Malwida von Meysenbug
Unerfüllt

[39] »Ach, der Winter ist doch furchtbar, seht nur wieder das Wetter an! Gerade, als ob Licht und Sonne und Farbe auf ewig aus der Welt geschwunden wären! Die ganze Erde mit einem Leichentuch bedeckt und der ewige Tanz der weißen Flocken in der Luft – es ist zum Verzweifeln! Und zu denken, daß es ein sonnenbeglänztes Italien gibt, wo die Natur nie stirbt, wo mitten im Winter goldene Früchte im dunklen Laube lachen und das beglückende Licht auch dem Ärmsten das Dasein leicht macht.«

Das junge Mädchen, das diese Worte sprach, ließ die Arbeit auf den Schoß sinken, seufzte tief und sah zu einem Bilde in Farbendruck auf, das eine italienische Landschaft darstellte und in schwarzem Holzrahmen gegenüber an der Wand hing.

»Immer das alte Lied,« sagte ein etwas älteres Frauenzimmer, das an einem Tische sitzend einen Haufen geschriebener Hefte durchsah und von Zeit zu Zeit etwas hineinschrieb. Ohne die Arbeit einzustellen, fuhr sie fort: »Liebe Schwester Amalie, ein charaktervolles Wesen, wie du bist, gibt sich nicht immer von neuem der Sehnsucht nach Unerreichbarem hin. Wohl dem, welchem Gott einen Pflichtenkreis gab, den auszufüllen er die Kraft und Fähigkeit hat. Was darüber hinaus ist, ist von Übel. Ich fühle mich so beglückt, hier meine 50 Schulhefte zu korrigieren – ich schwöre es dir, ich wünsche mir nichts anderes.« –

»Ja, du Pauline, du bist auch zur Lehrerin geboren. Wem die Natur so den Beruf ins Herz schreibt, der hat's leicht.«

»Ach bedenk, Malchen,« versetzte die Mutter der beiden, eine alte Frau mit schneeweißen Haaren, »bedenk nur, daß es in Italien wohl auch nicht so ist, wie du dir träumst. Da friert man mehr wie bei uns in unsern geheizten Stuben. Du weißt doch, was der Herr Justizrat erzählt, daß er nie im Leben so gefroren hat als in dem Winter, wo er in [39] Italien war. Und dann die Räuber! Du gerechter Gott, wenn man so einer Bande in die Hände fiele.«

»Sollte es wohl wahr sein, daß man so friert im Land der Sonne und daß man Räubern so häufig begegnet?« sagte Amalie, »was meinst du, Heinrich, hat der Justizrat nicht übertrieben?«

Der mit dem Namen Heinrich Angeredete war ein langer, hagerer, blasser Mann von etwa dreißig Jahren, der am Fenster saß und in einem Buche las, ohne auf das Gespräch der Frauen zu hören. Als jetzt sein Name an sein Ohr schlug, sah er auf und fragte gleichgültig:

»Ja, was denn?«

Amalie hatte die Arbeit auf den Tisch gelegt; sie trat zu ihm hin, schlang beide Arme um seinen Hals und sagte: »Mein alter Heinrich, ich wollte wissen, ob du auch meinst, daß man in Italien mehr friert als hier und daß man vor Räubern da nicht mehr sicher ist?«

»Nun, so gutgeheizte Stuben wie die unseren hat man sicher nicht, aber auch nicht ein solches Schneegestöber,« sagte Heinrich lächelnd, »und was die Räuber anbetrifft, so wird es ja wohl so gar arg nicht mehr sein.«

»Aber der Justizrat« – hub die Mutter wieder an.

»Nun, der war dort in den ersten Zeiten des neuen Königreichs Italien, als die Landleute sich vor der Konskription fürchteten und in die Berge liefen,« unterbrach sie Heinrich, »oder als der Ex-König von Neapel noch seine Söldlinge hielt, die das Land unsicher machten.«

»Ja, mein Heini, mein Herzensbruder, wir möchten hin, nicht wahr?« sagte Amalie halb flüsternd zu ihm, während sie immer seinen Hals mit einem Arm umschlungen hielt und mit der andern Hand über sein langes, blondes Haar strich. »Dir tät' es auch gut: mehr Sonnenschein und weniger zu studieren.«

Heinrich schlug die hellblauen Augen zu ihr auf und sah sie an. Es war nur ein kurzer Blick, aber es lag eine Fülle von schmerzlich errungener Entsagung und Wehmut darin. [40] Amalie traten die Tränen in die Augen, sie neigte sich zu ihm und küßte ihn leise auf die Stirn.

»Mein Gott, wer kommt denn da durch das Wetter?« rief Pauline, die ihre Korrekturen beendet hatte und beim andern Fenster beschäftigt war, die Hefte in einen Schrank zu tun. Da das Zimmer, in dem sie sich befanden, in einem sehr niedrigen Erdgeschoß war, so konnte man von dort die Personen, die auf der Straße gingen, sehen und eben waren zwei Damen, in Mäntel gehüllt, die Regenschirme dicht über die Köpfe haltend, vorübergegangen.

»Ach, es ist die Justizrätin mit Linchen,« sagte Amalie, »sie kommen zu uns; ich will ihnen die Haustüre öffnen.« Mit diesen Worten eilte sie aus dem Zimmer. Heinrich erhob sich rasch und sagte: »Nun, da ziehe ich mich zurück.«

»O bleib nur,« versetzte Pauline lachend, »Frau Justizrätin – und hm! – auch Linchen – werden gar nicht böse sein, dich hier zu finden.«

»Nein, ich habe noch viel zu tun für die Examen in nächster Woche; es bleibt mir keine Zeit zu unnützem Geplauder,« erwiderte er und verschwand durch die Türe in das hintere Zimmer.

»Ja, – die Examen – und da arbeitet er sich wieder krank,« sprach die Mutter vor sich hin und seufzte tief.

Jetzt flog die Türe vom Hausflur her auf und herein traten die Damen mit Amalie. Die Mutter ging ihnen, sich verneigend, entgegen: »Aber, beste Frau Justizrätin, wie freundlich, durch dieses Wetter zu kom men – –«

»Liebe Frau Holm, rechnen Sie es uns gar nicht als Verdienst an; wir flüchten uns an Ihren warmen Ofen; man wird ja zum Schneemann draußen,« rief die Justizrätin, eine wohlbeleibte Dame mit rotem Gesicht, das von der Kälte förmlich mit Zinnober bemalt war. »Sie erlauben, daß ich den schweren Pelzmantel ablege? Liebe Amalie, seien Sie so gut,« damit händigte sie den eleganten Mantel dieser ein, die ihn alsbald vor dem mächtigen Ofen über einen Stuhl breitete. »Linchen, mein Kind, tu auch deinen Mantel ab, du[41] wirst sonst zu heiß,« verordnete die Dame, mit der Miene der Vornehmeren, die im Hause der Geringeren eigentlich zu befehlen hat und während die Tochter gehorchte, wandte sie sich wieder zu Frau Holm und sagte: »Sie erlauben doch, meine Gute, daß wir ein halbes Stündchen hier ausruhen und plaudern.«

»Ich bitte, es ist mir eine große Freude,« erwiderte Frau Holm, »und ich darf vielleicht ein Täßchen Kaffee anbieten?«

»Ich sage nicht nein,« erwiderte die Dame herablassend lächelnd, »so ein warmer Trank nach dem Wetter ist gar zu angenehm.«

»Paulinchen, willst du es uns besorgen,« sagte Frau Holm schüchtern.

»Ja, Mütterchen, sogleich,« erwiderte Pauline und verließ das Zimmer.

»Welch ein treffliches Frauenzimmer, Ihre Tochter Pauline, liebe Holm,« versetzte die Justizrätin; »alle Eltern sind entzückt von den Fortschritten, die die Kinder in der Schule machen. Man sagt, sie gibt Unterricht gerade wie ein Mann und das ist doch das höchste Lob, was man uns armen, schwachen Weibern erteilen kann.«

»Warum, Frau Justizrätin?« fiel Amalie, die sich bisher im Flüsterton mit Linchen unterhalten hatte, ein, »wir sind gar nicht so schwach, wenn wir nur stark sein wollen und Pauline lehrt gar nicht wie ein Mann, sie lehrt, wie man lehren soll: nicht pedantisch, sondern geistvoll, anregend und fesselnd für jedes Alter ihrer Zuhörerinnen in den verschiedenen Klassen.«

»Ei, sieh mal, die kleine ›Emansibisierte‹,« sagte die Dame mit spöttischem Lächeln.

»Emanzipierte, willst du sagen, Mama,« bemerkte Linchen.

»Ja, ja, ich habe mich versprochen,« entgegnete die Justizrätin ärgerlich; »liebe Holm, nehmen Sie sich in acht, das Kind macht am Ende noch mal einen ›genialischen‹ Streich.« Sie drohte dabei Amalie mit dem Finger.

[42] »Das Kind ist zweiundzwanzig Jahre alt,« versetzte Amalie lachend, »und für die Streiche ist gesorgt.« –

»Genug, Amalie, genug,« fiel die Mutter ein, indem sie einen ängstlichen Seitenblick auf die Justizrätin warf. »Da kommt ja der Kaffee, nun schenk ein, Paulinchen.«

Pauline setzte das Teebrett mit dem Kaffee und einem Körbchen voll Zwieback auf den Tisch und bediente die Damen.

»Vortrefflich, liebe Pauline,« sagte die Justizrätin, behaglich den dampfenden Trank hinunterschlürfend, »also das verstehen Sie auch? Sieh mal, Linchen, nimm dir ein Beispiel dran. Wenn man auch in der angenehmen Lage ist, es nicht nötig zu haben, ist es doch immer gut, das Nützliche mit dem Genußreichen zu verbinden.« Sie räusperte sich ein wenig nach dieser Phrase, die ihr sehr schön schien. Da aber niemand sonst dies anerkannte und eine kleine Pause entstand, fuhr sie fort: »Ach, ja so, liebe Holm, ich muß Ihnen doch sagen, wie es kommt, daß wir bei dem Wetter ausgegangen sind. Sie wissen, in acht Tagen ist das große Ereignis – der Ball, den die Stadt unseren Parlamentsabgeordneten gibt, das heißt dem einen, der schon sicher wieder gewählt wird und den zwei neuen Kandidaten für die vorzunehmende Wahl. Und denken Sie nur, wer der eine von diesen beiden ist? Raten Sie mal, meine Damen?«

»Der Herr Fabrikbesitzer Lenke?« sagte Pauline.

»Nun ja, das ist der eine,« sagte die Justizrätin verächtlich, »der wird hoffentlich diesmal eine Schlappe kriegen, denn der andere ist – nun? Linchen lächelt, denn die weiß es – ist – – ist: Der Baron von Lilienfeld, unser junger Gutsherr, der heute endlich drüben auf Schloß Lilienburg eintrifft. Mein Mann hat ein ›Telegraph‹ bekommen von Freunden aus der Residenz, daß er für die Wahl des Barons alles tun soll, was in seiner Macht steht. Nun, es versteht sich, daß mein Mann seinen großen Einfluß dafür verwenden wird; der Baron muß gewählt werden.«

»Aber warum denn?« versetzte Amalie eifrig, »Herr Lenke [43] kennt gewiß unsere städtischen und Provinzial-Interessen besser als der Baron, der seit dem Tod seines Vaters, also seit sechs Jahren, glaub ich, nie wieder hier war und der ein etwas lockerer Vogel sein soll.«

»Nun, erlauben Sie, Amalie,« entgegnete die Justizrätin, »junge Mädchen sollten in Dingen der höheren Staatslenkerei nie mitsprechen, denn davon können sie nichts wissen. Ich habe Linchen in dieser Hinsicht zu größter Bescheidenheit erzogen, sie wird sich nie eine eigene Meinung erlauben, bis sie auch einmal, wie ich, einen Mann in höherer Stellung hat, dann – ja dann kann man schon ein Wörtchen mitreden und ich werde all meinen Einfluß auf meinen Mann anwenden, um die Wahl des Barons durchzusetzen.«

Amalie konnte trotz der Zurechtweisung, die sie wenig kümmerte, kaum ein spöttisches Lächeln verbergen, denn es war bekannt, daß der Justizrat keinen Willen hatte als den Willen seiner Frau. Frau Holm sah verlegen umher und Pauline ergriff das Strickzeug, um die Zeit nicht zu verlieren.

»Aber, Mama, Du wolltest ja erzählen, weshalb wir ausgegangen sind,« sagte Linchen, um ein anderes Thema vorzubringen.

»Ja, es ist wahr,« hub ihre Mutter wieder an, »mein ›patriotistischer‹ Eifer reißt mich immer fort. Bei solch einer außerordentlichen Gelegenheit durfte natürlich an meiner und Linchens ›Tojelette‹ nichts fehlen, denn wir ersten Damen der Stadt müssen doch zeigen, daß wir auch hier, in unserem Winkel, ›Ellekanz‹ und ›ponne cout‹ besitzen. Ich habe alle Hände voll zu tun damit und heute mußten wir aus, um Blumen und Bänder auszusuchen. Aber das Wetter wurde so arg, daß wir hierher flüchteten. Nun hat es aber aufgehört zu schneien, Linchen, da müssen wir gehen, die Schneiderin wird warten. Danke, liebe Frau Holm, für das angenehme Stündchen und Sie, Malchen, seien Sie mir nicht böse,« sagte sie zu Amalie, die ihr den Mantel umhing, »wir Frauen aus der ›haut monte‹ dürfen uns schon eine Zurechtweisung erlauben, um die unerfahrene Jugend auf den rechten [44] Weg zu bringen und, Kindchen,« fügte sie leise hinzu, indem sie Amalie etwas beiseite zog, »sprechen Sie nie mehr über das ›lockere Vogel sein‹ junger Herren, das schickt sich nicht für anständige Mädchen, ich möchte nicht, daß mein Linchen dergleichen hörte.«

Amalie erwiderte nichts, es zuckte nur verächtlich um ihren Mund, denn Linchen hatte ihr eben in das Ohr geflüstert, sie habe gehört, daß der Baron in der Residenz eine Liebschaft mit einer verheirateten Frau habe.

Die Justizrätin und Tochter empfahlen sich. In der Tür aber kehrte sich die erstere noch einmal um und rief: »Sie kommen doch auch alle auf den Ball?«

»Nun, ich wohl nicht,« entgegnete Frau Holm, »aber die Mädchen, denk ich, werden mit Heinrich gehen.«

»Wenn ich vielleicht mit was dienen kann für die Tojelette? Ich stehe gerne zu Diensten. Sehr hübsche Blumen, die Linchen nur einmal getragen hat, würden gut für Malchen passen; soll ich sie schicken?«

»Ich danke,« sagte Amalie kurz, »wenn ich hingehe, was ich noch nicht weiß, so habe ich schon, was ich brauche.«

»Gottlob, daß sie fort sind,« sagte sie dann, als die Türe sich hinter den beiden geschlossen hatte, »o welch eine Fülle von Nichtigkeit in so einer Frau!«

»Du widersprichst ihr aber auch zu viel,« bemerkte die Mutter.

»Nein, Mutterchen, sie kann Malchen nur nicht leiden, weil sie weiß, daß sie viel klüger ist als Linchen und weil die Herren lieber mit Malchen tanzen als mit der plumpen Fräulein Tochter,« sagte Pauline; »ich kann's Heinrich wahrhaftig nicht verdenken, daß er tut, als merke er nichts von den Liebenswürdigkeiten, die ihm Mutter und Tochter erweisen.«

»Ach Gott, solch eine Frau für unseren Heini? Nein, lieber gar keine,« versetzte Amalie. »Aber wir wollen doch mit Heinrich darüber reden, daß er all seinen Einfluß auf die Wahl Lenkes verwendet. Das ist doch ein Mann, der die Bedürfnisse hier herum kennt, der auch ein Herz hat für die [45] arbeitenden Klassen und ihre Rechte vertreten wird. Was weiß so ein dummer, junger Aristokrat, der sich seit sechs Jahren nicht hat blicken lassen, von den wirklichen Interessen der Provinzialstädte und Bezirke?«

»Du weißt ja nicht, ob er dumm ist, Malchen,« sagte die Mutter sanft lächelnd.

»Ach ja, er ist mir schon ganz zuwider, weil ihn die Justizrätin beschützt,« erwiderte Amalie, indem sie beide Ellenbogen auf den Tisch stützte und das Kinn in beide Hände legte, »sie träumt gewiß schon davon, Linchen als Frau von Lilienfeld zu sehen.«

Pauline lachte und sagte: »Nun, das wäre noch kein Grund, ihn zu verwerfen, denn ob er den Traum verwirklichen würde, wär doch die Frage; aber sonst hast du recht. Ein braver Bürger, der hier ansässig ist und hier lebt, ist ohne Zweifel der geeignetere Mann zum Abgeordneten.«

»Ja, ja,« versetzte Amalie wieder in scherzendem Ton, »ich kann mir schon diesen hochnasigen Junker vorstellen, der uns gewiß alle von oben herab ansehen wird. Wenn er noch wie sein Vater wäre! Das muß ein prächtiger Mann gewesen sein; der hat doch Sinn für alles Schöne gehabt und aus Italien und Griechenland Kunstschätze mitgebracht, um auch in seinem Schloß Geist und Herz an dem Anblick des Schönen zu erfreuen. Und dabei hat er doch hier gelebt auf seiner herrlichen Besitzung und ist ein Wohltäter der Gegend gewesen.«

»Nun, du weißt ja nicht, ob der Sohn« – wandte die Mutter ein.

»Nein, das ist klar,« rief Amalie sie unterbrechend, »er ist wie seine Mutter, die eine hochmütige, weltlich gesinnte Frau sein soll und nur für die frivolen Freuden der Residenz lebt. Und die schöne Lilienburg steht verlassen. Könnte ich nur zuweilen dahin; es muß wunderschön sein inmitten all dieser Kunstschätze – es gäbe einen Vorgeschmack von Italien.«

»O weh! wir kommen wieder aufs alte Thema,« rief [46] Pauline, »brechen wir ab, ich bitte euch. Hier, Amalie, hast du den Geschichtsabschnitt, den du morgen für deine Klasse brauchst. Ich glaube, wenn du ihn nochmal durchgehst, ist's gut. Man muß immer über den Kindern stehen und bereit sein, auf jede Frage Antwort zu geben. Wehe, wenn die Kleinen mal merken, man wisse nicht, was ihnen antworten auf ihre oft so plötzlichen und zuweilen überraschend klugen Fragen.«

Amalie nahm das Buch aus der Schwester Hand mit einem unterdrückten Seufzer und begann zu lesen. Auch Pauline nahm ihre Schulbücher vor und die Mutter strickte manchen sorgenvollen Gedanken in ihren Strumpf mit hinein.

Als der kleine Familienkreis sich am Abend getrennt hatte und jedes in seinem Stübchen allein war, trat Amalie an das Fenster und sah hinaus in die kalte Winternacht. Von Zeit zu Zeit kam der Mond zwischen dem dichten Gewölk hervor und warf sein gespenstisches Licht auf die weite Schneefläche unten und die schwarzen, kahlen Bäume, die ihre nackten Zweige, wie um Erbarmen flehend, gen Himmel streckten gleich verdammten Seelen, in denen der schaffende Trieb freudiger Tugend erstarrt ist und auf die kein Blick der Gnade mehr niedertaut. Amalie überfiel es mit tödlicher Traurigkeit.

