lachten und kicherten bereits über das Schauspiel. Da hielt der schriftgelehrte Lehrjunge plötzlich ein, richtete sich auf aus seiner Demut und sprach: »Es stehet wohl geschrieben im Zunftbuch, daß ich Euch Mantel und Stiefel abziehen müsse; aber von Degen und Mütze stehet dort nichts geschrieben: seid darum so gut und greift jetzt selber zu.«

Die Rede rief einen fürchterlichen Tumult hervor. Der Franke drohte mit Faustschlägen; die anderen Gesellen hielten ihn zwar ab von solchem Friedensbruch der Werkstatt, schrieen jedoch den Lehrjungen an wie die Dachmarder. Dieser aber schwieg und stand fest in der Brandung: – »Saevis tranquillus in undis!« sprach er lächelnd bei sich, des Wahlspruchs seines großen Zeitgenossen gedenkend. Allein der Meister war nicht zu Hause, und Prügel blühten dem gelehrten Dulder jedenfalls im Schlußakt.

Da trat Judith in die Werkstatt. Die rohen Gesellen verstummten vor dem lieblichen Mädchen, und selbst der Franke verwandelte seine Rauferstellung fast willenlos in eine tiefe Reverenz. Sie fragte nach der Ursache des Streites. Nun erst kam Piscator zu Wort und erzählte so gewandt und bescheiden den Hergang, daß die anderen nichts zu erwidern wußten. Mit herzbewegender Huld nahm sich das Mädchen des Gekränkten an und hieß ihn mitgehen in den Garten, wo er arbeiten könne bis zu des Vaters Rückkehr. [428] Johannes sah den Goldschein um das Haupt seiner Heiligen heller strahlen als je, aber er hatte nur Blicke des Dankes für sie, nicht Worte.

Judith berichtete sofort dem heimkehrenden Alten. Der gestrenge Zunftmeister ließ den fremden Gesellen vorfordern, zahlte ihm aus Gnaden einen Wochenlohn und befahl ihm, sich ohne Säumen marschfertig zu machen; denn solche Flegel und Händelstifter dulde er nicht über Nacht in seinem Hause.

Da sprach der Franke in gleisnerischem Ton: »Herr Meister, dieser Lehrjunge, der seinem Alter nach wohl mein Vater sein könnte, dieser ist es, der Händel in Eure Werkstatt bringt, denn alle Gesellen sprechen gegen ihn, wie aus einem Mund. Traut dem Burschen nicht. Er nennt sich Gerhard Piscator aus Schweinfurt« – hier sah der Ankläger den armen Magister mit stechendem Auge an – »der Name ist gefälscht. Ich habe den Gerhard vor Jahren gekannt; er war ein Teufelskerl, ein flinker, lustiger, schneidiger Bursch, groß gewachsen, ein Eisenfresser, o ein höchst fideles Haus! Wie könnte er ein solcher krüppeliger Duckmäuser geworden sein? Die Jahre ändern viel, aber niemals machen sie eine Nachteule aus einem Adler. Vielleicht« – er sprach leise – »hat dieser Patron meinen Freund Gerhard auf der Landstraße ermordet und sich mit dessen Papieren bei Euch eingeschlichen –«

»Schweig, trunkener Bube!« donnerte der Meister dazwischen. »Ich dulde nicht, daß ein hergelaufener Raufbold wie du in meinem eigenen Hause [429] einen Hausgenossen boshaft verleumde, der sich mir längst als fromm und ehrlich ausgewiesen hat. Ich habe mehr als meine Schuldigkeit gegen dich gethan und will dich auch noch nach Handwerksbrauch vors Stadtthor geleiten lassen. Dann aber siehe zu, daß du in der nächsten Dorfschenke deinen Rausch ausschläfst und mir nicht wieder unter die Augen kommst.«

Wenn Meister Furtenbacher donnerte, war noch jeder verstummt. So machte es auch der Franke und schlich ganz still zur Thüre hinaus. Der Meister aber befahl dem Lehrjungen, daß er den fremden Gesellen zunftgemäß aus der Stadt geleite und ihm das Felleisen vors Thor trage. Doch nicht dem Raufbold zu Ehren drang der Meister diesmal aufs Geleite, sondern weil er weiteren Skandal abschneiden und das Herumlungern des bösmäuligen Franken in den Herbergen verhüten wollte.

Piscator, der wie Butter an der Sonne gestanden, atmete wieder auf, da er seinem Feinde jetzt ebenso demütig das Felleisen durch die Straßen vortrug, wie er ihm vorhin die Stiefel ausgezogen. Als sie vors Thor gekommen waren, verabschiedete sich der Lehrjunge von dem Gesellen mit dem vorgeschriebenen Zunftspruch: »Mein werter Gesell, ich wünsch' Euch viel Glück auf die Reise; haltet mir nichts für ungut; habe ich Euch was Leids gethan, verzeihet mir's.«

Da erwiderte der Gesell: »Und ich will mich hängen lassen, wenn du der Gerhard Piscator von Schweinfurt bist. Glück auf die Reis' ins Dreiteufels[430] Namen!« – und gab dem Magister eine so ungeheure Ohrfeige, daß dieser mit einem ganz roten und einem ganz weißen Backen in die Werkstatt zurückkehrte; der Gesell schritt eilends davon.

Piscator gestand nachgehends, als ihn der fränkische Gesell bei seiner Anklage so scharf angeschaut, da sei es ihm wohl gewesen, wie Paracelsus schreibt, als ob einer den anderen durch Willen und Blick allein – ohne Schwert – wirklich erstechen könne.

In der Nacht nach diesem bösen Tage hatte der Magister die Wache bei der Wachsbleiche und dem Backofen; denn es ward scharf gearbeitet.

