[1] [9]Vorwort.

Bei den großen Anregungen, die wir in dieser Zeit dauernd durch die Herausgabe des deutschen Wörterbuches empfangen, welches Jakob Grimm mit seinen von mühsamer Forschung in unsern alten Schriften nicht getrübten, sondern nur glänzender gewordenen Seherauge schon als ein Familienbuch bezeichnet hat, ist es schwer sich den Träumen zu entschlagen, daß die germanistischen Forschungen in längerer oder kürzerer Zeit auch auf die Pädagogik den nachhaltigsten Einfluß üben und die Mittel, deren sich der Jugendunterricht bedient, gar sehr erweitern werden. Zwar meinte noch letzthin Gervinus, daß über die Frage, ob unsere eigne nationale Literatur beim Unterricht vor den classischen Literaturen zu bevorzugen oder ihnen auch nur einigermaßen gleichzustellen sei, mitzusprechen nur Wenige berufen seien und ohnehin liegt es uns sehr fern, z.B. unsre Heldendichtung auf Kosten [9] der Wahrheit der griechischen gleichstellen zu wollen. Aber dies vorausgeschickt wie billig – sollte nicht Einem, der den Reichthum dieser gesammten deutschen Forschungen vor Augen hat, der Wunsch das Herz abdrücken, diese Schätze auch auf die jeder Wissenschaft zukommende Weise nutzbar gemacht zu sehen? So vielfache National- Schätze haben Griechen und Römer niemals vor sich erblickt und niemals ist ihnen ein solches Verständniß ihrer eignen Literatur und ihres Wesens geöffnet gewesen, wie uns jetzt durch Grammatik, Wörterbücher und viele andere reiche Untersuchungen, die hier und da von Tage zu Tage (wie die Ausgrabungen unsrer Alterthumsvereine durch die Zuziehung der Sagen) noch belebt und einer scheinbaren Unfruchtbarkeit enthoben werden können. Es greift hier zu Vieles ineinander und die Frage ist schon ganz zu trennen von der Frage nach dem Werth einzelner älteren deutschen Dichtungen.


Das Märchen nimmt inmitten dieser Studien einen sehr bescheidenen Platz ein, aber es darf am Wenigsten fehlen, wo es sich darum handelt dieselben zu Schule und Haus in die rechte Beziehung zu setzen, denn es ist der Jugend schon von Alters her lieb und werth.


Zwei arme Kinder, Brüderchen und Schwesterchen, die den Kinderschuhen noch jetzt kaum entwachsen sind, erzählten dem Herausgeber dieses Buches, wie sie sich jeden Abend, wenn sie sich zu Bett legten, an einem einzigen Märchen, das sie wußten, ergötzten. Sie erzählten sich nämlich die bekannte [10] Geschichte von den Bremer Stadtmusikanten, und zwar so, daß die darin auftretenden Thiere alle von bestimmten, den Kindern bekannten Orten auf dem Oberharze herkamen und sich an einer ihnen gleichfalls wohlbekannten Stelle trafen. »So kiet's wemmer alt werd!« (so geht's wenn man alt wird) sagte jedes der weggejagten Thiere, die sich nun als Musikanten auf die Reise machten, beim Zusammentreffen zum andern, und schon aus der allerdings im Munde der Thiere, noch mehr im Munde der ihnen nachsprechenden Kleinen selbst, hinlänglich komischen Rede allein sogen diese jeden Tag ein neues und unerschöpfliches Vergnügen. Wenn nun auch ein rechter Pädagoge den Kindern empfehlen wird, statt solches Märchenerzählens beim Schlafengehen lieber sogleich frisch und fröhlich die Augen zu schließen und einzuschlafen, so wird doch in anderer Art Aehnliches von der Wirkung des Volksmärchens auf das kindliche Gemüth ein Jeder auch aus seiner eignen Jugend anführen können, denn noch ist wohl kein Haus bei uns so armselig, daß darin nicht zur Freude der Kinder ein oder das andre Hausmärchen von Eltern und Großeltern her forterbte, mag es auch in den gebildeten Häusern oft nur noch als Schwank fortzuleben wagen.


