Wilhelm Raabe
Hastenbeck

[Motto]

Ich habe nur ein Vaterland, das heißt Deutschland.

Freiherr vom und zum Stein.

1. Kapitel

[1] Erstes Kapitel.

»Es ist mein Sohn, der mich zu Grunde gerichtet und sich selbst beschimpft hat.«

Der dies Wort sprach, war der alte, nahezu siebzigjährige Kurfürst von Hannover und König von Großbritannien und Irland, Georg der Zweite, der Sieger von Dettingen, und sein Aufschrei fand einen zustimmenden Widerhall durch ganz Europa, vom Felsen Kalpe bis nach Asien hinein, und jenseits des Atlantischen Ozeans bis tief in die amerikanischen Urwälder.

Wieder einmal war ein unbekannter Ort zu einem Namen in der Weltgeschichte gekommen, diesmal zu einem übelberüchtigten. Dieser Ort hieß Kloster Zeven in der Landdrostei Stade, der aber, welcher hier seinen Lorbeeren von Fontenoy, Lawfeld undHastenbeck die Schleife anflocht und dadurch dem greisen Vater das gramvolle Gesicht in die Hände niederdrückte, hieß William Augustus, Duke of Cumberland, der Metzger Cumberland – butcher Cumberland, wie ihn die Schotten nach seinem einzigen Siegesfelde bei Culloden nannten. Und wie Schottland ihm nachsang:

»Mourn, hapless Caledonia, mourn!« so klang ihm jetzt ein anderer Jammerruf nach. Der aber lautete:

»Weh, Niedersachsen, weh!«

Aber es war doch ein anderes: das Schlächtermesser-Wetzen auf dem Feld bei Culloden und der Ritt, Degen in der Scheide und die Faust auf dem Federhute, vom Felde bei Hastenbeck.

Niemals war ein ob seines Erfolges verblüffterer Sieger [1] hinter dem Besiegten drein gewesen, als an dem sechsundzwanzigsten Juli des Jahres Siebzehnhundertsiebenundfünfzig der Franzos hinter dem Engländer, Herr Louis César, Herzog von Estrées, Marschall von Frankreich, hinter seinem alten Bekannten von Fontenoy. So leicht hatte er sich die Sache doch nicht vorgestellt, obgleich er wirklich recht vertrauensvoll in Paris dem König Ludwig dem Fünfzehnten vor dem Ausmarsch versichert hatte:

»Anfangs Juli werde ich den Feind jenseits der Weser treffen und gehe sofort nach Hannover.« –

Natürlich hatte er dies auf französisch gesagt, aber zu derselben Zeit, wo in der Stadt Braunschweig eine Frau gleichfalls in französischer Sprache zu ihrem erstgeborenen Sohne sagte:

»Ich verbiete Euch, mir wieder unter die Augen zu kommen, wenn Ihr nicht Taten getan habt, Eurer Geburt und Eurer Verwandtschaft würdig.«

Diese Dame war die Herzogin Philippine Charlotte, geborene Prinzessin von Preußen, und der junge Mensch, den sie mit diesem stolzen Wort in seine erste Schlacht, ihrem Bruder, dem König Friedrich zu Hilfe in seinem siebenjährigen Kriege schickte, war Karl Wilhelm Ferdinand, der Erbprinz von Braunschweig. Er bekam sofort Grund, das Nunquam retrorsum seines Geschlechts bei geballten Fäusten unter verschluckten Tränen in sich hineinzufressen.

Auf dem linken Flügel hatte er seinen Ahnen, seiner Mutter und seinem Onkel Fritz Ehre gemacht, dem Feinde Fahnen und Geschütze genommen und die französischen Trommeln und Trompeten zum Rückzuge rufen hören, als auf dem rechten der Onkel aus England mit fliegenden Rockschößen sich auf die Flucht begab, nachdem er die eroberten Kanonen wenigstens hatte vernageln oder in die Weser werfen lassen. Als der hannoversche Oberst von Breitenbach auch seine gewonnenen Fahnen in später Nacht dem Helden von Culloden überreichte, soll dieser doch [2] geweint haben. Wir lassen das dahingestellt sein. Der Marschall d'Estrées hatte recht behalten: über Nienburg und Verden ist der jämmerliche Rückzug weiter gegangen, und ist das flüchtige Heer erst bei Stade zum Stillstehen gekommen. Das welfische Allod – die Lande Braunschweig und Lüneburg und das Hannoversche lagen der Frau Marquise von Pompadour und dem König Louis dem Fünfzehnten zu freiester Verfügung. –

Weh, Niedersachsen, weh!

»Im Juli werde ich jenseits der Weser sein und nachher sobald als möglich in Hannover!« Den ersten Teil dieses Versprechens hatte der französische Marschall sogar gegen sein Verhoffen glänzend erfüllt. Daß er den zweiten nicht hielt, daran war nicht er, sondern Madame Jeanne Antoinette Poisson schuld, die für ihre Tochter, Mademoiselle d'Etioles, einen Schwiegersohn brauchte und denselben an dem Sohne eines gewissen Louis François Armand Duplessis, Herzogs von Richelieu, Marschalls von Frankreich, Mitglieds der französischen Akademie, der Akademie der Wissenschaften und so weiter und so weiter, gefunden zu haben glaubte. Schon am siebenten August traf der Sieger von Port Mahon in Münden ein und fand sich der Sieger von Hastenbeck auf der Rückreise nach Paris. Die Stadt Braunschweig besetzte der Herzog von Ayen, die Festung Wolfenbüttel nahm der Marquis le Voyer d'Argenson, nach den Schlüsseln von Bremen griff Monsieur d'Armentières, die Stadt Hannover behielt sich nicht ohne seine Gründe der Herr Marschall von Richelieu selber vor: der Bau seines Pavillon d'Hanovre in der Stadt Paris konnte beginnen, die nötigen Gelder lagen bereit in dem Lande zwischen der Weser und der Elbe, und einen erklecklichen Beitrag lieferte sofort Serenissimus Herzog Karl von Braunschweig-Lüneburg für gnädigst bewilligte »Neutralisierung« seiner Grafschaft Blankenburg. Man hat eine schöne weite Aussicht von dem Harzschloß, aber für den [3] erlauchten Herrn mit Familie und Hofstaat in dieser seiner persönlichen betrüblichen Sicherheit ist es doch ein großer Segen gewesen, daß das Ohr nicht so weit reicht wie das Auge. Wo Tränen fließen, jammert der Mensch meistens mehr oder weniger laut dabei, und es sind viel Tränen mit in den Pavillon d'Hanovre des Herzogs Armand Duplessis de Richelieu zu Paris vermauert worden:

»Weh, Niedersachsen, weh!«

Wir können nichts dafür, wenn dieser Klageruf noch öfter in diese Geschichte hineinklingt. Diese unsere Geschichte handelt eben davon, wie niedersächsisch Blut an dem Bau des hannoverschen Pavillons beteiligt wurde. Unser Immeken von Boffzen und der Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße wurden ja mit in den gloriosen Rückzug der Vierzigtausend unter dem Herzog von Cumberland gerissen. Sie konnten auch nichts dafür.

Ganz vierzigtausend waren es wohl nicht mehr. Zwölfhundert Mann fehlten seit Hastenbeck an der Zahl der Hannoveraner, Bückeburger, Braunschweiger, Hessen-Kasseler und Sachsen-Gothaer, welche den Heerbann bildeten, der diesmal den deutschen Westen gegen den Einbruch der Gallier hatte schützen sollen; aber der Fürstenberger Blumenmaler Pold Wille war gottlob nicht unter den Fehlenden. Er war zwar etwas außer Atem vom eiligen Laufen, aber doch mit unverletzten Gliedmaßen nur mit hineingefallen in des Herrn Herzogs von Cumberland Konvention von Kloster Zeven. Sein Landesherr von seinem »Asyl« auf Schloß Blankenburg aus konnte immer noch auch auf diesen seinen Untertan unter dem Kontingent, welches der Herr Vetter von Hannover, König Georg der Zweite von England, zu dem glorwürdigen Rückzug gestellt hatte, für die Weltgeschichte rechnen. Was würde aber aus unserer Geschichte geworden sein, wenn der junge Held gleich auf dem ersten Blatt unserer Niederschrift seiner Schicksale vor dem Feind totgeschlagen, begraben und von der Braut betrauert worden wäre?

2. Kapitel

[4] Zweites Kapitel.

Im Jahre Sechzehnhundertdreiundsiebzig waren wir schon einmal da, wohin wir jetzt von neuem gutwillige Leser und Freunde führen, wenn sie folgen wollen. »Höxter und Corvey« überschrieben wir damals die Geschichtserzählung, und wir konnten damals sogar das Datum genau angeben. Es war am ersten Dezember, als der Pfarrer der Kilianskirche in Höxter vom Besuch bei dem Amtsbruder im Dorfe Boffzen von dem einen Weserufer auf das andere zurückkehrte.

Diesmal, vierundachtzig Jahre später, können wir nur zu Papiere bringen, daß es im Monat Oktober war; den bestimmten Tag finden wir jedoch nicht in den Dokumenten, die uns zur Verfügung stehen. Das aber finden wir in unseren Dokumenten und Kollektaneen, daß Witterung und Weltläufte des Jahres Siebzehnhundertsiebenundfünfzig denen des Jahres Sechzehnhundertdreiundsiebzig sehr glichen.

Das Wetter ließ zu wünschen übrig, und die Franzosen waren, wie üblich, im Lande. Dazu wollte es auch wieder einmal Abend werden; fürs erste aber brauchen wir weder Brücke noch Fähre, um deutsche Geschichte zu treiben. An diesem jetzigen trübseligen Herbstabend halten wir uns auf dem rechten Weserufer und gehen dem Lichtschein nach, der aus dem Boffzener Pfarrhause in die beginnende Dunkelheit fällt. Daß die Höxtersche Brücke heuer wunderbarerweise noch steht, kann uns angenehm sein. Wieder einmal hat sie den Sommer über oft und arg gedröhnt, geächzt, gestöhnt, und sich gebogen unter dem [5] Heergeräte des Krieges; aber Axt und Petarde haben sie diesmal verschont und so wird sie auch wohl unserem leichteren Schritt standhalten auf der Spur von:

»Gottes Wunderwagen«. –

Im schäbigen Samar, das heißt im abgegriffenen Lederband liegt er auch heute abend bei der schlechten Blechlampe in Boffzen dem Pastor loci Ehrn Gottlieb Holtnicker unter den Brillengläsern: der aufrichtige Kabinettprediger Gottlieb Cober aus Altenburg, »welcher bei abgelegten Visiten hohen und niedrigen Standespersonen ihre Laster, Fehler und Anliegen nebst dem heutigen verkehrten Weltlaufe in hundert sententiösen und annehmlichen Diskurspredigten bescheidentlich entdecket, dieselben wohlmeinend warnet, ernstlich vermahnet und kräftig tröstet,« und über »Gottes Wunderwagen« hören wir ihn diskurrieren, wenn wir eingetreten sind in den Lichtkreis dieser kleinen Lampe am rechten Ufer der Weser.

Treten wir ein und zwar vom Garten her. Es ist ein niederes Zimmer zur Linken des Hausflurs, wo der Pastor von Boffzen seinem Hausstand und einem landfremden Gast die Abendandacht aus dem Kabinettprediger Cober hält, oder vielmehr nach gehaltener Abendandacht zur weiteren Erbauung und zur nützlichen Unterhaltung aus einem guten Buch vorliest. Die Spinnräder der Frau Pastorin, des Pfarrtöchterleins und der Magd schnurren in diese Vorlesung hinein, was immer ein Zeichen ist, daß das Amen zum Abendsegen bereits gesprochen wurde. Auch hat ja der Gast nach der Abendandacht schon aus einem anderen, wenn nicht guten, so doch schönen Buche ein Stücklein vorgelesen, das ihm vom geistlichen Hirten ein lächelnd Kopfneigen, von der Hirtin ein bedenkliches Kopfschütteln, vom Hirtenmägdelein mehr als einen verwundert-leuchtenden Blick aus weitgeöffneten Augen und von der Stall-, Hof- und Hausmagd, Dortchen Krüger, ein ununterbrochenes Anstarren bei weitgeöffnetem Mundwerk eingetragen hat. Ein Landsmann [6] von dem Schweizerhauptmann Balthasar Uttenberger ist's, der bei beginnendem Siebenjährigen Kriege der Welt ungewohnte Töne auf seiner Leier anschlägt und in den Kanonendonner hinein vom goldenen Zeitalter, Arkadien, Milch und Honig und Daphnis und Chloe singt. Salomon Geßner aus Zürich ist sein Name, und die gebildete Welt vom einen Ende bis zum anderen horcht auf ihn trotz Groß- und Kleingewehrfeuer. Das kleine Buch in der Hand des kranken Gastes des Boffzener Pfarrhauses hat ja auch den Krieg schon mitgemacht und trägt eine Kugelspur. Aber wenn es auch seinem Inhaber auf einer Walstatt gar das Leben gerettet haben würde – Ehre, dem Ehre gebührt: dem alten Kabinettprediger aus Altenburg vorauf das Wort und nachher erst dem jungen Züricher Weltpoeten! Dazu gehört aber auch, daß wir jetzt die Leute ein wenig genauer beschreiben, denen er heute abend seine Visite abstattet. –

Da sitzt er, der Ortspastor, den Lebensjahren nach der Zahl sechzig erklecklich näher als der Zahl fünfzig. Auf dem Scheitel statt der würdigen geistlichen Amtsperücke die ebenso würdige schwarze Hausschlafkappe. Auf der glatten Stirn die Heiterkeit derer, so auf Erden ihr Behagen festzuhalten verstehen, wie auch der Krieg um sie her wüte – selbst der häusliche. Um den Mund also auch etwas von dem Schlau-Einfältigen derer, so hinter unserem Herrgott das angetraute Eheweib am meisten lieben und fürchten, gern auch einmal fünf grade sein lassen, nie etwas in Druck gegeben haben, aber doch bei vorkommender Gelegenheit selbst dem Kabinettprediger Cober den Vortritt nicht zu lassen brauchen, sondern das Ihrige sowohl in der Gemeinde wie in der Familie selber vorzutragen wissen.

Zur Rechten des Hausvaters die Hausmutter, die für uns das alte Wort, daß man von den besten ihrer Art am wenigsten reden hört, vollkommen zu Schanden macht. Was ginge uns heute noch die Konvention von Kloster Zeven an, wenn wir nicht [7] von der Pastorin von Boffzen und deren Teilnahme dran zu reden – zu singen und zu sagen hätten?

Zur Linken des Vaters das Kind des Hauses, das Bienchen von Boffzen, vor siebzehn oder achtzehn Jahren vater- und mutterlos dem kinderlosen Pfarrhause aus Gottes Wunderwagen herausgefallen, vor die Füße gerollt und bis an die Konvention von Kloster Zeven bei ihm weicher gebettet als sonst manch ein eheleiblich Töchterchen im damaligen römischen Reich teutscher Nation.

Neben dem Pfarrkind die Pfarrmagd, Dortchen Krüger aus dem Dorf, hinter ihrem Spinnrad. Zuletzt, doch wahrlich nicht als der letzte im Kreise, dem Ofen und seiner Wärme so nahe als möglich, im Lehnstuhl des Pastors Ehrn Gottlieb Holtnicker, Hauptmann Balthasar Uttenberger aus dem Kanton Zürich im Dienste Seiner allerchristlichsten Majestät, König Ludwigs von Frankreich und Navarra. »Vom Fieber befallen und für sterbend zurückgelassen,« wie es in der Musterrolle des Schweizerregiments Lochmann hieß. »Wie unser Immeken aus Gottes Wunderwagen herausgefallen und uns vor die Füße gerollt, liebe Johanna«, wie der Pastor von Boffzen zu seiner Frau gesagt hatte, als sie trotz des besten Herzens über die neue Molestierung bei aller Einquartierung im Zeitgedränge nach der Schlacht bei Hastenbeck die Hände erst auf die Schläfen schlug und dann vor der Schürze ineinanderkrampfte.

Börries, der Pfarrknecht, gebürtig aus Hellenthal, muß wohl noch draußen zu schaffen haben, sein Schemel neben Dortchen Krüger ist heute abend noch leer. Nimmt er ihn ein, so behält ihn die Frau Pastorin immer scharf im Auge, und er hat wohl das Recht, öfters innerlich zu brummen:

»Der Düvel um so 'ne gottesfürchtige Spinnstube!«

Jawohl, zwischen Spinnstube und Spinnstube ist ein Unterschied, wie zwischen Hirt und Hirt, Hirtin und Hirtin. Was in Boffzen das Rindvieh, die Schafe, Ziegen, Gänse und Schweine [8] austreibt, ist ganz was anderes, als das, was in Arkadien idyllische Geschäfte besorgt und weiße Lämmer auf die Wiese führt.

Doch nun im bittersten Ernst: vor dem Salomon Geßner, in der Hand des am Wege für tot zurückgebliebenen Schweizerkapitäns Balthasar Uttenberger, hat jetzt der Kabinettprediger Gottlieb Cober das Wort und soll es fürs erste behalten! Ehrn Gottlieb Holtnicker braucht auf alles Zwischenreden seiner Hausgenossenschaft, der Schweizerhauptmann nicht ausgeschlossen, nur ruhig weiter zu lesen, um sie still und nachdenklich zu machen.

»Menschen wollen vielmal dahin: Gott aber führet sie dorthin. Er ist wunderlich mit seinem Tun. Gottes Vorsorge ist ein Wunderwagen. Die vier Räder sind seine Weisheit, Allmacht, Treue und Wahrheit. Gott selbst ist der Fuhrmann, der uns auf seinem Glücks-und Unglückswagen lauter Umwege führet. Nie gerade zu.«

»Bigott!« klang aus dem Lehnstuhl im Ofenwinkel ein schwerer Seufzer.

»Siehe an alle Heilige Gottes ... Die Israeliten wären gerne einen näheren Weg in Kanaan gezogen; er führete sie aber durch wunderliche Umwege. Viel Kreuz- und Dornenwege mußten sie betreten. – Das hätte ich nimmermehr gemeint! so wird auch Joseph gedacht haben, nachdem er aus der Grube und dem Gefängnis so hoch erhaben ward. – Was für wunderbare Tänze mußte nicht Jakob halten, ehe er Israel genannt ward? – Was für Sprünge nahm Gott für mit David? Gedenke ich an Jonam, so falle ich in tiefste Verwunderung. Seine Reise ging durchs Wasser. Wer will erraten, wieviel hundert Meilen der Walfisch mit ihm herumgereiset? Doch kam er glücklich zu Lande. – Doktor Luthern führete Gott durch ein Donnerwetter zum Studio theologico. Den Juden Gerson durch Lesung des Neuen Testaments zur Bekehrung. Doktor Wellern mit achtzehn Pfennigen Geld zum gelehrten Manne und großen Kirchenlehrer. [9] Sind Eseltreiber und Hirten nicht zu Krone und Zepter gelanget? Es geschicht noch itzund. Siehe die Wappen an, du wirst finden einen Pflug, Grabscheit, Mühlrad und so weiter. Von Pflug und Mühlenheim: so heißet es nun –«

Es war die Frau Pastorin, die hier das Wort einwarf: »Recht hat er ja immer, der Herr Kabinettprediger, aber von unserer Kanzel laß ihn nur nicht zu laut darüber werden. Sie tragen mir im Dorf die Nase schon längst hoch genug und brauchen wahrhaftig nicht noch mit ihr auf ihre durch Gottes Güte mögliche noch größere Herrlichkeit gestoßen zu werden.«

Beruhigend klopfte der geistliche Hirt seiner Hirtin aufs Knie, schob einen Augenblick die Brille auf die Stirn, blickte nach der Stubendecke, zog die Brille wieder herunter und las weiter:

»Hier sitzet einer in humili casa. Ein Strohdach ist seine Decke; Elendshausen ist seine Heimat. Weißt du aber, wohin ihn noch Gottes Wagen führen kann? Kein Fuhrmann kann uns führen, wohin uns Gott führet. – Einer wird geboren gegen der Sonnen Aufgang, bei ihrem Niedergang muß er sterben –«

Es klang wie das Brummen eines Waldbären aus dem Sorgenstuhl im Ofenwinkel, es konnte aber auch ein Seufzer sein.

»Ein anderer will sich setzen gegen Mittag; das Geschick führet ihn wunderbar, auch vielmals wider seinen Willen, gegen Mitternacht –«

Hier sahen sie alle auf den Gast im Hause, den Hauptmann Uttenberger. Der aber, noch immer den Zeigefinger zwischen den Blättern des Büchleins in seiner Rechten, stützte den Kopf auf die Linke und nickte nur zustimmend.

»Mancher setzet sich für, daheim zu sterben, Gott rufet ihm doch wohl zu: Gehe aus deinem Vaterlande!«

Was hatte das Kind? Hatte der Salomon Geßner ihm die Augen zum Leuchten gebracht, so füllte sie ihm der Kabinettprediger [10] Cober mit Tränen, und sonderbarerweise sah nur der Vater mit Erschrecken und Mitleid auf sein weinend Töchterchen. Die Mutter, die natürlich am genauesten in den Gemütsstimmungen ihres Kindes Bescheid wußte, gab ihm nur einen Stoß mit dem Ellenbogen.

»Aber Mädchen? ... Und auch du laß das Heulen, Dortchen! Kommt mir nicht so, ihr dummen Trinen, sondern verspart das auf bessere Gelegenheit, wie der Herr Hauptmann, der wohl mehr Recht hätte, über die Stöße auf unseres lieben Herrgotts wunderlichem Wunderwagen blutige Tränen hinzuweinen.«

»Aber beste Johanna,« begann Ehrn Gottlieb Holtnicker, aber kam nicht weiter.

»Ach was! Hier weiß ich Bescheid und helfe im Notfall dem lieben Gott, den Karren wieder aufzurichten. Mädchen, beide, gebt acht, daß ich euch morgen nicht das, was ihr mir heute spinnt, um die Ohren schlage. Soll dies hier ein glatter Faden sein? Das Lopp kommt mir nicht auf die Bleiche, weder als Totenhemd noch als Brauthemd; weder nach dem Herrn Kabinettprediger, als noch weniger nach dem Herrn Hauptmann seinem Schäferbuch!« ...

Sie lagen beide auf dem Tische, der junge Geßner und der alten Cober, und sie blickten beide über sie weg, offenen Mundes, wortlos, verblüfft, weder einer Frage noch einer Gegenrede fähig auf die Rednerin: der Pastor von Boffzen und der Kriegsmann des Königs Ludwig des Fünfzehnten. Es war die Frau Pastorin, die hinter dem Engel, der eben durch die Stube gegangen war, die Tür ins Schloß warf mit dem Wort:

»Lies weiter, Vater. Unser Kabinettprediger hat immer recht; aber Kindern muß man eben nach Kinderlehrweise die Schrift auslegen, und da sage ich unserm Jüngferchen nur: So leicht verdirbt Unkraut nicht.«

Jetzt lächelte der Schweizerhauptmann, Immeke von Boffzen [11] fuhr mit der Hand über die Augen, Dortchen mit dem Schürzenzipfel; aber erst zehn Reihen weiter im Texte fand »Vater« nach solcher absonderlichen Unterbrechung der erbaulichen Abendunterhaltung den abgerissenen Faden wieder und knüpfte ihn an:


»Ob zeitlich Ungemach schmerzet,

So wisse, daß doch Gott darunter herzet –


läßt er's wunderlich durcheinanderblitzen, so wird auf dieses Donnergewitter doch eine reine und helle Luft folgen ... Ich setze mich demnach allezeit getrost auf Gottes Wunderwagen, die Räder mögen gleich Ezechiels Rädern wunderbar durcheinandergehen. Es gehe über Stock und Stein, die Reise wird doch glücklich ablaufen.«

Der Kabinettprediger Cober pflegt seine Visiten immer mit einem zum Herzen und ins Gewissen greifenden, nach Poetenweise gereimten Kernspruch abzuschließen. An diesem unruhvollen Abend kam er nicht dazu. Der Pastor von Boffzen hatte eben begonnen:

»Gott führet wunderlich –«, als ihm ein Schrei seiner Immeke und ein Aufkreischen Dortchen Krügers den Faden für diesmal endgültig abriß. Dortchen wies nach dem Fenster, und bis auf den invaliden Gast waren sie alle um den Tisch aufgesprungen und gafften erschreckt dem Zeigefinger nach. Es war eben eine unruhige Zeit in der Welt und in Niedersachsen: bis an den Rand voll von Unruhe, Sorge, Bangnis, Angst und Schrecken. Ein Gesicht am Fenster deutete nicht immer auf freundlich nachbarschaftlichen Besuch. Wer eine Flinte an der Wand hängen hatte, griff sehr häufig nicht ohne Grund danach: im Pfarrhause zu Boffzen hob man nur die Hände oder faltete sie im Schrecken.

»Was hast du, Kind? Was war's, Mädchen?« fragten Vater und Mutter; der Kapitän vom Regiment Lochmann fragte aber auch:

»Was hat der Hund?«

[12] Er hätte ebenso gut fragen können: »Was haben die Hunde?« Jawohl, die Sache war diesmal wirklich danach, daß nicht bloß der gute Wächter des Hauses das Recht hatte, Laut zu geben. Sämtliche Dorfköter nahmen nicht ohne Grund teil an dem Alarm auf dem Pfarrhofe, nicht ohne Grund gaben sie ihn weiter auf beiden Ufern der Weser, in Ostfalen und Westfalen, und nicht ohne Grund fragten die Insassen von Schloß Fürstenberg:

»Was haben die verfluchten Bestien?«

Ja, deutlicher konnten die es den Porzellanmalern auf Schloß Fürstenberg eben nicht sagen, daß der beste Blumenmaler des Herzogs Karl lebendig wieder nach Hause gekommen sei aus der Konvention von Kloster Zeven.

3. Kapitel

[13] Drittes Kapitel.

Die Mädchen konnten über ihren Aufschrei weiter keine Rechenschaft ablegen, als daß es ihnen gewesen sei, als habe jemand ins Fenster geguckt. Auch das Immeken nicht; aber ob das nicht ein wenig genauere Auskunft über den Schrecken hätte geben können, nehmen wir nicht auf unsern Eid als Geschichts- und Geschichtenschreiber.

»Wo nur Börries bleibt?« rief der Pastor, den Kabinettprediger zuklappend. »Das ist nun so seit Hastenbeck, Herr Hauptmann, daß des Abends keiner mehr weiß, ob er nicht auf einem blutigen Kopfkissen, mit eingestoßener Tür, eingeschlagenen Schränken um sich und dem Dache in Brand über sich wieder aufwacht. O Herr, Herr, wie zeigest du uns itzo, in welchem Frieden wir durch deine Barmherzigkeit wohnten und deiner Güte nicht achteten!«

Hauptmann Uttenberger trommelte leise einen französischen Kriegsmarsch auf dem Salomon Geßner. Was konnte er sagen? Es war eine Erleichterung für alle, als in diesem Augenblick der gewünschte treue Knecht in die Stube kam und auch den anderen, den vierbeinigen treuen Wächter des Pfarrhauses, mit sich hereinbrachte. Er, der gute Hund Ryn, und er, der gute Knecht Börries, wußten zu rechter Zeit Laut zu geben und das Maul zu halten. Ryn ging an den Ofen, schob mit seiner kalten Nase den Pfarrkater von seinem warmen Platz und legte sich an die Stelle, wie ein wackerer Gesell, der seine Pflicht getan zu haben glaubt. Börries, freilich mit einem besonderen Blick auf den Schweizer [14] Gast im Rock des Königs von Frankreich, meinte, daß es mit dem Gesicht am Fenster wohl nur eine Einbildung der Jungfern gewesen sei. Draußen sei nichts Feindseliges heute abend zu verspüren gewesen, und was der Köter dafür gehalten habe, das möge auch wohl nur auf einen Marder im Baum oder auf einen infamigen Fuchsräkel im roten Diebsrock am Hühnerstall hinauslaufen.

»So ist es, wie ich es mir eigentlich gleich gedacht habe,« rief die Frau Pastorin, ihrer Erleichterung die richtige Form und Farbe gebend. »Gänse seid ihr wieder mal gewesen, ihr dummen Gösseln! Aber da tutet Vahldiek, also hat's schon vor einem halben Jahrhundert zehn geschlagen. Zu Bette, Mädchen! und daß ihr mir morgen früh zur richtigen Stunde wieder aus den Federn seid, oder ich werde euch kommen, aber nicht als eine Einbildung!«

Was das »Bienchen« von Boffzen anbetraf, so war die letzte Warnung wirklich nicht notwendig; aber die beiden Mädchen waren nach kurzem Gutenachtgruß draußen auf dem Hausflur und faßten sich da zitternd gegenseitig nach den Armen.

»Gütiger Himmel, war es denn eine Einbildung, Dortchen?« flüsterte Mamsell Hannchen Holtnicker, halb schluchzend vor Angst und Aufregung.

»Meine Hand lege ich drauf ins Feuer, daß es ein richtiges Gesichte am Fenster war, Jungfer Hannchen. Und Börries hat auch was gesehen und sich über sein Gesichte weggelogen vor der Frau Mutter und dem Herrn Vater. Aber der soll mir schon noch mit der Wahrheit heraus. Mit dem rede ich diese Nacht noch drüber. Da sei Sie nur ganz ruhig, Jungfer.«

Glücklicherweise für das zitternde Pfarrtöchterchen konnte die Unterredung doch noch früher als im Laufe der Nacht vorgehen. Mit einem: »Verlasse sich der Herr Pastor drauf, ich wache –« zog der gute Knecht Börries die Stubentür hinter sich zu, stand hin, scheu und behutsam, zu den beiden Mädchen und [15] flüsterte nun seinerseits, abwehrend nach der geschlossenen Tür hinwinkend:

»Nur stille! Ich weiß nicht, wer der Schlimmste und Gefährlichste wäre, die Frau Mutter oder der deutsche Franzmann, wenn's heraus käme, wer da doch vorhin in unser Fenster in seinem Elend gekuckt hat. Nur sachte! nur ruhig, Jungfer Hannchen! Er ist es gewesen in Fleisch und Blut, soviel davon noch an ihm ist. Ja, er ist von seinem Zuge hinterm Trommelfell mit dem Kummerland wieder da im Lande, und ich bin zur rechten Zeit dazu gekommen mit unserem Ryn. Wir haben es nun so mit ihm gemacht, die Wackerhahnsche und ich: nämlich, daß er uns nicht zu guter Letzt noch auf der Straße eingehe, hat ihn die Wackerhahnsche mit nach ihrem Turm genommen und versteckt ihn dorten unter ihrem Stroh, und kein Mensche erfährt von ihm, bis wir hier, Sie, Jungfer, und du, Dortchen, und – vielleicht auch der Herr Vater, genau wissen, was wir eigentlich zu seinem Besten mit ihm anfangen sollen, wenn er aus dem Fieber, dem Hunger und Verdruß uns mit seinem Leben davon kommt!«

»O, lieber Vater! ... o, Gottes Wunderwagen –«

»Stille doch, Mamsellchen! Da ist die Frau Mutter schon!«

»Bist du noch immer nicht zu Bette, Johanne? und auch du nicht, Dörthe?« fragte die Frau Pastorin aus der Stubentür. »Wie lange soll denn Sein Geschwatze mit den Mädchen noch währen, Börries? Ich meine, Er paßt jetzt auch schon längst besser von Seinem Stall aus des weiteren auf Haus, Hof und Garten.«

»Das war es ja eben, Frau Pastorin! Vom Stall aus fragte ich nur noch wegen unserem Schweinekoben mal bei unserer Mamsell Tochter an und welches die Frau Pastorin gedenket ans Messer zu geben.«

»Darum braucht Er mir doch nicht jetzt in der Nacht das Kind auf der Treppe aufzuhalten, Börries!«

»Ach ja, es kam mir auch nur so in den Sinn hinter der Stubentür, Frau Pastorin. Nämlich wie ich vorhin vernommen [16] habe, soll wieder viel fremdes Volk im Anmarsch auf die Höxtersche Brücke sein, und da –«

»Ja, ja, da hat Er leider Gottes recht! der Herr Hauptmann meinte das auch! O Herr, wo soll das hinaus mit uns?«

»Na, wenn es zum schlimmsten kommt, gehen wir alle in die Weser; aber bis jetzo sind wir ja bei aller Drangsal immer noch aufm Trockenen geblieben. Also eine recht wohlschlafene Nacht, Frau Pastern, und auch Sie, Mamsell. Bei Tageshelle morgen früh sieht sich der Mensche doch alles besser an, als so im Stichdunkeln, wo jedweder Engel vom Himmel dem Menschen zum Spukeding werden kann. Und unser Herr Pastor wird ja auch wohl noch seinen Trost für uns parat haben, aus seinem Buch und dem Herrn Hauptmann seinem.«

Damit schob sich Knecht Börries ducknackig, den Kopf zwischen den Schultern, kopfschüttelnd, aber dazu leider heimtückisch grinsend, nach seiner Ruhestatt im Kuh- und Pferdestall. Die Frau Pastorin sah ihm nach und sah nun auch ihr Pflegekind mit seiner kleinen Blechlampe treppauf zu Neste gehen und murmelte seufzend:

»Das hat es für jetzt in seinem jungen Leben auch noch leichter als unsereine, aus dem Herrn Kabinettprediger Cober und seinem Gotteswunderwagen einen Trost zu ziehen. Was gaffst du denn noch nach der Haustür, Dortchen? Schieb den Riegel vor, und daß mir vom Herd aus kein Unglück geschieht! Da macht sich auch der Wind auf! Es fehlt mir grade noch der rote Hahn auf dem Dach zu allem andern Jammer. Und das Kind – immer wieder das Kind! Ja, Gottes Wunderwagen – wie will ich dem lieben Gott dankbar sein, wenn er mir ferner mit seinem himmlischen Fuhrwerk hilft, das Kind, mir und sich und meinem Alten zum Trost, zu Sicherheit und Frieden in Derenthal, in seinem eigenen, lieben, ehrlichen Pastorhause abzuladen bei meinem letzten Trost im Elend, Störenfreden, meinem guten, braven Nevöh Emanuel.«

4. Kapitel

[17] Viertes Kapitel.

Zwei blieben wach im Pfarrhause zu Boffzen in dieser Nacht, bis an die erste Morgendämmerung heran, wo sie noch auf kurze Zeit in den unruhigen Schlummer der Übermüdung fielen. Die beiden, derentwegen der Herrgott seinen Wunderwagen angehalten hatte, um sie da in beste Hut und Pflege zu geben: Pastor Holtnickers und des Fürstenberger Porzellanmalers Immeke und der Schweizerhauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann.

Das Kind saß bis ans Morgengrauen auf seinem Bett, hielt im Dunkeln die Kniee mit den Armen umschlungen und schluchzte eigentlich weiter nichts als:

»O Pold! Pold! Mein Pold!«

Der grauköpfige Reisläufer des Kantons Zürich dagegen hatte seine Blechlampe nicht ausgeblasen. Der Kabinettprediger Cober hatte heute abend keinen aufmerksameren Zuhörer gehabt in der kleinen Gemeinde als den alten wege-, schlachten- und lebensmüden Kriegsmann. Mit seinem Fieber in den Knochen lag er schlaflos, und das Idyllenbuch des Landsmanns lag dicht neben seinem Ellenbogen auch noch aufgeschlagen auf dem Tische.

»Der hätte meinen Pold, meinen lieben Pold nicht, ganz gewiß nicht, an seine anderen, fremden, ausländischen Unmenschen und die Franzosen ausgeliefert und – o großer Gott, in die Spitzruten als Deserteur!« schluchzte Immeke auf ihrem Strohsack sitzend, und sie hatte recht: der alte, müde Landsknecht würde das nicht getan haben. Sie hatten zu sehr dafür ein Wohlgefallen [18] aneinander gefunden und paßten dazu zu gut zueinander: das Pfarrtöchterlein von Boffzen und Hauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann: Sie waren eben für die nächste Zeit vom lieben Gott nach der Schlacht bei Hastenbeck aufeinander angewiesen worden. Der Kabinettprediger Cober hat's ja: unseres Herrgotts Wunderwagen ladet seine Fahrgäste stets zur rechten Zeit und am richtigen Orte ab. –

Im Jahre der Schlacht bei Mollwitz hatte die Frau Pastorin von Boffzen ihr Boffzener Bienchen auf dem Leinpfade an ihrer Gartenhecke im Grase sitzend gefunden, nach ihrer Rechnung zwei- oder höchstens dreijährig, und hatte auf ihre Anfragen: »Woher? Wohin?« eine Antwort erhalten, die sie nur zu dem Ruf bewegen konnte: »Aber Mann, Gottlieb, komm doch mal her und sieh dir diese Kreatur an!«

Es konnte deutsch sein, aber es konnte auch ebenso gut slawonisch, krabatisch oder sonst aus dem Taternlager sein, was das Ding redete. Nur daß es Angst und Hunger hatte, war aus dem Kauderwelsch abzunehmen, auch auf des Herrn Pastors: Quis? quibus auxiliis? cur? quomodo? hin. Papiere hatte es garnicht bei sich gehabt, auch, wie sich nachher beim ersten Abwaschen auswies, kein Zeichen an seinem lieblichen Leibe, sondern nur ein paar Wundmale von schlechter Behandlung, Striemen und blaue Flecke. Nach einer Mutter oder nur einer Pflegerin hatte es nicht verlangt, und da das allgemach versammelte Dorf Boffzen nichts von ihm wußte und noch weniger wissen wollte, was war da dem Pfarrhause übrig geblieben? Nichts weiter als aus gutem, christlichem Herzen erst das Nötigste und nachher das Beste an ihm zu tun. Ihm erst den Hunger zu stillen, dann es zu waschen und zu kämmen und ihm die Läuse abzusuchen und es – im Laufe der Jahre zum


Bienchen von Boffzen


heranzuziehen: wie die Figuren-, Blumen- und Blaumaler auf Schloß Fürstenberg, die das wissen mußten, auf ihren Künstlereid [19] nahmen, zum feinsten, reinsten, hübschesten Mägdelein rechts und links von der Weser, soweit unser Herrgott in Ostfalen und Westfalen Blumen wachsen ließ.

Unter linder, und nach Bedarf auch scharfer Zucht war's dann aufgewachsen, nachdem es vorher noch einige Schreiberei über es zwischen Ehrn Gottlieb Holtnicker und dem Konsistorium zu Wolfenbüttel gegeben hatte. Kein Mensch brachte es aus des Geschöpfes Kauderwelsch heraus, ob es schon getauft worden sei, und auf was für ein Bekenntnis, und: »Wenn sich bis zum Winter keiner zu ihm meldet, und ich mich seiner dann annehmen soll, als ob es ganz mir gehörte, so muß es auch mit mir in einem Kirchenstuhl sitzen können. Schreib das mal den Herren nach Wolfenbüttel und laß dir was Schriftliches darüber geben, Holtnicker,« hatte die Frau Pastorin von Boffzen gesagt.

Ob unser Herrgott das verlangt hatte, als er das Kind von seinem Wunderwagen vor dem Pfarrhause von Boffzen abgeladen hatte, bleibe ihm anheimgestellt. Was das Konsistorium zu Wolfenbüttel anbetrifft, so kam das über obwaltende Bedenken, wie gesagt, nach kurzer Überlegung zu der Resolution: »Was tut's am Ende! Doppelt genäht, hält besser in jedem Fall.« Daß es sich etwas anders ausdrückte, stellen wir ihm anheim. Das Resultat des letzten »Schriftlichen« im Kurialstil, was es von sich gab, war, daß eines Tages Ehrn Gottlieb Holtnicker und sein gutes Weib ihren Wildling und Findling zwischen sich, jedes ein Händchen haltend, in ihre Kirche geführt haben und daß es daraus hervorgegangen ist als Johanne Gottliebe Holtnicker.

Die Arrogation hatte vermittelst eines Ministerialschreibens Serenissimus Herzog Karl von Braunschweig landesväterlich gestattet, da er, natürlich nach Einsichtnahme der Sachlage, zu der Überzeugung gekommen sein mußte, daß das Ding in den besten Händen sei und sich wohl niemand mehr mit besserem Rechte zu ihm melden würde.

[20] Daß das letztere nicht ganz der Fall sein konnte, daß das civile und das kanonische Recht hier dem Naturrecht gegenüber nicht ausreichten, das berichten wir eben wahrheitsliebend auf diesen Blättern; aber fürs erste, das heißt für längere, liebe, glückliche Jahre meldete sich doch niemand mit stärkerem Recht zu dem hübschen herrenlosen Gut, als der »Herr Vater« und die »Frau Mutter« vom Pfarrhofe zu Boffzen, die es vom Wege der wilden Welt auflasen und es sich ins Haus trugen. Wohl sechzehn Jahre hätte das arrogierte Kind seine kleinen, schwieligen Hände nur den Adoptiveltern bei jedem ihrer Schritte unter die Füße schieben mögen, bis Serenissimus Herzog Karl – seine noch jetzt berühmte Porzellanfabrik auf Schloß Fürstenberg gründete.

Dieses hätte er ja wohl tun können; aber daß er dort oben auf dem Berge über dem Dorfe auch dem Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße in der Stadt Braunschweig einen Platz im Malersaal gab, hätte er nur verantworten können, wenn er vorher die Pastorin von Boffzen, Frau Johanne Holtnicker, um ihre Meinung und ihren Rat angegangen wäre und dem braven jungen Menschen ans Herz gelegt hätte, ihr ja nicht in den Weg zu laufen bei allem, was ihr Kind und den Herrn »Nevöh«, Pastor Störenfreden zu Derenthal, anbetraf. –

Was ist denn Recht auf dieser Erde, wenn es für ein gutes da immer noch ein besseres, stärkeres gibt? Ja, wenn das noch eine Doktorfrage wäre und nur von und vor Kanzeln und Kathedern gelöst zu werden brauchte! Ach, Immeke von Boffzen, du bist die erste nicht, die nachts wach auf dem Bette sitzt und die Hände über die Frage ringt, wem von allen, die sie in der Welt am liebsten hat, sie das höchste Unrecht antun soll: »Ach, Pold, ach, Pold! ach, Frau Mutter, liebste beste Frau Mutter! Nun liegt er im Fieber im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen, und ich weiß nicht, ob es der Frau Mutter wegen nicht ein [21] Unrecht ist, daß ich in meinen Gedanken nur bei ihm bin und nicht beim jungen Herrn Pastor Störenfreden! Ich kann ja nichts dafür, daß ich ihn lieb haben muß, wenn er auch nur einen Blumenkranz um mich malen kann, wenn ein anderer von seinen künstlichen Kumpanen mich selber mit meinem Gesichte auf eine Tasse oder einen Teller oben auf dem Schlosse gemalt hat! Ich kann ja nichts dafür, daß er nichts in der Welt weiter hat als diese seine Kunst und daß mich unser lieber Herrgott doch nur für ihn hier bei meinem liebsten Vater und meiner lieben Mutter aus seinem Wunderwagen abgeladen hat! Was kann ich denn dafür, lieber Gott, liebste Frau Mutter, daß ich so schlecht bin und der Herr Pastor Störenfreden viel, viel, viel zu gut für mich ist?«


* * *


»Einer wird geboren gegen der Sonnen Aufgang, bei ihrem Niedergang muß er sterben. Ein anderer will sich setzen gegen Mittag, das Geschick führet ihn wunderbar gegen Mitternacht«: wann hatte je der Kabinettprediger Cober einem alten Schweizer Reisläufer mit dem Bedürfnis nach Ruhe so das Heimweh ins Herz hineingepredigt, als wie dem andern schlaflosen Gast im Pfarrhause zu Boffzen? –

Ach, in dieser Nacht am wenigsten hätte der den Deserteur von Kloster Zeven, den Blumenmaler von Schloß Fürstenberg dem französischen Kommandanten von Höxter in die Spitzruten geliefert! Da hatte Immeke von Boffzen ganz recht: vor ihrem Freund, dem Schweizer Reisläufer Balthasar Uttenberger, hätte der Ausreißer des Herzogs von Cumberland und, leider auch, Serenissimi des Herzogs Karl Durchlaucht, dreist mit unterkriechen dürfen im Boffzener Pastorenhaus. Und das Kind wußte noch nicht einmal ganz zu seinem Troste, wozu es, gerade es, dem Alten in seinem wilden, verwirrten Kriegsleben geworden war, seit sie ihn, ein paar Wochen nach der Schlacht bei Hastenbeck, [22] von des Kabinettpredigers Cober Wunderwagen heruntergehoben und dem Boffzener Pastorenhause für Leben und Tod zur Pflege da gelassen hatten. In seinem Fieber – ihnen einerlei, ob auf den Mist, in die Grube oder zum Wiedereintritt in die Front Seiner allerchristlichen Majestät wohlbezahlten und getreuen Schweizerregiments Lochmann! Es ist nicht einerlei, unter was für Gesichtern man wieder zu seinem Bewußtsein kommt, wenn man einmal eine Zeitlang wenig oder nichts von sich gewußt hat, und noch dazu auf einem Bagagewagen im Nachzuge des Herrn Marschalls von Estrées. Hauptmann Balthasar Uttenberger aber, noch einmal im großen Erdenlazarett zu sich selber kommend auf seinen Kriegszügen, hatte sich im Boffzener Pfarrhause zum erstenmal seit seiner Kinderzeit wieder im Frieden gefunden, mit dem Boffzener Bienchen zur Pflegerin und dem Salomon Geßner neben der Nachtlampe an seinem Bette zum wunderlichen Tröster.

Von Gottes Wunderwagen stammte das Kind, vom Feld bei Hastenbeck das Büchlein mit der Kugelspur und den Blutflecken auf dem zerfetzten Umschlage. Er, der Hauptmann, hatte dabeigestanden, als sie auf dem lachenswürdigen Siegesplan den neu aus der Heimat zum Regiment gekommenen Landsmann zwischen den Ackerfurchen hin und her wendeten, um ihm das zu entnehmen, was von ihm und an ihm ihnen noch brauchbar erschien beim Weitermarsch, ehe sie den Kameraden zu den anderen in die Grube legten. Er hatte das Ding im Gedränge von dem zerstampften Felde aufgehoben, nachdem mehr als einer es verächtlich aus der Hand hatte fallen lassen. Im Gedränge hatte er es nur mechanisch in den Sack geschoben und war selber weiter geschoben worden bis zum nächsten Wachtfeuer im eben begonnenen Weltkrieg: Salomon Geßners Idyllen in der Tasche, wie die ganze übrige Welt! – –

Wie die ganze übrige Welt, die ganze »feine Welt«, wie sich der Herr von Archenholz ausdrücken würde. Die ganze [23] feine Welt, so weit sie um die Mitte dieses achtzehnten Jahrhunderts lesen konnte und von der Musen lieblichen Künsten einige Erfahrung hatte!

Wer weiß heute noch von dem Poeten, der zum ersten Mal das Wort »deutsche Dichtung« in dieWeltliteratur brachte? Mit lächelndem Achselzucken sehen sie heute, wenn sie hinsehen, auf den Mann, der mit deutschem Wort rund um die Erde die Völker in seinen Bann zwang, auf den armen Salomon Geßner aus Zürich, dem von seiner heimischen Zensurbehörde die Erlaubnis zum Druck von »Daphnis und Chloe« nur unter der Bedingung gegeben worden war, daß weder der Name des Verfassers noch der Druckort genannt werde! daß das Motto: Me juvet in gremio doctae legisse puellae gestrichen werde und – daß der junge Mensch sobald als möglich verheiratet werde, um in christlich-bürgerlich-ordentlich-ehrbare Haus- und Pantoffelzucht zu kommen und dadurch fürderhin von solcherlei heidnisch-liederlich-obszöner Spiegelfechterei abgebracht zu werden! –

Jawohl haben Poeten und Bücher ihre Schicksale; aber was würde es nutzen, wenn wir an dieser Stelle auch das Unserige hierüber vorbringen wollten? Halten wir uns an das Schicksal des zerlesenen, blutbefleckten Hirtenlieds des lieben Schweizer Poeten, das jetzt wieder beim Schimmer der trüben Lampe in der Knochenhand des alten Schweizer Kriegsknechts zittert und ihm durch die lange, fieberische, schlaflose nordische Herbstnacht in den neuen Tag hinüberhilft!

Sie hatten in dem Kriegssommer Siebzehnhundertsiebenundfünfzig nach der Schlacht bei Hastenbeck den Salomon Geßner zusammen gelesen im Pastorhause zu Boffzen an der Weser: Immeke von Boffzen und Hauptmann Balthasar Uttenberger, hinter dem Rücken der Frau Mutter, unter dem Lächeln und Kopfschütteln des Herrn Vaters. Wir werden schon noch erfahren, was auch von Schloß Fürstenberg [24] her mit leuchtenden Augen, lachendem Munde und klopfendem Herzen bei dem neuen Ton im Welt-Dichterwalde aufgehorcht hat; augenblicklich aber geben wir nur dem Salomon Geßner das Wort, wie wir es vorhin dem Kabinettprediger Cober gegeben haben:

»Sey mir gegrüßt; hätt' ich dich zu finden geglaubt, ich hätte nicht so lange gezaudert, den lodernden Flammen zu folgen, die im Dunkeln so schön ins Tal glänzen. Aber höre, Mirtil! itzt da des Mondes düstrer Schimmer und die einsame Nacht zu ernsten Gesängen uns lockt, höre, Mirtil! ich schenke dir eine schöne Lampe, die mein künstlicher Vater aus Erde gebildet hat; eine Schlange mit Flügeln und Füßen, die den Mund weit aufsperrt, aus dem das kleine Licht brennt; den Schweif ringelt sie empor, bequem zur Handhabe. Dies schenk' ich dir, wenn du mir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singest.«

5. Kapitel

[25] Fünftes Kapitel.

Es ist wohl nicht zu verwundern, daß uns das Hirtenlied wunderlich anmutet – dies Hirtenlied aus dem Weltkriege des achtzehnten Säkulums, Uns am Ende des neunzehnten Jahrhunderts – fin de siècle, wie wir uns nach angestammtem Gebrauch französisch ausdrücken – Uns, die wir so viele Kriege erlebt haben, und die wir innerlich so große Angst haben vor dem kommenden neuen, dem wieder nach unserer Meinung schrecklichsten!

Aber wir sind ihnen doch weit vorauf, den Leutchen mit Puderperücke, Haarbeutel und Zopf – den Flinten mit Feuersteinschlössern und dem eisernen Ladestock! Wenn wir Kinder zu Ende unseres Jahrhunderts im Dunkeln singen in unserer Angst, so singen wir nicht mehr von Daphnis und Chloe. Dazu haben wir uns gottlob doch zu sehr in uns selber gefestigt! Dazu haben wir doch zu sehr, wenn nicht in die Lehrbücher, so doch in die Zeitungsartikel unterm Strich über Pathologie und dergleichen hineingeguckt, in spiritistischen Spinnstuben Geister zitiert und Pariser Gassenkot zu germanischen »Aufstellsachen« geformt!

Was haben wir im neunzehnten Jahrhundert noch mit der Pansflöte des achtzehnten zu schaffen? Ja, wenn es noch ein Dudelsack gewesen wäre! Darauf könnten wir auch heute noch zurückgreifen, um unseren ethischen, ästhetischen und politischen Stimmungen Ausdruck zu geben. – – – – –

Dürr und grauköpfig wie der sinnreiche Junker Don Quijote, [26] den Leib voll, wenn nicht von Striemen, so doch von Narben, saß er jetzt aufrecht auf seinem Lager, der alte Hauptmann Balthasar Uttenberger, die vom Felde bei Hastenbeck aufgehobenen Streckverse seines jungen Landsmanns in der Hand.

»Ich will dir die Geschichte des Daphnis und der Chloe singen; itzt da die Nacht zu ernsten Gesängen lockt. Hier sind dürre Reiser; sieh du indes, daß das wärmende Feuer nicht erlöschet.

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Sanft glänzte der Mond, als Chloe am einsamen Ufer stund, sehnlich wartend; denn ein Nachen sollte den Daphnis über den Fluß bringen. Lange säumt mein Geliebter, so sprach sie; die Nachtigall schwieg und horchte die zärtlichen Akzente ... ihr plätschernden Wellen, o spottet nicht des ungeduldigen Wartens des zärtlichsten Mädchens! Wo bist du itzt, Geliebter? Beflügelt Ungeduld nicht deine Füße? ...

Du keusche Göttin, Luna oder Diana, mit dem nie fehlenden Bogen, streue von deinem sanften Glanz auf seinen Weg hin! O wenn du aus dem Nachen steigest, wie will ich dich umarmen! – – Aber itzt, gewiß itzt, itzt trügt ihr mich doch nicht, ihr Wellen! O, schlaget sanft den Nachen, traget ihn sorgfältig auf euren Rücken. Ach, ihr Nymphen, wenn ihr je geliebt habet, wenn ihr je wißt, was zärtliche Erwartung ist – – – – – – –

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Ein umgestürzter Nachen schwamm daher, der Mond beschien die klägliche Geschichte. Am Ufer lag Chloe ohnmächtig und eine schauernde Stille herrschte umher; aber sie erwachete wieder, ein schreckliches Erwachen! Sie saß am Ufer bebend und sprachlos, und der Mond verbarg sich hinter den Wolken; ihre Brust bebte von Schluchzen und Seufzen; itzt schrie sie laut, und [27] die Echo wiederholte der trauernden Gegend ihr Geschrey, und ein banges Winseln rauschte durch den Hain und die Gebüsche ... Ach Daphnis! Daphnis! o ihr treulosen Wellen! ihr Nymphen! ach, ich Elende, ich zaudre, ich säume, den Tod in den Wellen zu suchen, die mir die Freude meines Lebens geraubt haben! So rief sie und sprang vom Ufer in den Fluß.

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!

Aber die Nymphen hatten den Wellen befohlen, sorgfältig sie auf dem Rücken zu tragen. Grausame Nymphen! rief sie, ach! zögert nicht meinen Tod! ach, verschlinget mich, Wellen! Aber die Wellen verschlangen sie nicht, sie trugen sie sanft auf dem Rücken zum Ufer eines kleines Eylandes.

Daphnis hatte mit Schwimmen sich an das Eyland gerettet.« – – –

Das Buch mit der Kugelspur und den Blutflecken tat einen leisen Fall über den Bettrand weg; denn Hauptmann Uttenberger saß nicht mehr aufrecht, wie das Immeken. Er lag, er schlief. – Gott sei Dank! dessen Wunderwagen rollte weiter, nachdem er den Daphnis – den Blumenmaler Pold Wille im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen abgeladen hatte. Es dämmerte der Morgen, es kam ein ereignisreicher Tag für das Pfarrhaus. Die einzige, die darin wach geblieben war, war doch nur das Boffzener Bienchen. Sie, die vor allen anderen noch den echten und gerechten Kinderschlaf hätte voraushaben sollen. Was bleibt aber den Kindern erspart an Schmerzen, Sorge und Angst? Was haben sie darin vor den Alten voraus, als das größere Mitleid, was man mit ihnen hat?