Das waren selige Stunden, wenn Johannes abends allein war und ganz heimlich wieder in den Alten lesen konnte, – etwa beim Mondlicht, denn Wachs, Oel oder Talg ward vom Meister nicht gereicht. O wie gar süß und köstlich schmeckte ihm jetzt, was ihm sonst trocken wie das tägliche Brot gewesen! Seit er leben gelernt, begann er auch erst lesen zu lernen.

So zog er jetzt bei dem Schein des Feuers verstohlen seinen Homer in der kleinen Herborner Duodezausgabe unter dem Schurze hervor und las die Gesänge, welche den Aufenthalt des Odysseus bei den Phäaken erzählen. So mächtig hatte ihn die Lieblichkeit und die Größe dieser Bilder noch nie ergriffen, wie hier in der stillen Nacht bei dem rotglühenden Scheine des Ofens. Der Magister hatte nur den klassischen Autor Homer gelesen; der Lebzelterlehrjunge las jetzt zum erstenmal den Dichter Homer. Da er noch ein menschenscheuer Schulmeister war, ganz besonders[431] aber kein Weib auch nur von weitem ansah, war ihm Nausikaa, »des hohen Alkinoos Tochter«, nur eine Figur, worüber man die Scholiasten vergleichen und Erklärungen aufbauen mußte, wie über Eumäos, den Sauhirten, und Melianthos, den Ziegenhirten, und die ganze übrige homerische Gesellschaft. Jetzt hatte er Judith kennen gelernt, jetzt ging ihm ein Licht auf über die Frauen, und Judith, das gutmütige, schalkhafte Lebzelterkind, gab ihm den Schlüssel für Nausikaa, das adelige Königskind. Ja es war ihm, als sei er selber auf seiner Irrfahrt in den seligen Frieden der Phäakeninsel gekommen, nämlich in das Haus des Meisters Furtenbacher, und er vergaß Stiefelschmieren und Wasserholen, die Lebkuchenmänner und Wachskerzen zusamt der Ohrfeige des Gesellen aus Franken, und Judith deuchte ihm die Nausikaa dieser Insel.


– »an Wuchs und reizender Bildung

Einer Unsterblichen gleich.« –


(Nur konnte man von ihrer Magd, der alten Crescenz, nicht sagen, daß sie gleich den zwei Mägden der Fürstentochter geschmückt sei »mit der Chariten Schönheit«.) Dann aber ergriff es ihn wieder gar wehmütig und es war ihm, als müsse auch er, gleich Odysseus im Schlummer an diese selige Insel getragen, im Schlummer wieder von dannen segeln, Nausikaa zurücklassend, und ein Nebel verhülle ihm wohl das Land, wohin er steuere, aber keine Athene komme vom Olymp herab, um auch ihm endlich ein Ithaka aus dem Nebel herauszuführen. Schon sah er im Geiste [432] den Tag, wo er die Maske ablegen und seinen Phäaken die Irrfahrten seines Lebens erzählen werde und dann, gleich dem scheidenden Odysseus, scheidend Frieden und Gedeihen herabwünschen auf das gastliche Dach, nicht ohne den heimlichen Gedanken späteren frohen Wiedersehens: –


– – »jungkräftig müss' ich den Meister

Wiederfinden im Haus' und wohlbewahret die Tochter!

Lebt und waltet in Freude, und segnende Götter verleihn Euch

Tugend und Heil; und nie sei hier einheimisch das Unglück!«


Hier fuhr Piscator in die Höhe durch einen kräftigen Rippenstoß des Altgesellen aufgeweckt: er war eingenickt über den göttlichen Homer und hatte nun doch die Wachtstunde verschlafen –

So verging unserem Johannes in wunderlich anziehendem Wechsel und doch in friedlicher Stetigkeit ein Monat um den anderen. In der Küche, in der Werkstatt, auf der Straße war er halb Lehrjunge, halb Hausknecht; auf der einsamen Dachkammer der echte deutsche Gelehrte. Auch in Gesicht und Haltung ward er von Tag zu Tag jünger, im Gespräch lebendiger. Manchmal erschrak er über sich selbst, daß er gar nicht mehr an seinen kranken Unterleib, geschweige denn an den Tod dachte. Die Klassiker las der Lehrjunge jetzt mit einer phantasievollen Wärme der Auffassung, daß der gelehrte Humanist manchmal seinem Doppelgänger mit dem kritischen Zeigefinger drohen mußte. So klassisch aber seine Studien waren, so romantisch blieb sein Minnedienst. Er schien hier streng nach dem provençalischen Liebeskodex des dreizehnten [433] Jahrhunderts verfahren und das Noviziat der Liebe nach den dort vorgeschriebenen vier Graden durchmachen zu wollen. Bis jetzt war er freilich immer noch bei dem ersten Grade stehen geblieben, in welchem nur verstattet ist, »daß der Werber in der Stille verehre, ohne seiner Sehnsucht Worte zu geben«. Allein was bedurfte es der Worte? Judith war so gut und freundlich, zeichnete ihn vor allen durch ihre Güte aus, schützte ihn, erfreute ihn, wo sie nur konnte. Manchmal lachte sie ihn auch aus und neckte ihn. Was sich liebt, das neckt sich. Johannes kehrte den Satz flugs um und sprach: Was sich neckt, das liebt sich.

Weihnachten nahte heran; neun Monate waren es schon, seit der Magister die Welt und seinen Frieden in den engen Räumen des Lebzelterhauses gefunden, da begab sich eines Tages in diesem Hause eine seltsame Geschichte, die bald Lärm durch ganz Augsburg, ja durch ganz Schwaben machen sollte.

