[3] Heinrich Pröhle
Harzsagen
zum Teil in der Mundart der Gebirgsbewohner

[3] [14]Einleitung.

Aus dem Tagebuche eines deutschen Sammlers

[14] Aus dem Tagebuche eines deutschen Sammlers. 1

Bergstadt Zellerfeld, im Spätherbst 1851.


Hier bin ich nun seit länger als einem Monate, um die Sagen, Märchen und Lieder des Oberharzes zu sammeln. Wenige Meilen von meiner Heimat entfernt, komme ich mir hier oben unter diesen Bergleuten wie in eine neue Welt versetzt vor. Von ungeheuern Bergen, welche sich zwischen Goslar und der von Klausthal nur durch den kleinen Zellbach geschiedenen Bergstadt Zellerfeld auftürmen, kam ich, angesichts einer malerischen Landschaft mit herrlichen fischreichen Teichen, im Postwagen gleichsam heruntergepurzelt. Der Wagen schoß den Berg hinab durch die Bergstadt hindurch bis auf einen trauten, aber auch abschüssigen Platz, auf dem die große Kirche von Zellerfeld steht. Majestätische Kastanien glänzten mir hier im herbstlichen Laube entgegen. Mit Mühe hielten die Pferde hier den Postwagen im Laufe an und vor einem ganz in den Bäumen vergrabenen »Deutschen Hause« stieg ich aus. Ich muß den Geschmack meines [15] Postillons bewundern, der mir diese Wohnung ausgewählt hat. Eine passendere kann ein Sammler meines Schlages nicht finden. Die altfränkischen zinnernen Leuchter und besonders die schweren Fenster, welche, wenn sie geschlossen werden sollen, von oben niederfallen, zeigen, daß man hier in Zellerfeld auf einem noch nicht von der Kultur beleckten, also für mich hoffnungsvollen Boden steht.

Nichts freut mich mehr, als daß unser norddeutsches Volksleben hier auch in seiner äußeren Erscheinung zu einer so reichen und besonders zu einer so charakteristischen Erscheinung kommt. Zellerfeld ist eine stille Stadt, aber der Markt von Klausthal bietet oft mit seinen Bergleuten in ihrer schwarzen Tracht ein zauberisch-belebtes Bild dar. O und diese frischen Herbstmorgen, die ich, in dessen Fenster einige einfache weiße Vogelbauer nicht fehlen, vor Tagesanbruch mit einem Bergmann auf seinem Vogelherde im Tannenwalde verlebe! Durch das Glück begünstigt, machte ich sogleich am ersten vollen Tage, wo ich hier war, mehrere Bekanntschaften, wie ich sie bei meiner Absicht, mich unter das Volk zu mischen, um es auszuforschen, nicht leicht besser hätte finden können. Es war an einem Sonnabend und ich ging ohne weiteres aufs Rathaus zu Klausthal, wo die Bergleute und Bergmannsfrauen sich durch einandertrieben und eine Magd im Korbe das Lohn in blankem neuen Silbergelde herbeitrug, das für die Woche an sie ausgezahlt werden sollte, wobei früher (ein herrlicher Brauch!) jedesmal die Bergfahne aufgepflanzt wurde. Während des Auszahlens lehnte ein Deicharbeiter, der seit lange nicht rasiert war, in der Thür des Saales und sah zu. Ob er selbst schon etwas empfangen hatte, weiß ich nicht; sein Aussehen aber war eher das eines Wegelagerers. Kaum hatte er gesehen, daß ich ihn bemerkte, als er mich um eine Gabe ansprach. Ich versprach sie ihm am Nachmittage in seine Wohnung, die er mir nannte, zu bringen. Der Deicharbeiter wohnte im schlechtesten Teile der Bergstadt Klausthal. Jedoch war ich nicht wenig überrascht, als ich ihn dort in einer höchst freundlichen Bergmannsstube fand, die von weiblicher Pflege nicht allein sauber, sondern auch in einer gewissen Zierlichkeit erhalten[16] war. Der ordnende Geist dieser Häuslichkeit saß an dem mit Blumen besetzten Fenster in Gestalt eines blassen Mädchens von feinen und schönen Gesichtszügen, welche ich ihrem Alter nach für die Tochter des Deicharbeiters halten mußte. Auf einem Sopha lag ein Puchknabe von etwa zwölf Jahren und schlief fest nach der sauern Bergmannsarbeit, welche mit dem Dienst in den Puchwerken beginnt. Nach der Arbeit hatte er sich, wie die Bergleute zu thun pflegen, reinlich und sauber gekleidet und besonders eine stattliche Tuchhose angelegt, die offenbar der Stolz des schlafenden Knaben war. Über ihm und dem Sopha hängt die trauliche Zither, welche in einer Bergmannsstube zu Klausthal nicht fehlen darf. Gegen dieses ganze Bild einer bei aller Beschränkung doch anziehenden Häuslichkeit stach der alte Deicharbeiter sehr ab, der in seinem schmutzigen Anzuge den Platz hinter dem Ofen einnahm. Das bleiche schöne Mädchen selbst sagte mir bald, daß dieser nicht ihr Vater sei, sondern nur bei ihrer Mutter, die nicht daheim war und der das Häuschen gehörte, in der Stube zur Miete wohne. Als der stumpfsinnige Alte hörte, daß von ihm gesprochen wurde, begann er selbst, mich von sich zu unterhalten. Er klagte mir, daß er es mit dem Heiraten und mit den Weibern »wegen dem Napolium« verpaßt habe. Zur Zeit, wo der Oberharz zum Königreich Westfalen gehörte, habe er »bei dem Napolium« und dem unsaubern König Hieronymus, für welchen er noch jetzt schwärmt, das Kochen, Waschen und Nähen gelernt. Darum habe er geglaubt, es gehe in die Welt ohne die Weiber. Weil er nun groß und stark gewesen, so habe er sich, als der »Napolium« und der Hieronymus elendiglich zugrunde gegangen wären, hochmütig, da er der Weiber nicht zu bedürfen geglaubt habe, als Knecht vermietet. Aber er habe sich doch verrechnet, denn er habe »bei dem Napolium« das Stricken nicht gelernt gehabt. Da habe er müssen oft barfuß gehen und dadurch sei er, der früher so stattlich einhergegangen und auf die Weiber so tief herabgesehen, zuerst heruntergekommen. Nun aber sei es zum Heiraten zu spät gewesen. Denn die Frauen kämen den Junggesellen entgegen wie ein Zug Vögel: wenn einer nicht zur rechten Zeit auf der Lauer stände und [17] ihnen rote Beeren hinstreue, so höre er wohl noch, wie sie »plustern und plustern«, aber er bekomme keine.

Obgleich das bleiche junge Mädchen diese Betrachtungen aus dem Munde des Alten gewiß schon oft hatte hören müssen, so lachte es doch laut auf. Dann sagte sie mir halblaut, sodaß der Alte es fast verstehen mußte, wie sie schon oft aus ihrer Wirtschaft etwas vermißt hätten, was ohne Zweifel der Alte genommen und in seinem Koffer versteckt habe.

Weiter will ich die Bekanntschaften, die ich an diesem ersten Tage in jenem Bergmannshause machte und wo ich mehr als mir lieb war vom lebendigen Menschendasein erfuhr, da ich doch nur nach Geistern zu forschen gekommen war, nicht enthüllen. Eine Einladung zu einer Gevatterschaft, mit der es jedoch nur auf eine Gabe abgesehen war, kam mir einige Wochen darauf ebendaher. Und als vor einigen Tagen eine Schar von oberharzischen Auswanderern zur Abreise versammelt war, fand ich meinen kaum eine Woche alten Paten schon mit großen lachenden Augen mitten dazwischen. Möge dieses Kind in der neuen Welt nicht in die Thorheiten verfallen, welche seine Eltern aus der Alten vertrieben haben, und möge es in Australien lieblich emporblühen wie eine Sage von der fernen deutschen Heimat!