Aus seinem Kinderschlaf ihr Immeken zu erwecken, verstand, wie wir auch bereits wissen, die Frau Pastorin vortrefflich. Es konnte da, wenn der Schlaf zu tief und gesund, einen ganzen Tag lang schlecht Wetter im Hause sein, wie schön die Sonne draußen in Garten, Feld und Wiese auch scheinen mochte. An[28] diesem trüben, nebeligen Herbstmorgen bedurfte es wahrlich keines Schüttelns und Rüttelns in dem Kämmerlein des Kindes; von allen im Hause die erste stand Hannchen in der nach dem Garten zu sich öffnenden Haustür und starrte in den undurchdringlichen Wesernebel hinein, in Schmerz, Sorgen und Angst, aber doch mit der Gewißheit: »Er lebt noch! Er ist wieder da! Der Krieg hat ihn mir doch gelassen, und die Wackerhahnsche hat ihn in ihrem Turm! O, wenn ich doch dem Herrn Vater sagen könnte, jetzt sagen könnte, wie mir zu Mute ist! So lange die Frau Mutter noch schläft! Ach Gott, und wenn du mir jetzt die Wackerhahnsche schicktest, daß sie mir Nachricht von Ihm brächte, ehe die Frau Mutter aufwacht! Ach lieber Gott, wenn du doch so gut sein wolltest!«

Er war so gut. Er hatte ihr den Schatz erhalten bis hieher, dem König Fritz, dem Herzog von Cumberland, dem Marschall d'Estrées und dem Herzog von Richelieu zum Trotz – er schickte ihr auch die Wackerhahnsche, eine Stunde bevor die Frau Mutter erwachte und das Regiment in ihrer Welt, das heißt im Pfarrhause zu Boffzen, wieder übernahm, das Zepter mit fester Hand faßte und zu Zeiten wohl auch damit zuschlug.

Aus dem Nebel kam sie heran, die Wackerhahnsche, vordem das schönste Mädchen im Ort, jetzt die Dorfhexe – doch hiervon, und wie sie aussah und wie sie hausete, wird wohl besser und ausführlicher im nächsten Kapitel die Rede sein. Jetzt haben wir's erst mit der Angst des jetzigen schönsten Mädchens im Dorfe zu tun, die dem Greuel von altem Weibe in den Wesernebel hinein entgegenläuft und es mit beiden Händen faßt:

»Wo ist er? Hat Sie ihn bei sich? Lebt er? Wo hat Sie ihn? Was soll ich Ihr tun? Was soll ich Ihr geben für ein Wort von ihm?«

»Laß mir nur die Jacke heil, die hält so schon schlecht genug zusammen.«

[29] »Hat Sie ihn bei sich am Leben – um Gottes Barmherzigkeit willen, liebste Frau Förstern –«

»In der Schürze kann ich ihn dir nicht zutragen, Kind; bei mir hab' ich ihn, den armen Tropf. Fußlahm, flügellahm – ein sauberer Feldsoldat – paßt ganz zu seinem glorreichen englischen Herrn Herzog von Kummerland! Jawohl, wie einen Engel und ein Kind im Schlafe hab' ich ihn in meinem Turm – so reiß mir doch den Ärmel nicht vom Leibe! Das Fieber ist wohl schlimm, nu, aber ich habe manch einen aus schlimmerem heraus wieder in Reih und Glied treten sehen. Jetzt nehme Sie Vernunft an, Jungfer Holtnicker; denn dazu hab' ich ihn auf meinem Stroh in seinem Elend allein gelassen und bin hier, um mit Ihr zu ratschlagen, was nun mit ihm werden soll, wenn wir ihn am Leben behalten, daß er uns nicht noch nachher als fahnenflüchtig krepiert, einerlei ob unter den Spitzruten seines angestammten Landesvaters Herzog Karl, des Cumberländers oder denen des französischen Halunkenherzogs, dem er jetzt ebenso wie den anderen als Deserteur durch die Lappen gegangen ist.«

Der Nebel schien immer dichter zu werden. In stummer, ratloser Verzweiflung rang Immeke von Boffzen die Hände, als sie plötzlich einen leisen Ellenbogenstoß in ihrer Seite spürte.

Es war der gute Knecht Börries, der als der zweite im Pastorhause zu des Tages Sorgen und Unruhe aufgewacht und von seinem Kuhstall her leise zu dem Immeken und der Wackerhahnschen getreten war.

Und wie gestern abend, so gab er auch jetzt wieder seine Meinung zur Sache, nachdem sich sein Mamsellchen von ihrem neuen Schrecken über sein unvermutet Anstoßen zusammengefaßt hatte.

»Mamsell Hannchen,« sagte der treue Knecht, »vor einer Stunde reget sich die Frau Mutter wohl nicht, und für unser Dortchen, das sich eben erst den Unterrock zubindet, stehe ich [30] ein. Es weiß, was es an mir alles hat für jetzt und für später im Leben; aber es weiß auch, daß ich ihm alle Knochen im Leibe kurz und klein schlage, wenn es das Maul nicht hält. Und ich halte Wacht, daß vom Dorf aus kein Unrat und Alarm geschieht. Gehe Sie selber mit der Wackerhahnschen, Jüngferchen, und sehe Sie selber nach Ihrem jungen Herrn vom Fürstenberger Schloß. Auch der Nebel hält wohl noch eine Stunde, und dann ist Sie wieder zu Hause und hat Ihr Herz so leicht oder schwer, wie's der Herrgott will, in Sicherheit, und wenn Sie nachher nicht mit der Frau Mutter, die denn auch wohl zu Beinen sein wird, über die Sache reden will, nu, so – redet Sie nachher mit dem Herrn Vater, und wie sich mit dem in Liebe reden läßt, das weiß ja das ganze Dorf. Das ist mein schlechter Rat.«

»Ein guter Rat ist es, Börries,« sagte die Wackerhahnsche. –

»Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!« – – –

6. Kapitel

[31] Sechstes Kapitel.

Welch ein Segen und was für eine Freude ist es, wenn Menschen friedlich beieinander wohnen; aber wie selten ist's der Fall! Die Bemerkung ist nicht neu. Wir haben sie auf dem Odfeld gemacht, nun machen wir sie nach dem Feld bei Hastenbeck. Wie haben sie, oder wir dort an der Weser, selbst unter dem frommen Krummstabe des Erzstifts Mainz, so weit das Wappen mit dem Rade des Willigis auf den Feldern zu finden ist, die Landschaft verziert mit »Warten«, das heißt den türlosen Wachttürmen in den Feldern und auf den Bergen, zum Auslug nach dem guten, frommen, friedliebenden Nachbar, auf daß er nicht unversehens komme, zu grob gegen die Mannsleute, zu zärtlich gegen das Weibervolk, und um das liebe Vieh unbehandelt aus den Ställen, die Ernte aus den Scheunen abzuholen und zuletzt, zur Krönung des freundlichen Besuchs, die Brandfackel ins Strohdach zu stoßen!

Sie sind teilweise auch heute noch dorten zur Rechten und zur Linken des Flusses zu sehen, diese Warten. Auch die der Wackerhahnschen beim Dorfe Boffzen ist noch vorhanden und heißt der Landwehrturm. Wer sie gebaut hat, und gegen wen, können wir nicht sagen, es kommt aber auch nichts drauf an. Wir wissen nur, daß die Wackerhahnsche sie nach dem zweiten Schlesischen Kriege mit stürmender Hand nahm und sich zur Zeit der Konvention von Kloster Zeven noch darin tapfer behauptete, und darauf kommt viel an. –

[32] Die Wackerhahnsche! Da wäre auch eine Geschichte, sonderbar zu erzählen und mit Kopfschütteln bis in das Genaueste hinein anzuhören. Wir haben aber diesmal nicht die Zeit dazu, sondern müssen uns auf das Notwendigste einschränken. Selbst ihren Vaternamen dürfen wir nicht herschreiben; es leben noch zu viele Leute aus der Verwandtschaft, die das nach anderthalb Jahrhunderten noch übelnehmen könnten. Wenn man der Verwandtschaft des Jahres Siebzehnhundertvierzig gesagt haben würde, auch die Frau Försterin Wackerhahn sei von Gottes Wunderwagen wieder in Boffzen abgeladen worden, so würde sie wahrscheinlich geantwortet haben: der leidige Satan habe das verlaufene Weibsstück von seinem Karren herunter und ins Dorf wieder hineingeschmissen.

Ja, sie war aus dem Dorfe, die Wackerhahnsche, und ihr Vater vordem einer der reichsten Bauern drin. Ein bildschönes Mädchen war sie vor dreißig, vierzig Jahren gewesen; aber mit dem Satan im Leibe war sie freilich geboren worden. In der Stadt Landshut hätte man sie noch im Jahre Siebzehnhundertsechsundfünfzig verbrannt und im Kanton Glarus sogar noch im Jahre Siebzehnhundertachtzig. Da aber die Herren Herzöge von Braunschweig, und vor allen Durchlaucht Carolus der Erste, dergleichen feu d'artifice nicht nur scheußlich, sondern auch lächerlich fanden, so konnte Meister Urian diese seine Hexe garnicht sicherer und behaglicher aufs Altenteil setzen, als auf der Allermannswiese beim Dorfe Boffzen.

Es ist ein Sollingsförster gewesen, der sie sich von dem reichen Bauernhofe geholt hat, wider den Willen der Verwandtschaft, aber mit ihrem. Ehrn Gottlieb Holtnickers Vorgänger im geistlichen Amt hatte das Paar schandenhalber kirchlich zusammenzugeben; unterm Strohkranz und mit Häcksel vor der Tür der Braut. Das Kind, welches die junge Frau in Windeln mit in die Ehe brachte, ist nicht zu Jahren gekommen; aber der Haushalt ist für den Mann und die Frau doch schon recht gewesen. [33] Ein wildstolzeres Paar hat es weithin ins Land, zur Rechten und zur Linken der Weser nicht gegeben.

Sie studierten damals noch nicht auf Forstakademien, die Leute in Grün. Sie kannten aber auch nicht wie die Herren von heute bloß den Hasen und, wenn's hoch kommt, den Rehbock. Sie hatten es noch zu tun mit dem Wolf, dem Luchs und der Wildkatze; der Kolkrabe und der echte alte Uhu gehörten noch zu ihren täglichen und nächtlichen besten Bekannten. Sie glaubten noch an den Wilden Jäger, und wenn im Kruge die Rede auf sein Gefolge kam, so war's für manchen von ihnen gar keine unebene Vorstellung, dermaleinst da unter dem Hörnerklang, Rüdengebell, Peitschenknall, Holla, Hussah und Horridoh mitziehen zu dürfen.

So der Förster Wackerhahn im Barwalde, Amt Hunnesrück. Von dem hat es geheißen, er ginge des Abends auf die Wildererjagd nicht nur mit der Büchse und den Hunden, sondern auch mit einem Spaten aus. Und wenn dann mal einer aus Sievershausen, Dassel, Denkiehausen bis nach Lüthorst hin, der gesund mit seinem Schießgerät sich vom Hause weggeschlichen hatte, nicht wieder – nach Hause kam, dann wußte man schon, wo er geblieben war, oder eigentlich auch nicht: der Totengräber des Orts konnte jedenfalls keine Auskunft darüber geben.

Auf solchen Anstand soll auch die Wackerhahnsche ihrer Zeit mit ihrem Manne gewesen sein, auch den Spaten so nach der Jagd mitgeführt haben. Wie aber jeder Krug nur so lange zum Brunnen geht, bis er bricht, so auch hier. Am Ohlenberge bei Denkiehausen haben sie ihrerseits dem Förster Wackerhahn einen Hinterhalt gelegt – sie sollen von jenseit des Holzberges im Amt Stadtoldendorf, aus Brak, Deensen und von dem adeligen Gut Giesenberg gewesen sein. Ans Licht ist darüber nichts gebracht in der Untersuchung. Lebendig nach Hause gekommen ist nur die junge Försterin; aber wie?! Es läßt sich schlecht, also am liebsten garnicht davon erzählen vor anderen Frauen, [34] wie die Wut, die Rachgier und das Tier im Menschen die schlimme Nacht durch dies Geschöpf Gottes zugerichtet haben im wilden Walde!

Dies Abenteuer ist's gewesen, was die Wackerhahnsche aus dem Lande, auf die Landstraße und zuletzt als alte Dorfhexe in den Landwehrturm bei dem Heimatsdorfe getrieben hat. Der Himmel verleihe allem, was Weib heißt, einen sanfteren Lebensweg und ein besseres Altenteil! Zuerst hat sie's doch noch einmal mit der Heimat versucht, die junge Wittib; aber da sie bei ihrem Abzug von Boffzen zornige Herzen hinter sich gelassen hatte, so fand sie nunmehr noch viel giftigere und dazu höhnische wieder. Es ist nichts mit dem Leben, so stark und wild und fest man sein kann, wenn man um sich her nichts als böse Blicke und Worte von den Nächsten hat und hinter sich her auch die anderen flüstern und lachen hören muß, und wenn man den Kopf dreht, die Kinder die Zungen ausstrecken sieht. – Da ist es denn für manchen gut, daß die Weltgeschichte nie stille steht, sondern ihren Lauf hat und einen oft wunderlich mit sich nimmt.

In den Krieg, den Anno 1733 Frankreich wegen des Polen Stanislaus Leszczynski und das Haus Österreich und das römische Reich wegen des Sachsen Friedrich August miteinander führten, ist die Wackerhahnsche mit hineingezogen worden. Wer über die Weser ist, der kommt auch wohl über den Rhein: die Wackerhahnsche hat auf dem Bagagewagen und mit dem Marketenderkarren manchen Fluß durch die weite Welt überkreuzt; doch es ist auch davon vor ehrbaren Frauen und lieben Jungfern am besten nicht zu laut zu reden. Gottes Wunderwagen bleibt doch Gottes Wagen! Er ist es, der seinen Passagieren ihre Plätze drauf anweist, und das ist auch die beste Entschuldigung, die wir für die alte Frau im Landwehrturm haben. Bis nach Messina herunter ist sie gekommen auf ihren Kriegsfahrten, die Försterin aus dem Barwalde! Der alte Hauptmann Balthasar Uttenberger im Boffzener Pastorhause stand damals als junger [35] Schweizerfähnrich in Palermo: O Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, was für zwei verwetterte Veteranen hat dir da der Lebenssturm zusammengeweht zur Hülfe in deinen jungen Nöten! ...

Die beiden ersten Schlesischen Kriege sind vorbei gewesen, der Dresdener Friede ist abgeschlossen worden von den hohen paktierenden Herrschaften, und die Wackerhahnsche hat versucht, auch ihren Frieden mit dem Dorfe Boffzen zu machen, was jedenfalls ebenso schwer war, wie das andere.

Zuerst hat es geheißen: die Weser fließe da, und da hinein gehöre am passendsten das verlaufene Soldatenmensch. Was für den Schinder zu schlecht sei, das nehme der Fluß gern mit stromabwärts. Wo es dann angetrieben werde und stinke, das sei anderer Leute Sache. Und in solchen Reden weiter!

Sie hatten im Dorf eben nur vergessen, daß sie mit der Wackerhahnschen zu tun hatten. Was Pastor Holtnicker zum Besten redete, würde wohl wenig geholfen haben: die Wackerhahnsche war aber nicht umsonst in der weiten Welt und im Kriege gewesen. Sie hatte gelernt mit Menschen und mit Vieh umzugehen, und – was man nie genug bedenkt – Feindschaft zieht auch wieder Freundschaft heran und herzu!

Es fand sich schon jemand, der ihr grinsend die Leiter lieh, auf der sie den Eingang zum Landwehrturm erkletterte, da die Verwandtschaft sie nicht bei sich auf dem Hofe dulden wollte. Ein Freund von der Verwandtschaft soll das gerade nicht gewesen sein. Und da sie nun drin saß in der Warte auf ihrem Altenteil, so wurde auch bald im Kruge für sie auf den Tisch geschlagen von solchen, die mit ihr jung gewesen waren und sie dem Förster aus dem Amt Hunnesrück einst ganz und gar nicht gegönnt hatten, weder als Schätzchen noch als Ehefrau. Eine Kugel, die sie am Bindfaden um den Hals trug, half ihr auch zu einigem Respekt im Dorfe. Man hatte sie ihr nach der Schlacht bei Kesselsdorf aus der Hüfte geschnitten, und der alte Dessauer [36] hatte sie nach der Heilung der Wunde in der Hand gehabt, und die Dorfjungen sperrten Maul, Augen und Ohren im Kreise unter der Hecke auf, wo ihnen die Wackerhahnsche weiter berichtete, wie der Fürst Leopold ihr den Takt auf der Schulter geschlagen habe zu seinem Leibliede: So leben wir, so leben wir; so leben wir alle Tage.

»In der allerschönsten Saufkompanei!« sang dann wohl der jüngste Nachwuchs von Boffzen mit.

Aber die Hauptsache für die weiland Förstersche aus dem Barwalde war doch, daß sie auf ihrem grimmigen heimatlichen Altenteil in dem Wartturm auf der Allermannswiese alle in Grün, so weit der grüne Sollingwald reichte, für sich hatte.

Die wußten noch von ihr, und was sich schon von Sage und Legende im Laufe der Jahre um sie geschlungen hatte, das kam ihr auch zu gute! Da gab es keinen Forstmeister, reitenden und gehenden Förster, Wald- und Wildhüter, dem sie mit ihrem Spaten auf ihrem Anstand auf der Wilddiebsjagd nicht als ein leuchtend Exemplum für jede brave Jägersfrau gegolten hätte. Auch sie haben für die Kameradin auf den Tisch geschlagen mit einem: »Probiert's und krümmt ihr ein Haar, ihr Mäuse- und Maulwurfsfallensteller, ihr Hasenschlingenhelden!« Und was sie ihr in Topf und Pfanne zutrugen in ihren Turm, nachdem sich das Gerücht von ihrer Ankunft da im Walde verbreitet hatte, das gab kein übel Gedüft von sich und machte jedwede Anspielung auf Hühnerstehlen und dergleichen Taternschandtaten völlig zu nichte.

Auf gestohlenes Gut, Frösche, wilde Wurzeln und derartige Kost war die Wackerhahnsche auf ihrem Altenteil im Jahre 1757 wahrlich nicht mehr angewiesen; doch damit stehen wir denn endlich auch vor ihrem Turm, an der Leiter, auf der man, wenn sie herniedergelassen wurde, zu der Eingangspforte aufwärts gelangen konnte. Und nun – wer sich für diese Daphnis- und Chloegeschichte zu schwachnervig fühlt, der kann auch jetzt noch [37] das Buch zuschlagen und uns mit der Wackerhahnschen und der Jungfer Holtnicker im dicken Nebel allein lassen. Es ist eine wahre Geschichte, und keine Geßnersche Idylle, die wir erzählen. Immeke von Boffzen und ihr Fürstenberger Blumenmaler haben noch viel auszustehen und durchzumachen, ehe sie –

Doch die Wackerhahnsche wird schon ungeduldig und sieht sorglich in den ziehenden grauen Dunst:

»Laß das Geschluchze, Krabbe! Wie lange glaubst, daß der Herrgott dir zu Gefallen dem Lande noch die Nebelkappe überzieht und die Frau Mutter nicht nach dir ruft? Avanti! Allegro! wie sie im Pomeranzenlande sagen. Tu die Schürze von den Augen; mit dem Heulen heulst du höchstens den Franzosen her. Der wird den Jungen da oben bald wieder in der Montur und der Feuerlinie haben, wenn er seine oder des Kurfürsten von Hannover Spitzruten überstehen sollte, von seinem jetzigen Fieber dabei gar nicht zu reden!«

7. Kapitel

[38] Siebentes Kapitel.

Herr Heinrich Stegmann mit seinem Buche: »Die fürstlich braunschweigische Porzellanfabrik zu Fürstenberg«, hat die Quelle aufgegraben, aus der ein Bächlein, verhältnismäßig am hellsten, lieblichsten und hoffnungsreichsten in das blutige Jahr Siebzehnhundertsiebenundfünfzig und unsere Geschichte hereinspringt und seinen Weg durch die wilde Welt sucht. Die deutsche Literaturgeschichte gibt uns hoffentlich einmal das Zeugnis, daß wir uns immer an die richtigen Quellen gehalten haben, um unseren Freunden einen klaren, erquicklichen Trank zu verschaffen.

Dieser Schaumburg-Lippesche Tongelehrte hat über künstliche und kunstlose Töpferarbeit in diesem Erdenwinkel mehr zur Sache beigebracht, als irgend ein Braunschweiger sich je träumen ließ, daß darüber in Europas Archiven vorhanden sein könne. Wenn er dabei auf die Dankbarkeit der Welt gerechnet hat, wünsche ich von Herzen, daß er sich nicht getäuscht haben möge: die unserige bleibt ihm sicher.

Die Unserige! Das ist an dieser Stelle kein Pluralis majestatis: die Leser, auf die Wir rechnen, sind samt und sonders mit eingeschlossen in diesen Plural; denn wo sollten sie, das heißt Wir, etwas von Blau-, Figuren- und Blumenmalen und im besonderen von einem Blumenmaler Pold Wille auf Schloß Fürstenberg wissen, wenn uns da nicht die Wissenschaft auf die Sprünge geholfen und zu weiteren Forschungen angetrieben hätte? Doch haben wir dem Geschichtschreiber der fürstlich braunschweigischen Porzellanfabrik auf Schloß Fürstenberg sein [39] Recht gegeben, so soll das nun auch dem Gründer zu teil werden.

Serenissimus dux, Herr Karl von Braunschweig und Lüneburg! Was wäre unsere Historie von Daphnis und Chloe, von Pold und Hannchen ohne den?

Das war auch so einer von den großen Herren damaliger Zeit, welche den Kopf im Lichte hatten, die Stirn hochaufgerichtet der Sonne zutrugen, aber in ihren Stiefeln oft recht tief in dunkelm Schmutz und Schlamm, wenn nicht gar Blut, standen und göttergleich ruhig durchwateten.

Bei ihm zu Lande weiß man heute wenig anderes von ihm, als daß auch er seines Landes Kinder so teuer als möglich geschätzt und sie demnach zum höchsten Preise an die Engländer für ihren Bedarf gegen den Kongreß zu Philadelphia und den General Washington losgeschlagen habe. Man läßt, wie anderwärts, auch dort ein wenig zu sehr außer Betracht, daß der Rechen, der heute das abenteuernde Volk von der Landstraße in die Gefängnisse und – Arbeiterkolonien zusammenkehrt, es damals zu der Werbetrommel brachte und das Volk auf den Ackerfeldern und in den Werkstätten ziemlich unbehelligt ließ – freilich erst nach dem Hubertusburger Frieden. Halten wir uns daran, daß Herzog Karl, des Namens der Erste, es gewesen ist, der seinem »Volke« jeden Morgen sein Intelligenzblatt auf den Kaffeetisch und neben die Biersuppe legte. Was da drin im Laufe der Jahre seiner Regierung zu lesen stand, darüber brauchten seine geliebten Untertanen mehr als ihre zehn Finger, um daran ihre Segenswünsche, ihre Verblüffungen und ihr Kopfschütteln und ihre Seufzer nachzuzählen. Es ist nicht leicht, jenen damals noch viel einsamer als heute leuchtenden Gipfeln der Welt gerecht zu werden.

Aber wir erzählen dem deutschen Volke, und was geht uns die fürstlich braunschweigisch-lüneburgische Regierungsverwaltung im kleinen hier an? Was kümmern uns hier des Herzog Karls Finanz-, Medizinal-, Akzise- und Wegeverbesserungsanstalten? [40] Was sein Armenwesen, seine Hebammenverordnungen, seine Straßenpflasterung und Gassenerleuchtung? Was seine Befehle und Begünstigungen zur Verbesserung des Ackerbaus, zur Forst- und Waldbenutzung, zur Jagdbeschränkung? Was seine Vorkehrungen gegen Holzverwüstung durch Menschen und Käfer?

Es ist über alles das und hunderterlei anderes in der Geheimbderatsstube viel Staub von den Perücken aufgewirbelt; er soll sich aber nicht auf diesen Blättern ablagern.

Wie viele Geheime Räte, Geheime Sekretäre und Geheime Registratoren und so weiter müßten wir mit ihren Aktenbündeln aus ihren Gräbern wachrufen, um ebenso zuletzt wie Serenissimus den Kopf in beide Hände zu nehmen, ratlos über all das Wirrsal im Kriegskollegium, in der Justizkanzlei, am Hofgericht, in der Berghandlungsadministration, in der Klosterratsstube und im Hofmarschallsamt – bis über die Ohren in Schulden gegen unsere Leser; nämlich was unsere Verpflichtung, die nicht zu langweilen, anbetrifft!

Also Staub zu Staub – halten wir uns daran, daß aller Erdenstaub, wo die Sonne scheint, auch wenn sie durch das Fenster einer Geheimeratsstube fällt, zu Licht und Goldfunken wird. Es lebe Serenissimus, der Herr Herzog Karl! Er hat nicht bloß sein Intelligenzblatt gegründet, die Stadt Braunschweig nicht nur zu einer Residenz, sondern auch durch Gründung seinesCollegii Carolini zu einer deutschen Kulturstätte gemacht; – er hat den heimatlosen wilden Magister Lessing nicht bloß zu seinem Hofrat und Bibliothekar gemacht, sondern er hat wahrhaftig für seine eigene Person nicht das geringste dagegen einzuwenden gehabt, daß der Mann die Wolfenbüttelschen Fragmente herausgebe, und den Hamburgischen Hauptpastor Goeze abklopfe, und – er hat nicht bloß die Porzellanfabrik Fürstenberg und dadurch die Kunst im allgemeinen ins Wesertal getragen, sondern auch ganz im besondersten dem jungen Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße Gelegenheit gegeben, im [41] Pfarrgarten von Boffzen nach Blumen, und nicht bloß für seine Teller und seine Koffee-, Tee- und Schokoladetassen zu suchen: Immeke von Boffzen, wie tanzen die Stäubchen in der Sonne und reden von des alten Herrn Cobers und des ewig jungen Herrn Gottes Wunderwagen, wenn man so ein paar alte Perücken um das nächste Stuhlbein schlägt, oder nur den Staub von dem nächstliegenden Aktenbündel abbläst! – – – –

Zehn Jahre ungefähr war's her, daß zuerst in dem ablegenen Weltwinkel Gerüchte umgingen, die das landeingesessene Volk da in Erregung, Bewegung und Aufregung brachten, wie seit Gründung von Kloster Corvey nicht mehr. Ja, ungefähr war es wieder einmal so gewesen dort im Volk, als etwas ganz Neues in der Gegend aufkam. Hatte Kaiser Ludwig der Fromme das christliche Kirchentum wie ein Licht auf einen Leuchter in die dunkle Sollingswildnis gesteckt, so hatte nunmehr Herzog Karl von Braunschweig die Kunst hinverpflanzt. Daß der letztere hohe Gründer mehr als der erstere seinen irdischen Profit dabei suchte, läßt sich nicht leugnen, soll ihm aber von uns nicht zum Vorwurf gemacht werden. Wer Geld braucht, gewinnt es sich, trotz allem, was man dagegen reden mag, durch die Kunst, durch schöne Künste, immer noch auf die unschuldigste Weise und tut jedenfalls anderen am wenigsten Schaden durch die Art, wie er ihr Geld ihnen abnimmt. –

Es ist fein in den alten Akten nachzulesen, wieviel Mühe, Sorge und Ärger es kostete, das exotische Gewächs in dieser ostfälischen Waldwildnis zum Keimen, Blühen und kärglichen Fruchttragen zu bringen. Der Staub, der grade über diese Gründung Serenissimi in seiner Geheimeratsstube zu Braunschweig von den Perücken aufwirbelte, wurde oft so undurchdringlich, daß die Sonne völlig machtlos dagegen blieb und nur ein fürstliches Je le veux! des achtzehnten Jahrhunderts eine trübe Dämmerung über dieser »Erschließung einer neuen Finanzquelle« erhielt.

[42] Aber was geht Uns das an? Serenissima, unsere liebe Leserin, fragt schon lange:

»Das soll eine Liebesgeschichte werden? Den Daphnis und die Chloe, die langweiligen arkadischen Griechen, wollte ich mir ja gerne schenken, aber erfahren möchte man doch allmählich ein wenig Genaueres von der Hauptsache.«

Und recht hat sie bis in den Kern der Welt hinein, und deshalb soll sie es auch bekommen, da wir ja auch diesmal wieder eine wahre Geschichte erzählen. –

Wer vor allen vermeinte, ihre Gründe zu haben, über das neue Wesen da oben in dem alten Schloß auf dem Berge den Kopf zu schütteln, sich Sorgen zu machen und gegen es als ein persönlich Ärgernis sich aufzubäumen, das war – die Pastorin in dem Dorfe unter dem Berge, die Frau Johanne Holtnicker, geborene Störenfreden. Mit dem allermöglichsten Respekt gegen seine hochfürstliche Durchlaucht, den Herzog Karl, war sie doch der Meinung, daß er ein bißchen zu sehr den Kuckuck gegen sie gespielt habe, durch das buntgesprenkelte Ei, seine Porcelaine-Fabrik, die er ihr in ihren Welt-, Wald-, Dorf-, Haus- und Gartenfrieden geschoben hatte. Das Ei war es wohl weniger, was ihr zum Ärgernis wurde, als das, was aus ihm ausgekrochen war: die Abenteurer, die Alchimisten, die Laboranten und vor allem das meistens junge Volk aus aller Herren Ländern, das mit seinen Farbentöpfen und Pinseln gekommen war, um das Schöne zu dem Nützlichen zu tun. Die Blaumaler hätte sie sich wohl noch gefallen lassen, das waren solide, brave Burschen, die in ihren Malstuben über ihre Tassen und Teller gebückt saßen, und sich draußen nach nichts für ihre Künstlichkeit umzusehen brauchten. Aber die Figuren- und Blumenmaler, – das waren die Schlimmen, die ihr das Leben verdrießlicher machten, als es Serenissimus vor sich verantworten konnte!

Nicht alle natürlich. Auch unter ihnen gab es wackere Leute, die sich oben auf ihrem Berge bei sich zu Hause in ihrer Arbeit [43] hielten, keine Sehnsucht nach neuen Mustern für ihre Kunst in sich verspürten, sondern sich an ihre guten Muster hielten für ihren Tagelohn und dabei redlich tagein, tagaus blieben bis zum jedesmaligen Feierabend. In den Dorfkrug am Abend kam ja die Frau Pastorin nicht, um dort ihrer Bravheit, Nüchternheit und Solidität auf den Zahn zu fühlen. –

»Gastfrei zu sein, vergesset nicht, denn dadurch haben einige ohne ihr Wissen Engel beherbergt,« schrieb Sankt Paulus als seinen guten Rat an die Hebräer, und wahrlich, auch das Pfarrhaus zu Boffzen ist jederzeit dem Wort getreulich und christlich nachgekommen und hat sich also auch nicht vor den Engeln, die möglicherweise sich inkognito auf Schloß Fürstenberg aufhalten konnten und fast täglich bei der Frau Pastorin, dem Pastor und – dem Pastorentöchterlein vorsprachen, verschlossen halten können. »Leider!« wie die Frau Pastorin nur zu bald seufzen mußte.

Es waren, wie gesagt, nicht die Blaumaler, die ihr das Seufzerwort entlockten: die Figuren-, Porträt-und – Blumenmaler sind's gewesen, und vor allen anderen der Blumenmaler Hans Leopold Wille von der Wendenstraße in der Stadt Braunschweig, mit dem sie dann im Jahre Sechsundfünfzig, als der König Friedrich seinen siebenjährigen Krieg anfing, gleichfalls in bitterböseste Fehde geriet. Sonderbarerweise grade weil jemand in ihrem Pfarrhause, unter ihrer Nase und hinter ihrem Rücken, seinen himmlischen Boten, seinen »Engel« in dem jungen künstlichen Menschen gefunden zu haben glaubte. –

»Immeke von Boffzen!« – die Figuren-, Bildnis-und Blumenmaler, die Herzog Karl zur Beförderung des Nützlichen und Schönen in den stillen, ablegenen Weserwinkel gesendet hatte, sind's gewesen, die auf ihrer Suche nach neuen Mustern und Modellen das liebe, geschäftige »Bienchen« im Pfarrgarten zu Boffzen entdeckten, es auf ihre Teller, Tassen und Präsentierteller brachten, es in ihr Herz aufnahmen, ihm eine neue Welt aufgehen ließen und der Frau Mutter, der Pastorin von Boffzen, [44] das Konzept verrückten, wie der König Fritz der Königin von Polen und Kurfürstin von Sachsen. Wie letztere mit ausgespreizten Armen und ausgebreiteten Reifröcken vor dem Dresdener Staatsarchiv, so stand die Frau Pastorin vor dem Herzen ihres Pflegetöchterleins, und der General Wylich hatte den Zugang zu dem einen nicht schwerer zu erkämpfen, als der Blumenmaler Wille den zum anderen. Nur der bittersten Notwendigkeit und Nötigung sind beide Damen gewichen: daß die zwei Herren, mit gerungenen Händen sich auf die Kniee vor ihnen warfen, hat zu garnichts genutzt.

Es ist nicht bloß der Schlüssel zu einem Staatsarchiv, oder der Hausschlüssel, den unsere lieben Frauen nicht immer gern ausliefern; auch der Schlüssel zum Herzen ihrer Töchter ist es dann und wann. Wo Blumen blühen, flattern auch die Schmetterlinge, und es ward wahrlich ein bunt und lebhaft Geflatter um das schönste Blümlein im Boffzener Pfarrgarten. Frau Johanne Holtnicker hatte, weiß der Himmel, ihre Not, all die gespitzten Saugrüssel abzuwehren von ihrem lieben Rosenmädchen. Sie konnten es alle gebrauchen als Modell, die Figuren- und Porträtmaler auf Schloß Fürstenberg; und es werden heute noch in Familienschränken, aber auch in fürstlichen Museen und Kunstkammern der Liebhaber Mundtassen und Teller als Cimelien aufbewahrt, die das Kind als Schäferin, Jägerin, Fischerin und Gärtnerin in all seiner Lieblichkeit für die Ewigkeit festhalten, soweit sich das eben auf Porzellan tun läßt, jedenfalls aber mithelfen, dem »Rokoko« seinen Ehrenplatz in der Kunstgeschichte zu sichern.

Und nun die Pastorin, die Seelenhirtin von Boffzen, mit ihrem, ihr von Gottes Wunderwagen aus anvertrauten Lämmlein. Sie war mit ihrer Irdenware in der Küche und auf dem Eßtisch so gut ausgekommen ohne die neue, teure Künstlichkeit, – und für das Kind hatte sie doch auch schon einen – nicht bloß in Gedanken, sondern auch seinerseits bereitwillig, in Bereitschaft! [45] Und noch dazu einen aus ihrer eigenen Verwandtschaft, das junge fromme Wort Gottes zu Derenthal, Ehrn Emanuel Störenfreden. Und stammte sie doch selber aus einem Pfarrhaus, und alle ihre Begriffe von Lebenswürden, Lebensbehagen und Lebensschicklichkeit eben daher bis in ihr eigenes seelenhirtliches Ehebett hinein.

Wie oft ging es in den letzten Jahren in letzterem hin und her:

»Aber, liebe Frau, kannst du wieder mal, mit dem allweisen und allgütigen Gott über dir, deine nächtliche Ruhe nicht finden?«

»Wie sollte ich schlafen können, Gottlieb, wenn du den ganzen Nachmittag heute mal wieder nicht das geringste gegen das Narren- und Affenspiel hast tun wollen, was die Hanswurste und Pinsler vom Schloß mit unserem Mädchen getrieben haben!«

»Zu Ehren des hohen Geburtstages der Frau Herzogin Philippine Charlotte haben die jungen Herren es für ihre Kunst verwenden wollen. Was konnte ich dagegen einwenden, da es auch Serenissimi Wunsch gewesen ist, daß sie das Lieblichste an Blumen und Menschengesichtern in Seiner hiesigen Provinz für Sein Präsent aussuchen und in Farben abbilden sollten. Unser Töchterlein nun –«

»Jede ihrer Faxen und Lügen glaubst du den Schlingeln, Holtnicker! Natürlich! und ich soll mich nur auf des Himmels besseres Einsehen verlassen! Und dabei soll man in seinem Ärgernis seine nächtliche Ruhe finden? Ja, drehe dich nur auf die andere Seite: hab' ich mich des Geschöpfes, das uns der Herrgott vor die Tür gelegt hat, als Mutter angenommen, so will ich nun auch mein Mutterrecht an ihm bis ans letzte verüben dürfen, und keiner soll mir das verwehren!« ...

Das letztere war ein schweres Wort, den Beschlüssen des Himmels in Ehesachen gegenüber, und unter all dem leichtfertigen Volk vom Berge ist grade der, welchem die Frau Pastorin es [46] am wenigsten zutraute, der ärgste Dieb und Sünder gewesen und hat ihrem Vertrauen in sein und ihres Töchterleins unschuldig Herz am tückischsten das Bein gestellt.

Er, der bloß der Blumenzucht Ehrn Gottlieb Holtnickers und seiner Kunst wegen sich im Pfarrgarten finden ließ; er, der niemalen mit dem Reißbrett und dem Zeichenstift hinter dem Bienchen von Boffzen drein war: er der blöde, blonde, schüchterne Pold Wille von der Wendenstraße ist's gewesen, in dessen Armen die geistliche Hirtin um die Zeit der Fliederblüte Anno Siebzehnhundertsechsundfünfzig eines Abends ihr Pflegekind in der Laube ertappt hat.

Sie haben es, ihr Immeke von Boffzen, nicht weinend, heulend, schluchzend und mit der Schürze vor den Augen auf ihrem Porzellan, die Porträt- und Figurenmaler von Fürstenberg; aber wenn sie solch ein Modell gewünscht hätten, die Frau Pastorin von Boffzen hätte von jenem Abend an tagtäglich für sein Vorhandensein gesorgt.

Ach, das ist ein böser Sommer auch für die zwei armen Kinder geworden – nicht bloß für die Exjungfer Europa und ihre Provinzen, Kanada mit eingeschlossen! Gott Amor weiß ebenso wohl seine Fallen zu stellen, wie der grause Gott Mars und seine blutdürstige Schwester Bellona.

Sie sind wohl noch zusammengeschlichen, Pold Wille von der Wendenstraße und Hannchen Holtnicker von Gottes Wunderwagen – aber wie! In welchen Ängsten und Tränen!

Und dann ist einmal ein Abend gekommen, der, wie sie länger als ein Jahr lang geglaubt haben, der letzte zwischen ihnen gewesen ist. Am neunundzwanzigsten August war der König von Preußen in Sachsen eingebrochen und am dreißigsten desselben Monds und desselbigen Jahres ertappte die Frau Pastorin – die Frau Mutter das unglückselige Liebespaar zum zweiten Male, indem sie einen Einfall in ein Nußgebüsch am Katthagenberge, auf dem Schloß Fürstenberg gelegen ist, tat. [47] Ach wehe, die Maulschellen, die es da nach rechts, und links hin gab, sind an dem schönen und schlimmen Abend nicht das Ärgste für Daphnis und Chloe gewesen! Von Fürstenbergischem Porzellan waren ja Schäfer und Schäferin gottlob nicht! Was der beste Blumenmaler und Liebhaber von Fürstenberg zu hören bekam, das war's, was mehr Jammer und Elend in das stille, friedliche, fromme Pfarrhaus zu Boffzen brachte, als irgend etwas anderes in den nachfolgenden sieben schweren Kriegsjahren!

Was eine gute Mutter und zukünftige beste Schwiegermutter bei solcher Gelegenheit sagen kann, das ist auch diesmal gesagt worden, und es ist schuld dran gewesen, daß His royal highness, Prinz Wilhelm August, Herzog von Cumberland und Armand Duplessis, Herzog von Richelieu auch den herzoglich braunschweigischen Blumenmaler Hans Leopold Wille mit in ihre Konvention von Kloster Zeven einschlossen, ihn mit den anderen wie in einen Sack steckten –

Weh, Niedersachsen, weh! – –

Wie er, Pold Wille, ein Loch in dem nichtsnutzigen Sack fand, durchwischte und zu Hause, das heißt im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen, wieder ankam, das mag, wer da will, im folgenden von ihm selber sich berichten lassen. Viel Ehre kommt weder für ihn, den Blumenmaler, noch für die hohen kontrahierenden Mächte dabei heraus.

8. Kapitel

[48] Achtes Kapitel.

Es wußte Bescheid mit den Leitern im Haushaltswesen, das Immeken von Boffzen! Nach dem Taubenschlag hinauf – auf den Heuboden – in den Birnen-, Apfel- und Kirschenbaum; aber so rasch wie diese Leiter, die zu dem letzten Lebensquartier der Wackerhahnschen führte, war es noch nie eine andere hinaufgekommen. Das Wort der greisen Marketenderin hatte noch kräftiger gewirkt, als sonst wohl ein abgezogener Holzpantoffel der Frau Pflegemutter. Grummelnd, brummelnd den Kopf schüttelnd und doch dazu sonderbar lächelnd, stieg ihr die Alte nach zu ihrem wunderlichen Unterschlupf empor, und nun dürfen auch wir uns in ihm umsehen. Was aus dem durch allerlei Zeitensturm verwüsteten Gemäuer zu machen gewesen war, war von der jetzigen Bewohnerin gemacht worden. Spiegel- und Butzenscheiben gab es nicht in den Schieß- und Auslugscharten, aber ein Feuerherd war vorhanden, und der Rauch von ihm fand seinen Ausweg. Ein Kesselchen hing über einem gluhen Feuer, und da nach der Windseite die Mauerscharten durch Holzklappen verwahret waren, so war die Zugluft für Leute, die nicht an Gliederweh litten, nicht so arg, als man wohl hätte meinen dürfen. Tisch und Stuhl und das übrige Geräte entsprachen wohl nicht den Ansprüchen der Neuzeit, aber sie waren doch da, und wer wie die Wackerhahnsche auch unter Zelten und an offenen Lagerfeuern sein Wohlbehagen gefunden hätte, der würde hier dreist von »Luxus« reden dürfen. Tapeten gab es nicht, aber dafür etwas anderes – Teppiche. Für die hatten der Solling [49] und die Freunde in Grün, die Kameradschaft aus alter Zeit, gesorgt. Was Fell trug, von der Weser bis zur Hube bei Einbeck, hatte das Seinige dazugeben müssen: die Wackerhahnsche ging weich und schlief weich; doch da sie ihr Lager einem Gast abgetreten hat, so kommt hiermit die Mahnung an uns, uns endlich nach dem als der Hauptsache bei dieser Beschreibung genauer umzusehen.

Man sah nur augenblicklich wenig von ihm. Das Findlingskind aus dem Pfarrhause hatte sich über ihn auf den Haufen von Stroh, Hirschfellen und Federbetten hingeworfen, hielt ihn in den Armen, deckte sein Jammergesicht mit ihrem tränenüberströmten zu und schluchzte:

»O Pold, wo bist du geblieben, wo bist du gewesen, wo kommst du her?«

»Laß ihm wenigstens die Luft dazu, wenn du eine Antwort von ihm haben willst,« brummte die Wackerhahnsche, sich gleichfalls niederbeugend und den Unglücksmenschen im Rücken stützend. »Sieh es dir an, dein Fürstenberger Porzellan! Eiserne Töpfe sind bei Hastenbeck in die Brüche gegangen; was hatte solch gebrechlich Irdengeschirr sich darein zu mengelieren? Brauchte dich der Cumberland so notwendig bei seinem Ausreißen vor dem Franzosen? Solltest ihm auch wohl seine Glorie verewigen helfen durch deine Künste? Uh ja, Kloster Zeven! Da um herum hättest du ihm schon einen Lorbeerkranz malen dürfen, auch auf euer Fürstenberger Porzellan. So laß doch das Heulen, Immeke, den Doktor Drahtbinder für unseren zersprungenen Pott hier finden wir immer noch leichter, als der König Fritz für seinen den seinigen!« ...

Sie knieten jetzt beide, die Junge und die Alte, die eine zur rechten, die andere zur linken Seite des Jammerlagers des Fahnenflüchtigen aus der Konvention von Kloster Zeven. O Gott, wie war des Herzogs Karl bester Blumenmaler »von Fleisch abgefallen!« von den Lumpen, in denen er steckte, gar nicht zu [50] reden. Ach, und wenn das das Ärgste gewesen! Das Fieber hatte er in den Knochen, und als er versuchte, seines Liebchens Fragen zu beantworten, da schlugen ihm die Zähne derartig zusammen, daß kein Mensch und selbst die Liebste nicht aus dem, was er murmelte, hätte klug werden können. Daß er an zu weinen fing, durfte ihm nicht als Weichmütigkeit und dergleichen Kindisches angerechnet werden: bei den Stärksten kann sich manchmal die Natur nicht anders helfen, und wenn wer davon nachzusagen wußte, so war das die Wackerhahnsche, die unter einem halben Dutzend Nationen nicht nur manchen Bramarbas, Kapitän Holofernes und Don Bravado, sondern auch manchen wirklichen grimmigen Helden kennen gelernt und ihn auf dem Schlachtfeld oder im Spital in den Armen gehalten hatte, um ihm den letzten Labetrunk zu reichen und das letzte Trostwort zu sprechen.

»Es tut ihm gut,« sagte sie. »Also lasse Sie ihn so seinen Weg haben, Jungfer Hanne. Was fragst du auch ihn darnach? Deine Mutter frag drum, wo er so lange gesteckt hat, wo er geblieben ist, wo er herkommt! Sie hat aber wohl nicht dran gedacht, die Frau Pastorsche, wohin sie das arme Tier jagte, als sie mit dem Besen und dem Stab Wehe über das Turteltaubenpaar kam. Zuerst in der Fliederlaube in eurem Garten, Mamsellchen, und nachher wie Zieten aus dem Busche am Katthagenberge. Liege still, Narr – Blitznarr! Da sie es wissen will und muß, kann ich es ihr auch wie aus dem Parolebuche ablesen. Ins Blinde ist der Tropf gerannt in seiner Liebesbrunst und dem ersten Werber des Kurfürsten von Hannover in die ausgebreiteten Arme! Hui, da haben wir schon unsere Künste und wissen, was wir dem jungen Hirnwütigen in den Brudertrunk zu schütten haben, um ihn nach unserem Sinn wieder zur Räson zu bringen. Das bleibt sich einerlei, was uns da in die zärtlichen Pratzen nimmt, ob der König von Engelland, der König in Preußen oder Durchlaucht Herzog [51] Karl, unser angeborener Landesvater. Die Liebe und Zärtlichkeit bleibt sich gleich, und du reichst mit deiner längst nicht an sie heran, Hannchen Holtnicker. Nicht wahr, Musjeh Pold, nicht wahr, so mit gebundenen Fäusten am glühroten Ofen, mit nichts als Heringen zur Kost und nichts als Heringslake zum Trunke – welch ein himmeljauchzender Treueschwur, wenn sie zu dem Handgeld mit dem schäumenden Bierkrug kommen: Treue bis in den Tod, zu Wasser und zu Lande – Vivat Georgius! Vivat Carolus! Vivat Fridericus! Vivat Maria Theresia, oder wie sie sich sonst nennen mögen, die hohen kriegführenden Herrschaften rund um den Erdball. So, so, so ist auch dein süßer Schatz dem leidigen Satan unter den gluhen, blutroten Rechen gekommen, arm, klein, lieb Immeken! Der streicht jetzo wieder zusammen vom Felde und der Wiese in die Wachtfeuer grün Holz und dürr Holz; die ältesten Knüppel und Krüppel sind wohl noch zu verbrauchen in den Brandhütten. Wir sind erst beim Anfang diesmal. Glaubt es der Alten, ihr Jungen, und was ihr euch Liebes noch in der Welt sagen und tun könnt, das sagt und tut rasch; morgen ist's vielleicht schon zu spät dazu. Die große Kriegesharke fährt wieder über Ackerland und Blumenwiese und nimmt mit, was ihr unter die Zähne kommt, und dich, du arm Huhn, du Blumenmaler von Fürstenberg, hat sie auch noch nicht losgelassen. Sie hat dich noch, wie das Fieber dich hat, – kriech unter, steck den Kopf unter die Decke, und Sie, Mamsell Holtnicker, wenn ich Ihr raten soll, zetere und schnattere Sie nicht zu laut über Ihres Schatzes Malheur! Ducke dich mit deinem Jammer, daß so wenig als möglich Menschen davon erfahren, wen das Schicksal von Kloster Zeven her der Barwaldshexe im Boffzener Landwehrturm in Pflege gegeben hat. Sie könnten ihn von Höxter aus so gut wie von Fürstenberg her trotz seines Fiebers mit dem Strick um die Fäuste und den Hals wegholen, den Deserteur Seiner Majestät von Engelland aus der Konvention von Kloster Zeven! Hab' ich nicht recht, und ist's nicht ein guter Rat, Musketierer Wille?«

[52] Es war doch eigentlich schade, daß die Frau Pastorin nicht dabei zugegen war, um es sich mit anzusehen und anzuhören, was für ein Unheil und Herzeleid in der Welt man mit dem besten, wohlmeinendsten Willen anrichten kann.

Der Unglücksmensch hatte sich nunmehr, sein Mädchen in den Armen, so weit ermannt, daß er seinerseits ein Wort zur Sache geben konnte.

»Ich bin bis heute noch nicht wieder ganz bei mir gewesen seit der Stunde am Katthagen, Hannchen,« schluchzte er. »Wie ein Narr bin ich in den Wald und in die Welt gelaufen vor deiner Mutter und dem Pastor Störenfreden.«

Hier nickte die Wackerhahnsche wie besessen, doch der Held von Kloster Zeven winselte weiter:

»Solch ein Unglückstag! Weißt du noch, Bienchen, wie heiß es an ihm war? Und oben auf dem Schloß hatte es auch schon Verdruß gegeben, weil uns wieder einmal ein ganzer Brand zu Grunde gegangen war; aber was konnten wir Maler dazu, daß die Masse für die Figurenmacherei durchaus nicht stehen wollte? daß dem Monsieur Feilner sein Skaramuz, sein Pantalon und seine Kolumbine nicht aus der Form kommen wollten?«

Trotz allem Jammer mußte die Veteranin aus dem Dienst des Königs von Hispanien hier doch lachen; aber die Boffzener Immeke faßte ihren Schatz fester in die Arme:

»Nichts konntest du dafür; aber laß eure Dummheiten da oben! Wo bist du geblieben so lange? Wo kommst du her in solchem Elendszustand?«

»Was konnte ich machen mit meiner Kunst und meinen Aussichten vor deiner Frau Mutter und ihrem Pastor von Derenthal, dem Herrn Vetter und Neveu? Was konnte ich tun gegen deine liebste Frau Mutter und ihren lieben Pastor Störenfreden? Mit leeren Taschen und rückständigem Lohn konnte uns Durchlaucht Herzog Karl jeden Augenblick ins freie Feld setzen, wenn er den Groschen für uns zu was anderem nötiger hatte.«

[53] Wie kam das Wort:»Commedia dell' arte!« in den alten Weserwachtturm?

Die Wackerhahnsche hatte es aus Neapel oder Sizilien mitgebracht. Sie hatte vieles aufgeschnappt und mitgebracht von ihren Feldzügen, was einen Professor von Helmstedt oder Göttingen wohl zum Aufmerken hätte bringen können, vorausgesetzt, daß er auch einen Blick hatte für die leuchtenden oder zwinkernden Augen und das zum scheußlichen Grinsen verzogene Maulwerk des alten Weibes.

»Nu, rapportiere nur weiter, armes geschorenes Herzenslamm, solange dir der Atem nicht ausgeht,« sagte die Wackerhahnsche. »Daß Serenissimus für Ihr Geld und Landeseinkünfte allerhand nötige Verwendung haben, zumal jetzo auf Schloß Blankenburg – wissen wir.«

Und der Blumenmaler erzählte weiter; freilich mit kümmerlichem Atem und mit keuchender Brust. –

Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer. –

Ei ja wohl können wir auf unseres Herrn Gottes Wunderwagen arg zusammengerüttelt und -geschüttelt werden! Wovon sollte denn aber auch Salomon Geßner singen und Ehrn Göttlieb Cober predigen, wenn dem nicht so wäre zu unserem Besten?

»In den Solling bin ich gelaufen aus der lieben Frau Mutter Überfall in den Nüssen –«

»Sie waren wohl noch nicht ganz reif,« murmelte die Wackerhahnsche.

»Und in Dassel hat mich der hannoversche Werber gefaßt,« ächzte Pold Wille. »Es war ein zierlicher, feiner Herr, der mich im Walde ansprach um den rechten Weg nach dem Ort, eben als ich umkehren wollte nach Fürstenberg. Da sind wir in Diskurs gekommen, wie ich gedachte, nur auf ein hundert oder tausend Schritt weiter, der Höflichkeit halben. O du barmherziger Gott, welch ein weiter Marsch ins Elend ist daraus geworden! [54] Er war ja auch seines Mädchens wegen in die weite Welt gelaufen, der falsche Kujon! Ein reicher Kaufmannssohn aus Hamburg war er, der sein Sacktuch zog und sich die Tränen wischte und sein Herz in die Hand nahm und es mir hinreichte, als seinem Freund und Bruder – seines Mädchens wegen! Ihm seine Eltern haben nicht gewollt, wie bei uns, Immeke, deine Mutter nicht; und so haben wir Leidensbrüderschaft machen müssen bei Neuhaus unterm hinteren Mädchenberge, wo die Holzminde mitten im Ort die Grenze macht zwischen uns und dem Hannoverschen. Wie ein Blut- und Feuerstrich geht der Bach nun durch mein Leben! Was half es mir links von der Holzminde, daß ich schrie, er lüge es, daß ich rechts von ihr nicht dir, Hannchen, sondern aber dem König von England und Kurfürsten von Hannover Treue bis in den Tod geschworen habe? Sie warfen mich wie ein gebunden Kalb zu drei oder vier von der Landstraße aufgegriffenen Strolchen auf einen Leiterwagen. ›Bringt den Deserteur König Georgs zur Räson,‹ schrie lachend der feine Hamburger Kaufmannssohn den schon betrunken gemachten jubilierenden Lumpen zu. ›Wir nehmen zur Fortun' und Glorie nur mit, wer freiwillig geht. Sauft ihm zu! Was willst du mit deiner Amour, Kamerad, für dein ein Mädchen? Auf jedem Lagerplatz kannst du dir bald ein Dutzend auf der Trommel antrauen lassen!‹ – Am Silberborn warfen sie uns noch einen Galgendieb aufs Gefährt, dem noch am linken Fuß der unabgefeilte Schellenring hing, und so ist's weiter gegangen durch den Wald mit meinem Jammer und der anderen Gefluch, Lachen und Jauchzen: Vivat Georgius! bis nach Dassel. Die Dragoner des feinen Hamburgers immer neben den Rädern.«

»Sie brauen ein wohlberüchtigt Bier in Dassel,« sagte die Wackerhahnsche. »Hund nennen sie's im Lande herum. Hat Er den Dasselschen Hund auch kennen gelernt, Musjeh Wille?«

Den armen Pold überkam bei dieser Frage ein heftiges [55] Schütteln in Frost und Hitze durch den ganzen Körper, doch wohl weniger aus Schauder vor dem Dasselschen Hund, als überhaupt im Angedenken an jene Nacht im Dasselschen Ratskeller – die heiße Augustnacht, mit gefesselten Händen am überheizten Ofen, mit der hineingezwungenen Heringsjauche im Leibe und den schäumenden Krügen, nicht Dasselschen Hundes, sondern richtigen Einbeckers rundum und unter der Nase, vor den geborstenen, lechzenden Lippen, bis zu dem geröchelten Kreischen: Vivat Georgius Rex! ich gelobe und schwöre – und so weiter!