Der Altgeselle hatte nämlich dem Meister berichtet, er habe zum öfteren den Lehrjungen belauscht, wie er nächtlicherweile beim Feuer des Backofens oder beim Mondschein in Büchern lese, die mit einem Gewimmel von rätselhaften Zauberzeichen erfüllt seien, und lange unverständliche Zaubersprüche vor sich hin murmele, bis er zuletzt in der Regel in einen ekstatischen Schlaf voller Traumgebilde, Ausrufungen und Verzückungen verfalle. Der Meister möge sich vorsehen. Dieser Lehrjunge, aus dem niemand klug werde, sei ein Hexenmeister; mit seinen zauberischen Bestrickungen aber scheine er es besonders auf Jungfer Judith abgesehen [434] zu haben. Denn unter den sinnlosen Ausrufungen, die er schlafend von sich gebe, laute je das dritte Wort: »Judith!«

Dem Meister lief es nun doch heiß über die Stirn. Das Zeugnis des Altgesellen konnte er doch nicht schlechtweg verwerfen. Etwas Geheimnisvolles, Absonderliches hatte Piscator immer an sich gehabt. Dann fiel dem ehrlichen David Furtenbacher die Anklage des fränkischen Gesellen ein, der steif und fest behauptet hatte, der Lehrjunge sei gar nicht der rechte Schweinfurter Piscator. Auch war es dem Meister nicht entgangen, daß derselbe auf den Dulten stets die Buden der Schweinfurter Handelsleute mied, wie wenn sie die Pest zum Ausverkauf mitgebracht hätten, und daß er unsichtbar wurde, sowie er nur Leute aus Franken im Hause witterte, und die Grüße und Nachrichten nach Hause immer nur mündlich und durch den Donauwörther Boten besorgen ließ, der sie dann an seinen Kollegen von Nürnberg zum Weiterspedieren abgab, so daß diese Mitteilungen Gott weiß wann und wie! – nach Schweinfurt kommen mochten.

Das alles überdachte der Meister jetzt zum erstenmal und beschloß, noch heute abend seinen Staats-und Gewissensrat, den Scholarchen, darüber zu konsultieren.

Der gelehrte Vetter legte nicht viel Gewicht auf die Frage, ob dieser Piscator wirklich der echte Schweinfurter Piscator sei oder nicht. Dagegen lockte es ihn, die Zauberbücher kennen zu lernen, die Zaubersprüche zu erfahren. Er war mit sich selbst nicht eins, ob er [435] an Zauberei glauben dürfe. Die erleuchtetsten Geister der Zeit nahmen die Möglichkeit einer teuflischen Magie an; die größten Gesetzgeber der Kirche, der protestantischen wie der katholischen, geboten, daß man die Zauberer töten, daß man die Hexen verbrennen solle. Allein bei dem Scholarchen wie bei anderen Humanisten regte sich doch manchmal das dunkle Gefühl, als ob jemand, der sich mit der lichten Lebensweisheit der Alten gesättigt, der in dem sonnigen Tagesschein römischer und griechischer Dichter gelustwandelt, zuletzt kaum mehr ein Verständnis habe für das Eulengeschrei über die teuflische Magie, wie es aus Nebel und Finsternis klagend herüberhalle. Doch auch die gelehrtesten Schulmeister sind Kinder ihrer Zeit, und der Scholarch Kaspar Notthaft versprach in gespanntester Erwartung, den Lehrjungen vorerst einmal im stillen zu prüfen, um zu sehen, inwieweit jener ein Hexenmeister sei.

Des anderen Morgens schon ward Piscator auf die Studierstube des Gelehrten beschieden.

In der Doppelwürde eines Pädagogen und eines Richters zugleich saß der Alte in seinem Lehnsessel, Johannes trat unbefangen vor den Hausfreund und Bürgen, der ihm immer treu gesinnt gewesen.

Notthaft begann sein Examen rundweg: »Du liesest des Nachts beim Feuer des Ofens oder beim Mondschein manchmal in Büchern, Gerhard? Ist's nicht also?«

Piscator schwieg verwirrt. Allein der Scholarch löste ihm die Zunge: »Leugnen hilft nichts! Während[436] du hier vor mir stehest, durchsucht der Meister deine Kammer, und alsbald werden jene Bücher auf diesem Tische liegen. Der Altgeselle hat sie als Zauberbücher erkannt, wimmelnd von fremdartigen zauberischen Zeichen, und Zaubersprüche murmelst du vor dich hin, indes du die Bücher dem Glutschein des Ofens oder den Strahlen des Mondes entgegenhältst. Gesteh es ein; denn der Altgeselle ist ein unverwerflicher Zeuge.«

Da riß dem verkappten Magister Geduld und Selbstbeherrschung und er rief: »Der Altgeselle ist ein Esel, so dumm, – so dumm – wie ich es auf deutsch gar nicht ausdrücken kann: stultior Melitide! Griechische Verse sind es, die der Obskurant für Zauberzeichen angesehen hat.«

»Halt!« rief der Scholarch, – »mir schwindelt der Kopf! Das ist wahrhaftige Zauberei! Wie kommst du zu dem lateinischen Spruch? Auf welchem Honigtopf, auf welchem Lebkuchenmodell hast du ihn gelesen? Steckt etwa auch ein magischer Doppelsinn in dem Spruch? Woher weißt du etwas von Melitides?«

»Aus dem Plutarch,« erwiderte Johannes ruhig und trocken; »denn dieser erzählt uns seine Schwänke und Dummheiten. Doch würde ich den Melitides schwerlich im Plutarch gefunden haben, wenn ihn nicht lange vorher ein größerer schon unsterblich gemacht hätte.«