»So ist das Leben hier,« sagte sie zu sich selbst, »geistiger Tod, endlose Monotonie; kein Strahl des Schönen, der die Seele mit Begeisterung füllt und über die Erdennot hinwegträgt. Pflichterfüllung, wie Pauline sagt? – Ach, ich tue ja meine Pflicht, aber – gesteh dir's nur – du fühlst dich nicht dadurch beglückt. Ja, bei Pauline ist es anders. Ihr Beruf ist ihr nicht bloß Pflicht, er ist ihr Glück und sie tut Gutes, indem sie in den jungen Seelen die Keime der Bildung und der Tugend groß zieht. Eigentlich bringt's freilich nur bei wenigen wahre Frucht; sie aber denkt nicht daran, ob die Mühe nutzlos ist; sie ist der wahre Arbeiter im Weinberge des Herrn. Aber ich – ist's eine Sünde, daß in mir noch etwas anderes leben will? Ist diese unbändige, verzehrende Sehnsucht nach dem Anblick des Schönen, nach [47] einer geistigeren Mitte, nach hohen Interessen und dem Austausch mit sympathischen Menschen – ist das alles verwerflicher Egoismus? Nein – – die Individualität hat ein göttliches, ewiges Recht; sie will sich entfalten, will fliegen, so weit sie ihre Flügel tragen, will – ach ja, sei nur ehrlich, Amalie – will genießen, – nichts Gemeines, pfui – nein! – Göttliches, Erhabenstes – nur einmal – nur einmal – und dann vergehn? – Ja, warum nicht? Besser als hinsiechen am geistigen Hungertod. – Mein armes Mütterchen? Ach, diese demütige Existenz: mit dem Mann, den sie liebte, in beschränkten Verhältnissen, immer am Herd, ein Kind in der Wiege neben sich, die größern alle Augenblicke ihrer Hilfe bedürfend und ihre einzige Freude: wenn der geliebte Gatte abends heimkam und sie es ihm behaglich machen konnte! Und die Kinder, die sie mit Schmerzen geboren, mit tausend Opfern groß gezogen, dann sterben zu sehen in der Blüte der Jahre – drei tüchtige Söhne und zwei Töchter und darnach ihn – der ihres Lebens Sonne war und der sie mittellos mit uns dreien zurückließ? Ach, welch ein rührendes Leben und doch wie furchtbar! Nein – so könnte mich die Liebe auch nicht beglücken! Und endlich mein Heinrich, mein armer Bruder! Er hat auch Paulinens Pflichtfreudigkeit nicht, aber er hat die heißen Wünsche des Herzens schweigen heißen; er trinkt mit gewaltsamer Fassung den Kelch der Entsagung. Als die einzige männliche Stütze der Mutter, der Schwestern glaubt er so handeln zu müssen. Aber wird er nicht das Opfer dieses Kampfes werden, den ich errate und nur zu gut verstehe, wenn er ihn auch nie eingesteht? – Die Liebe –? Nein, ich denke nicht an sie. Woher sollte mir der kommen, den ich einzig lieben könnte? Ein ganz meiner Sphäre Fremder, ein so glanzvoll Begabter, wie ich ihn zuweilen von fern im Traume sah gleich einer Fata Morgana, ein Götterbild, im goldenen Dufte schwebend. Wie käme der in diese Mitte? – Nein, nein, weg mit diesem Traum! Aber Italien – das Land der Schönheit – ja vielleicht erreiche ich das; doch geht es langsam mit dem heimlichen Sparen für [48] die Reise! Ach, 50 Pfennig für eine Stunde in der Schule! Und da ist doch erst das Nötige zu bestreiten; meine kleine Sparkasse ist noch zu leer!« – – Und wieder versank sie in tiefe Traurigkeit, starrte in die öde Nacht, seufzte tief und sprach endlich vor sich hin:


»So liegst du, mein Herz, umwunden
Von den Fesseln öder Zeit,
Deine Flügel sind gebunden –
O, wann werden sie befreit?« –

Die Justizrätin hatte recht gehabt. Die kleine Stadt, beinahe an der Grenze des höchsten Nordens von Deutschland, in unfreundlicher Gegend, mit dem rauhen Klima jener Himmelsstriche, mit einem langen Winter, abgeschnitten von dem großen Strom des modernen Lebens, wurde von einem Ereignis wie der Ball zu Ehren der Wahl ihrer Abgeordneten bewegt, als sei es eine große Begebenheit. Unter den Frauen und Mädchen war von nichts anderem die Rede als von den Ballanzügen, die sich die meisten selbst mit so wenig Kosten als möglich herzustellen bemüht waren. Die Männer berieten sich über die Eigenschaften der Wahlkandidaten und horchten auf die Stimmführer, um nach ihrer Meinung das eigene Ermessen zu richten. Der Justizrat, ein mageres Männchen mit spärlichen grauen Haaren und immer gebückter Haltung – die, wie die bösen Zungen sagten, von der Unterwürfigkeit unter den oft sehr fühlbar ausgedrückten Willen seiner Frau kam, ging, ihrem Befehl gehorsam, umher und warb für den Baron, den er gar nicht kannte! Er wiederholte fortwährend, was ihm seine Frau vorgesagt hatte, welch ein Vorteil es für sie sein würde, von dem größten Gutsbesitzer und vornehmsten Mann der Gegend vertreten zu sein. Manche nickten beistimmend zu diesem durch nichts begründeten Argument und nahmen sich vor, für den Baron zu stimmen, weil der Justizrat doch ein Mann sei, der immer mehr wissen müsse »als wir armen Leute, die wir ums tägliche Brot arbeiten und keine Zeit für die Politik haben.« Der klügere Teil der Wähler [49] aber beriet sich mit Heinrich Holm, dem obersten Lehrer am Gymnasium der Stadt, dessen ehrenwerter Charakter, Kenntnisse und volksfreundlicher Sinn ihm die Achtung und Sympathie aller tüchtigen Leute der Stadt erworben hatten. Seine Ansicht war entschieden für die Wahl Lenkes, »denn,« so sagte er, »was hilft es uns, Männer als Abgeordnete zu schicken, die die Lokalbedürfnisse und die Lebensbedingungen derer, die sie vertreten, nicht kennen? Allgemeine Theorien aufzustellen und darüber zu reden, das bringt uns nicht weiter. Der Bürger, der Arbeiter hat kein Interesse daran, wie dieser oder jener Gelehrte diese oder jene Frage auffaßt; aber er hat ein Lebensinteresse daran, daß man seine Nöte kenne, daß man redlich bemüht sei, ihnen abzuhelfen, daß man es ihm erleichtere, seine Bürgerpflichten zu erfüllen, indem man seine Bürgerrechte ehrt und schützt.«

Die Gutgesinnten und Verständigen stimmten hiermit überein, um so mehr, als Lenke ein fleißiger und reicher Industrieller, zugleich ein wohlwollender, humaner Mann war, der tat, was er konnte, um das Los seiner Arbeiter so erträglich als möglich zu gestalten.

Inzwischen war bei Holms zwischen Mutter und Töchtern doch auch besprochen worden, wie man einen anständigen Ballanzug für die Schwestern schaffen solle. Amalie hatte anfangs gar nicht hin gewollt, denn sie meinte, schlecht angezogen wolle sie nicht gehen und sich Neues zu kaufen, habe sie kein Geld.

»Aber du bist geizig, Malchen,« sagte Pauline scherzend, »du machst doch Ersparnisse.«

»O, die würden kaum zu einem ordentlichen Kleid reichen und ich will sie auch nicht dafür verwenden,« erwiderte Amalie und lächelte geheimnisvoll.

»Aha! hm! hm! wir haben geheime Pläne!« rief Pauline. Dann nahm sie Amalie beim Arm und sagte: »Nun Herzens-Malchen, da muß die alte Schwester doch mal helfen; wir praktischen Menschen, wir müssen auch zu etwas gut sein und wenn du singst: ›Nur wer die Sehnsucht kennt nach fernem [50] Lande‹, so singe ich: ›Nur wer hübsch näht und trennt, bringt was zustande‹. Komm, alte Male, sei nicht böse, daß ich deine liebe Mignon parodiere und ihr die verständige Therese vorziehe.« Mit diesen Worten zog sie Amalie in ihr Zimmer. Da lag ein himmelblau-seidenes Kleid ausgebreitet mit einem weißen Überwurf aus luftigem Stoff, der wie eine zarte Wolke auf blauem Himmel schien und von blauen Bandschleifen aufgezogen wurde; ein Haarputz von ebensolchem Band lag daneben.

»Ach, Pauline,« rief Amalie überrascht und fiel gerührt der Schwester um den Hals.

»O Gott, nur keine Rührung,« sagte Pauline immer scherzend, »bei Licht besehen, ist die Sache sehr einfach. Es ist ja mein altes seidenes Kleid, von dem man singen könnte: ›Schon 30 Jahre bist du alt, hast manchen Sturm erlebt.‹ So tragen könnte man es nicht mehr, aber als Unterkleid geht es noch ganz gut und der blaue Bandschmuck in deinem prachtvollen blonden Haar wird dir sehr gut stehen.«

»Es ist reizend, Pauline,« rief Amalie. »Der schöne Anzug erweckt mir die Lust, mich auf dem Ball zu unterhalten – aber du?« unterbrach sie sich und schaute besorgt auf die Schwester.

»Ha, ha,« lachte diese, »ich, die den Vierzigern nahende alte Jungfer und würdige Schulvorsteherin, ich ziehe meine Uniform, d.h. mein schwarzes, seidenes Kleid an, stecke eine rote Schleife vor, eine dito ins Haar und fertig bin ich.«

»Du machst es wahrhaft, wie Goethe sagt: ›Leget Anmut in das Geben‹,« versetzte Amalie und sah liebevoll in der Schwester Antlitz, deren gewöhnliche Züge durch den Ausdruck einer heitern Energie angenehm wurden. »Ach, Pauline, wär ich doch so gut wie du!«

»Nun ja, nun hast du wieder was anderes zu ersehnen,« sagte Pauline, »ach, du Kind, es ist ja alles nur Sache des Temperaments und der Umstände der Geburt. Ich bin die Älteste, geboren, als Vater und Mutter, obwohl in dürftiger Lage, im Glück der ersten Liebe und in voller Kraft der [51] Jugend, heiter und vertrauensvoll dem Leben entgegengingen. Dann folgte Kind auf Kind und Sorge, ja oft bittere Not. Heinrich kam so in der Mitte, als die Mutter schon erschöpft von den vielen Wochenbetten, von Arbeit und Mühen war. Darauf folgten noch Kinder und endlich erschienst du, armes Benjaminchen, als der Vater schon kränkelte und die Mutter bereits drei der Kinder hatte sterben sehen. Wer weiß, wie ihr Herz sich sehnte nach den Gestorbenen, wie es bangte um die noch Lebenden, als sie dich unter dem Herzen trug. Ist es ein Wunder, daß du einen Mangel fühlst im Leben und dich nach etwas sehnst, was du nicht hast? – Aber genug mit der Sentimentalität,« unterbrach sie sich selbst, als sie sah, daß Tränen über Amaliens Wangen liefen und fühlte, daß ihre eigenen Augen feucht wurden. »Schnell mal den Anzug anprobiert, um zu sehen, ob nichts zu ändern ist,« rief sie lustig.

Amalie mußte sich fügen und die heitere Laune kehrte beiden Schwestern zurück, als sie sahen, daß alles aufs beste gelungen war. Der Anzug hob die schlanke Gestalt Amaliens vorteilhaft hervor und das blaue Band wand sich kleidsam durch die Fülle blonden Haares, die sich einfach um die gedankenvolle Stirn legte, unter der die größte Schönheit ihres Gesichtes, die dunklen, schwärmerischen Augen, hervorsahen.

»Reizend,« rief Pauline und klatschte in die Hände, indem sie Amalie von allen Seiten betrachtete, »na, du stichst alle Mädchen auf dem Balle aus und Lenke wird hoffentlich sich nicht bloß wählen lassen, sondern auch seine Wahl treffen.«

»Ach, welch ein Unsinn, Pauline,« sagte Amalie lächelnd, »Lenke denkt nicht daran.«

»So? Das weiß ich besser,« versetzte Pauline, »warum macht er wohl den großen Umweg, wenn er aus der Fabrik zu seiner Mutter geht, kommt hier vorüber und schielt nach dem Fenster, ob sich ein gewisser blonder Kopf zeigt?«

»Das kann gerade so gut dein Kopf sein, nach dem er schielt,« antwortete Amalie.

»Jawohl, das ist wahrscheinlich,« spottete Pauline; »im [52] Alter paßte ich freilich besser zu ihm, denn er wird wohl vierzig sein, aber mit fünfunddreißig sind wir den Männern schon viel zu ehrwürdig, während sie uns mit vierzig noch jung erscheinen.«

»Ach, lassen wir das dumme Thema,« sagte Amalie, »ich glaube, Lenke denkt nicht daran und ich tue es sicher nicht. Er ist ein braver, unterrichteter Mann, aber zum Lieben und Heiraten ist das nicht genug.«

»Oho, nun kommt die Schwärmerin wieder zum Vorschein,« rief Pauline, »es müßte irgendein verzauberter Prinz kommen und dich auf einem Faustmantel nach Italien entführen, das wär's, was dir gefiel. Aber lockt es dich nicht, an der Seite eines braven Mannes einen tüchtigen Hausstand zu gründen und für die Verbesserung des Loses von Hunderten von Arbeitern zu wirken? Was helfen alle Theorien, wenn man nicht Hand anlegt und in rastloser Tätigkeit Stein auf Stein fügt; nur so entsteht das Haus.«

»Aber den Mann, mit dem man es baut, muß man lieben, man muß auch eine ideale, ästhetische gemeinsame Welt mit ihm haben, damit die praktische Tätigkeit nicht ermüde, sondern nur die Frucht jener Gemeinschaft sei,« erwiderte Amalie feurig, dann aber setzte sie hinzu, indem sie sich zärtlich an die Schwester schmiegte: »Aber ich tue doch meine Pflicht, Pauline? Du bist doch mit mir zufrieden?«

»Ja, meine Gute,« versetzte Pauline, »du gibst sehr guten Unterricht und bist sehr gewissenhaft. Darauf baue ich ja gerade meine Hoffnung, daß alle die sehnsüchtigen Grillen nach und nach vergehen werden und daß ich dich doch noch mal in der Fabrik Lenke als Herrin schalten und walten sehe.«

Mit diesen Worten verließ sie lachend das Zimmer. Amalie aber schüttelte wehmütig den Kopf und dachte: »Nein, sie versteht mich nicht, so trefflich sie ist; die Sehnsucht nach dem Ideal in Liebe und Leben ist doch keine bloße Grille; sie ist aber eine traurige Mitgift der Natur für die, denen sie nie erfüllt werden soll.«


[53] Der wichtige Ballabend war da und der Saal des Rathauses, der zu solchen Angelegenheiten diente, füllte sich rasch mit allen, die nur irgendwie zur Gesellschaft der Stadt gehörten, von den höhern Beamten an bis zum Apotheker und Krämer hinab. Die Justizrätin mit Mann und Tochter hatten sich früh eingefunden, um einen Ehrenplatz einzunehmen. Die Mutter sowohl wie die Tochter waren auffallend und überladen gekleidet, was das gewöhnliche Äußere beider nur noch mehr hervortreten ließ. Mit Erstaunen und Neid sah die Justizrätin, als Heinrich Holm, seinen beiden Schwestern den Arm gebend, in den Saal trat, wie anziehend Amalie in ihrem einfachen, aber geschmackvollen Anzug aussah. »Sehen Sie nur die Schulmamsell,« flüsterte sie der Präsidentin zu, neber der, als der vornehmsten Dame der Stadt, sie stets zu sitzen bemüht war, »was sich die für ›aires‹ gibt! Das hat gewiß die arme Schwester mit ihren paar Talern bestreiten müssen. Na, Hochmut kommt noch mal zu Fall! Und bei alldem sind es doch nur Lumpen, man sieht es doch gleich, was ›Tojeletten von valör‹ sind; die Spitzen, Blumen und Bänder an Linchens Anzug allein haben zwölf Taler gekostet.«

Die Präsidentin, die eine Großstädterin war, bezeugte ihre Teilnahme durch ein halb spöttisches, herablassendes Lächeln und wandte sich dann zu ihrer Nachbarin auf der andern Seite, um ein Gespräch zu beginnen. Die Holmschen Schwestern hatten inzwischen ihre Bekannten begrüßt und Amalie war bei Linchen stehen geblieben, die mit all dem Flitter, den sie auf sich hatte, mit dem roten Gesicht und rötlichen Haar, den roten Armen und der schwerfälligen Gestalt neben Amalie noch doppelt häßlich aussah. Mitten im gleichgültigen Geplauder faßte Linchen plötzlich Amaliens Arm mit starkem Druck und flüsterte:

»Da ist er, da ist er!«

»Wer?« frug Amalie verwundert und sah umher.

»Nun dort – der Baron – er – Lilienfeld – sehen Sie, eben kommt er in den Saal mit seinem Freund, dem Grafen, [54] der mit ihm aus der Residenz gekommen ist und mit dem alten Herrn von Bodmar, unserem Abgeordneten.«

»Das ist der Baron, der Große, Schlanke?« frug Amalie und sah überrascht auf den Bezeichneten; »der ist aber schön, sehr schön,« setzte sie wie in Antwort auf eine eigene, unausgesprochene Einwendung hinzu.

»Ja, natürlich ist er schön,« versetzte Linchen eifrig, »warum wundert Sie das? Die Lilienfelds sind eine schöne Familie und die Mutter soll wunderschön gewesen sein, wie meine Eltern sagen, und dann – vom Adel – das merkt man gleich und immer in der Residenz – in der vornehmen Gesellschaft – das gibt den wahren Anstand, wie Mama sagt.«

Amalie hörte nicht auf ihr Geplauder, aber ihre Blicke weilten noch auf der Erscheinung des jungen Barons, der ihr der schönste Mann dünkte, den sie je gesehen. Sie hatte, wie wir früher sahen, ein Vorurteil gegen ihn; nun nahm sie mit Erstaunen in den feinen Zügen einen so liebenswürdigen Ausdruck, in der vornehmen Haltung so viel Einfachheit und Natürlichkeit wahr, daß sie zu sich selbst sagte: »Vielleicht ist er doch ein ganz anderer, als ich ihn mir vorstellte, solch ein Äußeres kann doch nicht trügen.«

Sie erriet jetzt aus den Bewegungen der Sprechenden, daß der Baron sich von dem alten Herrn von Bodmar, der hier in seiner Vaterstadt lebte und seit mehreren Jahren deren Abgeordneter war, die Hauptmitglieder der Gesellschaft nennen ließ und sie empfand eine Regung der Freude, als er sich zu ihrem Bruder, der mit Lenke und andern Bürgern im Gespräch stand, führen und sich ihm vorstellen ließ. Sie sah, wie er Heinrich die Hand reichte und sich dann, wie es schien, in ein ernstes Gespräch mit ihm vertiefte.