Nicht allein in die Verhältnisse der Menschen, auch in die der Tierwelt habe ich seit meinem Hiersein einen Blick gethan. Wir hatten Tierschau zu Klausthal. Das beste Rindvieh vom ganzen Oberharze war auf dem langen Platze aufgestellt, wo vor Klausthal der Schützenhof, wie man hier das jährliche Schießen nennt, gehalten wird. An den hohen Bäumen, welche zu beiden Seiten den Schützenhof umgeben, waren sie befestigt. Da wo einige Monate früher die Büchsen krachten, erscholl jetzt laut das Gebrüll der Kühe; wo der Scheibengucker nach jedem guten Schusse seine ehrbaren Sprünge machte, hob sich jetzt mühsam ein Stier; wo die ausgekleideten Moosmänner während des Schießens sich tummelten, tummelten sich jetzt die Rinder. Wo damals die Schönen mit ihren lachenden Rosenmündchen kokettiert hatten, wurde jetzt der kleine Mund der schönsten Kühe bewundert, denen er in [18] den Augen der Kenner ebenso sehr zur Zierde gereicht als den Damen. Und zu alledem tönten jetzt die Kuhglocken, wo während des Schützenhofes die Musikanten zum Tanze aufgespielt hatten. Auch hier wie bei dem Schießen wurden Preise verteilt und die Preisrichter, worunter mein Wirt, der alte Gastwirt Tolle, der auch dem Orts- und Kirchenvorstande von Zellerfeld angehört, gingen in stattliche Mäntel gehüllt prüfend von Baum zu Baum, von einem Stück Vieh zum andern.

Das gekrönte Vieh verdiente in der That unsere volle Bewunderung, zumal der Stier aus dem merkwürdigen Bergdorfe Lerbach. Als er die Schritte wieder nach der Bergschlucht zulenkte, worin sein Dorf liegt, sah er, kraus bis auf den Rücken hin, wie ein Löwe in den numidischen Wäldern aus. »Har giet jetzt hem« (er geht jetzt heim), sagte ein kleiner Puchknabe voller Bewunderung, als der Stier von Wildemann langsam und majestätisch, wie ein König in seine Residenzstadt zurückkehrt, seine Schritte wieder nach Wildemann zu lenkte. Die ganze nebelige Gegend erschien dunkel von braunen Kühen und von schwarzgekleideten Bergleuten, welche sie heimtrieben. Der Preisochse von Klausthal trabt seinen Kühen voran mit einem Kranze in die Stadt, hinter ihm her zunächst ein Kalb, das den Schwanz wie eine Siegesfahne emporhob. Sogleich sind die Straßen von Klausthal verödet, nachdem das von der Tierschau hervorgerufene Gewühl sich verlaufen hat. Ich sehe nun nichts mehr als hier die behagliche Matrone, die eine Ziege die Treppe herunterführt und dort den großen Hirten, der eine Ziege frei vor sich herlaufen läßt und ihr abwechselnd nach beiden Seiten hin den Weg vertritt, damit sie nicht nach rechts oder links abbiegen kann, sondern in gerader Richtung über den Markt fortgehen muß.

Diese Gruppen erscheinen mir hier gleichsam als ein Nachspiel der majestätischen Tierschau. Wie viel Behagen im Anblicke dieser Tiere! Aber das Behagen glücklicher Menschen geht doch noch weit darüber, man braucht nur jenes Haus mit dem Rasenplatze und der hohen Holzschicht für den Winter, die es fast überragt, zu betrachten. In der Stube [19] sehe ich durchs Fenster die Tabakspfeifen an der Wand hängen. Ein grünes Blumenbrett vor dem Fenster faßt Myrten und Blumen mit dem feurigsten Blumenrot, wie es nur der Oberharzer in seinen Töpfen zu erzeugen versteht. Schwarze Schindeln bedecken das ganze Haus von der Dachspitze bis zu seinem Fuße und geben ihm das Aussehen eines Priesters im Talar. Im Fenster liegt ein glücklicher Mann und eine glückliche Frau. Mir ist als läse ich von der Hand eines Engels über diesem Hause geschrieben: Assekuriert.

Diese Worte glaubte ich neulich auch an einer Windmühle zu lesen, wo die Mühlknappen sich nach ihrer Art gar behaglich eingerichtet hatten. Sie liegt auf der sogenannten Bremerhöhe 2, ein klein wenig zur Seite gerade zwischen Zellerfeld und Klausthal, ungefähr hinter dem bekannten Gasthofe zur Krone. Die große schwere Mühle ragt mit mattem Flügelschlage über beide Städte empor, wird weithin gesehen und fällt auf Bildern von Klausthal mehr als eine andere Einzelheit in die Augen. Wer zur schönen Frühlingszeit von dem obern Ende der langhin sich dehnenden Stadt Klausthal nach Zellerfeld geht, schlägt gewiß den blumigen Weg über die ringsum mit herrlichen Wiesen bedeckte Bremerhöhe ein. Von der Mühle aus aber, die in diesem Wiesenparadiese liegt, überschaut der glückliche Mühlknappe, wenn er wie ein König auf seinem »Bocke« hoch oben vor der Mühle thront, nicht bloß die beiden Städte, sondern auch fast die ganze Hochebene des Oberharzes mit ihren dunkeln Tannenwaldungen und ihren weiten Wiesenflächen, aus deren Mitte bald eine Hütte mit den sie umgebenden schwarzglänzenden Schlacken, bald die für den Bergbau des Oberharzes unentbehrlichen Teiche daherschimmern. Steigt man die Treppe zur Mühle hinan, so findet man in ihr mitten in dieser schmucken Landschaft ein schmuckes Stückchen, wo die bunten Bilder, die an die Wand geklebt und meist mit Verschen versehen sind, sich stattlich ausnehmen. Einige der Bilder stellen echt volkstümliche Schwänke dar, [20] andere zeigen nur ein überströmendes, wenn auch weniger volkstümliches Behagen. Da sehen wir ein Roß, dem ein Schuster das Leder vom lebendigen Leibe stiehlt, während auch die Gesellen mit ihrem Peekedraht (Pechdraht) gleich zur Hand sind. Ich wische den Mühlstaub ab, der sich fingerdick auf das Bild gelagert hat, und lese:


Wir Schuster müssen jetzt spekulieren!

Will's drum mit diesem Gaul hier riskieren;

Ich schneid' ihm vom Leibe die Schäfte heraus,

Die Gesellen hier nähen die Stiefel daraus.

Mein Breitgeselle dahinter steht

Und flink und behende den Pechdraht dreht.

Brauch' nicht mehr beim Lederhändler zu borgen,

Trink' Kümmel und Weißbier fortan ohne Sorgen.


Bei meinem Verkehr mit den Bergleuten habe ich geschriebene Bücher in die Hände bekommen, in denen junge Leute eine eigene Art mehr moderner als volkstümlicher Trinksprüche verzeichnen. Die jungen Bergleute dichten dergleichen, wie sie mich versichert haben, abends wenn sie in Gesellschaft sind. Jedoch mag einiges auch aus der Litteratur entlehnt werden und einige allgemeiner bekannte Volkssprüche sind unter diese norddeutschen Schnadahüpfl mit aufgenommen. Von dieser letzteren Art ist folgendes:


Trinke Wein und erwirb's,

Trinke Wasser und verdirb:

Besser Wein getrunken und erworben

Als Wasser getrunken und verdorben.


Ein anderer Trinkspruch lautet:

Ein Kegel, der nicht steht,

Ein Zeiger, der nicht geht,

Ein Mädchen, das nicht lacht,

Sind alle drei veracht!


Ein anderer heißt:

Wir teilen, werter Schatz, dies volle Glas mit Wein,

Und dann soll unser Herz gleichfalls geteilet sein.


Ein anderer heißt:

Spann' aus dein' Arm und schließ' mich ein!

Mein Herz ist lauter wie der Wein


[21] Noch ein anderer lautet:

Jüngling, Mädchen und der Wein

Müssen stets beisammen sein,

Denn ein Jüngling ohne Wein

Und ein Mädchen ganz allein

Müssen trotzige Dinge sein.