»Was weißt du Näheres von Melitides?«

Mit der gemessenen Würde eines Mannes, der mit dem Degen umgürtet um den Doktorhut disputiert, entgegnen der Lehrjunge: »Melitides war der [437] größte Esel des klassischen Altertums: wenn daher die Alten jemand als übermenschlich dumm bezeichnen wollten, so sagten sie: stultior Melitide, er ist noch dümmer als Melitides. Als Melitides eines Abends, während schon Licht angezündet war, heftig von den Flöhen gestochen war, löschte er rasch das Licht aus, weil er meinte, die Flöhe würden ihn nun im Dunkeln nicht mehr finden. Er wußte nicht, ob ihn sein Vater gezeugt und seine Mutter geboren, oder ob ihn seine Mutter gezeugt und sein Vater geboren habe. Soll ich Euch auch die Geschichte von seiner Brautnacht erzählen?«

»Nein! Ich kenne sie schon. – Also griechische Verse sind es, die du nachts beim Lebkuchenbacken liesest?«

»Allerdings; homerische Verse. Die Bücher, welche man Euch bringen wird, sind eine kleine Auswahl ganz derselben Autoren, die ich hier Euern Schrein schmücken sehe: Homer, Virgil, Tacitus und Sallustius – das sind meine Zauberbücher.«

»Und verstehst du diese Bücher?«

»Gewiß! sonst würde ich sie nicht lesen.«

»Und durch welche teuflische Zauberei hast du Latein und Griechisch gelernt, während du Stiefel schmiertest und die Werkstatt fegtest?«

Piscator faßte sich rasch. »Die Lüge erzeugt das Lügen,« dachte er, »doch wenn ich mich nur erst aus meiner einzigen Hauptlüge herausgelogen habe, dann will ich gewiß zur Wahrheit halten mein Leben lang.« Er erzählte: »Ich bin, wie Ihr wißt, eines armen Schweinfurter Schulmeisters Sohn, der mir frühe schon [438] einige lateinische Broten zuwarf, von denen er selber jedoch nicht satt werden konnte, und ich ebensowenig. Ich hatte noch nichts gelernt, als ich schon zu einem Küfermeister in die Lehre gegeben wurde. Doch den Ehrgeiz brachte ich von Hause mit, daß nur in den gelehrten Studien der höchste Ruhm zu gewinnen, daß nur ein lateinischer und griechischer Mann ein ganzer Mann sei. Da fiel mir die Grammatik Melanchthons in die Hände; schier lernte ich sie auswendig. Ich verkaufte meinen Sonntagsrock, um mir dieses kostbare Buch zu kaufen und andere Bücher dazu. Ich studierte so fleißig, daß mich der Küfer aus der Lehre jagte. Drauf that man mich, wie Ihr wißt, zu einem Schlosser. Träge schwang ich meinen Hammer auf dem Amboß, aber auf die Alten hämmerte ich los wie ein Cyklope. So hatte ich lauter Lehrmeister, bei denen ich nichts lernte, und in dem einzigen Stück, worin ich etwas gelernt, keinen Lehrmeister. Nicht durch die weiße oder schwarze Magie kam mir Latein und Griechisch angeflogen; ich habe mir's sauer errungen, heimlich und ohne Unterweisung, in mondhellen Nächten, beim verglimmenden Lichtstümpfchen, weil ich so thun mußte, weil ich unglücklich gewesen wäre, hätte ich es nicht gethan. Est Deus in nobis, agitante calescimus illo!«

Man hatte inzwischen die angeblichen Zauberbücher des Lehrjungen dem Scholarchen übergeben. Während er dieselben durchblätterte und Johannes gleichzeitig erzählte, wuchs des Alten Staunen bald über das, was er hörte, bald über das, was er sah.

[439] »Junge!« rief er wie toll: »Von wem sind die schriftlichen Randglossen hier zum Homer?«

»Sie sind von mir.«

»Und die lateinischen Verse vor dem Titelblatt?«

»Es sind meine Verse.«

Da ließ er das Buch starr vor Verwunderung auf den Tisch fallen. »Ein Lebzelterjunge, der nichts gelernt hat und von allen Lehrmeistern fortgejagt ist, macht seinen lateinischen Gelegenheitsvers so glatt wie Eobanus Hessus und kommentiert seinen Autor wie Lipsius und Scaliger!« Dann aber faßte den gewiegten Schulmann wieder plötzliches Mißtrauen. Er fuhr jäh auf. »Höre, Bursche! betrügen sollst du mich nicht! Ich will dich ins Gebet nehmen über deine selbsterrungene Weisheit. Setze dich neben mich. Aus dem richterlichen Examen wollen wir ein wenig ins gelehrte übergehen.«

Und nun ging es in der That an ein scharfes Turnier. Mancher Magister und Doktor wäre von dem Scholarchen aus dem Sattel gehoben worden; allein Johannes saß so fest, daß sein Gegenmann beim Anrennen zuweilen selbst die Bügel verlor.

Erschöpft warf sich der alte Herr zuletzt in den Sessel zurück, reichte dem Lehrjungen die Hand und sprach: »Gehe still nach Hause. Sprich zu niemand ein Wort über das, was zwischen uns vorgefallen. Sage übrigens dem Meister, ich hätte weder an deinen Büchern noch an dir etwas Schlimmes erfunden. Ich bin dein Handwerksbürge; ich will auch dein Bürge in der Gelehrtenzunft werden. Laß mich einsam sinnen, [440] was hier zu thun ist.« Und als Johannes das Zimmer verlassen, rief der Scholarch mit erhobenen Händen: »Welch ein Wunder hat Gott an diesem Menschen gethan! Ein Lebzelterlehrling, den niemand kennt, der ohne Schule aufgewachsen, ist einer der ersten Sprachgelehrten und Philosophen, einer der größten Humanisten Deutschlands!«

Dann sprach er leise vor sich hin, im Zimmer auf und nieder gehend: »Giotto von Bondone war ein Hirtenknabe. Indes er seine Herden weidet, zeichnet er mit dem Stabe ein Agnus dei in den Sand. Da kommt Cimabue zur Stelle und siehet, daß ein ungelernter Hirtenjunge leichthin in den Sand zeichnet, was ihm, dem größten Meister, kaum in reifer Arbeit gelingen mag. Cimabue aber nimmt den Knaben mit nach Florenz, daß er alle Maler und ihn selbst überflügle. Ein Giotto ist dieser Lebzelterjunge, und bin ich auch nicht Cimabue, so bin ich doch sein Bürge, sein Handwerkstaufpate: – jetzt will ich ihn zum zweitenmal aus der Taufe heben. Der Junge hat mich verzaubert. Bei Gott! er soll mir nicht länger Lebkuchen backen.«

3. Kapitel

Drittes Kapitel.