»Mein Himmel,« sagte Linchen, »er geht zuerst zu Ihrem Bruder und mein Vater steht doch ganz nah dabei. Das wird ein Versehen von dem dummen Bodmar sein! Ich bin zu neugierig, ob er tanzen wird! Ich habe mir den ersten Walzer frei erhalten, denn Mama sagte, er würde ohne Zweifel den Ball mit mir eröffnen. Daß er einer der besten Tänzer der [55] Residenz ist, weiß ich schon; die Damen reißen sich dort förmlich um ihn. Eine ungarische Gräfin, eine verheiratete Frau, soll zum Sterben in ihn verliebt sein!«

»Aber woher wissen Sie das alles?« fragte Amalie zerstreut, indem ihre ganze Aufmerksamkeit auf die beiden jungen Männer konzentriert war, wobei sie mit einer sie selbst überraschenden Befriedigung sah, daß die Züge ihres Bruders einen immer freundlichern Ausdruck annahmen und daß er sich willig dem Gespräch hinzugeben schien.

»Sehen Sie nur, wie häßlich die andern neben ihm aussehen,« plauderte Linchen weiter, »ausgenommen Ihr Bruder; aber sehen Sie Lenke – wie ein Bauer scheint er neben Lilienfeld – selbst sein Freund, der Graf, ist häßlich gegen ihn!«

Amalie warf einen Blick nach diesem, den sie bisher nicht angesehen hatte und bemerkte einen kleinen, äußerst eleganten Herrn in nachlässig-vornehmer Haltung, der die Lorgnette ins Auge gekniffen, die Gesellschaft musterte.

»Uh, der sieht aus wie Mephisto,« sagte Amalie, »vor dem hätte sich Gretchen auch gefürchtet.«

»Mein Gott, so einem vornehmen Mann mag unser Saal und alles hier so recht provinzialisch vorkommen,« sagte Linchen entschuldigend. »Aber nun – nun kommt der große Augenblick,« rief sie beinahe laut, als jetzt die ersten Töne der Geigen den Beginn des Tanzes verkündeten und die Paare anfingen, sich aufzustellen.

»Linchen, stell dich neben mich,« flüsterte ihr die Mutter zu, »Papa wird uns jetzt jedenfalls den Baron bringen und« – – aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, denn in dem Augenblick nahte zwar wirklich der Baron, aber begleitet von Heinrich Holm und ging gerade auf Amalie zu, deren Wangen ob dieser auffallenden Auszeichnung sich mit höherm Rot färbten, was sie ungemein anmutig erscheinen ließ.

»Der Baron von Lilienfeld wünscht dir vorgestellt zu sein, liebe Amalie,« sagte Heinrich.

»Ich möchte Sie bitten, mir diesen Tanz zu schenken, mein [56] Fräulein,« versetzte der Baron, sich vor ihr verneigend und dann einen freundlichen Blick auf sie werfend, der Amaliens Herz jäh erbeben machte. Sie trat mit ihm in die Reihen, etwas verwirrt und beschämt, da sie mehr fühlte als sie es sah, daß alle Blicke auf ihr ruhten und Neid und Mißgunst sich auf den Gesichtern der Ballmütter und der tanzfähigen Töchter malten. Besonders drückte das Gesicht der Justizrätin unverhohlen ihren Ärger aus und sie nahm sich gleich vor, ihren Mann das entgelten zu lassen, denn nur seinem Mangel an Gewandtheit konnte sie einen so entsetzlichen Etikettenfehler zuschreiben. Linchen sah sich verzweifelt nach einem andern Tänzer um, denn beim ersten Walzer sitzen zu bleiben, hätte sie für eine kaum zu überlebende Schande angesehen. Mit Dankbarkeit empfand sie es, als Lenke sich nahte und sie um den Tanz bat, obgleich es ihrer Mutter Ärger vermehrte, daß sie gerade mit dem Wahlkonkurrenten des Barons tanzen mußte.

Amalie schwebte indes mit Entzücken im Arm ihres Tänzers dahin. So hatte sie noch nie getanzt; es schien ihr, als berühre sie die Erde kaum, so sicher wiegte er sie im Rythmus des Walzers. Als sie wieder standen, sagte er mit einer Stimme, deren Wohllaut ihr wie Musik schien, daß er vor allem gewünscht habe, die Bekanntschaft ihres Bruders zu machen, dessen ausgezeichneten Charakter man ihm so gerühmt habe und von dem er Belehrung und Rat zu er halten hoffe über alle Verhältnisse des Bezirks, den er zu vertreten wünsche.

Dieses Lob des geliebten Bruders gab Amalie ihre ganze Unbefangenheit zurück und sie fing an, diesen mit solcher Herzenswärme zu schildern und so feurig von seinem Geist und edlen Herzen zu sprechen, daß des Barons Blick mit Wohlwollen auf ihr ruhte, denn die Bewegung der Seele verklärte sie bis zur Schönheit. Sie begegnete plötzlich diesem Blick und er traf sie mit einer unerklärlichen magnetischen Gewalt, so daß sie erschrocken die Augen niederschlug und schwieg. Der Baron aber sagte:

[57] »Wie schön, so von einer Schwester geliebt zu werden, dies Glück habe ich nie gekannt.«

Gerührt hob Amalie die schönen, dunklen Augen zu ihm auf und für eine Sekunde ruhten ihre Blicke ineinander. In Amaliens Herzen ging etwas Unsagbares vor; sie erwachte wie aus einem Traum, als der Baron sie an ihren Platz zurückgeführt und, sich vor ihr verneigend, sie verlassen hatte. Sie setzte sich zu Pauline, faßte, ohne zu wissen, was sie tat, der Schwester Hand und drückte sie heftig.

»Nun, Malchen, das verzeiht dir die Justizrätin ihr Lebelang nicht,« flüsterte Pauline ihr lächelnd zu; »aber was hast du denn? Du bist ja ganz aufgeregt, war er unausstehlich hochmütig und hat er dich in Zorn gebracht?«

»O, Pauline, er ist ganz anders als wir gedacht haben,« erwiderte Amalie, »so einfach, so gut! Wenn du gehört hättest, wie er von Heinrich sprach – er wünscht seinen Rat, seine Belehrung über die Verhältnisse hier« –

»Pah,« unterbrach sie Pauline, »er will gewählt werden, dazu braucht er Heinrich; ich gebe nichts darauf; so ein Muttersöhnchen – da ist nichts dahinter – der da, das ist etwas anderes,« fuhr sie fort und warf einen Seitenblick auf Lenke, der eben Linchen vom Tanz zurückgeführt hatte und nun, in sichtbarer Verlegenheit mit sich kämpfend, dastand, wie um den Mut zu einem Wagnis zu finden. Pauline glaubte ihn zu erraten und grüßte ihn lächelnd zuerst, worauf Lenke sich ein Herz faßte und sich den Schwestern mit linkischem Gruß nahte. Pauline begann alsbald ein lebhaftes Gespräch und suchte Amalie mit hineinzuziehen, diese aber war zerstreut und einsilbig, so daß das Gespräch schließlich den beiden ersten ganz anheimfiel, während ihre Blicke durch den Saal schweiften, um die hohe, edle Gestalt ihres Tänzers zu suchen, die in ihrer Vornehmheit gar leicht unter den übrigen Männern herauszufinden war. Sie sah ihn mit seinem Freund, dem Grafen, stehen, der lebhaft zu ihm sprach und, wie sie zu erraten glaubte, wohl seinem Spott über das Fest und die Menschen Luft machte. Es tat ihr weh, daß der [58] Baron lächelnd zuhörte; sie fühlte aber, wie kleinstädtisch und armselig ihm das alles vorkommen müsse und es ergriff sie eine Art Beschämung über die Mitte, in der sie sich selbst befand. Plötzlich durchzuckte es sie aber mit jähem Schreck, sie sah und konnte sich nicht darüber täuschen, daß sie der Gegenstand des Gespräches geworden war, denn die Lorgnette des Grafen richtete sich auf sie und ein ironisches Lächeln umspielte seinen Mund, während der Baron zu ihm sprach. Amalie errötete heftig, wandte sich rasch zur Seite zu einem jungen Mädchen und fing so hastig und verwirrt an über die unerträgliche Hitze im Saal zu sprechen, daß jene sie verwundert ansah und meinte, sie fände es gar nicht heiß. Sie wagte eine Zeitlang nicht wieder nach jener Stelle hinzusehen, bis die Musik anfing zum ferneren Tanz und sie Lenkes Stimme vernahm, der sie um den Tanz bat. Ein flüchtiger Blick zeigte ihr, daß die beiden Freunde verschwunden seien und es war ihr wie eine Erleichterung, daß diese es nicht sehen würden, wenn sie mit dem wenig gewandten Tänzer tanze, da sie keinen Grund hatte, es Lenke abzuschlagen. Auch sah sie, wie Pauline mit beglücktem Lächeln zu ihr aufsah, als sie sich erhob, um zum Tanze anzutreten und nun, durch diese aufmerksam gemacht, glaubte sie selbst in Lenkes Wesen, in seiner sichtlichen Befangenheit, im zärtlichen Ausdruck seiner Augen, ein Gefühl zu entdecken, an das sie bisher nicht gedacht hatte. Aber anstatt ihr angenehm zu sein, stieß diese Entdeckung sie zurück und machte ihr den Mann fast widerwärtig; es war ihr, als sähe sie ihn zum erstenmal und er erschien ihr so häßlich, so ungeschickt, so alt, daß sich alles in ihr aufbäumte gegen eine Neigung, die sie nun mit jedem Augenblick deutlicher zu erkennen glaubte. Es war ihr peinlich, mit ihm zu tanzen, seinen Atem auf ihrer Wange, seinen Arm um sie geschlungen zu fühlen und sie verhielt sich so einsilbig, so zurückhaltend, daß Lenke eingeschüchtert schwieg und beide, wenn nicht tanzend, stumm nebeneinander standen.

Da hörte sie dicht hinter sich eine Stimme: »Fräulein, darf ich um eine Extratour bitten?«

[59] Es durchfuhr sie ein süßes Erbeben; sie wandte sich um und sah den Baron, der, ohne daß sie es bemerkt hatte, hinter ihr stand und neben ihm den Grafen, der sie scharf ansah. Sie errötete tief; Lenke verneigte sich und überließ sie dem schönen Tänzer, der rasch den Arm um sie schlang und mit ihr davonflog. »Sie hatten einen gar schwerfälligen Tänzer,« flüsterte er ihr im Tanzen zu. Amalie sah zu ihm auf und als sie das schöne Antlitz so nah an dem ihrigen sah, den feinen Mund, unter dem blonden Schnurrbart anmutig lächelnd und die sanften Augen, die sich tief in die ihrigen senkten, da zog es wie ein elektrischer Strom zu ihrem Herzen hinab und ohne zu wissen, was sie tat, lächelte sie ihm wieder statt der Antwort zu. Der Baron mußte wohl etwas in diesem Lächeln und dem Aufschlag ihrer Augen gelesen haben, was sie selbst nicht wußte, denn sein Arm schloß sie fester an sich, so daß er das heftige Klopfen ihres Herzens fühlte und er ließ nicht nach, mit ihr im Kreis zu fliegen, bis plötzlich die Musik verstummte und der Tanz zu Ende war. Nun führte er die Atemlose an den Platz zurück, wo Lenke verlassen stand, entschuldigte sich bei diesem, daß er, hingerissen von der Lust am Tanze, seine Erlaubnis mißbraucht habe und wendete sich dann zu Amalie: »Auch Sie muß ich um Entschuldigung bitten, Fräulein,« sagte er, »ich habe Sie ganz erschöpft; darf ich Sie in das Zimmer der Erfrischungen geleiten, um etwas auszuruhen?«

Amalie nahm seinen dargebotenen Arm an, ohne zu zögern, obgleich diese Aufforderung gegen die Sitten der Provinzialstadt verstieß. Aber sie war bereits unter einem Zauberbanne und hinübergezogen in eine Sphäre, in der es ihr heimatlich vorkam. Was sie umgab, erschien ihr schon fremd, schon nicht mehr zu ihr gehörig. Sie grüßte Lenke kaum, der ihr einen verwunderten, traurigen Blick nachsandte. Der Baron führte sie durch mehrere Zimmer, in denen die Herren, die nicht tanzten, teils beim Kartenspiel, teils beim Billard sich unterhielten und dem auffallenden Paare neugierig nachsahen. Das letzte Zimmer war das der Erfrischungen, die von aufwartenden [60] Frauen verabreicht wurden. Der Baron bot Amalie einen Sitz und bediente sie nun selbst mit Speise und Trank; dann setzte er sich zu ihr und fing an zu plaudern, gemütlich, vertraulich, als wären sie alte Bekannte, aber immer fein und achtungsvoll, so daß aus Amaliens Herzen jede Spur von Beklemmung wich. Sie gab sich unbefangen dem für sie neuen Reiz eines solchen Verkehrs hin und ließ nach und nach die Grazien ihrer Seele, die im häuslichen Leben meist zurückgedrängt waren, wie leicht beschwingte Psychen hinausflattern in den Glanz, der sie umleuchtete. Sie sprach ihm von ihrer Sehnsucht nach Italien, nach dem Lande der Schönheit, nach Anschauungen aus einer andern Welt als die enge, kleinbürgerliche Sphäre, in der sie lebte und fragte ihn endlich, warum er nicht wie sein Vater halb im Süden, halb auf der Lilienburg lebe und ob er die künstlerischen Neigungen seines Vaters teile. Der Baron hatte ihr mit sichtlichem Wohlgefallen zugehört; bei dieser Frage errötete er etwas und sagte dann in leiserem Ton, indem er sich näher zu ihr beugte: »Hierauf muß ich Ihnen etwas antworten, was ich bisher noch niemandem gestanden habe; aber Sie flößen mir ein solches Vertrauen ein, als kennten wir uns schon lange und als könnte ich Ihnen alles sagen. Meine Mutter hatte ganz andere Neigungen wie mein Vater; als er starb, war sie noch jung und sehr schön und es zog sie zurück zu den weltlichen Freuden, zu denen sie Geburt, Reichtum, Stellung, kurz alles befähigte. Ich war noch sehr jung, hing als Unmündiger noch ganz von ihr ab; sie führte mich mit sich in die Residenz. Ich hatte dort mehrere Jahre des Studiums vor mir, die nicht unterbrochen werden sollten; während derselben lehrte sie mich die Freuden des geselligen Lebens in der glänzendsten Form kennen, in der sie für einen Jüngling immer etwas Verführerisches haben; dabei überhäufte sie mich mit Zärtlichkeit, denn ich bin vielleicht das einzige auf Erden, was sie wahrhaft liebt und als ich fertig studiert hatte und mündig war, fand ich mich so gefesselt, so ihrem starken Willen untertan, so von tausend Banden geselliger Verpflichtungen umstrickt, [61] daß ich nach jedem schwachen Versuch, mich loszureißen, eine vollständige Niederlage erlitt, um so mehr, da sie dann mein Herz bestürmte und mir sagte, daß ich ihr alles sei und sie nicht verlassen dürfe. Endlich aber erwachte doch mein Mannesstolz zu mächtig; ich begann mich des tatenlosen, nur dem Genuß geweihten Lebens zu schämen und ich erklärte meiner Mutter, ich wolle hierher gehen, mich um das Vertrauen meiner Vaterstadt bewerben, um ihre Rechte im Parlament zu vertreten und so nützlich zu werden für meine Mitmenschen. Diese Idee gefiel ihr, weil sie mich an die Residenz fesselte und sie ließ mich hierher allein gehen, weil ihr der Aufenthalt in Lilienburg zu einsam ist. Sehen Sie, das ist meine Geschichte, Fräulein,« schloß er, »ich habe mich Ihnen schwach gezeigt, wie ich war, aber ich hoffe, Ihre und Ihres Bruders Achtung zu verdienen, damit er mir hilft, ein meinem Lande nützlicher Mann zu werden.«

Er schwieg. Sie war tief bewegt, in ihren Augen glänzten Tränen der Rührung, daß er ihr das alles so einfach, so vertrauensvoll erzählt hatte; sie sah in dem allen den Beweis eines tiefen, edlen Charakters, eines liebevollen Gemüts und ohne daran zu denken, daß sie noch vor wenigen Tagen das Gegenteil gewollt hatte, rief sie, von ihrem Gefühl hingerissen: »O gewiß, mein Bruder wird und muß Ihnen helfen; so edles Wollen muß den Erfolg haben, den es verdient. Niemand besser als mein Heinrich kann Sie in alles einweihen, was unserem armen, nordischen Stückchen Erde hier nottut.«

Der Baron sagte: »Ich danke Ihnen, teures Fräulein; meine Ahnung hat mich nicht betrogen; war mir's doch gleich, als ich mich im Kreise der Damen heute abend umsah und mein Blick auf Sie fiel und Ihr Bruder mir dann sagte, Sie seien seine Schwester, als habe ich meinen Schutzengel gefunden.« Er sah sie so voll Innigkeit an, daß Amaliens Herz mit Ungestüm klopfte; doch faßte sie sich gewaltsam und sagte: »Ihr eigenes Verdienst wird Ihr Schutzengel sein; aber wenn Sie wirklich etwas Ernstes für unsere Gegend tun wollen, dann müssen Sie öfter hier sein und ich denke mir, es kann [62] Ihnen nicht so schwer fallen, auf Ihrer herrlichen Lilienburg zu leben, die so viel Schönes enthalten soll, daß man sich nach Italien träumen könnte.«

»Waren Sie denn nie dort?« frug der Baron.

»Wie sollte ich? Seit dem Tode Ihres Vaters war sie verschlossen und ich hatte keine Erlaubnis, dorthin zu gehen, wiewohl ich mich oft darnach sehnte.«

»Ach, dann müssen Sie mir die Freude machen, mich mit den Ihrigen zu besuchen,« rief der Baron, »ich werde Ihren Bruder selbst darum bitten. Wie soll es mich freuen, Ihnen die Sammlungen meines guten Vaters zu zeigen.«

Sie waren die Zeit über allein gewesen, im Saal war alles mit Tanzen beschäftigt; aber sie hatten die Musik kaum gehört und Amalie wenigstens hatte völlig vergessen, daß wenige Schritte von ihr getanzt würde und daß man sie wahrscheinlich vermisse. Jetzt ertönte von neuem die Musik eines Walzers und der Baron rief aufspringend: »Ach, nun habe ich Sie ganz vom Tanz zurückgehalten mit meinem Geplauder, erlauben Sie, daß ich Sie zurückführe.«

»Ja, gehen wir,« sagte Amalie aufstehend, obgleich sie viel lieber geblieben wäre, »aber die versäumten Tänze bedaure ich nicht.«

Der Baron lächelte ob des Geständnisses, das sie in aller Unschuld machte, ohne den Schluß zu ahnen, den er daraus ziehen mußte, doch sie sah sein Lächeln nicht. Er bot ihr den Arm, um sie zurückzuführen, da erschien Pauline auf der Türschwelle und blieb betroffen stehen, als sie sah, in wessen Gesellschaft Amalie sich hier befand.

»Da bist du,« sagte sie verlegen, »ich suchte dich überall« –

»Meine Schwester Pauline,« – begann Amalie, auch etwas verlegen.