»Das ist freilich ein anderes Getränke, das Einbecker,« grinste die Wackerhahnsche. »Doktor Luther soll in Worms für einen Trunk davon sich recht schön beim Herzog Erich bedankt haben. An den kam die gute Gabe freilich auch in anderer Weise, als an dich armen Malergesellen. Na, tröste dich, mein Söhnchen, der Scheiterhaufen, der dem Doktor nur drohte, den hattest du schon in helllichten Flammen im Bauche. Ich bin öfters selber dabei gewesen und weiß, daß du der erste nicht bist, den der höllische Durst zum Eid und Meineid trieb.«

»Meineid?« schrie der Fahnenflüchtige vom Kloster Zeven, sich auf seinem Schmerzenslager aufbäumend. »Was redet Sie von Meineid, Frau? Habe ich die Konvention vom achten September abgeschlossen? Auseinander sollten wir gehen, wie wir halb verhungert, in Lumpen, das Fieber in den Knochen, im Dreck und in der Heide lagen; zusammengetriebenes Schlachtvieh: Hessen, Braunschweiger, Gothaer, Bückeburger –«

»Jawohl, aber ihr Hannoverschen solltet beieinander bleiben bei Stade! Das war ausgemacht durch den dänischen Grafen, den Lynar, der dem Cumberland in seinem Elend mit Feder und Dinte zu Hilfe kam und das saubere Stück Schreiberkunst zu Papier brachte. Lehre Er mich die Welthistorie kennen, Monsieur – wollt' ich sagen, Musketier Wille! Und zum Wahrzeichen, daß ich recht habe, sage ich Ihm noch, daß die Haufen in ihrem Notstall [56] ja noch in Stade beisammen liegen und auf bessere Zeiten warten. Was abgebröckelt ist, wie Er, Monsieur Wille, das hat das eben mit seinem Gewissen auszumachen und mit dem Profoß, der zuerst die Hand Ihm an den Kragen legt.«

»Wie weit reicht bei Ihr ein Eid, den einem die Heringsjauche und der heiße Ofen im August abgezwungen haben, Wackerhahnsche? Und wenn der heilige Geist selber dem dänischen Grafen seine Vermittelung zwischen dem Franzmann und dem Englischmann eingegeben hatte, so durfte jeder von uns, wie wir uns nannten, seine Eingebung von oben haben. Braunschweiger, Hannoveraner, Hessen, Sachsen-Gothaer – wem gehörten wir denn an auf der Retirade von Hastenbeck bis Kloster Zeven? Dem römischen Kaiser? Dem Deutschen Reiche? Dem König von England? Dem König Fritz oder – wie ich, da ich den Namen der Herrschaften der anderen Kameraden nicht weiß, meinem aufgezwungenen Herrn Kriegsherrn, dem Kurfürsten von Hannover? Der Haufen ist wohl in Schmach und Schande noch beisammen bei Stade, aber was abgebröckelt ist, hat nur in Wut, Elend und Jammer sein Recht genommen. Sie wissen es heute selber noch nicht, der König von Frankreich und der König von England, wem von ihnen das größere Recht an uns bei Kloster Zeven zusteht. Laß sie es jetzt unter sich ausmachen – mein lieber Landesherr nennt sich Karl, Herzog von Braunschweig und Lüneburg. Nach Fürstenberg hat er mich als seinen Maler gesetzt. Wenn ich Einem Herrn fahnenflüchtig geworden bin, so ist er das. Ach Hannchen, wenn er doch um uns wüßte, und wie unsere Frau Mutter mich in den Wald und ins Feld gejagt hat! Da würde er auch wohl nur sagen: ›Ein andermal sei Er klüger, Wille, und behalte Er seine fünf Sinne beieinander, auch vor der Frau Mutter, der Frau Pastorin. Da Ihn der Krieg, den wir jetzt führen, freilich nichts anging, so soll Er von mir aus Pardon haben.‹«

Die Wackerhahnsche zuckte die Achseln und schüttelte den [57] Kopf; aber Mamsellchen Holtnicker umklammerte von neuem und fester den Schatz:

»Ganz recht hast du, Pold! Poldchen! Dem guten Herzog Karl und mir, mir gehörst du allein an, und deinen Meineid nehme ich auf mich am jüngsten Gericht, und der liebe Gott wird ihn mir und dir schon vergeben. O Pold, mein liebster Pold, daß du wieder da bist, daß ich dich wieder habe – aber, o Mutter Wackerhahn, so sehe Sie doch, sehe Sie doch; er ist ja nicht bei sich! er stirbt, er stirbt mir in den Händen!«

Er starb wohl nicht; aber mit den Kräften, die er von seinem Zuge ins Heldentum und von Kloster Zeven noch mitgebracht hatte, war's zu Ende. Es war ihm schwarz vor den Augen geworden und er hatte sich in den Armen seines Mädchens zurückgelegt, und es konnte ihm in seiner Bewußtlosigkeit auch nur so sanft als möglich betten auf dem Strohsack und den Hirsch-, Reh- und Fuchsfellen der weiland Sollingsförsterin Wackerhahn, ihr zur ferneren besten Verpflegung und Sorge weiter anbefohlen. –

Die alte Frau hatte eben nach jeder Weltgegend hin durch die Schießscharten, die Auslugslöcher ihrer wunderlichen Behausung, ins Wetter gesehen. Jetzt auf den Aufschrei Immekes hin wendete sie sich wieder, beugte sich über ihren Gast von Kloster Zeven, griff ihm nach der Stirn, nach dem Pulse, legte ihm die Hand auf das Herz und sagte zu sich:

»Ans Leben geht's noch nicht, aber – wer weiß, ob's nicht besser für die Unglückskreatur wäre, wenn die Meute, die ihm von überall her auf den Hacken ist, sie jetzt schon als tot verbellen dürfte? Hier im Turm geht er doch ein. Was soll daraus werden? Zu viele Fänge greifen von allen Seiten her nach ihm.«

Zu dem zitternden, angstkeuchenden Kinde sprach sie, so weich und tröstend als möglich:

»Nein, nein, Mädchen, ans Leben geht's ihm noch nicht, und [58] was ich dazu tun kann, ihn dir ins Ehebett zu schaffen, wird getan. Wenn ich aber außer dir nur noch einen Menschen wüßte, den ich um seinen Rat angehen könnte! Soll ich deinem Pflegevater zu allen seinen anderen Ängsten auch noch diese aufladen, mit seiner königlich französischen Einquartierung im Hause? Und es wird immer mehr Tag, Jungfer Holtnicker! Da guck, wie es in den Nebel hineinreißt! Deine Pastorsche? Wie würde die mit dem linken Fuße zuerst aus dem Bett gestiegen sein, wenn sie dich nicht zu Hause fände und sie käme, um dich hier im Turm der Wackerhahnschen zu suchen, wie damals in den Nußbüschen unter Schloß Fürstenberg? Es hilft nichts! es hilft nichts – Leiter ab, Mädchen, und nach Hause, so rasch dich deine Beine tragen wollen! Guck, da guckt er wieder auf! Ja, herze und küsse ihn und dann laß ihn mir und laß mich meinen grauen Kopf über euch Unglückswürmer allein zwischen die Fäuste nehmen. Courage, Boffzener Immeken! Vielleicht ist's jetzt gar noch ein Segen, daß du nicht bloß von des alten Papen und unseres Herrgotts Wunderwagen, sondern wahrscheinlich auch von einem Zigeuner- und Marketenderwagen heruntergefallen und den guten Leuten im Pfarrhause vor die Füße gerollt bist.«

Die letzten Worte murmelte sie so leise, daß Hannchen Holtnicker nichts von ihnen verstand.

9. Kapitel

[59] Neuntes Kapitel.

Der Nebel senkte sich freilich ziemlich rasch, und das versprach einen schönen Tag. Was half das aber der armen Immeke auf ihrem Heimwege? Was für ein Tag stand ihr bevor, und wenn das Wetter auch noch so gut wurde?

Sie kam heim mit bebendem Herzen, nassen Augen und nassen Strümpfen und Röcken, und in der Beziehung war ihr das Glück günstig: der Herr Vater lag noch im tiefen Morgenschlummer, und die Frau Mutter setzte sich eben erst aufrecht an seiner Seite im warmen Bett und starrte mit ihrer allmorgendlichen Angst, sich verschlafen zu haben, um sich herum. Danach hatte es wohl noch zehn Minuten Zeit, ehe sie tagfertig zu Beinen war und ihr Ruf: »Hannchen! ... Dörthe!« durch das Haus erging und auch sie den Kampf ums Dasein im Namen Gottes, aber im völligen Verlaß aufs eigene richtige Verständnis von den Dingen von frischem aufnahm.

»Was soll ich tun? O liebster Gott im Himmel, was sollen wir anfangen?«

Es war garnicht nötig, daß der Kapitän im Dienste Seiner französischen Majestät diese Worte aus der geängsteten Kinderseele vernahm. Wie schlimm es mit seinem alten Leichnam sonsten auch bestellt sein mochte: seine guten Augen hatte er noch, und war der einzige im Pfarrhaus, der das »Immli« bei seinem Einschlupfen nach seinem Schreckenswege sah und, um ihr den höchsten Schrecken zu ersparen, nicht von ihm gesehen wurde.

Das wäre freilich wohl das Schlimmste gewesen, in solcher [60] Ratlosigkeit und mit dieser Last auf dem kleinen Herzen den Feind im Haus zuerst zu Gesichte zu bekommen! –

Die Unruhe und das Ziehen und Reißen in den Gliedern hatten den alten Herrn nicht mehr auf seinem unfreiwilligen Gastbett geduldet. In seinen abgetragenen Kriegsmantel, seinen Rockelor, gewickelt, auf sein spanisch Rohr gestützt, hatte er sich mühselig bis zu dem Fenster geschleppt und in das Nebelgrau des neuen Tages mit Kopfschütteln und schwerem Seufzer hineingeschaut, der alte abgetragene Kriegsmann. Die zwei von Gottes Wunderwagen in das Boffzener Pfarrhaus Abgeworfenen, das junge Kind und der Greis – wie wenig wußten sie in dieser Stunde davon, wie sehr sie sich zum Trost bestellt waren für die nächste Zeit im angstvollen Dasein und den unruhigen Zeitläuften!

»Was ist dem Kindle arrivieret?« fragte Herr Balthasar Uttenberger, und es war gar nicht notwendig, daß er zu ihrem Händeringen und der Schürze vor den Augen auch noch ihre Worte von seinem Fenster aus vernahm:

»Was fangen wir an? Was soll ich tun? Wer wird uns helfen, liebster Gott im Himmel?«

Sein mitleidig Herz und seine väterliche Teilnahme an der Kleinen schufen es auch ohne das, daß das arme Mädchen den »Feind im Hause« nun doch auf dem Hausflur ihrer wartend fand mit der Frage:

»Mon dieu, mademoiselle, was haben denn mein lieb Immli?«

Und wie der Pastor von Boffzen und der Kabinettprediger Cober gegen die Lügen gepredigt haben mochten: das Bienchen von Boffzen log doch, log wie – Salomon Geßner, wenn er bei beginnendem Siebenjährigen Krieg von der Welt als von Arkadien und von seinen Zürcher Bauern als unschuldigen arkadischen Schäfern und Schäferinnen sang.

Ob sie ihre verweinten Augen, zerzausten Haare und nassen [61] Kleider auf den Iltis oder den Marder in ihrem Hühnerstall schob, ist wohl gleichgültig. Stinkratz, Edel- und Steinmarder hatten dem Boffzener Pfarrhofe gegenüber so viele ungesühnte Schandtaten auf dem Gewissen, daß es wahrlich nicht auf das ankam, was ihnen jetzt ungerechtfertigterweise auf den Pelz geschoben wurde –

»Wenn nur der Herr Hauptmann der Frau Mutter nicht davon sagen wollten!« ...

Kopfschüttelnd ließ der Herr Hauptmann das Kind an sich vorbei, hinein ins Haus, und stieg wieder treppauf zu seinem eigenen trübseligen Quartier, mit der festen Gewißheit, daß er vor Abend in Erfahrung gebracht haben werde, was dem Liebling passieret sei und ob er seinerseits, wie schon öfter, zum Guten reden, raten und helfen könne. –

Aber wohin sollte das Kind mit seinem überschweren ratlosen Herzen? In die Küche zu der Frau Mutter mit dem Stab Wehe und dem Kochlöffel in der arbeitseligen braven Faust, dem Haß gegen Schloß Fürstenberg in ihrem Herzen und dem Pastor von Derenthal in ihrem Sinn?

Sie vernahm die gute Frau schon in heftigem Verkehr mit Knecht Börries, und Dörthes Stimme klang allbereits auch wieder wie dem Weinen nahe in das Rasseln von Topf, Kessel und Kelle des Frühhaushaltes am friedlichen Herd hinein: die Küchendecke wäre ja niedergebrochen, wenn Immeke da den Versuch gemacht hätte, der Mutter mit ihrem Jammer, ihrer Not vom Landwehrturm her um den Hals oder vor die Kniee zu fallen! und – eine halbe Sekunde später, wenn so was nach der Zeit zu messen wäre, hatte »der liebe Gott ihr schon zu dem einzigen, was übrig war«, geholfen: sie kniete am Bettrande des Vaters und hielt den aus vollständigster Vergessenheit seines Erbendaseins Aufgerissenen in den Armen:

»Vater, Vater, helfe Er uns! Helfe Er uns!«

Aus einem Traum, der ihn eben in die Mitte der Offenbarung [62] Sankt Johannis, auf den Marktplatz des himmlischen Jerusalems, vor den Thron des Lammes geführt hätte, aufgeschreckt zu werden, wäre behaglicher gewesen für den guten Alten, als so auf solche Weise aus der vollkommensten, süßesten Bewußtlosigkeit in das Bewußtsein des jetzt in Wirklichkeit vorhandenen Tages hineingerissen zu werden. Nur selten in seinem Leben hatte der Pastor von Boffzen verstörter um sich gesehen, als wie jetzo in der Umarmung, unter den Küssen und Tränen seines Pflegetöchterchens. So hatte er den Stern Wermut noch nicht auf sein eigen Dach niederfallen, die vier grausen Reitersmänner auf sein eigen Pfarrdorf ansprengen sehen, als wie jetzt, bei nach und nach kommender Besinnung unter dem Geschluchze des Kindes:

»Im Landwehrturm bei der Wackerhahnschen liegt er im Fieber. Von dem Kloster, dem Ort, von dem auch der Herr Vater und der Herr Hauptmann die letzte Zeit so oft und so schlecht geredet haben, hat er sich retten wollen, und – nun sind sie ihm alle auf den Hacken: alle Franzosen, alle Hannoveraner, alle Preußen und alle Braunschweigischen auch! O Gott, wir Braunschweigischen erst recht! Alle wollen sie ihn mir hängen oder zwischen die Spitzruten schicken, wenn sie ihn in seiner engelländischen Lumpenmontur fassen! O du barmherziger Gott im Himmel, und bei mir – bei uns hat er nun seine letzte Sicherheit gesucht; – o du himmlischer Vater, Herr Vater, was soll aus uns, aus ihm und mir werden, wenn Er keinen Rat für uns weiß, wenn Er uns nicht helfen will in unserer allerhöchsten Not?« ...

Daß der geistliche Herr in seinem Nachtkamisol, aufrecht im Bett und in seines Kindes Armen sitzend, nicht sofort begriff, um was es sich hier eigentlich handle, war wohl nicht zum Verwundern. Hätte das arme Geschöpfchen, sein Immeken, Stunden gebraucht, um für alles, was es auf dem Herzen hatte, Worte zu finden, so brauchte der Pastor wahrlich eine geraume Zeit, [63] um sich notdürftig das zurecht zu legen, was er da vernahm und wofür er jetzt eintreten sollte, als letzte Hilfe, zu Schutz und zu Trutz. Ja, auch zu Trutz und zwar in nächster Leibes- und Seelennähe. Dies letztere war das erste, was ihm ganz klar wurde, und so war es denn auch kein Wunder, daß ein Stündlein später, als sich die Hausgenossenschaft beim Warmbier zusammenfand und das Feuer im Ofen prasselte wie das Behagen selber, doch kein Behagen unter den Leuten war und trotz des Morgenpsalms und Gebetes nicht die geringste Erhebung über Lebensnot und Erdendrangsal. Sowohl sein Eheweib als auch Hauptmann Balthasar Uttenberger hatten wohl Grund, den alten Herrn einige Male mit Verwunderung und Besorgnis anzusehen. Daß sie sich nach sei nem Befinden erkundigten, war nicht eine bloße Höflichkeitsformula. Daß er für gütige Nachfrage dankte und erwiderte, ihm sei ganz wohl und alles in ihm in bester Ordnung, wird ihm am jüngsten Tage hoffentlich nicht als Todsünde zugerechnet werden. Gelogen war's aber. –

Von der Immeke Aussehen schweigen wir. Glücklicherweise war die Frau Pastorin mit ihren Gedanken so sehr in ihrem Schweinestall und bei der von Börries ihr verkündeten neuen Einquartierung ausgehungerter, gefräßiger fremder Völker, daß sie nachher selber sich die heftigsten Vorwürfe darob machte: grade diesmal »so wenig Augen für das Kind gehabt zu haben«.

»Hättest du für mich später wohl einen Augenblick Zeit, liebe Johanna?« fragte mit verquollener Stimme nach gesprochenem Dankgebet der Pastor von Boffzen.

Und:

»Kannst du es mir nicht gleich hier sagen, was du willst, Holtnicker?« seufzte die Pastorin. »Mir brennt das Leben wie Feuer auf den Nägeln – der Herr Kapitän gehört nun nach und nach doch ganz wie zu uns.«

»Ich möchte doch lieber einen Augenblick mit dir in meiner [64] Studierstube reden, Liebste. Der Herr Hauptmann verzeihen wohl gütigst – es ist nicht von Belang für Ihn,« erwiderte der alte Herr wie auch im Fieber mit schwerer Zunge und mit der zitternden Hand nach der Kehle greifend, als fühle er den Strick um sie, gleichwie der arme Pold Wille, der Blumenmaler und Deserteur von Kloster Zeven im Turme der Wackerhahnschen. –

10. Kapitel

[65] Zehntes Kapitel.

Und nun, bis die Frau Pastorin Zeit fand für den Gatten, lag es, dem kaltsonnigen Spätherbsttage zum Trotz, wie eine heiße, schwüle Gewitterwolke über dem Boffzener Pfarrhause. Und als die arme liebe Frau endlich Zeit gefunden hatte, und das Gewitter mit Donnern und Krachen hätte losbrechen müssen, da geschah etwas meteorologisch gar Seltsames. Das Unwetter brach freilich los. Es blitzte sehr, es regnete heftig, auch kam etlicher Hagel nieder; aber – es kam kein Donner! ...

Es ward nur ein Grummeln und Brummeln innerhalb der vier Wände der Studierstube Ehrn Gottlieb Holtnickers: die Frau Pfarrerin explodierte nicht, sie sank nur zusammen unter der Wucht dessen, was sie vernahm, und im Stuhl des Gatten mehr liegend als sitzend, schlug sie nur von Zeit zu Zeit, dann mit der Faust, dann mit der flachen Hand auf den Schreibtisch neben ihr zu ihrer Gegenrede. Die Weltlage im Hause, im Dorfe und ums Dorf her war doch auch ihr zu gefahrdrohend, als daß selbst sie ihrer Meinung und Stimmung mit allen Stimmmitteln den nötigen Nachdruck zu geben gewagt hätte.

»Daß ich das Mädchen, das Kind lieb habe, als wär's mein eigenes, mir und dir aus Gottes heiligem Ehebund geschenktes, weißt du, Holtnicker,« ächzte Frau Johanna, »aber wie ich zu dieser Geschichte mit dem Topf- und Tassenmaler, die es uns eingerührt hat, stehe, weißt du auch. Nun hast du es! nun haben wir es! Und jetzt handelt es sich noch um mehr, als bloß den brotlosen Pinseler von da oben nicht als Fuchs oder [66] Iltis in meinen Hühnerstall zu lassen. Der Herr Hauptmann ist ja recht gut und gnädig; aber den Franzosen haben wir doch in ihm im Hause. Eure Konvention von Kloster Zeven hin und her: das französische Kommando haben wir immer noch in Höxter. Das laß nun Wind kriegen von dem Landstreicher im Landwehrturm! Und der Herr König von England, dem der dumme Junge geschworen hat! und unsere eingeborene Durchlaucht, unser Herzog Karl, dessen Untertan er immer noch in seiner Soldatenjacke ist! und das alles über mein armes christliches Pfarrhaus hier in Boffzen und meinen armen lieben Sohn Emanuel, meinen Pastor in Derenthal! O das böse, böse Kind mit seiner albernen Amour! Ist es nicht, als ob es uns die jetzige ganze Welthistorie und alle kriegführenden Potentaten dazu über den Hals hetze? O Gott, o Gott, wenn ich doch nur sagen könnte: jetzt siehe du mit deiner Wackerhahnschen zu, Holtnicker, wie ihr mit dem Elendskarren unter Dach kommt! Das ist nun dein Gottes Wunderwagen, der mir dieses in mein ruhiges Alter hinein vor die Tür gekarrt hat!«

»Weib!« rief aber jetzt Ehrn Gottlieb Holtnicker, sich, mit den Händen auf den Lehnen, aus seinem Stuhle aufrichtend und das Käppchen vom kahlen Schädel hebend. »Arm Weib, sage mir, was du willst, aber des Herrn Wege wolle nicht durch leer Geschwätz durchkreuzen – auch in des Lebens höchster Angst und Not nicht! Jawohl, ich hörte dir zu aus eigenem notvollen Herzen und gab dir unrecht und recht nach Menschenart; doch nun hat dir der barmherzige Gott grade das rechte Wort auf die Zunge gelegt: hör, sie rufen nach dir unten im Hause; die Straßen der Erde sind verfahren, und freilich gehen die Räder durch Blut und Tränen, doch mich laß in den Geleisen des Wagens dessen, der alles wohl macht.«

»Holtnicker!« ...

Es ist durch die Feder nicht auszudrücken, was von der guten Seele, der Boffzener Pfarrerin, in das Wort zusammengepreßt [67] wurde. Bitterste Reue und Selbstvorwürfe zu dem letzten Rest festester Überzeugung, daß sie doch recht habe. Daß Ehrn Gottlieb zu gut für die Welt sei, das wußte sie schon lange; aber die Welt auch viel zu schlecht für sie, die Pastorin Holtnicker, geborene Störenfreden, das wußte sie noch viel länger. Daß sie, die Frau Johanne, dem Ehegatten nun sofort um den Hals, oder gar vor die Kniee falle, konnte man nicht von ihr verlangen. So nahe war der jüngste Tag doch trotz allem noch nicht!

»So sollst du doch nicht reden zu einer, die sich, wie ich, keinen Rat mehr weiß!« schluchzte sie. »O du liebster Himmel, so von seinem eigenen Manne zu einem Pontius Pilatus, der sich zu seiner Schlechtigkeit die Hände wäscht, gemacht zu werden! Was will denn Dörthe da unten im Hause? ... Holtnicker, Holtnicker, auf den unchristlichen Schrecken, den du mir eben durch dein Wort eingejagt hast, sage ich nichts weiter als: denn siehe du zu, wie du mit dem allbarmherzigen Gott zurechte kommst und uns aus dieser Schreckenszeit heraushilfst!« ...

Mit der Schürze vor den Augen wandte sie sich zur Tür und machte sie diesmal hinter sich zu, als verlasse sie auf den Zehen eine Krankenstube. Es war aber auch fast so: Ehrn Gottlieb Holtnicker saß an seinem Tisch vor Bibel, Konkordanz, Gesangbuch und dem Kabinettprediger Cober wie ein Schlagflüssiger, der den dritten Anfall kommen fühlt. Wir aber könnten jetzo alle Pastoren, Superintendenten, Konsistorial- und Kirchenräte der ganzen Welt auf- und zusammenrufen und ihnen die Frage stellen, woher nun der Trost und die Hülfe am ersten noch zu erwarten sei: sie würden's nicht erraten.

Nicht von Zion kam er, nicht aus Sachsen-Gotha, nicht aus Altenburg kam er: aus Zürich kam er und klopfte an – nicht in Priesterperücke, schwarzem Chorrock, Beffchen oder Halskrause, sondern im rosenfarbenen Schäfergewand, den bebänderten Hirtenstab in der Hand. Nicht Gottlieb Cober hieß er – Salomon Geßner nannte er sich, und wer ihn an der Hand führte und in [68] die Stube brachte, das war der alte Reisläufer, Hauptmann Balthasar Uttenberger vom Regiment Lochmann, der seine Bekanntschaft auf dem Schlachtfelde von Hastenbeck gemacht hatte. – –

O Daphnis und Chloe! O Pold Wille und Immeke von Boffzen! ... Laß sie kopfschüttelnd grinsen, die Achseln zucken, die Nasen rümpfen über deine Porzellanpuppen, Salomon Geßner, wenn du ihnen heute »antiquarisch« in die Hände fällst. Sie nehmen es dir nicht, daß du einmal wie ein schöner Regenbogen über der verstürmten Welt gestanden hast! sie müssen es auch auf diesem, in der stürmischen Welt von heute verwehenden Blatt dir lassen, daß zu deiner Zeit du es gewesen bist, der durch den Feind im Lande das erste beruhigende Wort jetzt in des Tages Verwirrung, Angst und Ratlosigkeit hineinsprach! –

Der Pastor fuhr auf und herum vor der Hand, die sich auf seine Schulter legte. Er hatte über dem geistlichen Rüstzeug auf seinem Studiertisch den Kopf und mit ihm die Ohren in beide Hände genommen und es also vollständig überhört, daß jemand erst bescheidentlich und dann laut und doch nutzlos an seiner Tür vor dem Eintreten gepocht habe.

Er hatte sie nicht eingetreten, die Tür, der Schweizerhauptmann Uttenberger; er war so leise gekommen, wie die Frau Pastorin gegangen war. Daß er seinem geistlichen Hospes die Hand nur auf die Schulter gelegt, ihn nicht am Kragen genommen hatte, haben wir schon bemerkt. Nun sagte er:

»Herr Pfarrer, mit Exküse, wenn ich stör'; aber ich komme nur auf ein kurzes Wort. Ich komme, Euch, Herr Pfarrer, zu avertieren, daß, wenn ich dem König von Frankreich geschworen habe, ich, bym Eid, ihm nicht geschworen habe, ihm die Konvention von Kloster Zeven unterm Dach meines besten Wohltäters und Erretters zurechtrücken zu helfen. Mit unserem Immli hab' ich schon darob gered't – es liegt in meiner Stuben mit dem Kopf auf dem Tisch wie Ihr, Herr Pfarrer, eben hier. Nun richtet [69] auch Ihr ihm das Kopfli auf und redet mit Eurer guten Frauen Vernunft zur Sache. Jawohl, verwundert Euch nicht! Da müßte der Balzer Uttenberger kein alter Feldsoldat sein, wenn er nicht auch zwischen Leben und Sterben die Augen und Ohren offen behielte. He Daphnis und Chloe, eh Mirtil und Daphne, der Feind im Pfarrhause zu Boffzen weiß Bescheid – seit lange Bescheid. Sprechet Euer gut Weibli zur Ruhe, Herr Pfarrer: der Hauptmann Uttenberger hat dem König Louis in Paris nit geschworen, dem König George von England seinen Deserteur par les verges zu jagen, zwischen die Spitzruten zu liefern; aber so rat' ich freilich: sorget, Herre, daß Muetti nicht zu laut Alarm im Dorf und nach Höxter gibt. Ein Sergeant mit einem Kommando von sechs Mann und den nötigen Stricken und Handschellen ist bald über die Weserbrucken geschickt. Ich für meine armi Seel agier' den Utüfel nit im Pfarrhaus zu Boffzen; aber andere könnten es tun wollen; also holet in der Stille meinem lieben, lieben Immli seinen Blümlismaler meiner Kameradin aus dem Königreich Neapolis im Turm auf der Allermannswiese ab. Es ist bei Fieber und jetziger Jahreszeit kein Quartier für ihn. Litt's mein armselig Geripp und mein eigen Fieber, so ginge ich gern mit Euch, Herrli, auf den Barmherzigkeitsweg und hülfe dazu, Daphnis und Chloe ins Trockene aus der Sündflut zu bringen. Nun nehmt das brave Knechtli, den Börries, zur Hülfe, nachdem Ihr ihm, wegen seines Maulwerkes, scharf ins Gewissen geredet habt. Holet dreist uns den Bub unter Euer christlich barmherzig Dach, Herr Pfarrer. Mich lasset nur mit Wache stehen vor dem Haus. Der alte Schweizer Söldner hat vor Schlimmern Wache gehalten, und vor größerm Unflat als einer Fahnenflucht von Kloster Zeven her das Sponton aufstoßen müssen, wenn der Tüfel – wollt' ich sagen die allerhöchste Herrschaft achtspännig in das Schloßportal fuhr.«

Das Grinsen auf dem Ledergesicht wäre wohl wert gewesen, von dem besten »Figurenmaler« Serenissimi Herzogs Karl zu [70] Fürstenberg für ewige Zeiten auf – Porzellan gebracht zu werden; aber für Ehrn Gottlieb Holtnicker hielt Gottes Wunderwagen mal wieder vor seiner Haustür an, und ein schöner Engel stieg ab und kam herein und brachte ihm Balsam aus Gilead. Seit seinen Bräutigamstagen hatte Ehrn Gottlieb noch nicht wieder in ein so holdselig Lächeln gesehen, wie jetzt in das auf der verwerterten Reisläufervisage des Hauptmanns Balthasar Uttenberger aus Salomon Geßners Arkadien – nein, aus dem Kanton Zürich. –

Es war Knecht Börries, der am Abend dieses Tages bei »stichdunkler Nacht« brummte:

»Die Leiter herunter hätten wir ihn, Wackerhahnsche. Nur 'nen Augenblick zum Verpusten, Herr Pastor; der Profoß, der ihn wieder aufwärts steigen läßt, hat's leichter mit ihm. Der kann ihm mit 'nem Kumplement den Vortritt lassen. Na, nu wieder huckepack! Laufe Sie voran, Frau Förstern, und gucke Sie nach, ob der Weg nach dem Dorfe zu reine ist. Ach, lieber Herr Pastor, so gebe Er sich doch nur zu! und wenn ich's auch bloß unserer Mamsell versprochen hätte, was noch von Leben an ihm ist, bringe ich ihr nach Hause« ...

O Salomon Geßner! o Gottlieb Cober! ... O Gottes Wunderwagen – o Daphnis und Chloe! ...

11. Kapitel

[71] Elftes Kapitel.

Da wir mit ganzer Seele dabei gewesen sind, die unglückselige Kreatur, genannt Pold Wille, aus dem Jammer-Feldlager in der Landdrostei Stade, aus den Gräben der Landstraße, aus dem Landwehrturm im Bruckfelde, aus der Pflege der Wackerhahnschen wieder unter ein richtiges Dach und zu »Menschen« zu schaffen: so hatten wir Atem zu schöpfen und den Schweiß von der Stirn zu wischen, wie Knecht Börries, nachdem er seine Elendslast im Pfarrhause zu Boffzen der Frau Pastorin vor den Füßen abgelegt hatte.

»Alle Hagel!« hatte der gute Knecht gesagt; – wir sagen das nicht, bei so viel verstörten Gesichtern rundum und einem so sehr tränenüberströmten drunter: wir sagen nur, daß es uns erst neun Tage vor dem ersten Advent möglich wurde, den Faden dieser Geschichte wieder aufzunehmen.

In was alles haben wir unsere liebe Nase erst stecken müssen, wie haben wir mit kümmerlichen Lämpchen in die »Nacht der Zeiten« hineinleuchten müssen, ehe wir alles, was jetzt dazu gehörte, an der Schnur hatten! Doch nun sind wir so weit, daß keiner auftreten kann und sagen:

»Herr, so ist die Sache nicht gewesen. Die Dinge sind ganz anders gelaufen, und ich bin's, der noch an besseren Quellen gesessen hat, sowohl was die Konvention von Kloster Zeven, wie auch was die Pastorin Holtnicker, den Pastor Störenfreden, den Blumenmaler von Schloß Fürstenberg und das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten anbetrifft. Von den anderen gar nicht zu reden.« – [72] Der römische Kaiser Carolus Magnus hat dem November nicht ohne Grund als Frankenkönig den deutschen Namen Wind- und Reifmond gegeben. Es windete stark in dem November des Jahres Siebzehnhundertsiebenundfünfzig, vom Reifen ganz abgesehen. Ein Todkranker war zu jetziger Jahreszeit, was das Gesundwerden anbetraf, wahrlich besser, trotz allem, unter dem Dach des Pastorhauses von Boffzen, als in dem Wartturm der Wackerhahnschen aufgehoben, wie Hauptmann Uttenberger aus eigener Erfahrung richtig bemerkt hatte. Und wer vor allen die festeste Überzeugung davon hatte, das war die Mutter des Hauses, so wider den Strich ihrem lieben, barmherzigen Herzen diese jetzige Krankenpflege sich aufdrängen mochte! –

Auch in der Nacht vor dem Morgen, von welchem an wir weiter erzählen, hatte Boreas arg sein Spiel im Wesertal getrieben; doch von Tagesanbruch an war er still geworden und hatte dem ersten wirklichen Winterschnee des Jahres das Reich gelassen. Der kam nun herunter in großen, reinlichen, weißen Flocken und legte sich auf ganz Niedersachsen; er ekelte sich nicht. Was hatte er da alles zuzudecken, was nicht erfreulich anzusehen war, auch wohl noch zum Himmel stank: Blutflecken, Brandstätten, vergessene Menschen- und Tierleichen an den Landstraßen, in Hohlwegen im Wald, Busch und in der Heide! Der Herr Herzog von Richelieu, wenn er in späteren, kommenden Wintern in seinem Pavillon d'Hanovre zu Paris die Füße in den Schuhen mit den roten Hacken behaglich gegen den Kamin ausstreckte, durfte sie wohl mit schmunzelndem Nachdenken betrachten. Talons rouges – serres rouges! Rote Fänge haben ja auch wohl die Geier und sonstigen Aasvögel, wenn sie sich überfressen, beutefroh vom Kadaver erhoben haben und zum Verdauen im Horst niedersitzen? – Halten wir uns und wenn auch nur für einen Augenblick an den Schein des Friedens und der Stille, den der liebe unschuldige Schnee der Welt gibt! Wo blieben wir mit unseren Ansprüchen auf Erden an die Erde, wenn es uns [73] nicht allgemach beigebracht worden wäre, uns hienieden an den Schein zu halten und uns mit unseren Ansprüchen auf dauerndes Behagen an etwas über dem Pavillon von Hannover und dem Schnee zu halten? – –

Sie standen im Waschhaus am Waschfaß, das Bosszener Bienchen und Dörthe Krüger, und die Frau Pastorin war auf einem Wege im Dorf, und sie glaubten sich für ein oder zwei gute Stunden in Sicherheit vor ihr, Dörthe und Mamsell Hannchen, und sie taten ihre Arbeit um so eifriger, je weniger sie ihren Zungen Zwang anzutun brauchten, und – wir können nichts Besseres tun, als bis die Frau Mutter wieder nach Hause kommt und nach dem Rechten sieht, ihre Stelle hinter der Tür einzunehmen und auf das zu horchen, wovon die Rede zwischen den zwei Mädchen ist, während draußen der erste Winterschnee niederfällt. –

»So gebe Sie sich doch endlich zu, Jungfer Hannchen,« schluchzte Jungfer Dörthe. »Was hilft es Ihr denn, daß Sie da der Frau Mutter Hemde auch mit Ihren Tränen wäscht? So wahr ich hier dem Herrn Hauptmann sein drittes und letztes (nun gucke nur einer, wie da der Wind durch die Löcher gegangen sein muß!) in Händen habe, Sie kriegt ja Ihren Wunsch und Willen, wenn es noch ein Einsehen vom hohen Himmel her gibt! So tue Sie doch nicht, als ob Sie jetzt schon in die Weser um den Herzensschatz gehen müßte! Aus dem Bett ist er ja seit gestern auf, wenn auch knickebeinig genug; aber Börries sagt, das täte ihm garnichts; wenn man 'nen Menschen nach so was so weit wieder hätte, so käme es bloß noch auf gute Fütterung an und den Doktor brauche man nicht mehr im Stall.«

»O Dörthe!«

»Ja, Mamsell, seine Worte weiß er wohl nicht zu setzen, unser Börries, aber seine Meinung und aus bestem Herzen ist's und meine auch. Tut ihm, und da meine ich unseren Herrn Pold, die Frau Mutter kein Gift in die Suppe und tun sie ihn [74] nicht unter die Spitzruten oder hängen ihn an den Galgen, die Franzosen und unsere, so kann er unserem Herrn Herzog Karl oben in Fürstenberg noch lange was anmalen, sagt mein – sagt Börries. Und Ihr auch, Jungfer Holtnicker, und nicht bloß auf Pötte und Teller und Tassen, sondern um Ihr ganzes liebes junges Leben herum, lauter Lilien, Rosen, Veilchen und Vergißmeinnicht – die Myrte nicht zu vergessen. Da guck, was holt Sie sich da aus dem Büketubben, Mamsellchen, wie ein Zeichen, daß Ihr der liebe Gott zu Ihren Wünschen mit dem Kopfe nickt? Ist das nicht eines von Ihren eigenen? Jetzt braucht Sie ja bloß sich zu denken, es sei Ihr Brauthemd, und wenn Sie dazu Brauttränen in die Seife weinen will, so tue Sie es meinetwegen; aber denke Sie sich auch nur Ihren Bräutigam dazu und nicht der Frau Mutter ihren, den Herrn Pastor in Derenthal, gegen den guten, jungen, geistlichen Herrn ich sonst ja eigentlich gar nichts hätte, denn ein guter Mensch ist er, unser Herr Pastor Störenfreden, und an seiner Schlechtigkeit gegen Sie, Mamsell Hannchen, ist er wohl gar von sich selber aus nicht so schuld, als wie Sie ihm unseres, ich meine Ihres Musche Wille wegen schuld geben muß. Und was ihre Hübschigkeit angeht, nu, da braucht wohl keiner von beiden grade vor den Leuten auf die Leine sich in die Sonne zu hängen! Wie unser junger Malermeister aus dem Felde nach Hause gekommen ist, ist der Unterschied nicht mehr groß, was ihren Staat vor dem Spiegel angeht; doch des Menschen Wille ist eben des Menschen Wille, und Sie, Sie will nun eben nicht unseren jungen geistlichen Herrn Störenfreden, sondern unseren jungen künstlichen Herrn von Schloß Fürstenberg, und so prophezeie ich, daß, wenn unser Herrgott nicht vorher Himmel und Erde und alles untergehen läßt, Sie trotz allem Ihren Willen kriegt, Mamsellchen Holtnicker!«

»Mit meinem Willen nicht!« erklang es hinter der Prophetin. »Kannst du prophezeien, so kann ich es auch und – da hast du das Siegel auf mein Wort, du Gans, du Schnatterliese, du [75] Maulaffe! So also gehen die Mäuler unter euch, wenn man mal auf fünf Minuten den Rücken wendet, um Gottes Barmherzigkeit im Dorf auszuüben? Du bleib bei der Arbeit, Jungfer Trine, Jungfer Naseweis, und du, du, du böses Kind, laß nur dein – dein Brauthemd da in der Seife; es wird wohl noch Zeit haben, bis ich es dir aus dem Schrank hole. Jetzt komm und geh mit; ich will es dir ganz in der Stille sagen, was ich dir zu – zu – sagen habe! Ganz in der Stille und mit – Ruhe!« –

Es war die Frau Pastorin, die plötzlich hinter der Tür her, neben dem Waschfaß und vor den beiden armen aufkreischenden Mädchen stand; und wenn je eine Ohrfeige als gültiges Siegel auf eine Haut gedrückt wurde, so war es die, welche jetzt auf Dörthe Krügers gottlob wetterfeste Wange klatschte. Die Frau Pastorin aber führte ihr zitterndes Töchterlein wirklich ab und sagte ihm ihre Meinung »ganz in der Stille und mit Ruhe« noch einmal. Und als das arme Kind im Hause wieder zum Vorschein kam, da hatte es viel verweintere Augen, als das wackere Dortchen am Waschfaß, denn das hatte wenigstens zu seinen Tränen auch seine Wut auslassen können und zwar nicht in der Stille und mit Ruhe. Wie aber der unschuldige Dritte bei solchen Gelegenheiten oft am meisten zu leiden hat, so wurde es auch jetzt. Kapitän Uttenbergers drittes und letztes Hemde ging dem guten Mädchen in den vor kochendem Grimm bebenden Händen völlig zu Grunde und in Fetzen und verunzierte nachher auf der Leine die diesmalige große Wäsche der Frau Pfarrerin von Boffzen schändlich. Unter keinen Umständen wäre es noch für Salomon Geßner auf der Leine in seinen Idyllen – in Arkadien, im Tal Tempe verwendbar gewesen, aber im Oberstock des Hauses, im Quartier des Hauptmanns lag der doch auf dem Tische aufgeschlagen und nahm wieder sein Recht in der zänkischen, der wilden und blutigen Welt. Es konnte etwas anderes sein, aber es sah aus wie ein Blutfleck vom Felde bei Hastenbeck her, [76] was sich über die Idylle von der »Erfindung der Gärten« hingelegt hatte und bis auf die Blattseite durchgesickert war, von der es melodisch her lispelte:

»Itzt schließt uns der stürmende Wind ins Zimmer, und Wirbelwinde durchwühlen den silbernen Regen der Flocken. Itzt soll mir die Einbildungskraft den Schatz von Bildern öffnen, die sie in dem blumichten Lenz und in dem schwülen Sommer und in dem bunten Herbst sich gesammelt; aus ihnen will ich itzt die schönsten wählen und für dich, schöne Daphne, in Gedichte sie ordnen.«

Und sie saßen beisammen am Fenster ihrer Krankenstube im Oberstock des Hauses über der Studierstube des Pfarrers und seiner Lebensangst, und über der Waschküche und der Angst und dem Gewäsch der armen Weiber im Hause.

Wer?

Die zwei Kriegsmänner, der alte und der junge, der Schweizer Reisläufer und der Deserteur von Kloster Zeven, – zwei Passagiere, abgeladen von Gottes Wunderwagen im Boffzener Pfarrhause, um jetzt in den »silbernen Regen der Flocken« zu starren, über die Erfindung der Gärten in der Welt nachzudenken und – blutrünstig, fieberkrank, zerstoßen und zerschlagen von der Lebensfahrt, wie Schäfer Lykas beim jungen Zürcher Poeten Salomon Geßner zu versuchen, den Schatz von Bildern, den sie im blumichten Lenz, im schwülen Sommer und im bunten Herbst sich gesammelt hatten, zu »ordnen.«

Auf den Arm des Hauptmanns Uttenberger gestützt, hatte der Fahnenflüchtige des Kurfürsten von Hannover, des Königs von England, des Herzogs Karl von Braunschweig und – des Königs Louis von Frankreich zum erstenmal vor drei oder vier Tagen das Bett, das ihm seine ärgste Feindin, Mutter Johanne Holtnicker, mit zusammengebissenen Lippen, aber doch mit tränenden Augen so weich als möglich aufgeschlagen hatte, verlassen. In Kleidern, die sein unbestrittenes Eigentum im bürgerlichen Leben [77] waren, die ihm aber verstohlen bei Nacht von Schloß Fürstenberg herunter Knecht Börries hatte herbeischaffen müssen. Wenn in der bösen Welt der Krieg die Menschen voneinanderreißt, bringt er sie doch auch wieder zueinander. Der Feind war es, der auch jetzt dem armen Pold im Armstuhl Ehrn Gottlieb Holtnickers die Kissen zurechtrückte, der Feind vom Regiment Lochmann war's, der ihm augenblicklich die Hand auf die Schulter legte und brummte:

»Mein armes Buebi! Gott straf' mich, wenn ich weiß, wie ich dazu komme, das Kinderfraueli hier bei dir zu spielen? Peste! wie manchen deiner Art hab' ich ohne Manier mit dem Fuß beiseite geschoben, oder ihm seine winselnd aufgereckte Hand mit dem Kolben oder dem Degen mir aus dem Wege geschlagen, wenn er mir beim Vormarsch ein Hindernis sein wollte! Und nun? ... Ja, ja, mein lieb Immli – dein Immli, dem ich weidwund in den Weg gefallen bin! Was hätt' ich mit dir Lausbueb mehreres als mit tausend anderen deiner Jahre und Umstände, so ich hab' liegen lassen, wie sie lagen, auf dem Feld, an dem Wege, im Spital, ohne dein Immli? Als ein Wunder muß ich es halten, was mir da unser Hergott auf meine alten Tage, nach so viel Märschen in aller Herren Diensten, nach so viel kleinem Gewehr, grobem Geschütz und wüster Arbeit mit der blanken Waffe, nach so viel Blut und Mordbrand in aller Herren Ländern angetan hat in seiner Barmherzigkeit hier unter diesem Dach, bei diesen lieben Leuten, in diesem blutigen Blumensommer bis zu diesem Schnee, der da jetzt herniederkommt und der Welt Tüfelsuflat weiß zudecken will. Da lieget das Büchlein, das ich auch aus dem Blut aufgegriffen hab' – was wußt' ich, der Schweizer Hirtenbub, von den Schäflein und den Lämmlein auf den bunten Wiesen? Was wußt' ich von der Welt Lieblichkeit, bis dein Meitschi, das Immli, sie mir ausdeutete da unten in ihrem Garten? Was hab' ich gewußt, was erfahren vom Kind, vom Weib, vom Mann, – von den Menschen, seit ich weggelaufen [78] bin, siebenzehnjährig als Waisenbub meinem Götti vom Vieh am Uri-Rotstock zum Herzog von Savoyen, dem König von Sardinien und nachher zum römischen Papst? Sie haben da nur Katholische unter der Leibguardia gewollt, in Rom; auch das ist mir recht gewesen, wie es mir jetzt in gesunderen Stunden ein Pläsier geworden ist, zwischen unserer Frau Pfarrere und unserm Immli im Kirchstuhl zu sitzen und den Herrn Pfarrer nach Doktor Luther predigen zu hören, wie daheim unseren geistlichen Herrn nach Doktor Zwingli. Nun bin ich hier ein armer Invalid zwischen den Herrn Doktor Cober, das Immli und da das kleine Büchli gefallen – vom Lebens- und Kriegeswagen abgeworfen: das ist die Sach! Wie gute Kameraden sind wir geworden: das Soldatenkind, abgelegt der Frau Pfarrere und dem Herrn Pfarrer von Gottes Wunderwagen, und der Reisläufer vom Uri-Rotstock, abgeworfen im Sterben vom Bagagewagen des Herrn Marschalls von Estrées durch diesen schwülen Sommer und bunten Herbst Herrn Salomon Geßners! Ja, Bübli, Bübli, hab' ich nicht schon von dir im Fleisch als Liebling und Liebhaber gewußt, ehe du mit dem ersten Schnee des Jahres dich dem Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann präsentiertest als Skelett von Kloster Zeven her aus derOrdre de bataille des Herrn Herzogs von Cumberland? Da schau, da decket der Schnee den Garten und die Bank hinter dem Steintisch, zu welcher sie den Feind im Lande, den Jammermann, den Balzer Uttenberger, unter den Armen gefaßt, geleitet haben, die Frau Pfarrere und dein Immli, und ihn mit einem Kissen im Rücken eingelassen haben in ihr liebes Leben, in das wir als die Verstörer eingefallen sind – du, ja du, und der Krieg und ich! Jawohl der Krieg, der Krieg, der Krieg! Sind wir nicht noch alle im Krieg miteinander, so gut wir es auch miteinander im Sinne haben mögen? Zur lieblichsten Jumpfere im Kanton hat die Frau Mutter, die Frau Pfarrere, unser Meitschi auferzogen, aber nun will sie auch ihr Recht an ihm behalten und nimmt dich für den Weih, der auf ihr[79] Täubli stößt. Ach, armes Tröpfit, du! ach, arme Kindli, ihr, was soll aus euch werden, wie es da eben vom Waschhaus her zu uns heraufgeschrillt hat zu Gunsten des jungen Herrleins von Derenthal? In seiner Studierstub sitzt der Herr Vater, unser Herr Pfarrer, und hält sich still vor der Weiberzunge, weil er uns und sich keinen Rat weiß vor ihr; und hier sitzen wir, beide aufgehoben aus dem Dreck und Blut, gewaschen, getrocknet, ins Weiche gebettet, geatzet und getränket, ich vom Feind, du von deiner Feindin – Blumenmaler, Blumenmaler, sie wollen alle ihr Recht in der wilden Welt! an mich der Knochenmann, an ihr lieb Kind die Frau Pfarrere, dein Immli an dich, du, mit dem Strick der Profossen aller hohen kriegführenden Mächte um den Hals, an das Meitli – was soll daraus werden? was soll daraus werden? Sie reden und sie singen, der Herr Kabinettprediger Cober und der junge Herr in Zürich mit seinem Büchlein von den Hirten und Hirtinnen, beide von euch, nach der Pfaffen und der Poeten Weise; aber ich, der Uttenberger aus dem Regiment Lochmann, frage: was soll daraus werden? was soll aus euch werden? Es gibt keiner sein Recht gern auf. Die Frau Pfarrere nicht an ihr lieb Pflegekind, der Profoß nicht seinen Anspruch an deinen Hals, Bueb. Und – Söhnlein, Söhnlein, wir sind erst am Anfang des Unheils! Glaubt nicht, daß das Ungewitter sich wieder so schnell verziehen wird vom teutschen Boden wie Anno Vierzig und Vierundvierzig.«

»Ich weiß! ich weiß!« schluchzte der arme Junge, mit dem Jackenärmel sich die Tränen wischend. »Die Frau Förstern, die Wackerhahnsche im Landwehrturm, hat's auch schon so gewußt, und im Hunger-und Jammerlager bei Stade haben sie sich alle darauf eingerichtet. Und mein lieber Herzensschatz weiß es auch, und auf Schloß Fürstenberg wissen sie es und haben deshalb die Öfen ausgehen lassen. Was von uns nicht verhungert oder ausgewandert ist aus dem Malersaal, das kauert im Winkel und hat sich den Schmachtriemen um den Leib zugezogen. Sie sagen,[80] Serenissimus, Herzog Karl, habe sein Asyl, die Grafschaft Blankenburg, von dem Feind, dem Franzosen, dem Herzog von Richelieu so teuer erkaufen müssen, daß er für sich selber nicht wisse, wo er seinem durchlauchtigsten Leibe Rat hole. Wie kann der Herr noch an sein buntes Porzellan hier an der Weser denken, wo er selber mit der Frau Herzogin und den Prinzen am Harz auf den irdenen Napf und den hölzernen Löffel angewiesen ist? Ach, der Herr Hauptmann wissen nicht, wie Sie mir die Kehle zusammendrücken, wenn Sie mir des Pläsiers wegen von den Hirten und Hirtinnen und der Welt Lieblichkeit aus Ihrem Buche lesen! Es hat nur Einer recht hier im Haus, und das ist die Frau Pastorin! In Derenthal bei ihrem Herrn Cousin, dem Herrn Pastor Störenfreden, ist's freilich am besten für ein Kind, dem sie ein Dach über den Kopf und einen Küchenherd und einen Ehrenmann vom Himmel herabfleht tagtäglich und Sonntags in der Kirche! Was bin ich? O Gott, o Gott, wer mir das einmal gesagt hätte in meiner Mutter Witwenstube in der Wendenstraße und hinter unsern lieben Frauen im Waisenhaus beim Zeichenmeister Herrn Brandanus Meier und hier im Malersaal auf Schloß Fürstenberg, daß alle Könige der Welt mal hinter mir herschreien würden: Schlagt ihn tot, den Hund! – Ein armer verlaufener Hund! hat ja auch die Wackerhahnsche gesagt zum Herrn Pastor, wie ich in meinem Fieber in ihrem Turm wohl gehört habe. Einen Strick am Halse schleife ich mir nach, und das ist das einzige, was ich meiner Liebsten in der Welt zu bieten habe. Ach hätte die Wackerhahnsche mich doch liegen lassen im Graben, oder die ganze Welt mich verkommen lassen im Turm bei der Wackerhahnschen! Da wäre mir am besten geholfen gewesen und meinem Mädchen auch!«

»Du Göhl! Du Lädi! Du Möff!« schnauzte Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann, als ob er eben selber dergestalt noch angeschnauzt werde, wie vor Jahren im Vatikan von seinem Weibel in Seiner Heiligkeit Schweizer Leibgarde. »Bürschli, [81] Bürschli, schäm dich! Ist es nicht mit deiner Fahnenflucht vom Heer schon schlimm genug? Willst du auch noch deinem armen lieben Meitschi fahnenflüchtig werden? Und bloß weil ein gut brav Weiblein und Mütterlein dir und deinen Künsten in solch wilder Zeit und schlimmem Wetter nicht traut und ihrem Kind im Sturm und kalten Winter ein sicherer Unterkommen wünschet, als was du Haus-, Hof- und Hosenloser itzo zu bieten hast? Ich weiß nicht, aus welchem Vaterhaus und Mutternest du gekommen bist; aber wie oft soll ich es dir noch sagen, daß mir hier erst auf dem Jammerbett, bei schmerzenden Knochen und Fieberfeuer und allem Elend offenbaret worden ist, daß es Vater und Mutter, gute Freundschaft und Barmherzigkeit gibt in der wüsten Welt? Die Frau Pfarrere und der Salomon Geßner! Der Herr Pfarrer und der Herr Kabinettprediger Cober! Bueb, wenn du dem Balzer Uttenberger vom Regiment Lochmann in der Haut, dem Hirn und dem Herz säßest, von Hastenbeck her, und wie er sie alle hier im Haus an seinem Bett gehabt hat bis auf den Hund Ryn, den Herrn Pfarr, die Frau Pfarrere und dein Kindli: du würdest nicht so schwätzen, wie du eben geschwätzet hast. Courage würdest du haben, und wenn du gar von einem Schneidertisch und nicht aus deiner edlen Kunst in der Welt Blut, Brand, Mord und Totschlag gefallen wärest! Und jetzt komm her und horch, und wann du nachher die Ohren nicht steif hältst, so scher dich aus diesem wackeren Haus und lege dich wieder in den nächsten Graben und krepier wie ein verirrt Bählamm im Winterschneesturm. Die Zeit ist schlimm, die Frau Pfarrerin kann gar böse tun, der Feind ist im Land, der Durchmärsche sind viel, dem Herrn Pfarrer der Hunger im Dorf und vor der Tür, dem Hauptmann Uttenberger das Fieber in den Knochen, und dir zu dem Fieber der Strick um den Hals: wir haben alle Angst und – nur – das Immli von Boffzen nicht! Wie oft ich's auch in seinen bitteren Tränen und mit seinen um dich, dich, dich, du Möff, du Lädi, du Göhl, gerungenen Händen hier an meinem [82] Bett gehabt habe. Es hat Courage, das Immli, dein – nein, mein Immli, mein Soldatenkind, meine Kameradin! Dies Kind, das wie der Hauptmann Uttenberger von Gottes Wunderwagen der Frau Mutter und dem Herrn Vater hier im Haus vor die Füße und in die barmherzigen Hände zugeworfen worden ist. Blümlismaler, Blümlismaler, ich warne – na, Bueb, nu, Bueb, nun hab' ich dich wohl ganz zum Weibe gemacht, armer Tropf? Courage! Noch geht die Welt ihren Gang, und wer Glück hat, führt immer noch die Braut heim – da horch, da geht's unten im Haus wieder gegeneinander, das Wiebervolch, als ob es allein auf der Erden Krieg zu führen hätt' und nicht auch der König von Preußen, das römische Reich und seine Frau Kaiserin, gar nicht zu reden von dem Könige von Engelland und dem von Frankreich und Navarra, meinem gegenwärtigen Herrn und Soldgeber. Ihre Wasch wollen sie jetzo auf die Leine bringen, und, zu deinem Trost sei es gesagt, das liegt ihnen noch giftiger und herzlicher im Willen und Gemüte, als eben benannten hocherhabenen Herrschaften und kriegführenden Parteien die Begier, dich armen Lappenhäuser und Deserteur aus der Konvention von Kloster Zeven am Strick aufzuziehen. Courage, Blumenmaler! Nimm dir ein Exempel an eurem König Fritz von Preußen. Hast du nach einer Krone gegriffen, so halt sie auch fest gegen Tod und Tüfel, gegen die römische Kaiserin und gegen den römischen Papst. Gegen Boffzen und gegen Derenthal. Und wenn du auch sieben Kriege wie er um sein Schlesien, so du um dein Mädchen führen müßtest, halt fest die Krone, nach der du gegriffen hast! Auch der alte Balzer hat in Erfahrung gebracht, was sie wert ist.«

12. Kapitel

[83] Zwölftes Kapitel.