»Melancholie steigt auf aus dickem Geblüt. Da hilft kein Purgieren und Aderlassen. Auf ein Jahr bei einem Lebzelter in die Lehre zu gehen, ist ein [441] probateres Mittel. Alle Kräfte Himmels und der Erden wirken zusammen, um einen einzigen Menschen so zu machen, wie er ist; dennoch macht sich ein Magister, der Lehrjunge wird und Stiefel schmiert und Wasser trägt, zu einem anderen Menschen, als er gewesen, trotz Himmel und Erden.

Mit eigener Willensstärke soll ich mich erlösen aus meinem Trübsinn. Aber Wille ist ja nur bewußte Lebenskraft. Ich suche die verlorene Lebenskraft wieder; wie kann ich sie durch den Willen gewinnen, der nur aufkeimt aus der Lebenskraft, der in ihr enthalten ist und eins mit ihr. – So schrieb ich vor einem Jahre. Jetzt füge ich hinzu: Als der Meister vor mir stand und drohte, die Gesellen mir zur Seite und mich vexierten, der Scholarch hinter mir und ermahnte, Judith vorüberschwebte und grüßend lächelte – da machten sie mir die Willensstärke, die ich aus mir selber nicht zu schöpfen vermochte. Das Leben außer uns zeugt die neue Lebenskraft in uns, daß wir dann erst aus uns selber einen neuen Willen gebären können.

Paracelsus hat recht, wenn er schreibt, des Men schen Wille könne so stark werden, daß einer durch den Geist allein, durch bloßes inbrünstiges Wollen, ohne Schwert einen anderen steche. Ich habe es vorgeschmeckt, als der Blick des bösen Gesellen aus Franken mein Blut stocken machte.

Aber auch durch die bloße Willenlosigkeit können wir uns selber leiblich töten. Ich war krank, weil ich nicht mehr wagte, gesund sein zu wollen. Mein [442] Blut ward dick und träge, weil ich mich nicht ermannen konnte, ihm rascheren Fluß zu gebieten. In Jahresfrist wäre ich gestorben an Willenlosigkeit wie ein anderer am Fieber.

Ein fünfzigjähriger Mann, der Leib und Geist schlaff hängen läßt, ist binnen zwei Jahren siebzig alt; ein Siebziger, der immer in Kraft und Arbeit jung hat bleiben wollen, ist ein Mann in seinen besten Jahren.

Indem ich aber meinen Leib errettete von dem Siechtum der Willenlosigkeit, ist meine Seele darin gefangen geblieben. Aus Willensschwäche verdingte ich mich zur Pilgerfahrt, bereute den Pakt aus Willensschwäche, brach ihn und betrog die edeln Ritter aus Willensschwäche; ich belog den Lehrherrn, den Bürgen, die Gesellen, die ganze ehrsame Lebzelterzunft; eine Lüge gab die andere; um nicht als Lügner erfunden zu werden, log ich, daß ich, Magister Johannes Piscator, der als Jünger zu den Füßen der größten Gelehrten gesessen, als ein Autochthone des Wissens unterrichtslos in den Werkstätten großgewachsen sei; ich belüge heute noch die ganze Stadt, ganz Schwabenland, da ich mich als ein Wunderspiel der Natur anstaunen lasse, als den echten Lehrjungen, der aus sich selber ein großer Humanist geworden – alles aus Willensschwäche! Noch kurze Frist, und mir droht bei gesundem Leibe abermals der Tod an dem Fieber der Willenlosigkeit –«

So schrieb Johannes Piscator, der hypochondrische Philosoph, am 1. März 1562, das Selbstgespräch parodierend, [443] mit welchem er an demselben entscheidenden Tage vor einem Jahre seine schriftlichen Meditationen abgebrochen hatte.

Er führte jedoch, wie wir sehen, diesmal die Betrachtungen nicht zu Ende; denn es war ihm zu qualvoll, seine ganze Beichte schriftlich zu machen. Er warf die Feder weg und versteckte das Papier – aus Willensschwäche.

Da trat Judith ins Zimmer. Es war eben an einem der friedlichen Sonntagnachmittage; das ganze Haus war ausgeflogen, die beiden jungen Leute fanden sich allein.

Sie grüßte mit besonderer Wärme; Piscator war verlegen. »Ihr seid mir böse,« begann sie, »denn seit vielen Wochen redet Ihr kaum mehr ein Wort mit mir. Das Lebzelterkind ist Euch wohl zu gering geworden und zu einfältig in ihrem Gespräch, jetzt, wo täglich vornehme Leute kommen, um den Lehrjungen zu bewundern, der über Nacht als ein Gelehrter aus dem Boden aufgewachsen ist. Sonst nanntet Ihr mich Eure Beschützerin und gabt mir manchmal ein Wort der Dankbarkeit; jetzt habt Ihr freilich größere Gönner.«