Mehr und mehr werden auch diese Märchen als eine sehr wesentliche Nahrung erkannt, welche man dem jugendlichen Geiste keineswegs entziehen dürfe. Zwar erschien vor einigen Jahren von einem nicht unbekannten Pädagogen eine Art von Programm für die Pädagogik der Zukunft, worin unter Anderm das [11] Märchen seines phantastischen Charakters wegen geächtet wurde. Allein dies beruhte zum guten Theil nur auf einem Mißverständniß. Im Märchen wird allerdings der gewöhnliche Lauf der Dinge sehr oft durch wunderbare Vorfälle unterbrochen; wie aber schon Wilhelm Grimm gesagt hat, daß es eine Anhäufung des Wunderbaren nicht vertrage, sondern eine angemessene Verbindung des Gewöhnlichen mit dem Wunderbaren verlange: so glauben wir sagen zu können, daß für diejenigen, für welche das Märchen zunächst vorhanden ist, die Grenze zwischen dem Natürlichen und dem Wunderbaren gar nicht scharf genug gezogen ist, um da, wo sie überschritten wird, sogleich einen feindlichen Angriff auf den menschlichen Verstand wittern zu können.


So wie das Wunderbare im Märchen nicht willkührlich ersonnen ist, sondern auf sehr alten großentheils noch aus dem Heidenthume fortgepflanzten, ursprünglich religiösen und erst im Zeitlaufe verweltlichten Vorstellungen beruht, so sind wir auch, wenn wir blos vom poetischen Standpuncte aus die Zusammensetzung zunächst nicht zusammengehöriger Dinge betrachten, wie sie im Märchen stattfindet, doch auch keineswegs auf das Gebiet der Willkühr versetzt. Auch wenn wir von dem ersten Ursprung dieser Erzählungen im grauen Alterthume absehen, werden wir doch hier oft an Layard erinnert, der die geflügelten Löwen mit Menschenköpfen vor einem von ihm ausgegrabenen Tempel in Ninive betrachtet und ausruft: »Konnten edlere Gestalten das Volk an der Pforte der Tempel [12] seiner Götter empfangen? Welch erhabnere Züge konnte er nur auf die Nachahmung der Natur angewiesene Mensch für die Weisheit, die Macht und die Allgegenwart des höchsten Wesens wählen? Er konnte keinen bessern Typus für Geist und Wissen finden als den Kopf des Menschen, keinen bessern Typus für die Stärke als den Körper des Löwen, und für die Schnelligkeit der Bewegung die Schwingen des Vogels. Diese geflügelten Löwen mit Menschenköpfen waren keine bloße Ausgeburt einer üppigen Phantasie; ihre Bedeutung stand ihnen auf der Stirn geschrieben.« –


Wir Deutschen aber sollten am Wenigsten der Kindheit die unschuldige Märchenlust verkümmern. Unser Volk erzeugt diese unschuldigen Spiele der Phantasie mit jener wahren und echten Naivität, mit jenem reinen kindlichen Sinne, der wenigstens den leider in neuerer Zeit gerade in Deutschland gewaltsam für die Jugend zugestutzten orientalischen Märchen, und auch den italienischen durchaus abzugehen scheint. Wenn wir auch selbst unsrer reiferen Jugend, wir meinen der gebildeten, etwas weniger träumerischen Sinn wünschen müssen, so können wir doch bei der Entdeckung der Engländer, daß die Kinderspielsachen, die grünen Bäume, Schäfer, Schäferinnen, Holzhauer, Bauern, Landmädchen und Hausthiere, mit denen das deutsche Gemüth selbst das Ausland versieht, nicht mehr in die Zeit passe, weil ihnen die Bewegung fehle, Altengland wegen seiner frühreifen Jugend nur aufrichtig bemitleiden und unsre Collegen, die »großen Kinder« [13] in Nürnberg, aus deren Händen diese Waare kommt, werden den Rath 1, mehr auf die materielle Denkungsart der Engländer zu speculiren, eben so wenig berücksichtigen können, als ihre Kameraden, welche Volksmärchen herausgeben, etwa im Stande waren, ähnliche Rathschläge zu befolgen.