Der Baron verneigte sich vor der ältern Schwester und mit der Gewandtheit des Weltmannes, der durch irgendeine Wendung die gepreßten Gemüter gleich zu befreien weiß, hub er alsbald an: »Ich muß um Verzeihung bitten, ich hatte, verlockt von dem Vergnügen, mit einer so guten Tänzerin zu [63] tanzen, Ihre Schwester ganz atemlos und müde gemacht, so daß ich es für meine Pflicht hielt, sie etwas zum Ausruhen herzuführen. Nun habe ich eben das Versprechen eines Besuches auf Lilienburg erhalten, ich hoffe, daß auch Sie mir diese Freude machen?«

Pauline neigte bejahend den Kopf und murmelte etwas von »gerne«.

»Dann beurlaube ich mich jetzt, meine Damen, ich will Ihrem Bruder noch meine Bitte vortragen und dann nach Haus zurückkehren. Auf Wiedersehen!« sagte er grüßend und sein freundlicher Blick begegnete noch einmal dem Amaliens und machte sie erröten.

Die Schwestern blieben zurück; Amalie suchte vergebens ihre Bewegung zu verbergen, Paulinens klares Auge hatte sie bereits durchschaut.

»Du tatest nicht klug, so lange mit dem Baron hier allein zu bleiben,« sagte sie im Tone des Vorwurfs, »die Leute werden es bemerkt haben und da du ohnehin im Ruf stehst, etwas Außerordentliches sein zu wollen, wird man darüber sprechen und spotten. Die Justizrätin ist so schon ganz außer sich vor Ärger. Der Monsieur hat sich ihr nicht einmal vorstellen lassen, nicht mit Linchen getanzt, die schönen ›Tojeletten‹ haben keine Wirkung gehabt; du kannst dir denken, wie sie über dich sprechen wird und ich gestehe, es ist mir auch unangenehm, daß er dich so auffallend ausgezeichnet hat; es lenkt die Aufmerksamkeit unnütz auf dich und er tut es doch nur, um Heinrich für sich zu gewinnen.«

Die letzten Worte gaben Amalie einen Stich ins Herz und überhaupt verletzte sie Paulinens Ton, der ihr so ungerecht gegen den Baron erschien. Doch wollte sie das der Schwester nicht zeigen, weil es Pauline auf die rasche, seltsame Veränderung, die sie in sich vorgehen fühlte, aufmerksam gemacht hätte. Sie beschränkte sich daher zu sagen, daß der Baron sie angenehm und anregend unterhalten habe, was ihr als etwas Neues interessanter gewesen sei als das Tanzen, das ihr ohnehin kein großes Vergnügen mache, weshalb sie auch die [64] Schwester bitte, jetzt mit ihr nach Haus zu gehen, denn sie sei müde.

»Du willst nicht mehr tanzen?« fragte Pauline und sah sie scharf an. Amalie errötete, sie fühlte, was dieser Blick sagen wollte, doch nahm sie wie gewöhnlich Paulinens Schärfe gegenüber zur Zärtlichkeit ihre Zuflucht, als dem Mittel, das immer seinen Zweck erreichte. Sie hing sich an den Arm der Schwester und sagte bittend:

»Ja, mein Paulinchen, laß uns nach Hause gehen; ich möchte gar nicht wieder in den Saal und mich dem Grimm der Justizrätin preisgeben.«

Sie lachte und Pauline lachte auch und willigte ein. Im Nebenzimmer trafen sie Lenke und trugen ihm auf, Heinrich zu sagen, daß sie nach Hause gegangen seien, was sich in der kleinen Stadt ohne den mindesten Anstoß tun ließ. Lenke aber erbot sich schüchtern, sie zunächst nach Hause zu begleiten und dann zurückzukehren und die Botschaft auszurichten. Amalie wollte ablehnen, aber Pauline kam ihr zuvor und nahm das Anerbieten mit freundlichem Dank an. Lenke bot nun beiden Schwestern den Arm und obwohl Amalie lieber allein gegangen wäre, so fürchtete sie doch Paulinens Mißbilligung, wenn sie Lenke abermals schnöde behandle und nahm daher seinen Arm an, überließ es aber Pauline, das Gespräch zu führen, bis sie an ihrer Haustür angelangt waren.

Als sie sich allein in ihrem Zimmer befand, atmete sie tief auf wie befreit, sich endlich selbst fragen zu können, was denn geschehen sei, da es ihr vorkam, als sei ihr ganzes Leben ein anderes geworden, als sei der Nebel, der ihr Dasein und ihre Zukunft umgab, zerrissen, als sähe sie in ein fernes, sonnenbeglänztes Land der Schönheit.

»Nein, das Ideal von Mensch und Leben ist keine Täuschung,« rief es jubelnd in ihrem Herzen; sie sah das schöne Angesicht, die edle Haltung vor sich, sie fühlte den magnetischen Zauber, den seine Blicke auf sie übten, sie flog noch einmal an seinem Arm, dicht an ihn geschmiegt, dahin, sie hörte die wohllautende Stimme, die ihr Worte sagte, welche [65] ihr von Geist und Bildung erfüllt schienen, wie sie sie in so edler Form noch nie vernommen hatte, kurz, sie träumte einen Traum, so herrlich und süß wie noch nie und alle Qual war von ihrer Sehnsucht genommen; diese war ein Schmetterling geworden, der mit glänzenden Flügeln fortflatterte aus der kalten Winternacht, dahin, wo die Sonne strahlte und wo tausend Blumenkelche winkten, um sich darauf zu wiegen. Sie hatte die Zeit vergessen – vergessen, daß sie noch im Ballschmuck war, vergessen, daß sie am folgenden Morgen früh zur Schule mußte, um einige Stunden zu geben. Plötzlich fuhr sie mit jähem Schreck empor, denn vom nahen Kirchturm schlug es zwei Uhr nachts. Das trübe Licht der beinahe herabgebrannten Kerze zeigte ihr in dem kleinen Spiegel, der ihr gegenüber hing, ihr eigenes Antlitz, geisterhaft bleich, noch mit dem Ballschmuck im Haar; zugleich fühlte sie sich von einem kalten Schauder durchrieselt; im Zimmer war es bitter kalt und sie hatte beim Eintreten den Mantel abgeworfen und in dem dünnen Ballkleid stundenlang gesessen. Mit einem Male trat die Wirklichkeit in ihr Recht; die schimmernden Schmetterlinge entflohen; es war die kalte schaurige Winternacht, die sie umfing; es waren die Schulbücher auf dem Tisch, die sie an ihre Lehrerpflicht für den bereits angebrochenen Tag mahnten, an die fünfzig Pfennige, die sie sich mit einer Stunde angestrengten Lehrens verdiente; es war die ganze schmuck- und schönheitslose Öde ihrer Existenz, die sie aus der dürftigen Ausstattung ihres Zimmerchens anstarrte. »Ach Gott,« stöhnte sie und preßte beide Hände auf ihr Herz, das heftig schmerzte, »welch eine Törin bin ich, so schnell mich einem Eindruck hinzugeben, wenn er auch so übermächtig hold war, wie ich noch nichts Ähnliches erlebt habe. Aber Pauline hat recht – es war nur Heinrichs wegen – was könnte es anderes sein? Er – auf den Gipfeln des Lebens, in Glanz und Glück – ich – eine Sklavin der Arbeit wie so viele – ach so viele – was für ein Recht hätte ich, eine Ausnahme zu sein? Nein, Amalie, sei hart und stolz, daß er nie ahne, wie töricht du warst, sonst würde er dich vielleicht verachten – [66] rasch, rasch zu Bett, damit du morgen deiner kalten Pflicht genügen kannst.« Mit fieberhafter Hast entkleidete sie sich, warf sich aufs Bett, löschte das Licht aus und verbarg ihr Gesicht in die Kissen, als könnte sie damit die Tränen ersticken, die noch lange aus ihren Augen flossen.


Der Baron war mit seinem Freund ebenfalls nach Haus zurückgekehrt.

Die Lilienburg lag eine halbe Stunde von der Stadt entfernt, aber die Equipage des Barons trug sie in kürzerer Zeit dahin. Als sich das Gittertor des Parks vor ihnen öffnete, sahen sie das Licht der erleuchteten Eintrittshalle des Schlosses ihnen entgegenschimmern und der Graf rief, aus halbem Schlummer erwachend: »Ach, mon cher, Gottlob, daß man in zivilisierte Zustände zurückkehrt. Die spießbürgerliche Eleganz in der Provinz ist doch nicht zu ertragen. Ich hoffe, dein Koch hat noch etwas kalte Küche und dein Keller noch einen edlen Bordeaux! Ich sterbe vor Hunger, denn von dem Zeug dort habe ich nichts essen können.«

Der Baron, der während der Fahrt gleich seinem Freund kein Wort gesprochen hatte, obwohl er nicht schlief, eilte die Marmorstufen, die zum Schlosse führten, hinauf und befahl dem Diener, der die prächtige, mit Statuen und Pflanzen geschmückte Vorhalle öffnete, das Gewünschte in den Eßsaal zu bringen. Nach einigen Minuten saßen beide Freunde, vom Ballanzug befreit, in eleganten Schlafröcken beim Souper im großen Speisesaal, vor dem hellflammenden Feuer des altertümlichen Kamins und durchsprachen den verlebten Abend, wobei es der Graf nicht fehlen ließ, alles und jedes lächerlich zu machen.

»Aber wie du hier losgehst, liebenswürdigster aller Don Juans,« rief er lachend, »das ist kolossal; förmlich im Sturmschritt! Nun, die Festung war wohl nicht allzuschwer zu nehmen, die schlanke Blonde schien mir schon ganz verliebt. Sie war übrigens wirklich die einzige, mit der man sich beschäftigen [67] konnte unter all diesen Landviolen; sie ist keine vollendete Schönheit, aber eine fesselnde Erscheinung.«

»Das sagt viel, wenn du, kritischer Kenner, das findest,« erwiderte der Baron, »aber sprich wirklich nicht frivol von diesem Mädchen, sie scheint mir ungewöhnlich, hat Geist und Gefühl und alles ist frisch und unmittelbar bei ihr, nicht gemacht und prätentiös wie bei unseren gebildeten jungen Damen.«

»Wie du gleich schwärmst,« sagte der Graf, »gleich an die sublimsten Eigenschaften und an unbestechliche Tugend glaubst! Ach Eugen, Eugen – die naiven Gretchen vom Lande fallen noch leichter als die gewitzigten Damen der Gesellschaft. Übrigens rate ich dir, vorsichtig zu sein; dieser Herr Holm sieht gar nicht aus, als ob er mit sich spaßen ließe. und indem du die Schwester zu gewinnen suchst, meinst du doch nur den Bruder, den du nötig hast für deine Wahl. Eigentlich ist's eine Dummheit, diese Manie dich wählen zu lassen,« fuhr er fort, »ich habe es dir schon so oft gesagt: wer so wie du alles hat, um das Leben zu genießen, wozu braucht sich der in diese unfruchtbaren Schwätzereien, die man Parlament nennt, einzulassen? Du willst dich nützlich machen? Warte, biswir das Regiment wieder in Händen haben, dann können wir uns nützlich machen, ohne daß wir erst nötig haben, diesem bürgerlichen Pöbel zu schmeicheln, damit er uns die Ehre antue, uns zu seinen Vertretern zu wählen.«

»Du weißt, mein Lieber, hier weichen unsere Ansichten voneinander ab,« versetzte Eugen, »die Zeiten, wo wir, wie du sagst, regieren werden, können nie zurückkehren. Der Geist der Demokratie geht langsam und sicher seinen Weg. Nach der einen Seite will man ihm mit Gewalt wehren, nach der andern treibt man ihn zu Exzessen; aber zwischen diesen beiden Extremen schreitet die Welt unaufhaltsam zu einer neuen Form menschlicher Zustände fort, zu einer Ausgleichung zwischen den schroffen Gegensätzen von Reichtum und Armut, von privilegiertem Adel und belastetem Bürgertum, zur Aufhebung des Proletariats. Dieser Bewegung muß jeder vernünftige,[68] wohlwollende Mensch sich anschließen, um mitzuhelfen, sie in die rechten Bahnen zu leiten. Dazu muß man die gesellschaftlichen Zustände studieren und sich an den Verhandlungen darüber beteiligen.«

»Du sprichst wie ein Buch,« sagte der Graf und zuckte ungeduldig die Achseln. »Diese Richtung ist die Erbschaft deines Vaters; ich wundre mich nur, daß Mamas Einfluß dich nicht von der philanthropischen Manie geheilt hat.«

»Ach, was das betrifft« – hub Eugen mit einem tiefen Seufzer an.

»Sag, was du willst,« unterbrach ihn der Graf, »deine Mutter ist eine Frau von großem Verstand, sie kennt das Leben und weiß, daß es töricht ist, gewisse Vorrechte aufzugeben. Ich hoffe auch, daß, wenn du durchaus öfter hier leben willst, sie mitkommen und die Gesellschaft und Freuden der Residenz hierher nachziehen wird. Dann – à la bonheur! dann ist's das Leben eines grand seigneur. Zum Glück bist du ein weiches Wachs in den Händen deiner Mutter, das ist immer mein Trost.«

»Und mein ewiger Vorwurf mir selbst gegenüber,« sagte Eugen halblaut.

»Ach, gehen wir zu Bett, mon cher; du bist in deiner elegischen Stimmung; das kommt von der Bekanntschaft mit dem blonden Gretchen und ihrem schwindsüchtigen Bruder, denn daß der die Schwindsucht bekommt, wenn er sie nicht schon hat, das ist sicher.«

Der Graf erhob sich gähnend; Eugen schellte dem Diener, der den silbernen Armleuchter ergriff, um den Herren die Marmortreppe hinauf zu den Schlafzimmern vorzuleuchten.

Am folgenden Morgen beim Frühstück drehte sich in der Holmschen Familie das Gespräch natürlich auch um die Ereignisse des Ballabends. Die Mutter erfreute sich an den witzigen Erzählungen Paulinens, die es nicht unterließ, die Ausbrüche des Ärgers der Justizrätin bei Amaliens Triumphen in drastischer Weise nachzuahmen.

»Nun, das ist aber auch wirklich eine Ehre für unser Malchen,« [69] sagte die Mutter und blickte geschmeichelt auf die jüngste Tochter, die ungewöhnlich bleich und still war. »Du bist doch nicht unwohl, mein Herzchen?« setzte sie besorgt hinzu, indem sie Amaliens Blässe bemerkte.

»Nein, Mütterchen, ich bin etwas müde, das ist alles,« versetzte Amalie.

»Wie hat er dir denn gefallen, der Baron, mein' ich,« fragte die Mutter wieder.

»Seine Unterhaltung war sehr angenehm,« erwiderte Amalie, »sonst kenne ich ihn ja noch nicht.«

»Mir hat er sehr gefallen,« nahm Heinrich das Wort, »ich hatte ein Vorurteil gegen ihn, aber es ist geschwunden; er ist sehr gebildet und scheint das Herz seines Vaters und den ernsten Willen zu haben, für unsere Interessen im besten Sinne tätig zu werden. Ich gestehe es, er hat meine Ideen in Beziehung auf die Wahl erschüttert.«

»Nun, da haben wir's,« rief Pauline und wurde rot vor Eifer, »das sind wieder gleich die zwei Idealisten! Kaum kommt ein hübscher Mensch mit feinen Manieren, der seine Worte zu setzen weiß, so sind sie entzückt und machen ein Ideal aus ihm. Ich hoffe doch, Heinrich, du lässest dich nicht irremachen und verwendest deinen Einfluß für Lenke. Du weißt ja gar nicht, was hinter dem Herrchen ist; vielleicht das Nichts in einer hübschen Form, während bei Lenke das Gefäß nicht so glänzend ist, aber der Inhalt dafür köstlich.«

»Nun, nun, Pauline,« sagte Heinrich lächelnd, »wenn Amalie und ich Idealisten sind, so bist du dagegen eine so exklusive Demokratin, daß du das Gute und Liebenswerte, wenn es Baron heißt, nicht anerkennen willst. Übrigens hat uns der Baron auf Sonntag, als unserem freien Tag, eingeladen, bei ihm zu frühstücken und die Schätze der Lilienburg zu besehen. Du kommst doch auch mit, Mutter?«

»Nein, Heinrich, nein,« sagte die alte Frau, sich ängstlich auf den Stuhl zurückziehend, als wolle man sie zu etwas Schrecklichem zwingen, »das kann ich nicht mehr leisten; ich [70] glaube, ich stürbe vor Verlegenheit, mit so vornehmen Herren umzugehen.«

»Aber ihr kommt doch beide?« fragte Heinrich, sich zu den Schwestern wendend. »Ja, er hat es mir auch gesagt, aber wozu eigentlich?« versetzte Pauline. »Es ist ja doch nur, um dir zu schmeicheln.« »Nein, Pauline,« hub nun endlich Amalie an, welche die fortgesetzte Feindseligkeit der Schwester gegen den Baron verletzte, »ich sagte, daß ich die Lilienburg nicht kenne und die Kunstschätze dort gern einmal sähe und darauf sagte er freundlich, er wolle uns einladen und uns alles zeigen.«

»Das ist ja hübsch von ihm,« sagte die Mutter, »das zeigt ein gutes Gemüt; da mußt du doch gehen, Paulinchen; du wirst ja auch Freude haben, die schönen Sachen zu sehen, nicht?«

»Nun ja, mitgehen kann ich ja schon,« erwiderte Pauline zögernd, »aber jetzt muß ich in die Schule; du kommst doch mit, Amalie?« Diese nahm Hut und Mantel und folgte, um ihre Pflicht zu erfüllen. Aber es wurde ihr heute schwerer denn je und wenn sie des morgenden Tages gedachte, klopfte ihr Herz in Furcht und Freude; sie hätte beinahe gewünscht, sie wären nicht eingeladen und doch wäre sie unglücklich gewesen, nicht hinzugehen.

Sie gingen aber hin, die drei Geschwister, oder vielmehr sie fuhren, denn der Baron hatte seinen Wagen geschickt, um sie abzuholen. Mancher neugierige und verwunderte Blick folgte ihnen, als sie durch die Straßen fuhren, manche Bemerkung wurde laut. Linchen stand noch im Morgenanzug am Fenster und erkannte mit bitterem Neid, wer in dem Wagen saß. Sie sprang in das Schlafzimmer ihrer Mutter, die eben sich dem bleiernen Schlaf entrissen hatte, der ihre korpulente Person traumlos zu umfangen pflegte.

»Mama, sie fahren vorbei – sie fahren vorbei – inseinem Wagen,« schrie Linchen in das Zimmer.

»Wer fährt vorbei, in welchem Wagen? Schrei doch [71] nicht so, du hast mich erschreckt, du bist unausstehlich,« schrie die Mutter ihr mit gleich starker Stimme zu.

»Gott, alle Holms, in des Barons Wagen – nach Lilienburg,« erwiderte Linchen unmutig.

»Nicht möglich! Was für Dummheiten sprichst du da,« rief die Mutter, indem der Ärger ihr wieder das Kupferrot auf die Wangen trieb.