»Ihr thut mir schweres Unrecht, Judith,« entgegnete Johannes. »Sonst dachte ich, wenn es einmal offenkundig werde, daß ich doch noch mehr sei und Besseres wisse und könne, als ein ungeschickter, verspotteter Lehrjunge, dann wolle ich Euch erst recht gut werden und vor Euch treten in gerechtem Selbstgefühl, Euch danken für alle Güte in begeistertem [444] Wort, Euch sagen, was ich nie bis dahin Euch zu sagen gewagt – – und jetzt, wo ich Anerkennung über das Maß täglich finde und meinem Ehrgeiz eine stolze Zukunft aufgeht, jetzt stehe ich beschämt vor Euch und kann nicht reden; ich kann Euch nicht mehr ins Auge sehen. Der ungelehrte Lehrjunge war heiter und fand sein Wort, der gelehrte Lehrjunge ist in Trübsinn verstummt.«

»Und warum waret Ihr heiter, da es Euch schlecht erging, und seid traurig, da Euer Glück aufgeht?«

»Das werde ich seiner Zeit enthüllen – nur jetzt nicht, Judith. Allein warum waret Ihr so still betrübt, als ich ins Haus kam, und wurdet insgeheim immer betrübter – ich merkte es wohl, da es sonst keiner merkte; – und seit einem Monat seid Ihr heiter und werdet immer heiterer?«

»Das werde ich Euch seiner Zeit enthüllen, Freund – nur jetzt nicht.«

Meister Furtenbacher trat in die Stube. »Dein Vater ist hier in Augsburg angekommen,« rief er unserem Johannes entgegen. »Die Kunde von der Gelehrsamkeit, welche Vetter Notthaft bei dir aufgedeckt, ist auch nach Schweinfurt gedrungen. Da ließ es dem alten Manne nicht länger Ruhe, und er hat sich auf den weiten Weg gemacht, um die Wunderdinge, die man sich von seinem Sohne erzählt, mit eigenen Augen zu schauen. Judith, richte ein gutes Abendessen in der oberen Stube, der Schulmeister von Schweinfurt wird unser Gast sein.«

Der Meister hatte kaum seine Freudenbotschaft [445] beendet – dem armen Piscator klang sie fürchterlich ins Ohr, – als die Thüre abermals aufging und der Scholarch eintrat, glühend vor Eifer und in fliegender Hast.

»Jetzt habe ich meine Schuldigkeit gethan als Bürge und kann mein Patronat in Ehren niederlegen,« rief er. »Seit länger als zwei Monaten kenne ich kein anderes Geschäft, als wegen dieses Burschen« – er deutete auf Piscator – »den Leuten einzuheizen. Wahre Brandsignale habe ich für dich, Freund, über das ganze gelehrte Deutschland hin ertönen lassen, – an drei Universitäten habe ich deine philosophische Abhandlung de fato eingesandt und dein GedichtNeptunus triumphans. Von der Untersuchung ›über das Schicksal‹ sind die Wittenberger so tief ergriffen worden, daß sie dir hiermit das Ehrendiplom eines Doktors der Philosophie senden. Meister Furtenbacher! einen Lehrjungen, der Doktor ist, habt Ihr doch in Eurer ganzen Zunft noch nicht gehabt. Ihr müßt den Piscator jetzt wahrlich aus der Lehre lassen, sonst heißt er binnen acht Tagen in der ganzen Stadt der Lebkuchendoktor. – Der Neptunus triumphans hat in Heidelberg triumphiert, und besonders hat die Schilderung des Seesturms« – Piscator lächelte – »einen solchen Sturm der Bewunderung erregt, daß Kurfürst Friedrich den Lebzelterjungen einladen läßt, nach Heidelberg zu kommen, um seinem Gelehrtenkreise einen neuen Edelstein einzufügen – einen rotglühenden Rubin vom Backofen, einen Rauchtopas vom Feuerherde der Crescenz. Endlich suchen die Ulmer[446] einen Gelehrten für ihr Gymnasium. Die Proben deiner Leistungen, der Ruhm deines Namens ist auch nach Ulm gedrungen. Hier übergebe ich dir den Bestallungsbrief, den du nur zu unterschreiben brauchst. Es ist diese Berufung freilich die minder glänzende, und die Ulmer mögen wohl geahnt haben, daß auch andere Leute das Licht meines neu entdeckten Sternes über sich leuchten lassen möchten. Es sind daher drei achtbare Bürger persönlich herübergekommen, um dich im Namen des Rates nach Ulm einzuladen und dir die Vorzüge eines gelehrten Amtes in ihrer Vaterstadt mit recht grüner Farbe zu malen. Was nun die Wahl zwischen Heidelberg und Ulm betrifft –«

»Die Wahl ist entschieden!« rief Piscator. »Ich gehe nach Ulm. Jetzt will ich den verfluchten Ulmer Geldsäcken erst recht zeigen, wer ich bin! Vor einem Jahre haben sie mich verhungern lassen, jetzt holen sie mich im Triumph zurück! Laßt ihre Deputation nur vorkommen. Zäh soll sie mich finden wie Lappleder, aber zuletzt werde ich dennoch nachgeben und mitgehen nach Ulm.«

»Der Junge ist vor Freude übergeschnappt,« rief der Scholarch. »Was phantasierst du von Ulm? Was haben dir die ehrenwerten Ulmer Bürger Leids gethan, daß du so auf sie schiltst? Gib mir die Hand, Freund – sein Puls ist fieberfrei! trinke einen Becher kalten Wassers und dann laß uns die Sache schrittweise und bedächtig durchsprechen. Als alter Hausfreund und zwanzigjähriger Sonntagsgast, Vetter Furtenbacher, habe ich mir herausgenommen, die Ulmer[447] Deputation auf heute abend in Euer Haus zu laden. Ich hoffe, Ihr werdet ihnen ein Glas Wein nicht versagen.«

Der Alte nickte seine Zustimmung.