Außer jener vollkommen unberechtigten Einwendung gegen Märchen als Kinderschriften hat man nun auch darauf hingedeutet, daß die deutschen Volksmärchen manche Züge (sie erwachsen aus dem Conflict der Cultur des Volkes und derjenigen der gebildeten Stände, oder werden vielmehr nur durch ihn bemerklich) enthalten, welche für Kinder nicht passen. Ja, eine als besondere Schrift erschienene Musterung von Jugendschriften will alle diese Sammlungen nur alsVolksschriften betrachtet wissen und nur dieAuswahl aus der Grimm'schen Sammlung, aus der allerdings alles weniger für Kinder geeignete entfernt ist, wird dort den Jugendschriften eingereiht, während die Brüder Grimm selbst auch die große Ausgabe ihrer Sammlung als Kinderschrift bezeichnet haben. Auch eine von mir selbst herausgegebene und von der Kritik mit Beifall aufgenommene Sammlung wird dort mit den übrigen nur unter die Volksschriften verwiesen.


Ohne auf jene Bedenken weiter einzugehen, bemerke ich nur, wie ich es als eine mir widerfahrene hohe Ehre betrachte, daß Eltern und Erzieher in der [14] letzten Zeit mich wiederholt aufforderten, ein Märchenbuch als eigentliche und vollständige Kinderschrift herauszugeben. Ich komme derselben in der vorliegenden Schrift nach, indem ich von den neuerdings von mir gesammelten Märchen nicht allein 1) alle diejenigen Märchen ausscheide, welche nicht vollständig für Kinder geeignet sind, 2) auch lückenhafte und weniger anziehende Märchen (welche wohl sonst in wissenschaftlichem Interesse mitzutheilen gewesen wären) zurücklege, was jedoch natürlich die Aufnahme an und für sich kürzerer Stücke nicht hinderte. Auch den Styl habe ich 3) eigens für die Jugend berechnet und nicht allgemein volksmäßig halten wollen. Die Erläuterungen, welche ich diesmal zu einzelnen Märchen geben will, sollen den Leser zunächst von der ethischen und poetischen Seite her (man sehe die erste Abtheilung des Anhangs) in das Verständniß der Märchen einführen. Schon liest ja sogar mancher Lehrer seinen Schülern und Schülerinnen hin und wieder während der Schulstunden ein Märchen vor, selbst in Dorfschulen, welche ohnehin beginnen die sogenannte deutsche Grammatik, womit sie die Kinder bisher plagten, durch Vorlesung guter poetischer und prosaischer kleiner Stücke zu ersetzen. Die Auswahl ist, besonders wenn man das Augenmerk vorzugsweise auf Gedichte richtet, höchst schwierig. Dahingegen ist außer Anderm das Märchen für diesen Zweck wie geschaffen, auch wenn an die Vorlesung noch Besprechungen und Erörterungen geknüpft werden sollen, wie man denn auch, oft seltsam genug, das Volk über den Gang der Vegebenheiten in seinen Märchen reflectiren [15] hört. So sprach sich denn unter Anderm in einer Lehrerconferenz der Wunsch aus nach einer Sammlung erzählender Stücke mit Erläuterungen, welche ein für Lehrer brauchbares Material enthielten. Solchen Regungen kommt unsre Schrift entgegen und solchem Bedürfniß wünscht sie mit der ersten Abtheilung des Anhangs auf eine zweckmäßige Weise abzuhelfen.


Möchte das Buch den Jungen und den Alten, deren ich bei seiner Ausarbeitung fortwährend freundlich gedachte, lieb werden.


Wernigerode, am Michaelistage 1854.


Heinrich Pröhle.

Fußnoten

1 Vergl. »Deutsche Kinderspielsachen in England« (Morgenblatt, 1853, Nr. 30.).

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. Märchen. Märchen für die Jugend. Vorwort. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-867D-5