Der Schnee fiel und fiel, und die Heere der kriegführenden Mächte hatten die Winterquartiere bezogen. Die klare Wintersonne kam in diesem jetzt dem Ende sich neigenden Jahre nur selten über dem Wesertal zum Vorschein. Was gab es auch um diese Weltenzeit in Niedersachsen, ganz abgesehen vom heiligen römischen Reiche teutscher Nation viel an Erfreulichem zu beleuchten und zu besehen?

Vieles, – wozu wir eben die Sonne, die doch im Grunde nur auf den äußeren Schein angewiesen ist, nicht brauchen.

Hiervon zu erzählen, ist nun unsere Sache. Wir haben genug dazu in mancher dunkelen Nacht bei trübem Lampenschein in multerigen Schrift- und Drucksachen gewühlt und uns auf den Trost verlassen, daß ja aller Weisheits-, Schönheits-, Liebes- und Lichtzauber der Vorwelt, soweit er sich in Bücher fassen und binden läßt, nur multerigen, moderigen Papyrus-, Pergament- und Papierfetzen entstammt, und aus ihnen zu uns heruntergelangt ist. – – –

Da laufen durch den Schnee des Jahres Siebzehnhundertsiebenundfünfzig zwei zierliche Fußtapfen vom Boffzener Pastorhause aus. Denen folgen wir jetzo, und die Frau Pastorin hätte ihnen auch nur zu folgen brauchen, um in Erfahrung zu bringen, wo ihr Pflegekind zu suchen und zu finden sei, wenn sie sich wieder einmal nach ihm »eine halbe Stunde den Hals abgeschrieen« hatte.

Zu dem Landwehrturm, zu der Wackerhahnschen gingen die [84] Spuren im Schnee hin und – zurück; soviel als möglich hinter den Menschen, den Häusern und Hecken hin. Ängstliche Spuren – dann und wann denen eines gejagten Tieres gleich! Spuren, denen man das klopfende Herz anmerkte, das sie in den Schnee des blutigen Kriegswinters Siebzehnhundertsiebenundfünfzig hineingedrückt hatte! –

Und wenn so in der Dämmerung die Frau Förstern die Leiter, die zu ihrer Warte emporführte, hinter ihrem Besuch aufgezogen hatte, dann hatte sie leider Gottes auch nur wenig zu bieten von dem, was die Menschen Trost nennen. Ihre Tröstungen liefen nur darauf hinaus:

»Kind, armer Narr, arm Küken mit dem Habicht über dir! So jung und so viel Feinde rundum um das, was du dein jung Glück so gerne, gerne nennen möchtest! Da sitz hin auf sein Bett, von dem er doch auch wieder zum Leben noch mal aufgestanden ist, und was ich dazu tun kann, dir die Federn zu glätten, das wird von der alten zerzausten Henne, die wohl alles Raubzeug der Erde über sich, um sich und hinter sich gehabt hat, getan. Hab' schon allerlei unter meine Flünke genommen; aber nun gar noch auf meine alten Tage, wie Großmutter in der besten Stube und beim Spinnrad, ein jung dumm Liebespaar! Das alte Heidenmensch und das? Nun, es mag ja eine Abrechnung sein. Vielleicht hat solches mir unser Herrgott zu einem Alterstrost apart aufgehoben, also, mein Herze, komm her und gib es von dir, was du nun wieder auf dem Herzen hast.«

»Nur meine steigende Angst um meinen armen Pold, Frau Förstern!« schluchzte das Kind. »Ich höre ja keinen Schritt hinter mir, kein Klopfen an der Tür, ohne daß mir die Beine zittern. Es ist keine Wand im Hause mehr, hinter der ich es nicht schleichen und horchen höre. Es ist keine Stunde am Tage, wo ich nicht denken muß, jetzt holen sie ihn dir unter die Ruten oder vor ihre Flintenläufe! Mutter Wackerhahn, es ist bald kein Baum in unserem Garten, an den ich ihn nicht habe hängen sehen!«

[85] Leider konnte die Alte vom Turm hierbei nur den Kopf schütteln und Unverständliches brummen; das Boffzener Immeken aber fuhr mit gerungenen Händen fort in seinem Jammer:

»So ist es am lichten Tag, und da hat man doch seine Arbeit, die einem ein bißchen über die Bangnis hilft; – da, sehe Sie nur meine Hände, Wackerhahnsche, daß ich mir die so bis aufs Blut zerwerke, das verlangt selbst die Frau Mutter nicht – das tue ich nur mir selber zur Hülfe, bis der Abend kommt und mit des Herrn Vaters Herrn Kabinettprediger trotz allen Trostes die schlimmste Angst. O Frau Förstern, liebste Wackerhahnsche, ach Mutter Wackerhahn, wie sitze ich nächtens auf meinem Bett und horche und horche – ach Gott, und nicht bloß auf die Franzosen und unseren lieben Herzog Karl und den König von Preußen und den Herrn Herzog von Kummerland und was sonst noch nach mir und meinem liebsten Schatz mit blutigen Händen greifen will, sondern auch – ach Gott, ach Gott, nach dem, was meint, es so gut und am besten mit mir zu meinen! Auf den Herrn Pastor Störenfreden muß ich horchen – auf meine liebe, liebste Frau Mutter muß ich horchen in der Nacht in meiner Angst!«

»Kind, Kind,« sagte die Wackerhahnsche, den Kopf auf ihren Knieen zwischen die Hände nehmend und die Hände über die Augen legend, »Kind, da nimm du dich am meisten in acht mit der. Ich meine gewißlich nicht, gegen die in deiner Not dich aufzubäumen! Geht sie denn aber nicht auch in ihrer Angst und Liebe um dich um am Tage und sitzt aufrecht auf dem Bett in der Nacht? Und wer weiß, ob sie nicht recht hat? Wir stehen wohl kratzbürstig genug gegeneinander in der Welt; aber dir, ihrem Immeken aus dem Boffzener Pastorhause, sage ich jetzt: wenn meine Mutter so gewesen wäre wie die Frau Pastorin und hätte solche Sorge um mich gehabt wie die, so wäre wohl manches anders und besser geworden in meinem schlimmen Leben und säße ich wohl nicht hier, wie ich sitze, im Eulennest und machte [86] mir und den Menschen Grauen! Doch – via di quà! Bleiben wir bei dir und der Frau Mutter und begucken wir deine Angst von vorne, nachdem wir eben sie jetzt von hinten uns besehen haben. Ja freilich, da ist dir und deinem Pold, deinem Deserteur von Kloster Zeven die Frau Mutter freilich die gefährlichste, und es mag wohl begründet sein, daß du in deiner Bangnis die meiste Angst vor ihr hast und nicht vor dem Feind im Hause, der doch von Rechts wegen deinem Blumenmaler am ersten nach der Kehle greifen müßte. – Mit ihrem Willen liefert sie wohl deinen armen gerupften Buntspecht, der sich unter ihr christlich Dach verkrochen hat, dem sie selbst Asyl geboten hat, nicht aus ans Messer, den Galgen, den Franzmann, den Cumberland oder unsern Herrn Herzog Karl; aber was der Mensch im Verdruß und doch wider seinen Willen mit seinem Maulwerk Unheil anrichten kann, das bedenkt selten einer und spricht da garnicht, wo er höchstens mit der Hand vor dem Mund seiner nächsten Verwandtschaft ins Ohr flüstern sollte. Sie ist mir, wie die Dinge nun einmal liegen, viel zu laut in ihrer Freundschaft zu ihrem Herrn Neveu und Derenthaler Pastor und in ihrer Mißgunst, ich will nicht sagen ihrer Wütenhaftigkeit, gegen deinen Liebsten, das geschorene Lamm, Kind. Nur Ein Wort aus zu offenem Schnabel drüben in Höxter in der Kommandantur, und wir haben das Elend, den Korporal mit seinen sechs Mann und am nächsten Tage den Profoß auf dem Halse! Arm Wurm, ich müßte nicht die Wackerhahnsche sein und der Wackerhahnschen Leben durchgemacht haben, wenn ich hier nicht Bescheid wüßte, jetzt schon bei uns im Dorf mit der Leute gegenseitigem Anstoßen mit dem Ellenbogen und über die Schulter mit dem Daumen deuten. Weißt du, wie sie reden im Dorf? Sie meinen: ›Wenn sie's nur nicht mal uns Bauern entgelten lassen, die Franschen drüben, was die Frau Pastorsche und der Herr Pastor bei sich vor aller Welt Ingrimm und schlimmen Kriegsvölkern unterm Stroh verstecken möchten!‹ – Ja, ja, mein arm Mädchen, mein lieb Kindchen, so ist es, und [87] das kann auch ich in solcher schlechten Zeit wie heute der Immeke und ihrem Malermeister nicht abnehmen; aber –«

Hier stand die alte Frau von ihrem Schemel auf und streckte wie zum Schutz drohend die Faust über das zusammengekauerte schluchzende Kind hin –

»- so lange die Försterin aus dem Barwald noch zwischen dir und diesem neuesten Krieg um Schlesien steht, wird sie sich auch zu denen rechnen, die der Herrgott berufen hat, Mutterpflichten an dir zu verüben, seit du unbekanntes Wurm und Fremdlingskind ihr hier bei uns an der Weser von seinem Wunderbagagewagen heruntergefallen bist. Wenn es auf die Herzensgüte ankäme, so könnten wir euch ja wohl deinem Herrn Pflegevater ganz allein anbefehlen; aber, aber – es ist keine Zeit, wo man mit der Liebe und Güte, mit Blumenpredigen und Blumenmalen sich und seinem Liebsten in der Welt der Welt Viehheit vom Leibe hält ... was siehst du mich so an, Kind? Hast du was hiergegen zu sagen?«

»Ach, nein, nein! ach Gott, nein, Frau Förstern, der allerbeste Herr Vater mit dem Herrn Kabinettpastor Cober kann uns so wenig helfen, meinem Pold und mir, wie der Herr Hauptmann Uttenberger mit seinem schönen Lesebuch von den lieben Schafen und Lämmern und den schönen und lieben Menschen und Hirtinnen und Hirten in dem Lande, wo es immer Sommer und Friede ist, wie in des lieben Gottes Paradies –«

»Kind,« rief die Wackerhahnsche, mit festem Griff den Arm ihres zitternden Gastes packend, »Kind, wenn du dem Herrgott wofür zu danken hast, du und dein närrischer Schatz, so ist's, daß er dem Mann das närrische Ding von Buch auf dem Feld von Hastenbeck vor die Füße geworfen hat und es ihn hat aufheben lassen aus dem Dreck und Blut, wo der Cumberland und der d'Estrées Bataille darum führten, wer als der größte Esel an dem Tage zu Pferde sitze! Da der Engländer so glorreich gewonnen hat, so hätte der Franzos – und da meine ich jetzt nicht [88] den Herrn Marschall von Estrées, sondern euern Schweizer Reisläufer – auch ohne sein Schäferbuch wohl den Barmherzigen gegen euch spielen mögen; aber besser war doch immer besser. Jawohl, Mädchen, kannst du dem Himmel auf den Knieen danken, daß er euchdiese Einquartierung ins Haus legte, daß er solch ein altes Kind euch jungen Krabben aus solchem Leben voll Holterdipolter, Mord und Totschlag zu Wasser und zu Lande mit seinem Gliedweh und seinen närrischen Schafen und Schäfern zur Hilfe schickte! Ein Mirakel ist's, größer als das größte von denen, die der Herr Pastor abends aus seinem Leibbuch abliest: die Wackerhahnsche und der Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann als Kinderwärter und Liebesgardisten mit dem Immeken von Boffzen und ihrem Fürstenberger Blumenmaler als weißen Lämmern am rosenroten Band! Und mit der Schlachtbank rundherum und dicht vor der Tür!« ...

Wer sie gesehen hätte, die Frau Förstern Wackerhahn, in ihrem scheußlichen Loch und Unterschlupf, auf dem Bettsack mit Sollingslaub neben dem Gast, dem Boffzener Bienchen, sitzend, ohne so viel von ihr zu wissen, wie wir jetzt schon, der würde wahrscheinlich schaudernd vor ihrem Anblick und der wahrlich nicht einen buntbebänderten Geßnerschen Hirtenstab zu der Decke ihres alten Kriegswartturms erhebenden Faust Reißaus genommen haben. Aber Jungfer Holtnicker tat das nicht. Sie rutschte von der Bettstatt vor der Alten auf die Kniee, faßte ihre Hände und schluchzte:

»Ich weiß es ja! Von allen weiß Sie am besten Bescheid im Kriege, Mutter! Und in der höchsten Not kommen wir zu Ihr, ich und mein Pold, und Sie hilft uns. Nicht wahr, Sie hilft, Sie hilft uns durch, wo Vater und Mutter nicht mehr helfen können?«

»Die Wackerhahnsche als Kindsmagd!« murmelte und lächelte die kriegerische Hexengreisin, sich aber mit dem Zeigefingerknöchel in den Augenwinkel fahrend. Leise liebkosend strich sie mit der harten Hand über das weiche Haar ihres jungen Gastes:

[89] »Bist du nicht auch schon für mich eingetreten? Hast du nicht bei deinem Herrn Pflegevater zuwege gebracht, daß ich dem Herrn Kabinettpastor Cober mit habe am Abend zuhören dürfen? Hast du dich nicht mit eurem Hund Ryn mit Geschrei dem Dorf in den Weg geworfen, als es das graue Greuel aus dem Landwehrturm nach der Weser zu zerrte, um es aufs Schwimmen hin zu probieren?«

Und jetzt warf sie die Arme um das Mädchen:

»Mein Kind, mein lieb, lieb Kind, was das alte Heidenmensch, was die Wackerhahnsche dir zur Hülfe tun kann, das tut sie. Verlaß dich drauf!«

13. Kapitel

[90] Dreizehntes Kapitel.

Sie hielten sich noch eine geraume Weile fest und stumm umfaßt, das an der Heerstraße gefundene Kind und die auf der Heerstraße verloren gegangene Greisin. Aber dann stieß doch die letztere ihren lieblichen Gast wie erschreckt von sich und rief:

»Du! 's ist mir, als hätte ich sie eben mal wieder rufen hören nach dir! Es hilft nichts – die Kanonen des Königs Fritz habe ich nicht, um dir und deinem Schatz hier in meinem Turm in Sicherheit Quartier bieten zu können; also geh doch jetzt lieber. Je weniger Lärm und Geschrei jetzt um euch zwei arme Seelen ist, desto besser ist's, wie ich dir da meine Meinung auch schon gesagt habe. Denk eben, 's ist ein Übergang wie's Fegefeuer, wie sie drüben im Katholischen sagen, und jetzt hilf die Leiter herunterlassen und lauf nach Hause. Das Feld ist frei, und der Nebel kommt uns auch wieder zu Hülfe. Je weniger Güte und Barmherzigkeit unser Herrgott in meinem Leben mir zu kosten gegeben hat, desto mehr davon schöpfe er dir auf den Teller! Lauf, lauf, Krabbe; wahrhaftigen Gottes, ich höre sie vom Dorf bis nach hierher nach dir rufen, deine Frau Mutter!..«

Das war ein Irrtum.

Die Frau Pastorin hatte diesmal ihr Pflegekind nicht zu einer Arbeit vermißt, hatte nicht nach dem Bienchen von Boffzen gerufen. Im Gegenteil, wäre es ihr an diesem düsteren Nachmittag um die Hand gewesen, so würde sie es sogar unter dem ersten besten Vorwand so weit als möglich vom Hause weggeschickt haben.

[91] Es gibt viele Redensarten für die Betäubung, die den Menschen überkommt, wenn ihm etwas begegnet, dessen er sich durchaus nicht vermutend war.

Da ist der Stein vom Dache, der Blitz aus blauem Himmel, der Schlag vor den Kopf und so fort, so fort: Frau Johanne Holtnicker hatte die Auswahl, um ihrer Zerschmetterung Worte zu leihen, gegenüber dem alten Weiblein auf der Küchenbank und dem Briefe, den es ihr aus Derenthal gebracht hatte.

Die Frau Pastorin hatte ihren Stein auf den Kopf, ihren Schlag vor die Stirn, ihren Blitz aus unseres Herrgotts grundgütigem Himmel weg, und wenn ihre Immeke im Landwehrturm der Wackerhahnschen die Knie um Mitleid bittend umklammert hatte, so würde das Pflegetöchterlein das jetzt noch heftiger der Mutter getan haben, aber aus Mitleid, wenn sie sie gesehen hätte über dem Brief, den ihr der Pastor und Neffe von Derenthal, Emanuel Störenfreden, in der Botenkiepe der Mutter Amelieth hatte zukommen lassen.

»Jesus Christus!« hatte die Ameliethsche zu Dörthe Krüger gesagt. »Was mag ihr unser geistlicher Herre denn da auf zu raten gegeben haben? Das war ja wie ein Dalschlag! Da sollen einem ja die Kniee unterm Leibe bewern!« –

Der geistliche Herr von Boffzen war nicht zu Hause; in seiner Stube, an seinem Tisch saß die geistliche Frau über dem Schreiben des Günstlings, Schützlings, Lieblings ihrer Seele. Wenn jemals, um wieder eine landläufige Redensart zu gebrauchen, ein Mensch dem anderen das Dach über dem Kopfe abgedeckt hatte, so war es das fromme Kind Gottes zu Derenthal, unter dessen Dache sie so mütterlich und sonst verwandtschaftlich besorgt ihrem ihr von Gottes Wunderwagen zugefallenen Pflegekind im Drangsal der Zeiten eine sichere Heimstätte hatte bereiten wollen! Wenn jemals ein Träger des FamiliennamensStörenfreden demselben Ehre gemacht hatte, so war's heute Ehrn Emanuel Störenfreden, der Pfarrer von Derenthal! Und da Vater Gellerts [92] »Praktische Abhandlung von dem guten Geschmack in Briefen« erst Anno 1769 bei Kaspar Fritschen in Leipzig in Druck ausging, so können wir wohl dreist behaupten, daß der junge Mann und geistliche Seelenhirt alles in seinem Schreiben aus sich selber gezogen hatte. –


»Madame und hochzuverehrende Frau Tante!


Niemalen in meinem Leben ist es mir so schwer gemacht worden, die Feder aufzunehmen zu einem Briefe, wie zu diesem. Wie soll ich sagen, was ich der Frau Base und lieben Mutter heute sagen muß? Wie wird es mir gezeiget, daß Scheiden Leiden bringet! Wie lässet es sich aber zu Papiere bringen?

Die Frau Tante wird fragen: weshalb redet Er nicht, lieber Herr Vetter und Sohn? Wozu des Papieres, der Tinte und der Feder, um Seinen demnächstigen christlichen Schwiegereltern, Seinem Vater und Seiner Mutter, in Anbetracht des Fehlens der leiblichen Eltern, Sein Anliegen kund zu tun?

Siehe, das ist es auch dieses Mal, mit dem ich habe mich abkämpfen müssen mein Leben lang! Es ist, daß mir das mündliche Wort nicht gegeben ist, wo es mir am nötigsten wäre in eigener Angelegenheit, von Kindesbeinen an bis in die jetzt vorhandene schwere und unruhevolle Stunde. Daß der gnädige Gott es mir nicht versaget hat, das Wort auf der Kanzel und im Amtsberuf in der Gemeinde, das ist ein Trost, der mir heute wenig hilfet.

Hochwürden Herr Abt Jerusalem, zu dessen Füßen in Vorbereitung zum heiligen Predigtamt zu sitzen, ich Anno 53 das hohe Glück hatte, helfe mir jetzo, zu dem Mutterherzen meiner liebwertesten Frau Tante zu sprechen! –

Ich komme heute durch dieses zu der Frau Mutter Mademoiselle Tochter wegen und bitte herzlich, es aufzunehmen als einen festen Beschluß nach reiflicher Überlegung [93] und Einkehr in das eigene Gemüt zwischen Zeit und Ewigkeit. Siehe aber auch Sankt Matthäus im neunzehnten Kapitel, Vers drei bis zwölf. Saget doch der Herr selber: ›Das Wort fasset nicht jedermann, sondern dem es gegeben ist‹. Und ferner aber: ›Wer es fassen mag, der fasse es.‹ –

Es kann nicht geschehen, Ma dame, daß aus Dero lieben Pfle getochter und mir ein christlich Ehepaar werde, Ein Leib und Eine Seele, nicht zu scheiden durch Menschengesetz, der Tod scheide es denn!

Ich habe gerungen darum, in meiner Einsamkeit hier im Wald, schwer und bitter; doch nun weiß ich und habe es gefasset: es kann nicht so werden, wie es der Herzenswunsch der Frau Mutter gewesen ist: ich führete mit Mamsell Johanna kein Eheweib nach dem Wort in mein Haus: ›Und werden die Zwei Ein Fleisch sein!‹ –

Der Frau Pfarrerin liebes Kind hat anders und selbst gewählet für sein irdisch Leben, als wir beide, die Frau Mutter und ich. Es hat nicht mich gewählet, und wir zwei, die Frau Tante und ich, wollen nicht die sein, so zwischen das träten, was, nach meiner Meinung jetzo, doch wohl der liebe Gott zusammengegeben hat.

Als ich in der vergangenen Woche zuletzt in Boffzen gewesen bin, da habe ich mir mein Urtel geholt in dieser Sache: es ist in Derenthal, unter meinem Dach kein Unterkommen für Jungfrau Johanna; aber vielleicht wohl einmal für sie und ihren wahrhaften Liebhaber und Liebsten, sollte die Not der Tage sie dahinführen.

Die Frau Mutter hat ihrem Kinde in dieser schweren Zeit zu einer Ruhestatt verhelfen wollen, und ich bin wahrlich auch von Herzen gewillet gewesen, ihr dazu zu helfen; habe es auch als die höchste mir in diesem Erdenjammertal bestimmte Glückseligkeit geachtet; gerade wegen der Angst der Zeit und der Zeit Gewitterdonner rundum. [94] Wie den höchsten Schatz der Erde hätte ich das Glück in Sicherheit gebracht und mir die Braut heimgeholet. Jetzo aber kann ich nur wie ein leiblicher Sohn zu den Eltern kommen und für Jungfrau Johanna Holtnicker und Monsieur Wille bitten wie für Schwester und Bruder! Und wären alle Schätze der Welt mein, und könnte ich in obwaltendem Kriegessturm turmhohe Mauern aufbauen: was hülfe es mir, so ich zu diesen Schätzen und hinter diese Mauern ein widerstrebend Eheweib, ein Herz, das einem anderen zugehört, zerrete und zöge, – ein armes Herz, das nicht mir gehörete für Zeit und Ewigkeit?

Und hierzu möchte ich meiner Frau Pastorin, meiner liebwertesten Frau Muhme noch eines jetzo in anderer schwerer Sorge und Beängstigung an ihr Herz legen. Es sind die Leute, die es sich auch hier im Solling schon gegenseitig ins Ohr sagen: Der Pastor Störenfreden tue wohl dran, wenn er sich die Braut sobald als möglich in Sicherheit bringe. Man dürfe darüber nicht zu laut reden, und nicht bloß der Franzosen im Lande wegen. Nicht bloß der Franzos und der Engelländer, sondern auch Serenissimus, unser gnädigster Herr Herzog Karl, könnten wohl einmal ob des Gastes im Pfarrhause zu Boffzen mit dem Flintenkolben dort anklopfen lassen. Der Herr Pastor und Frau Pastorin schliefen selber schon wie mit dem Strick um den Hals, ihres Gastes wegen, den sie sich um Gottes willen von der alten Frau im Landwehrturm ins Haus geholet hätten. Daß der Feind im Hause, der Schweizerfranzos, nicht schon lange ein Wort nach Höxter habe laufen lassen, das sei eigentlich ein Wunder; aber wer könne wissen, ob sie dort, jenseits der Weser, nicht die Ruten schon austeileten für den Fürstenberger Topfmaler und Fahnenflüchtigen aus des englischen Herrn Herzogs Vertrag mit dem Feind. O, möchte die Frau Mutter ihres lieben [95] Kindes wegen jetzo darüber in meiner Seele lesen können und Sorge tragen, daß nicht auch meinetwegen darob Schaden geschehe!

Welche Zeiten! welche Zeiten! Schwert, Spieß, Bogen, Hunger und Pestilenz rundum! der Kriegeswagen Geroll nah und ferne! Des Herrn der Heeresscharen Hand schwer auf den Völkern: wer wollte da zu seinen Ängsten und Sorgen die Schuld auf sich nehmen, auseinander zu reißen, was sich von Herz zu Herz zusammengetan hat, der Welt Drangsal zu bestehen, oder aneinandergeschlossen darin unterzugehen, in der Hoffnung, daß auch drüben sich wieder vereinigen werde, was sich hienieden zusammengeschlossen habe?

Ich vermag es nicht! Und so stehe es denn nun auch zuletzt hier geschrieben – wolle der gütige Gott dazu helfen, daß ich den Weg durch das Leben auch fürderhin noch allein gehen möge, wo nicht im Glücke, so doch im Frieden! Womit ich denn nun auch mich und die Frau Pastorin, ma tante, und den Herrn Vetter, meinen über alles hochgeehrten, werten und würdigen Herrn Amtsbruder senior in des Höchsten Schutz und Obhand befehlen will, – den Monsieur Wille aber und liebwerteste Mademoiselle Tochter in die herzliche Liebe und treue Fürsorge vom Herrn Vater und der Frau Mutter als unseres himmlischen Vaters bestellte beste Vertreter und Vormünder auf seinem Erdball in solcherlei Angelegenheiten und in solcherlei Zeit.

Und verbleibe ich hiermit meiner Frau Pastorin und Base und des Herrn Oncle treu gehorsamster Cousin, Neveu und ergebener Diener

Emanuel Störenfreden,

Pastor zu Derenthal im Solling.«


[96] Was eine Schwiegermutter vom heutigen Tage zu solch einem Absagebriefe gesagt haben würde, wird sie wissen: Mutter Holtnicker im Jahre Siebzehnhundertsiebenundfünfzig sagte nichts. Sie saß und suchte sich zu besinnen. Sie suchte sich nur zu besinnen auf das, was sie, wenn es Gottes Wille war, daß sie ihren Verstand und ihre fünf Sinne noch einmal gesund beieinander kriegte, in einer Welt wie diese und zu einer Welt wie diese sagen konnte. – – – – – – – – – – – –

Wir können sie so sitzen und suchen lassen; wir können ihr Pflegekind, von der Mahnung der Wackerhahnschen wie ein »gejagt Hühnchen« beflügelt, durch den Schnee seinen Weg zu dem Boffzener Pfarrhause zurückfinden lassen: mit dem Pastor Störenfreden in Derenthal sind wir noch nicht fertig. Den können wir noch nicht so lassen, wie wir ihn in seinem Briefe gefunden haben. –

Der ging um diese dämmerige Stunde zwischen sei nem Ofen mit dem glühroten springenden braunschweigischen Pferd und den niederen Fenstern, an denen sich schon die ersten Eisblumen der Nachtkälte bildeten, auf und ab und atmete dann und wann tief auf, doch aus befreiter Brust wie ein Mann, dem eine schwere Bürde abgenommen worden war, oder der sie sich vielmehr selber mit Aufbietung von viel Kraft von den Schultern abgestreift und hinter sich zu Boden niedergelegt hatte.

Wahrlich, kein übler Mann, dieser junge Pfarrherr und Schüler von des jungen Werthers Vater! Wohl einem guten Mütterlein als ein wackerer Schwiegersohn zu wünschen! Kein häßlicher Mann und kein schlechter Mensch! Dem Leibe nach wohlgestaltet, wenn auch etwas hager und gebückt in seinem geistlichen Schwarz, – der Seele nach ein Kind von einem Menschen! ... Ja, das letztere war es eben, was ihn bis heute abgehalten hatte, das zu verrichten, was auf die Frau Pastor Holtnicker im Boffzener Pfarrhause niederkam, wie der über den Philistern zusammenbrechende Tempel des Gottes Dagon zu Gaza.

[97] Ein gutes Kind und mit der Schwachheit behaftet, schwer »nein« sagen zu können: was braucht es da mehr, dem Menschen unruhige Tage und schlaflose Nächte zu schaffen? Ach, wie bald die Welt den herausfindet, der am wehrlosesten gegen sie ist, jeden, der grade aus seinen Tugenden, dem zarten Gewissen, dem guten Herzen, der Schämigkeit, dem Mitleiden und der Lust zur Mitfreude heraus selber ihr die Hülfsmittel gibt, ihn nach ihrem Willen ab- und zuzurichten!

Ach, und wenn gar noch die Welt die Gestalt der lieben, braven, das Beste meinenden guten Tante, der Muhme Holtnicker, der Frau Pastor Holtnicker, annimmt, und den fernen Vetter, Ehrn Emanuel Störenfreden, aus seinem Walddorfe herausholt und ihn auf sein Glück und – seine Pflicht und Schuldigkeit, nötigenfalls sogar wie auf Befehl von oben, vom Thron der höchsten Weltregierung her, mit der Nase stößt und so drauf festhält! was dann? ....

Dann dann und wann ein solches Atemholen nach Vollbringung einer guten Tat, nach Ausführung eines edlen Entschlusses, wie das befreite Aufatmen Ehrn Emanuel Störenfredens, der zu den Füßen des Herrn Abts von Riddagshausen gesessen hatte, um sich zum heiligen Predigtamt, zu einem Berater und Trosisprecher, nicht in Werthers Leiden, sondern im Leid dieser armen Erde vorzubereiten und mit dem dazu notwendigen geistigen Werkzeug ausrüsten zu lassen von dem Vater des künftigen Legationssekretärs Karl Wilhelm Jerusalem am Reichskammergericht zu Wetzlar! – – – – – – – – – –

Nun war er es von der Seele los. Er führte nicht das liebe Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten in seine stille, gelehrte Klause. Rund um ihn her gewann alles in seiner engen Welt, in die sich die gute Tante und sorgliche Mutter, die Frau Pastorin von Boffzen, nur zu seinem Besten, für sein Glück besorgt, so gewalttätig zärtlich eingedrängt hatte, wieder das alte Gesicht. Denn trotz aller Gewissensbisse, seinem guten Gewissen gegenüber [98] wußte er es ja, daß er das Rechte vollbracht hatte; daß er auch seiner »Mademoiselle Braut«, der ihm bestimmten Maid, durch seinen Brief in der bitterbösen Zeit doch die schwersten Ketten von den Handgelenken lösete, daß er, wie sich selber, auch dem armen Hannchen Holtnicker zu einem freieren Atemzug aus tiefster Brust und Seele verhalf!

Ja, wenn er in dem Behagen der Erlösung doch mit Schauder an die Mutter dachte, so tröstete ihn lieblichst das Bild der Tochter, wie es vor ihm aufstieg mit seiner Angst und Abneigung vor ihm und seiner Hilflosigkeit, die der seinigen so sehr glich in dem Verkehr der letzten Jahre zwischen Derenthal und Boffzen. Einerlei, ob unter den Frühlings- und Sommerblumen im Pfarrgarten, unter den Erntegarben oder am Winterabend am warmen Ofen vor dem alten Kabinettprediger Cober aus Altenburg.

»Das arme Kindlein!« seufzte der junge Prediger von Derenthal, auf seinem nachdenklichen Wege auf und ab unter der niederen schwarzen Balkendecke seiner Studierstube schreitend. »Wie lieblich war es in seinem Gehorsam gegen die Mutter, in seiner Angst, in seiner Scheu, in seinem Abscheu vor mir unachtsamen, blöden Toren! Was mußte erst kommen, mir die Augen und Ohren zu öffnen? Stolzen Rat mußten die Könige halten, der Krieg mit Mann und Roß und Wagen mußte einbrechen, der Herr aus der Höhe dem Pastor von Derenthal ins Ohr brüllen, ehe der mit Blindheit und Taubheit Geschlagene sah und hörte, der –«

Was für ein schmückend Beiwort der junge geistliche Herr sich beilegte – und gottlob jetzt schon lächelnd – wollen wir nicht kundmachen.

»Gesegnet sei mir Seine königliche Hoheit der Herzog von Cumberland, gesegnet sei Dero Konvention von Kloster Zeven; aber dreimal gesegnet sei die Frau Försterin Wackerhahn in ihrem Wachtturm, die den armen, törichten Emanuel Störenfreden durch ihre barmherzige Hülfeleistung davor bewahret hat, [99] zu der Verschuldung Adams und Evas auch die seinige in die Wagschale zu tun! Welch ein Freund möchte ich nun den lieben jungen Freunden sein in Not und Gefahren! wie gern möchte ich nun mit befreieter Seele und losgebundenen Händen weiter helfen zu ihrem Glück – ja, ja, ja, ja!« ...

Es strich ihm etwas um die Beine und schnurrte dazu. Er beugte sich und streichelte seinen Kater und hatte schon wieder behaglich Sinn für das Knistern und Funkensprühen aus dem würdig schwarzen Sammetpelz dieses Hausfreundes. Er hatte ein fröhlich liebkosend Wort für ihn, auf welches hin aber sofort ein zweiter Hausgenosse unter dem Sorgenstuhl am Ofen hervorkam und sein Teil von dem endlich wiedergekehrten Behagen des Pfarrhauses zu Derenthal forderte. Seine Vorderpfoten legte Spitz, der weiße Spitz, vor dem besten Schüler des Vaters des jungen Werthers nieder, hob das Hinterteil desto höher, reckte und dehnte sich, gähnte und richtete sich dann an ihm empor, mit leisem, schnüffelndem Gewinsel andeutend, daß auch er noch vorhanden sei.

»Ja, ja, ja, ja, ja, ja!« sagte Ehrn Emanuel, »auch ihr könnt dafür Zeugnis ablegen, daß ich nicht schuld daran gewesen bin. Doch nun – ja, ja, ihr! nun werden wir wie früher im Frieden des Herrn miteinander und – mit denen da auskommen und unser Genügen haben!«

Bei dem letzten Worte strich er im Auf- und Abwandeln liebkosend über die Rücken der zerlesenen Bände auf den Brettern seines für seinen Erdenwinkel, das Weser- und Sollingsdorf Derenthal, wahrlich nicht unbeträchtlichen Büchervorrats, hie und da einen würdigen Folianten in Schweinsleder mit besonderer Zärtlichkeit berührend.

Nun hob er aus dem untersten Fach einen der schwersten heraus und empor, trug ihn auf den Tisch zu der Lampe und schlug ihn auf – –

Flavius Josephus de bello Judaico!

[100] Des Flavius Josephus sieben Bücher vom jüdischen Kriege! ...Kein anderes Buch aus seiner Bibliothek konnte er, bis die Ameliethsche aus Boffzen von ihrem Botengange zurück war, gebrauchen, wenn er die trotz seiner erlöseten Brust doch in seinem Blute vorhandene Unruhe durch Studium oder lectura niederdrücken wollte. Similia similibus!

Nun stützte er über den Greueln, die der gütige Titus über die Stadt Jerusalem brachte, die feine schmale Stirn auf beide Hände, und wenn sich draußen in seinem geistlichen Junggesellenhaushalt etwas rührte, etwa ein Schritt seiner Stubentür nahe kam, sah er auf und mit rückwärts zuckenden Ellbogen von seinem Stuhl aus herum.

Er versuchte es, dem Josephus durch den Tobakskasten zu Hülfe zu kommen. Er stopfte die irdene Pfeife und brannte sie an. Sie ging ihm aus und ließ ihn seinem Gedankenspiel und dem steigenden Zweifel, ob er eigentlich mit einem guten oder einem schlechten Gewissen dasitze und auf die Rückkehr der Ameliethschen warte. Je weiter der Abend vorschritt, desto mehr vernahm er es durch das Rauschen des Windes im nahen Walde, aber nicht mehr aus dem Flavius Josephus, sondern aus der Beschreibung der Zerstörung Jerusalems im braunschweigischen Gesangbuche:

»O ein Geschrei vom Morgen! O ein Geschrei vom Abend! O ein Geschrei über ganz Jerusalem und den Tempel! O ein – Geschrei – über – Bräutigam und Braut!«

Plötzlich fuhr er auf, mit beiden Händen sich auf die Lehnen seines Armstuhles stützend. Draußen auf dem Flur auch ein Geschrei – die Winnefeldsche und die Ameliethsche in aufgeregtester Verhandlung ob des Einbruchs der letzteren mit stürmender Hand in sein stilles Gemach!

»Herr Paster –« es war die Winnefeldsche, die Eurykleia des in Gott ruhenden Vorgängers, die das Haupt in die Tür stecken wollte, aber von der Ameliethschen vom Türgriff weggerissen [101] worden war, und letztere war's, die ins Zimmer kreischte: »Herr Paster! Herr Paster! da bin ich! da bin ich wieder. Es ist ein böser Weg bei dieser Winterzeit; aber ich will ihn lieber dreimal länger, schlimmer und böser haben, als so was Schriftliches wieder abgeben an die Frau Pastern Holtnicker, als Sie mir heute in die Kiepe getan haben!«

»Ameliethsche!? ...«

»Ja, ja. Unsereiner weiß es ja nicht, was der liebe Gott da wieder an Unglück hat passieren lassen, aber – das Gesichte, das Gesichte! Und – Dörthe Krüger und Börries und Mamsell Hannchen und ich haben eine Weile gedacht, sie wird an des Herrn Pasters Schreibtisch uns hin mit dem Herrn Paster seinem Brief in der Hand, und dann, dann, als sie uns doch endlich wieder zur Besinnung kommt, da sagt sie nur wie eine Tote –«

»Nun?« ächzte das junge Wort Gottes von Derenthal.

»Ja, was sagte sie? Soviel ich aus ihrem Murmeln verstanden habe, sagte sie nur: Es sei schon recht, für heute abend sollte ich dem Herrn Pastor nur ein Kumpelment bestellen.«

Ehrn Emanuel Störenfreden schlug den Josephus zu, nahm den Kopf wiederum zwischen beide magere Hände und deutete nur mit dem einen Ellbogen nach der Tür. Als diese sich hinter den zwei Weibsleuten geschlossen hatte, erhob er sich aus seinem Stuhl, stand und erhob beide Arme mit ausgebreiteten Händen zur Stubendecke. Auf mittelalterlichen Bildern des jüngsten Tages stehen so eben aus dem Grabe Auferstandene und recken so die Hände zum letzten Richter auf:


Rex tremendae majestatis,

Qui salvandos salvas gratis,

Salva me, fons pietatis!


Noch ein paarmal hat an diesem Abend die Winnefeldsche das sonderbarerweise jetzt merkwürdig freundlich blickende Pfarrköchinnengesicht in die Tür geschoben und angefragt: ob der Herr Pastor denn gar nicht zu Nacht zu essen beliebten?

[102] Der junge geistliche Herr von Derenthal hatte an diesem Abend keine Lust und Neigung zu irdischer Nahrung. Um Mitternacht hat er noch gesessen, doch nicht mehr über des Flavius Josephus Buche vom jüdischen Kriege, sondern wieder über dem Evangelisten, auf den er in seinem Briefe an die Frau Pastorin von Boffzen zu seiner Rechtfertigung hingewiesen hatte:

Sankt Matthäus im Neunzehnten, Vers zwölf: – »und sind etliche, die sich selbst verschnitten haben, um des Himmelreichs willen. Wer es fassen mag, der fasse es.« – – – –

14. Kapitel

[103] Vierzehntes Kapitel.

»Weh, Niedersachsen, weh!«

Wie der Winter grimmiger wurde, ist auch die Faust des Fremden auf dem Lande zwischen der Elbe und der Weser, zwischen der Weser und dem Harz schwerer und schwerer geworden!

Und Gerüchte liefen im Lande um, daß grade nun wieder das Kriegsgewölk an der Elbe, der Konvention von Kloster Zeven zum Trotz, sich gar schwarz zusammenballe. In das Boffzener Pfarrhaus brachte ein solches Gerücht zuerst die Wackerhahnsche von Höxter mit, und Hauptmann Uttenberger horchte darob hoch auf, schüttelte den Kopf und trat unwillkürlich mit seinem armen kranken Fuß im Pantoffel den Kriegsmarsch der Schweizer Truppen Seiner Majestät des Königs Louis des Fünfzehnten.

Sie hatten in Höxter gewußt: in der Landdrostei Stade, im Lager bei Zeven sei etwas passiert, mit dem man nicht gerechnet habe, weder in Paris noch in Wien. König Frédéric habe einen Mann in den Janhagel, zu dem der Duc de Cumberland das königlich großbritannische Hülfsheer heruntergebracht habe, hineingeschickt, und mit der Konvention sehe es nicht zum sichersten aus. Übrigens sei es mit ihr ja von Anfang an bei den hohen Mächten gewesen, als ob man ein totgeboren Kind noch des weiteren würgen wolle. Herzog Ferdinand von Braunschweig sei der Mann, der grand capitaine, den Monsieur le marquis de Brandebourg beordert habe, für ihn nach dem Rechten zu sehen und das Krumme gerade zu machen. Was [104] nunmehr die nächste Zeit, aber besonders das nächste Frühjahr für hiesige Gegend bringen werde, das könne kein Mensch jetzt wissen und voraussagen. –

Sie saßen wieder im Boffzener Pfarrhause nach vollbrachter Tagesarbeit um den Tisch, wie wir sie kennen gelernt haben am ersten Abend unserer Bekanntschaft mit ihnen, nur zwei Gäste des Hauses mehr unter sich. Der eine, der Blumenmaler von Fürstenberg und Ausreißer des Herzogs von Cumberland, der andere – die Wackerhahnsche, die aber nicht saß, sondern an der Stubentür lehnte, auf ihren Stab gestützt, und sonderliche Blicke von einem zum anderen in der Freundschaft um den Tisch herumgehen ließ.

Von der »schönen Friedensjungfer« hatte grade an diesem Abend der Kabinettprediger Cober durch den Mund des Hausvaters und geistlichen Herrn, Ehrn Gottlieb Holtnicker, wieder wackere Worte geredet, doch leider, leider wenig zum Zweck. Es war auch ohne die Höxterschen Nachrichten aus der Landdrostei Stade über den Krieg draußen, wenig Friede unter diesem Dache und an diesem Herd!

Widerwille und verkniffener Grimm auf dem Gesichte der Hausmutter! Angsthaft, mit verhaltenen Tränen, geduckt wie ein Häslein in der Jagdzeit, das Pflegekind, das Kind des Hauses! Und nun gar der »Kümmerling«, der arme Pold Wille, der Feldflüchtige mit dem Strick um den Hals, in diesem seinem ihm wahrlich nicht aus Liebe, sondern nur aus christlicher Barmherzigkeit von der Frau Pastorin gegönnten Asyl! ...

»Hm, hm, hm,« brummte die Alte aus dem Landwehrturm, mit ihrem Stabende die Begleitung zu dem Schweizermarsch des Hauptmanns Uttenberger gebend, wie sie ihre »Giftaugen« zwischen ihren beiden, wie sie meinte, jetzt ihr allein vom Herrgott anvertrauten Schützlingen hin und her wandern ließ. –

Der Kabinettprediger hatte seine heutige Vermahnung beschlossen mit dem Verse:


[105]

Laß Güt und Treue sich begegnen,

Es küsse Fried und Recht sich hier:

Laß Sieg und Glück vom Himmel regnen,

Auf Erden wachse Treu herfür:

Wir stimmen bei mit unserm Liede:

Du Friede-Fürst, gieb Friede, Friede,


als die Frau Pastorin sagte:

»Was ist denn nun dem Herrn Kapitän seine Meinung? Kann es denn wirklich noch schlimmer im Lande werden, als es schon ist?«

»Ich kann für das Gegenteil nicht einstehen, Madame.«

»Aber, barmherziger Himmel, weshalb denn?«

»Weil Monseigneur, Ihr Prinz Ferdinand, Madame, ein gar gewaltiger und rechter Kriegsmann ist, lieb Fraueli, und nunmehro erst den richtigen Krieg an der Weser wie an der Elbe in die Hand nehmen wird,« seufzte Hauptmann Uttenberger. »Der Herr Pfarrer wird es der Frau Pfarrerin besser als ich Ungelehrter sagen können, wie das römische Reich teutscher Nation solche Sach auf seinem Grund und Boden zu handhaben und in die Länge zu ziehen beliebet. Was der Herr Herzog von Richelieu in Hannover zu der Sache tun werden unter so veränderten Umständen –«

Der Hauptmann zuckte hier die Achseln, murmelte Unverständliches und fuhr erst nach einer Weile fort:

»Madame de Pompadour wird den Herrn Herzog eben bei veränderten Umständen recht gern wieder bei sich sehen in Paris. Er ist ein recht unterhaltsamer Herr und versteht es, anderen Orts sein Spiel wohl aufzunehmen, sollte es ihm jetzt an der Elbe aus der Hand geschlagen werden. Doch wie es auch kommen mag im Frühjahr, wenn das Eis aufgeht, der Herzog von Richelieu wird seine Zeit ausnützen hier zu Lande! Ihr da, Frau an der Tür, wie heißen wir ihn unter uns schon drüben in Höxter?«

»Petit père La Maraude, mon capitaine!« sagte die Wackerhahnsche, [106] die Hand militärisch grüßend zur Stirn hebend. »Ihr fanget jetzt schon an, selber euch der Sache zu schämen; aber – verdeutschet es nur den Herrschaften des besseren Verständnisses wegen, Hauptmann Uttenberger!«

Sie stieß so zornig den Stab auf, daß allen drei Weibern am Spinnrade der Faden brach, der Pastor seinen Lehnstuhl zurückschob, und der Blumenmaler Pold Wille, wie Schutz suchend, seinen Schemel hinter den Stuhl des Hauptmanns rückte.

»Vater Plünderung! Aetti Greifzu! Väterli Raubsack!« murmelte der alte Söldner des Königs von Frankreich, am greisen Schnurrbart kauend, als ob er zum Ingrimm auch so etwas wie Scham und Schande seinen Wirten und Wohltätern gegenüber dran zu verbeißen habe. Schwer ließ er dann die flache Hand auf seinen auch an diesem Abend vor ihm aufgeschlagen liegenden Hirtensänger vom Schlachtfeld bei Hastenbeck fallen und seufzte:

»Ich kann dem nicht widerreden, Herr Pfarrer. Wir greifen von oben zu und werden in diesen unseren Winterquartieren keinen mehr um Diebstahl und Rappuse unten durch die Spitzruten jagen –«

»Vivat Prinz Ferdinand!« klang es von der Tür her, drohend scharf und rauh, hier an der Weser der erste Nachhall des Geschreis und Waffenklirrens, das sich am 23. November im Lager bei Stade an der Elbe erhoben hatte.

Sie stieß von neuem mit ihrem Stocke auf, die Veteranin aus dem Landwehrturm, und streckte drohend die Faust gegen den Schweizer Söldner aus.

»Um Diebstahl, Raub und Mordbrand jagen sie keinen bei euch durch die Ruten, Hauptmann Uttenberger; dafür aber von den Ausreißern von Kloster Zeven alles, was in die Lande Braunschweig und Hannover gehört. Er hätte doch besser getan, bei Seiner Fahne zu bleiben, Musche Wille: nur Einer hier im Haus, ich will mal sagen, Frau Pastern, unser Hund Ryn, [107] braucht nur einen Blaff darob nach Höxter hin zu tun, und sie haben Ihn an den Schlafittchen, Musche Wille! He, he, he, gute Freundschaft und Kameradschaft, liebster Herr Pastor und Frau Pastorin, wir, wie im Feldlager so in der Garnison, verstehen uns auch auf das Blumenmalen! Blaurot, rosenrot, blutrot! Nehme Er Seinen Buckel vor unseren Pinseln in acht, Musketier Wille, und bitte Er Freund und – Feind hier im Hause, daß ein jeglicher, wenn auch nur aus christlicher Barmherzigkeit, Ihm den Weg durch die Gasse, ein Sponton hinter sich, ein Sponton voraus und die Bleikugel im Maule erspare ... Da hat sie so eine, liebste Frau Pastorin!«

Sie hatte in der Tasche im Unterrock gesucht, und nun trat sie an den Tisch und warf etwas auf ihn hin, was der Frau Pastorin am Spinnrade und dem Idyllenbuch vor dem Hauptmann Uttenberger zurollte.

»Es ist ein guter Freund von mir gewesen, der sich die Zähne dran ausgebissen hat. Junge, junge, gesunde Zähne – Sie zeigt keine hübscheren, Mamsell Holtnicker, wenn Sie lacht beim Tanze! Auf der Insel Sizilia, in der Stadt Messina war's, wo er auf dem blutigen Stroh nach seiner Mutter schrie und mir unter den Händen einging, mit dem Gesicht in meinem Schoß. Ein Spanier war's, aber das bleibt sich gleich, ob spanisch, kaiserlich, preußisch oder fransch – die beste Kameradschaft macht's immer am mitleidigsten ab, wenn sie am festesten zuhaut. Einerlei ob in Sizilia oder in Höxter, Frau Pastern. Hüte Er Seinen Buckel, Musketier Wille! Dörthe, sieh nach deiner Mamsell, und nun guten Abend, Herrschaften, und, Herr Pastor, allerschönsten Dank auch diesmal für Seine schöne Predigt von Seiner schönen Friedensjungfer ...«

Ehe sich einer oder eine um den Abendtisch Ehrn Gottlieb Holtnickers aus seiner Betäubung aufgerafft hatte, war sie gegangen, hatte sie die Stubentür nicht etwa hinter sich zugeschlagen, sondern leise zugezogen.

[108] Nun stapfte sie durch die Dezembernacht ihrem Wartturm zu und lachte auf dem Wege sonderbarerweise, wenn es auch nur ein grimmiges Lachen auf dem Stockzahn war.

Sie wußte, was sie mit ihrem Wort und ihrer zerbissenen Flintenkugel hatte ausrichten wollen; insbesondere bei der Frau Pastorin. Sie wußte es genau, wem zum Besten sie gleichfalls eben ihre Kabinettpredigt gehalten hatte. Ehrn Gottlieb Cober hätte wahrlich da nicht besser und eindringlicher zum Herzen reden können als sie, die, ohne sich ein Gewissen draus zu machen, als ein jung Eheweib in den Blumenjahren mit Büchse und Spaten im Amt Hunnesrück dem Liebsten auf der Wilddiebsjagd das Geleit gegeben hatte, als sein bester Kamerad. –

15. Kapitel

[109] Fünfzehntes Kapitel.

Die zerbissene Kugel aus Messina strich Hauptmann Uttenberger vom Tisch und schob sie in die Hosentasche; hätte er den zerknitterten Brief Ehrn Emanuel Störenfredens, den die Frau Pastorin immer noch in ihrer Tasche mit sich trug, dabei gehabt, so hätte er mit einem Griff in der hohlen Hand seiner lieben barmherzigen Gastfreundin, Johanne Holtnicker, das Werg hinhalten können, aus dem sie bis zum heiligen Christ, bei Tag und bei Nacht, all ihr Elend aus ihrem guten, mitleidigen christlichen Herzen zu spinnen hatte. Bei Tag und bei Nacht, im Wachen und, noch schlimmer, im Traum, im Verkehr mit Mann und Kind und Haus und Dorf und am grimmigsten mit sich selber!

Der Faden ihrer Tage lief ihr wahrlich die nächsten Wochen durch, bis zum heiligen Christ hin, nicht ohne Knoten durch die Hände. Daß er mehr als einmal nicht ganz abriß, war aber jedenfalls ein Zeichen, daß unser Herrgott ohne sie in seiner verfahrenen Welt und besonders in Boffzen noch nicht auskommen konnte, daß Er (sein Name sei gepriesen!) und die Welt um sie her sie noch recht sehr nötig hatten!