Diese modernen Harzverslein sind zwar ganz artig: doch lassen sie wenig von dem oberharzischen Bergmannscharakter ahnen, der, eckig und tief gemütlich zugleich wie er ist, bis vor kurzem wenigstens selbst in den höchsten Schichten des Bergmannsstandes noch so scharf ausgeprägt war. Noch ist jener vornehme Bergbeamte unvergessen, der die Regeln der Interpunktion in den Satz zusammenfaßte: dem Bergmeister mache ich in jedem amtlichen Schreiben zwei Kommata, dem Bergamte eins, den Steigern aber gar keins. Als er sich hatte in den Ruhestand versetzen lassen, machte er geltend, daß er mißbräuchlich von dem für den Bergbau angeschafften Teer immer sein Teil für den eigenen Bedarf geliefert erhalten hatte und beanspruchte als Pensionär noch immer seinen Teer. Dieser alte Herr spielte zuweilen allein Whist und jedesmal fluchte er dann furchtbar dabei. Natürlich versagte er sich das Fluchen beim Kartenspiel auch dann nicht, wenn er, der ein ansehnliches Haus machte, eine Gesellschaft gab. Bei solcher Gelegenheit bedrohte er einst ohne allen Grund auf das furchtbarste einen Gast, von dem ihm gesagt worden war, daß er sich gelegentlich zum Spion aufwerfe und von dem er nun glaubte, daß der gefährliche Gast wohl gar imstande sei, ihn wegen der ungestempelten Karten anzuklagen, die er herumgab. Wenn er dergleichen im Schilde führe, das stellte er ihm in gewisse Aussicht, so werde er ihn niemals wieder zu einer Mahlzeit einladen. Bis auf solche kleine Schwächen war der alte Herr ein ganz vortrefflicher Mann, ein Hort des alten, gleichsam zunftmäßig vererbten, rein erfahrungsmäßigen Bergbetriebs, bei dem jeder Beamte sich als ein kleiner Fürst fühlte. Mit dem Erlöschen jener alten Bergpraxis sind allerdings auch die früher durch das Herkommen zu Rechten gewordenen Mißbräuche größtenteils verschwunden. Wo sie sich noch finden, ist es unter [22] den niedrigeren Schichten des Bergmannsstandes, und hier werden sie leicht entdeckt. Ein solcher niederer Bergbeamter war Halfeld, welcher in meisterhaften mundartlichen Gedichten, denen ich in ihrer Art kaum die Hebelschen vorziehen kann, das häusliche Leben der Bergleute und Vogelsteller des Oberharzes beschreibt. Nachdem er sich an einer Kasse vergriffen hatte, wurde er seiner Gedichte wegen begnadigt und erhielt die Erlaubnis zur Auswanderung nach Australien, wo er sich beim Bergbau noch zu einer ungleich bedeutenderen Stellung emporgeschwungen haben soll, als er sie in der Landschaft einnahm, in deren Kleinleben er sich so tief gemütlich eingelebt hatte. Vor einigen Wochen sprach mich an einem öffentlichen Orte ein Schichtmeister an, um mir einige Sagen mitzuteilen, die er aus dem Munde des Volkes vernommen hatte. Wenige Tage darauf hörte ich, daß es ihm gelungen sei, sich auf den Weg nach Amerika zu retten, weil ein Unterschleif, den er gemacht hatte, so gut als entdeckt war. Der Luxus seiner Frau hatte den gutmütigen, fast sentimentalen Mann verleitet. Wenige Tage früher, als das Unglück über ihn hereingebrochen, war er mitten in der Nacht aufgestanden und hatte sich ein Zeichen gesetzt, woran er erkennen wollte, ob Gottes Gnade ihn nochmals aus der Nacht seiner Verhältnisse erretten oder ihn darin umkommen lassen wolle. Wenn er ein Licht sähe ringsum, so sollte das auch für sein Leben ein gutes Vorzeichen sein. Lange starrte er in die Nacht hinaus und alles blieb dunkel. Endlich, endlich – pink, pink! – schlug in einer kleinen hölzernen Hütte ein Bergmann langsam Feuer an und setzte sein Grubenlicht in Brand, um dem Schachte zuzuwandern und einzufahren. Nicht mehr Glück bedeutete dies Lämpchen wohl dem unglücklichen Schichtmeister als das Gelingen der schimpflichen Flucht in eine ferne unbekannte Welt, hinweg von der trauten Vaterlandserde mit all ihrem edlen Erz und Gestein. Er verfolgte es erst mit den Augen, dann mit den Gedanken bis zu der Grube, wo es wieder versank. Hatte dem Elenden das Grubenlicht wohl nicht schon zu viel verheißen?

Auf andere Weise war ich genötigt, die Bekanntschaft des abgesetzten Schichtmeisters Grund zu machen, der mehr [23] wegen des Trotzes entlassen war, den er zeigte. Der Graukopf unterhält mich von nichts lieber wie von dem Aufwande, den er in seiner untergeordneten Stellung (nach der Einteilung der Bergbeamten in »Herren vom Leder« und in »Herren von der Feder« gehörte er sogar nur zu den Federfuchsern) gemacht hat und erinnert sich mit Wollust an die Zeiten, wo noch Frau und Töchter in seinem Hause sprangen, wenn er den Klingelzug rührte. Man sagt ihm nach, daß er einst in der üppigen und hier jeden Unfug begünstigenden westfälischen Zeit mit zwei Genossen einer Seiltänzerin nach dem benachbarten Lautenthal nachgezogen sei und dort selbst aus Übermut auf öffentlichem Markte auf dem Seile getanzt habe, aber heruntergefallen sei. Gegenwärtig lebt er als Greis von seiner Familie getrennt. Seine Tochter, die ihn pflegte, hat er geschlagen, sie verließ ihn und nun ist er so vereinsamt, daß er sich nicht entschließen kann, einen ihm fortwährend in seine Wohnung zulaufenden Hund eines ziemlich angesehenen Mannes wie dieser verlangt gleichfalls zu schlagen, damit er zu seinem Herrn zurückkehre; unter fortwährendem Zank mit dem wahren Besitzer behält und verpflegt er das fremde Tier als einzigen Gesellschafter in seinem Unglück.

Auch auf Ausflügen in die Umgegend wurden bereits mancherlei Bekanntschaften gemacht. So in dem äußersten Hause des Bergdorfes Buntenbock, vor dem nicht umsonst, freundlich einladend, eine Quitscher mit ihren roten, herbstlichen Vogelbeeren stand. Ein sauber gekleideter Frachtfuhrmann, deren es sehr viele giebt und den die Gicht so an den Lehnstuhl fesselte, daß er nur zuweilen noch wie ein Vogel durchs Zimmer hüpfen konnte, winkte den Vorübergehenden, der ein Gespräch durchs Fenster anknüpfen wollte, in die Stube hinein und begann, da er Altertümliches und Sagen nicht wußte, alsbald aus seinem Leben zu erzählen. Besonders anziehend war mir, wie er zuweilen das Weihnachtsfest auf seinen Reisen festlich beging. Die biderbe Wirtin in einem Fuhrmannsgasthofe ging nämlich alsdann mit allen Frachtfuhrleuten, die sich gerade bei ihr befanden, in die Christmette, danach teilte sie Haselnüsse an sie aus. In ihrem Gasthause um die Weihnachtszeit war mein Fuhrmann erkrankt [24] und der Fuhrherr, einer seiner nächsten Anverwandten, schickte dem kranken Manne zuletzt ein Reitpferd, damit er heimreiten könne. Das war seine letzte Reise auf der Welt und der schwere Lehnstuhl am Ofen ist jetzt der einzige Wagen und das einzige Pferd, das er noch kennt.

Auf einem Gange durch die Tannenwälder nach der Bergstadt Altenau kam aus einer Grube, die unweit Klausthal und Zellerfeld am Wege liegt, ein Bergmann hinter mir her, der nach Altenau heimkehrte, wo er gleich vielen der auf den klausthaler Gruben arbeitenden Bergleute zu Hause ist. Er erzählte einige schöne Märchen, doch kam auch er, wie es zu geschehen pflegt, von der Poesie bald auf die Wirklichkeit, von den Geistern auf die Menschen und von fremdem Geschick bald auf das eigene zu reden. Mein Altenauer war noch nicht lange verheiratet und stellte nicht ganz gemeine Betrachtungen über den Ehestand an, die sich in ihrer sinnigeren Weise mit der Lebensauffassung jenes Hagestolzes, der bei dem »Napolium« und bei den Westfälingern alles, nur nicht das Strumpfstricken erlernt hatte, wohl ergänzen konnten. »Wer von Fremden,« so sprach der Altenauer, »für seinen Bedarf Sorge tragen läßt, muß alles bezahlen und für jeden Gang sogleich die Hand silbern. Die Frau aber thut alles umsonst für den Mann, und wenn er nach saurer Arbeit müde Füße hat, steigt sie umsonst für ihn den steilsten Berg hinab. Das macht die Natur. Wer jedoch soviel hat, daß er leben kann, wenn er krank wird und wenn er dann stirbt noch für den Wärter etwas zurücklassen, lebt ledig am angenehmsten.« Mit diesem allzu soliden Schlusse stimmte mein Bergmann also dem Apostel bei, welcher sagt: Wer ein Weib nimmt, thut wohl; wer keins nimmt, thut besser.