»Ach, glaubs nicht, wenn du nicht willst, wahr ists doch; ich stand daneben, als der Baron, ehe er vom Ball ging, den Heinrich Holm einlud, mit seinen Schwestern bei ihm zu frühstücken. Jetzt fahren sie wahrhaftig in seinem Wagen hin, und wir – ken nen ihn noch nicht einmal und sind nicht eingeladen.« Sie schlug die Tür unsanft hinter sich zu und ging an das Fenster zurück, als könne sie dem längst entschwundenen Wagen mit den Blicken bis zu jenem ihr versagten Zauberschloß folgen. Dann brütete sie über ihren Unmut und als die Mutter später in das Zimmer trat, ließen beide ihre üble Laune aneinander aus, bis sie sich später in gemeinsamem Schimpfen auf die Holms, besonders auf Amalie, wieder vereinigten.

Die Geschwister langten indessen bei dem Schlosse an und konnten einen Ausruf des Erstaunens nicht unterdrücken, als sie in die Vorhalle traten. Amalie wurde es zumute, als ginge der Traum ihrer Seele in Erfüllung; hier war Kunst, hier war Schönheit; alle Furcht, alles Gedrücktsein entfloh wie durch Magie aus ihrem Herzen; sie atmete tief auf, fühlte sich frei und glücklich und folgte elastischen Schrittes den Geschwistern zu dem Gemach, das der Diener ihnen öffnete und in dem der Baron sie mit freundlichem Gruß willkommen hieß. Er war so unbefangen, so liebenswürdig, so anmutig gesprächig, daß selbst Pauline ihren inneren Widerstand etwas schwinden fühlte. Heinrich gab sich auch dem Reiz der Unterhaltung hin und zeigte sich als das, was er war, ein gründlich gebildeter, warm und poetisch empfindender Mensch. Amalie war die stillste, aber die am meisten innerlich Beglückte. Alles umfing sie sympathisch. Das Zimmer, in dem [72] sie sich befanden, war mit edlem Luxus eingerichtet; wertvolle Bilder an den Wänden zeigten, daß ein Kenner sie gesammelt habe. Der Baron bemerkte, wie die Blicke Amaliens entzückt von einem derselben zum andern wanderten, er unterbrach plötzlich das Gespräch, das bei anderen Gegenständen weilte und sagte lächelnd zu ihr:

»Ich sehe, Sie verlangen danach, den Ruf von Lilienburg gerechtfertigt zu sehen. Leider kann ich sie Ihnen nicht in ihrem ganzen Glanze zeigen, wenn auch die Natur den Park mit ihren Reizen schmückt, der jetzt öde ist unter seiner Schneehülle; aber bei dem, was die Kunst hier getan hat, bin ich so stolz, Ihnen sogar etwas Führer sein zu können, denn von früh auf hat mein Vater mich mit seinen Schätzen bekanntgemacht und mir Vorkenntnisse gegeben, die mir zustatten kommen werden, wenn ich wieder nach Italien gehe.«

»Sie waren schon einmal dort?« frug Heinrich.

»Ja, als ich sechzehn Jahre alt war; aber das war noch ein unvollkommenes Sehen; damals zog mich die südliche Natur bei weitem mehr an als die Kunst. Aber nun muß ich Sie in den großen Saal führen.«

Bei diesen Worten öffnete er eine Tür und bat seine Gäste, einzutreten. Mit einem Ausruf des Entzückens blieb Amalie auf der Schwelle stehen und preßte unwillkürlich die Hand auf ihr wogendes Herz. Es schien ihr, als trete sie in einen Tempel. In einem hohen gewölbten Saal, der das Licht von oben empfing, standen in Nischen an den Wänden Kopien der edelsten Statuen des Vatikans in natürlicher Größe. Die großartigen Verhältnisse des Raumes, der stilvolle Schmuck, der überall angebracht war, das milde Licht und die Versammlung dieser stillen Götter, alles machte den würdigsten Eindruck, ja den Eindruck des Erhabenen für den, der noch nie ähnliches gesehen hatte. Der Baron ergötzte sich an der freudigen Bewunderung seiner Gäste und erklärte ihnen mit feinem Kunstsinn den Charakter der Statuen und sonstigen hier aufgestellten Kunstwerke, sprach über die verschiedenen Epochen der alten Kunst und sagte zuletzt:

[73] »Und nun denken Sie sich das alles unter einem blauen südlichen Himmel, beschienen von einem reinen Licht, inmitten herrlicher Tempel, in Lorbeerhainen, zwischen allen Wundern der Natur! Denn nur da konnte die künstlerische Phantasie sich zu dieser Vollendung der Form, zu dieser edlen Ruhe in der eigenen Schönheit entfalten. Solche Schöpfungen wie diese wären in unserem düsteren, form- und farblosen Norden unmöglich.«

»Ach, Herr Baron,« rief Pauline lachend, malen Sie kein zu verführerisches Bild vom Süden; meine Schwester ist so schon sehnsuchtskrank nach Italien, wenn sie das hört, wird sie es hier gar nicht mehr aushalten.«

Der Baron blickte Amalie, deren Augen in feuchtem Glanz zu ihm aufleuchteten, lächelnd an und es war ihr, als läge in seinem Blick, in seinem Lächeln eine Verheißung, die ihr Herz in Begeisterung schlagen machte. Nachdem man sich noch längere Zeit der Betrachtung der Kunstschätze erfreut hatte, wurde das Frühstück gemeldet. Nun erschien auch der Graf und bot Pauline den Arm; der Baron führte Amalie zum Speisesaal und Heinrich beschloß den Zug. Der Luxus, der bei der Tafel herrschte, bedrückte Amalie etwas, aber Paulinens derbere Natur verlor ihr Gleichgewicht nicht, teilte es den anderen mit und da sie klug und unterrichtet war, so ließ sich auch der Graf zu heiterem Gespräch hinreißen, so daß die Mahlzeit ganz fröhlich verlief. Als sie beendet war, fanden sich Pauline, der Graf und Heinrich so tief in eine Unterhaltung über die Verhältnisse der Provinz verwickelt, daß sie am Tische sitzen blieben, während der Baron, der inzwischen mit Amalie ein Zwiegespräch geführt hatte, dieser vorschlug, ihr Aquarelle, die sein Vater aus Italien mitgebracht habe, zu zeigen. Sie verließen das Speisezimmer und begaben sich in das zuerst betretene Zimmer. Hier zeigte er ihr eine Sammlung, von Künstlern ersten Ranges gemalt, die schönsten Ansichten der Umgegend Roms und Neapels darstellend. Amalie war außer sich vor Entzücken und horchte begeistert den Erzählungen, [74] die Eugen aus seinen italienischen Erinnerungen hinzufügte.

»Nur allein solche Sachen zu malen, muß schon Seligkeit sein,« sagte sie endlich, »man wird ja schon warm ums Herz, nur diese Bilder anzusehen. Wär nur mein bißchen Zeichnen nicht so unvollkommen« –

»Ah, Sie zeichnen,« fiel ihr Eugen ins Wort, »wollen Sie diese Sachen kopieren? Kommen Sie hierher, ich habe alles Erforderliche, Sie können ungestört hier arbeiten und wenn Sie erlauben, so gebe ich Ihnen zuweilen Rat; ich bin nicht ganz ungeschickt im Aquarell.«

Amalie war so verwirrt durch dies freundliche Anerbieten, daß sie nicht gleich zu erwidern wußte. Es war ihr, als öffne sich der Himmel und als stiege ein ungeahntes Glück auf goldenen Wolken zu ihr nieder, und doch war sie zaghaft und wagte nicht, sich solchem Glücke hinzugeben. Sie schwieg einen Augenblick und kämpfte mit dem ungestümen Drang, der sie bewog, dies Unverhoffte jubelnd zu empfangen, und einer dunkeln Angst, daß die Götter, wenn sie zuviel Gutes schenken, oft die schwersten Opfer dafür verlangen.

Eugen bemerkte ihr Schwanken und sagte sanft: »Sie dürfen ohne Furcht annehmen, was ich Ihnen anbiete. Sie sind ein seltenes Mädchen, Amalie; ich glaubte nicht, in diesem abgelegenen Ort soviel Geist und Gefühl, soviel Sehnsucht nach dem Höchsten zu finden. Sehen Sie mich an als einen Freund, der etwas Freude in Ihr Leben bringen möchte.«

Er nahm ihre Hand und drückte sie leise. Amaliens Herz erbebte in süßen Schauern bei Nennung ihres Namens, bei dem Druck seiner Hand. Sie sah ihm in die Augen, deren Blick sich tief und innig in die ihren senkte und ein grenzenloses Vertrauen nahm ihr Gemüt ein. Sie sah den idealen Mann vor sich, wie sie ihn sich geträumt hatte und die Liebe zog mit einer Allgewalt in ihr Herz ein, vor der jeder Widerstand der Vernunft schwand. Sie ließ ihre Hand in der seinen ruhen und sagte mit einem Blick, in dem ihre ganze Seele sich aussprach: »Ich glaube Ihnen, wie ich noch nie jemandem geglaubt [75] habe; Sie versprechen mir ein Glück, größer als sie es ahnen können, Herr Baron« –

»O, nennen Sie mich nicht so, nennen Sie mich Eugen,« versetzte er, indem er ihre Hand an sein Herz zog, »Sie glauben nicht, Amalie, wie es mich beglückt, endlich einmal frei zu sein von dem Formenwesen der vornehmen Gesellschaft und in eine reine, schöne Seele blicken zu können, die durch keine Unnatur der modernen Erziehung entstellt ist. Sie werden mir meine Lilienburg lieb machen, wenn Sie deren Kunstschätze mit mir zu genießen kommen. Ich will hier oft und lange sein, ich will mich nützlich machen. Ihr trefflicher Bruder, Ihre verständige Schwester, vor allen aber Sie – müssen mir helfen, ein schönes Leben hier einzurichten und Segen um mich zu verbreiten.«

Er war ganz hingerissen, alles jugendlich Edle in seiner Natur war wach. Amaliens Blick hing an ihm in unverhohlener Begeisterung. Sie horchte seinen Worten, als höre sie himmlische Musik. Endlich sagte sie selig lächelnd: »Ja, so müßten alle Reichen denken, müßten sich als Stellvertreter Gottes auf Erden, als Segenspender ansehen, dann würde das Leiden der Welt mit hohem Trost gemildert und selbst in unserm rauhen Norden könnten Paradiese erblühen.« Der Eintritt der übrigen Gesellschaft störte das beglückende Zusammensein. Der Baron erklärte in freundlicher Weise Pauline und dem Bruder, wie er sich Amalie zum Lehrer angeboten habe, stellte es auch ihnen frei, die Kunstschätze der Lilienburg so oft anzusehen, als es ihnen Vergnügen machen würde und bat Heinrich, die reichhaltige Bibliothek des Schlosses zu benutzen.


Die Geschwister schieden, jedes in seiner Art befriedigt; selbst Pauline erklärte zu Hause der Mutter, sie habe ein paar angenehme Stunden zugebracht und die adeligen Herren besser gefunden, als sie gedacht habe.

»Aber was denkst du von den Malstunden?« sagte sie, als [76] sie sich mit der Mutter allein befand. »Der Baron ist wirklich ein schöner und liebenswürdiger Mensch, aber er ist mir ein bißchen zu freundlich mit Amalie, obgleich immer fein und achtungsvoll, das muß ich zugestehen; doch ich fürchte für Amaliens Ruhe und dann, werden die Leute nicht darüber sprechen? Sie finden Malchen so schon immer anders wie alle andern.«

»Ach, Pauline, ich denke, wir können dem Kinde die Freude gönnen,« sagte die Mutter, indem sie die Hände mit dem Strickzeug auf den Tisch legte und das gefurchte Antlitz zu der Tochter erhob, »siehst du, es ist ein eigen Ding mit Malchen; ich will dir erzählen, was ich noch keinem erzählt habe: als ich sah, daß ich noch ein Kind haben würde, war ich traurig, weil die Zahl schon groß war und der Vater sich überarbeitete, um für alle Brot zu schaffen. Es war gerade die Zeit deiner Konfirmation und Vater und ich gingen mit dir beim ersten Gang zum Tische des Herrn. Da, als ich in Demut das Brot und den Wein empfing, fühlte ich zum erstenmal das Kind sich regen und es ergriff mich wie ein Gedanke von oben, daß dieses Kind zu etwas besonderem bestimmt sei. Ich flehte zu Gott, daß er mir mein Murren vergebe und bereitete mich, dies neue Pfand seiner Gnade mit Freude und Dank zu empfangen. Siehst du, Paulinchen, Amalie ist nun auch ein besonderes Kind geworden und der selige Vater sagte immer im Scherz: Die wird mal einen Prinzen heiraten. Wenn es nun Gottes Wille wäre, daß der Baron sich in Malchen verliebte und sie Herrin von Lilienburg würde? Der Gedanke ist mir gleich gekommen, als ihr nach dem Ball erzähltet, daß der Baron so artig gegen sie gewesen sei. Dürfen wir da widerstreben und vielleicht alles verderben?«

Pauline schüttelte etwas ungläubig den Kopf und sagte: »Wenn es nun aber dem Baron nicht ernst ist und Malchen verliebt sich in ihn?«

»Ach, sie ist ein vernünftiges Mädchen und wird sein Betragen schon richtig zu deuten verstehn,« versicherte die Mutter.

»Und dann tut es mir leid um Lenke,« begann Pauline [77] etwas zögernd wieder, »ich bin gewiß, er liebt Malchen aufrichtig und mit ihm wäre sie sicher glücklich geworden.«

»Die Ehen werden im Himmel geschlossen, meine Tochter, und den, den sie haben soll, den wird sie bestimmt bekommen!« versetzte die Mutter.

»Und dann das Geschwätz der Leute,« begann Pauline noch einmal –

»›Tue recht und scheue niemand‹, heißt es, mein Kind; die, welche reinen Herzens sind, brauchen die Bosheit der Menschen nicht zu fürchten,« erwiderte die Mutter feierlich und nahm ihr Strickzeug wieder auf.

Nun wußte Pauline, daß die Argumente erschöpft waren und sie sah wohl, wie das Mutterherz im geheimen dem Wunsch Raum gab, dem jüngsten Herzenskinde ein glänzendes Los zuteil werden zu sehen. Sollte es möglich sein – nun so wär es ihr ja am Ende auch recht; denn in der Lilienburg heimisch zu werden, wär so übel nicht und mit den reichen Mitteln eines solchen Schwagers ließe sich viel Gutes für ihre Schule und die Volksbildung in der Provinz tun.


Amalie war äußerlich stiller wie gewöhnlich und sprach selbst nicht über die Herrlichkeiten der Lilienburg, doch in ihrem Herzen war es lauter Licht. Es schien ihr, als fange sie erst jetzt an zu leben und als sei die winterliche Öde ihrer Vaterstadt plötzlich zu einer blühenden Oase geworden. Nach zwei Tagen ging sie zu der verabredeten Zeit zum Schlosse in Begleitung ihres Bruders, der, der Einladung des Barons folgend, in der Bibliothek sich Bücher ansehen wollte.

Eugen empfing die Geschwister mit großer Herzlichkeit. Er führte Amalie in ein Zimmer, das er ganz zum Atelier umgewandelt hatte und wo sie alles in größter Vortrefflichkeit fand, was zum Zeichnen und Malen notwendig ist. Er bat sie, sich da ganz nach ihrer Bequemlichkeit einzurichten und ihm nur zu erlauben, zuweilen eintreten zu dürfen, um ihr Rat zu erteilen. Dann ging er mit Heinrich in die Bibliothek, unterhielt [78] sich lange eingehend mit ihm und überließ ihn dann dem Studium. Erst später kehrte er zu Amalie zurück, fand sie aber ganz traurig wegen der Unzulänglichkeit ihrer Kenntnisse in der Malerei.

»Ach,« sagte sie, »das ist ein anderer Fluch des Lebens in einer so abgelegenen kleinen Stadt; nicht nur, daß man das Schöne nicht zu sehen bekommt, man entbehrt auch jede Gelegenheit, die Technik zu erlernen, um dem, was etwa in der Seele lebt, Ausdruck zu geben. Ein Talent bildet sich wohl in der Stille, wie Goethe sagt, aber die Welt muß ihm dann doch zu Hilfe kommen mit dem Reichtum ihrer Mittel, sonst quält es sich in fruchtlosen Versuchen ab und verzehrt sich in Sehnsucht nach dem Ideal, das es ahnte und das ihm ewig ein ungelöstes Rätsel bleibt.«

Eugen tröstete und ermunterte sie und begann sie zu unterweisen, so daß nach einiger Zeit eine gelungene Kopie entstand. »O, Sie sind eine so gelehrige Schülerin, daß Sie in kurzem den Lehrer übertreffen werden,« sagte er lächelnd. Er stand über sie gebeugt, um ihr dies und jenes zu zeigen; sein Atem streifte ihre Wange und seine Hand berührte oft die ihre, wenn er rasch zugriff, um sie von einem falschen Pinselstrich zurückzuhalten oder etwas Fehlerhaftes zu verbessern. Sie erglühte sanft in dieser Nähe und ob wohl er nur über Malerei und technische Dinge sprach, so schien es ihr doch wie Musik und sandte den elektrischen Strom hinab in ihr Herz, auf dem seit Ewigkeiten jene Urmacht des Daseins eingezogen ist in die Herzen sterblicher Wesen, zu ihrem Glück oder zu ihrem Elend.

So verging die Zeit. Heinrich kam endlich, die Schwester abzuholen. Auch er war beglückt über die Schätze der Bibliothek und indem er die sanfte Glut von Amaliens Wangen auf ihre Freude an dem Erlernten deutete, sagte er voll Herzlichkeit zu dem Baron:

»Sie werden der Wohltäter von uns zwei Geschwistern. Meine älteste Schwester ist glücklich in Erfüllung ihres Berufes, sie bedarf gar nichts weiter. Aber uns ward ein tiefes [79] Sehnen mit in die Wiege gelegt; ich habe es gebändigt durch die Kraft des Willens, aber wenn ich so in der Fülle der Geistesschätze schwelgen kann wie in Ihrer Bibliothek, dann fühle ich doch, daß mir Unersetzliches fehlt. Mein armes Schwesterlein aber nun gar, die hat ein solches Bedürfnis nach Licht, Schönheit und Kunst, daß es wirklich ein unverhoffter Segen ist, wenn Sie ihr den Weg zu künstlerischem Schaffen zeigen.«

Amalie sah den Bruder mit einem leuchtenden Blick an und Eugen versicherte in der herzlichsten Weise, daß es ihn glücklich mache, so edlen Menschen eine Freude bereiten zu können.