Nun aber erhob sich Johannes Piscator: »Ich will die Stricke des Betruges zerreißen. Ich bin nicht Gerhard Piscator von Schweinfurt: der Gesell aus Franken hat recht gehabt, da er mich der Namensfälschung bezichtigte. Ich bin Johannes Piscator aus Beutelsbach, und Herr Kaspar Notthaft entsinnt sich vielleicht noch, daß ich vor zehn Jahren schon wegen meines frühreifen Wissens bekannt wurde. Man fütterte mich auf mit Schmeicheleien, um mich, da ich ernstlicher Arbeit mich hingab, schier verhungern zu lassen. In dieser Not verschrieb ich mich zur Löwensteinischen Pilgerfahrt, und als mich das Ding gereute, tauschte ich mein Schreiben mit einem abenteuernden Lebzelterjungen, dem echten Gerhard Piscator. Dieser ist nach Jerusalem gegangen, ich ging nach Augsburg. Hier habe ich den Segen des Hauses erkannt, die Heilkraft der strengen Zucht und Ordnung meines werten Meisters. Nicht Lebkuchen backen, aber leben habe ich gelernt. Bei aller Weisheit war ich vordem ein scheuer, geängsteter Mensch gewesen. Hier habe ich erfahren, daß die Ergebung in den Willen Gottes und ein christlicher Wandel uns alle gemeinsam hinaushebt über irdische Bekümmernis. Ich habe noch nicht ganz ergründet, warum man gerade beten und in die Kirche gehen muß: aber ich sehe, es ist doch gut, zu beten und in die Kirche zu gehen.[448] Mein ehrwürdiger Bürge hat mir gezeigt, wie man ein Humanist und ein Christ zugleich sein kann. Verzeiht mir alle meine Lügen – ich hatte nichts Böses im Schilde, und in Reue, Scham und Verlegenheit that ich Buße fort und fort. Doch wer kann immer widerstehen, die Leute anzuführen, wo sie danach dürsten, angeführt zu werden? Da ich noch als Magister lehrte, verschmähten sie meine Gelehrsamkeit; ich bin ein Lebzelterjunge geworden, und nun will man meine Weisheit mit Gold aufwägen. Und die Ulmer gar, die den Magister haben fortlaufen lassen, schicken nun eine Deputation, um den Lebzelterjungen zurückzuholen. Dennoch haben diese Schwernöter nicht unrecht: der Lehrjunge ist mehr wert als der Magister.

Nun habe ich mit Euch noch ein Wort zu reden, Judith. Ihr fragtet vorhin, warum ich so ungesellig, so undankbar, so trübsinnig geworden in den letzten glücklichen Wochen? Ich versprach seiner Zeit darauf zu antworten: diese Zeit ist da. Seht, als ich meinen werten Bürgen durch das Märchen von meiner Selbsterziehung doppelt belogen und betrogen hatte, kam ein solches Bewußtsein meiner eigenen Unwürdigkeit über mich, daß ich nicht mehr wagte, die Augen vor Euch zu erheben. Ich konnte auch nicht mehr mit Euch sprechen und scherzen; ich war krank am Geiste. Jetzt bin ich wieder gesund; denn ich bin wahr geworden und will es bleiben. Jetzt ist mir auch die Zunge gelöst, daß ich sagen kann, was ich bis dahin niemals über die Lippen zu bringen vermochte. Ich liebte Euch schon lange im stillen, Judith; der strenge, sittenreine [449] Geist dieses Hauses schloß mir den Mund, daß ich, der ich als ein Lügner mich eingeschlichen, dir, der Wahrhaftigen und Reinen, meine Liebe nicht gestehen konnte. Jetzt bekenne ich sie wahr und frei, wie ich selber nun wieder wahr und frei bin.«