Unter den Bekanntschaften im Volke, die ich an meinem Wohnorte selbst gemacht habe, steht die Frau C. obenan. Auch sie ist durch die Gicht an ihr warmes Stübchen gefesselt. Um das Sopha herum, auf dem sie sich meist in einer bequemen Kleidung ausstreckt, sitzen fast vom frühen Morgen bis auf den späten Abend die Tochter der Frau C., ein 16jähriges Mädchen mit schönen dunkeln Augen und [25] kohlschwarzen Haaren; ein steinalter aber sehr redseliger Bergmann, dem es bei der Frau C. besser als in seiner Wohnung bei seinem Schwiegersohn, einem mürrischen Schuhmacher, gefällt und der trotz seines hohen Alters und ihrer Gicht vom Morgen früh bis abends spät mit der Frau C. scherzt und lacht; sowie auf einer Fußbank vor dem Sopha die vierjährige Nichte der Frau C., deren Unarten ihr Veranlassung zu geben pflegen, moralische Betrachtungen über den Lebenswandel ihrer verstorbenen Schwester anzustellen. Diese war ein stattliches und schönes Mädchen und lockte einen wohlhabenden Bauernsohn aus der Ebene an sich, die mit ihren lachenden Kornfeldern das Gebirge umgiebt. Als die Kleine geboren war, die jetzt auf der Fußbank am Sopha zu sitzen pflegt, bot ihr die Mutter des jungen Bauern unter ihrem Dache ein Obdach, wohl in der Absicht sie zu prüfen, ob sie es wert sei, ihre Vollerbin und Nachfolgerin in dem stattlichen Bauernhause zu werden. Aber zum Unglück zeigte sich das Mädchen aus der Bergstadt als unverträglich und nahm Zurechtweisungen von der wohlmeinenden Bauerfrau mit frechem, widerspänstigem und unkindlichem Sinne auf. Als würde es ihr in dem Bauernhause zu wohl und als müsse sie durchaus ihre Hoffnungen und ihr Glück wieder verscherzen, legte sie einst ihre städtische Kleidung ab und den erborgten rotwollenen Rock eines Bauernmädchens an und schlich in der Dämmerung zum Pfarrer, um sich bei ihm für eine Magd auszugeben und die Bäuerin bei ihm zu verklatschen. Weil der Pfarrer sich zu dieser begab, um ihr einen tüchtigen Sermon zu halten, so wurde der Betrug leicht entdeckt. Die Fremde wurde aus dem behaglichen Bauernhause verwiesen und starb bei der Frau C., von der ich diese Geschichte mehr als einmal erzählen hörte.

Von der Stube der Frau C. aus sah ich, wie der Hirt am Tage, wo der erste Schnee fiel, auf der breiten aber allezeit öden Straße, an der das Haus liegt, durch den tiefen Schnee von Haus zu Haus ging und die Kuhglocken einsammelte. So wird nun alles eingesammelt, in die Scheuern geworfen und aufgespart, da der Winter kommt. Erst fingen sie zu Anfang des Herbstes die Waldvöglein auf dem Vogelherde, [26] die uns im Sommer ihre süßen Liedlein gesungen hatten. Nun sammeln sie gar, wie reife Beeren, die Kuhglöcklein ein, die uns im Sommer mit ihrem Geläut in den Tannenwaldungen erfreut haben und die in der großen Waldkapelle der Natur zum Gesange der Vögel stimmten wie Orgelton und Glockenklang zum Gesange der Menschen. Sie werden aber im Winter nur ausgebessert, jeder schrille Ton, den eine Glocke im Walde angenommen hat, wird geläutert und die Harmonie zwischen den einzelnen Glocken wieder hergestellt. Die Vöglein aber, die der Vogelsteller nicht weggefangen hat, ziehen miteinander in ferne Lande und erliegen zum Teil den Anstrengungen der Reise, oder sie bleiben daheim in ihren Wäldern und die kranken und schwachen unter ihnen erliegen dem Sturm, und Schnee und Regen und Hinsterben im Walde läutert die Vögelschar. Und wenn dann im Frühling draußen im Walde alles sein Liedlein zu Ehren des Schöpfers wieder anstimmt, dann ist alles, alles reiner gestimmt als es war, da es im Herbste auseinander ging, gerade wie auch das Gras im Frühling frischer und grüner ist als später die Grummet. Für jetzt ist jedes Liedlein in der Natur verstummt. Doch nein! Der Postillon, der mit vier Pferden langsam Schritt vor Schritt unter meinem Fenster vorbei den Berg hinauffährt nach der steilen Höhe zu, die sich zwischen Zellerfeld und Goslar auftürmt, bläst die lustigsten Weisen, gleich als wollte er den Winter begrüßen und die schweren Flocken, die um ihn herfliegen und rasch die großen Kastanienblätter vertilgen und überdecken, die sich bisher, durch den Wind um die Kanten unsers Hauses getrieben, um dasselbe gelagert hatten.


Bergdorf Lerbach, November 1851.


Wenn ich von Zellerfeld aus Ausflüge zum Sagensammeln in die Umgegend machte, so wurde am wenigsten auch der Ort vergessen, dessen Name über meinem heutigen Tagebuchblatte steht und in dem ich jetzt wohne. Von Zellerfeld und Klausthal führt die göttinger Heerstraße in die tiefe Bergschlucht hinein, in der es lang sich hinzieht. Die nährenden Kühe, deren Eigentümer Wald- und Hüttenarbeit [27] und Eisensteinsbergbau treiben, müssen mühsam über dem Dorfe vor dem Waldrande klettern, der, als ich zuerst nur besuchsweise nach Lerbach kam, schon ganz herbstlich gefärbt war. Blickt man auf der gewundenen Heerstraße von oben nach dem Dorfe zu hinab, so ist es, als ob der herrliche Buchenwald uns eine unendliche Hoheit und Majestät entgegentrüge und als sehe man über seinen Spitzen eine ungeheure Pracht aus dem Thale den Berg hinaufwallen. Hier oben auf der Heerstraße war es, wo ich, mit Art und Wesen des Volkes noch nicht so bekannt als jetzt, bei meinem ersten Hiersein einen Wegearbeiter, der unter den prächtigen Buchen beschäftigt war, fragte, ob es hier Sagen gäbe. Er antwortete: »Sagen giebt es wohl. Sie hängen im Querkruge an der Wand.« Wie leicht zu merken war, hatte der Alte gemeint, daß ich Sägen kaufen wollte. Indessen da ich ohnehin mich erfrischen mußte, so fragte ich in dem Querkruge nach, der eigentlich der Gasthof zum »Glückauf!« heißt, aber weit und breit nur unter dem Namen »Querkrug« bekannt ist, weil er sich quer vor die Heerstraße drängt mit einem breiten, von Futterkrippen besetzten Platze. Auf diesem Platze steht in der Regel der auf dem ganzen Oberharze wohlbekannte Querkrüger, der alte Kratsch, ein früherer Köhlermeister. Es ist leicht begreiflich, daß ihm und seinem Gasthause nicht leicht auszuweichen ist, zumal da er es an Spott für die Fuhrleute nicht fehlen läßt, deren Pferde eigenmächtig sich vor die tragbaren Futterkrippen auf dem Platz vor dem Hause drängen und nur mit der Peitsche weitergetrieben werden können. Auch ich bin diesem Hause nicht ausgewichen und habe jetzt in seinem Oberstocke meine Wohnung aufgeschlagen: denn ich fand Sagen hier vollauf, nicht allein die blanken »Sagen«, die in der Wirtsstube an der Wand hängen, sondern auch solche, die mir das Volk von allen Seiten getragen bringt. Denn der Querkrug ist wie ein Bienenkorb, jeder bringt dahin was er kann und hat, nicht allein aus dem Dorfe, sondern auch aus der Fremde. Der Verkehr in jeder Hinsicht, auch für mich, ist hier leicht und rasch, weil jeder hier sich zu Hause fühlt und jeder im Querkruge gern aus- und eingeht.