Er hatte hochmögenden Herrschaften auf seiner Erde auf die scharfnägeligen blutigen Finger zu passen, der alte Herr da oben, und hat wohl nicht dabei geschmunzelt wie da, als er in der Nacht, nachdem die Wackerhahnsche ihr schauerlich Merkzeichen zu dem Kabinettprediger Cober und dem Salomon Geßner auf den Familientisch niedergelegt hatte, die Frau Pastorin schlaflos auf ihrem Bette sagen hörte:

[110] »Und wenn sie mir alle verhungern – auch das letzte wird in den hineingestopft! Die Verantwortung,den nicht heil aus dem Hause geschafft zu haben, nehme ich nicht mit auf mein Sterbebett! O du allbarmherziger Himmel, was legst du deinen Menschenkindern alles auf? Alles wird in ihn hineingefüttert – das letzte Huhn, das letzte Ei, der letzte Schinken! Was Mann? was Kind? was Hausgesind? Hat mich der Herr in die Hand des fremden Fressers gegeben, so soll er mich auch bereit finden, seinen heiligen Willen zu tun, aber dann auch –«

Unser Herrgott auf seinem allerhöchsten Richterthron mußte sich wohl den Schlußsatz selber machen. Für den Blumenmaler Pold Wille ging, was sein körperlich Wohlbefinden anbetraf, das Allerbeste aus dem nächtlichen Ringen seiner widerwilligen Gastfreundin hervor: was das andere, zum Beispiel seine Herzensbedürfnisse anging, nun, so war da der Prozeß eben noch nicht entschieden, und das Ende lag grade so im Dunkel, wie das des eben begonnenen dritten Krieges um die Grafschaft Glatz und die Fürstentümer Breslau, Brieg, Schweidnitz, Liegnitz, Öls, Ratibor, Trachenberg, Jauer, Carolath, Münsterberg, Sagan und wie sie sonst noch heißen mochten, die Königreiche und Standesherrschaften der Erde, wie sie so den Söhnen der Menschen nicht bloß von dem sehr hohen Berg bei Jerusalem gezeigt und zum Zugreifen hingehalten werden. –

Kein Kuckuck konnte es im Nest eines durch ihn gefoppten Grasmückenmütterleins besser haben, als der Fürstenberger Blumenmaler in diesen bitterbösesten Zeiten unter dem Dach und in der Pflege der Pfarrmutter von Boffzen. Und es gedieh ihm, gottlob! Bis zu Gewissensbissen trieb sein von Tag zu Tag sichtbarer werdendes Besserbefinden seine widerwillige Pflegerin. Versündigte sie sich doch nicht an den anderen, an Mann und Kind und Knecht und Magd und auch am armen guten Hauptmann Balzer Uttenberger durch das, was sie ihnen [111] abdarbte, um es dem – nichtsnutzigen Malerbengel in den Hals zu stopfen – sich zuliebe? Ja, nur um ihn sich zuliebe sobald als möglich wieder marschfertig zu haben und ihn – aus dem Neste werfen zu können – letzteres ganz gegen die Naturgeschichte, was die Kuckucksauffütterung durch Mutter Grasmücke anbetrifft. –

Nun müßten wir an dieser Stelle eigentlich die damals zuerst angelegten »Landesinvasion-Kostenregisier« aufgeschlagen dem Leser vorlegen, um der lieben Frau völlig gerecht zu werden! Was nützte es aber? Es war eben in Niedersachsen von der Elbe bis zum Harz kein Haus und keine Hütte, wo nicht die fränkische Räuberfaust in die Sparbüchse, die Speisekammer und den Brotschrank eingriff. Sie haben es natürlich heute vergessen in der Provinz Hannover wie Anno Siebzehnhundertsiebenundfünfzig der Marschall von Richelieu ihr damaliges Kurfürstentum dem Pariser Generalpächter Gautier in Pacht gab und es ihm zu zärtlichster Rücksichtnahme auf beiderseitigen Vorteil anbefahl, und wie auch dieser letztere Herr sich seine Hülfsgenossen zu wählen wußte.

Am 23. Juli 1789 trugen sie in Paris auf einer Pike einen Kopf herum, dem sie eine Faust voll Heu in den Mund gestopft hatten. Joseph François Foullon hieß der Mann bei Lebzeiten, und die Frau Pastorin von Boffzen hat ihn persönlich kennen gelernt. Die Lande Braunschweig, Lüneburg und Hannover erinnern sich seiner als Feind; seine eigenen Landsleute gaben ihm schuld, daß er gesagt habe: ihm sei es schon recht, wenn das französische Volk bis zum Grasfressen herunterkomme. Als sie ihn auf das unvorsichtige Wort hin von seinem hannoverschen Beutegut Juvisy als Vierundsiebzigjährigen abholten, ihn an einem Laternenpfahl in die Höhe zogen und nachher das andere mit ihm vornahmen, gaben sie auch der armen Frau Hanne Holtnicker, sowie den Landen rechts und links von der Weser eine späte Genugtuung. Daß grade ein Jahr vorher Armand [112] Duplessis, Herzog von Richelieu, Marschall von Frankreich, zweiundneunzig Jahre alt, in seinem hannoverschen Pavillon sanft und friedlich entschlafen war, noch in seinem Bette und nicht auf der Guillotine, ist wohl nur einer der behaglichen Scherze gewesen, die die Weltregierung sich dann und wann gestattet, hoffentlich nur, um uns zu zeigen, daß die allerhöchste Entscheidung immer noch ausständig bleibt bei einem letzten Tribunal jenseits des bedenklichen bunten Schattenspiels dieser Erde.

Es war keine Kleinigkeit im Jahre Siebenundfünfzig unter dem »Mitindieschüsselgreifen« der Herren Richelieu, Gautier und Foullon so einen Deserteur von Kloster Zeven wenigstens annähernd wieder so zu Fleisch zu bringen, daß er einem Blumenmaler des Herzogs Karl von Braunschweig glich; aber Mutter Holtnicker hat es fertig gebracht – grade noch zur richtigen Zeit, wie nachher die Wackerhahnsche sagte und, wie wir nun sehen werden, ihre Gründe für das Wort hatte. –

Sie lagen auch nicht auf Rosen in ihren Quartieren von der »Ostsee bis nach Eisenach«, von »Braunschweig bis nach Lippstadt«, die Freunde der römischen Kaiserin und Gäste des Herzogs Karl von Braunschweig, die mit dem Herrn von Richelieu auf Besuch gekommen waren zwischen Weser und Harz. Die Hospitäler wurden voll und die Musterrollen der Regimenter leer, und die Veteranin aus dem Landwehrturm wußte es, wie man sich da unter solchen Umständen am besten in der Verlegenheit half in allen Armaden damaliger Zeit.

»Verlaß dich drauf, Immeken,« sagte die Wackerhahnsche. »Ich bin auf der Wacht für euch und bleibe darauf bei Tag und bei Nacht. Das beste, was der Mensch aus der Welt mit nach Hause bringen kann, ist doch nur seine Bekanntschaft mit ihr. Und da es mir unser Herrgott nicht zugelassen hat, daß ich ein eigen Kind in den Mantel nehmen und tragen konnte, so nehme ich im Notfall und wenn's zum Schlimmsten kommt, deinen Schatz herein und bringe ihn dir in Sicherheit. Die [113] Wege durch den Solling kennt die Förstern Wackerhahn doch noch besser, als des Königs von Frankreich Höxterscher Kommandante, und wo heute einzig und allein der richtige Unterschlupf für deinen Blumenmaler und des Cumberländers Deserteur zu finden ist, Kind, darüber habe ich mir auch schon meine Meinung zurecht gelegt. Heile Füße und festes Schuhwerk werden bei dieser Jahreszeit freilich wohl dazu gehören.«

»Das habe ich alles!« sagte Immeke von Boffzen.

»Du?« rief die Wackerhahnsche, verwundert die Kleine ansehend. »Ja, Kind, wie meinst du denn das, und was denkst du dir?« fragte sie nach einer Weile lächelnd und strich dabei ganz zärtlich über ihres Lieblings Stirn und Scheitel.

Am Abend des Tages, an welchem dieses Gespräch vorfiel, saß sie noch lange in ihrem Turm, neben ihrem Feuerherd. Und als sie sich auf ihrem Felllager wie ein Igel zusammengeballt hatte, träumte ihr, daß sie mit zwei Kindern, auf jedem Arme eines, durch den Winterschnee, den Krieg, den Solling und den Harzwald sich durcharbeite, um Serenissimo, Herzog Karl von Braunschweig auf seinem Schloß zu Blankenburg es deutlich zu machen, daß es sich für einen guten Landesvater wohl nicht recht schicke, wenn er nur für sich, die Seinen und seinen Hofstaat allein in solcher Zeit beim wilden Feinde Asyl ausmache. –

Ihr träumte von einer schönen Rede, die sie auf dem Blankenburger Schloß hielt, und welche von dem besten Erfolg begleitet war. Am anderen Morgen aber in Höxter auf dem Markt erlebte sie etwas, was, wenn es nötig gewesen wäre, es ihr noch viel deutlicher anheimgegeben haben würde, daß solch ein Erfolg nach einem Eindringlich-zum-Gewissen-reden vor allerhöchsten Herrschaften, etwas sehr Wünschenswertes sei für alles, wofür sie jetzt noch, so spät in ihrem Leben grimmig-weichherzig, tränenvoll-bösartig in Mitleid, Zärtlichkeit und Herzensangst die Kinderfrau agieren wollte. –

[114] »Das sind Münsterländische, Frau Wase,« sagte neben ihr im Morgennebel eine Stimme. »Sie fangen hier auf unserer Seite scharf an mit der Harke übers Land zu fahren und nehmen auch von deutschem Volk, was sie kriegen können. Das Fieber soll höllisch gewirtschaftet haben in ihren Regimentern an der Elbe. Na, Gevatterin Wackerhahn, und was verschafft uns denn heute morgen hier die Ehre? Hat Sie das Stillesitzen wieder mal satt? Will Sie diesmal für den französischen König wieder mit unter der Bagage auf dem Marketenderkarren?«

Sie hatten sie auch wohl auf dem Höxterschen Rathause schon in den Akten gehabt, und sie kannte den Ellbogen, der ihr zu dem Wort in die Seite gesetzt wurde, recht gut. Meister Voßkuhl, der Magistratsdiener, war's, der ihr aus alter guter Bekanntschaft das Spektakel deutete, welches sich eben hier, links von der Weser, vor ihr abspielte und in welches sie unter ihren buschigen, grimmig zusammengezogenen greisen Augenbrauen weg schon ohne die freundschaftliche Hinweisung sachverständig genug hineinschaute.

Bewaffnete Begleitmannschaft zu beiden Seiten, zottelte und trottelte durch den frostigen Morgen ein Zug verkommenster Jammergestalten her, und der französischen Kommandantur zu. »Wie man sie vom Stroh und von der Straße aufgegriffen hat!« meinte Meister Voßkuhl. »Für den Werbegroschen, den die noch in der Tasche haben, kauft sich auch keiner von ihnen einen Strick mehr, um seinem Pläsier und Gloria ein kurzes Ende zu machen. Lauter glorreiche Alliierte unserer römischen Kaiserin (Gott erhalte sie!), die freiwillig müssen; der Herr Fürstbischof wissen auch wohl warum, weshalb sie allergnädigst keinen Einspruch gegen die Gewalttat tun. Ja, ja, seit der Braunschweiger im Lager bei Stade die Sache des preußischen Ketzerfritzen in die Hand genommen hat, geben und nehmen wir alles hier links von der Weser, alles, was einen Platz in der Front und Feuerlinie ausfüllt. Nu, Sie weiß es ja besser als [115] unsereiner, Frau Förstern, wie wenig in so eiligen und heiligen Zeitläuften nach der Landsmannschaft beim Appell gefragt wird. Wo ein Franzmann gestanden hat, da kann ja auch wohl nach ihm ein Bauerjunge und Bürgersohn aus dem Bistum Minden und dem Hochstift Paderborn eine Kuhle ausfüllen und sich mit einem:Vive le roi den Spaten nachschlagen lassen ...«

Ein kümmerliches, verdrossen-widerwilliges Vivat hoch und Vive le roi klang grade in diesem Augenblick von dem Quartier des gegenwärtigen Kommandanten von Höxter, vor dessen Tür der neue Zuzug zum Heer des Marschalls von Richelieu Halt gemacht hatte, her. Monsieur le Colonel im Schlafrock und der Zipfelkappe legte sich eben zu freundlichster Begrüßung ins Fenster, und was an Gegenpolitesse durch fichtre – foutre – tonnerre de dieu – sales cochons, Faust- und Kolbenstöße aus einem westfälischen Rekrutentransport Seiner allerchristlichsten Majestät, während damaliger Zeitläufte herauszuholen war, das holte die Begleitmannschaft heraus. Die Wackerhahnsche stieß ihren Stock nicht auf wie sonst wohl, wenn es ihr ums Zwerchfell herum nicht so richtig zu Mute war, oder sie einem Wort Nachdruck, einer Gedankenreihe Abschluß zu geben wünschte. Sie lehnte nur darauf, wie wenn sie im Boffzener Pfarrhause von ihrem Winkel aus dem Kabinettprediger Cober zunickte, oder den Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann seinem Landsmann Geßner nachmurmeln hörte: »Nicht den blutbespritzten kühnen Helden, nicht das öde Schlachtfeld singt die frohe Muse; sanft und schüchtern flieht sie das Gewühl, die leichte Flöt' in ihrer Hand –«

Oder gar:

»Es ist vorübergegangen, Daphne, das schwarze Gewitter; die schreckende Stimme des Donners schweigt. Zittre nicht, Daphne! Die Blitze schlängeln sich nicht mehr durchs schwarze Gewölk; laß uns die Höhle verlassen; die Schafe, die sich ängstlich [116] unter diesem Laubdach gesammelt, schütteln den Regen von der triefelnden Wolle, und zerstreuen sich wieder auf der erfrischeten Weide. Laß uns hervorgehen und sehen, wie schön die Gegend im Sonnenschein glänzt ...«

»Kinder, es wird Zeit! Ja, es wird Zeit, arme Kinderchen!« murmelte sie, als sie in diesem Jahre der Schlachten von Hastenbeck und – Roßbach, eine Woche vor Weihnachten, unter dem Schneehimmel ihrem Turm übers Bruckfeld wieder zuhumpelte.

16. Kapitel

[117] Sechzehntes Kapitel.

In seinem Leben des Markus Antonius schreibt Plutarch: »Mein Urgroßvater Nikarchos hat oft erzählt, daß alle Bürger von Chäroneia ein gewisses Maß Weizen auf dem Rücken bis an das Meer bei Antikyra zu tragen gezwungen waren und durch Peitschenhiebe fortgetrieben wurden.«

Das war vor der Schlacht bei Aktium: aus der Zeit vor der Schlacht bei Leuthen hätte mein Urgroßvater vielleicht erzählen können:

»Dreihundert heulende Bauernweiber aus dem Fürstentum Grubenhagen begegneten mir heute auf der Landstraße mit Körben, in denen sie die in der Bergstadt Lauterberg gegossenen Kugeln der französischen Besatzung von Göttingen zutragen mußten.«

Es bleibt eben immer dasselbe in der Welt: wer die oberste Hand hat, verwendet sie selten zum Streicheln, sondern gebraucht sie lieber fest als Faust. Und wie die Welt nun einmal ist, tut er auch gar nicht übel dran, handelt jedenfalls durchaus nicht unverständig und gegen sein Bestes.

Am fünften des Christmonds fiel die Schlacht bei Leuthen vor, und am 23. Dezember fuhr der fränkische Besen über die Weser aufs rechte Ufer und versuchte dort, noch unter dem Scheine des Rechts, die von Kloster Zeven aus verstobene Spreu zum nützlichen Verbrauch durch römisch kaiserliche Majestät, die Frau Königin von Ungarn und König Louis von Frankreich und Navarra zusammenzukehren.

Von den Hannoveranern war der herzoglich braunschweigische Untertan und Blumenmaler Pold Wille durchgegangen. [118] Und durch die Hannoveraner ließ grade um diese Zeit Herzog Ferdinand von Braunschweig die Truppen seines Herrn Bruders, des Herzogs Karl, augenblicklich von Richelieus Gnaden nur souveräner Herr der Grafschaft Blankenburg, umzingeln und ihren General von Imhof gefangen setzen, um ihr Durchbrennen nach dem Willen ihres Kriegsherrn zu hindern und sie zum Dienst und für den Gebrauch Seiner Majestät König Friedrichs in Preußen bei sich festzuhalten. Toller als wie damals nach Kloster Zeven ist wohl nur selten um Eid und Ehre deutschen Kriegsvolks und deutscher Ritterschaft vonMonsieur Arlequin mit der diplomatischen Pritsche und Gevatter Hanswurst mit dem politischen Plumpsack herumgetanzt und zugehauen worden, und – »grade zur Weihnachtszeit und ins Kuchenbacken für den heiligen Christ hinein!« ...

Ach, ja, – »so ein Fest und Kuchenbacken, wie diesmal – dafür doch lieber gar keines – Gott verzeihe mir die Sünde!« seufzte im Boffzener Pastorhause die Frau Pastorin.»Säße nicht der Papa in seiner Stube über seiner Predigt, dazu mit einem Kopf, wie ich ihn noch niemals so dick und rot und schmerzensreich an ihm gesehen habe: ich ließe Backtrog Backtrog sein und sagte: Immeke! Dörthe! krämpelt die Ärmel herunter und laßt den Teig stehen, wie er steht. Geht meinswegen über die Weser ins Katholische und fragt da an: ob sie noch mehr Lust als wie wir hier zu so was haben?! O du himmlische Güte, ist es denn eine Menschenmöglichkeit, daß ein christlich lutherisches Eheweib und noch dazu eine Pfarrersfrau durch die Zeitläufte zu solchen sündhaften Worten und Reden gebracht werden kann? Aber was mein Pastor tun kann, tue ich auch und gebe Gott und seinen angeordneten heiligen Gebräuchen die Ehre, bis sie nach seinem Willen und besseren Einsehen ihre Flintenkolben mir auf die Krähenaugen setzen. Nachher weiß ich freilich nicht, was wir noch zu seinem Lob und Preis zu dieser Zeit tun können, Mädchen!«

[119] Ach, und trotz allem wußte sie doch noch nicht genau genug, wie nahe die Gewehrkolben ihren Zehenspitzen waren und was sie zu dem gröblichen Aufstampfen sonst noch erleben sollte – grade in dieser lieben Weihnachtszeit, zum heiligen Christ, wo die Kinder sonst doch am artigsten zu sein pflegen und am wenigsten etwas tun, was Vater und Mutter Verdruß und Kummer verursacht, oder sie gar außer sich bringt und die Hände überm Kopf zusammenschlagen macht.

Was ihr am 23. Dezember das von Gottes und des Kabinettpredigers Cober Wunderwagen ihr in die Arme gefallene Pflegekind – ihr Kind, ihr Kind – unser Bienchen von Boffzen antat, und wie es meinte, nach Gottes Willen antun mußte, das konnte geschehen; aber wenn noch für Mutter Holtnicker ein Zeichen, daß die Welt untergehen wollte, fehlte, so war solches hier gegeben. Immeke von Boffzen ließ an dem Tage Vater und Mutter um des Liebsten willen.

Wie das aber kommen mußte und also auch so gekommen ist, das zu erzählen erfordert ein eigenes Kapitel, und ist es hier, an dieser Stelle, mehr als sonst wo in unserem treuen Bericht schade und ein großer Mangel, daß der Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann keine Papiere hinterlassen hat. Was wir über die Sache von einem vergilbten Blatt in der Handbibel Ehrn Gottlieb Holtnickers in Erfahrung gebracht haben, ist uns zwar sehr von Nutzen gewesen, aber reicht in Anbetracht der Merkwürdigkeit des Falls längst nicht aus. So tritt denn wieder einmal die Tradition in ihre Rechte, und wir gehören wahrlich nicht zu denen, welche das Wahre aus mündlicher Überlieferung in der Geschichte der Völker, der Religionen und des menschlichen Herzens glauben entbehren zu können, welche nur das für das zu Recht Beglaubigte halten, was seit Erfindung der Hieroglyphen und der Buchstabenschrift in Stein gehauen, in Ton gedrückt, oder auf Papyrus, Lumpen- und Holzpapier schwarz auf weiß vorgelegt werden kann.

17. Kapitel

[120] Siebzehntes Kapitel.

Das Blatt Papier, von dem uns wenigstens ein Stück erhalten worden ist, liegt heute noch in der Bibel Ehrn Gottlieb Holtnickers wahrscheinlich an derselben Stelle, wo er es seiner Zeit einschob. In den Klageliedern Jeremiae, zwischen dem »Jammerlied über der Juden Trübsal« und dem Gebet des Propheten um »Erlösung des übelgeplagten jüdischen Volkes«. Und man sieht es heute noch der Handschrift an, wie schwer es auf dem Herzen lag, von welchem aus damals die Feder gelenkt wurde. Was von dem Text noch vorhanden und zu entziffern ist, lautet:

»Heute, am Abend vor Adam und Eva, im Jahre 1757, ist uns, meiner Ehefrau und mir, unsere liebe Pflegetochter Johanna Gottliebe Holtnicker durch Gottes Zulassung abhanden gekommen und uns nunmehr aus einem Herzens- auch zu einem Schmerzenskind geworden. Der Feind hat mein Haus überschwemmet, doch das, was er suchte, unseren aus christlichem Mitleid und nach unserer Pflicht beherbergten Gast, Seiner Durchlaucht künstlichen Porzellainmaler, Mr. Wille aus Braunschweig, nicht gefunden und in Banden mit sich nehmen können. Sie haben in ihrem Zorn mir und meinem lieben Ehegespons viel Ungemach angerichtet in Stube, Küche, Keller, Haus und Stall. Aus dem Dorfe hat das fremde Kriegsvolk mit sich geführt Jürgen Stuckenberg, Halbspänner Stuckenbergs, und August Dörgern, Brincksitzer Dörgers Jungen. Unter Vorgeben, daß auch sie nach der Konvention von Kloster Zeven durch [121] Bewilligung Serenissimi, unseres durchlauchtigsten Herrn Herzog Karls, unter die Fahnen und in den Eid des Königs von Frankreich gestellt worden seien. Vater und Mutter sind ihrer Kinder wegen bei mir gewesen mit Fluchen und Jammern um Hülfe oder Trost. Wehe, sie kommen um das auch zu anderen Zeiten nur zu oft umsonsten: woher sollte ich dergleichen heute aus der eigenen zerschlagenen Seele nehmen? Der allbarmherzige Gott halte seine Hand über alle, die gezwungen oder freiwillig aus ihrer Zugehörigkeit ins Elend mußten! Unser Pflegekind und liebe Tochter Johanna ist freiwillig –«

Hier reißt das Blatt ab – ist das Folgende abgerissen worden, fehlt der Rest gerade so wie bei den Jahrbüchern des Cajus Cornelius Tacitus. Wer sagt uns, wozu im Laufe der Zeiten der Rest der Aufzeichnung verwendet wurde: ob zu einem Fidibus für die Tobakspfeife, ob zu anderem dem andringenden Augenblick nutzbaren Zwecke? Wo blieben wir mit unserem Wissen von den Schicksalen des Bienchens von Boffzen und ihres Blumenmalers, wenn wir die mündliche Überlieferung nicht hätten? –

Wir haben leider schon von vielen dunkeln Tagen in diesen Historien und Annalen berichten müssen; einer der dunkelsten war der dreiundzwanzigste des Christmonds dieses schlimmen Jahres.

An diesem Tage hat Hauptmann Balthasar Uttenberger in französischen Diensten seinen Herrn verleugnet, wie der heilige Petrus den seinigen; aber mit größerer Berechtigung. Er ist auch nachher, beim ersten Hahnenkrat, nicht hingegangen und hat bitterlich geweint. Als der Gockel, Meister Henning, zum erstenmal den neuen Morgen ansang, hat er auch wach gesessen auf seinem Bett, wieder in großen, körperlichen Schmerzen und dazu schweren Sorgen und Ängsten um die Frage:

»Wo wandern die Kinder? Was wird itzt in dieser kalten nordischen Winternacht aus Daphnis und Chloe?«

[122] Ach, der alte Altenburger Kabinettprediger Gottlieb Cober hätte um diese Stunde doch wohl besseren Trost für ihn gehabt, als der junge Zürcher Poete, Monsieur Salomon Geßner, mit seinem: »Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!« – –

Die fremdländische Besatzung von Höxter hatte jetzt wirklich ihre Gewehrkolben der Pastorin von Boffzen vor den Schuhspitzen auf den Boden gestoßen – hatte sich bei ihr zuerst, vor allen anderen im Hause, erkundigt, wo sie ihren Blumenmaler vor dem König Louis, dem römischen Reiche und der Königin von Ungarn versteckt halte? Ihren Blumenmaler! ... Wer damals in den Nußbüschen unter Schloß Fürstenberg der Mutter Holtnicker gesagt hätte, welche bebende Herzensangst sie binnen kurzem um den Bösewicht zu tragen haben würde! Wer ihr gesagt hätte, wie sie ihr Leben lieber hingegeben haben würde, als daß sie dem französischen Korporal verraten hätte, wo sich dieser Nichtsnutz von Blumenmaler, der ihr aus ihrem Garten und Leben die schönste Blume stehlen wollte, sozusagen hinter ihren ausgebreiteten Armen, unter ihren Röcken verkrochen hatte vor den Griffen dessen, was sie vordem vielleicht in ihrer Aufregung die ewige Gerechtigkeit genannt haben würde!

»Ah pardon, mon capitaine,« hatte nur der in Hauptmann Uttenbergers Gemach schauende Souslieutenant der Streifpartei, den Hut berührend, gelacht, und nach freundlichem Gegengruß des invaliden Kameraden und höflicher gegenseitiger Erkundigung nach dem augenblicklichen Befinden den Kopf wieder aus der Tür zurückgezogen, ohne weiter stören zu wollen. Ach, wer noch auf dem Schlachtfelde von Hastenbeck dem alten Schweizersöldner gesagt haben würde, daß er binnen kurzem imstande sein werde, seinem Kriegsherrn einen seiner grimmigsten Gegner aus dem Heer des Herzogs von Cumberland, [123] den Blumenmaler Pold Wille von der Wendenstraße und Schloß Fürstenberg zu verleugnen! ...

Unter seiner Bettstatt, auf der er wie gewöhnlich auch den Tag über, in seinen Rockelor gehüllt, saß, hatte er den Deserteur des Kurfürsten von Hannover stecken, während ihn der Kommandant von Höxter im Boffzener Pfarrhause nicht nur hinter jeder Stuben-, Kammer-, Stall-, Boden- und Kellertür, sondern bis in den Kleiderschrank der geistlichen Hirtin und ihres Eheherrn hinein suchte. Und das wahrlich nicht wie junge Dirnen, die aufs Veilchenpflücken gehen, oder Kinder, die dem Osterhas die Eier aus dem Nest nehmen möchten!

»Die Schweine! die Schweine! die Schweine!« jammerte mit zornmütig geballten Fäusten Dörthe Krüger, nachdem bei einbrechender Nacht dieser Besuch vom anderen Weserufer wieder Abschied genommen und der letzte aus der Gesellschaft ihr bei vergeblicher anderer Liebesmühe wenigstens noch einen Kuß gestohlen hatte.

»Und als ob der Herrgott es mir grade so diesmal zum heiligen Christ aufgehoben hätte!« ächzte die Frau Pastorin, bei machtlos hangenden Armen verstörten Blickes in ihrem verwüsteten Heimwesen um sich starrend. »Und das alles um solchen –«

»Frau! Frau – liebe Johanne!« rief der Pastor von seinem Lehnstuhl aus, seine Arme und Hände wie bittend und beschwörend erhebend. »Bedenke doch, liebe Johanne!«

»Jawohl, Holtnicker, wo steckt denn das Kind nur? .... Hanne! Hannchen! Hannchen! Hat denn niemand sich um das Kind in dem Tumult, in der Niedertracht gekümmert? Vater, hast denn du nicht es bei dir gehabt? Vater, wenn das Kind – wenn dem Kind –«

Der alte Herr hatte sich zitternd mit bebenden Knieen aus seinem Sorgenstuhl erhoben und murmelte:

»Das Kind! das Kind?«

[124] »Holtnicker! Vater, Vater, wenn uns das Mädchen –«

»Es hat an meinem Halse gehangen, als sie zu uns eindrangen,« rief der Pastor. »Wie in der höchsten Not hat es mich umfaßt, als sie zum Herrn Hauptmann die Treppe hinaufstiegen. Es hat mich heiß in unserer Angst geküßt, mit Tränen immer wieder geküßt und immer wie in Verwirrung von der Mutter, seiner lieben, lieben Mutter geredet, und dann kam der Franzos wieder vom Herrn Hauptmann herunter und drohte auf französisch, und was er fragte, verstand ich nicht, und währenddem ist das Kind mir aus der Stube geflohen, und ich bin bis jetzt des Trostes gewesen, Mutter, es habe nun bei dir seine Zuflucht genommen.«

Es war nach all dem wüsten Lärm in diesem Augenblick so still, daß man, wie Dörthe nachher meinte, die Totenuhr in der Wand klopfen hören konnte. Jedenfalls konnte man den Hauptmann Uttenberger, auf seinen Stab gestützt, die Treppe herunterstapfen hören.

Da stand er nun unter der Hausgenossenschaft. Sie hatten unwillkürlich mit ihren Fragen und Antworten und Ausrufen innegehalten, bis sie auch ihn nun als Teilhaber an allem anschreien, ihm klagen und ihm sein Teil an jeglicher Verantwortlichkeit zuschieben konnten. Und was das letztere anbetraf, so nahm er das auch sofort auf sich.

»Habet nit Sorge, habet nit Kummer!« sagte er. »Da ihr christliche Leut seid und unter einem geistlichen Dach hauset, so habet euren Herrgott auch jetzt nit unnütz im Munde, – der Herr Pfarr weiß es ja, wie das Bibelbuch davor warnet. Fraueli, Muetterli, Fraueli, singet und betet nicht bloß von seiner Gütigkeit und Allweisheit, sondern trauet auf sie! Ich mein', er hat im richtigen Augenblick gesagt: He nun so denn, so lauft, Kindli! und meine Meinung war es auch.«

Der Frau Pastorin Meinung war's fürs erste noch nicht.

»Was geht mich der Junge an? Das Mädchen! Holtnicker, [125] unser Kind! Kann uns das Kind, unser an uns und unser Herz genommenes Pflegekind das angetan haben?«

Und den alten Reisläufer vom Uri-Rotstock am Arm fassend und heftig schüttelnd, kreischte sie fast:

»Hauptmann Uttenberger, Monsieur, Herr Hauptmann, hat Er Seine Hand dabei, daß das Mädchen uns um den jungen Fürstenberger Fant, den Vagabunden so untreu geworden ist, so mag Ihm Gott verzeihen, ich aber vermag es nicht in dieser Stunde. Vater, Vater, kann es denn die Möglichkeit sein, daß das Taternblut, das du – ja und ich auch – das wir von deinem Gotteswunderwagen wie unter den Rädern vorgezogen und an uns genommen und uns zu eigen gemacht hatten, uns auf unsere alten Tage um den ersten besten hergelaufenen Fremden so mitspielen dürfe? Wenn das so ist, so verschwöre ich –«

»O Mutter, Mutter,« rief der Pastor mit vor Angst und Kummer heiserer Stimme, indem er nach den zuckenden Händen der vor Aufregung zitternden Frau griff. »Mutter, halte noch dein Wort zurück! Laß uns erst alles genau wissen, was uns Gott auferlegen will in diesen wilden, blutigen, tosenden Tagen. Laß uns dem Herrn nicht zu rasch mit bösem, ungeduldigem Wort in seinen Willen fallen. Er hat uns das Kind so manches Jahr durch zu unserer Freude im Haus gelassen, nachdem er es uns hergereichet hatte von seinem Wunderwagen herab: es wird gewißlich sein Wille nicht sein, es uns nunmehr zu einem Ärgernis und Fluch in unserem Alter zu machen. Geduld, Geduld, Mutter, o Mutter, laß uns Geduld haben unter jeglichem Kreuz, so uns der Herr auflegt!«

»Madame mag versichert sein, daß ich nichts dazu getan habe, Ihr Ihren liebsten Segensschatz zu nehmen,« sagte Hauptmann Uttenberger. »Aber uf mi armi türi Seele, Madame mag mir auch glauben, daß ich auch nichts dagegen gesagt haben würde, wenn das Kind mich gefragt hätte, ob es den Weg [126] gehen solle, den es wohl gegangen sein mag. Muetterli, Muetterli, Sie hat Ihr Leben im Frieden gelebet und hat noch keine Erfahrung davon, was der Mensch alles im Krieg über sich ergehen lassen muß und in Gottes Namen träget, weil er nit anders kann. Mein guter Kamerad aus dem Turm, mein Kriegskamerad aus dem Landwehrturm –«

»Die Wackerhahnsche!« schrie gellend des Bienchen von Boffzen Pflegemutter. »Dörthe! ... Börries, Börries! wo steckt denn der Mensche? er soll mir sofort nach dem Landwehrturm und mir die Alte holen. Weit können sie noch nicht sein, und wenn mir Einer zu meinem Recht an meinem Pflegekinde hilft, so ist's jetzt die Wackerhahnsche!«

»Die läßt schön grüßen, die Frau Förstern,« sagte Knecht Börries, in der Tür erscheinend. »Sie, die Frau Pastern, möchten sich nicht zu viele unnützliche Sorgen machen. Sie, als was die Frau Förstern Wackerhahn wäre, kennte den Solling gut genug und brächte unsere Mamsell und Musche Willen auch bei Nacht und zur Winterzeit schon durch und richtig unserem Herzog hin in sein Eksil in Blankenburg.«

»Hol mir den Mantel, Dörthe, bring mir meine Pelzkappe!« kreischte die Frau Pastorin. »Steck die Laterne an, Börries, und nimm den Knüppel! Der Hund soll auch mit – – weit können sie noch nicht sein ... Taternblut! o Taternblut! ... Mann, Mann, Holtnicker! Vater, Vater, was erleben wir da um unserer christlichen Barmherzigkeit und guten Herzens willen?!«

Damit brach sie in den Armen ihres ratlosen Eheherrn in einen Weinekrampf aus, und Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann, der so was auch noch nicht erlebt hatte, stand mit hängenden Armen und gefalteten Händen vor der kläglichen Gruppe und murmelte unverständliche Beruhigungsworte, die weder aus dem Kabinettprediger Cober, noch aus dem Idyllenbuch seines jungen Landsmannes Salomon[127] Geßner herstammten, sondern nach dem Feldlager, dem Exerzierplatz und dem Einrücken in die Schlachtlinie in manches Herrn Land schmeckten und sich ungefähr anhören ließen, wie: »Tusend Tüfel!Mort dieu! Che diamine!«

Später, in seinem Losament fragte er den guten Knecht Börries natürlich noch weiter aus.

»Mit Gesundheit in den Solling hinein sind die Frau Förstern und unsere jungen Herrschaften, Herr Hauptmann. Und noch mit knapper Not zur richtigen Zeit. Am Turm hinauf sind sie, die Franschen, und weil die Frau Förstern ihre Hausgelegenheit beiseite gebracht hatte, auf der Feuerleiter von der Kirche. Was der Jude für das gibt, was sie oben gefunden haben, kann ich nicht wissen; aber unser Mamsellchen und ihren Schatz haben sie nicht gefunden. Ach, Herr Hauptmann, wenn Dörthe Krüger unten bei der Frau Pastern so was um mich vollbringen würde, wie unsere Mamsell um ihren Musche Wille, ich wüßte nicht, was ich ihr dann zuliebe tun könnte!« ...

Es wurde eine böse, unruhige Nacht für das Boffzener Pfarrhaus. Niemand kam darin zu einem gesegneten, ruhigen Schlaf: auch der Hund Ryn nicht. Der hatte von dem welschen Überfall auch sein Teil abgekriegt, verspürte die Kolbenstöße und Fußtritte noch an seinen Rippen, träumte davon und schnappte im Traum mit heiserem Gebell um sich und der Schlacht bei Hastenbeck und der Konvention von Kloster Zeven nach. –

18. Kapitel

[128] Achtzehntes Kapitel.

Einen stillen, einsamen Christabend nach gewohnter Weise vermeinte der Pastor von Derenthal, Ehrn Emanuel Störenfreden, auch in diesem Jahr Siebzehnhundertsiebenundfünfzig verleben zu müssen. Er wußte das auch gar nicht anders, seit ihn hochwürdigstes Konsistorium hierher in den Wald gesetzt hatte, und glaubte sich grade diesmal, nach dem Brief an die Frau Tante in Boffzen, ihr Boffzener Bienchen betreffend, mehr denn je in der Stille des Herrn in Sicherheit gebracht zu haben. Seine Predigt für den morgenden ersten Weihnachtstag hatte er vollendet und, soweit es ihm nötig war, zu Papier gebracht: ob er darin mehr sich selber als seinen Bauern gepredigt hatte, dem wollen wir nicht weiter nachgehen. Nicht nur die Möglichkeit, sondern auch die Wahrscheinlichkeit hat das für sich.

Er war ein Frühaufsteher, noch von Schulen und vom Sitzen zu Füßen seines hohen Lehrers, des berühmten Herrn Abts Jerusalem her, und so hatte er auch jetzt das Amen in zierlicher Frakturschrift seiner Homilie noch bei Lampenschein angefügt und saß nun mit über der Handschrift gefalteten Händen, nach den niederen Fenstern seiner Stube blickend, und auf den Morgen, auf die Tageshelle in einem letzten Nachsinnen über sein Werk und sein Dasein in der Zeitlichkeit wartend. Es war draußen milder geworden, die kleinen Scheiben versperrten nicht mehr die Aussicht in die Welt durch glitzernde Eisblumen; sie »liefen«, das heißt, das Wasser troff von ihnen herab, und der Pfarrer von Derenthal ließ sie laufen und blies [129] seine Lampe aus: die Dämmerung war da, und das Brennöl auch etwas, was man damals besser sparte als unnützlicherweise vergeudete.

Er erhob sich aus dem Stuhl, schob Holz, das gottlob nicht gespart werden brauchte, in den Ofen und trat ans Fenster; die Winnefeldsche, die sich auch schon seit geraumer Zeit am Küchenherd rührte, mit seiner Morgenbiersuppe erwartend.

Das Dorf liegt heute auf weiterer Ackerflur als damals. Wo heute Feld und Wiese ist, war damals noch Wald rundum. Stünde der Pfarrer von Derenthal, Emanuel Störenfreden, heute wieder auf von seiner Ruhestätte an der Kirchenmauer, so würde er die Gegend wohl ebensowenig wiedererkennen, wie er sich mit seiner Gemeinde und seinem Schulmeister von 1757 in der Gemeinde und dem Schulmeister von 1898 würde zurechtfinden können. Er müßte es auf der Nachkommen Wort glauben, wenn die ihm sagten: es sei doch seit seiner Zeit, in den letzten hunderteinundvierzig Jahren um ein Merkliches besser und behaglicher in der Welt geworden. –

Im Jahre Siebzehnhundertsiebenundfünfzig hatte der Pastor von Derenthal von seiner Stube aus den Wald über ein Stück Hausgarten und eine einzige, jetzt wie alles andere verschneite Ackerbreite noch ganz in der Nähe vor sich. So nahe, daß selbst der dichte Morgennebel ihm seinen Rand und den Weg, der aus dem Forst gegen das Dorf zulief, nicht völlig verhing. Weshalb er gestern dort, seine Weihnachtspredigt nach seiner Art auf dem Spaziergang sich zurechtlegend, von einer Tanne einen Zweig abgebrochen und mit nach Haus gebracht hatte, hätte er selber wohl nicht deuten können. »Christbäume« stellten sie damals weder in Derenthal noch sonst im Lande in die Weihnachtsstube, und wenn es schon Sitte und Gewohnheit gewesen wäre: wer hätte wohl, gerade in diesem Jahre, dem Pastor Störenfreden einen mit Lichtern, Zuckerherzen und goldenen Äpfeln und Nüssen aufbauen sollen? »Er hatte es wahrlich nicht danach [130] gemacht«, hätte die Tante und Pastorin Holtnicker in Boffzen zu sagen das Recht gehabt! –

Doch der grüne, wenn auch stachlige Zweig lag noch auf dem Tische Ehrn Emanuels, über der Bibel und den Blättern der Predigt. Er, der Autor, war mit der letzteren ausnahmsweise einmal zufrieden, und wie er da an seinem Fenster stand und in das Nebelgrau des Tages Adam und Eva hinausblickte, war Friede, Friede – voller Friede zum ersten Mal seit langer Zeit in seiner Seele. Er war in dieser Stunde nur der berufene Diener Gottes am Heil seiner Gemeinde. Der Krieg, den er in sich selber geführt hatte, hatte führen müssen, war mit dieser seiner Kabinettpredigt zu Ende, wie er vermeinte: was kümmerte ihn der Krieg, in dem da draußen hinter dem Walde die Könige miteinander lagen?

Ach, er sollte nur zu bald wieder erfahren, daß es keinen dauernden Frieden hienieden gibt: weder in dem Rat der Völker und Gewalthaber dieser Erde, noch in der stillsten Tiefe der eigenen Brust! ...

Durch den wilden, verschneiten Wald war auf Gottes Wunderwagen auf dem Wege zu ihm das, worauf er nicht gezählt hatte: die Christbescherung aus der Welt außerhalb seiner Brust, seine Christbescherung für das Jahr der Gnade Eintausendsiebenhundertsiebenundfünfzig! Auf dem Wege durch den Solling seit dem gestrigen Abend – gejagt und gehetzt vom fremden Feind im Lande, auf Gottes Wunderwagen durchgerüttelt und geschüttelt: ein altes Weib mit zwei jungen Menschenkindern – die Wackerhahnsche vom Landwehrturm mit dem Boffzener Bienchen und dem Blumenmaler Pold Wille vom Schloß Fürstenberg! ...

Das Bienchen von Boffzen mit seinem Schatz von Gottes Wunderwagen am Tage Adams und Evas abgeladen vor der Tür des Pastors von Derenthal! ...

Ehrn Emanuel Störenfreden griff, um sich aufrecht zu [131] erhalten, nach dem Fensterriegel, als die durch Wintermorgendunst vom Waldrand auf dem Feldwege dem Dorf mühselig und scheu durch den tiefen Schnee zuwankenden Drei ihm aus schwankenden Schattengestalten zu bekannten, wohlbekannten Menschenwesen geworden waren. Er fuhr herum, sich über die Schulter blickend, wie als wenn er in sein Haus hinein alles daraus sich zu Hülfe rufen müsse: Mamsell Hannchen Holtnicker und Monsieur Wille, ohne Mutter und Vater, zu ihm? zu ihm? bei ihm zu Gast? Und zu solcher Stunde und in solchem Aufzuge, wie die Zigeuner, die Tatern bei der Wildfangsjagd, und in einer Vermummung wie Hans Egede, sein grönländischer Amtsbruder, auf einer Apostelfahrt am Nordpol!

»Jesus, Herr Paster! was ist denn?« rief die Winnefeldsche, die eben mit dem Warmbier ihres jungen geistlichen Herrn in die Tür trat und die er mit allem, was sie ihm zutrug, beinahe über den Haufen rannte, als er an ihr vorbei und durch die Hinterpforte des Hauses dem kommenden Weihnachtsbesuch entgegenstürzte. Ja freilich, wenn er Lust hatte, zuzugreifen unter gegebenen Umständen, so war Not am Mann, das heißt diesmal ganz im besonderen an ihm selber. An seiner Gartenhecke kniete sein Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten im tiefen Weihnachtsschnee neben ihrem in Schwachheit zusammengesunkenen Liebsten, und die Wackerhahnsche stand dabei, wahrlich mehr einem Racheengel als einem Schutzengel vergleichbar:

»Da haben wir das Elend! San Gennaro, bitte für uns! I verflucht! verflucht! O Santa Rosalia dek monte Pellegrino! ... Schönen guten Morgen, Herr Pastor; – wundere sich der Herr über nichts, ich tue es auch nicht! Musche Wille, Musche Wille, ich bitte Ihn um Gottes willen, nehme Er nur noch mal für fünf Minuten sich zusammen, bis wir Ihn wenigstens unter Dach haben. Im Mantel oder aufm Buckel konnte ich Ihn freilich nicht nach Blankenburg tragen! Mädchen, [132] und was fällt denn dir ein? Was machst du mir für Augen? Wohin willst du mit deinem – mit dem Jungen – unserem jungen Herrn?«

Es hatte wohl so den Anschein, als ob die Jungfer Holtnicker vor dem Pastor von Derenthal mit ihrem Schatz auf dem Buckel oder im Mantel am liebsten wieder zurück in den Solling gelaufen wäre, da sie sich vor dem jungen geistlichen Herrn mit ihm nicht unter dem Schnee in der Erde verkriechen konnte. Mit weitgeöffneten, zugleich angstvollen und zornigen Augen starrte sie auf den zu ihr und dem Blumenmaler sich niederbeugenden Herrn Vetter ihrer Pflegemutter und schob ihn mit der freien Hand von sich:

»O bitte – Barmherzigkeit! ich kann ja nichts dafür, daß Gott mich hierher gebracht hat! daß er uns nicht lieber in der Dunkelheit, in der Nacht, im Walde hat umkommen lassen! Frau Förstern, er besinnt sich – er kommt zu sich! wir wollen weiter auf unserem Wege und den Herrn Pastor nicht länger molestieren! Nicht wahr, Pold, es war nur die Schwäche vom Fieber in deinen Beinen, und wir können jetzt weiter auf unserem Wege zu deinem Herrn Herzog?«

Wenn Ehrn Emanuel Störenfreden je in seinem Amtsberuf Gelegenheit gegeben werden sollte, zu beweisen, daß er zu Füßen des Abts Jerusalem mit Nutzen Homiletik getrieben hatte, so war die Stunde für ihn jetzt da. Und er lieferte den Beweis und zwar über den morgenden Text: »Friede auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen!«

Viele Worte brauchte er nicht dazu. Was man so »geistliche Beredsamkeit« nennt, kam dabei nicht zu Tage: die Empfindsame Reise seines Amtsbruders von der Kathedralkirche zu York erschien erst 1765 im Druck, und Werthers Leiden schlummerten auch noch im Schoße der Zeiten.

Zuerst sagte er sogar gar nichts, sondern reichte nur dem zitternden Jüngferchen, fast ebenso in Verlegenheit wie es, die [133] Freundeshand. Dann griff auch er dem Blumenmaler unter die Arme, und dabei ging ihm als »ein wahrer Segen von oben« sein Warmbier durch den Kopf. Und da die Winnefeldsche nun auch bereits mit immer von neuem zusammenklappenden Händen bei der wunderlich-betrüblichen Gruppe im Schnee und Morgengrauen vorhanden war, so war's das nächste, daß er mit deren Zutun dem Deserteur von Kloster Zeven, seinem Nebenbuhler im Boffzener Pfarr-und Blumengarten, den dampfenden Kumpen an den Mund hielt und ihm seinen Morgentrunk als erste aufrichtig gemeinte Erquickung und Tröstung eingoß. Das aber sei ferne, daß jemand heute vermeine, er habe sich damals unter gegebenen Umständen das als etwas zugerechnet, was ihm dermaleinst im Hauptbuch des Himmels gut geschrieben werden müsse. Im Gegenteil –

»O Mamsell Hannchen – Mademoiselle Holtnicker,« stotterte er, »ich konnte ja auch nichts dafür! Weine Sie doch nicht, Mademoiselle! Sie kommt zu mir – und Monsieur Wille auch – zu einem Bruder! Der Herr treibt uns in die Irre, aber er führet uns auch nach Haus. Ich weiß ja noch nicht, wie und weshalb die wilde Zeit Sie jetzt so jämmerlich jaget; aber was mein Dach an Schutz und Frieden bieten mag, das bietet es der Schwester – der lieben Schwester und dem Bruder! Ich nehme dies für ein Zeichen, daß der Herr das letzte von meiner Schuld gegen Sie, Mamsell, mir nun abnehmen will in seiner Freundlichkeit gegen uns alle, die wir so lange in der Verwirrung umeinander haben herumgehen müssen.«

»Jawohl,« sagte die Wackerhahnsche, die bis jetzt, auf ihren Stab gestützt, sonderbarerweise zu den Vorgängen nur ein hexenhaftes Gegrinse, sonst aber, was werktätige Hülfe anbetraf, nichts gegeben hatte, als mißtrauische, scheue Blicke voll Sorge und Angst rundum und besonders dem Dorfe zu, »die reine Kinderstube des lieben Gottes! Voll Gezerr, Geplärr, Unschuld und Himmelsseligkeit! Kommt jetzt damit zu Ende, da der [134] Junge wieder auf den Füßen ist. Wie ist es hier in Derenthal für unsere fernere Marschroute, geistlicher Herre? Habet ihr die Franschen hier im Dorfe auch auf ihrer Jagd nach der Spreu von Kloster Zeven, Herr Pastore? Der Tag kommt, und wir sind hier wie der Floh auf dem Bettlaken. Es ist eben kein Flohsprung von der Weser nach dem Harz, und wir sind noch immer eher unter dem welschen Daumen, als wir's vermeinen.«

»Im Krug haben gestern abend und in dieser Nacht welche von den fremden Reitern gezecht und argen Lärm gemacht,« sagte Ehrn Emanuel. »Soviel man verstanden hat, kamen sie aus Beverungen und wollten heute morgen nach Uslar weiter.«

»Nun denn!« rief die Wackerhahnsche, jetzt ihren Stab im Grimm aufstoßend. »Will der Herr Pastor uns um Gottes willen bei Ihm unterkriechen lassen, so nehme Er uns ins Haus. Sonst liegen wir ihnen ja wohl hier gerade recht zum Zugreifen auf dem Präsentierbrett.«

Der Pastor von Derenthal breitete die Arme aus, als wolle er diese bei ihm – bei ihm Schutz Suchenden jetzt mit aller Gewalt drein fassen und sie dem Schirm seines Hauses zudrängen. Und er hatte sie in seinen vier Mauern, und er hatte sie in seiner Stube, wo noch immer der grüne Tannenzweig über seiner Weihnachtspredigt lag: es war jammerschade, daß die Frau Tante aus Boffzen nicht auch gegenwärtig war und ihn sehen konnte in seiner Friedlichkeit und Sorge um ihr Töchterchen, in Angst und Zärtlichkeit um den Bösewicht, ihren Blumenmaler Pold Wille von Fürstenberg!

Es dauerte seine Zeit, bis er wieder Herr war über sich, seine Sinne und Gedanken; dann aber erwarb er sich aber auch das Wort, den Ausruf der Frau Försterin Wackerhahn: »Kinder, danket dem Himmel auf euren Knieen, wenn ihr soweit wieder aufgetauet seid! Was für ein Feldprediger vor und nach der Bataille, in der Viktoria und auf der Retirade hätte in dem Herrn Pastor gesteckt! Ja, ja, Immeke, wer uns [135] diesen Trost diese Nacht um Mitternacht in unserer Köthe am Queckernborn, in der Füchse Bellen herein, hätte vorschmecken lassen können! Das wäre uns ein Liebessegen gewesen!«

In der Küche flackerte das Herdfeuer, und in der Stube glühte der Ofen. Aus der ersteren kam die Winnefeldsche in einer Dampfwolke mit dem größten Topf voll des wackeren Morgentrankes des achtzehnten Säkulums; an seinen Stubenofen hatte der Pastor seinen Armstuhl mit dem jetzt in der Wärme und »wieder unter Menschen« in Betäubung gefallenen, drin gebetteten Bienchen geschoben. Auf der Ofenbank taute der Blumenmaler auf und – es »tropfte bei beiden«; nimmer hatte ein verschmähter Liebhaber den glücklichen Nebenbuhler und die grausame Liebste so zu Tränen gebracht, wie itzt Ehrn Emanuel Störenfreden Monsieur Willen und Mademoiselle Holtnickern. Schade, schade, daß nur die Wackerhahnsche aus dem Landwehrturm und nicht auch die Frau Mutter und chère tante aus dem Boffzener Pfarrhause den Kopf dazu wiegen und ihre Rührung – nach Möglichkeit kundgeben und unterdrücken konnte!

Die Wackerhahnsche hinter der Warmbierschale des Derenthaler Pfarrhauses, mit dem Brotmesser in der Faust und dem Brotlaib im Arm, wurde der Sache schon gerecht, brachte beides fertig, das Kundgeben sowohl als auch das Unterdrücken, wie sie Erfahrung gewonnen hatte in ihrem Leben: auf dem Marsch, vor, während und nach der Bataille, auf dem Verbandplatz, wie am Brannteweinfaß ihres Markentenderwagens.

»Aufgetragen hat er's mir wohl nicht in den eiligen Umständen, Herr Pastor; aber recht schöne grüßen und sich bedanken lassen würden Herr Pastor Holtnicker sich sicherlich, wenn sie wüßten, wie der Herr Kabinettprediger Cober wieder mal recht gehabt hätten. Nicht wahr, Mamsell Hannchen, diese Nacht im Winterwald, in der Köthe am Queckernborn, bei Heulen und Zähnklappen, wen haben wir da zu einem besseren [136] Trost für den ferneren Weg gehabt, als den guten Herrn Vater? Wenn die Ameliethsche wieder nach Boffzen botengeht, nimmt sie auch wohl mein Kompliment mit in der Kiepe und bestellt: des Herrn Kabinettpredigers und des Herrn Pastors Wunderwagen hätte auch diesmal vor der richtigen Tür gehalten, und wenn die Reise so fort gehe, brauche auch die Frau Mutter keine Sorge mehr zu tragen, daß der Herrgott gestern abend nicht gewußt habe, was für Musche Wille und Mamsell Hannchen das Beste sei. Bei seiner nächsten Visite würden auch Herr Pastor Störenfreden bei der Frau Pastern noch mal ein gut Wort für die Wackerhahnsche einlegen.«

Pastor Störenfreden versprach sich selber das. Selten hatte er in seinem Leben sich selber etwas so fest versprochen. Wie wollte er bei seinem nächsten Besuch in Boffzen für alle und alles zum guten reden! in Ruhe zum guten reden!

In Ruhe? In der ersten ruhigen Stunde, wenn das Dasein in Boffzen und Derenthal wieder einmal hinlief, wie – vor der Schlacht bei Hastenbeck? Nein, unter dem Wort der Wackerhahnschen und bei ihrer Vertröstung auf den greisen Boffzener Amtsbruder nahm sich Ehrn Emanuel fest vor, nicht darauf zu warten, sondern durch jedwedes Winterwetter, allen Tumult der Zeit und der Kinder der Zeit sofort, das heißt, lieber heute als morgen, jedenfalls aber sobald als möglich sich auf den Weg durch den Wald zur Weser und zur Frau Tante Holtnicker zu machen und seine – Liebeswerbung zum letzten, löblichen Beschluß zu bringen. –

Doch vor allen Dingen erst im eigenen Hause zur Besinnung kommen! Auch jetzt war es die Veteranin aus dem Landwehrturm, die das Beste fürs erste dazu tat. Von ihr allein erfuhr Ehrn Emanuel in klarer, verständlicher Weise, was eigentlich in Boffzen vorgefallen sei und welchen Umständen er diesen so frühen, werten, aber doch eigentlich etwas verwunderlichen Weihnachtsbesuch zu verdanken habe.