Judith senkte das Haupt. Man sah, sie war bewegt; das Weinen stand ihr nahe. Sie erwiderte: »Ihr habt meine Frage über Euren Trübsinn beantwortet. Ich will nun auch mein Versprechen lösen und Euch Rede stehen, weshalb ich, da Ihr hieher kamet, im stillen traurig war, in den letzten Wochen aber so fröhlich. Denn auch hierauf ist die Antwort jetzt an der Zeit. Vor zwei Jahren besuchte ich in Nürnberg meinem Oheim, den Lebzelter Sturm; dort lernte ich den Gerhard Piscator, den echten Piscator, kennen. Ich fand ein Gefallen an dem wilden Burschen, der lange nicht so weisheitsvoll ist wie Ihr, Johannes, aber doch eine treue, gute, edle Seele. Wir schieden mit dem stillen Gelöbnis der Liebe. Dem ungestümen Gerhard aber war die Werkstatt und fast die Welt zu eng, und die vierjährige Lehrzeit nebst den daranhängenden Gesellenjahren eine Hölle in Ewigkeit. So zog er ziellos aus, sein Glück zu versuchen. Es war mir bitterer Kummer, denn ich hielt ihn nun für einen verlorenen Mann. Da traf er auf der Ulmer Landstraße mit Euch zusammen. Aus Trotz und Verzweiflung ging er statt Eurer nach Jerusalem. Der Brief, den Ihr an Crescenz überbrachtet, schloß einen anderen ein, worin Ihr als ein schwacher, gutmütiger Mensch meinem Schutze empfohlen waret. [450] Ich bat den Vetter Notthaft, daß er sich aus Menschenfreundlichkeit Eurer annehme und Bürgschaft leiste. Gerhards Bitte, Euch zu beschützen, habe ich redlich erfüllt. Ich that es um so eifriger und wärmer, weil es der einzige und letzte Wunsch war, den er mir ans Herz gelegt. So gefahrvoll Gerhards Pilgerfahrt sein konnte, war ich doch anfangs getröstet, denn ziellos, arbeitlos im Reiche auf gut Glück auszuziehen, schien mir für einen Mann von seiner Art noch viel gefahrvoller. In den ersten Wochen kamen Briefe. Die Maske des Gelehrten hatte nur für wenige Tage vorgehalten, allein die Ritter fanden Gefallen an dem lustigen Burschen. Plötzlich versiegte alle Kunde von den Pilgern. Da ward ich so betrübt im stillen. Doch mit dem neuen Jahre kam auch neue Nachricht von Alexandria, von Venedig. Mit furchtbaren Leiden, mit Hunger und Pest hatten die Wanderer zu kämpfen, und auf dem Rückweg in Syrien und Aegypten den Angriff räuberischer Horden zu bestehen. Gerhard, der in Nürnberg allemal der letzte am Backofen, war immer der erste im Kampf. Der Bürgermeister von Kairo hatte die beiden Grafen von Löwenstein samt dem Erblandmarschall von Pappenheim festhalten und in den Turm werfen lassen, weil sie einen Kameltreiber geprügelt. Es wütete aber die Pest so gewaltig in der Stadt, daß ein Gefängnis so gut wie ein Grab war. Da gelang allein der Klugheit und Schmeichelkunst meines Gerhard, was vielleicht keinem Doktor und Magister gelungen wäre, daß er den Bürgermeister überredete, die Gefangenen freizulassen. Um [451] solcher Thaten willen ward Gerhard den Herren wert wie ein leiblicher Bruder. Die Grafen von Löwenstein nahmen ihn als Feldhauptmann in ihre Dienste, und mit Ehren reich geziert ist der abenteuernde Lebzelterjunge als ein gestandener Mann zurückgekehrt. Auf der Pilgerfahrt fand er dasselbe, was der gelehrte Johannes Piscator im stillen Lebzelterhause gefunden hat. Um Euch aber die Fahrten und Abenteuer Gerhards vollständig zu erzählen, braucht es einen ganzen langen Abend. Seht, Johannes, seit Gerhard wieder in Venedig gelandet, ward ich heiter und immer heiterer; seit gestern ist er nun gar hier in der Stadt, – und da Ihr, lieber Vater, den Schulmeister von Schweinfurt zum Abendessen geladen habt, damit er seinen Sohn wiederfinde, so wird es doch wohl nötig sein, daß ich auch für Gerhard ein Gedeck in der oberen Stube auflege.«

»Der Alte wird ein kurioses Gesicht machen,« meinte Notthaft, »wenn er seinen verlorenen Sohn, der schon einmal Küfer-, Schlosser- und Lebzelterjunge gewesen, als großen Humanisten zu begrüßen glaubt und findet statt dessen einen Löwensteinischen Feldhauptmann, Kreuzfahrer und Türkenbezwinger, der sogar den Bürgermeister von Kairo überlistet hat.«

Dem Meister Furtenbacher begann es zu schwindeln. »Betrug überall,« rief er, »in Kairo und in Augsburg! So hat mich also der Lehrjunge mit Reden hintergangen und die Tochter mit Schweigen. Aber dieser ganze Lebkuchen voll bitterer Mandeln ist noch nicht ausgebacken. Judith! Lege immerhin [452] auch für deinen Gerhard ein Gedeck auf. Ist die Gesellschaft beim Weine versammelt, dann sollen alle Parteien reden, und ich will morgen alle Glieder der Familie Furtenbacher einberufen, damit wir eine Entscheidung treffen.«

»Da wird wenig mehr zu entscheiden sein, wo zwei solche Helden wie Judith und dieser Pilger schon entschieden haben,« meinte der Scholarch und schlich zur Seite, indes er den Magister bei der Hand nahm. »Wir haben beide Lehrgeld bezahlt, Kollega,« sprach er leise.

Piscator lächelte. »Ich verstehe Euch. Als Ihr mich bei meinem ersten Besuch mustertet und so behaglich gelächelt habt über meine Erscheinung –«

»Da wollte ich sehen,« nahm ihm der Scholarch das Wort aus dem Munde, »ob Ihr mir niemals Eifersucht schaffen könntet. Denn bei Gott, wäret Ihr nicht so häßlich gewesen, ich hätte niemals Bürgschaft für Euch geleistet. Ich gestehe, ich selbst bin verliebt in das Teufelsmädchen; doch das ist nun vorbei. Wir zwei Schulmeister wollen zum Rückzug blasen vor dem palästinensischen Ritter.«

»Und ich blase morgen zu Felde gegen Ulm!« rief laut sich ermannend der Magister. »Jetzt, wo ich wahr geworden, und frei und gesund, fühle ich mich erst als den rechten Ritter des Humanismus, der wahren und freien menschlichen Gesittung. Zuerst will ich jedoch heute abend noch einmal beim Wein in der oberen Stube die Ulmer Deputierten ärgern. Aus einem dicken Donaunebel wird mir Ulm als mein [453] Ithaka aufsteigen. In Wehmut verlasse ich dieses Haus, von dem ich einst am Backofen träumte, es sei mir auf meinen Irrfahrten eine Insel der Phäaken. Es ist mir mehr gewesen. Aber ich werde scheiden von diesem gastlichen Dach, wie damals im Traume, mit dem heimlichen Gedanken des Wiedersehens und mit den Versen des göttlichen Sängers, wie ich sie vor mir hinsprach, als mich ein Rippenstoß des Altgesellen aus dem Schlummer weckte:


– – ›jungkräftig müss' ich den Meister Wiederfinden im Haus' und wohlbewahret die Tochter! Lebt und waltet in Freude, und segnende Götter verleihn Euch Tugend und Heil; und nie sei hier einheimisch das Unglück!‹«

[454]

Notes
Erstdruck: Stuttgart (Cotta) 1862.
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TextGrid Repository (2012). Riehl, Wilhelm Heinrich von. Kulturgeschichtliche Novellen. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8FAB-8