[28] Es war an dem Nachmittage eines rechten Schneetages, als Bertram, der beste Erzähler des Dorfes, den ich gleich beim ersten Hiersein unterwegs (er ist gleichfalls ein Wegearbeiter) getroffen hatte und der sich um des geringen Verdienstes willen sogleich zu meinem Faktotum für die Zeit des lerbacher Aufenthaltes angeboten hatte, mich in Begleitung seines 12jährigen Sohnes mit einem Handschlitten abholte, der mein mitgebrachtes Gepäck nach Lerbach bringen sollte. So durchzogen wir mit dem Schlitten die lange Stadt Zellerfeld. Noch hatten wir die Stadt nicht lange im Rücken, als es dunkel wurde. Doch kam auch der Mond bald über dem dunkeln Tannenwäldchen und dem Prinzenteich hervor und beleuchtete meinen Märchenerzähler, seinen Knaben, den Schlitten mit meiner Reisetasche und dem sonstigen Gepäck, und mich, der ich nachdenklich dahinter herging. Die Reisetasche hatte mir meine gute Mutter wenige Monate vor ihrem Tode auf einem stillen norddeutschen Pfarrhofe gestickt. Ihre Augen waren dabei vom Weinen fast erblindet: denn sie wußte ihren Sohn in Wien und hörte aus den Zeitungen, wie diese Stadt, in der er sich befand, von Truppen umzogen, belagert und beschossen wurde. Alle mütterliche Liebe legte sie in die kunstvolle Stickerei; die Wandertasche für ihren Sohn blieb das schönste und kunstvollste Werk, was ihre Hand auf Erden zurückgelassen hat. Und wie wehmütig und erheiternd zugleich sie in ihrer Trauer die Muster gewählt hat! Auf der einen Seite ein ehrwürdiger alter Harfner, an den ein blühendes junges Mädchen, wie es scheint seine Tochter, sich anschließt; auf der anderen Seite ein schlichtes Landmädchen. Nach dem Tode der Mutter ward berichtet, wie sie in Gedanken während der Arbeit schon manchen Boten und Führer mit ihrer kunstvollen Stickerei auf dem Rücken über ihre heimatlichen Harzberge festen Schrittes dahinziehen sah. Wie hätte ich nicht auf jenem Gange hinter meinem Märchenerzähler und seinem Sohne her daran gedenken sollen? Mein ganzes Leben, wie ich es bisher durchlebte, zog an mir vorüber. Ist es auch recht und lohnt es auch wohl der Mühe, fragte ich mich, daß du so der »Weisheit auf der Gasse« nachziehst? Weißt du auch wohl die Herzen nicht nur aufzuschließen, [29] sondern auch wahrhaft zu gewinnen, mit denen du verkehrst? Wenn du in ihre Kreise eindringst, thust du es als ein gedankenloser Sammler, der kein Gastgeschenk zurückläßt, oder gedenkst du auch wo du kannst an ihr Heil, steuerst verderblichen Meinungen und rätst zur Einfachheit und zur Treue? Sind die Gänge, die du, jetzt fast ein Dreißiger, gehst, auch wohl deinem Volke nicht mehr ganz gleichgiltig und denkst du, o denkst du auch wohl immer »an des Vaterlands Größe, des Vaterlandes Glück?«

Hier wurde ich in meinen Betrachtungen unterbrochen: denn anstatt die Heerstraße weiter zu verfolgen, die in Schneckenwindungen nach dem Dorfe führt, bog mein Märchenerzähler mit dem Schlitten zur Seite ab auf einen Fußweg, der über Abgründen fast senkrecht ins Thal führt. Ich machte Einwendungen gegen diesen Weg, indem ich glaubte, mein Gepäck würde bei der Dunkelheit von dem Schlitten alsbald in eine unzugängliche Schlucht fliegen. Aber mein Märchenerzähler beruhigte mich, weil er mit seinem Knaben des Weges allzu gewohnt sei. Am Wege flogen unheimlich schnarrend und kreischend in der Dunkelheit große Scharen von Harzvögeln aus den Tannenzweigen auf, die uns dann mit Schnee überschütteten. Wie wir aus dem Dickicht heraustraten, glänzten in langer, wegen der Windungen des Thales unabsehbarer Reihe die Lichter des Bergdorfes. Zauberischer war mir niemals der Anblick von Leipzig vorgekommen, wenn man ihm des abends auf der Eisenbahn naht und zuerst seine Lichter von der Seite glänzen sieht und zauberischer niemals Wien die Kaiserstadt, wenn man auf ihr erleuchtetes Glacis tritt. So zog ich mit meinem Märchenerzähler zur Abendzeit unter die Köhler des funkelnden Bergdorfes ein. O Märchen meines Lebens!


Bergdorf Lerbach, Dezember 1851.


Schon über einen Monat wohne ich nun in der Schenke dieses großen Walddorfes. Meine Sammlungen der Sagen, Märchen und Lieder des Oberharzes stehen jetzt so in ihrer Blüte, daß zuweilen der Saal vor meiner Stube halb voll von Menschen ist, die sich zum Erzählen drängen und warten, [30] bis diejenigen, die ihnen zuvorgekommen sind, abtreten. Sie sind das Warten vor meinem Zimmer gewohnt: denn es wird auf demselben, wie sie sagen, von Zeit zu Zeit »eine Art Geld aufgenommen«, ich glaube es ist ein Zins für die Ackerstreifchen, die sich hoch und bunt oben an den steilen Berglehnen hinziehen, wo diese nach dem Walde zu sich etwas abrunden. Eines abends saß ich einmal allein, da trat, mit den Bauernmützen noch auf dem Kopfe und nachdem sie lange schon vor der Thüre geflüstert hatten, eine Schar von Bauernknaben ins Zimmer. Sie waren mir sämtlich noch ganz unbekannt und führten sich nur mit den Worten ein: »Willt wat vertellen.« Ein Waldarbeiter, der sich mir nicht nennt, hat auch schon mit der Überschrift »Bitti verschwiegen« Klagen über die Lage der Waldarbeiter bei mir angebracht. Er hat die Aufschrift seines Briefes gemacht: »An den Herren Litho-Grafen (Lithographen, Litteraten) N.N.« Ein anderer hat das Gesuch an mich gerichtet, ich möchte in meine Harzsagen doch auch ein Bild aufnehmen, welches einen allzu strengen Forstbeamten darstelle, wie er hinter seinen Waldarbeitern hergeht und ihnen hinten aufhaut. Solche Hindeutungen auf das wirkliche Leben sind für mich vielleicht notwendig zu einer Zeit, wo mich recht eigentlich nichts als die Poesie des Volkslebens beschäftigt. Sollte man's aber glauben, daß neben dieser Poesie nicht allein das soziale Elend, sondern auch eine Art Bewußtsein darüber inmitten all dieser Naturschönheiten bestehen können?