[137] »Man soll auf nichts schwören, aber am wenigsten auf sich selber,« rief die Alte, wie zornig mit der Faust auf den Tisch schlagend. »Wer es der weiland Försterin aus dem Barwalde gestern noch gesagt haben würde, daß auch ihr im Solling bei leuchtendem Schnee der Weg unter den Füßen abhanden kommen könne! Cospetto, die Franzosenangst ist's auch nicht gewesen, Pastor Störenfreden: die Kinderfrauenangst wird mir wohl die Sinne verwirrt und mich in die Blamage gebracht haben! Wie wird der Mensche zu einer Jammerkreatur, wenn ihm unter einer Last, die er sich um Gottes willen auf den Buckel genommen hat, der Satan ins Ohr spricht: jetzo habe Er ihn mit seiner Verantwortlichkeit auf Seinem Wege! Beim Förster in Neuhaus dachte ich das erste Quartier auf dem Marsche mit meinen zwei Unmündigen zu nehmen, und am Queckernborn habe ich mich um Mitternacht zuerst wieder im Wald und der Welt zurecht gefunden. Weiter ging's da nicht. Daß sie mir noch bei Leben sind, sehen ja aber der Herr Pastor, und so mag's denn auch diesmal bei dem Wort: Einmal und nicht wieder! verbleiben. Der Herr Pastor aber müssen sich schöne verwundert haben, als Sie uns durch den Katzenbeutel aus dem hinteren Saufang in unserem Elend auf Ihre Derenthaler Feldmark zu Tage kriechen sahen.«

Und nun dicht an den Ehrn Emanuel heranrückend und ihm leise vertraulich den Ellbogen in die Seite stoßend, raunte sie ihm mit einem Wink nach dem Lehnstuhl am Ofen und der Ofenbank zu:

»Gerne sind sie ganz gewiß nicht gekommen und hier, unter diesem christlichen Dach, meine zwei armen Sünderchen da! Ach ja, ja, was muß der Mensche in Unschuld sich manchmal alles aufs Gewissen nehmen, wozu unser Herrgott am letzten Ende doch nur lacht! Was glauben die beiden alles gegen Gott und die Welt auf ihrer Seele zu haben, wo sie doch nichts für können! Keinem Vatermörder kann das Herz schlimmer [138] schlagen, als da dem Immeken ihres um die Frau Mutter in Boffzen. Und nun das andere arme Wurm, der Ausreißer von Kloster Zeven in seiner Versündigung am Herrn Pastor Störenfreden in dem Herrn Pastor seinen Pantuffeln! Sollte man es für die Möglichkeit halten, daß das Jammerbildnis vor ganz kurzem noch der Menschheit zu seinem und ihrem Pläsier unserem Herzog Karl auf sein berühmtestes Porzellan die feinsten Blumen gemalen hat? Wir kommen mit solcher Sündenlast auf uns nimmer nach Blankenburg zum Herrn Herzog Karl ins Asyl, wenn der Herr Pastor jetzt zu dem leiblichen Trost nicht auch den geistlichen tut und nun hier von Derenthal aus Vorspann leistet zu Herrn Pastor Holtnickers Gottes-Wunderwagen! Daß die Hexe aus dem Landwehrturm, wo's Not tut, fluchen kann wie ein Landsknecht, hilft ja wohl auch ein bißchen, aber reicht doch nicht aus. Daß sie das Wetter beschwören kann, glaubt wohl der Bauer, doch nicht Herr Pastor Störenfreden: was für ein Stück warmen Sonnenscheins der der Alten und ihrem Säuglingspaar mit auf den weiteren Weg geben könnte – nu, darüber reden wir zwei ja wohl noch miteinander.«

19. Kapitel

[139] Neunzehntes Kapitel.

Der Morgen war nun soweit vorgeschritten, daß man dreist von vollem Tageslicht reden konnte; aber es blieb grau, und die Helle brachte diesmal nicht den Trost, die Beruhigung, die sie sonst wohl der geplagten und gejagten Menschheit nach der »Angst in der Nacht« bringen kann. Im Gegenteil!

Das Liebespaar – die Kinder schliefen jetzt zwar in ihrer Erschöpfung und Betäubung: Monsieur Wille auf dem Bett des Pastors Störenfreden, Jungfer Holtnicker in der Kammer und in den noch warmen Federn der Winnefeldschen, aber die Wackerhahnsche blieb wach und lachte nur, als Ehrn Emanuel ihr zuredete, wenigstens ein Stündchen lang ihren alten Gliedern, wenn auch nur in seinem alten Lehnstuhl oder auf der Ofenbank, Ruhe zu gönnen.

»So mit dem Feind rundum?« fragte sie und – ging auf Kundschaft aus im Dorfe. Vorher aber hielt sie noch die Ameliethsche mit der Botschaft des Derenthaler Pfarrherrn an den Boffzener auf.

»Haben wir nicht schon genug an den Franzosen um uns und vor uns, Herre? Sollen wir uns noch unsere Altsche, ich meine mit Respekt unsere liebste Frau Mutter und Tante, dazu auf den Buckel laden, ich meine zur Wildfangsjagd auf uns invitieren? Wenn wir um Mittag wiederum auf dem Marsch zum Herzog Karl sein werden, mögen der Herr Cousin Ihrem Herzen auch in der Hinsicht keinen Zwang weiter antun und alle Beruhigungen weserwärts rapportieren, ob in Person [140] oder durch die Botenfrau. Von Blankenburg aus schreiben wir selber nach Hause und bitten nochmals um Pardon für alles, was wir gesündiget haben und wofür wir nichts für konnten. Ja, ja, Pastor Störenfreden, so geht's in der Welt im Kriege! Malbrouck s'en va-t-en guerre – Miroton, miroton, mirotaine. Wollen die großen Potentaten ihren Willen haben, so haben wir kleinen eben den unserigen, und was dabei auf den höchsten Willen unseres Herrgotts kommt, wer will das sagen? Ich nicht.« –

Sie stapfte ab auf Rekognoszierung und blieb nicht lange aus.

»Es geht nicht anders; wir müssen sobald als möglich weiter. Im Kruge sitzt es voll von ihnen – elsässisch Volk, mit dem sich schon ein Wort reden ließ –«

»Sie haben der Mutter Voges ihren Jochen, der auch mit dem engelländischen Heere fort mußte, mit einem Strick ums Handgelenke bei sich. Sie haben ihn diesen Morgen mit dem frühesten aus dem Bette geholt!« jammerte die Ameliethsche.

»Saufen aber jetzo schon in aller Freundschaft mit ihm auf gute Kameradschaft, das römische Reich und den König Louis von Frankreich, Gevattersche,« grinste die Wackerhahnsche. »Der Himmel gibt es wohl, daß sie zu Mittage so besoffen sind, daß wir vor ihnen weiter können. Bis nach Dassel sollen sie das Land abstreifen. Von da an nimmt der Einbecksche Kommandante für den Herrn Herzog von Richelieu die Sachen und Geschäfte in die Hand. Was finge nun die Mutter Wackerhahn mit einer Krabbe auf jedem Arm an, wenn sie vor Jahren nicht einmal die Försterin fürs Amt Hunnesrück hier im Walde gewesen wäre? Jetzt wird's sich in Wahrheit ausweisen, wie ihr guter Ruf sich bei der Kameradschaft in Grün gehalten hat, und wer für sie aus alter Bekanntschaft oder vom Hörensagen aus Vaters Zeit her im Notfall die Büchse von der Wand langt und das Weidmesser in der Scheide lockert!«

[141] Sie war unbeschränkte Herrin im Derenthaler Pfarrhause und Ehrn Emanuel grade so weiches Wachs in ihren Händen wie der Fürstenberger Blumenmaler Pold Wille. Doch nun kam sie mit dem Anliegen heraus, ob welchem Pastor Störenfreden doch beide Arme über das Haupt erhob, die Hände zusammenschlug und gegen die Wand zurückwich.

»Wir sind im Kriege, Ehrwürden, und alla guerra come alla guerra, sagten wir in Sizilien: ich habe sie zu Dutzenden auf der Trommel zusammengeben sehen für Zeit und Ewigkeit auf solchem Marsche und zu solcher Zeit, wie wir jetzt gehen, ich mit meinem Jungen und Mädchen. Da wird's mir auf ein arm lieb Pärlein mehr nicht ankommen. Sie liegen mir bis Schloß Blankenburg noch manche Nacht auf dem Stroh beieinander, und es dünkt mich schicklicher, und wenn wir der Frau Herzogin in ihrem Asyl mit unserer jämmerlichen Geschichte zu Füßen fallen, wird's auch der wohl schicklicher dünken, wenn sie ihr den Trauschein schon mitbringen. Sie soll eine gar fromme, ehrbare und züchtige Dame und Hausfrau sein und Seiner Durchlaucht, unserem Herrn Herzog in allen Dingen, als was sie darzu tun kann, zum löblichen Exempel vorangehen. Nun tut ein gottgefällig Werk, Pastor Störenfreden; sprechet Euern Segen über uns und traget uns ein in Euer Derenthaler Kirchenbuch, und ich verspreche Euch: das Blatt wird Euch noch in Euren ältesten Tagen das Herze wärmen, wenn Ihr bis zu ihm zurückeblättert!«

»Ein gottgefälliges Werk, Weib?!« rief Ehrn Emanuel. »Ohne der Eltern Einwilligung? Ohne Abkündigung von der Kanzel? Und ich? ... Frau, Frau, ich, ich? Bedenket die Frau Försterin wohl recht, was Sie da geredet hat und wo und an wen Sie Ihr Verlangen stellt?«

»An den geistlichen Herrn von Derenthal, Pastor Störenfreden,« sagte die alte Frau, die greisen Augenbrauen mit einem halb grimmigen, halb mitleidigen Seitenblick auf den [142] jungen bebenden Mann zusammenziehend. »Wie liefe ich heute mit den Kindern im bitteren Winter in die weite Welt hinein, wenn Er ihnen nicht zu unrechter Zeit in ihren Blumengarten geraten wäre? Ich weiß alles, was Ihr hiegegen einwenden und wem Ihr die größere Schuld hieran auflegen könnet, Pastor Störenfreden; aber es hilft Euch nicht zur Ruhe in Eurem Gewissen! Und Ihr werdet sagen: die Mutter, die das Kind von der Straße aufgenommen hat, hatte Recht, hatte ihr Recht an ihm, und der Dirne bitteres Unrecht und eine Todsünde von ihr war's, lieber auf bloßen Füßen dem rechten Liebsten durch den Schnee bis in den Tod zu folgen, als zu Hause in der Liebe und am warmen Ofen bei Vater und Mutter zu verbleiben. Ich aber sage, schlaget doch nach im Buch. Was stehet hierüber in der Bibel geschrieben? Das Weib wird Vater und Mutter verlassen und wie es weiter heißt, und wie ich es in meinen Blumenjahren auch so gemacht und verbrochen habe, und habe bis zum heutigen Tage in mein verkommenes Alter herein noch keine reuige Stunde darum gehabt, wohl aber in den vergrelltesten, giftigsten, bösesten nur einen lachenden Trost in dem Angedenken. Und was das hochehrwürdige Konsistorium in Wolfenbüttel und sein vorgeschrieben Herunterschmeißen der Brautleute von der Kanzel anbelangt, so ist das eben der Krieg, der Krieg, der Krieg, der Euch jedwede geforderte Exkuse in die Hände gibt, und dazu weiß ja auch keiner, ob der jetzige Oberbefehlshaber dorten bei den Herren, der Herr Marquis le Voyer d'Argenson noch ein Ding an Ort und Stelle gelassen hat. Lust hatte er, da sie mit der Kontribution nicht gleich parat waren, das ganze Nest in Feuer aufgehen zu lassen. Hauptmann Uttenberger im Boffzener Pastorhaus wollte aus bester Kundschaft wissen, daß neulich nur der Kommandante Monsieur de Negre die Sache aus angeborener Herzensgüte noch mal hintertrieben habe. Aber was jetzt, wo sich das bei Stade durch den Herzog Ferdinand so verändert hat, morgen geschieht, [143] das weiß keiner. Kapitän Uttenberger meint, dieser Krieg werde sich nur nach Jahren, Jahren, Jahren berechnen lassen, und da ist meine Meinung, wann dann der Friede wieder mal aus, getrommelt, -posaunt und -geläutet sein wird, dann wird auch das Wolfenbüttelsche Konsistorium, wenn es noch bestehen sollte, auch von dem Herrn Pastor in Derenthal in seiner Verlegenheit jedwede Entschuldigung gelten lassen und ihm noch dazu dankbar sein, daß er damals nach dem Rechten gegriffen hat.«

Sie mußte Atem schöpfen. Ehrn Emanuel lag in seinem Lehnstuhl wie ein durchs Rad Gebrochener. Seine Winnefeldsche und die Ameliethsche standen zitternd und bebend und hatten so was wahrhaftig noch nicht erlebt in einem christlichen Pfarrhause, und bis zu dieser Stunde für menschenmöglich halten können.

Zu ihnen aber wandte sich zu ihrem nicht geringen Schrecken die Wackerhahnsche, nachdem sie Atem geschöpft hatte, jetzt, und zwar mit dem eisenbeschlagenen Wanderstab in der Faust und über ihren Köpfen in der Luft und mit Grinsen und Zähnefletschen. Wahrlich nicht, als führe sie als Brautmutter ein Liebespaar zum Altar, sondern als steige sie eben, vom Blocksberg kommend, vom Besenstiel oder der Ofengabel.

»Wer ich bin und wie ich heiße, wisset Ihr, Gevattersche Winnefeld, und Sie, Ameliethsche. Was für Lurren und Lügen über mich umlaufen unter den Leuten, weiß ich; aber was das Wahre an mir ist, das will ich Euch jetzt sagen. Daß ich den Kühen die Milch verhexe, daß ich den Kindern die Scheuerchen und den Alten die fallende Sucht in den Leib wünsche, daß ich bei Nacht, wo es mir beliebt, huckepack auf dem gluhen Marten den Bauern im Schornstein heruntergeritten komme, das ist nicht das Richtige; aber wahr ist, daß ich in meiner jungen Zeit die Försterin im Barwalde gewesen bin und nachher dem König von Hispanien in Sizilien und in Neapel und auch sonst noch [144] in der Welt gedient und mir in beiden Ämtern mehr als einmal Blut von den Händen oder einen Blutfleck aus dem Rock und Unterrock gewaschen habe. Was ich dem, der mir gegen meinen Willen ist, antun kann, darnach fragt um, meinetwegen hier im Solling oder im Königreich Neapolis! Also – nur das eine Wort: Keiner hat eine bessere Freundin an der Alten aus dem Turm am Bruckfelde, als wer ihr was zuliebe tut; keiner aber auch des Satans feurige Krallen so am Halse, als wer ihr Feind wird. Wer von euch zweien darüber Laut gibt im Dorf, daß heute Hochzeit im Derenthaler Pastorenhause ist, dem gnade Gott! Schlage ich ihm nicht gleich die Knochen im Leibe kaputt, so findet er sich ganz gewiß morgen, übermorgen oder über acht Tage im Wald an einem Ast hängend, mit einem Messer im Stamm, wie sie's drüben im Westfälischen machten und machen, wenn sie Recht über Unrecht ergehen lassen, Carracho! Cospetto! Mille millions tonnerres!«

Die beiden armen, armen Weibsen, vor solchem Ansturm völlig in die Kniee rutschend, schwuren bei ihrer armen Seele, bei unserem Herrgott, auf die heilige Bibel und ihre ewige Seligkeit, daß durch sie weder ein Bauer noch ein Franzos in Erfahrung bringen solle, was jetzo durch »Frau Förstern« ins Werk gerichtet werden möchte.

»Ja, ja, so spielt die Hexe aus dem Landwehrturm Kinderfrau, da sie zuletzt denn auch dazu berufen worden ist,« seufzte die Alte in sich hinein; aber sich nunmehr wieder zu dem betäubten Ehrn Emanuel im Lehnstuhl niederbeugend, flüsterte sie:

»Und wissen der Herr Pastor, wenn Sie auch nur der Frau Tante in Boffzen zuliebe jetzo nach meinem Rate die heilige Amtsverrichtung auf Sich nehmen wollten?!«

»Meiner Tante – Tante Holtnicker zuliebe?« stammelte Emanuel, nunmehr gänzlich aus aller Fassung gebracht, doch die Wackerhahnsche klopfte ihn jetzt vertraulich wie eine andere alte, liebe, wohlmeinende Base auf die Schulter:

[145] »Jawohl, grade der zuliebe! aus Barmherzigkeit! Der Eimer ist ihr in den Brunnen gefallen, und weder der Herr Pastor mit seinem Herrn Kabinettprediger, noch Kapitän Uttenberger mit seinem kuriosen Buch von Schafen, Schäfern und Schäferinnen helfen ihr aus ihrer Verlegenheit. Bei Serenissimus in Blankenburg, oder vielleicht besser und leichter noch bei der durchlauchtigsten Frau Herzogin, besorgt die Försterin aus dem Barwalde, wenn wir durchkommen, die Sache; aber bei der Frau Pastorn von Boffzen müssen Herr Pastor Störenfreden das Beste tun. Ich kenne uns Weiber: Hebe uns von den Füßen und stelle uns wieder drauf! heißt's von uns armen, schwachen Geschöpfen in unseres Herrgotts allerbester Welt. Mit dem Trauschein ihrer Immeke helft Ihr nicht nur der wieder zu ihrer Ehre in ihren Gedanken, sondern auch Euch selber bei ihr aus der Verachtung und dem Verdruß und dem Ärgernis heraus und in ihre Zuneigunge herein. Jetzt könnten der Herr Pastor wirklich zeigen, daß Sie auf Schulen und beim Herrn Abt Jerusalem in Braunschweig mehr gelernet haben, als was in den Büchern steht: des Menschen Herze in der wilden Welt in seiner Angst bei seiner Eitelkeit zu taxieren! Und – denket, liebster, bester Herre, wie auch der der Herr Vater – unser lieber armer Herr Papa in Boffzen Euch danken wird, daß Ihr auch für ihn mit das Beste gefunden habt, was unter so eiligen laufenden Umständen und Zeiten zu finden war, Pastor Störenfreden!«

20. Kapitel

[146] Zwanzigstes Kapitel.

Gesagt hat er darüber nichts, aber annehmen läßt es sich wohl, daß auch der Eutinische Rektor, Johann Heinrich Voß nicht bloß aus der Phantasie heraus gearbeitet, sondern treulich und pragmatisch aus privaten und öffentlichen Dokumenten, Manualakten aller Art und nach wahrhaftiger mündlicher Überlieferung berichtet habe, wie sein ehrwürdiger Pfarrer von Grünau plötzlich – aus dem Stegreif, das heißt nicht vorm Altar und vor feierlich versammelter Gemeinde, sein rosig Töchterlein Anna Luise Blum fragen mußte: ob sie wirklich gesonnen sei, den gegenwärtigen jüngeren Amtsbruder, Herrn Arnold Ludewig Walter, zum Manne zu nehmen und –


»als christliches Ehweib

Freude mit ihm und Kummer, wie Gott es fügt, zu ertragen,

Und ihn nicht zu verlassen, bis Gott euch väterlich scheidet,

Unter den Seligen euch zu vereinigen immer und ewig?«


Schon aus dem »Menü« für die dem erhebenden Vorgang nachfolgende Abendtafel getraue ich mir es nachzuweisen. So was läßt sich nicht aus Fingern saugen. Da muß man selber in der Küche dabei gewesen sein und die verständige Hausfrau und eben noch tränenüberströmte Mutter ihre Befehle haben geben hören und Anordnungen treffen sehen –


Der Sandart wird doch geschuppt sein?

Flink mir die festlichen Gläser gespült und das große des Vaters,

Das in helles Gekling einbummt, wie die Glocke vom Kirchturm.

Fülle die Schal' in der Kammer mit Sülzmlich, welche die Gräfin

Liebt, und dem silbernem Korbe das Glas mit gepulvertem Zucker.

[147] Hast Du zum Apfelmus auch Kaneel gestoßen im Mörser?

Gut, daß der Has im Keller noch hing! Denn es wäre ja schimpflich,

Wenn wir mit Fischen allein und Vögelchen diesen Abend

Feierten und, ich schäme mich fast, mit gebrühten Kartoffeln!

Hans, nur tüchtig den Braten gedreht! Heut abend ist Hochzeit!


Das »große Glas« des Vaters und geistlichen Hirten, das in helles Gekling einbummt wie die Glocke vom Kirchturme, hat der arme Rektor Voß sicherlich mit eigenen Ohren im übernahrhaften Grünauer Pastorhause in das dünnere Geläute »einbummen« hören, vielleicht nicht ohne daß es ihm ein kleines Ärgernis gab, jedoch dafür zu einem Hexameter mehr verhalf. –

Ach leider, leider verhilft uns unser historischer Apparat nicht zu derlei behaglichen Schilderungen! Wie gern würden wir da jegliches kleine Ärgernis mit in den Kauf nehmen!

Ach, sie erschien nicht in rieselndem, mit Moos und Rosen umbordetem Atlas, in seidenen Strümpfen und Schuhen mit der Myrte auf dem Lockenhaupt und mit zwei halboffenen Blümlein von der »Sinarose des Fensters« am Busen auf der Schwelle des würdigen Pfarrers von Derenthal, die Braut des Tages Adams und Evas im blutigen Jahr 1757!

Um elf Uhr beugte sich in der Kammer der Winnefeldschen die Wackerhahnsche über die festschlafende, schwer im Schlaf atmende Tochter des Boffzener Pfarrhauses, und keine leibliche Mutter konnte mit betrübterem Herzen, mit tieferem Mitleid über die Stirn ihres Kindes streifen, als jetzt die alte grimmige Wald- und Walstatt-Frau.

Es war eine harte Hand, die sich auf das ungekämmte zottelige Gelock des Boffzener Bienchens legte:

»Arm Putthäuneken, das Herze blutet mir; aber es geht ja nicht anders, wenn du bei deinem Willen bleiben und mit dem Schatz auf Glück und Unglück weiter von der Weser nach dem Harz bis zu des Herzogen Karls Asyl den Weg suchen willst! Der Schnee liegt zu hoch, als daß wir vor Nachtdunkel nach dem Lakenhaus kommen, wenn wir nicht bald marschieren. [148] Könnten wir über Neuhaus, so möchtest du meinetwegen noch weiter schlafen; aber so heißt's ja: Quartier beim Lakenbergförster Weigel, der Försterin vom Barwalde altem Kameraden, oder bei den Wölfen in Solling.«

Mit einem Schrei und dem Angstruf: »Pold!« hatte die Boffzener Immeke auf dem Strohsack der Derenthaler Pfarrmagd aufrecht gesessen.

»Nein, ich bin's nur – die Mutter Wackerhahn! Deinen Liebsten hat noch nicht der Wolf und der Franzmann am Kragen, sondern nur in Liebe und Güte der Herr Pastor Störenfreden! Da bring' ich dir deine Röcke und Strümpfe und Schuhe wieder trocken und warm vom Küchenherd. 's ist Weihnachten, Kind, und wer weiß, was dir heute noch zu seinem heiligen Abend das Christkind bescheret? Tapfer – mit Bravour auf die Beine, Jungfer Holtnicker, und mit Gottvertrauen weiter durch Gottes pläsierliche Welt!«

Es war schon auf den Flügeln, das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten! Noch etwas verstört und im Sinn verwirrt durch den tiefen Erschöpfungsschlaf; doch im nächsten Augenblick wieder für alles – alles, was den Liebsten betraf, gerüstet und gewaffnet: nur nicht für das, was die Wackerhahnsche in der Wohn-und Studierstube Ehrn Emanuel Störenfredens, wie am Berge Süntel vor einem Opfersteine des Herzogs Wittekind von Sachsen, mit ihr und ihrem Fürstenberger Blumenmaler zum heiligen Christ im Sinne hatte. –

Vor dem Dorfkruge mit seiner elsässischen Besatzung hielt die Ameliethsche Wacht. Die Winnefeldsche hatte mit zitternden Händen und unter fortwährendem Gemurmel und Gemurr ein Huhn abgekehlt und in den Topf gesteckt und einen Schinken aus der Rauchkammer geholt. Wahrlich, sie hatte beim Pastor von Derenthal nicht häufig die Gelegenheit, zum leckeren Mahle zuzurüsten, wie die treuen Mägde im Grünauer Pfarrhause, Hedewig und Susanna.

[149] Und dies sollte nun gar noch zu einer Hochzeit gelten!

Dies eine Hochzeit! Auf dem Blocksberge mochte man so Hochzeit halten und die Hexe aus dem Landwehrturm Brautmutter dabei spielen! Und so was vor ihrem, ihrem jungen, armen, lieben geistlichen Herrn?! So was hatte Derenthal noch nicht erlebt, und sie, die Winnefeldsche, auch nicht, solang das Dorf stand und der Solling von einem Frühjahr ins andere nach dem Schnee grün ausschlug! –

In seiner Wohnstube schritt Ehrn Emanuel immer noch allein auf und ab, mit hastigen, aufgeregten Schritten. Nach Ordre der Frau Försterin hatte er auch seinen männlichen Gast aus dem Schlaf aufgerüttelt und wartete nun auf sein Hervorgehen aus der Kammer als Bräutigam der Stunde mit ebenso bebendem Herzen und zuckenden Händen, wie seine Hedewig vor ihrem Herdfeuer.

Wären wir im neurasthenischen neunzehnten Jahrhundert, so dürften wir nur einfach sagen, daß der junge Mann, und diesmal nicht ungerechtfertigt, an seinen Nerven litt. Aber für sein Jahrhundert war ja noch nicht einmal, wie wir auch schon bemerkt haben, die Epoche der Sentimentalität eingetreten. Der Amtsbruder von Sutton on the forest, Sutton am Walde, sollte erst zwei Jahre später auf der Weltbühne erscheinen. Ehrn Emanuel litt weder an den Nerven noch an der Empfindsamkeit: er fand sich nur in grenzenloser Verlegenheit gegen die Welt (das Wolfenbüttler Konsistorium eingeschlossen) und die Tante Hanne in Boffzen. Er war kein Heros, der der wilden Poesie, die in der grimmig-frohmütigen Greisin aus dem Landwehrturm sich immer mehr der Gewalt in seinem Hause und seiner Seele anmaßte, gewachsen gewesen wäre!

Ach, es war nicht mit ihm, wie mit dem Grünauer Amtsbruder:


»Mutter, was sagst Du?

Soll ich sie trau'n? Nicht besser ja ist der morgende Tag uns!

Also der Greis; laut weinte, die Händ' aufhaltend, die Mutter;

[150]

Laut auch weinte Luis' und barg an dem Vater das Antlitz.

Auch der Bräutigam weint', es weinte Amalia seitwärts.

Selbst die alternde Gräfin bezwang nicht länger die Thräne.«


Es war die Wackerhahnsche, die Wilddiebsjägerin aus dem Barwalde, die ihm, wahrlich nicht »aufschluchzend« und auch nicht ganz mit den Worten des Rektors Voß noch einmal zuredete:


»Traue sie, Mann, im Namen des liebreich waltenden Vaters!

Sichtbar ordnet er heute die Segensstunde den Kindern!«


Mit ihrer Knochenhand faßte sie seine Schulter:

»Daß wir den Küster die Glocke im Kirchturm ziehen lassen, Ehrwürden, ist nicht vonnöten, und in den Chorrock helfe ich schon dem Herrn Pastor, wenn Er meinet, der gehöre auch bei so eiliger Zeit doch dazu. Das ist eben eine Welt, Herr, in der man sich die Wiege und den Sarg gefallen lassen muß, ohne drum gefragt zu werden: was will man sich denn da noch viel sperren, sich auch das andere Dazugehörige drin gefallen zu lassen? Hier ist die Braut – reibt sich denn der Bräutigam noch den Schlaf aus den Augen? Im Kruge satteln die Leute des Herrn Marquis von Armentières, rapportiert die Ameliethsche. Zeit haben wir nicht für den Hochzeitsschmaus. Den ziehen wir übers Jahr mit dem Taufschmaus bei dem Herrn Vater und der Frau Mutter in Boffzen in eins, Immeken. So, da bist du ja zuletzt auch, Blumenmaler! Nun fraget auch die Kinder, reverendo padre, was sie zu der Sache sagen!«

Und zu Pold Wille und Hannchen Holtnicker sich wendend, kreischte sie wie drohend:

»Wir haben's besprochen; ihr sollt nun gefragt werden, ob ihr, auf den Rat und das Glück der Mutter Wackerhahn hin, mit ihr in einem Stündlein als Mann und Weib weiter in die Welt ziehen wollt. Er, unser junger geistlicher Herre hier, hat noch einmal das Seinige dazu tun wollen, wenn auch wieder nur in seiner Unschuld, euch noch einmal und jetzt vielleicht auf immer, denn wir haben noch einen bitterbösen Weg[151] vor uns, noch einmal voneinander zu bringen und halten: jetzo im Krieg und Winterschnee, wie vordem im Frieden und im Boffzener Blumengarten. Doch nun hat er auf vernünftig Zureden gehört, und wenn ihr wollt, will er auch – will euch jetzo in diesem Augenblick zusammengeben fürs Glück und Unglück, bis der Tod euch für dieses Leben scheidet.«

Sie hielt den beiden erstarrten jungen Leuten die hohle Hand hin und in ihr zwei Ringe.

»Da seht, so fährt Gottes Wunderwagen mit uns armer Kreatur! Erst seit ihr in meinem Turm zu mir gekommen seid in eurer Not, Musjeh Wille und Jungfer Holtnicker, hat es mir in den Sinn kommen können, daß das mir unser Herrgott wohl zu solchem Gebrauch in die Schürze habe fallen lassen können. Bei der Stadt Neapel haben die Bauern beim Brunnengraben eine alte heidnische Stadt aufgefunden. Herkulano heißen sie sie in ihrer Sprache von dem großen Christoffel, dem auch der Landgraf von Hessen auf seinem Winterkasten ein Denkmal hat setzen lassen: daraus stammen sie her, eure Trauringe. Nach einem Höxterschen Goldschmied konnte ich bei der Eile nicht darum gehen. Da, greift zu! nehmt! sie stammen von zierlichen Fingern und werden passen, wie sie vor tausend Jahren wohl zu dem nämlichen Dienst gepasset haben.«

Wir können uns leider nicht antiquarisch bei den beiden Reifen und ihren Gemmen aufhalten. Wir können auch nicht angeben, ob sie sich heute in einem Museum finden lassen, oder ob sie abermals in den Schoß der Erde versunken sind, wie im Jahre Neunundsiebzig nach Christi Geburt: wir haben es jetzt zu sehr nur mit Jungfrau Johanna Holtnicker aus Boffzen und dem Blumenmaler Leopold Wille aus der Stadt Braunschweig zu tun. –

Ach, armes Immeken von Boffzen, in Lieblichkeit haben wir dich kennen gelernt! Wärest du geputzt gekommen, wie es sich gehört, so würdest du dem Schwesterlein von Grünau an bräutlicher [152] Holdseligkeit nichts nachgegeben haben; aber – leider, leider! – weder die Winnefeldsche noch die Ameliethsche hätten, wie du jetzt über die Schwelle getreten warest, mit der Grünauer Hedwig und der Susanna rufen dürfen:


»Das heißt Pracht! Ja wahrlich, die Himmelsbräut' und die Engel

Gehn wohl so, in Seide wie Schnee und grünendem Palmkranz.«


Wie vom armen Allerleirauh hätt's besser hier und diesmal geheißen:

»Ach du schöne Königstochter, wie soll's mit dir noch werden?«

Ja, da stand sie, die schöne Tochter, das von Gottes Wunderwagen ins Boffzener Pfarrhaus getragene schöne Kind der wilden Zeit! Schon durch die erste Wandernacht zerzaust und verwildert, für den Weitermarsch geschürzt und gerüstet – eben noch trotzig und mutig für den Liebsten alles zu wagen bereit, doch nun wie im höchsten Schrecken die Hände abwehrend von sich streckend:

»Pold, o Pold, geht denn das so? willst du es so? Ohne unseren liebsten Herrn Vater? ohne meine liebe Frau Mutter? ohne mein Kränzchen von meinem Myrtenbaum? Pold, Pold, geht denn die Welt nicht unter, wenn wir dies tun – ohne Vater und Mutter – nicht in der Kirche, nicht vor dem Altar?! Ist es denn die Möglichkeit, daß dieses dem lieben Gott sein Wille in unserem Elend ist?«

»Weil die Welt untergehen will!« rief der Fürstenberger Blumenmaler, und nun hielten sich schluchzend die beiden armen Kinder fest umschlungen, und um diese Tagesstunde wurde im Derentaler Pastorhause ebenso arg und wohl mit mehr Recht geweint, wie im Grünauer.

Es hätte niemand für eine Möglichkeit halten sollen, daß auch die Wackerhahnsche noch einmal feuchte Augen in ihrem Leben bekommen könne; aber es war doch so. Und nun legte sie den Arm um ihre zwei Schützlinge und sagte:

»Nach deiner Mutter rufst du, arm Wurm – mein lieb, [153] lieb Mädchen – mein, mein Kind? Deine rechte Mutter hat dich an den Weg gelegt und nicht danach umgesehen, ob Rad oder Huf über dich hingegangen ist. Zu guten Leuten bist du gekommen, und sollst ihnen auch nicht verloren gehen, wenn ich es machen kann, und sollst sie auch nicht verlieren, wenn sie selber das nicht so wollen: jetzt hab' ich dich aufgehoben, im Schnee und im wilden Solling, und in meinen Mantel genommen, und meine, es wird wohl so recht gewesen sein! Traue mir, wirst als alte Frau die Hexe aus dem Landwehrturm segnen, die endlich auch noch ihren höchsten Wunsch im Leben: ein Kind – zwei Kinder zu warten kriegte! Ihr Narren, wer hat euch denn so lieb, als wie die Wackerhahnsche aus dem Landwehrturm? Wer möchte denn lieber, als jede andere, als Großmutter an eurer Kinder Wiege sitzen, wie die arme, blutige Försterwitwe aus dem Barwalde?«

Sie ließ sie frei aus ihrem Arm und trat vor den Pastor Störenfreden, nochmals mit dem Ärmel über die Augen streichend:

»Es ist mir nicht zum Lachen zu Mute, Herre; aber wenn es mich mein Leben kostete, ich muß jetzt mit so was zum Lachen heraus und auf meines jungen Paares Aussteuer kommen. Er hat nichts und sie hat nichts, und wenn der Herr Herzog in seinem Asyl Blankenburg Gerechtigkeit und Gnade über seinen Malermeister aus dem Lager bei Stade ergehen läßt, so ist das auch wohl das Höchste, was er tun kann. Viel übrig zum Verschenken haben sie ihm nicht gelassen, und wenn er selber mit Frau und Kindern und Haushalt was zu beißen und zu brechen hat, wird er froh sein. Ja, ja, Monsieur Pold, mit der Blumenmalerei wird's fürs erste wohl nichts werden! Ich sage, diesmal kann keiner sagen, wie lange der Kriegsgott die Welt mit seiner einen Farbe anstreichen wird – das grüne Gras im Sommer, den weißen Schnee im Winter! Und was dem Herrn Herzog Karl sein Porzellan angeht, davon wird, bis die hohen Herrschaften[154] sich über Schlesien geeinigt haben, mehr zerschlagen als gebacken werden! Es ist dem Herrn Pastor nicht zu verdenken, wenn er auch darob von wegen der Trauung seine Bedenken hat. Da gebe ich ihm ganz recht und rate selber, daß er dem Bräutigam und der Braut erst die Frage stellt, ob sie auch bis in den Hungertod hinein bei ihrer Meinung und ihrem Willen bleiben wollen, für dies Leben nicht voneinander zu lassen?«

Ein Wunder geschah nicht auf dieses Wort, welches bewies, daß die Wackerhahnsche sehr wohl geeignet gewesen wäre, mit an der Pragmatischen Sanktion zu arbeiten. Nur das Natürliche, das Selbstverständliche geschah. Die beiden, die, seit sie sich für Zeit, und wie sie meinten, auch für die Ewigkeit einander verlobt hatten, hatten nimmer so scheu sich voneinander gehalten, wie jetzt in der Stube des Pastors von Derenthal, unter dem Schrecken, dem Bangen und – süßen Verlangen der Stunde. Nun aber, auf das pragmatische Wort ihrer jetzigen Lebensführerin hin, stürzten sie zueinander, hielten sie sich umschlungen, weinend und lachend:

»Ja, ja, ja! Nicht wahr, Pold – nicht wahr, Immeke, Ein Weg! Ein Leben und Ein Grab!«

»Na, na, das letzte nur, wenn's gar nicht anders geht!« brummte die Försterwitwe aus dem Barwalde! »Wir, – mein Mann und ich, haben auf manchem Anstande gegen unser zweibeinig Raubzeug uns dasselbige geschworen!«

Doch der beste Blumenmaler des Herzogs Karl, der Deserteur des Herzogs von Cumberland Leopold Wille, zog nun sein Mädchen vor Ehrn Emanuel Störenfreden hin und griff wild, trotzig, bis ins Tiefste aufgeregt, nach der Hand des einstigen Feindes und Nebenbuhlers. Was der kurfürstlich hannoversche Werber und der Held William Augustus von Hastenbeck nicht fertig gebracht hatten: ihn zu einem tapferen, bis in den Tod unbesiegbaren Kriegsmann fürs Erdendasein zu machen, das hat die Bedrängnis, das Elend und – die [155] Seligkeit der Stunde vollbracht. Nicht allein die Greisin aus dem Landwehrturm hat ihn am Kragen genommen und für sein ferneres Leben zurecht geschüttelt: wie eine Faust von oben hat's in ihm zugegriffen und ihm den letzten Rest des Fiebers vom Lager bei Stade und der Konvention von Kloster Zeven aus dem Leibe gerüttelt und ihn in seiner Seele fähig gemacht, seines ihm von Ehrn Gottlieb Cobers Wunderwagen zugefallenen Weibes Gatte zu sein.

Und von hier ab hat die Sache, was des Derenthaler Pastors geistliche Amtsverrichtung anbetraf, zwischen den zwei jungen Männern gelegen und nicht mehr zwischen dem Pastor und der Wackerhahnschen aus dem Barwalde und Landwehrturm.

Es sind auch eigentlich nur noch wenig Worte um das Wort des Blumenmalers:

»Du hast sie mir lassen müssen und hast sie mir gelassen: nun gib sie mir auch so!« gewechselt worden.

»In Gottes Namen denn!« hat Ehrn Emanuel Störenfreden leuchtenden Auges, beide Arme gen Himmel erhebend, gerufen. Und wie dem Ertrinkenden noch einmal sein ganzes Leben in einem Augenblick vor der Seele vorbeizieht, so ist dem Pastor von Derenthal, dem Schüler des großen Abts Jerusalem, seine ganze von Schulbänken an erworbene Gelehrsamkeit im Moment vorbeigegangen und – hat ihm merkwürdig zum letzten Entschluß verholfen und in seinem Gewissen wunderbar getröstet.

Hatten nicht sogar, der Not und dem Drange der Zeiten wegen, die Männer Gottes, Doktor Martin Luther und Doktor Philipp Melanchthon, dem Landgrafen Philipp dem Großmütigen von Hessen zugelassen, sich zu der einen ehelichen, lebendigen Hausfrau noch die andere, Fräulein Margarete von der Saal, kirchlich antrauen zu lassen? Wie viel leichter ließ es sich doch da am jüngsten Tage verantworten, nur das Bienchen aus dem Boffzener Blumengarten und den Blumenmaler Pold Wille von Fürstenberg ehelich ohne vorheriges [156] dreimaliges Aufgebot von der Kanzel herunter zusammengegeben zu haben!

Später, in seinem Schriftenwechsel mit dem Wolfenbüttler Konsistorium über den Fall, hütete er sich freilich, das kirchen-historische Faktum zu seiner Entschuldigung mit heranzuziehen: damals konnte er sich aber auch bereits getrösten, daß der liebe Himmel doch wohl zu der Amtswidrigkeit gelächelt haben möchte, insofern er die Sache bei den gestrengen Herren und großen Perücken am grünen Amtstisch nicht schlimmer hatte ausfallen lassen. –

Sie haben wirklich am Tage Adams und Evas das Derenthaler Pfarrhaus als Mann und Frau verlassen, die beiden Mündel der Wackerhahnschen. Zeugen der Trauung sind nur die Winnefeldsche, die Ameliethsche und die Wackerhahnsche gewesen: wie aber das Sollingsdorf auf die Beine und an die Fenster gekommen sein würde, wenn die Ameliethsche und die Winnefeldsche nicht der Hexe vom Boffzener Landwehrturm alles zugetraut hätten, das mag sich jeder selbst beschreiben. Der Köterberg, wo der leidige Satan ja auch sein Absteigequartier hat, war doch zu nahe gelegen, als daß sie sich nicht von dem aus zu jeder Zeit, bei Tage und bei Nacht, den nötigen schwefelfeuerigen Sukkurs zu ihrer Anrede von vorhin hätte herrufen können.

Wem ließ die Wackerhahnsche heute Zeit dazu, zur Besinnung zu kommen? Ehrn Emanuel Störenfreden hatte das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten zum ersten Mal in seinem Leben geküßt; er hatte seinen »Freund« Monsieur Leopold schluchzend in den Armen gehalten, nach der größesten geistlichen Tat seines Lebens; als die Wackerhahnsche mit einem Grinsen, das ihr das ganze verwitterte Hexengesicht verklärte, die beiden in herzbrechender Rührung heulend zerfließenden Weibsbilder, die Winnefeldsche und die Ameliethsche, beiseite schob, an den Tisch trat, den Oberrock hob und einen neuen [157] Griff in die Wundertasche im Unterrock, die schon die beiden Ringe geliefert hatte, tat.

Auf den Pastors von Derenthal Studiertisch schob sie alles geistliche, gelehrte und amtliche Rüst- und Handwerkszeug zurück und schüttelte den Inhalt eines alten, abgegriffenen, einst mit feiner Stickerei versehenen Tabaksbeutels drauf:

»Da hast du mein Teil zu deiner Aussteuer, du Immeke von Boffzen. Halt die Hände auf, Malermeister! halt die Schürze auf, Hannchen! das wirft unser Herrgott euch durch die Wackerhahnsche von seinem Wunderwagen hinunter zum heiligen Christ heute und hinein in den jungen Ehestand!«

O Pfarrhaus von Grünau, wo bliebest du mit deinen Herrlichkeiten – der Aussteuer, die du deinem Töchterchen Anna Luise mitgabest in den jungen friedlichen Haushalt?

Wie das in den trüben kriegstollen Wintermorgen hinein glitzerte und flimmerte! Mehr Ringe mit köstlichen Steinen; grün, blau und rot – Smaragd, Saphir und Rubin! Kleinode von allerlei Art: Brustnadeln, goldene und silberne Ketten, goldene und silberne Münzen und Medaillen aller Länder und Zeiten rund um das Mittelmeer her! Ein Kreuz vom Orden des heiligen Grabes, gestiftet von Papst Alexander dem Vierten – ein mit Diamanten besetzter Orden des Sankt Stephansordens des Herzogs Cosimo von Toscana! Antike Gemmen – wie wenn man den kostbarsten Raritätenkasten eines heutigen Museums in einen Sack zusammengerafft hätte.

Sie standen im Derenthaler Pfarrhause starr vor dem Wunder. Der Pastor war der erste, der darüber zu Worte kam.

»Weib,« rief er, »wie kommt Ihr zu diesen Kleinodien? Woher stammt das? Weichet zurück, alle, alle! weichet zurück davon! greifet nicht hin! was klebet wieder daran, Försterin Wackerhahn?«

Die Greisin, statt hierauf sich noch straffer emporzurichten und mit drohender Faust Antwort auf die Frage zu geben, [158] setzte sich langsam, mit einem ruhigen Blick im Kreise umher, in des Pastors Lehnstuhl:

»Habet Ihr auch davon vernommen, oder in den Büchern und Gazetten gelesen, wie im Kriege Ruth auf dem Erntefelde Ährenlese hält? Was hieran haftet, das nehme ich alles auf mein Gewissen. Da beruhigt Euch, Reverendo. Kriegsbeute, Schlachtfeldnachlaß ist wohl manches; aber das Messer und der Raubsack hat, was die Wilddiebsjägerfrau vom Barwalde an geht, nichts damit zu schaffen. Es liegt hier kein Stück, das die Försterin Wackerhahn nicht als ihr rechtlich erworben Eigentum jedwedem katholischen Heiligen und dort in Eurer Kirche, vostra riverenza, Euerm Herrgott in den Opferstock legen könnte. Geschichten zum Weinen und zum Lachen kleben wohl an allem, kurios zu erzählen und zu vernehmen. Schade, daß uns die Zeit dazu mangelt, Herr Pastor: aber Serenissimus auf Schloß Blankenburg haben in ihrer jetzigen Residenzstadt Braunschweig eine feine Kunstkammer, wenn die Franzosen sie ihm nicht gestohlen haben: ich will mit Pläsier Seiner Durchlaucht zu jeder Kuriosität die dazugehörige Historie in den möglichen Handel mit ihm dreingeben! Ja in den Handel! Höre Er, Malermeister Wille, und auch Sie, Madame – junge Frau: in meinem Turm auf dem Bruckfelde, auf meinem Strohsack in mancher Sturmnacht, wenn ich nur die Eulen zur Gesellschaft hatte auf meinem Altenteil, habe ich mich in der Einbildung an dem Gesichte ergötzet, was Boffzen, Fürstenberg, der Solling und das übrige Weltall machen würden, wenn sie den Bettel da mal unter meinem Leichnam gefunden hätten. Die Katzbalgerei der lieben Christenheit um den Dreck! Als Porzellanpuppe habet ihr mich ja wohl schon von Schloß Fürstenberg aus auf den Markt gebracht in meinen Lumpen, Musjeh Wille? Das Denkmal, das ich mir hierdurch in der Umgegend meines Boffzener Altenteils zum Andenken gesetzet hätte, das wäre wohl dauerhafter geworden, als alle Irdenware [159] des Herzogs Karl. Da ist denn aber aus dem Pfarrgarten mein Immeken geflogen gekommen, auch mir von Gottes Wunderwagen vor die Füße geleget, wie der Frau Pastorin. Und du armer Tropf hast in deiner Not und Elend auf meinem Strohsack über dem Mammon gelegen! Und den Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann habe ich lesen hören über seine Schäfer und Schäferinnen, und den Kabinettprediger Cober habe ich predigen hören in des Herrn Pastoren Holtnickers Stube; aber am lautesten hat mir da doch mein eigen altes wildes Herze geprediget. Solltest du es jetzt erst erfahren, wozu du dir das in die Schürze und in den Sack zusammen gestrichen und geraffet hast, blutige Witwe Wackerhahn? Hat sich die Alte im Pfarrhause nur Eines Kindes als eigen angenommen; sollte dir da der Herrgott für deine letzten Tage gar zwei in die Pflege und Vormundschaft geben wollen? Solltest du nicht in dem Landwehrturm zu verrecken brauchen wie ein Vieh, sondern auch noch mal an einer Wiege sitzen können als Großmutter von des lieben Gottes Gnaden und singen: Eia Popeia, was raschelt im Stroh? Probier's, Wackerhahnsche! Um Rat hab ich keinen gefragt: wer hätte mir da raten können? Probiert hab' ich es wie alles in meinem tollen Leben auf mein eigen gut Glück hin – diesmal auf mein letztes. Und nun vorwärts, Kinder! Des Herrn von Armentières Volk ist nach links hin abgezogen nach Neuhaus; wir schlagen uns nach rechts hin durch den Wald zu der Försterin vom Barwalde altem Kameraden Weigel am Lakenberge und weiter von unserer Weser bis zu des Herzogen Karls abgekauftem Asylum im Harz. Jawohl, im Notfall kauf' ich auch dich nun ihm, unserem Durchlauchtigsten, ab und mit hinein in seinen Schirm und Schutz und Schlupfwinkel vor anhebendem dritten Schlesischen Kriege, du arm gejagt Häslein, Fahnenflüchtiger aus seines Herrn Vetters Liebden sauberer Konvention von Kloster Zeven, Blumenmalermeister Wille. Er ist ein feiner Kunstherr, und ein Untertan[160] und Musketier des Herzogs von Cumberland wird ihm schon feil sein um einen oder zwei von den Bildersteinen in der Wackerhahnschen Türkenbeutel! ...«

Sie waren alle zu betäubt, um auf dieses noch viel hin und her zu reden. Sie aßen das Hochzeits-Weihnachtsmahl im Stehen, wie die Juden vor dem Auszug aus Ägypten ihr Osterlamm. Sie aßen vom Huhn und Schinken der Winnefeldschen, aber es war mehr ein Herunterwürgen. Nur die alte Führerin dachte zu ihrem Kleinodienbeutel auch an den Proviantsack und füllte ihn marschmäßig.

»Nun, Ameliethsche, und Sie, Winnefeldsche, werfe jede uns ihren Pantuffel nach,« lachte sie. »Hilft es nichts, so schadet's auch nichts; aber, Pastor Störenfreden, wir erreichen Schloß Blankenburg in Gesundheit und zu unser aller Fortun. Der Herrgott kann das nicht anders zulassen! Und nun nochmals Dank für alles Gute, was Ihr uns heute gegeben habt. Es war das Beste, was Ihr geben konntet, und in besseren Zeiten werden wir es Euch besser gedenken und vergelten!« ...

Der Eutinische Rektor beschreibt es sehr behaglich, (sein alter Vater Homer hätte es nicht feiner gekonnt!) wie die Pastorin von Grünau die Lad' aufschloß.


– »und enthob das köstliche Bettzeug,

Lange gespart für die Braut, das die Magd mit Bewunderung ansah;

Untergebett und Pfühle, gestopft mit lebenden Federn;

Auch feinbarchene Kissen mit Schwanflaum; dann auch die Decke,

Die von elastischen Dunen des polarnistenden Eiders

Lustig empor aus der Enge sich blähete –«


Ach, der armen Immeke von Boffzen ward so das Brautbett nicht zubereitet! Ihr Bette schüttelte nur Frau Holle wieder, und durch das weiße Gestöber sah der Pfarrherr von Derenthal, schwimmenden Auges und bebenden Herzens, das junge Paar mit seiner leben- und todestrotzigen Führerin im wilden Walde der Welt auf seinem angstvollen, tränenreichen Fluchtwege zu dem vom Herzog von Richelieu erkauften Asyl [161] des Herzogs Karl des Ersten von Braunschweig verschwinden. Er stand in seiner Tür, Ehrn Emanuel Störenfreden, und murmelte das Wort aus dem zehnten Kapitel des Jeremias:

»Des Menschen Tun stehet nicht in seiner Gewalt, und stehet in niemandes Macht, wie er wandele, oder seinen Weg richte.«

21. Kapitel

[162] Einundzwanzigstes Kapitel.

An der Landstraße, die durch das reichsunmittelbare Frauenstift Quedlinburg, von Gernrode unter der Teufelsmauer her, in die Grafschaft Blankenburg führte, am Waldrande ein Ständer mit einer Tafel und der Inschrift drauf:


Territoire neutre, appartenant au Duc de Brunswick.

(Neutrales Gebiet, dem Herzog von Braunschweig gehörig.)


Das war der Pfahl, den die Schlacht bei Hastenbeck hier dem deutschen Volke in das Fleisch gepflanzt hatte! Die Grenze des von Seiner Durchlaucht Herzog Karl dem Ersten dem gegenwärtigen Verweser Niedersachsens und so auch seines Herzogtums teuer abgekauften »Asyls«.

»Da wären wir denn von und durch Gottes Gnaden!« hatte unter diesem Pfosten am Tage nach den Heiligen drei Königen Siebzehnhundertachtundfünfzig, zu der französischen Ankündigung aufblickend, ein altes Weiblein gesagt und ihren eisenbeschlagenen Wanderstab durch den im Sonnenschein glitzernden Schnee in den hartgefrorenen Erdboden gestoßen. Der Stab war aufrecht stehen geblieben und die Alte auch; aber ein jüngeres Weibchen hatte sie aus ihrem linken Arm auf einem Steinblock an der Landstraße niedersitzen lassen, und ein junger Mensch hatte auf der anderen Seite dabei geholfen, saß aber selber mit nieder und ließ die Erschöpfte nicht aus dem Arm. Die Wackerhahnsche hatte es denn soweit durchgesetzt: wenn das Asyl des Herzogs Karl auch ihnen Schutz gewähren wollte, so waren sie nun in Sicherheit vor dem landfremden Feinde und Freunde, dem [163] Richelieu und dem Cumberland, ihre Schützlinge, ihre Kinder! Aber es war auch die höchste Zeit; sie waren auch mit ihren Kräften zu Ende. Nun vor allem das arme Boffzener Bienchen; der junge Gatte hatte sich diesmal besser gehalten, als seiner Zeit als Musketier des Kurfürsten von Hannover auf dem Marsche nach der Landdrostei Stade.

Welch eine Hochzeitsreise von der Weser bis zum Harz! –

»Mein Immeken, mein Liebling,« rief die Greisin, von der mit geschlossenen Augen wie im Schlaf an der Brust ihres Polds liegenden jungen Frau angstvoll um sich und zu dem Pfahl mit der Inschrift aufblickend. »Sie geht mir jetzt noch ein, wenn mir der Herrgott nicht nun nochmal den Finger aus der Höhe hinhält. Mein Herzenskind, mein Mädchen, nur noch ein klein, klein Stündchen, und wir sind für immer im Quartier und lieben Himmelreich. Den Tort wirst du doch nicht mir und das Elend nicht deinem Malermeister antun und uns ohne dich da jetzt anklopfen lassen wollen? Denk nur noch einmal, Frau, was du dem Herrn Pastor Störenfreden versprochen hast. Für Gut und Böse, bis der Tod euch scheidet!«

»Bis der Tod uns scheidet!« murmelte das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten. »Bis in den Tod für Gut und Böse, Liebster, Lieber, Armer!«

Der Blick, den der beste Blumenmaler von Fürstenberg nicht zu dem Franzosenpfahl, sondern zu der wilden Führerin emporrichtete, enthielt des Jammers genug, um damit alle Schulden seines jungen Lebens dem Weltrichter abzuzahlen, den Eid, dem König von Großbritannien und Kurfürsten von Hannover, George dem Zweiten, zu Wasser und zu Lande dienen zu wollen, eingeschlossen.

Welch ein Weg nach Hastenbeck durch dies Niedersachsen von der Weser bis zum Harz, bis zu diesem – Asyl!

– – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

Sie hatten wahrlich nicht die grade Richtung nehmen können; [164] dazu hatte der Schnee im Gebirge doch zu hoch gelegen. Und welchen Hindernissen und Fährlichkeiten hatten sie außer denen, welche die Mutter Natur ihnen in den Pfad legte, sonst noch ausweichen müssen! Hinter Einbeck hatte der Marquis von Armentières zwar nicht mehr auf den Blumenmaler aus dem Lager bei Stade fahnden können; aber viel sicherer für junge deutsche waffenfähige Mannschaft war die Straße auch um den Harz herum nicht geworden. Und sicherer für andere Gefahren für junge hübsche Mädchen auch nicht, selbst wenn sie die weiland Wilddiebsförsterin und Marketenderin des Königs von Hispanien und des Fürsten Leopold von Dessau zur Führerin und Beschützerin hatten.

Die Wackerhahnsche selber war jedenfalls am gefeitesten vor Anfechtungen jeglicher Art, ihre Lieblichkeit reizte das wandernde und wegelagernde Strolchen- und Marodebrüdertum nicht, und was sie sonst unter ihrem Schurz im Unterrock an begehrenswerten Schätzen und Kostbarkeiten bei sich trug: wer konnte sich das bei ihr vermuten sein? Das alte Hexenmensch hätte ja selbst der Satan nur von weitem mit der Ofengabel anrühren mögen!

Der gute Ruf unserer lieben Frau aus dem Barwalde her bei den Leuten in Grün, der alten Kameradschaft, war nur für den Solling gültig gewesen. Weit über Dassel hinaus hätte auch der Förster Weigel vom Lakenhaus ihr keinen Panisbrief mitgeben können. Aber wie ein Bruder hatte er die Greisin begrüßt und wie ein Vater ihre Schützlinge bei sich bewirtet und ihnen am anderen Tage mit der Büchse über der Schulter, seinen Hunden und Jägerburschen, soweit er konnte, sicheres Geleit gegeben, mit dem Wunsche auf ein glückliches Wiedersehen bei besseren Zeiten und wärmerer Witterung.

Im späten Alter noch, bei besseren Zeiten und milderer Witterung, haben sie noch oft, oft das Traumbilderbuch dieser Wintertage und -nächte zwischen den Jahren Siebenundfünfzig [165] und Achtundfünfzig nachblättern müssen, der Blumenmaler Wille auf Schloß Fürstenberg und sein Weib. Und wenn sie ihren Kindern davon erzählten, haben diese nichts von dem, was sonst wohl von Mären und Wundersagen zu ihnen gekommen sein mochte, drüber gestellt, und es nachher leise und scheu weiter gegeben an ihre Kinder, so daß es von Mund zu Mund nun auch bis zu uns wahrhaftig und getreu hinunter gelangt ist, wo es nun auf diesem Blatt liegen bleiben mag, des Schicksals alles unzulänglich schriftlich Aufbewahrten gewärtig. –

Bild an Bild!

Sie haben nicht bloß Landstreicher, Diebe, Werber und feindliche Streifparteien auf ihrem Marsche angetroffen, die armen Heimatlosen aus dem Boffzener Pfarrhause. Auch anderem Menschenvolk, guten Leuten gegenüber haben sie gestanden, oder bei ihnen eingesprochen, allwo ihnen der Immeke arm lieblich Kindergesicht und Polds ehrlich ängstlich Wort besser zu einer freundlichen Wegeweisung oder zu einem Unterkommen für die Nacht, sei's im Hause, oder sei's am Feuer in der Hütte am Kohlenmeiler, oder sonst wo verhelfen konnte, als der Wackerhahnschen welterfahrenstes, grimmigstes Hintreten, Fragen, Anfordern und Drohen.

Bild an Bild!

Da ist zuerst Osterode mit seiner Ruine, und da ragt durch den Nebel der Scharzfels, der noch nicht Ruine ist, sondern wo Hauptmann von Issendorf mit zwei oder drei Dutzend invalider kurhannoverscher Jäger den Ruhm der Burg, eine Jungfer zu sein, noch festhält und festhalten wird bis zum Jahre Siebzehnhunderteinundsechzig, allwo am 16. September elftausend Franzosen unter den Generalen Victor und Vauvecour seine altersgraue ritterbürtige Schöne ihm bewältigen, und die Stadt Paris der großen Waffentat wegen illuminiert und in ihrer Kirche Notre Dame ein Te deum laudamus anstimmt.

Für den kurhannoverschen Deserteur von Kloster Zeven [166] hätte Hauptmann von Issendorf im Jahre Siebenundfünfzig wohl keine andere Unterkunft gehabt, als eine vergitterte und verriegelte Kasematte. –

Bild an Bild!

In der »Steinkirche« hat die Wackerhahnsche mit ihren Schützlingen für die Nacht lieber Quartier nehmen wollen, als auf Schloß Scharzfels, hat aber da durch eine Erscheinung einen Schrecken gehabt, dem selbst sie zuerst nicht gewachsen gewesen ist. Nachher hat es sich freilich gefunden, daß ihr nichts Erfreulicheres unter den Umständen hätte begegnen können, als das Zusammentreffen mit dem seltsam unheimlichen Gast, der ihr mit der Laterne aus der Tiefe des in den Felsen gehauenen uralten Gotteshauses entgegentrat und sie in fremder Sprache anschrie, mit der Keilhaue drohend. Ihren Wanderstab mit seiner Eisenspitze wie eine Pike gegen den Zornigen, tief in Pelz Vermummten fällend, hat die Försterin aus dem Barwalde auf sein: »Che cosa cerca qui? Che volete in questo luogo?« in derselben Zunge – auf italienisch Antwort gegeben, und beide sind nach längerer Wechselrede über ihr beiderseitiges: Il diavolo vi porti via! zu dem allerbesten Verständnis miteinander gelangt. Auf einen von den in jenen Zeiten, halb gefürchtet, halb verehrt, aber jedenfalls scheu angesehen vom Volk, die Harzberge durchstreifenden und durchforschenden venezianischen Goldsucher sind die Flüchtlinge in der Steinkirche gestoßen, und er hat sie nicht ihr Feuer für den nächtlichen Unterschlupf dort anzünden lassen, sondern hat sie im Abenddunkel mit sich in seine Wohnung im Dorfe Scharzfeld geführt und Gastfreundschaft geübt nach bestem Vermögen. Er hat lange niemand gehabt, mit dem er in seiner Muttersprache diskurrieren konnte, wie mit der Marketenderin Wackerhahn!

Am anderen Morgen sind sie weiter gezogen, versehen von dem geheimnisvollen fremdländischen Gastfreund mit einem köstlichen starken Wein aus dem schönen Land Italia. Über [167] Sachsa sind sie auf Walkenried zu, wo sie nach den schönen großen Ruderibus des Zisterzienserklosters nicht einmal hinsahen, aber mit dem Amtmann ein anfangs schlimmes Abenteuer hatten. In den Turm wollte sie der grimmige Mann sperren, und sein Weib, das mit roten, verweinten Augen in seiner Stube bei ihm saß, hat bei dem Verhör mehr auf die Hexe aus dem Landwehrturm, als auf das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten geachtet, und es wäre bei dem Beschluß geblieben, wenn es sich nicht ausgewiesen hätte, daß auch andere das treffen könne, was dem Blumenmaler von Fürstenberg begegnet war. Im Lager bei Stade hatte der kurhannoversche Musketier Wille den herzoglich braunschweigischen Füselier Heusinger, den Sohn des Herrn Amtmanns und der Frau Amtmannin kennen gelernt und konnte bezeugen, daß die Nachricht von dessen Tode am Lazarettfieber, die neulich gekommen war, ihre Richtigkeit hatte. Da ist es mit dem Quartier im Turm nichts geworden. Die Frau Amtmannin hätte den Flüchtigen am liebsten ihre beste Stube eingeräumt und sie bei sich behalten, um sich von ihrem Kinde bis in das Frühjahr hinein und immer weiter erzählen und immer mehr berichten zu lassen.

Über Ellrich sind die Wackerhahnsche und ihre Schutzbefohlenen, wiederum gut versehen mit Nahrung und Getränk aus dem Walkenrieder Amtshause, nach Ilfeld gekommen, allwo die hohe Schule war, auf der die vornehmen bösen Jungen der umliegenden Lande zum Guten angehalten wurden und, wenn sie wollten, auch die besten Lateiner, Griechen und dergleichen Gelehrte werden konnten. Der Weihnachtsferien wegen haben nur die Schlimmsten derzeit daselbst hausgehalten, die aber haben denn auch der Mutter Wackerhahn und ihrer Küken sich angenommen, wie es frommere junge Burschen wahrscheinlich nicht getan hätten. Anfangs des Spaßes wegen, nachher jedoch im vollsten Ernst haben sie geschworen: soweit [168] ihr Reich gehe, solle solchen Gastfreunden kein Schaden geschehen – weder vom Richelieu noch vom Cumberland, weder vom Herzog Karl von Braunschweig noch vom König Georg von England. Sie haben Wort gehalten – fast zu gut! Von ihrer Lehrerschaft sind sie losgebrochen und haben wie im Triumph, doch auf schlimmsten Wegen die Mutter Wackerhahn, den Blumenmaler und sein Bienchen nach Stolberg auf das Schloß gebracht, und einer unter ihnen, ein ferner Vetter der Frau Gräfin dort, hat das Wort vor der Erlaucht geführt und dann die Alte aus dem Landwehrturm für sich und die beiden Kinder und jungen jungfräulichen Eheleute selber reden lassen.

Die Frau Gräfin muß wohl eine gute Frau gewesen sein. Sie hat die wunderliche Historie anfangs mit Kopfschütteln, dann aber mit Mitleid vernommen, und was sie den drei Wanderern zu gute tun konnte, getan. Viel hat sie nicht vermocht, und ihr Gemahl, der Herr Graf, auch nicht; denn der Zeiten Drangsal hat auch auf ihrem alten Hause schwer gelastet. Erst am Tage vorher ist ein französischer Regimentsstab, der bei den Herrschaften auf dem Schloß lag, nach Ballenstedt zu den Anhaltinern weitergezogen und ebenso die Besatzung unten aus der Stadt. Es ist Schmalhans in Küche und Keller Meister gewesen auf Schloß Stolberg, und mit der Finanz in der gräflichen Rentenkammer hat's nicht zum besten ausgesehen nach Abzug der galanten Gäste. Sie haben lange den Bären brummen hören müssen, den ihnen die Herren drin angebunden hatten, und haben das Wappentier der Nachbarschaft lange nicht ohne Widerwillen ansehen mögen auf dem kursierenden schlechten Münzgelde von Bernburg.

»Man muß den Leuten nur ein bißchen verrückt vorkommen, dann kommt man schon weiter,« brummte die Wackerhahnsche, als sie trotz ihres Behagens grinsend den Brief in der Hand wog, den Ihre Erlaucht von Stolberg dem Boffzener Immeken zur Abgabe an Ihre Königliche Hoheit, die Frau [169] Herzogin auf Schloß Blankenburg, geschrieben hatte. »Kinder, das ist uns wie vom Himmel herunterspendiert! Laß mich das Kleinod aber lieber bei meinen anderen Pretiosen in meinem Türkensack uns aufheben, Hannchen. Es ist da doch immer noch sicherer als unter deinem Brusttuch.«

Einen Schlitten nach Harzgerode für die Asylsuchenden hat dann der Herr Graf gestellt, hat aber die Wohltat mit dem Verlust des Gespanns bezahlen müssen. Kurz vor dem Ort sind ihm die Gäule für einen ihm aus seiner Grafschaft herausgeholten französischen Provianttransport auch noch ausgespannt worden, und was die Frau Gräfin nachher darob zu hören bekommen hat, das konnte ihr der Himmel nur wie der heiligen Landgräfin Elisabeth von Thüringen durch ein Wunder vergelten.

Wäre es nun Sommer gewesen, so hätte ein Fußmarsch durchs Selketal der Wackerhahnschen und ihren beiden Schützlingen einen ferneren Umweg ganz lieblich erspart. So aber war nicht durchzukommen, die Welt da war zu sehr, nicht durch Bretter, sondern durch den Schnee versperrt.

Sie ließen Molmerswende, wo Pastor Bürgers neunjähriger Junge, wie uns seine Lebensgeschichte erzählt, »zwar noch nicht schreiben konnte, aber schon Verse machte«, zur Rechten. Den Falkenstein ließen sie hinter den Bergen im Nebel, Dunst und Schneegestöber zur Linken; doch durch »Taubenhain« sind sie gekommen auf ihrem Wege zum Herzog Karl. Im dortigen Pfarrhause – zu Pansfelde, saß grade, als sie bei sinkendem Abend wieder einmal anklopften und um ein barmherziges Lager für die Nacht, sei es auch im Stall oder in der Scheuer, baten, die Frau Pfarrerin Kutzbach am Spinnrade und sang aus dem Gesangbuch das Abendlied, und ihr Töchterlein sang mit süßem Kinderstimmchen mit und war noch nicht berühmt und beweinenswert gemacht worden in der deutschen Literaturgeschichte durch Gottfried August Bürger.

[170] Die junge Madame Wille, die jungfräuliche Blumenmalersfrau, hat des Pfarrers Tochter von Taubenhain nachher an dem Abend auf den Arm genommen und auf dem Schoß sitzen gehabt und hat von ihren armen lieben Eltern im Boffzener Pastorhause erzählt, und zu Pold Willes Bericht über das, was beim Pastor Störenfreden in Derental sich ereignet hat, hat der Pastor Kutzbach von Pansfelde zuerst bedenklich den Kopf geschüttelt, dann aber doch bei besserer Überlegung lächelnd genickt. Am anderen Morgen hat der Taubenhainer geistliche Herr seinen drei Gästen auch noch ein gut Stück Weges das Geleit gegeben auf Gernrode zu.

So sind sie um die Südostecke des Harzgebirges herumgekommen. Noch einmal hat die Wackerhahnsche mit ihren »beiden Krabben« bei einem Köhler im Walde nächtigen müssen, weil man im Dorfe die Hunde auf sie hetzte. Am Tage nach den Heiligen drei Königen hat sie mit den Kindern das versprochene Ziel erreicht, das Siegeszeichen von Hastenbeck, den Pfahl mit der Aufschrift:


Neutrales Gebiet, dem Herzog von Braunschweig gehörig.

Territoire neutre, appartenant au Duc de Brunswick.


Es war die Zeit dazu, wie auch Seiner Durchlaucht Asyl für die bei Serenissimus Herzog Karl von Braunschweig Schutz suchenden »Landeskinder« ausfallen mochte! – – –

22. Kapitel

[171] Zweiundzwanzigstes Kapitel.

An diesem selbigen Tage stand an einem der hohen Fenster des Schlosses Blankenburg, von denen aus man die weiteste Aussicht über das weiße, im Sonnenschein glänzende Land hatte, eine sehr vornehme Dame und sehr sorgenvolle, durch Kummer und Verdruß schwer bedrückte Gattin und Mutter: Frau Philippine Charlotte, Schwester des Königs Friedrich des Zweiten in Preußen, Gemahlin Seiner Durchlaucht des Herzogs Karl des Ersten von Braunschweig-Lüneburg.

»Weh, Niedersachsen, weh!«

Jawohl, auch diese Fürstin der Niedersachsen hatte wohl Grund und Ursache, das Wort aus tiefster Seele mitzuseufzen. Heute ruht sie sanft, nach langem, unruhvollem Leben, im Dom von Sankt Blasius in der Stadt Braunschweig bei neun von ihren dreizehn Kindern, von denen zwei Söhne auf dem Schlachtfeld gefallen sind und einer ihr ertrunken ist, weil sie ihn gelehrt hatte, sein Dasein nicht höher zu achten, als das seiner Mitbrüder auf der Erde. –

Sie trug das Kind, welches später Prinz Leopold, Kommandeur des Regiments von Dieringshofen zu Frankfurt an der Oder sein sollte, an diesem Tage auf dem Arm in der Fensternische, während drei von ihren jüngsten Prinzessinnen in einem Winkel des weiten glänzenden Gemaches ihre Spiele trieben, doch etwas verschüchtert und so leise als möglich, denn maman war nicht allein mit ihnen. Ein schwarzgekleideter, geistlicher Herr aus Braunschweig war zum Besuch gekommen [172] und stand neben der Frau Mutter und Brüderchen Pold da am Fenster und sie redeten eindringlich, doch gar nicht vergnüglich miteinander, maman und der ihnen wohlbekannte und vertraute geistliche Herr.

»O quelle ignominie, quel déshonneur, welche Schmach und Schande, Herr Abt, hier so in Sicherheit stehen zu müssen und auf der Höhe in der Stille den Jammer des Landes dort unten um so lauter im Ohr zu haben! O Hastenbeck! Hastenbeck! Hastenbeck! Hochwürden, da unten in Dorf und Hütte ist kein Weib mit dem Feind im Haus, das nicht von der armen Philippine Charlotte in ihrem Asyl von Richelieus Gnaden und rapacité um ihr Elend beneidet wird!«

Er war wahrlich auch nicht um Trost zu bringen von Braunschweig gekommen, der Herr Abt Jerusalem. Abgesendet hatte man ihn, um womöglich solchen von dem Landesherrn zu holen. Den ganzen Morgen hatte er mit Seiner Durchlaucht verhandelt über die Zustände seiner Landes- und Residenzstadt und nur das Wort gehört:

»Sehet zu, wie ihr euch durchschlaget! Unser lieber Geheimerat von Schrader wird ja auch für die Herren Professoren von unserem Collegio Carolino sein möglichstes tun. Sie müssen sich aber wie wir selber besserer Zeiten getrösten und Geduld haben. Es werden doch mit Gottes Hilfe einmal wieder für uns alle pläsantere Tage kommen, Herr Abt.«

Er war ein trefflicher Kanzelredner, der Abt von Riddags-Hausen, Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem; aber bei Seiner Durchlaucht Herzog Karl in seinem Asyl auf Schloß Blankenburg half ihm unter laufenden Umständen die Gabe, der Menschen Seelen zu bewegen, zu nichts, und es war dem hohen Herrn eigentlich auch gar kein Vorwurf darum zu machen.

In dem Zimmer der regierenden Frau Herzogin redete er wie ein Freund zur Freundin, und sie sprachen auch deutsch miteinander – eine Zunge, die sonst wenig am herzoglich [173] braunschweigischen Hofe bekannt zu sein schien, jedenfalls wenig daselbst vernommen wurde – auch mit dem Franzos als unverschämtesten Feind im Lande und – bei Hofe.

Von der letzten Plünderung der Stadt Halberstadt gerieten sie auf die Kinder, die zu Hause und die draußen in der Fremde und im Felde. Sie waren ja alle, diese Prinzen und Prinzchen, Prinzessinnen und Prinzeßchen, die Zöglinge, die dankbaren Schüler und Schülerinnen des Mitgründers des berühmten Collegium Carolinum. Der Abt von Riddagshausen hatte längst den kleinen Leopold auf dem einen Knie, als Philippine Charlotte ihm vertraulich die Hand auf das andere legte, da sie von dem eigentlichen, dem wirklichen Sieger bei Hastenbeck, ihrem Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand, auf das »arme Kind in Weimar« kam.

»Ach die Amalie!« seufzte die Frau Herzogin. »Ach, Jerusalem, wenn ich diesen Sonnenschein noch im Hause hätte, so würde sich alles auch leichter tragen lassen. Aber jetzt ist das ja auch noch eine neue Sorge bei Tage und bei Nacht zu den übrigen. In solchen Zeiten sie mit ihren achtzehn Jahren, er mit seinen neunzehn – der schwächliche kränkliche junge Mann und das wilde, liebe Mädchen dort auf ihrem Thrönchen in Thüringen! Welch eine Mutter hätte wohl ein gutes Kind mit mehr Sorgen und Angst in die Ehe und die Welt ziehen lassen müssen, als ich?«

Nun hätte der Herr Abt fast seinerseits der hohen Frau die Hand aufs Knie gelegt, als er jetzt seinerseits von der Anna Amalie in Weimar Tröstliches, Löbliches, Liebliches und – Hoffnungsreiches berichtete. Er erhob sie aber lieber doch nur zur Beteuerung, als er aus eigenster Kenntnisnahme und Erfahrung als Lehrer und Beobachter in innigster Überzeugung behauptete: Ihre Herzogliche Durchlaucht von Sachsen-Weimar werde allem sich gewachsen zeigen, was ihr die Gegenwart und die Zukunft bringen könne.

[174] Die regierende Herzogin von Braunschweig nickte hierzu wohl:

»Ja, ja, ja, Hochwürdiger!« aber sie seufzte doch auch wieder: »Und nun ist auch der Enkel gekommen – zu dem kranken Mann das liebe Kindchen, in Tagen, wo monsieur de Soubise ungebeten sich selber zum Taufschmaus hätte einladen mögen! Dem hat nun wohl mein Herr Bruder durch Roßbach ein Ende gemacht; aber seit Roßbach sind wir nun auch ohne Nachricht aus Weimar hier in unserem – Asyl!«

»Voilà papa, maman,« sagte der kleine Pold, den Abt Jerusalem schnell von seinem Knie auf den Teppich stellte. Herzog Karl der Erste war ins Zimmer getreten – noch immer der schöne, stattliche Herr – sonst ein fröhlicher Mann, leuchtenden Auges, ein Mann von Geist und Geistesgegenwart in allen Sachen, die das Leben licht und heiter machen, in Künsten, Wissenschaften und dergleichen wohl bewandert, ein Mann von unbegrenztem Wohlwollen, wo es nicht gegen seine Bequemlichkeit und seine fürstlichen Launen ging: gegenwärtig aber doch auch nur ein Mann der Trübsal und des Elends.

Er trug einen Haufen Papiere – Briefschaften und Dokumente in der Hand. Die Unterhaltung wurde von jetzt an wiederum in französischer Sprache geführt.

»Wieder böse Nachrichten, Charles?« fragte die Herzogin, angstvoll dem Gatten in das finstere Gesicht blickend.

»Es bestätigt sich alles,« rief der Herzog. »Bruder Ferdinand ist auf dem Marsch nach Celle. Er hat bei Stade meine braven Generale Imhof und Behr, die bei ihrem Eide gegen ihren Landesherrn ausharren wollten, gefangen gesetzt. Er hat die Regimenter – meine Regimenter – von den Hannoveranern umringen lassen, und sie ihm, meinem Herrn Bruder, schwören lassen! Euer Liebden, er hat unseren Sohn, den Erbprinzen, in sein Hauptquartier gelockt und ihn bewogen, das Kommando über meine Truppen zu übernehmen, und mein Sohn Karl Wilhelm Ferdinand hat es getan –«

[175] »Und wird unter unseres Bruders Ferdinand Fahnen Hastenbeck rächen und uns, seine Eltern, seine Brüder und Schwestern, aus diesem – Asyl, diesem Unterschlupf der Schmach und Schande erlösen!«

»Derweilen aber sind wir fürs erste noch in Richelieus Hand und Gnaden; hier, Philippine! Da lesen Euer Liebden, was die Herren Franzosen uns aus unserer fürstlichen Residenzstadt Braunschweig zu schreiben belieben.«

Mit bebender Hand nahm die Fürstin das Schreiben, las mit zuckenden Lippen, nickte:

»Sie sagen sich los von der Neutralisierung der Grafschaft Blankenburg, wenn der Herzog von Braunschweig auch seinerseits die Konvention von Kloster Zeven bricht. Sie erklären ihn mit seiner Familie für kriegsgefangen und werden auch sein Land für sein Verhalten mit verantwortlich machen ... Charles, Charles!«

Der Herzog lachte, wie man beim Vortrag eines solchen historisch-politischen Dokuments eben zu lachen pflegt. Dabei wendete er sich zu seinem Gast in seinem Asyl.

»Da hören der Herr Abt selber, was ich Ihnen nach Braunschweig zum Trost für unsere getreuen Untertanen mitzugeben habe. Auch die Herren Professoren von unserem Collegio Carolino werden sich, was ihre gegenwärtige Sustentation anbelangt, wie ich Euer Hochwürden schon gesagt habe, an das halten müssen, was der Herzog von Ayen auch für sie von unserem landesfürstlichen Einkommen überlassen wird.«

»Aber, wie auch ich Euer Durchlaucht bereits berichtet habe,« rief der Abt von Riddagshausen, »in Braunschweig wußte man, daß der Graf von Villeneuve, den der Herr Marschall von Richelieu sein Korps bei Winsen an der Luhe hatte zusammenziehen lassen, von dort im fluchtartigen Rückzuge begriffen sei. Man wußte, daß Seine Durchlaucht Herzog Ferdinand den Marschall selber zum Aufgeben seiner Stellung [176] gezwungen habe. Hochfürstliche Herrschaften, man lebt in Dero getreuer Landesstadt der festen Hoffnung, daß bis zum Frühjahr kein Feind mehr im Lande zu finden sein werde.«

»Aber wir bis dahin hier und mein Land doch in des Feindes Klauen, sous les griffes de l'ennemi, monsieur l'abbé! Oder ich mit meiner Familie auf dem Wege nach Paris unter französischer Dragoner-Eskorte als liebwerteste Gäste Seiner Majestät des Königs Louis des Fünfzehnten, hochwürdiger Herr!«

»Davor sei der liebe Gott!« stammelte Jerusalem. »Das wird er nicht zulassen! Was aber Dero getreue Staaten anbetrifft, so hat Seine Majestät von Preußen den Marschall von Richelieu wissen lassen: für jedes Dorf, das in den Landen Braunschweig und Hannover in Flammen aufgehe, werde auch eines in Böhmen angezündet werden. Und wir hoffen und vertrauen, als wie auf einen Helfer gesendet vom Gott der Heerscharen, auf Dero Herzoglicher Durchlaucht glorwürdigen Herrn Bruder Ferdinand, Seiner Majestät in Preußen jetzigen berühmten Mitfeldherrn im Lager bei Stade! O hochfürstliche Herrschaften, nur noch ein klein Stündlein Geduld! Der Herzog d'Ayen in Braunschweig hat dem Herrn Bürgermeister bei der letzten Audienz auch nicht seine große Unruhe verhehlen können wegen des Anmarsches der hohen Allierten heraus aus – der Konvention von Kloster Zeven.«

»Nicht weinen, maman!« klang jetzt plötzlich die helle Kinderstimme des Prinzen Leopold in den sonoren Kanzelton des hochwürdigen Abts von Riddagshausen. »Oncle Frédéric in Berlin hat viele, viele Soldaten, und ich will auch sein Soldat werden. Soeur Amélie hat auch viele, viele Soldaten, und Papa hat auch viele, viele Soldaten! Und großer Bruder Charles Wilm Ferdi ist auch Soldat, und Bruder Frédéric ist auch Soldat, und wir wollen alle maman helfen. Ich auch! Ich fürchte mich auch vor nichts, wie Papa und Mama und oncle Frédéric und Schwester Amélie und die großen Brüder. [177] Man soll sich vor gar nichts in der Welt fürchten, nicht wahr, maman?«

Wir haben es schon erzählt: nach Hastenbeck hatte diese Mama, diese stolze Mutter ihren Erstgeborenen mit den Worten geschickt: »Ich verbiete Euch, mir wieder vor die Augen zu kommen, wenn Ihr nicht Taten getan habt, Eurer Geburt und unserer würdig!« Fünf Jahre vor Jena hat sie Gott gnädig von der Erde fortgenommen, aber die Schlacht bei Vellinghausen und die eisschollentreibende donnernde Oder hat er ihr nicht erspart. Gefürchtet hat sie sich nicht; aber soviel und mehr Angst, Sorge, Schmerzen, Kummer und Elend, wie andere Erdenweiber, hat sie auch getragen! –

»Herr Referendarius von Fritsch aus Weimar bittet um die Gnade,« meldete in diesem Augenblick aus dem Vorzimmer der Heiduck, und Philippine Charlotte von Hohenzollern stürzte dem Boten von Anna Amalie aus Weimar mit ausgebreiteten Armen entgegen:

»Fritsch?! Sie selber als Kurier? Was bedeutet das? Mon dieu – was, was, was?«

»Königliche Hoheit, die durchlauchtigste Frau Herzogin und der junge Prinz befinden sich nach Wunsch,« sagte Herr von Fritsch, der Mutter einen Brief der jüngstverheirateten Tochter überreichend.

»Gott sei gelobt!«

Mit einem Blick auf den geistlichen Herrn aus Braunschweig fuhr der Bote aus Weimar, an den Herrn Vater der jungen Frau sich wendend, fort:

»Seine Exzellenz der Herr Graf von Bünau haben nur den Wunsch gehabt, daß ich Eurer Herzoglichen Durchlaucht über sonstige demnächstige leider mögliche Umstände und Ereignisse auch mündlich Nachricht geben möge.«

»Der Herzog Ernst?« ... fragte Herzog Karl, und der junge Weimarsche Beamte, auf einen Wink näher an Serenissimus [178] herantretend, sagte: »Das Befinden Seiner Durchlaucht gibt leider mehr und mehr zu schweren Sorgen Anlaß, und der Herr Graf wünscht jetzt schon den erhabenen Rat Eurer Durchlaucht bei eintretender höchster Kalamität in betreff von Vormundschaft und Familienfreunden für Dero erlauchten Enkel.«

»Liebe Philippine –« rief Herzog Karl, doch die regierende Frau rief:

»Kommen Sie, Jerusalem, Sie sind in den Häusern Braunschweig und Weimar auch Familienfreund! Wir wollen zuerst unserer Amalie Brief lesen.« –

Die Gruppen sonderten sich. An dem einen Fenster hielt sich der Herzog im eifrigen Gespräch mit dem Abgesandten des Herzoglich Weimarschen Staatsministers, in der anderen Fensternische saß Serenissima mit ihrem Brief, umringt von ihren Prinzessinnen Elisabeth Christine, Friederike Wilhelmine und Auguste Dorothee, deren allzu heftigem Zudringen der Abt von Riddagshausen vergeblich zu wehren suchte.

Es war ein langer Brief, den Anna Amalia von Sachsen-Weimar über ihren ersten Jungen und sich geschrieben hatte. Zwischen Weinen und Lachen brauchte die Frau Mutter auch eine ziemliche Weile, ehe sie mit ihm zu Ende kam. In dieser Fensternische war die Not der Zeit für einen kurzen Moment nicht mehr vorhanden. Und zuletzt, ehe der Herzog sich mit dem Herrn von Fritsch in sein Privatkabinett zurückzog, fand sich sogar auch noch Zeit für etwas, was weder die Hohenzollern, noch die Welfen, noch die Wettiner persönlich betraf. Es blieb Zeit für – die Wackerhahnsche und ihre im Unterschlupf des Hauses Braunschweig mit Asyl suchenden Schützlinge, den herzoglich braunschweigischen Blumenmaler Pold Wille und das Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, Jungfer Hannchen Holtnicker, verehelichte Wille!

»Wie kommen Sie denn hierzu, monsieur de Fritsch?« [179] fragte Philippine Charlotte, das in dem Unterrock der Hexe vom Landwehrturm sehr zerknitterte und durchaus nicht reinlicher gewordene Handschreiben der Frau Gräfin von Stolberg-Stolberg in der Hand.

Es war der spätere Antonio des späteren Weimarschen Staatsministers von Goethe, welcher jetzt den Brief der Frau Gräfin der Frau Herzogin auf Schloß Blankenburg überreicht hatte.

»Was schreibt Ihre Erlaucht mir denn da? Sie empfehle die Leute meinem Mitleid und dem Wohlwollen meines Gemahls, und ich solle mir die Historie von der alten Frau selber erzählen lassen, sie sei des Anhörens wert? Haben Sie uns denn dem mir in diesem Billett angekündigten Besuch auch als Eskorte gedient, mein lieber Herr von Fritsch? Nun, der Frau und dem Kinde geht es wohl; Sie sind mir heute ein solcher freundlicher Bote, daß niemand in der Welt sich einen günstigeren maître des cérémonies bei uns hätte auswählen können, als wie Sie, mon cher monsieur de Fritsch.«

»Ich traf die Leute am Grenzpfahl, schon auf Dero Königlicher Hoheit schützendem Gebiet. Eine junge Dirne habe ich auf meinen Schlitten genommen, einen jungen Mann und eine seltsame alte Dame durch meine Begleitmannschaft und Diener auf den ihrigen mit hierher gebracht. Die Jungen waren dem Tode nah, doch warten sie nun mit der alten Frau im Schloßhofe auf Eurer Königlichen Hoheit und Seiner Herzoglichen Durchlaucht Befehle, Gnade oder Ungnade.«

»Aber Euer Liebden,« meinte Herzog Karl, jetzt von seinem Fenster und dem Schreiben des Weimarschen Staatsministers Grafen von Bünau, Exzellenz, zu seiner Gemahlin tretend, »ich möchte wirklich erst mit Ihnen über unsere eigenen Affairen reden! Monsieur de Fritsch wird –«

»Herr Abt,« wendete sich die Herzogin zu ihrem würdigen Berater und Freunde, »würden Sie wohl die Güte haben, [180] sich nach den näheren Umständen dieser malheureusen, uns vom Himmel zugesendeten Kompagnie vorerst etwas des genaueren zu erkundigen?«

Die erlauchten Herrschaften zogen sich mit dem jungen Gesandten des Grafen von Bünau in die »innersten Gemächer« ihres »Asyls« zurück: Jerusalem stieg in den Schloßhof hinunter, den Brief der Frau Gräfin von Stolberg jetzt als sein Beglaubigungsschreiben an die Wackerhahnsche mit sich nehmend.

23. Kapitel

[181] Dreiundzwanzigstes Kapitel.

Im Schloßhofe fand der Abt von Riddagshausen die Flüchtlinge und Schutzsuchenden von der Weser nicht. Man wies ihn in die Wachtstube.

Durch den Vertrag mit dem gegenwärtigen Verwalter Niedersachsens, L.F.A. Duplessis de Richelieu, war Seiner Durchlaucht Herzog Karl von Braunschweig gestattet worden, einige Schwadronen seiner Leibgardereiter, wenn nicht zum Schutze, so doch zur Aufrechthaltung seiner hochfürstlichen Würde den getreuen Untertanen gegenüber, mit sich nach seinem »neutralen Gebiet« Blankenburg zu nehmen. In den Dörfern hatte jeder Ackermann einen Reiter und einen Gaul ins Quartier bekommen; in der Stadt lag eine Schwadron und auf dem Schloß eine stattliche Besatzung.

In der Wachtstube der letzteren fanden Seine Hochwürden denn auch wirklich, was sie suchten: die Wackerhahnsche in heftiger aber kameradschaftlicher Auseinandersetzung mit Korporal Süllmann aus Hellenthal im Solling, mit dem sie eine langjährige, das heißt immer noch nicht verjährte, Bekanntschaft aus dem Barwalde her sofort wieder erneuert hatte, – die beiden jungen Menschen aber durch den überheißen Raum wiederum halb betäubt und ohnmächtig auf einer der Pritschen hingesunken. Doch sie fuhren alle auf oder herum, Reiter und Landstreicher, beim Eintritt des wohlbekannten geistlichen Herrn; die Reiter mit militärischem Gruß, die Schutzsuchenden [182] zitternd, bebend vor Erschöpfung, Fieber, Frost und Hülflosigkeit. Jerusalem aber schlug die Hände vor der Brust zusammen:

»Aber Monsieur Wille, ist Er – sind Sie denn das? Um des Himmels Willen, Herr, Sie? Wie kommen Sie in diese Lage, diese – Begleitung? Wie kommen Sie hierher, nach Blankenburg? Habe ich Ihnen deshalb aus der Waisenhausschule und dem Malersaal unseres Collegii Carolini zu Ihrem Platz im Malersaal auf Fürstenberg verholfen, um Sie so heute wiederzufinden?«

Der Blumenmaler Pold Wille versuchte es, Antwort zu geben, aber vermochte es nicht, und Immeke von Boffzen, die sich mit ihm von der harten Soldatenlagerstatt erhoben und mit dem Arm um seinen Nacken sich an ihm aufrecht erhielt, vermochte es auch nicht. Sie weinten beide, die Kinder, und der Vater des jungen Werthers stand eben auch wortlos und ratlos vor ihnen: wiederum war es die Wackerhahnsche, welche die Vermittelung übernehmen mußte.

»Wenn der Herr Abt uns in Ihrem Zimmer anhören und nachher bei den durchlauchtigsten Herrschaften ein gut Wort für meine zwei unmündigen Kreaturen hier sprechen wollten, so würde das wohl das beste sein,« meinte sie kurz. Und fast lächelnd fügte sie bei: »Es würde sich auch für Seiner Durchlaucht Komödienhaus ein fein Schaustück draus machen lassen, wenn der rechte Poete und Musikante drüber käme ...«

In seinem Gemache hat denn auch Abt Jerusalem das Nähere über die Geschichte von Daphnis und Chloe, von Pold Wille und Hannchen Holtnicker, vernommen, und aus mildem, menschenfreundlichem, weltüberlegenem Herzen das Seinige dazu getan, um aus Hauptmann Balzer Uttenbergers Beutestücke vom Hastenbecker Schlachtfeld das Wort des jungen Züricher Dichters:

»Klaget mir nach, ihr Felsenklüfte! Traurig töne mein Lied zurück, durch den Hain und vom Ufer!« in das:

[183] »Klaget itzt nicht mehr, ihr Felsenklüfte! Freude töne itzt vom Hain zurück und vom Ufer!« umzuwandeln. –

Fürs erste freilich saß er in seinem Gastzimmer auf Schloß Blankenburg nicht bloß gespannt lauschend wie Thyrsis der Hirt dem Sänger Mirtil am wärmenden Feuer gegenüber, und singen ließ er sich die Historie auch nicht.

Auf und ab schritt er, itzt vor der jungen Frau, itzt vor dem jungen Ehemann und itzt vor der greisen Altenteilerin aus dem Boffzener Landwehrturm stehen bleibend. Wir aber wollen hier nur von den kürzesten seiner Bemerkungen und Ausrufe berichten; wir unserseits müßten ja sonst unseren Sang zum zweiten Mal singen und bei dem Bericht Seiner Hochwürden vor der hohen Freundin und Gönnerin Philippine Charlotte wohl gar noch zum dritten Mal. Ach, der Vater Werthers hat über dem Vorwort zu seines Sohnes Leiden wohl mit gesenktem Haupte gesessen und des Sammelfleißes und der zu ausführlichen Berichterstattung Doktor Goethes über Privatgeschichten nicht mit Behagen gedacht! –

»Man glaubet von Traumbildern zu hören! ... Kinder, Kinder, ist denn solches eine Möglichkeit? ... Und Sie, Frau, Fraue – was hat Sie so spät im Leben zu allem anderen noch auf Ihre Schultern, auf Ihr Gewissen genommen? ... Und dann mein jetziger Herr Amtsbruder in Derenthal! Mein stiller Emanuel – – Störenfreden! Ja, Störenfreden! Hat der zur Erlernung von solchen Streichen auf der Schulbank unter meinem Lehrstuhl vor mir gesessen? Hab' ich dem solcher geistlichen Amtswidrigkeiten, solcher kirchenamtlicher Pflichtvergessenheit wegen mit zu seiner Pfarre dort im Walde verholfen?.. Nun, mit dem jungen Herrn wird man ja wohl vor herzoglichem Konsistorio des weiteren ein ernstes Wort reden können; – aber ihr, ihr, ihr Kinder, junges Volk, was soll ich zu euch sagen? zu eurem Tun? zu dem, was ihr auf euch geladen habt, wahrlich in Unmündigkeit, als liege Arkadia rund um euch – [184] in unserer Zeit! die Erde rot von Blut, der Himmel rot von Feuer, der Kriegesdonner rundum im Morgen, Abend, Mittag und Mitternacht! Kinder, Kinder, was soll hieraus werden, was soll aus euch werden? Wie denkt ihr euch, wie man euch hieraus an festes Land wird retten können, ihr Hof-, Haus-, Heimatlosen, ihr törichten, kindischen – närrischen Kinder?« ...

Sie waren ihm unter den Händen eingeschlafen, Pold und Hannchen Wille, und das war auch das Beste, was sie hatten tun können. Er hatte ja schon seine Hände in ihrem kleinen Dasein auf der Erde, der brave große Mann!

Die Wackerhahnsche nahm er sich freilich – nachdem er die zwei anderen der ob Prinzeß Allerleirauh und dem zerzausten, taumelnden jungen Vagabunden sehr verwunderten Schloßverwalterin mit seinem und der Frau Herzogin Wunsche, daß man sie fürs erste nicht aus dem Tore stoße, als selbst für herzoglichen Hofstaat im Asyl nicht hoffähig, übergeben hatte – noch eine Weile scharf vor.

Die blieb ihm aber wach unter den Händen, und am Ende hätte er ihr gar noch segnend die Hände auf das Haupt gelegt, wenn die Hexe aus dem Landwehrturm, die Marketenderin des Königs von Hispanien, die Wilddiebsjägerin aus dem Barwalde den Wunsch danach geäußert haben würde. Daß sie zu reden wußte, wissen wir. Wie der Pastor von Derenthal erfuhr es nun der Abt von Riddagshausen, welch eine Macht der Suada ihr vom Himmel verliehen worden war.

Kopfschüttelnd und gerührt lächelnd murmelten Seine Hochwürden, als sie die Staatstreppe zu den Gemächern der Herrschaften wieder hinaufstiegen:

»Ach, mein armer Sohn und Schüler Emanuel! mein guter weichherziger Freund Störenfreden! Bin ich so sicher, daß ich ihr nicht den Willen getan, und die Kinder amtlich zusammengegeben haben würde, um ihr – auch ihr noch zum Großmutterrecht hier unten im Jammertal der Erdenwelt zu verhelfen?«

[185] Dabei trug er auch gar noch den Türkenbeutel aus dem Unterrock der Alten in der Hand, trug ihn aber mit weit vom Leibe weggestrecktem Arm und murmelte, ihn nach hinten in der Tasche seines schwarzen geistlichen Rockes versenkend:

»Stammt das nun in Wahrheit aus Monsieur Perraults Contes de ma mère l'Oye oder doch aus dem Raubsack des Monsieur Cartouche? Hm, hm, behalten wir Seiner Durchlaucht das Urteil für eine gelegenere Zeit vor. Kindsköpfe! Kindsköpfe! O allweiser, gütiger Vater im Himmel, wie lächelnd wirst du herniedersehen auf unser Treiben und Gelärm in der Kinderstube dieser Welt!«

»Nun, Herr Abt?« fragte in ihrem Gemach die Frau Herzogin.

»Ich kann nur wünschen und raten, daß Eure Königliche Hoheit die Herablassung haben möge, von der Sache aus dem eigenen Munde der gejagten Kreatur zu hören, wie Ihre Erlaucht von Stolberg.«

»Und nachher, Jerusalem?«

»Würde Königliche Hoheit den Ihren mächtigen Schutz Ansuchenden vielleicht wohl ebenso einen Geleitsbrief zum ferneren Fortkommen im Leben mitgeben wie die Frau Gräfin.«

»Kann ich die Leute jetzt sehen?«

»Wohl nicht. Die Jungen liegen im halben Todesschlaf, und repräsentationsfähig ist keiner von den drei Wanderern. Seit dem heiligen Abend sind sie vor dem Herzog von Richelieu auf der Flucht und auf dem Wege zu dem mächtigen Schutz Dero erhabenen Herrn Gemahls.«

»Zu diesem unserem Asyl von Richelieus Gnaden, o Freund, Freund!« rief Philippine Charlotte bitter lachend. »Wollen auch Sie unserer noch spotten? Lassen Sie die Armen so lange als möglich ruhig schlafen, hochwürdiger Herr! wer weiß, was wir ihnen zu bieten haben nach ihrem Erwachen?«

»Auch möchte ich wünschen,« sagte der Abt von Riddagshausen [186] nach einer langen trüben Pause, schwer seufzend, »daß Seine Herzogliche Durchlaucht die Gnade haben würden, bei dieser sonderlichen Audienz gegenwärtig zu sein. Auf meines gnädigsten Herrn Gnaden und mildherziges Eintreten wird der junge Mann und Deserteur aus der Kloster-Zevener Konvention, der mit den beiden Frauen jetzt hier auf Schloß Blankenburg Schutz sucht, vor allem angewiesen sein.«

»Sei dem also so! Verschieben wir diese Audienz auf morgen. Ach, ehrwürdiger Herr und Freund, auch wir haben von Weimar Nachrichten bekommen, die unsere Sorgen nicht leichter und die Aussicht in die Zukunft nicht lichter machen. Wir tragen wahrhaftig kein Verlangen nach dem kleinsten Tropfen mehr in den schon übervollen Eimer unserer Lebensnot!« – –

Die erste Nacht auf Schloß Blankenburg im Asyl haben die armen Kinder und argen Sünder, Monsieur und Madame Wille, in einem todähnlichen Schlaf gelegen, die Wackerhahnsche hat einen guten Schlaf getan und alle drei haben jedenfalls besser geschlafen als Charlotte Philippine in ihren mütterlichen Ängsten und Bangen um die Söhne auf den Schlachtfeldern des Bruders Friedrich und des Schwagers Ferdinand und die junge Tochter zwischen Wiege und Sarg zu Weimar an der Ilm. Auch auf dem Tischchen der Frau Herzogin hat neben dem Bett das Modebuch der Zeit, das Idyllenbuch des Züricher Poeten Salomon Geßner gelegen. Ob sie beim Scheine der Nachtlampe in ihren Sorgen drin geblättert hat, können wir nicht sagen; aber am anderen Morgen hat auch sie die Geschichte von Daphnis und Chloe bei beginnendem Siebenjährigen Krieg vernommen und den Sang des Dichters mit der Wirklichkeit vergleichen können. –

Zu gelegener Stunde sind durch den guten Abt von Riddagshausen Pold Wille und Hannchen Holtnicker aus dem Weserfluren und -wäldern und der Wolf, der in Arkadien fehlte – [187] die alte wilde Wölfin aus dem Landwehrturm, der Landesmutter und dem Landesvater vorgeführt worden; denn auch Serenissimus Herzog Karl hat, bénignement lächelnd, bei dem Gericht und zum letzten Urteilspruch gegenwärtig sein wollen. Bei dem Bericht Jerusalems am gestrigen Abend über des Hauptverbrechers Fahnenflucht aus dem Lager bei Stade hatte Seine Durchlaucht nur im Anfang bedenklich und mißmutig den Kopf geschüttelt. Nachher mochte er wohl an seinen eigenen Herrn Sohn und Erbprinzen Karl Wilhelm Ferdinand denken, der ihm in eben dem Lager bei Stade seine eigenen Generale Behr, Imhof und Zastrow mit gefangen gesetzt hatte und nunmehr unter des Herrn Onkels Fahnen gegen den Herrn Vater und – dem Herrn Vater zu Hülfe und zur Befreiung aus seinem »Asyl« im Vormarsch gegen die getreue Landes- und Residenzstadt Braunschweig sich befinden sollte. Sonst würde er wohl nicht bloß geseufzt haben: »Wir leben eben in einer deplorablen Epoche, Hochwürden, und müssen uns mit deren Bizarrerien abzufinden wissen. Führet doch mein Herr Sohn meine eigenen Truppen gegen mich. Es wird wohl noch längere Zeit in der Welthistorie in Schrift und Wort die Rede sein über die Konvention von Kloster Zeven. Ihren Burschen aber, mon cher, wollen wir morgen früh über sein Verhältnis zu ihr gnädigst selber vernehmen und behalten uns das Weitere vor.« –

Es ist gnädigst ausgefallen, das Verhör; aber das Beste dazu haben die jungen Prinzessinnen Elisabeth Christine, Friederike Wilhelmine und Auguste Dorothee, die auch bei ihm zugegen gewesen sind, getan.

Still und lautlos haben sie das alte Weib und ihre zwei jungen Begleiter unter der Führung des Herrn Abts eintreten sehen und Papa und Mama mit ihnen verhandeln hören. Sie haben in den letzten Zeiten auch schon viel Angst gehabt in ihrem jungen Dasein, die kleinen Mädchen, trotzdem daß sie Prinzessinnen[188] waren, und sie haben wohl gemerkt, daß der junge Mensch da und das arme junge Mädchen große Angst vor Papa und Mama hatten, und haben in ihrem Winkel mit ihnen gezittert und sich die Tränen gewischt und hätten gern wie sie die Knie gebeugt; bis auf einmal Auguste Dorothee die Schwestern anstieß und ihnen etwas ins Ohr flüsterte. Laut drein zu reden wagten sie schon Seiner Hochwürden wegen nicht; aber in das Nebengemach schlichen sie sich mit einem Male alle drei, und wenn man auf sie geachtet hätte, würde man sie dort an Schränken und Kommoden kramen und Stühle zum Aufsteigen haben rücken hören können.

»Qu'avez-vous là, petites?« fragte dann plötzlich Herzog Karl von Braunschweig; doch die reichten ihm nur eine Porzellanfigur von einer »Etagère« hin, untereinander kichernd und halb in Scheu, halb wie mit allergrößter Vertraulichkeit auf die Wackerhahnsche deutend.

Einen Augenblick hielt Durchlaucht die Puppe zweifelnd in der Hand, bald auf sie, bald auf seine Töchter, bald auf die Greisin blickend. Mit einem Male aber ging ihm das Verständnis auf.

Aus der Verblüffung wurde ein sogar recht freundliches Lächeln, und zu seiner Gemahlin sich wendend rief er:

»Aber das ist ja wahr, Liebden! Voilà notre sorcière du Véser! Das ist ja unsere Weserhexe in Fleisch und Blut! Ecco la mia cara, carissima Strega di Fürstenberg!«

»A' suoi comandi, altezza serenissima!« grinste die Alte aus dem Landwehrturm, mit einem vollkommenen Hofknicks zurücksinkend. »Jawohl, Durchlaucht zu Befehl. Es fehlt nur die Ofengabel oder der Besenstiel. Eurer Durchlaucht Schlingel auf Schloß Fürstenberg haben die Fetzenliese, die Unhuldin aus dem Barwalde und vom Köterberg dem Herrgott oder, wenn Euere Fürstlichkeit lieber wollen, dem bösen Feind nicht übel abgestohlen und in ihrem Ton abgedrückt! Das ist die Försterin Wackerhahn und –«

[189] »Und dies ist das Gesichtchen auf dem Teeservice, so mir Euer Liebden aus Ihrer berühmten Porcelainefabrik zu meinem letzten Geburtstage präsentieret haben!« rief Philippine Charlotte, mit einer bemalten Teekanne aus Fürstenberg dicht an die junge Madame Wille herantretend, während die Prinzessinnen auf den übrigen Gerätschaften das wirkliche Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten mit dem auf den Tassen und Schälchen in ihren Händen verglichen.

»Aber die Blumen und Kränze um mich her sind von meinem Pold, meinem armen, lieben Pold!« rief es laut schluchzend und auf den Knieen die Hände zu dem Herzog und der Frau, Herzogin emporringend. »Er ist ja nur ein Maler, ein Blumenmaler und kein Soldat! Und sie haben ihn ja auch nur durch meine Schuld dem allergnädigsten Herrn Herzog vom Schloß Fürstenberg weggestohlen und mit sich in den blutigen Krieg genommen! Ach, wenn doch die Frau Herzogin bei dem Herrn Kurfürsten von Hannover und dem Herrn Herzog von Cumberland oder dem Herrn König von England nachsuchen wollten, daß sie mir meinen liebsten Pold nicht in die Spitzruten jagen wollten, weil er lieber zu mir und unserem Herrn Herzog Karl nach Boffzen und nach Fürstenberg hat heimkommen, als da hinten umkommen wollen vor Elend und Hunger und Krankheit und Heimweh!«

Das Kichern der Prinzessinnen hatte längst aufgehört. Sie hatten die Fingerknöchel in den Augenwinkeln oder die Mouchoirs vor dem Gesicht und zupften Mama am Rock, und die Frau Herzogin von Braunschweig legte sanft und beruhigend die Hand der Boffzener Immeke auf das Haupt und meinte, zu dem Gemahl sich wendend:

»Wir könnten einen guten Maître de dessin für die Kinder hier in Blankenburg recht wohl gebrauchen, Charles. Der Herr Abt kennen diesen Monsieur Wille von Eurer Durchlaucht Collegium Carolinum her als einen recht geschickten Menschen in [190] seiner Kunst, bürgen auch sonst für seinen Charakter und löbliche Lebensführung ...«

»Es gehört nicht ein deutscher Reichsfürst, sondern das ganze Reichskammergericht zu Wetzlar dazu, um die Konfusion, die nach Hastenbeck die Konvention von Kloster Zeven über uns gebracht hat, nach Recht und Unrecht, Eidestreu und Meineid zu ordnen und zu sichten,« seufzte Karl der Erste von Braunschweig melancholisch. »Schieben wir den Prozeß, den Seine Liebden von Hannover und Großbritannien wegen unseres Untertans und Bediensteten Pold Wille gegen uns anstrengen könnten, auch einmal auf die lange Bank, wie die Herren zu Wetzlar!« rief er dann lächelnd. »Musketier Wille, ich nehme Ihn auf Wunsch Ihrer Königlichen Hoheit, meiner allergnädigsten Gemahlin und Herrin, und der drei Demoiselles da in meinen Dienst als meinen Blumenmaler bis zu geendigten gegenwärtigen Kriegsläuften zurück. Seine Hochwürden der Herr Abt werden die Güte haben, das übrige mit Ihm zu besprechen, Seine sonstigen Umstände nach Möglichkeit ordnen. Ist Er damit einverstanden, maître Wille?« – – – – –

Die Wackerhahnsche, am Abend auf ihrem Bett im neutralen Gebiet Seiner Durchlaucht des Herzogs Karl von Braunschweig-Lüneburg sitzend, sagte beim Abschleudern der Schuhe und Abstreifen der Strümpfe:

»Daß mich unser Herrgott noch mal als Porzellanpuppe zum Besten seiner Kreatur verwenden würde, hätte ich mir auch nicht träumen lassen – weder auf dem Anstande mit der Büchse hinter dem Buchenstamm, noch auf meinem Wagen bei meinem Brandeweinsfaß im Königreich Neapolis und auf der Insel Sizilien. Der Herr Kabinettprediger Cober bei unserem Herrn Pastor in Boffzen hatte wahrhaftig nicht so unrecht mit seinem Wunderwagen. Es sitzt ein absonderlicher Fuhrmann drauf und führt die Peitsche zu seinem Hott und Hüh. Nu denn, felicissima notte, altes Gerippe, und glückliche Reise weiter – junges Volk!«

24. Kapitel

[191] Vierundzwanzigstes Kapitel.

Der Frühling des Jahres Siebzehnhundertachtundfünfzig war eben in den Sommer übergegangen. Es war zu Anfang des Wiesen- und Rosenmonds, und was den letzteren Namen anbetrifft, so trug die Zeit ihn diesmal im Lande Niedersachsen mit vollem Recht. In den Gärten, hinter und an den Zäunen, in den Hecken, zahm und wild, blühten sie, die Rosen; aber, leider Gottes, auch auf den Schlachtfeldern vom Böhmerwald bis zum Rhein.

Wie es Seine Hochwürden von Riddagshausen, der Herr Abt Jerusalem, vor seinem Herzog Karl zum Trost verhofft und vorausgesagt hatte, war's gekommen. Der Besen, der Seiner Hochfürstlichen Durchlaucht Bruder, dem Herrn Herzog Ferdinand, im Lager bei Stade vom König Friedrich in die Hand gegeben worden war, hatte wenigstens fürs erste Norddeutschland vom fremden Unrat rein gekehrt.