»Er ist ein prächtiger Mensch,« sagte Heinrich, als sie nach Haus gingen, »ja ich glaube, es ist meine Pflicht, meinen Einfluß für seine Wahl zu verwenden. Lenke ist ein braver Mensch, der in seinem beschränkten Kreise viel Gutes tut, aber eine solche Intelligenz und ein solches Herz wie die des Barons der Sache des Volkes zu gewinnen, das ist von höchster Wichtigkeit; denn wenn der Adel seine Mission begreift, die einzige, die ihn vom Untergang retten kann: den Bedürfnissen des Volkes Rechnung zu tragen und bereitwillig entgegenzukommen, dann haben wir ein Großes gewonnen, um der Revolution vorzubeugen.«

Amalie schmiegte sich enger an den Bruder, der sie führte und sagte zärtlich: »Ja, mein Heini, tue das und wär es auch nur, um uns die ideale Welt in der Lilienburg zu erhalten.«

»Kleine Egoistin,« versetzte Heinrich lächelnd, »ja, es ist schön für uns beide, dieses herrliche Asyl der Kunst und Literatur gefunden zu haben, aber wir müssen doch der vielen gedenken, denen sich niemals eine Lilienburg öffnet und denen der Baron mit seinem edlen Herzen und seinem Reichtum ein Wohltäter werden kann.«

»O, geliebter Heini, du hast recht,« erwiderte Amalie und ein tiefes Erröten flog über ihr Gesicht, da sie fühlte, daß noch etwas anderes, Persönliches, bei ihr mitsprach, »ich bin noch lange nicht so gut wie du, ich habe noch nicht deine Kraft [80] der Entsagung, ich – ich – sehne mich noch nach dem persönlichen Glück,« setzte sie leise und schüchtern hinzu.

»Mein armes Kind,« sagte Heinrich, indem eine Träne in sein Auge trat, »du hast auch noch das Recht, dich danach zu sehnen und könnte ich es dir schaffen, ich würde mit Freuden für immer für mich darauf verzichten.« Amalie sah mit einem Blick voll unendlicher Liebe zu dem bleichen Bruder auf. »Mein Heini,« sagte sie innig und durch ihr Herz zuckte es wie eine selige Ahnung, daß ihr vielleicht das ersehnte Glück nahe sei und durch sie auch ihm zuteil werden könne.


Die Besuche auf der Lilienburg nahmen einen regelmäßigen Fortgang. Amalie machte überraschende Fortschritte in der Kunst, aber noch größere machte die Liebe in ihrem Herzen. Sie beherrschte es bereits völlig und wenn sich Amalie im Anfang gesagt hatte, sie werde Herrin dieser Neigung bleiben und sich mit dem Genuß des Umgangs und der erlernten Kunst zu begnügen wissen, so fühlte sie doch ihre Widerstandskraft immer mehr schwinden, jemehr es ihr klar zu werden schien, daß nicht bloß sie liebe, sondern daß sie auch geliebt werde. Denn es war unmöglich, Eugens Blicke und Worte und sein inniges, wenngleich stets achtungsvolles Betragen anders zu deuten. Sein Verweilen im Atelier wurde immer länger, seine Mitteilungen wurden immer vertraulicher. Oft ruhte die Arbeit ganz und sie saßen stundenlang, Aug in Auge, in süßem Geplauder und seelenvollen Gesprächen, in denen sich Amaliens edle Natur immer reicher vor ihm entfaltete. Oft besuchten sie zusammen den großen Saal und die Betrachtung der herrlichen Bewohner des hellenischen Olymps entzündete in Amaliens Herzen immer lebhafter die Sehnsucht nach dem Land der Schönheit. Eine unermeßliche Seligkeit durchflutete dann ihr Herz, wenn Eugens Blick und glückliches Lächeln ihr zu sagen schienen, sie werde das alles sehen, vielleicht an seiner Seite sehen. Sie hätte dann die Augen schließen mögen, um das geliebte Bild und den goldenen Traum festzuhalten, denn [81] ihr schwindelte, wenn sie dachte, daß alles wie ein Traum zerrinnen könne. Es vergingen viele Wochen und immer fester schien sich das Band zu schlingen, das ihre Herzen verknüpfte. Dem Grafen fing indes das Leben auf der Lilienburg an langweilig zu werden. »Höre, Eugen,« sagte er eines Tages, »könnten wir nicht an Steinau schreiben, daß er mit seinen Gästen herüberkommt? Er schreibt mir, daß sie sich herrlich auf Steineck unterhalten; die Gräfin Tonleben ist dort mit den Töchtern und die allerliebste Emma setzt alles in Bewegung. Sie ist die Seele des ganzen Kreises, das reizende Geschöpf! Immer voller Witz, Geist und Grazie! Wenn wir sie hier hätten, die Lilienburg würde ein Rosenhain werden trotz Winter und Kälte. Du hast nun wohl den Führern deiner Wahlpartei genug geschmeichelt und deinen Weg gesichert, so daß du aufhören kannst, den Tugendhaften zu spielen.«

»Ich spiele den Tugendhaften nicht, ich will tugendhaft sein,« versetzte Eugen ernst.

»Ach, mon cher, du machst mich lachen,« erwiderte der Graf, »der kleine Roman mit deinem Gretchen nimmt eine zu ernste Wendung; du wirst langweilig dabei. Übrigens rate ich dir wirklich, die Malstunden aufzugeben oder so wenig wie möglich dabei zu erscheinen, denn wer weiß, was das Mädchen sich in den Kopf setzt. Solche Mädchen in der Provinz denken gleich ans Heiraten, wenn man ihnen ein wenig den Hof macht; wegen dem Bruder warne ich dich, da er dir nötig ist für die Wahl.«

»Und wenn ich nun auch ans Heiraten dächte?« sagte Eugen, ohne den Grafen anzusehen.

Dieser, der eben im Begriffe war, ein Stück Feldhuhn in den Mund zu stecken, da sie beim Frühstück waren, hielt mit der Gabel in der Hand inne und sah seinen Freund an, der sich nun seinerseits eifrig mit dem Inhalt seines Tellers beschäftigte.

Ein leises Zucken der Augenbrauen und Nicken des Kopfes verrieten, daß ein Gedanke in dem Grafen auf stieg, den er sich selbst bejahte.

[82] »Ja, mein Lieber, man hat manchmal recht dumme Gedanken,« sagte er gleichgültig, »und in solcher Einsamkeit kann selbst der Zeitvertreib uns wohl wie Ernst erscheinen. Übrigens kannst du dich ja unterhalten, wie du willst, aber denke nun auch ein wenig an mich; ich langweile mich entsetzlich, die Jagd selbst, so allein, macht mir kein Vergnügen auf die Dauer. Ich habe Lust, auf ein paar Tage zu Steinau hinüberzufahren. Du nimmst es mir nicht übel, nicht wahr, Eugen?«

»Aber, bester Franz, es versteht sich von selbst; du bist doch frei, zu tun wie du willst,« versetzte Eugen ziemlich erleichtert, befiehl nur, wann du den Wagen wünschest. Willst du noch heute fort? Es sind gute vier Stunden zu fahren, du kannst gerade noch hinüberkommen, um einen fröhlichen Abend dort zu verbringen.«

Der Graf erklärte sich einverstanden mit dieser Anordnung und fragte dann wieder: »Was meinst du, soll ich die Gesellschaft von drüben nicht einladen, herzukommen? Möchtest du die Gräfin Emma nicht wiedersehen?«

»Nein, ich habe nicht den geringsten Wunsch danach,« versetzte Eugen etwas gereizt. »Glaubst du, es würde mir Freude machen, das kokette Spiel vom vorigen Winter sich wiederholen zu sehen?«

»Mon cher,« sagte der Graf, »gesteh nur, es ist etwas dépit von deiner Seite, weil die kleine Zauberin mit ihrem Lächeln auch andere beglückte und sich nicht gleich wie die meisten törichten Weiber dir, als dem Apoll der Residenz, in die Arme warf.«

»Nein, du irrst,« antwortete Eugen, »Emma ist berauschend schön, das ist wahr, und ich konnte nicht umhin, dies anzuerkennen, als sie in allem Reiz der Jugend zuerst in der Gesellschaft erschien. Ich huldigte ihr wie natürlich und wie alle; da ich aber sah, daß sie mit allen spielte, zog ich mich zurück und überließ sie ihren frivolen Triumphen. Ich habe ganz andere Begriffe von dem, was eine Frau sein soll und sein muß, um uns dauernd anzuziehen und zu beglücken.«

»Seit wann hast du diese Begriffe?« frug der Graf spöttisch [83] lächelnd. »Du nimmst wohl Unterricht in edler Weiblichkeit, während du im Malen unterrichtest? Nun, nichts für ungut, mon cher,« fügte er begütigend hinzu, als er sah, daß Eugens Antlitz sich verfinsterte und eine zornige Antwort zu erwarten stand, »du weißt, Eugen, ich spotte gern, wenn du dich deinen sentimentalen Fausttendenzen hingibst; ich aber träume für meinen liebsten Freund nicht ein blondes Gretchen am Spinnrad, sondern eine stolze Helena, eine Königin der Schönheit, die zu ihm paßt. En attendant überlasse ich dir zum Zeitvertreib das Spinnrad. Au revoir, mon cher.« Lachend warf sich der Graf in den Wagen, der inzwischen bereit war und fuhr fort.


Eugen befand sich in der sonderbarsten Stimmung. Die Reden seines Freundes hatten ihn unangenehm berührt, denn sie erinnerten ihn an den Widerstand, den die aufkeimende Neigung zu Amalie in der Gesellschaft und vor allem bei seiner Mutter finden würde. Zugleich aber regte sich auch sein Stolz und er fragte sich, ob er nicht Mann genug sein würde, dem allen kühn entgegenzutreten und seinen eigenen Weg zu gehen. »Mit ihr ist mir ein guter Engel erschienen,« sagte er zu sich selbst, »die Liebe dieser reinen, poesieerfüllten Seele wird mich adeln, wird mich zu dem machen, was ich sein soll. Hier, in diesem schönen Schloß, werden wir ein von Humanität und Liebe verschöntes Dasein führen, Segen um uns verbreiten und die falschen Freuden der Welt entbehren lernen, wenn diese unsern Bund nach ihrem Maßstab mißt.«

Immer eifriger redete er sich in diese Gedanken hinein, immer reizvoller malte er sich das Leben an Amaliens Seite in diesem Wohnsitz aus, immer teurer wurde ihm ihr Bild, immer mutiger fühlte er sich, den Widerstand seiner Mutter zu besiegen. Endlich hatte er sich in eine so glückliche Stimmung hineingeredet, daß er beschloß, Amalie eine kleine Überraschung zu bereiten und das Bild, das sie angefangen hatte, zu vollenden, so daß sie es am nächsten Morgen fertig[84] finden sollte. Er eilte voll Freude dem Zimmer zu, das er für sie eingerichtet hatte, blieb aber überrascht auf der Türschwelle stehen, als er Amalie gewahrte, die, den Rücken nach der Tür gewendet, vor einem Bilde saß, das ihn selbst als sechzehnjährigen Knaben in idealer Schönheit darstellte, wie ihn sein Vater hatte in Italien malen lassen, und es kopierte. Bei dem Geräusch, das sein Kommen verursachte, fuhr sie erschrocken empor und als sie ihn gewahrte, bedeckte Purpurglut ihre Wangen. Sie war so betroffen, daß das Zeichenmaterial ihrer Hand entfiel und sie sich am Stuhl hielt, um nicht zu wanken. Eugen trat auf sie zu und alles, was eben durch seinen Sinn gezogen war, wallte plötzlich auf in einem feurigen Zug zu ihr hin. »Ich wußte nicht, daß Sie hier wären,« begann er.

»Sie sagten, Sie kämen nachmittags gewöhnlich nie in dieses Zimmer,« stammelte Amalie mit bebender Stimme. »Ich hatte – einen freien Nachmittag – ich – ich wollte mich so gerne noch etwas üben –«

»Und Sie kopieren dieses Bild?« versetzte Eugen, den ihr Erröten allmächtig fortriß. »So ist Ihnen das Original nicht ganz gleichgültig? Amalie – du liebst mich?« rief er, als er sah, daß sie plötzlich erbleichte. Er faßte ihre Hand und fuhr feurig fort: »Sag es mir, holde, liebe Amalie, ob du mich liebst! Ich ahne es, aber ich will es von deinen Lippen hören – dies Wort, das dich mein macht, das mich dein macht,« flüsterte er dann in zärtlichem Tone, während sie wie traumbefangen ein paar Sekunden wortlos blieb. Liebe, Scham, Verwirrung kämpften in ihrem Herzen, sie wußte nicht, sollte sie, durfte sie an solch ein Glück glauben. Doch noch ehe sie sich fassen konnte, fuhr Eugen sanft vorwurfsvoll fort: »Oder hätte ich mich getäuscht? Werden Sie mein Herz verschmähen, Amalie?«

In jungfräulicher Scham erglühend, doch in einfacher Würde stand sie vor ihm und sagte leise, indem sie die schönen Augen zu ihm aufschlug: »Ich liebe Sie grenzenlos, für ewig, – aber –«

»Ach, dann kein aber,« rief Eugen und schloß sie in seine [85] Arme, »du, meine weiße Lilie, wirst die Herrin von Lilienburg werden und ein Leben voll Tugend und stillen Glücks wird mir an deiner Seite blühen.« Er zog sie zu sich auf das Sofa nieder und flüsterte ihr all den holden Wahnsinn der Liebenden zu. Sie lag selig verklärt in seinem Arm und erwiderte seine Liebkosungen mit aller Innigkeit eines vertrauenden Herzens.

»Nun ist meine Sehnsucht gestillt, nun ist das Glück gekommen, leuchtender als ich zu hoffen wagen durfte,« sagte sie, ihn liebevoll anblickend. »In deinen Augen sehe ich nun den Himmel des Südens, nach dem ich schmachtete; deine Liebe ist die Sonne, die wärmt und beseligt; durch dich werd ich die Schönheit verstehen. Vom erstenmal an, da ich dich sah, fühlte ich, daß die Entscheidung meines Lebens sich nahe; aber ich betrachtete die ungeheure Kluft, die uns trennte, und verzweifelte, doch deine Liebe adelt auch mich und ich fühle mich dir ebenbürtig. Rang und Reichtum sind Spiele des Zufalls, aber die wahre Liebe, tief und grenzenlos wie das Meer, hat auch wie dieses Perlen in ihrem Grund, die alle irdischen Schätze aufwiegen und diesen Reichtum bringe ich dir zu.«

In wonnigem Gekose verging ihnen die Zeit, bis Amalie plötzlich erschrocken bemerkte, wie es bereits draußen dunkelte.

»Ich muß fort,« sagte sie, »so schwer das Scheiden ist. Ach, wie anders kehre ich nun nach Haus zurück, als ich von dort ging voll schmerzlicher Sehnsucht, mir eine Kopie dieses teuren, schönen Antlitzes zu verschaffen, das ich vielleicht bald nicht mehr sehen würde, und nun – ich glaube, die innere Sonne wird so leuchten, daß alle erraten werden, was mir zuteil geworden ist, noch ehe mein Mund es ihnen verkündet. Denn ich darf es sagen, darf meiner alten, lieben Mutter die unermeßliche Freude bereiten?«

Eugen erschrak heftig bei dieser Frage und wäre es nicht dunkel im Zimmer gewesen, Amalie hätte den Schreck in seinen Zügen lesen müssen. Wie ein Gespenst stieg plötzlich der bittere Kampf, den er als Folge der Hingerissenheit einer Stunde zu kämpfen haben würde, vor ihm auf und obgleich er ehrlich war in seiner Liebe zu Amalie und entschlossen, zu [86] vollführen, was er begonnen hatte, so bangte ihm doch vor dem Augenblick der Entscheidung und er schob ihn, wie es weiche Naturen zu tun pflegen, so weit wie möglich hinaus, als ob das irgendwie eine Erleichterung bringen könnte. Er schwieg einige Minuten, so daß Amalie betroffen sagte: »War ich zu voreilig? Hat dich das erzürnt?«

Er zog sie wieder an sich und fragte, ob sie ihm vertraue.

»Grenzenlos!« erwiderte sie.

»Nun, so bitte ich dich, unser süßes Geheimnis noch zu bewahren. Ich bin meiner Mutter zu viel Ehrfurcht und Dankbarkeit schuldig, um einen öffentlichen Schritt zu tun, bevor sie ihre Einwilligung erteilt hat. Ich weiß, du wirst diese Gesinnung verstehen, mein holdes Mädchen. Sobald meine Wahl hier entschieden ist, eile ich in die Residenz und kehre mit der Einwilligung meiner Mutter zurück, um die der Deinen zu erbitten.«

»Aber, deine Mutter – wird sie nicht unerbittlich sein?« frug Amalie angstvoll.

»Vor allem, was mein Glück ist, schmilzt ihr Widerstand,« erwiderte er tröstend; »inzwischen genießen wir hier unsere stille Seligkeit. Alle wissen, daß du hierher kommst zum Malen. Dies Zimmer ist dein Eigentum und der Hausherr hat da nur einzutreten, wenn du es ihm erlaubst und du wirst es ihm auch ferner erlauben, nicht wahr, du Holde?« setzte er scherzend hinzu, indem er den heitern Ton wieder anstimmte, der sie beide über die augenblicklichen Bedenken hinwegheben sollte. Amalie antwortete ihm mit einem Kuß und so leid es ihr tat, ihr Glück nicht gleich den Ihren mitteilen zu können, so hatte ihre Phantasie ihn doch bereits zu einem solchen Ideal ausgebildet, daß ihr auch der geringste Zweifel an ihm wie ein unverzeihliches Unrecht erschienen wäre.

Wie es reinen Seelen zu gehen pflegt, die keine halbe Liebe, kein halbes Vertrauen geben können, so war sie seinem Willen ohne Rückhalt untertan und überzeugt, daß er die Wege der Welt besser kenne als sie und wissen müsse, wie die schwere Aufgabe mit seiner Mutter zu lösen sei. Aus Zartgefühl begleitete[87] Eugen sie nicht, damit man nicht sagen sollte, daß sie in dieser Dämmerstunde zusammen gesehen worden sein und sie wußte ihm für diese Rücksicht Dank. Zur Ehre deutscher Sitte sei es gesagt, daß in kleinen Provinzialstädten niemand Übles dabei denkt, wenn ein junges Mädchen gegen Abend allein über die Straße geht und so ging auch Amalie ruhig allein und war auch unbemerkt und ungefährdet bis ans Tor der Stadt gelangt. Da hörte sie plötzlich ihren Namen rufen und als sie sich umwandte, gewahrte sie Linchen und ihre Mutter, die von der anderen Seite des Weges auf sie zusteuerten.

»Ei, Mamsell Holm, wo kommen Sie denn so spätallein her?« sagte die Justizrätin mit scharfem Ton.

»Ich war spazieren und habe mich etwas verspätet,« erwiderte Amalie, tief errötend ob dieser Unwahrheit, die sie doch ihrem teuren Geheimnis schuldig zu sein glaubte. Zum Glück konnten die Damen dies Erröten in der Dunkelheit nicht bemerken und Linchen sagte vertraulich, indem sie sich an Amaliens Arm hing:

»Aber, Malchen, man sieht Sie ja gar nicht mehr.«

»Nun, wenn's wahr ist, was man sagt, so haben Sie ja jetzt wohl zu viel Beschäftigung!« hub die Justizrätin wieder mit spöttischem Tone an.