Welch prächtige Aussicht bietet sich sogleich von meinen Fenstern aus dem Auge dar! Aufwärts und abwärts die enge Heerstraße sehe ich zu beiden Seiten hinter den Häusern, die eine einzige lange Reihe bilden, nichts als die majestätisch-thronenden Buchenwaldungen. Nicht minder als der Blick zu diesen hinauf erfreut mich auch in seiner Art der Blick auf die Heerstraße. Wie zieht dort den von Osterode herkommenden Wagen das Pferd bergan mit Majestät und wie stattlich tritt überhaupt so ein Roß auf die Landstraße hinaus! An den Kumpen der Frachtpferde hängen rote wollene Tücher, das ist so die Mode. So treten die Pferde geschmückt einher auf der Landstraße wie Jungfrauen, die zur Hochzeit [31] gehen und blicken auf die Ackerpferde, die in kotigen Kartoffelfeldern einherschreiten, mit Verachtung herab. Und wie kunstvoll ist ein Roß auf der Landstraße! Wie klug und stark ist ein Harzpferd vor dem zweiräderigen Kohlenwagen! Dort jener stämmige Bursche lenkt stehend ein Roß ohne Zügel, als thät' ers mit seinen Gedanken. Und wie belebt wird die Landstraße durch den Wechsel der Witterung! Wir haben deshalb auch hier im Dorfe selbst einen weisen alten Köhlermeister, eine hochstämmige Figur mit einem lahmen Fuße als Wegeaufseher. Als er neulich, wie wir so ab und zu den einen Tag Schnee und den andern Tag Regen hatten, mit seiner Hacke in weißem Kittel draußen frühmorgens durch den Nebel hinkte und ich ihm aus dem Fenster zurief, warum er sich heute gar so emsig bemühe, antwortete er mir: »Wegen des Advent, den wir gestern hatten und wo wir in der Kirche gesungen haben:


Macht eure Straße richtig,

Was krumm ist machet grad.«


Der Ankömmling, an den unser Wegearbeiter bei diesem Liede gedacht hat, ist der Winter. Jetzt ist er im vollen Zuge und die Schlittenfahrt gewährt einen prächtigen Anblick. Es ist als flögen die Schlitten der Honoratioren des Oberharzes wie die Vögel von Klausthal bis Osterode herunter durch unser Dorf; ihr Schellengeläute ist der Vogelgesang, den wir im Winter in unseren Tannenwäldern vernehmen. Aber auch unzählige stumme Schlitten gehen mit Holz beladen durch unser Thal; sie werden von Menschen aus dem Orte gezogen und geschoben. Oft ist eine ganze tief vermummte Familie um einen solchen Schlitten beschäftigt; dort keucht ein Alter vor ihm her und hinter dem Schlitten ihres Vaters geht wie ein Hirsch ein junges Mädchen, welches daran schiebt. Die Landschaft und das Dorf selbst mit seinen Häusern gewährt nun einen wahrhaft zauberischen Anblick. Auf unserm kleinen Hofe hat alles was dort liegt und steht seinen Schneehut auf, besonders sieht der hohe Holzstoß, der dort aufgepflanzt ist, wie ein Mann aus, der in einem weißen Hute eine Reise machen will. [32] Schuh hoch liegt der Schnee auf dem Wagen, auf den Rädern, auf der Stange und so spannt der Knecht an auf dem Hofe und setzt mit dem Braunen, der selbst von dem Schneewetter sogleich einen Hut bekommt, wie er aus dem Stalle gezogen wird, den eingeschneiten Wagen in Bewegung. Eine schöne Frau auf der Straße muß sich mitten in den Schnee knieen und ihr Schuhband zubinden. Eine andere Frau ist im Begriff auszugleiten, hält sich jedoch an dem Schnee fest. Ein daherbrausendes Postpferd stürzt mitten im tiefen Schnee hin; Schnee und Dampf, den es ausdünstet, wirbeln in Wolken um das prächtige Tier her. Noch dicker als unten im Thale liegt der Schnee oben im Gebirge auf den Hecken. Er lastet in den Tannenzweigen, ja auf jedem einzelnen Tannenzacken, und glänzt im Grün der Tannennadeln. Überhaupt erhalten die Laubmischungen aller Art, die sich noch an den Bäumen finden, da die Buchen ihr Laub erst sehr spät abwerfen, durch den Schnee einen eigentümlichen Beisatz. Geht man dort oben durch die Tannenwaldungen, so ist es, als wandelte man unter lauter Krystallen. Bunte Bilder jagen sich da oben jetzt vor den Augen des Beschauers. Hier jene ebenen Reihen kleiner Tannen sehen aus wie die Tellerbretter und ihre weiß bereiften Tannenkronen wie die Teller, die daran lehnen. Dort jene anderen Tannen aber sehen aus wie Mühlknappen, welche Mehl zu Mühle tragen. Gehe ich aber weiter aufwärts, nach Klausthal zu, und sehe ganz oben auf der Gebirgshöhe die Tannen im Schnee, so ist es mir, als würde mir trübselig eine Herde von Schafen entgegengetrieben. Weiter unten rinnt das lerbacher Wasser, immer lebendig, selbst unter der allgemeinen Erstarrung der Natur, so klug zwischen dem Adventschnee zu den Menschen herunter, die sein bedürfen. Noch strahlender und schöner als in dem gewöhnlichen Winterkleide erscheint die ganze Gegend dort, wenn einmal ein leichtes Tauwetter eintritt. Alsdann sehen die etwas abgetauten Tannen wie blitzende Leuchter und die Laubholzzweige wie Lilienstengel aus.

Die gewöhnlichen Spinnstuben sind längst wieder eröffnet. Schon in den ersten Tagen meines Hierseins wohnte ich einer solchen bei, die bei der Haushälterin des Wirtes in der Gaststube [33] des Wirtshauses abgehalten wurde, in welchem ich wohne. Fünf junge Mädchen bogen und schmiegten sich, die Schöße gegeneinander gekehrt, in dem Kreise, worin sie saßen, gegeneinander, wenn sie an den Fäden leckten und ein patriarchalischer Bierkrug ging zuweilen von Mund zu Mund. Junge Burschen waren dabei weniger zugegen, als dies sonst gewöhnlich ist. Unter den Dirnen befand sich eine äußerst behagliche, ein kleines dickes Mädchen mit sehr angenehmen Zügen. Unbeweglich saß sie auf ihrem Platze den ganzen Abend, ohne jemals im Spinnen einzuhalten. Nur den Kopf bewegte sie. Sie sprach nichts, sang aber zuweilen. Um den Hals trug sie ein Tuch wie ein Kranz. Zuweilen leckte sie mit dem Finger, der den Faden drehte, an die roten vollen Lippen und strich dann über die schönen Flechten, um sich die Hand abzuwischen. Sie schien selbst da noch auf ihrem Stuhle sitzen bleiben zu wollen, als die anderen (es hatten sich später noch einige Burschen eingefunden) aufstanden und in das trautere Hinterstübchen gingen. Es war an jenem Abende leer: denn der Bauer oder Wirt war krank und lag, von vielen Lichtern umgeben, auf einer der beiden großen Stuben im Hause. Währenddes warfen die jungen Leute hinten in der Stube, Burschen und Mädchen, die Karten neugierig auf den altfränkischen zinnernen Tellern, welche für die Spielmarken bestimmt sind, hin und her, daß sie klapperten. Endlich gingen alle wieder in die Vorderstube und verweilten dort unter Gespräch und Gesang bis nach zehn Uhr. Während diese Gesellschaft den ganzen Abend in der Mitte der Stube ihr Wesen trieb, stützten sich mit den Elnbogen sieben Fremde in blauen Kitteln auf den langen, braun angestrichenen Tisch an der Seite des Zimmers. So schliefen sie den ganzen Abend und als die Gesellschaft auseinander gegangen war, wurden sie geweckt, um sich auf ihre nun in der Stube selbst bereitete Streu zu legen.