Schon im Februar war der Herzog Ferdinand von der Elbe aufgebrochen und mit den Frühlingsstürmen gegen und über die Weser gefahren. Das war durch den winterlichen deutschen Norden eine Franzosenjagd und Hetze geworden, über die man in manchem kommenden Winter am Kamin im Pavillon d'Hanovre zu Paris doch wohl ein leises Unbehagen empfinden mochte. Es klebte recht viel französisches Blut an den türkischen Teppichen, den sammetnen und seidenen Tapeten und Vorhängen, den goldenen Zieraten und Gerätschaften, [192] den silbernen Tischen. Billig war die Herrlichkeit zwar gewesen, aber gekostet hatte sie doch auch was! –

Bis zum März ganz Niedersachsen frei! Celle, Nienburg, Hannover, Wolfenbüttel, Braunschweig, Göttingen, Hildesheim, Goslar in den Händen des Herzogs Ferdinand. In seinen Händen Magazine, Bagage, Kranke, Raubebeute!

Schon bis Hameln hin sind sie zu Tausenden an den Landstraßen liegen geblieben, und Verlustlisten über die in den Wäldern und Hohlwegen von den Bauern Totgeschlagenen sind wahrlich nicht in Paris an den Straßenecken aufgehängt worden.

Ostfriesland frei! Emden, Cassel, Marburg, Lippstadt, Münster und Paderborn in den Händen des guten Herzogs Ferdinand. Das ganze Hessische und Münsterländische frei. Bis zur Schenkenschanze bei Emmerich 17000 Gefangene in den Händen derer, die da auf dem Feld bei Hastenbeck unter dem »Kummerland« die Faust im Sack hatten machen müssen und sie nun unter dem Herzog Ferdinand von Braunschweig zum besten Gebrauch hatten vorziehen dürfen! Es würde sich hier fein noch manches Genauere berichten und zu bedenken geben lassen, wenn uns bei dieser unserer Geschichtserzählung nicht Mnemosyne, die Mutter der Musen, sondern nur ihre Tochter Klio über die Schulter aufs Blatt sähe. – – –

Am 1. Juni war der Herzog Ferdinand auf Booten und einer Schiffsbrücke, die er sich von den Holländern entliehen hatte, bei der Schenkenschanze über den Rhein gegangen. Fern im Westen also schien das Unwetter, das eben über Niedersachsen weggegangen war, jetzt für immer zu vergrollen. Das Wesertal lag wieder einmal im Sommersonnenglanz, Grün und Frieden, als sei der dritte Schlesische Krieg nichts als eine Mythe und das Teil, was es von ihm doch schon zu kosten bekommen hatte, nichts als ein schlimmer Traum der vergangenen Nacht, oder ein vor hundert Jahren erzähltes Märlein.

[193] Die Fenster von Schloß Fürstenberg fingen eben an im Schein der niedergehenden Sonne feurig zu glitzern und zu leuchten, als aus dem Solling auf einem Pfade, der aus dem Walde grade auf die Landstraße und das Tor der »hochberühmten Porcelainefabrik« zuführte, eine alte Frau trat, die Landstraße überschritt und plötzlich, nach ihrer Art den Wanderstab fest aufstoßend, mitten im Schloßhof stand – die Wackerhahnsche wieder im Lande! Die Wackerhahnsche zurück vom Harz nach der Weser! –

Und auf dem Schloßhof von Fürstenberg, der eben noch menschenleer, verödet, still gelegen hatte, wurde es bald lebendig. Hie und da zeigte sich zuerst ein Kopf an den Fenstern, hie und da wurde eines aufgerissen, und ein Ruf der Verwunderung ließ sich hören.

Nun kam es aus allen Türen hervor, alles, was an der »echten Porcelainefabrique« des Herzogs Karl von Braunschweig noch vorhanden war von Beamten, Künstlern, Formern, Drehern und sonstigen Arbeitern, alles, was abkommen konnte von der Arbeit, und es konnte im Jahre Siebzehnhundertachtundfünfzig noch so ziemlich alles auch mal die Hände in den Schoß legen, ohne daß das Geschäft darunter litt. Vor allen die Maler, die Porträt-, Figuren-, Landschafts-, Blumen-, und Blaumaler drängten sich um die Hexe aus dem Landwehrturm, die ihnen ihr Boffzener Bienchen aus dem Pfarrgarten und mit ihm ihren besten Blumenmaler in die Winternacht, den Kriegessturm, das Hochzeitsbett ober den Tod hinein entführt hatte, und nun plötzlich wieder dastand und Nachricht von Pold Wille und Hannchen Holtnicker geben – mußte.

»Die Wackerhahnsche! die Wackerhahnsche! He, Eisenträger, he, Nerge, Hinze, Osterdag, Hannickel, Hopstock, alle herbei! Nachricht vom Pold! Nachricht von der Immeke von Boffzen! Die Wackerhahnsche von Blankenburg, vom Herzog Karl zurück mit dem Brotbeutel und Fleischwagen und dem Sack voll [194] goldener Louisdors und Dukaten für Serenissimi hungeriges Rattenvolk auf Schloß Fürstenberg!«

Ach, sie sahen wohl danach aus, daß das letztere mehr als ein spaßig Wort war! Man sah es ihnen allen an, daß Schmalhans auf Fürstenberg Küchenmeister war, die Kunst nur ihr Recht nahm, wenn sie nach Brot schrie vor jedem, von dem das Gerücht ging, daß er gut angeschrieben stehe bei Seiner Herzoglichen Durchlaucht, also auch vor der Wackerhahnschen aus dem Boffzener Landwehrturm!

Kopfschüttelnd grinsend stand die Alte im Kreise dieser guten Bekanntschaft, von der sie so trefflich als Fratzenpuppe in Ton geformt, so naturgetreu bemalt und der Menschennarrenwelt zum Spaß auf allen Märkten in den Handel gegeben worden war.

Als sie vordem ihr erstes Abbild solcher Art zu Gesicht bekommen hatte, die Strega di Fürstenberg, die Sorcière du Véser Serenissimi, hatte sie dem Spötter, der es ihr vorhielt, die Puppe grimmig in der Hand zerschlagen und den Stab Wehe ihm dazu zwei-, dreimal derb über die Schulter gelegt, heute brummte sie nur:

»Arme Teufel! Arme Teufel! Hängt ihr denn noch in euren Knochen zusammen? Lohnt es sich denn, euch noch mal herauszufüttern? Malermeister wollt ihr sein? Als Vogelscheuchen könnte man euch ins Feld stellen! Arme Narren, jetzt sollte Ich euch in Ton backen und malen können! Ach ja, ich wollte, ich hätte euch das Tischlein deck dich aus der Stadt Braunschweig mitbringen können. Vor dem Knüppel aus dem Sack braucht ihr Jammervisagen mit eurem Knochengeklapper keine Bange mehr zu haben, wenn euch die Sünden beifallen, die ihr an der Mutter Wackerhahn begangen habt, als der Herr von Richelieu noch nicht die Hand auf Niedersachsen und also auch auf euch geleget hatte.«

»Sie kommt nicht vom Harz? nicht von Schloß Blankenburg, Wack – Mutter – Frau Förstern?«

[195] Die Greisin schüttelte wieder den Kopf und lächelte aber immer noch ein wenig schadenfroh, als sie erwiderte:

»Aus der hochfürstlichen Residenzstadt Braunschweig komme ich. Die Herren wissen doch aus den Gazetten, daß nach der Franzosen Abmarsch am Sonntag Okuli Seine Durchlaucht mit allerhöchstem Hofstaat daselbsten am achten März dieses Jahres wieder eintriumphieret sind?«

»Jawohl, jawohl! Aber Pold und Mamsell Holtnicker, Mutter Wackerhahn?«

»Monsieur und Madame Wille haben Serenissimus und Ihre Königliche Hoheit die Frau Herzogin huldreich und gnadenvoll mit sich dahin geführet. Monsieur Willen als gegenwärtigen Zeichenmeister bei Dero jüngsten Prinzessinnen. Es gehet den jungen Eheleuten recht nach Wunsche, und danke ich für gütige Nachfrage.«

Sie sahen sich alle an im Kreise, stießen einander auch wohl mit den Ellenbogen an, viele ließen die Köpfe hängen, einige zogen die Mäuler herab, und nur zwei oder drei der guten Kameraden schwangen die Hüte, drückten der greisen Botin die Hand und riefen »Vivat!« ob der glücklichen Nachricht von Pold Wille und Hannchen Holtnicker. Es war eben viel Jammer auch auf Schloß Fürstenberg gewesen und war noch daselbst vorhanden, und bei des Menschen einmal gegebener Natur ist es zuviel von ihm verlangt, daß er sich bei eigenem Hunger und Kummer sofort auf den Kopf stelle und losjubiliere, wenn er von des Mitmenschen Behagen und günstigen Umständen Kunde erlangt. –

Nun wollten sie natürlich manches von ihrem früheren Kunstgenossen gern vernehmen; doch der Alten schien wieder einmal der Boden unter den Füßen zu brennen.

»Auf ein andermal! Bei besserer Bequemlichkeit mehr nach Belieben,« rief sie. »Ich wollte eigentlich nur vorgucken, um nachzusehen, wer hier noch beim lebendigen Dasein ist und [196] unserer in der Abwesenheit und Fremde in Liebe und Freundschaft gedacht hat. Nun muß ich ins Dorf hinunter. An den Herrn Pastor und die Frau Pastorin mit neuen Briefen im Sack; – die Frage möchte ich aber noch tun an die Herren: lieget Hauptmann Uttenberger immer noch in Quartier im Boffzener Pastorenhaus, oder haben seine Leute bei ihrem Abzug nach dem Rhein vor unserem Herzog Ferdinand ihn mit sich geführet?«

Da sahen sie sich wieder an und zuckten die Achseln, und dann hieß es:

»Ja freilich, Mutter Wackerhahn, dann darf man Sie wohl nicht zu lange mehr hier aufhalten.«

»Was macht ihr mir zu dem Wort für ein Gesichte, Herren? Es stehet doch gut da unten mit meinem Lebens- und Kriegskameraden?«

»Na, heute morgen hieß es, er sei dem Höxterschen Doktor unter den Händen eingegangen; aber die Nachricht hat sich als falsch erwiesen. Weiß Sie, Mutter, es ist eigentlich eine putzige Geschichte. Er war endlich ganz gut zuwege und sozusagen auf der Besserung, bis zum Anmarsch des Herzogs Ferdinand. Da hat auch sein Regiment – das Regiment Lochmann über die Brücke bei Höxter auf der Retirade zurückgemußt. Das hat ihn denn doch so verschnuppt, daß er dabei, als er davon hörte, das kriegte, was man bei ihm zu Hause das Heimweh nennt, und daran versammelt er sich nun zu seinen Vätern, wie der Herr Pastor gestern noch hier oben bei uns gemeint hat.«

»Dann also fernerhin heute hier in Fürstenberg einen vergnügten Abend,« sagte die Wackerhahnsche, schritt ohne weiteren Gruß und Abschied aus dem Tor und den Katthagenberg hinunter dem Dorf Boffzen zu.

Sie blickten ihr alle nach, die Fürstenbergischen Figuren-, Porträt-, Landschaften-, Blumen- und Blaumaler, und Hans Eisenträger aus Cassel meinte, zu seinem Landsmann, dem Figurenmaler Oest, gewendet:

[197] »Du, Andres, in meine nächste Blocksbergpaysage malst du mir dieses Frauensmensch doch noch mal zur Staffierung. Die Former sollen nicht allein die Ehre haben, das Weibsbild in die Raritätenschränke und Konrektor Winckelmanns Kunsthistorien zu bringen.«

»Das könnte geschehen grade ihr zum Tort für die Flattusen, die sie uns eben in die Zähne gerieben hat; aber das Service würde doch wohl nur ein verrückter Engländer kaufen. Die aber hält uns der Krieg leider nur zu weit ab vom Leibe. Serenissimus würde zu deiner Paysage und meiner Staffage eine verdammt kuriose Visage schneiden. Watteau und Boucher werden ihm auf seinen unverkäuflichen Tassen, Tellern, Schüsseln und Schalen immer doch noch lieber und präsentabler sein, als ein Abbild unserer Velleda aus dem Boffzener Landwehrturm.«

Wie konnten die guten Herren auch wissen, wie der Scherz, den sich seine hochberühmte Porcelainefabrik Fürstenberg vordem mit der Försterin Wackerhahn aus dem Barwalde erlaubt hatte, bei dem Herzog Karl von Braunschweig-Lüneburg in seinem Asyl auf Schloß Blankenburg ausgefallen war? –

Auf dem steil abfallenden Wege, zwischen den Nußbüschen durch, hinter denen unsere Geschichte vom Daphnis und der Chloe, vom Blumenmaler Wille und der Frau Pastorin Holtnicker liebem Pflegekind, dem Bienchen von Boffzen, ihren Anfang genommen hatte, durch die blühenden wilden Rosenbüsche, stieg die Weserhexe, mit zusammengepreßten Lippen immerfort vor sich hinmurmelnd, hernieder, dem Dorfe zu.

Auf Schloß Blankenburg war sie mit dem Herrn von Fritsch durch das hohe Tor, an den wachthaltenden Gardereitern vorbei stolz und aufrecht eingefahren, das Boffzener Pfarrhaus erreichte sie wieder von hinten herum durch ein Loch in der Gartenhecke und schlich langsam, scheu und geduckt der Pforte zu. Eines bösen Gewissens war sie sich hier doch ein wenig mehr [198] bewußt, als bei ihrem Eintritt in die neutralisierte Grafschaft am Harze als Führerin der von ihr der Frau Pastorin loci, Hanne Holtnicker – entführten Schützlinge.

Da Niedersachsen seit Hastenbeck zum ersten Mal für einen kurzen Augenblick im Frieden lag, so nahm auch hier Garten, Haus und Hof sein Teil davon. Die Tür, die aus dem Hause in den Garten führte, stand geöffnet, und der Hauskater saß auf der Schwelle und putzte sich »über die Ohren«, was, wie jedermann weiß, bedeutet, daß Besuch kommt. Da war Ryn auch noch, der treue Wächter des Hauses. Schon etwas mißtrauischer als Freund Murner, ließ er zuerst ein kurzes, heiseres Gebell hören, nach genauerem Hinsehen jedoch stieß er zwar kein Freudengeheul aus, vergab er sich nichts durch exaltiertes Emporhupfen und Springen an dem nahenden Gast, aber gab doch durch wohlwollendes Schweifwedeln zu erkennen, daß er ihn zu den Bekannten seiner Herrschaft rechne und jedenfalls nicht zu ihrer Feindschaft.

Sonst alles still rundum.

Nur das Rauschen der Weser jenseits der niederen Mauer dem Strome zu. Das letzte Summen der Bienen vor Feierabend über den Blumenbeeten und in den Blütenbüschen des Boffzener Bienchens!

Auch im Hause alle Türen offen und überall alles an seinem Platze, als habe nie Louis Armand Duplessis de Richelieu hier das Land verwaltet und Monsieur Foullon ihm niemals da seine Privatgeschäfte besorgt! Alles wie ausgestorben! Da in der Stube links die Spinnräder der Frau Pastorin und Dortchen Krügers, aber von Dörthe und der Frau Pastorin keine Spur. Auf dem Tische an seinem Platz aufgeschlagen der Kabinettprediger Cober; doch vom Pastor Gottlieb Holtnicker nichts zu hören und zu sehen; ebenso wenig wie von dem wackeren Knecht Börries.

Sie guckte in die Stube links, sie guckte in die Stube rechts, [199] sie sah in die Küche und sah die Treppe hinunter in den Keller, die Wackerhahnsche. Draußen der warme, lichte Abend, im Hause nichts als das Ticktack der Uhr auf dem Vorplatz im oberen Gestock.

Sie stieß auf dem Flur wieder auf mit ihrem Wanderstab, die Hexe aus dem Landwehrturm. Aber leise und wie verschüchtert, garnicht wie sonst vor Freund und Feind, im Guten oder im Bösen, im Ernst oder im Spaß.

»Holla he! He holla! Niemand zu Hause hier? Bringe Botschaft – gute Nachrichten!« wollte sie rufen; aber brachte es nicht zu einem lauten Wort. Sie, die ebenfalls in ihrem ganzen Leben nicht das Gruseln hatte begreifen und lernen können, überkam jetzt hier im Hause zu dem, was sie auf Fürstenberg vernommen hatte, so etwas wie das, was man, wenn es einen in der Stille und Einsamkeit der Wildnis überkommt, die Waldangst nennt. Im Forste läuft man dann gradeaus wie ein geschreckt Kind, bis man zu noch größerem Entsetzen merkt, daß man im Kreis läuft, dem Grauen der Öde unentrinnbar: im Pastorhause zu Boffzen stieg die wilde Försterin aus dem Barwalde die Treppe in den Oberstock empor. Langsam, Stufe um Stufe, zögernd sich und schwerfällig auf das wackelige Geländer stützend. Als sie bemerkte, daß der Hund Ryn mit ihr ging, war ihr das zum Trost; sie nahm die Begleitung gern an und klopfte das mit seinen guten treuen Augen auch wie melancholisch zu ihr aufblickende Tier wie dankbar auf den Kopf.

Auch im Oberstock keine Tür verriegelt und verschlossen! Leise pochte die Wackerhahnsche an die des Hauptmanns Uttenberger und legte, da sie keine Antwort bekam, vor sich hinbrummend, eine Weile das Ohr an die Füllung. Sie klopfte von neuem und etwas lauter, und da auch jetzt niemand herein rief, trat sie ein, blieb einen Augenblick auf der Schwelle stehen, trat dann rasch an das Bett des Kriegs- und Lebenskameraden, faltete beide Hände um ihren Wanderstab und sagte nur:

[200] »Du liebster Gott!«

Wie sie das aber sagte oder seufzte, genügten die Worte, um des Menschen Dasein auf der Erde von der Wiege bis zum Sarge darin zusammenzufassen.

Erfüllt hatte sich an dem Reisläufer Balthasar Uttenberger aus dem Kanton Zürich, an des Königs von Frankreich Kapitän im Regiment Lochmann, des Kabinettpredigers Cober Wort von Gottes Wunderwagen:

»Einer wird geboren gegen der Sonnen Aufgang; bei ihrem Niedergang muß er sterben. Ein anderer will sich setzen gegen Mittag; das Geschick führet ihn wunderbar, auch vielmals wider seinen Willen, gegen Mitternacht. Mancher setzet sich für, daheim zu sterben: Gott rufet ihm zu: Gehe aus deinem Vaterlande!« – – – – – – – – – – – –

Da lag er in dem Schlaf, den ihm kein Trommelschlag, kein Trompetenklang mehr störte, der greise Kriegs- und Wandersmann! Er saß fast aufrecht auf dem Bett der Barmherzigkeit in dem fremden Land, wo ihn Gottes Wunderwagen nun zum letzten Mal – nun für immer abgeladen hatte. Der schöne rote Abschiedsschein der hinter den Bergen des Westfalenlandes jenseits der Weser niedergesunkenen Sonne umspielte das friedliche, stille Gesicht und die haarigen Knochenhände, die noch auf der Bettdecke ein zerlesen Büchlein hielten: immer noch seines jungen Landsmanns Salomon Geßners Gesänge von den Hirten und den Hirtinnen in dem Land ohne Wölfe, Könige, kriegführende Mächte, Kanonen und Kriegsleute – dem Land Arkadia!

»O Kamerad, Kamerad! o Herr Hauptmann – Hauptmann Uttenberger!« seufzte die Marketenderin des Königs von Spanien und saß nieder auf dem Stuhl neben dem Lager und legte ihre dürre Hand auf die erkalteten Hände über dem Idyllenbuch. »Konntet Ihr hiermit denn gar nicht wenigstens noch ein Stündchen länger warten bis zu einem letzten Wort [201] mit solch einer guten Freundin als wie die Wackerhahnsche aus dem Landwehrturm, doch Eure beste Freundin hier zu Lande, Kapitän? Ist denn der Marschbefehl so schnell und scharf gekommen? Gab es gar kein Umsehen nach den Zurückbleibenden? Seht mich nicht so an mit diesen Augen, Hauptmann Uttenberger! Es sind doch so gute Leute hier im Haus, Ihr habt's ja selber an Euch erfahren: war denn zuletzt niemand vorhanden unter ihnen, der sie Euch zudrückte, Eure alten, müden Augen, Balzer Uttenberger?«

Sie versuchte das noch; aber es ließ sich augenblicklich nicht mehr tun. So saß sie denn wieder still neben dem einsamen Sterbebett, und der Hund Ryn legte ihr den Kopf auf die Knie und blickte abwechselnd von ihr auf den Leichnam.

»Ein kurios Ding, ein kurios Ding!« murmelte sie. »Nun sind sie drüben am Rhein aneinander, und in Böhmen, Sachsen und Thüringen und, wie die Gazetten sagen, rund um die Welt auch noch; aber wir zwei sind nicht mehr dabei, Hauptmann Uttenberger! Er ist in Sein allerletztes Quartier abgerückt, und die Alte aus dem Landwehrturm hat zwei armen Narren dazu geholfen, ihren Willen zu kriegen und das Elend weiterzugeben auf Erden. Komödie hätte sie auf ihre alten Tage noch mal spielen mögen, die Wackerhahnsche: Brautkranzwinden und Enkelwiegen hätte auch sie gern mal agiert vor ihrem Abscheiden. Nun, das eine hat sie probiert, wie's mit dem andern werden wird, muß sie abwarten. Unter der Menschheit, wie sie unten, im Mittel und oben ist, hat sie sich wieder mal umgetrieben – auf Schloß Blankenburg wie in der fürstlichen Landes- und Residenzstadt Braunschweig. Hat fürs erste wieder genug davon, Hauptmann Uttenberger: ob man dem Dogen von Venedig in sein Löwenmaul, oder dem Herzog von Braunschweig in sein Denunziationsstöckchen vom lieben Nachbar geworfen wird, bleibt sich immer noch ganz gleich, Herre. Ist ihr Quartier noch frei im Turm auf der Allermannswiese, [202] so zieht sie wieder da ein. Sei Er ruhig, Kamerad, Kapitän Uttenberger, über Sein Grab kann Ihm die Wackerhahnsche nicht schießen lassen; aber Seine drei Fäuste voll Erde soll er anstatt der drei Salven in echter, rechter, ehrlicher und aufrichtiger Kameradschaft von ihr haben. Und unsere Kinder lassen auch noch grüßen, Herr Hauptmann! Gegenwärtig geht es ihnen ziemlich nach Wunsch ... o du liebster Gott, hält Er denn da noch immer Sein Hastenbecker Buch von Seinen Schäfern und Schäferinnen zwischen den armen, klammen Fingern?« – –

25. Kapitel

[203] Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Nach und nach kamen sie, bis auf die Frau Pastorin, alle dazu – alle, die denn doch im Hause mehr oder weniger dazu gehört hätten.

Zuerst Dörthe, welcher der nunmehr abgeschiedene Feind und Gastfreund grade an diesem Tage ganz besonders zu treuer Pflege und Abwartung anbefohlen worden war. Sie konnte aber nichts dafür, daß sie bei dem stillen Abschied des lieben alten Herrn nicht zugegen gewesen war; Knecht Börries trug die Schuld.

War man nicht im Wiesenmonat und auf den Pfarrwiesen am Solling hohe Grasblüte? Wie sollte der Boffzener Pastor zu seinem Heu kommen, wenn Börries heute bei dem Prachtwetter dort nicht die Sense führte?

Und den Wiesen war der Wald immer noch so nahe wie sonst; und so auch heute an dem heißen Tage mit seinem kühlen grünen Schatten, und den Krug mit dem Dünnbier mußte doch Dortchen dem guten Knecht hinauftragen nach dem Solling, und der Herr Pastor war ja dazu verreiset heute, nach Holzminden zum Herrn Generalsuperintendenten, und die Frau Pastorin nach Derenthal abwesend, beim Herrn Pastor Störenfreden dort – doch davon später.

Der Herr Hauptmann bedurften ja so wenig zu seiner Pflege, und heute mittag noch waren sie ganz wohlauf gewesen und hatten Dörthen so freundlich die Backen gestreichelt und gemeint:

»Kindli, meinethalb keine Umständ! Geh du ruhig deinem [204] Geschäft nach, Meitschi. Ich hab' alles was ich brauch' bis zur Betglocke. Stell mir noch einen Trunk frisch Wasser her, nachher brauch' ich weiter nichts mehr bis in die Nacht.«

»Und nun mußte das so gekommen sein!«

Endlich wild mit ihrem Stock mußte die Wackerhahnsche aufstoßen, um dem Zeterschrei, dem Heulen des Mädchens ein Ende zu machen und das Lautgeben des Schreckens und bösen Gewissens zum Schluchzen und stummen Händeringen herabzumäßigen.

»Halt das Maul! Das ändert nun nichts. Werfe ich's dir denn schon in die Zähne, daß du nicht anders bist, als wir allesamt? Aber jetzt gib Bericht: wo sind die anderen? Der Pastor –«

»Ach Gott, ach Gott, Frau Förstern, ich wollte ja selber lieber so daliegen, wie unser Herr Hauptmann, als dieses so erlebt haben! Ja, der Herr Pastor, der mußte heute morgen schon in Kirchensachen nach Holzminden zum Herrn Generalsupperdenten, und weil es so drängte mit dem Heu und Börries nach unserer Wiese wollte, hat Kantors Junge, der älteste kutschiert, und er wird ja nun wohl bald zurückkommen, der Herr Pastor, und dann wird es ihm grade so ergehen und zu Mute sein, wie mir unglücklichem Geschöpfe – o Gott, o Gott, o Gott!«

»Und wo ist die Frau Pastorin hin auf Visiten?«

»Ach liebster Himmel, weiß denn die Frau Förstern das nicht? Die ist ja schon seit vierzehn Tagen in Derenthal und hält sich beim Herrn Pastor Störenfreden auf. Es soll ihm aber, Gott sei Lob und Dank, besser gehen, und wenn nicht noch was dazwischen kommt, kommt er diesmal noch davon, sagt Herr Doktor Engelking aus Höxter.«

»Was ist das?« rief die Wackerhahnsche, von ihrem Sitz neben dem Lager Balzer Uttenbergers aufspringend und Dörthe bei der Schulter fassend. »Was babbelst du mir daher? Der [205] Derenthaler Pastor liegt krank, und deine Frau Pastorsche sitzt zur Pflege bei ihm?«

»Ach Gott ja, ich sage auf Ehr und Gewissen ja alles aus, so wie ich es weiß! Wie wollte hier vor dem Herrn Hauptmann jetzo ich was anderes sagen? Es ist recht schlimm in Derenthal gewesen. Einige sagen, der letzte französische Durchzug habe ihm, dem Herrn Pastor, das Fieber ins Haus gebracht und ihn damit angesteckt; andere aber meinen, das sei es nicht, sondern der Liebeskummer um unser Mamsellchen, unsere jetzige junge Madame in Braunschweig oder Blankenburg, und nachher das viele Ärgernis und der Verdruß mit dem geistlichen Gericht sei es gewesen, was ihn dazu gebracht hat, daß er so lange nichts von sich gewußt und nur von unserem Herzog seinem Konsistorium in Wolfenbüttel und unserm Herrn Hauptmann seinem Schäfereibuch da geraset hat. Erst als unsere Frau Pastorin bei ihm angelangt ist und ihn zur Ruhe gesprochen hat, ist es besser mit ihm geworden, und jetzt ist ja, gottlob, Hoffnung, daß es ihm nicht so geht, wie unserem armen, armen Herrn Hauptmann da, der mir so was antun mußte und nun hier liegt und lächelt wie ein Kind, daß ich es bis zu meinem eigenen Tod nicht aus den Sinnen kriege!«

Daß die Hexe aus dem Landwehrturm hierzu gelächelt habe, konnte man nicht behaupten. Mit untergeschlagenen Armen saß sie wieder am Bett des zur letzten Ruhe gelangten Kriegs- und Weltkameraden, und blieb so sitzen, ohne weiter ein Wort zu reden, bis zuerst Börries von den Pfarrwiesen unterm Solling heimkam, um sein Teil von dem großen Schrecken des Abends hinzunehmen.

Da er jedoch nicht viel sagte, sondern am Fußende des Sterbelagers nur seine Kappe zwischen den Fäusten drehte und zwischen verlegenem, unverständlichem Gebrumme und winselndem Geknurr ein vernehmbares: »I verflucht, so was!« dann und wann hören ließ, hat sie sich auch grade nicht [206] bewogen gefunden, noch durch tröstlichen Zuspruch zur Aufrichtung in seinem Kummer beizutragen.

Mit Pastor Holtnicker aber, nach dessen Heimkehr von Holzminden, hat sie die halbe schöne, warme Sommernacht durch in anfangs sehr lebhafter, doch nach und nach immer ruhigerer Unterhaltung gesessen. Mit dem Kabinettprediger Cober auf dem Tische, jedoch das Buch unaufgeschlagen und beiderseitig ohne das Bedürfnis, an diesem Abend, in dieser Nacht Belehrung, Ermahnung, Warnung und Trost aus ihm zu nehmen und zu geben. – – – – – – – – – – – – – –

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Die blutigroten, brandqualmigen Feuerfluten des Siebenjährigen Krieges sind bis zum Hubertusburger Frieden noch oft wiedergekehrt und haben sich, vom Westen zum Osten, vom Osten zum Westen, hingewälzt über das nicht neutralisierte Land zwischen der Weser und dem Harz.

Noch oft hat Niedersachsen unter den Fußtritten der feindlichen und freundlichen Heere gedröhnt und gestöhnt; doch zu einem »Hastenbeck« ist es nicht mehr gekommen. Für jeden Schlag ins Gesicht des deutschen Volkes ist auch die deutsche Faust, oder leider besser die Faust der »hohen Alliierten« auf Frankreichs Nase gefallen. Es hat sich oft wiederholt, was Clermont einmal an den fünfzehnten Louis schrieb:

»Von Eurer Majestät Armee ist der erste Teil über der Erde als Diebe und Marodeurs und in Lumpen; der zweite unter der Erde und der dritte in den Hospitälern.«

Doch hören wir auch den Geschichtschreiber von dem Heer des Herzogs Ferdinand, des sieg- und glorreichen Führers der »Alliierten«, berichten:

»Den ersten Rang unter den verbündeten Truppen behaupteten die Engländer. Höchst tapfere Truppen auf dem Schlachtfelde, aber auch übermütige, nationalstolze, jeden Fremden fast verachtende, an keine strenge Disziplin gewöhnte, im Kleinen [207] des Dienstes nachlässige, von Offizieren, die sämtlich ihre Stellen erkauft hatten und sich wenig auf den Dienst verstanden, befehligte, und besonders auf Rückzügen höchst raubsüchtige Krieger! Ihr Fußvolk bestand aus dem rohesten Pöbel der Nation, unter welchem kaum ein Schatten von kriegerischer Manneszucht sichtbar wurde. Ihre Reiterei war vortrefflich, aber zu schwer, weswegen sie zum kleinen Dienst fast garnicht taugte, und obenein aus zu großer Liebe für ihre Pferde auf das gewaltsamste bei Fouragierungen plünderte.

Welche Klugheit mußte ein Feldherr besitzen, um, stets den Umständen angemessen, den englischen Nationalgeist zweckmäßig zu nützen, der hochgespannten Eigenliebe nicht zu nahe zu treten, durch zu harte Beschränkung der Indisziplin die Truppen nicht un willig zu machen, doch aber Ordnung unter ihnen zu erhalten und die oft gefährlichen Händel mit ihren deutschen Kriegskameraden schnell zu unterdrücken!

Weit weniger hatte er in dieser Hinsicht mit den Hannoveranern, welche gleichsam die Seele des Heeres waren, zu schaffen. Aber der Eigendünkel und die Unfähigkeit ihrer Generale, der kleinliche Geist des hannöverschen Ministeriums, und die Kabalen, welche hier herrschten, machten es doch schwer, das hannöversche Korps, im Einklange mit dem Ganzen, stets zweckmäßig handeln zu lassen.

Bescheidenere und doch die ersten Soldaten im ganzen Heere waren die Hessen, denen der altkattische Charakter geblieben, und bei welchen Subordination und Disziplin tief eingewurzelt waren. Aber sie fühlten sich zurückgesetzt, denn schlechter wurden sie bezahlt als andere Truppen; als untergeordnete Hülfsknechte sahen sie sich oft von den stolzen Engländern, nicht selten sogar von den englisierenden Hannoveranern behandelt, und mehrere Male stand ihr Unmut auf dem Punkte, in wilde Rache auszubrechen.

Am wenigsten erschwerten Preußen und Braunschweiger [208] das Kommando des Feldherrn. Mit Liebe, Achtung und Ehrfurcht gegen ihn erfüllt, vom wahren Kriegsgeiste beseelt, an Ordnung und Disziplin gewöhnt und fest überzeugt, der Oberanführer tue alles, was ihre Lage erträglich machen könnte, folgten sie ohne Murren stets seinen Befehlen – und fühlten nur den einen Unmut, daß auch sie von Engländern und Hannoveranern als untergeordnete Streiter angesehen wurden. –«

Es ist keine Kleinigkeit gewesen, mit solchem Heer des Herzogs von Cumberland Hastenbeck zu rächen und die Konvention von Kloster Zeven wieder gut zu machen! – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – – –

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Am Tage Agapetus, dem 18. August des Jahres Siebzehnhundertdreiundsechzig, saß an der Auslugsscharte im Landwehrturm an der Allermannswiese bei Boffzen ein altes Weiblein, verhutzelt, verrunzelt,fracta bello, fessa annis, doch mit Augen, die von ihrer Höhe noch weit hineinreichten nach Westfalen wie nach Ostfalen: Großmutter Wackerhahn! vordem die Wackerhahnsche, die Försterin Wackerhahn aus dem Barwalde, die Weserhexe Wackerhahn.

Am 15. Februar war der Siebenjährige Krieg zu Ende gegangen, und wieder mal Frieden – das was man so nennt, in der Welt geworden. Wenigstens hatte für den Augenblick in Europa das ewige Krachen, Sturmglockenläuten, Trommeln, Trompeten und Querpfeifenquinkelieren aufgehört und riß man sich auf den Champs de bataille und in den Spitälern, nicht mehr einander das blutige Stroh unter den Köpfen weg, um sich selber bequemer zu betten. Es konnte nun mal wieder im Frieden auch dem Kriegsmann so gut werden, wie es ausnahmsweise dem Hauptmann Uttenberger vom Regiment Lochmann zu teil geworden war: in seiner Garnison hatte er nicht nur auf regelrechte Auszahlung seiner Löhnung, sondern auch auf einen richtigen christlichen Sarg, wenn er dessen benötigt werden sollte, zu rechnen.

[209] Wir wollen uns nicht dabei aufhalten, wie man in den Kabinetten der Herrscher Verlust und Gewinn gegeneinander abwog und schon darob neue Fäden zu neuen, nur mit dem Schwert zu durchhauenden, gordischen Knoten spann. Wir unsererseits halten nur ein buntes Knäulchen in der Hand, von dem wir den Beschluß unserer Geschichte von Daphnis und Chloe, von Pold und Hannchen, von dem Pastor und der Frau Pastorin von Boffzen, vom Derenthaler Pastor Störenfreden und der – Wackerhahnschen abzuwickeln haben.

Wie Kinder im Spiel sind wir auf dieser Erde, wenn sie, atemlos vom Jagen und Gejagtwerden: »Freistatt!« rufen.

Asyl!

Die Gelehrten sagen, das Wort komme aus dem Griechischen her und bedeute einen Ort, wo man nicht geplündert, beraubt, in Ketten gelegt, gemartert und totgeschlagen werden dürfe: wollen wir zusehen, ob die Wackerhahnsche solches pays neutre, solch neutralisiertes Gebiet in des Daseins Wirrwarr für ihre letzten Abendstunden gewonnen hat?

Verändert hatte sich ja ihr absonderlicher Witwenwohnsitz, ihr Altenteil im Heimatsdorfe zum Vorteil. Zwar erreichte man den Eingang immer noch vermittelst einer Leiter, doch hatte man ihn erreicht, so merkte man, daß da nicht bloß der Maurer, Zimmermann und Tischler am Werk gewesen war, sondern daß auch vernünftiges Zureden und liebevolles Zugreifen wenigstens in etwas geholfen hatten, aus der Höhle der wilden Wölfin aus dem Barwalde annähernd ein Großmuhmen-, Großmutter-Spinnstübchen herzurichten. Es gab einen Ofen und Glasfenster und eine vom Meister Schreiner hergerichtete Bettstatt im Landwehrturm. Das Spinnrad fehlte freilich, aber es gab Tisch und Stuhl, wie es sich gehörte, im Landwehrturm und sogar einen gepolsterten Großmutterstuhl mit Rücken- und Armlehnen.

Letzteren hatte Pastor Holtnicker vor dem Ankauf selber [210] erst ausprobiert. Es ließ sich ganz bequem darin sitzen, und die Greisin saß auch darin an der zum besseren Ausblick nach Boffzen gleichfalls erweiterten Schießscharte. Sie hatte in ihm eben sogar ein wenig genickt: der 18. August gehörte immer noch zu den Hundstagen, und das Geschrill der Grillen draußen rund um das alte Gemäuer deutete an, daß das Geziefer mit dem Sommerwetter wohl zufrieden sei und es der Jahreszeit angemessen erachte.

In der Scharte, durch welche vordem so oft die Wächter des Turmes erst ihre Bogen und Armbrüste, nachher ihre Luntenbüchsen auf den heranschleichenden Feind gerichtet hatten, auf der Brüstung lag ein kleines Buch, von dem jetzt auch gar noch ein gut Teil abgerissen worden war. Mit einem spanischen Fluch hatte es die Veteranin drei Tage nach dem Begräbnis des Hauptmanns Uttenberger den Tatzen des braven Knechts Börries entzogen, der eben wieder im Begriff war, am Küchenherd des Boffzener Pfarrhauses seine Tabakspfeife mit ein paar Blättern daraus anzuzünden.

Seit dieser Zeit bedeutete es die Bibliothek des Landwehrturms an der Allermannswiese, dieses kleine Buch, welches alle die wunderschönen Geschichten von unschuldigen Schäfern und Schäferinnen, weißen Lämmern und lustigen Waldgöttern, von Sonnen-und Mondenschein, Milch, Wein und Honig in sich hatte und von Mord und Totschlag, Blut und Brand nicht das geringste wußte. Daß die Wackerhahnsche drin lesen konnte, wie auf Schloß Blankenburg die Frau Herzogin und ihre Damen, die sich aus ihm im dritten Schlesischen Kriege als Chloe, Phillis, Daphne anredeten, sagen uns weder Schrift, Druck noch Tradition. Sie konnte wohl garnicht lesen, die alte Frau; aber wenn sie den Finger in die Kugelspur legte, die das Büchlein von Hastenbeck her an sich trug, dann fehlte ihrem Gedächtnis nichts von dem, was einst über der Erde Schönheit, Unschuld und Lieblichkeit der arme Schweizerkapitän Uttenberger vom [211] Regiment Lochmann aus ihm zum besten gegeben hatte, ehe der Herr Pastor Holtnicker und der Herr Kabinettprediger Cober zum Beschluß des Abends das Wort nahmen.

So ist auch an diesem heißen 18. August Siebzehnhundertdreiundsechzig in ihrem kühlen Altenteil an der Weser das Verhältnis zwischen ihr und dem jungen Schweizerpoeten Salomon Geßner in Zürich gewesen, als sie sich plötzlich aus ihrem Halbschlummer und Traumspiel angerufen hörte durch eine Kinderstimme:

»Großmama! ... Großmama Wackerhahn!«

Es war eine junge Frau, die mit einem Kind auf dem Arm unten am Turm stand und zu der grimmigen Auslugsöffnung emporblickte. Ein anderes Kind, ein kleines Mädchen, hielt sich an ihrem Rock, und es war's gewesen, was gerufen hatte:

»Großmama! ... Großmama Wackerhahn!«

Das Lustrum, welches hingegangen war, seit dem Sommer Achtundfünfzig verflossen war, hatte das Wetterhexengesicht, welches sich auf den lieblichen Anruf rasch aus der Schießscharte vorschob, nicht verjüngt und nicht verschönert. Jedes andere Kind würde mit Geschrei davor Reißaus genommen haben; aber der Immeke von Boffzen ältestes Töchterlein streckte nur beide Ärmchen empor:

»Sollt 'runter kommen, Großmama Wackerhahn!«

Und aufgeregt, und nicht bloß von dem heißen Tage, sondern auch vom raschen Gang erhitzt und hochrot, rief auch Frau Hannchen Wille, geborene Holtnicker:

»Ja, Mutter, Sie soll herunterkommen und mit uns so rasch als möglich. Pold ist von Braunschweig zurück und bringt gute Nachricht mit. Die allerbesten Nachrichten für uns und Fürstenberg und für Sie auch, Mutter Wackerhahn! Unser Herr Herzog will nicht nur seine Porcelainefabrik auf Schloß Fürstenberg halten, sondern hat sich auch noch große Dinge mit ihr vorgenommen. Seine Maler sollen nicht Hunger sterben, [212] und gegen meinen Mann ist Seine Durchlaucht sehr gnädig gewesen, als er als Abgesandter von hier und guter alter Bekannter von ihm bei ihm gewesen ist. Und die Frau Herzogin auch und die allergnädigsten Prinzessinnen auch. Die haben ihren Zeichenmeister von Blankenburg her noch nicht vergessen gehabt, und seine Blumen, die er jetzt wieder hier malt, wären doch immer die schönsten, und sie tränken ihren Koffee und Schokolade nur aus seinen Tassen, haben sie gesagt! Wackerhahnsche, liebste, beste Mutter, mein Pold stünde natürlich selber hier, wenn ihn die anderen, Vater und Mutter, hätten loslassen wollen. Und Herr Pastor Störenfreden aus Derenthal ist auch, wie auf Bestellung, grade heute auf Besuch da, und verlangt ebenso nach Ihr, Mutter Wackerhahn, als wir anderen im Hause. Soll ich heraufkommen und Ihr die dumme Leiter herunterhelfen?«

Sie hatte bereits ihr Kleines in das Gras gesetzt; aber aus der Höhe schnarrte es:

»Dummes Zeug! Kommst wohl nächstens mit'n Kutschwagen vorgefahren bei mir? Bin gleich unten, Wieschen, und dann wollen wir zwei mal sehen, wer von uns beiden am schnellsten laufen und sich das Stück Kuchen, was Papa aus Braunschweig uns mitgebracht hat, holen kann.« –

Wenn je das Boffzener Pfarrhaus eine Ähnlichkeit mit dem Grünauer aufzuweisen gehabt hat, so ist das an diesem Nachmittag und noch mehr am Abend gewesen. Es gab heute sogar »Koffee« wie am Hofe zu Braunschweig und aus Porcelaine mit Blumensträußen und Kränzen vom besten Fürstenberger Blumenmaler trank man ihn auch. Und die Frau Pastorin hatte gestern schon, auf die Rückkehr des Herrn Schwiegersohns von Braunschweig hin, Kuchen gebacken (Dörthe Krüger hatte ihr freilich nicht dabei helfen können; denn die saß seit zwei Jahren als Frau Homeisterin Börries auf dem adeligen Gut Deensen, jenseits des Sollings), und wenn es auch bei dem [213] Boffzener Pfarrherrn nicht ganz so hoch und delikat herging, wie bei dem Grünauer, so mangelte doch des Nötigen und des Erquicklichen nichts bei dem Bewillkommnungsfeste. Die Hühner hatten während des Siebenjährigen Krieges und gar nach dem Hubertusburger Frieden nicht aufgehört, Eier zu legen, und dazu waren sie auch noch selber vorhanden zur Suppe und zum Braten. Es hingen auch im Boffzener Pastorhause wieder Speckseiten, Würste und Schinken in der Rauchkammer.

Ja, war es denn heute was mehr als ein böser Traum, alles, was man die langen, bangen letzten Jahre durch hatte erleben müssen? Hatte die Sonne aufgehört zu scheinen, der Regen naß zu machen? Waren sie nicht alle noch vorhanden zu ihrer richtigen Zeit, die Früchte auf dem Felde, die Blumen im Garten, an den Rainen und auf den Wiesen, die Vögel in der Luft und im Gezweig, jeder nach seiner Art, bei Tage und bei Nacht?

Und gar die alte Weser dort hinter der Gartenmauer! War denn die nicht mehr da? Da rauschte sie wie immer, und es war ihr ganz gleichgültig, wer Schlesien hatte, und wer Kanada. Hatte sie sich je um so was gekümmert wie die Schlacht am Idisiavisus, den Nero Claudius Drusus, den »aischen Karl« und sein christlich fromm Sachsenköpfen bei Verden? Was ging sie die Schlacht bei Hastenbeck und die Konvention von Kloster Zeven an?

Und die Kinder! Was ging es die Kinder der Boffzener Immeke an, daß Niedersachsen dem Herrn Herzog von Richelieu seinen hannoverschen Pavillon in der Stadt Paris hatte bauen müssen unter freundlicher Vermittelung des Herrn Herzogs von Cumberland? –

In der Flieder- und Nußbaumlaube um den runden Steintisch, an welchem einst, verstohlen, hinter dem Rücken der Frau Mutter Holtnicker, Hauptmann Uttenberger dem Boffzener Bienchen und dem Blumenmaler Pold Wille seines jungen [214] Landsmannes betrübliche und tröstliche Geschichte von Daphnis und der Chloe bekannt gab, saßen sie, bis auf die, so Gottes Wunderwagen von dannen getragen hatte, alle, welche uns im Laufe dieser unserer Geschichte bekannt gegeben wurden und – die Kinder noch dazu. Das Kleinste, wie das Weltganze ruhig, im Schlaf auf dem Schoße der Mutter.

Wie mit aller Welt Herrlichkeiten von der Braunschweiger Messe beladen, war »Malermeister« Wille von der Oker zur Weser zurückgekommen, und wie eine Meßschachtel reichte er auch der Greisin aus dem Landwehrturm das, was er ihr im besonderen mitgebracht hatte.

»Jawohl, Mutter, Sie weiß garnicht, in welchem guten Andenken Sie bei Hofe stehet. Von den allergnädigsten Prinzessinnen gar nicht zu reden; aber auch Seine Durchlaucht und Ihre Königliche Hoheit, der Herzog und die Frau Herzogin, lassen Sie allerschönstens grüßen, und der Herr Abt Jerusalem haben selber mich in der herzoglichen Kunstkammer herumgeführt und mir in den Schränken allerlei Dinge gezeigt, die Sie in Ihrem Türkenbeutel mit nach Blankenburg gebracht hat, und uns – o Mutter, liebe Mutter Wackerhahn! mir und der armen Immeke in unserer Verlassenheit nicht bloß den allerhöchsten Schutz, sondern auch die erste Haushaltseinrichtung damit erkauft hat ... und Sie, liebste böse Mama, will immer noch nicht ganz aus Ihrem Turm zu Ihren Kindern ziehen. Jawohl, jawohl, auch den Kopf hat die Frau Herzogin über Sie geschüttelt und sich zu dem Herrn Herzog gewendet und gemeint: ›Da sage man nun noch, daß mein Herr Bruder in Berlin den härtesten Kopf und den steifsten Nacken in der Welt habe!‹ Seine Durchlaucht haben darauf lachend etwas auf französisch gesprochen; ich kann kein Französisch und kann Ihr nur sagen, was die Frau Herzogin dann zu mir gesagt hat. ›Monsieur Wille‹, hat sie gesagt, ›höre Er wohl zu, Monsieur Wille, ich bestelle mir jetzt durch Ihn aus meines Herrn Gemahls Liebden berühmter [215] Porcelainefabrique zu meinem persönlichen Gebrauch eine Mundtasse. Darauf will ich die Wackerhahnsche gemalt haben; aber nicht wieder als Hexe vom Brocken oder Köterberg, nicht als Försterin aus dem Barwalde, nicht als Markedenterin aus dem Polnischen Erbfolgekriege oder gar den Schlesischen Kriegen, nicht in einem Räuberturm, sondern im Fauteuil, in einer wirklichen Menschenwohnung, bei Kindern und Enkelkindern im Großmutterstuhl und in einer Dormeuse, die ich selber ihr allhier auf dem Bohlwege bei unserem Juden Helfft aussuchen werde. Den Blumenkranz mag Er mir um das Porträt malen, Monsieur; aber es ist mein Ernst: sage Er dem alten Eigensinn im Boffzener Landwehrturm, sie und ich wollten nicht umsonst gute Bekannte in schwerster Lebensnot geworden sein, und nunmehro befehle ich es ihr als ihre gnädige Landesmutter ernstlich, Raison anzunehmen und in Kompagnie mit der Frau Pastorin in Boffzen ihre Mutter- und Großmutterpflichten nach Menschenweise ganz unter Menschen zu verrichten und nicht wie ein Uhu von dem unkommoden, grämlichen, désagréablen Kriegsgemäuer herunter‹.«

»Jawohl, Wackerhahnsche,« rief jetzt Frau Johanna Holtnicker, nicht wenig geschmeichelt, daß auch sie in der Vermahnungsrede der Frau Herzogin Philippine Charlotte eine Rolle gespielt hatte, »ganz meine Meinung, alter Murrkopf! Sie weiß, wie wir zwei vor Jahren auch in bitterer Lebensnot mit- und gegeneinander gestanden haben und wie viel oder wie wenig Liebe und Zuneigung damals zwischen uns gewesen ist. Aber da es sich nun doch nun so gefügt hat, daß auch wir beide bessere Bekanntschaft als wie damals miteinander gemacht haben, so nehme Sie nun, wie die Frau Herzogin befehlen, endlich Vernunft an und schließe Sie ganz Frieden mit der Welt! Meine Beine sind ebenso alt und stümperig als die Ihrigen, und das Leiterklettern und Aufstrohschlafen ist weder für mich noch für Sie was anderes als eine Lächerlichkeit, eine Dummheit oder [216] ein Hochmut. Ich meine, seinerzeit habe ich Ihr doch derer da, des Herrn Sohnes und meiner Immeke wegen, mehr nachgegeben, als man eigentlich von mir verlangen konnte, und nun will Sie uns nicht mal diesen kleinen Gefallen tun? Meint Sie etwa, unser Herrgott rechne Ihr das gar als ein Verdienst an, wenn Sie, wann er Ihr Ihren seligen christlichen Tod schickt, wie ein Huhn die Leiter herauf zu Bette steigt? Bilde Die sich das nicht ein! Sehe Sie, wie mein Pastor und Pastor Störenfreden jetzt schon zu solcher Dummheit und Einbildung den Kopf schütteln. Da möchte ich mir ja, wenn es keine Sünde wäre, von dem Kirchhof dort drüben Ihren Freund und Kriegskameraden, unseren armen seligen Herrn Hauptmann Uttenberger um seine Meinung herbitten! Sein ganzes Leben hat der erst bei dem Vieh auf der Weide und dann im Feldlager zubringen müssen und hat niemals anders als in einem Schäferkarren und nachher in Zelten sein Lager gehabt; aber in einem ordentlichen Bett und richtigen christlichen vier Wänden ist er doch selig abgeschieden, und auch er würde sagen: Wackerhahnsche, schließe Sie ganz Frieden und sei Sie keine eigensinnige Närrin!«

Sie haben noch lange so ihr zugeredet, – Pastor Holtnicker und Pastor Emanuel Störenfreden aus Derenthal auch. Letzterer, was das Einander-einen-Gefallen-tun anbelangt, in wenn auch milderen, so doch ebenso bewegten Worten wie seine Frau Tante, die Pastorin von Boffzen. Es hat aber alles nichts gefruchtet: die Wackerhahnsche hat nicht aus ihrem Turm herab ganz zu den anderen Menschen zurückkommen und mit ihnen nach Menschenart leben wollen und – können.

Den eigentlichen Grund hat sie, nicht lange vor ihrem Tode, im Jahre Siebzehnhundertachtundsechzig, dem auch von ihr angenommenen Kinde, unserem Bienchen aus dem Boffzener Pfarrgarten, der jungen Madame Wille gesagt:

[217] »Es ging nicht! es ging bei dem besten Willen nicht, mein Herz! Nicht die Welt, nicht ihr Jungen, nicht die Alten waren schuld daran – deine Kinder, deine kleinen armen Kinder sind's gewesen, Immeke! Der Herr Pastor hat mir neulich auch hier im Turm aus dem Herrn Kabinettprediger vorgelesen. Von der Gott befohlenen Himmelsreise hat er gelesen; aber es ist mir nur eines draus im Gedächtnis verblieben: daß, wenn einem Reisenden ein Myrtenstab in die Hand gegeben wird, er nicht leicht müde werden wird. Sieh, das habe ich, wie ich es verstand und vermochte in meiner Wildheit und Verlorenheit, dir und deinem Pold getan, und nicht des Herrn Kabinettpredigers Herrgott, sondern eurem jungen Glück meine fernere Lebensfahrt mit anbefehlen wollen. Das hat sich als eine Täuschung und Einbildung ausgewiesen, als eure Kinder gekommen sind! Ihr ginget an eurem Myrtenstab, ich mußte an dem in meiner Hand weiter, und der war zu scharf mit Eisen beschlagen und zu oft in Blutlachen niedergestoßen worden, als daß ich ihn hätte am Großmutterstuhl in der Kinderstube – in eurer Kinderstube absetzen können. Die Försterin aus dem Barwalde, die Hexe aus dem Landwehrturm, die nie ein Kind auf dem Arm getragen, nie eines gewaschen, getrocknet, gekämmt, gefüttert hatte, was für Großmuttergeschichten hätte die deinen Kindern zu erzählen gewußt, Immeke? Blut an den Schuhen, Blut hoch am Rock hinauf – wie hätte die Wackerhahnsche in einen Großmutterstuhl am Winterofen mit ihren Geschichten gepaßt? Vor deinen Kindern habe ich Angst gehabt; denn ich habe in ihre Augen gesehen, wenn sie zusammengefahren waren vor einem Wort, vor einem Fluch von der alten Frau, die sie nach eurer Liebe und Güte auch Großmutter nennen sollten, wie ihre richtige, die Frau Pastorin! Für eure Liebe und Güte habt Dank; doch mich müßt ihr lassen, wo ich bin. Und wenn ich mir mal eingebildet habe, es könne immer noch anders sein, so vergebt mir das. Gottes Wunderwagen ist ein [218] kurioser Wagen; hier bin ich von dem Fuhrmann abgeladen worden. Wer will mit ihm rechten? Ich nicht! Dein Liebster und du?«

»Pold kommt gleich. Der soll es sagen, wie lieb wir dich haben, Mutter! ...«


Ende. [219]

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TextGrid Repository (2012). Raabe, Wilhelm. Erzählungen. Hastenbeck. Hastenbeck. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-8B11-B