[62] Ix und Ypsilon, ein Dialog

Bey Gelegenheit der itzigen Rechtschreibungsunruhen in Deutschland.


Wien im May 1780.

X.

Freund Ypsilon, mein theurer Nachbarsmann,
Was hast du vor? warum im Reiserocke?
Warum versehn mit diesem Wanderstocke?
Wozu das Haar in einen Kadogan
So pilgerlich hinaufgeschlagen?
Sag an, mein Freund, wo geht die Reise hin?
Y.

Ach, Nachbar Ix! lass dir mein Schicksal klagen,
Und sprich, ob man in diesen Tagen,
[63]
Wo die Verbessrungssucht von Hamburg bis nach Wien
Gleich einem Strom sich anfängt auszubreiten,
Wo jedermann an Sprach' und Glauben fegt,
Feilt, glättet, zwacket, stutzt und egt,
Um Tresp' und Unkraut auszureuten,
Bis gar zuletzt kein Weitzen übrig bleibt,
Urtheile, Freund, ob man in diesen Zeiten
Den Undank nicht auf's höchste treibt.
Ich diene nun schon unter Deutschlands Fahnen,
Wie du wohl weisst, so manches lange Jahr,
Liess nie zu meiner Pflicht mich mahnen,
Gieng allenthalben hin, wo ich zu brauchen war.
Mein stolzer Vetter I hielt's jederzeit für Schande,
Der letzte Mann im Glied zu seyn:
Ich trabte stäts statt seiner hinterdrein,
Und nun zum Lohn jagt man mich aus dem Lande.
X.

Du dauerst mich: doch, Freund! man legt dir viel zur Last;
[64]
Man nennt dich einen schlauen Griechen,
Der, Parasiten gleich, im Anfang nur als Gast
Ganz demuthsvoll ein Plätzchen sich erschlichen,
Und nun nicht loszubringen sey.
Man hält dich überdiess für völlig überley,
Und Meister I, aus deutschem Stamm geboren,
Ist wirklich schon an deine Stell' erkoren.
Y.

Mich wundert nur, o Nachbar, dass man dich
Nicht ebenfalls von Haus und Hof verdrungen;
Bist du nicht auch in Griechenland entsprungen?
Wärst du nicht auch entbehrlich, so wie ich?
X.

Hm! du hast Recht: doch ich begnügte mich,
Und habe nicht wie du nach jedem Platz gerungen.
Ich hielt mich still, liess selten nur mich sehn,
Bloss um dem Falkenblick des Neides zu entgehn.
[65]
Wer klug ist, wird sich nie um allzuviel bewerben;
Man kömmt dabey am Ende stäts zu kurz:
Erschlichne Macht war einst der Tempelherrn Verderben,
Und jüngst der Jesuiten Sturz.
Wärst du wie ich von Ehrsucht frey geblieben.
Man hätte nie aus Deutschland dich vertrieben.
Y.

Zu spät kömmt nun dein wohlgemeinter Rath.
Zwar schützt mich noch Kanzlist und Advocat,
Die jederzeit mir hold und günstig waren:
Doch Philolog, Poet und Recensent
Und Pädagog sind wider mich entbrennt,
Sind fest gesinnt, ihr Ansehn nicht zu sparen,
Bis Deutschland ganz mich in die Acht erklärt.
Nun sprich, wo soll ich hin? Mein Griechenland ernährt
In seinem Schooss unwissende Barbaren:
Italiens beblümtes Paradies
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Darf ich mit keinem Fuss betreten:
Auch Frankreich, ob es schon nicht völlig mich verwies,
Hat meiner doch nur halb und halb vonnöthen.
Du, England! warst von jeher mir geneigt,
Zu dir will ich Verstossener mich kehren.
Ha! deine Sprach', aus deutschem Stamm erzeugt,
Ist gastfrey, Fremden hold, und hielt mich stäts in Ehren.
O nimm mich auf, du freye Nazion!
Du Sitz der Duldsamkeit! du edles Albion!

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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Ratschky, Joseph Franz. Ix und Ypsilon, ein Dialog. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8CB9-2