Buntere Szenen aus dem Volksleben möchten nicht leicht auf einem so engen Raume wechseln, als dies in der engen lerbacher Wirtsstube der Fall ist. Kehrt doch sogar der Harzrüpel hier ein, ein großer starkknochiger Bursche, ein verschmitzter Stummer, der einen Orgeldreher über den ganzen [34] Oberharz begleitet und auf einem über dem Boden ausgebreiteten Tuche überall die schauerlichsten Purzelbäume schlägt. Der originelle Wirt war jetzt wieder gesund, ging mürrisch in der Stube herum und schnitt dem Harzrüpel Gesichter, hatte aber doch an ihm eine heimliche Freude. Wenn er in der Stube an ihm vorbei ging und ihn berührte, so schlug der alte Wirt mit den Füßen aus und wieherte wie ein Roß. Endlich setzte sich der Harzrüpel mit den Burschen zum Spiel. Er versteht einige Kartenkunststücke und wechselte oft mit den Karten, um nicht durchschaut zu werden, warf sie auch nicht selten vom Tische herunter, wenn Einsprache gegen die Art seines Spiels geschah. Auch ein älterer Mann von schmächtigem kränklichen Aussehen, der ein leidenschaftlicher Spieler ist, hatte sich mit dem Burschen zum Kartenspiele niedergesetzt. Während der Stumme unartikulierte Laute ausstieß, um seine Betrügereien zu beschönigen, rief der Alte leidenschaftlich aufgeregt einige wie es schien an Spielbanken aufgeschnappte Worte dazwischen, die dem Harzrüpel, der keineswegs taub war, imponieren sollten. Namentlich schrie er immerfort: »Duppelieren! Banco!« Hinter ihm stand mit einer langen Pfeife zuschauend, ohne am Spiele teilzunehmen, sein Sohn, ein ordentlicher Bursche, der durch Arbeit auf der Hütte, welche seinem von der Gicht geplagten Vater schon längst zu schwer wurde, dessen Familie fast allein ernähren mußte. Als der Vater seine paar Pfennige verspielt hatte, wandte er sich nach seinem Sohne um und borgte sich von ihm mehr Geld. »Vater, laßt doch euer Spielen!« sagte dieser traurig und gab ihm das Geld. Der Alte schien die Ermahnung seines Sohnes zu überhören, wenigstens rief er um so eifriger sein »Duppelieren! Banco!« Der gutmütige Sohn aber sah ihm noch lange zu.

Zu den Gästen, die von Zeit zu Zeit immer wieder in unserem Gasthof einkehren, gehört auch ein langer »koulanter« Schweinehändler oder Schweinetreiber mit seinem dicken unbehülflichen Knechte. Der Herr selbst ist ein Musiknarr und bestellt, wenn er hier ist, oft junge Burschen, welche, wie es hier üblich ist, die Zither spielen und gegen die er sich sehr freigebig zeigt. Der Schweinetreiber im blauen Kittel wird [35] bei solchen Gelegenheiten sehr aufgeweckt. Er singt und tanzt dann zur Zither mit seinem unbehilflichen Knecht, der nicht singen und nicht springen kann, beides wenigstens nicht um ein Haar besser als eins seiner Tiere. Der Knecht muß auch allein tanzen und sollte ihn sein Herr, nach dessen Äußerung er nichts versteht als Essen und Trinken, mit der Peitsche dazu treiben. Wehmütig sucht der Knecht dann selbst während des Tanzens mit den Füßen den Takt zur Musik zu schlagen. Auch der Herr versucht zuweilen die an der Wand hängende Zither zu spielen, besonders wenn sein Knecht tanzt. Auch den Knecht meines Wirtes, der jodeln, oder wie man es hier nennt »dudeln« kann, läßt er hereinkommen, damit er ihm etwas vordudelt. Er versucht dann auch selbst zu dudeln, kann aber, wenn er in die hohen Töne kommt, »mit dem Dudel da bowen rut,« wie er sagt, nicht zurechtkommen.

Eine Erscheinung ganz ähnlicher Art, jedoch schon ein älterer Mann, ist der Gumboldskerl. Seltener als der Schweinetreiber, jedoch immer des Jahres wohl einige male, wie ich höre, kehrt er in unserem Wirtshause ein. Der Gumboldskerl ist ein Thüringer und treibt, wie andere seiner Landsleute, einen Handel mit Arzneimitteln, die er aus den würzigen Kräutern seiner Heimat bereitet und mit einem starken Zusatz von Spiritus versetzt, damit sie ein langes Aufbewahren verstatten, in viereckigen Flaschen zum Verkaufe herumträgt. Da dieser in seiner Familie fortgeerbte Handel nicht mehr erlaubt ist, so hieß es schon in den Pässen seines Vaters und Großvaters, daß sie alljährlich mehrere male auf Verwandtenbesuch aus Thüringen bis Goslar über den Harz hinwegreisten. Wirklich ist jetzt ein Sohn des Gumboldskerles bei einem Buchbinder zu Goslar in der Lehre. In unserem Wirtshause fühlt der Alte sich gar heimisch. Auch er fängt hier in der Wirtsstube vor Behagen und vor Freude an zu tanzen; »wenn ein Tanzmeister,« bemerkt er, »mir zwei bis drei Touren sagt, so springe ich über den Ofen weg.« Er ruft entzückt dazwischen gleichsam zur Erläuterung: »Mein Vater und mein Großvater sind ja hier schon gegangen!« »Darum meint er,« wirft der alte Wirt zur Bestätigung [36] dazwischen, »er sei nun hier zu Hause. Er muß sich aber nur anständig betragen.« Mit dieser guten Ermahnung ist es aber wenig Ernst, wiewohl auch sonst der Wirt gegen den Gumboldskerl einen ganz väterlichen Ton annimmt. Schon den ganzen Nachmittag hat er ihm einige volkstümliche Fragen zur Beantwortung aufgegeben und dieser ist sichtlich beschämt, daß er nicht weiß, wo Paulus begraben liegt und wie die Mutter von Johannes geheißen. Von der Beantwortung dieser Fragen sucht der Gumboldskerl sich dadurch loszumachen, daß er von seinen Seitenverwandten erzählt, die sehr vornehm gewesen seien. Der Stolz der Familie ist ein Nürnberger Rentamtmann, ein Mann wie Milch und Blut, wie der Gumboldskerl versichert, der doch zuletzt an einer Fistel gestorben sei. Der Vater des Rentamtmanns habe keine »Füchse« gehabt, dennoch habe der Sohn studieren müssen, um etwas Rechtes aus ihm zu machen, weil alle Welt sich über ihn gefreut habe. Im Schreiben sei er musterhaft gewesen, sagt der Gumboldskerl, und dabei zeigt er seine flache Hand. Als der Rentamtmann sich mit einer Verwandten des Gumboldskerles verlobte, war eine große Gesellschaft zusammengebeten, zu welcher der Rentamtmann großartig am Arme des Landrichters erschien. Im Nebenzimmer stand ein Fortepiano für fünfzig Louisdor und der Rentamtmann spielte auf demselben vierhändig mit seiner Schönen. Danach setzte er sich mit ihr aufs Sopha und fragte sie: »Wollen Sie mich?« Der Gumboldskerl war tief gerührt an dieser Stelle. Er gäbe, so schloß er bewegt, gleich einen blanken Thaler darum, wenn der Rentamtmann noch einmal mit seinen beiden Apfelschimmeln von Nürnberg angefahren käme.

Auch der Gumboldskerl ist ein Musikliebhaber. Ehe er zu singen beginnt, fingert er lange, als mäße er etwas; es ist der Dreivierteltakt. Seine Kehle läßt schreckliche Töne hören und rasch dahinter her fragt er die Gesellschaft: »Was ist das für ein Ton?« Gott mag es wissen! Sein Lieblingslied ist: »Eingehüllt in feierliches Düster«, wobei er das Düster mit seiner Stimme so anschaulich macht, daß sie sich endlich bis zum gänzlichen Verstummen in die Molltonarten [37] verliert (»es geht aber in die Molltonarten hinein,« bemerkt er selbst) und die Zuhörer von Gespensterfurcht ergriffen werden. Nachdem diese feierliche Szene vorüber ist, ergreift der Gumboldskerl den alten Wirt am Arme und tanzt mit ihm. »Sein Vater und sein Großvater sind ja hier schon gegangen!« ruft der alte Wirt, der den Gumboldskerl im Stillen bewundert, ganz selig während des Tanzens den Umstehenden zu.