In Amalie regte sich bereits der Zorn der stolzen Seele und sie sagte: »Was meinen Sie, Frau Justizrätin?«

»Nun, man sagt: Sie laufen fast alle Tage in die Lilienburg, um da angeblich zu malen.«

Hoch wallte das empörte Gefühl in Amalie auf und sie versetzte stolz: »Ich gehe mehrere Male in der Woche dahin, weil der Baron so gütig ist, mir zu erlauben, mich im Kopieren seiner reichen Kunstschätze zu üben, sowie er meinem Bruder gestattet, in der herrlichen Bibliothek die Menge der für ihn wertvollsten Bücher zu studieren.«

»So so – nun ja, man weiß ja wohl – es gilt, Ihren Bruder für seine Wahl zu gewinnen. Wenn die durchgesetzt ist, wird die Höflichkeit wohl aufhören. Er hat übrigens [88] unrecht, sich so herabzulassen. Hätte er sich der Partei meines Mannes angeschlossen, seine Wahl wäre geglückt und in standesgemäßen Proportionen.«

»Standesgemäßen Verhältnissen, meinst du, Mutter,« verbesserte Linchen und dann, da die Neugierde in ihr den Neid überwog, wandte sie sich rasch zu Amalie und sagte: »Es ist wohl sehr schön in der Lilienburg? Papa war sehr oft bei dem alten Baron und es ist zu hoffen, daß der Sohn sein Schloß der Gesellschaft öffnen wird, sobald er einmal hier ganz wohnt.«

»Nun, der Baron wird Ihnen wohl nicht das ganze Schloß gezeigt haben,« versetzte die Mutter, die ihren Ärger gar nicht mehr bändigen konnte.

»Doch, er hat uns alles gezeigt,« erwiderte Amalie kalt; »es ist wunderschön, denn es ist die Schöpfung eines edlen Geistes, der weit über dem Elend und der Bosheit der Alltäglichkeit, in reineren Geistessphären lebte.« Darauf grüßte sie kurz und bog in eine Seitenstraße ein, um nach Haus zu gelangen.

»Die dumme Person!« rief die Justizrätin, förmlich vor Wut schnaubend. »Sie dünkt sich nun was Besseres, weil sie dahin geht und macht verschrobene Reden ohne Sinn und Verstand; dabei schickt es sich gar nicht für ein junges Mädchen, sie wird ihre Reputierlichkeit einbüßen; ich sprach schon gestern im Kaffee bei der Präsidentin darüber, alle Damen waren empört und am Ende passiert noch etwas Schlimmeres.«

»Was meinst du, Mama?« sagte das unschuldige Linchen, heimlich lächelnd.

»Ach, du dumme Gans, das errätst du doch wohl, so etwas spricht man nicht aus.«

Linchen hatte es auch wohl erraten; im Grund ihres Herzens wäre sie sogar nicht böse gewesen, sich in dieser Gefahr des Schlimmeren zu befinden, denn beiihr hätte es ja natürlich die Folge gehabt, sie zur Baronin Lilienfeld zu machen.

[89] Tief gekränkt und schmerzbewegt kam Amalie nach Haus und begab sich zunächst in ihr Stübchen, um ihr Gemüt in Ruhe zu bringen, ehe sie sich bei den Ihrigen zeigte. Wo war der helle Glanz hin, von dem sie gedacht hatte, er müsse von innen heraus allen entgegenleuchten? Der neidische Blick der Welt war bereits in ihr Heiligtum gedrungen, ein greller Mißton hatte sich in die reine Harmonie ihrer Seele gedrängt und die Bosheit der kleinen Herzen streckte schon ihre giftigen Krallen nach dem schönen Traumbild ihres Glückes aus. Und nicht zum erstenmal stieg in ihr der Gedanke auf, daß die Sehnsucht nach dem Ideal vielleicht das einzige Reelle und Unantastbare im Leben sei, weil die Bedingungen unserer Existenz es nimmer zulassen, daß das Ideal in seiner Reinheit verwirklicht werde, da alles, was aus einer höhern Welt zu stammen scheint, den Neid der kleinen Erdenkobolde erregt, die es mit Schmutz bewerfen, so daß es seinen himmlischen Glanz verliert. Nach und nach gelang es ihr aber doch, den trüben Eindruck zu bannen und sie fühlte nur um so mehr die Sehnsucht, sich hinüber in seine Welt zu flüchten, in jene Liebe, die er ihr entgegenbrachte, in jene kunsterfüllte Heimat, wo sie an seiner Seite, Schönes schauend und Gutes übend, nun ihre Zukunft sah. So fand sie, wenn nicht jene erste Ekstase des höchsten Glückes, doch die Zuversicht einer reinen Liebe wieder und ward ruhig, um den Ihrigen zu begegnen. Ihre Mutter war allein und wie das Herz, von einer großen Liebe ergriffen, auch sich doppelt innig jeder andern Liebe neigt, so trieb es sie zu diesem armen Mutterherzen, dessen ganzes Dasein ein unausgesetztes Opfern der Persönlichkeit aus demütiger Liebe gewesen war und sie kniete neben der alten Frau nieder, umschlang sie mit ihren Armen und legte ihren Kopf an die Brust, die sie genährt hatte, indem sie in überwallendem Gefühl flüsterte: »Mein liebes Mutterchen.«

Die Mutter durchzitterte es mit freudigem Schreck; sie erriet, was sich in dieser einfachen Handlung alles ausdrückte, mit jenem Takt der einfältigen Herzen, die oft schneller und tiefer verstehen als der gewitzigte Verstand. Aber sie wollte [90] mit einer Erklärung der Tochter nicht vorgreifen und sagte nur, indem ihr Tränen in die Augen traten:

»Mein geliebtes Kind, der Himmel erhöre mein Gebet und mache dich glücklich.«

Amalie überfiel ein jungfräuliches Zagen, ob es auch noch tunlich sei, ferner allein in das Haus dessen zu gehen, der ihr seine Liebe gestanden hatte. Aber er hatte sich ihr ja verlobt und der Glaube an seine Reinheit, das Vertrauen in seine edle Gesinnung waren so unbegrenzt in ihr, daß sie sich selbst überredete, es könne kein Harm dabei sein, noch dazu da ja niemand um ihr verändertes Verhältnis zu dem Baron wußte.

»Warum soll ich mir die Momente der Seligkeit schmälern, die nun endlich das Schicksal aus seiner Gnadenfülle mir zuteil werden läßt?« sagte sie zu sich selbst. »Sind wir nicht schuldig, wenn wir aus eitlen Rücksichten uns den Besitz des höchsten Glückes verscherzen? Ein reines Herz und einen festen Willen, das ist es, was das Schicksal von uns als Gegengabe fordert; dadurch sind wir unverletzlich und des Glückes wert.«

Und als sie den Geliebten wiedersah, erfüllte sie die Überzeugung, daß sie recht habe, mit überströmendem Glück; es konnte auch in der Tat nichts achtungsvoller und aufmerksamer sein als das Benehmen Eugens, denn wenn anfangs die Rücksicht auf den Bruder mitgewirkt hatte, so war es doch nun die Ehrfurcht vor dem reinen Vertrauen, mit dem die edle Mädchenseele sich ihm hingab, die ihn fesselte und von allem zurückhielt, was sie hätte verletzen können. So genossen sie die Stunden einer Seligkeit zusammen, von der Amalie auch im Traum nichts geahnt hatte. Sie arbeiteten noch zusammen, aber sie besprachen dabei lachende Pläne der Zukunft und ruhten von der Arbeit in Liebesbeteuerungen und Umarmungen aus. Amalie wurde schön unter dem Einfluß des Glückes und ihre Seele erschloß täglich neue Blüten der Poesie und des Geistes. Eugen betrachtete sie staunend und wiederholte ihr immer von neuem, er habe nie ihresgleichen gesehen.

So vergingen einige wonnevolle Tage ungestörten Glückes. Da fand Amalie ihren Freund eines Morgens sehr aufgeregt [91] und sichtbar verstimmt. Auf ihre besorgte Frage sagte er ihr, daß er einen Brief des Grafen erhalten habe, der ihm ankündige, daß er mit der ganzen Gesellschaft, die sich gegenwärtig in Steineck befinde, bei ihm eintreffen werde, daß man einige Tage zu bleiben gedenke und daß er für diesen Abend alles zum Empfang in Bereitschaft setzen und für die folgenden Tage sich recht viel Unterhaltung für die Gäste ausdenken möchte. Eugen fügte hinzu, daß es ihm ganz widerwärtig sei, daß er sich aber dem Überfall nicht entziehen könne, da die Gäste dem Kreise seiner Mutter angehörten und er sie um ihretwillen nicht beleidigen dürfe, daß es auch überdies zu spät sei, um eine abschlägige Antwort zu senden. Amalie war nicht minder bestürzt als er über diese Unterbrechung ihres seligen Verkehrs und fragte etwas bänglich, ob auch Damen bei der Gesellschaft wären. Eugen bejahte es nicht ohne einen Anflug von Verlegenheit, der Amalie nicht entging. Sie wurde traurig und nachdenklich. Eugen aber nahm sie in den Arm und versicherte ihr unter den zärtlichsten Liebkosungen, daß alle anderen Frauen ihm hinfort gleichgültig seien und daß er nur wünsche, der lästige Besuch wäre erst vorbei. Dann bestand er darauf, daß sie ihre Studien hier fortsetze. »Niemand wird dich stören, denn dies Zimmer bleibt dein und so kann ich wenigstens eine Stunde am Tag mein stilles Paradies genießen und mich für den Zwang des übrigen Tages entschädigen,« sagte er und sie willigte nur zu gern ein, da es ihr auch wie der Tod schien, ihn so lange nicht sehen zu sollen. Zwar fühlte sie ein Grauen vor der ihr fremden Welt, die da hereinbrach und die bisherseine Welt gewesen war, aber es trieb sie auch wieder ein Verlangen, zu sehen, wie diese Welt sei, in die auch sie als seine Gattin würde eintreten müssen. Es wurde ihr heute schwerer als je, sich von dem Geliebten zu trennen, denn es war ihr, als dränge sich eine fremde Macht zwischen ihn und sie und erst als Eugen ihr versichert hatte, er werde die Gäste durch nichts zurückhalten und ihren Aufenthalt soviel wie möglich abkürzen, verließ sie ihn beruhigter.

Am Nachmittag fuhren mehrere Schlitten durch die Stadt, [92] in denen elegante Damen und Herren für die Einwohner ein sehenswertes Schauspiel abgaben.

Auch bei Holms sah man sie vorüberfahren und Amaliens Blick strebte vergebens durch die dichten Schleier zu dringen, die die Gesichter der Damen verhüllten. Auf der Lilienburg war inzwischen alles zum Empfang hergerichtet. Die Dienerschaft hatte alle Händevoll zu tun, freute sich aber, daß das Schloß sich einmal wieder mit Glanz und Gästen fülle. Endlich fuhren die Schlitten vor; Eugen eilte den Ankommenden entgegen und bot der alten Gräfin Tonleben den Arm, um sie in die für sie und ihre Töchter bereiteten Zimmer zu führen.

»Wir überfallen Sie, lieber Baron,« sagte die alte Dame, »aber Ihr Freund ist daran schuld.«

»Ach, Mama, wir hatten auch alle sehr große Lust, die Lilienburg zu sehen, die ja ein wahres Wunder in diesem häßlichen Norden sein soll, gestehen wir es nur,« sagte lachend die Gräfin Emma, eine reizend schöne Brünette, die oft lachte, weil sie wußte, wie gut es ihr stand, wenn die zwei Reihen weißer Zähnchen zwischen den roten, schwellenden Lippen sichtbar wurden. Eugen verbeugte sich und versicherte die Damen, wie glücklich er sei, sie in dem Schloß zu empfangen. Außer diesen drei Damen war noch eine Frau von Haldeck da mit ihrem Mann, Herr von Steinau und zwei Vettern von diesem, junge Offiziere, die sich für verpflichtet hielten, den zwei jungen Gräfinnen Tonleben auf das auffallendste den Hof zu machen. Sobald die Gäste in ihren Zimmern einquartiert waren, um sich von der Fahrt zu erholen und Toilette zu machen, sagte Eugen zum Grafen: »Warum hast du mir das getan? Ich war so glücklich in meiner Einsamkeit, so froh, einmal diesem ewigen Gesellschaftstrubel entronnen zu sein.«

»Um dich eben vor den Gefahren der Einsamkeit zu bewahren, mon cher,« entgegnete der Graf ironisch lächelnd; »übrigens bestand auch Komtesse Emma darauf, die Lilienburg sehen zu wollen und deren Herrn wahrscheinlich auch, wiewohl sie das nicht sagte.«

[93] »Pah! sie hat ja Courmacher genug um sich,« versetzte Eugen, »den albernen Leutnant, dich, Steinau – das ist's ja, was sie verlangt, sie ist ja nur eine Kokette.«

»Du tust ihr sehr unrecht und bist undankbar dazu,« entgegnete der Graf; »was kann dies reizende Geschöpf dafür, daß ihr alle huldigen? Ist es nicht ein um so glänzenderer Triumph, der einzige zu sein, zu dem sich ihr Herz neigt?«

»Ach, sprich doch keinen Unsinn und wie wüßtest du es?« sagte Eugen, sich achselzuckend abwendend, als ob es ihm ganz gleichgültig sei. Der Graf aber sah an dem Erröten, das über sein Antlitz flog, daß es dies gar nicht sei und fuhr fort: »Mein Lieber, du weißt, ich bin ein Menschenkenner und Mädchenherzen sind von jeher mein eifrigstes Studium gewesen. Emma liebt dich, sei dessen sicher, und es dünkt mich keine Beleidigung zu sein, wenn das reizendste und gefeiertste Mädchen der Residenz dich erwählt, dich, den Glücklichen, dem ohne Mühe alle Glückslose zufallen.«

Eugen zuckte zusammen, denn plötzlich trat der schwere Kampf, der ihm bevorstand, wieder erschreckend vor seine Seele. »Du irrst,« sagte er mit dumpfer Stimme, »ich werde mir mein Lebensglück mit dem allerschwersten Kampf erkaufen müssen.«

Der Graf sah ihn prüfend an und versetzte: »Ich verstehe dich nicht! Deine Mutter wird Emma mit Entzücken als Tochter empfangen.«

»Wenn es nun aber nicht Emma, sondern eine andere ist, die ich ihr als Tochter bringe,« frug Eugen gleichsam, um sich zum Kampf vorzubereiten. Der Graf ergriff Eugens Arm und blickte ihm ernst in die Augen: »Eugen, du wirst doch nicht –«

»Ich bin verlobt,« unterbrach ihn Eugen hastig, wie um jeden Einwand abzuschneiden, aber sein Auge senkte sich vor dem erzürnten Blick des Freundes, als habe er eine Schuld begangen.

»Um Himmelswillen, so kam ich zu spät,« rief der Graf. »Und deine Mutter? Es kann ihr Tod sein.«

[94] Eugen erbebte; doch entgegnete er mit möglichster Fassung: »Sie wird mein Glück nicht vernichten wollen, wird das edle Wesen, das ich mir erkor, aufnehmen.« –

»Nie!« rief der Graf in höchster Aufregung. »Ich kenne sie besser und – hast du die Torheit begangen, die Sache schon abzumachen mit der Familie?«

»Nein,« beeilte sich Eugen zu versichern, »mein Mädchen hat mir versprochen, unser Geheimnis zu bewahren, bis ich die Einwilligung meiner Mutter habe.«

Ein erleichtertes Ah entfuhr dem Grafen, er ließ den Arm des Freundes los und schritt einigemal im Zimmer auf und ab. Dann blieb er wieder vor Eugen stehen und sagte ernst: »Eugen, du weißt, ich bin dein Freund. Ich will dein Glück und beweise es dir auch jetzt wieder, denn ich war selbst sterblich in Emma verliebt und habe mich zurückgezogen, um deinem Glück nicht im Wege zu stehn. Ich kann mir nicht denken, daß du im Ernst gesonnen bist, dein Leben zu zerstören durch eine solche Mesalliance.«

»Hältst du mich für einen Edelmann?« rief Eugen voll Stolz. »Das Mädchen hat mein Wort und ich werde es ihr halten. Sie ist geadelt durch ihre Güte, ihren Geist und ich betrachte die Verbindung wahrhaftig nicht als eine Mesalliance.«

»Gut, mein Lieber,« versetzte der Graf, der einsah, daß im Augenblick alle Diskussion unnütz sein würde. »Ja, ich glaube, daß du vollkommen ehrlich bist, daß du im Augenblick wirklich glaubst, jenes Mädchen zu lieben, aber Zeit gewonnen, alles gewonnen. Versprich mir nur, keinen weiteren Schritt zu tun, dich nicht weiter zu binden und einstweilen mit ganzer Seele dich dem Kreise der Menschen wieder hinzugeben, zwischen die dich deine Stellung, ja deine Pflicht rufen!«

Der Graf hielt dem Freund die Hand hin, in seinen Augen standen Tränen und dieses Zeichen inniger Teilnahme von dem sonst so frivolen Menschen rührte Eugens weiches Herz. Er schlug in die dargebotene Hand und sagte: »Ich verspreche dir, für den Augenblick nichts weiter zu tun. Aber – von [95] meiner Liebe lassen werde ich nicht, Amalie hat mein Herz, es gehört ihr für ewig.«

Der Graf unterdrückte das ironische Lächeln, das schon wieder den Moment der Rührung bei ihm verdrängte und ließ das Gespräch fallen. Er hatte Eugen schon mehrere Male heftig verliebt gesehen und jedesmal hatte dieser versichert, es sei für ewig, deshalb erschreckte ihn dies Wort nicht allzu sehr; er fühlte nur, daß es nötig sei, Eugen den »elegischen Stimmungen der Einsamkeit«, wie er sie nannte, zu entreißen und dazu hatte er bereits seinen Plan entworfen. Eugen hatte im vergangenen Winter der Gräfin Emma, welche die Königin der Schönheit in der Residenz gewesen war, gehuldigt wie alle übrigen. Emma aber, im Übermut ihres Jugendreizes und ihrer Triumphe, hatte mit allen gespielt, mit allen kokettiert und keinen ausgezeichnet. Verletzt und auch abgestoßen von ihrem allzu übermütigen Wesen, hatte Eugen sich zurückgezogen und sie seit vielen Monaten nicht mehr gesehen. Doch konnte er sich einer unwillkürlichen Erregung nicht erwehren, als die Damen, nach gemachter Toilette, herunterkamen und Emma ihm mit reizendem Lächeln die Hand reichte. Sie sah bezaubernd aus in einem geschmackvollen Anzug und der Gedanke, daß dies reizende Wesen eine Neigung für ihn hege, machte sein Herz schneller schlagen, denn welchem Manne wäre es wohl gleichgültig, zu wissen, daß ein schönes, gefeiertes Weib ihn liebt, auch wenn er selbst eine andere Liebe im Herzen trägt? Er war befangen und unruhig; die Unterredung mit dem Grafen hatte ihn aufgeregt und verstimmt; Amaliens Bild, der reine Frieden und sein eignes besseres Selbst, die er bei ihr gefunden, scheuchten ihn hinweg aus diesem Kreise und doch fühlte er sich wieder in seiner Welt unter diesen Menschen, deren Gewohnheiten, deren Sprache und Benehmen das ihm vertraute Element waren, in dem er seine Jugend und die ersten Jahre seines Mannesalters verbracht hatte. Dabei konnte er nicht umhin, öfter auf die kleine Zauberin zu sehen, deren graziöses Bewegen, heitere Unbefangenheit und Gewandtheit so gut in den Rahmen der eleganten Gemächer [96] paßten, die sich, glänzend erleuchtet und behaglich durchwärmt, für die Gäste geöffnet hatten. Bei Tisch war die Unterhaltung äußerst lebhaft. Jeder wußte etwas zu erzählen, Anekdoten, Jagdgeschichten, Erlebnisse auf den verschiedenen Gütern, die man schon zusammen besucht hatte, alles das wirbelte bunt durcheinander und Eugen mußte aus Höflichkeit Teilnahme an allem zeigen. Dabei berührte ihn der melodische Ton von Emmas Stimme wohltuend, ihr silberhelles Lachen stimmte ihn unwillkürlich heiter und wie magnetisch angezogen trafen seine Blicke mehrere Male die ihrigen, die sich dann schnell zu Boden senkten, als hätten sie ein Geheimnis zu bewahren. Dennoch hielt er es für seine Pflicht, sich so fern von ihr zu halten, als es, ohne auffallend zu sein, geschehen konnte. Nach Tisch führte er die Gesellschaft in den großen Saal, in dem eine besondere Vorrichtung ein wundersames Licht auf die Statuen und Kunstgegenstände warf, so daß der Eintritt nicht verfehlen konnte, einen ergreifenden Eindruck zu machen. Es wurden denn auch die mannigfachsten Ausrufungen laut und das Erstaunen und Preisen wollte kein Ende nehmen.

