Das kleine Mädchen

Am Wege ohne Falsch und Bös,
noch kindlich im Gewand
und erst seit kurzem amourös,
ein liebes Mägdlein stand.
Um Ohr und Schläfe quoll das Haar
in bräunlichem Gelock,
und senkrecht wuchs das Beinepaar
aus dem karierten Rock.
Ihr dunkles Auge spähte rasch
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die Straße quer und lang,
ob's einen Männerblick erhasch,
flog auf und nieder bang.
Und kam des Weges ein Kommis
und sah die Kleine stehn,
dann ward sie rot, dann zittert sie
vom Kopf bis zu den Zehn.
Doch wenn geziert ein feiles Weib
an ihr vorüberstrich,
dann schütterte der junge Leib
vor Neid und straffte sich.
Am Spätnachmittag ging sie heim;
ein schwerer Schatten fiel.
Sie fand der Sehnsucht keinen Reim,
dem Herzensdrang kein Ziel.
Und mit den Eltern saß zu Haus
sie um den Tisch herum,
da schämt sie sich die Augen aus
und wußte nicht, warum.
Doch erst, wenn es in dumpfem Takt
vom Kirchturm schlug zwölf Uhr,
dann stand sie vor dem Spiegel nackt
und drehte die Figur.
Es flog der Puls, der Atem dampft,
und wütend war die Faust
um die gestraffte Brust gekrampft,
in der es gor und braust.
Dann kam der Schlaf, der drückte sie
mit Träumen schwer wie Blei,
er führte Hure und Kommis
im wilden Tanz vorbei.
Und alle Sehnsucht dreht und wand
sich mit im Walzerkreis.
Die Morgen sonne kam und fand
das Kind im Fieberschweiß.
Doch vor und nach dem Mittagsmahl
da stand sie wieder dort,
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wo sie den Träumen Nahrung stahl,
und wollte nimmer fort.
– – – – – – – – – – – – – – – –
Das Leben floß. Doch ein Gebet
trat auf die Lippen ihr:
»O Gott, schick einen, der dort geht,
schick einen doch zu mir!
O nahm mich einer mit Gewalt!«
So hat sie stumm geklagt.
Sie war erst dreizehn Jahre alt,
und keiner hat's gewagt.
Mit fünfzehn war sie blaß und bleich,
war müde und verblüht
und hat sich um das Himmelreich
des Glücks nicht mehr bemüht.
Und als sie siebzehn Jahre war,
da kam ein Pharmazeut,
der führte sie zum Traualtar.
Wie das die Eltern freut!
Vier Kinderchen zeugt er mit ihr,
so ging die Zeit herum.
Die Kinder wurden alle vier
gesund, vergnügt und dumm.
Die gute Mutter blieb dem Mann,
dem eh'lichen Gemahl,
so treu wie's nur verlangen kann
die sittsamste Moral.
Nur manchmal, wenn der Bettgenoß
laut schnarcht, stand sie voll Leid
am Wege, wo das Leben floß –
im kurzen Mädchenkleid.
Dann hat sie's andern Tags gespürt,
als ob ein Fehl sie reut:
Der einzige, der mich je berührt,
ist dieser Pharmazeut!

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Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Mühsam, Erich. Lyrik und Prosa. Sammlung 1898-1928. Erster Teil: Verse. Balladen. Das kleine Mädchen. Das kleine Mädchen. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-440A-A