Inzwischen haben beide Alte bei alledem noch Zeit gefunden tüchtig zu zechen. Unter dem Tanzen versinkt der Gumboldskerl plötzlich in tiefes Nachdenken und läßt zuerst mit der einen, dann auch mit der anderen Hand den alten Wirt los, um seinen blauen Staubmantel und den weiten Rock, welchen er darunter trägt, zu befühlen. Die Anwesenden stoßen einander leise an und beobachten schadenfroh seine Verlegenheit und Zerstreutheit. Er zieht sich jetzt sinnend in das Hinterstübchen zurück und dahin folgen ihm leise alle Anwesenden, auch der Wirt und einige junge Burschen, die sich wie gewöhnlich an jedem Abende, ohne gerade immer etwas zu verzehren, eingefunden haben. Der Gumboldskerl, den alle unausgesetzt beobachten, setzt sich an den kleinen Spieltisch, greift in seinen Staubmantel und zieht eine Medizinflasche daraus hervor, die in Spiritus eingemachte Kaiserpillen enthält. Er greift wieder in eine der vielen Taschen seines Staubmantels und zieht eine andere Medizinflasche heraus. Nachgerade stehen zwan zig Medizinflaschen wohlerhalten auf dem Spieltische. Danach griff der Gumboldskerl, immer tiefer in Gedanken versunken, auch noch in die Taschen seines Rockes und zog noch mehr wohlerhaltene Medizinflaschen daraus hervor als aus dem Staubmantel. Sie hatten zuletzt auf dem Spieltische nicht mehr Raum, so daß er die letzten, ohne sich von seinem Sitze zu erheben, im Fenster aufstellte. Als alle Taschen ausgeleert und alle Flaschen wohlerhalten gefunden waren, hob der Gumboldskerl den auf die Brust herabgesunkenen Kopf und atmete tief auf. Alle Anwesenden aber erhoben ein schallendes Gelächter. Sie wußten, daß es dem Gumboldskerl seit Jahren verboten ist, mit einem sogenannten Reff auf dem Rücken[38] umherzuziehen und daß er seitdem seine Medizinflaschen in den weiten Taschen seiner Kleidungsstücke trägt. Mit diesen Medizinflaschen, von denen sein Rock so steif ist wie ein Stück Holz, hatte der Gumboldskerl seine leichtfüßigen Tänze aufgeführt, ohne sie zu zerbrechen.

Auf den Schrecken, der den Gumboldskerl beim Tanzen ergriffen hatte, als ihm die Gläser zuerst wieder einfielen, die er in seinen weiten Kleidungsstücken trug, wurde jetzt nur um so eifriger getrunken. Hatte er früher schon einen kleinen Spitz gehabt, so bekam er jetzt einen großen. Während er aber wieder mit dem alten Wirte aus einem Glase Schnaps trank, verfiel er von neuem in tiefes Nachdenken. Er zählte die Häupter seiner Lieben, der Medizinflaschen, die auf dem Tische und im Fenster standen, und siehe – es fehlte ein teures Haupt und zwar das kostbarste von allen, nämlich die Flasche mit Augsburger Lebensessenz, die er wohl schwerlich unter einem Gulden verkaufte. Er zählte seine Flaschen noch zehn mal und sie war nicht da. Nun hob er jede Flasche auf, ob sich die fehlende darunter verkrochen hätte, und da dies nicht der Fall war, so durchsuchte er nach ihr seine Kleidungsstücke und griff endlich sogar in beide Stiefel, ob sie vielleicht in diese hinabgeschurrt sei. Aber selbst in den Stiefeln steckte die Augsburger Lebensessenz nicht. Mit einem verzweiflungsvollen Blicke richtete der zusammengekrümmte Gumboldskerl sich wieder auf. Als er sich jetzt umdrehte, stand die Flasche dicht hinter ihm; einer der Burschen hatte sie zum Ergötzen der Anwesenden weggenommen, ohne daß er es bemerkte und ebenso verstohlen wieder neben ihn gestellt.

Jubelnd streckte der Gumboldskerl die Hand nach der teuern Augsburger Lebensessenz aus und schlug an der Tischecke den Hals mit dem versiegelten Pfropfen davon ab. Er lud den alten Wirt zu der kostbaren Flüssigkeit ein und gespannt sahen die Burschen zu, als die beiden Alten nacheinander das zerbrochene Glas mit der Augsburger Lebensessenz an den Mund setzten und Gesichter schnitten, als ob Götterkraft ihre Adern wie Feuer durchzöge. »Ihre Gesundheit, Herr Wirt!« rief der Gumboldskerl. »Ich wollte, daß [39] er noch hundert Jahre hier ginge,« sagte der Wirt auf den Gumboldskerl deutend, zu den jungen Burschen, indem er das Glas mit der Lebensessenz leer trank; »sein Vater und sein Großvater sind ja hier schon gegangen!«

Der Gumboldskerl hatte sich an den Scherben den Mund blutig gerissen. Trotzdem aber schwelgte er in den seligsten Empfindungen. Er griff in die einzige Tasche an seinem Leibe, die er bis dahin nicht ausgeleert hatte. Mit vollen Händen holte er das Geld heraus, das er bei seinem mühsamen und heimlichen Handel verdient hatte und warf es auf den Fußboden bis kein Heller mehr in der Tasche war. Der Wirt, den die Augsburger Lebensessenz nicht ganz so bewältigt hatte als ihn, stand mit Würde vom Stuhle auf, stellte sich, ohne das Hinterstübchen ganz zu verlassen, in die Thüre und rief der Magd gleichmütig und ernsthaft, als käme dergleichen in seinem Gasthofe täglich vor, zu, daß sie mit einem hellen Lichte hereinkommen und das Geld vom Boden auflesen solle, damit er es in dem unbehilflichen Schreibtische, der in dem Hinterstübchen steht, verschließen könne, um es dem Gumboldskerl am andern Morgen wieder einzuhändigen. Alsbald kniete sich eine junge saubere Magd auf den Fußboden hin und beleuchtete mit einem hellen Lichte die Thorheit des Alters.


Bremen, 1. Januar 1852.


Nachdem ich das Weihnachtsfest noch in meinem Bergdorfe verlebt hatte, fand ich meine Sammlungen an Sagen, Märchen und Liedern so angewachsen, daß ich beschloß, über Bremen, wo Verwandte seit lange meiner harrten, nach Leipzig zu reisen, um dort in ruhiger Überlegung mit der Bearbeitung des auf dem Oberharze gesammelten Materials zu beginnen und dasselbe dann später durch meine Rückkehr – zunächst nochmals nach Lerbach – zu vervollständigen.

Es war an einem hellen und dabei nicht zu kalten Sonntag Nachmittage, als mein Märchenerzähler Bertram auf einem Handschlitten von Lerbach nach Osterode hinunterfuhr. Er that es in der grünen Uniform als Wegeaufseher, die er [40] nur des Sonntags trägt, mit der halblangen Pfeife, die man auch nur des Sonntags bei ihm sieht, in Begleitung seines Knaben. In gemächlicher Unterhaltung mit meinem Freunde aus dem Volke, dem ich für die rasche Förderung meiner Sammlungen so vielen Dank schulde, daß ich ihn lieber in Gold gefaßt denn als meinen Diener betrachtet hätte, schlenderte ich neben dem Schlitten her, das endlos lange Bergdorf hinab. Vor der Post in Osterode stand ich noch eine Weile mit dem Märchenerzähler und seinem Sohne. Er will auswandern und wie konnte ich anders als ihn ermahnen, in seinem Vaterlande und in seiner Heimat zu bleiben? Risse sich denn nicht mit ihm gerade, der alle Geheimnisse des Volksgeistes weiß, ein rechtes Stück vom Vaterlande los? Es war mir ein recht unheimliches Gefühl, gerade diesen Mann in Australien zu denken: doch machte ich ihn nur im allgemeinen auf das Widernatürliche der Auswanderung aufmerksam und warnte ihn, bloße Verstimmungen Einfluß auf seinen Lebensweg gewinnen zu lassen. »Nur treu! treu um jeden Preis dem Vaterlande! Was kann zum Ziele führen, wenn das nicht?« Mein Märchenerzähler sah mich groß an mit verständigen Augen, sprach aber nicht mehr von der Sache. Ich schüttelte die Hand des kleinen Mannes, legte das letzte Trinkgeld hinein, und dahin ging er mit seinem Knaben in seine Berge zurück.


Heinrich Pröhle.

Fußnoten

1 Zuerst gedruckt in Prutz' deutschem Museum von 1856 Nr. 15. Bezieht sich im allgemeinen auf die von Zellerfeld und Lerbach aus gesammelten Sagen des Oberharzes, nicht auf die von Wernigerode aus gesammelten Sagen des Unterharzes. Vergl. S. 269. Die Personennamen sind erst bei dem neuen Abdrucke hinzugefügt.

2 Von ihr und von der Mühle selbst findet sich eine Sage: »Die Bremerhöhe« unter den klausthaler Sagen (Nr. 140 dieses Buches).

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TextGrid Repository (2012). Pröhle, Heinrich. Sagen. Harzsagen. Einleitung. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-84A4-C