»Es ist superb, lieber Baron – auf Ehre, magnifique,« rief der jüngere Leutnant, der sich ganz besonders als Verehrer Emmas gebärdete; »was sagen Sie, Komtesse, die Sie wie in allem so auch als Kunstkennerin, vollendet sind, ist diese Lilienburg nicht ein wahrer Tempel des beaux arts

Er glaubte, sich schön ausgedrückt zu haben und wartete auf ein zustimmendes Wort seiner Göttin. Aber Emma wendete sich von ihm weg und sagte wie vor sich hin, doch so, daß Eugen, der zufällig neben ihr stand, es hören konnte: »Man begreift, wie jemand, der hier erzogen wurde, ganz anders sein muß als alle andern.« Der Leutnant biß sich auf die Lippen und drehte an seinem Schnurrbart. Eugen errötete und wußte selbst nicht, sollte er über das unverhohlene Lob böse oder entzückt sein; in dem Augenblick aber traf ihn ein Blick Emmas und dieser Blick, der ihm sonst so herausfordernd, selbstbewußt und kokett erschienen war, sah jetzt so [97] demütig, ja beinah kindlich zu ihm auf, daß es ihn ganz außer Fassung brachte. Wären sie allein gewesen, er hätte sie gezwungen, ihm ihr Doppelwesen zu erklären. Zum Glück rief ihn aber die alte Gräfin Tonleben in dem Augenblick und bat ihn, ihr die gewohnte Whistpartie einzurichten mit Herrn und Frau von Haldeck »und dem Grafen oder Steinau, wer so liebenswürdig sein will, sich mir alten Frau zu opfern,« fügte sie hinzu. Der Graf bot sich alsbald an und Eugen führte die Whistspieler in ein anderes Zimmer, wo er ihnen den Spieltisch zubereiten ließ. Dadurch wieder ruhiger geworden, kehrte er in den großen Saal zurück. Als er eintrat, sah er Emma in einen Lehnstuhl zurückgeworfen und den Leutnant über die Rücklehne gebeugt, eifrig zu ihr sprechend. »Wie kann sie das fade Geschwätz des Menschen mit anhören,« dachte er, »sie ist doch nur eine Kokette,« und unwillig sich abwendend, wollte er eben zu der Schwester und den andern Herren, die zusammen plauderten, treten, als der Leutnant rief: »Gut, daß Sie kommen, Baron, helfen Sie mir das harte Herz der Komtesse erweichen; ich flehe schon seit zehn Minuten, daß sie uns etwas singen soll; vielleicht werden Sie eher erhört,« setzte er mit einem Anflug von Spott hinzu.

»Wenn die Gräfin nicht aufgelegt ist zum Singen, so möchte ich sie nicht veranlassen, sich einen Zwang anzutun,« sagte Eugen kurz.

»Wo Götter reden, wie in diesem Saal, fühle ich mich unwürdig, meine Stimme zu erheben,« versetzte Emma, indem sie ihre glänzenden Augen über die Götterstatuen hinstreifen ließ.

»Ach, Sie singen wie eine Diva und jene Starren, Unbeweglichen dort würden sicher bei Ihrem Gesang zu leben beginnen wie einst die Statue des – mein Gott, wie hieß er doch?« versetzte der Leutnant und drehte verlegen an seinem Schnurrbart wegen der mißlungenen Zitation.

»Pygmalion, meinen Sie,« fiel Steinau hilfreich ein.

»Jawohl, ich habe so ein schlechtes Gedächtnis für Namen,« beeilte sich der Leutnant zu sagen und fuhr fort: »aber ich [98] sehe, Sie haben den Flügel gar nicht hier im Saal, um so besser! vereinigen wir alle unsere Bitten; ich versichere Sie, Baron, die Patti ist nichts gegen Komtesse Emma.«

»Schämen Sie sich, vor diesen Götterbildern so zu lügen,« versetzte Emma mit einem verächtlichen Lächeln.

»Ja, aber bitte, singen Sie,« begann nun auch Steinau. »Sie haben mein Haus so reich beglückt durch Ihre Güte, warum wollten Sie weniger für die Lilienburg tun?«

»Tue es doch, Emma,« sagte die ältere Schwester, der sich der andere Leutnant ganz gewidmet hatte, da er sah, daß bei Emma nichts zu machen war. – »Ich weiß nicht, was du hast, die Lilienburg macht dich ganz melancholisch, in Steineck warst du so lustig, so unternehmend – komm, laß dich nicht lange bitten.« –

Es entstand eine kleine Pause; Emma hatte die Augen niedergeschlagen und spielte mit ihrem Fächer, man wußte nicht, war sie böse über die Worte ihrer Schwester oder erwartete sie eine Aufforderung Eugens. Der hielt sich aber trotzig zurück, obgleich es beinah unhöflich war, nichts zu sagen. Er hatte die größte Lust, sie singen zu hören, aber er zürnte sich selbst ob der Aufregung, in die sie ihn versetzte und er zürnte ihr, daß sie ihm ein Rätsel war. Hätte er sich ganz streng gefragt, so hätte er in sich gekränkten Stolz gefunden, daß sie nicht ganz und offen alle andern zurückwies und nur ihm sich zuwendete.

Das alles dauerte ein paar Sekunden, dann sagte Steinau, der als der Älteste der anwesenden Herren eine gewisse Autorität ausübte: »Lieber Lilienfeld, es ist an Ihnen, uns diesen Genuß zu verschaffen, dem Hausherrn wird die Gräfin nichts versagen.«

Eugen konnte nun nicht mehr ausweichen; er trat zu Emma hin und sagte nicht ohne Bitterkeit: »Wenn Gräfin Emma sich nicht der Lilienburg zu abgeneigt zeigen will –«

Da traf ihn abermals ihr Blick und machte all sein Blut zum Herzen strömen.

Sie erhob sich langsam, ohne ein Wort zu sagen und nahm seinen dargebotenen Arm. »Bravo, bravo!« riefen alle und [99] folgten dem Paare in das Zimmer, wo der Flügel stand. Die ältere Schwester setzte sich so gleich an denselben, um Emma zu begleiten.

»Was soll ich singen?« frug diese, indem sie zum Flügel trat.

»Die Arie der Norma ›Casta Diva‹,« rief der voreilige Leutnant; »das singen Sie göttlich schön, man schmilzt vor Entzücken dabei.«

»Ich will Sie nicht schmelzen machen,« versetzte Emma spottend, »nein, die Arie sing ich nicht. Was soll ich singen?« frug sie wieder, zu Eugen gewendet.

»Singen Sie deutsche Lieder, bitte,« sagte dieser.

Emma flüsterte ihrer Schwester ein Wort zu und diese begann das »Ständchen« von Schubert. Emma sang es mit einer prachtvollen, gutgeschulten Stimme und mit solcher Grazie, daß alle entzückten Beifall spendeten. Auch Eugen konnte nicht umhin, ein verbindliches Wort zu sagen, obwohl er es kühler vorbrachte, als er es empfand, denn der Gesang hatte ihn entzückt. Emma schien mehr erwartet zu haben, sie warf ihm einen halb fragenden, halb zürnenden Blick zu, als die andern einstimmig noch mehr verlangten.

Er mußte diesem Blick Antwort geben, trat nahe zu ihr hin und sagte halblaut: »Auch ich bitte um mehr, aber um etwas, in dem sich nicht bloß Ihre Kunst, sondern auch die Sphinx, Ihre Seele, zeigt.«

Ein Aufblitzen ihrer Augen traf ihn wieder mit dämonischem Zauber. Sie lächelte und über ihr Angesicht hauchte das Lächeln einen so verführerischen Reiz, daß es schon mehr als ein Herz zu ihrem Sklaven gemacht hatte. Darauf sang sie das Lied von Schubert »Ich schnitt es gern in alle Rinden ein« und zwar mit so wunderbarem Ausdruck, als käme es unmittelbar aus ihrem Herzen. Den Refrain »Dein ist mein Herz« flüsterte sie erst leise und schüchtern wie das verschämte Geständnis der ersten Liebe; dann wurde es immer feuriger, bis sie es zuletzt mit hinreißender Gewalt hinausjubelte, an einen Gegenstand, den sie im Geist zu schauen schien, dem ihre [100] Augen entgegenflammten und ihr Mund zulächelte. Alle klatschten entzückten Beifall, der Leutnant schien in höhere Welten entrückt, Emma verließ das Instrument und warf sich wie erschöpft in einen Lehnstuhl. Eugen trat zu ihr in heftiger Bewegung, denn obgleich ihr Blick ihn nicht getroffen hatte, so sagte ihm eine innere Stimme, daß der Gesang an ihn gerichtet gewesen sei.

»Das war dämonisch schön,« flüsterte er, »aber mehr Sphinx als je, wer kann dieses Rätsel lösen?«

Sie sah ihn an, als wollte sie sagen: »Wie war es möglich, das nicht zu verstehen?« Doch noch ehe sie etwas sagte, trat der Leutnant hinzu und versetzte mit flehender Gebärde: »Werden wir nicht noch etwas hören? Es ist zu schwer, nach solchem Genuß schon zu verzichten.«

»Nein, ich singe nicht mehr,« erwiderte sie kurz; »ich will sehen, wie es Mama geht.« Sie stand auf und verließ das Zimmer. Eugen war betroffen; hatte er sie gekränkt? hätte er völliger verstehen sollen? Ein unerklärlicher Aufruhr tobte in ihm; er stand einen Augenblick unschlüssig; da nahte sich ihm Steinau, während die ältere Gräfin einige brillante Klavierstücke ausführte, und sagte, vertraulich seinen Arm in den Eugens legend und diesen etwas beiseite führend: »Lieber Lilienfeld, ich gratuliere Ihnen im voraus; ich sehe es kommen, Sie werden der Sieger sein in dem Wettkampf um diesen himmlischen Preis und ich bekenne, wenn ich es einem selbstlos gönne, so ist es Ihnen.« Eugen, verlegen und bestürzt und doch im Innersten geschmeichelt, meinte, der Sieg sei doch durchaus noch zweifelhaft und übrigens habe er ja noch gar nicht um diesen Preis gekämpft.

»Ach Bester,« versetzte der andere, »gewisse Dinge sieht man kommen, oft noch ehe die Beteiligten selbst es wissen und noch dazu, wenn man mit den Augen des – Abgewiesenen sieht,« setzte er lächelnd hinzu; »aber ohne Neid, lieber Freund, ich versichere Sie; verfolgen Sie aber auch Ihr Glück – lassen Sie uns nicht aus Lilienburg scheiden, ohne eine Verlobung gefeiert zu haben.«

[101] Eugen drückte ihm nur stumm die Hand, denn eben gesellten sich auch die älteren Leute, die ihre Partie beendet hatten, zu ihnen und das Gespräch wurde all gemein. Emma nahm lebhaft teil daran, sie zeigte sich unterrichtet, witzig, glänzend, schien Eugen nicht mehr zu beachten, vermied ihn anzusehen und sagte ihm flüchtig und kühl »gute Nacht«, als man sich trennte, obgleich sein Blick mit leidenschaftlichem Feuer den ihrigen suchte.

Als er sich endlich allein im Schlafzimmer befand, nach diesem unruhvollen Tag, war er weit davon entfernt, Ruhe zu finden. Im Gegenteil, jetzt erst, allein mit sich selbst, überkam ihn ein völliger Schreck vor der Zerrissenheit seines Innern. Er fragte sich schaudernd, was daraus werden solle. Der Zauber, den die Schönheit und Grazie Emmas schon im vergangenen Winter auf ihn ausgeübt hatten, war wieder mit so plötzlicher Gewalt über ihn gekommen, daß es ihm unmöglich schien, das reizende Ziel ihrer Eroberung nicht zu verfolgen; dazu kamen die Worte der Freunde, die die Eitelkeit des Mannes in ihm aufregten, der Bevorzugte der Vielumworbenen zu sein; endlich der Gedanke an seine Mutter, die glücklich sein würde über die Verbindung mit Emma, bei der kein Kampf ihm drohte, bei der sich alles in Harmonie und Freude ohne das mindeste Hindernis entscheiden würde. Wie verblaßt erschien ihm plötzlich die Gestalt Amaliens, wie unübersteiglich die Kluft, die ihn von ihr trennte, wie bürgerlich kleinlich waren alle ihre Gewohnheiten neben der freien, sieggewohnten Vornehmheit Emmas und dann – das fatale Wort, welches der Graf ausgesprochen hatte: »Mesalliance« – immer tönte es ihm in den Ohren. Sollte er sich zum Gespött seiner ganzen Welt machen? Würde er je die Kleinstädterin in seine Kreise einführen können? Aber doch – wie edel, wie ursprünglich war ihm Amaliens Wesen erschienen! Da war kein Flitter der Erziehung, kein kokettes Aufreizen der Leidenschaft, kein Spielen mit Gefühlen; da war die reine, volle Hingabe einer hohen, unverfälschten Seele, da waren alle Anlagen, die ein günstiges Geschick zu voller Blüte bringen[102] konnte, da war – vor allem sein Wort, das Wort eines Edelmannes, das im Herzen eines Mädchens die heilige Flamme der Liebe geweckt hatte, die vielleicht ihr Leben verzehren würde! Und das Dasein, das er an ihrer Seite geträumt hatte – hier als ein Wohltäter der Provinz, in echt humanem Sinn, ein Leben des Fortschritts und edlen menschlichen Glückes – – –

Allmählich gewannen diese beruhigenden Bilder die Oberhand. Es war ihm, als lächle ihn sein Schutzengel wieder an, der die Züge Amaliens trug; er schrieb ihr einen Brief, den er ihr am Morgen in das Malzimmer legen wollte, da er sie nicht sehen würde, weil ein Spazierritt, dem er sich nicht entziehen konnte, für den Morgen verabredet war. Er erklärte ihr dies und sagte ihr tausend zärtliche Dinge, um sie zu trösten. Unwillkürlich mischte sich die leidenschaftliche Erregung dieses Abends und sein Empfinden für sie in einen Erguß, der wie ein hohes Lied der Liebe dahinfloß und das Herz, dem er gewidmet war, mit dem süßesten Glück erwiderter Neigung erfüllen mußte. Als er das Blatt endlich zusammenfaltete, war die Hälfte der Nacht bereits vorbei; aber in ihm war es still geworden und er schlief beruhigt ein.

Am folgenden Morgen legte er den Brief mit einer Blume, die er dem Treibhaus entnommen hatte, auf die Staffelei, an der Amalie malte; dann begab er sich zu seinen Gästen. Frau von Haldeck und die beiden jungen Gräfinnen waren schon im Reitkostüm und man konnte sich wieder nichts Reizenderes denken als Emma im eleganten Amazonenkleid, welches das vollkommene Ebenmaß ihrer Figur sichtbar werden ließ, und mit dem Hütchen und dem Schleier, der das von Liebreiz strahlende Gesicht umrahmte.

Die alte Gräfin blieb zu Haus und der Graf erklärte, er werde ihr die Honneurs des Hauses machen und auch zurückbleiben. Eugen hatte sein bestes Pferd für Emma satteln lassen und nahte sich, ihr den Ritterdienst zu leisten; sie setzte ihren Fuß in seine Hand und schwang sich mit Leichtigkeit auf den Sattel. Nie hatte er ein zierlicheres Füßchen gesehen [103] als das, welches er jetzt im Steigbügel befestigte. Es ergriff ihn wieder jenes fieberhafte Entzücken, das ihre Schönheit in ihm erregte und er verweilte länger, als nötig gewesen wäre, bei der Anordnung der Falten des langen Reitkleides.

Es war ein prächtiger Wintermorgen, klar und heiter; an den Bäumen glitzerte eine Frostkruste und auf der weiten Ebene lag eine weiße, blitzende Schneedecke ausgebreitet; aber die Straße, auf der sie ritten, war trocken. Lustig flogen die Rosse dahin und heiteres Geplauder tauschte sich unter den Reitenden aus, denen die frische Winterluft die Wangen rötete und Mut und Jugendlust einhauchte.

Emma, eine geübte Reiterin, war immer an der Spitze des Zuges und regierte das edle Tier, das ihr Eugen zugeteilt hatte, mit so sicherer Hand, daß es seine schöne Bürde mit freudigem Stolz zu tragen schien. Endlich nahten sie sich einem großen Tannenwald, der sich meilenweit hinstreckte und in dessen Mitte ein Forsthaus lag, welches das Ziel ihres Rittes war und nebst dem Wald zu Eugens Besitzungen gehörte.

»Hier ist Märchenpracht,« rief Emma, »wie schön, diese herrlichen Tannen mit den dunkelgrünen Nadeln, auf denen der gefrorne Schnee glitzert! O Heil dem Leben, Heil der Jugend, Heil dem Glück. Wer Mut hat, folge mir!«

Mit diesem Rufe eilte die kühne Reiterin im Galopp voran, der blaue Schleier flatterte, die lange Schleppe des Reitkleides flog, in stolzem Laufe eilte das feurige Roß dahin. Nur Eugen vermochte ihr ziemlich nahe zu bleiben, da auch er ein edles Tier ritt; die andern blieben weit zurück, am weitesten der Leutnant, der ein Mietpferd hatte, das es mit den andern nicht aufnehmen konnte.

Emma nahte jetzt in ihrem Fluge der Stelle, wo die große Straße, die durch den Wald zum Forsthaus führte, abbog, weil ein ziemlich breiter und tiefer Graben hier den Weg durchschnitt, jenseits desselben der Wald sich dichter zusammenzog.

»Gräfin Emma,« rief Eugen, immer noch in einiger Entfernung hinter ihr herjagend, »lenken Sie auf die große Straße zur Rechten!«

[104] Ein jubelnder Aufschrei Emmas war die Antwort; sie spornte ihr Pferd an zum gefährlichen Sprung, und noch ehe Eugen sie erreichen konnte, flog es mit seiner schönen Bürde glücklich über den Graben, raste nun aber, einmal in unbändige Lauflust geraten, in den dichteren Wald hinein, in dem jenseits des Grabens nur ein schmaler Pfad weiterführte. Eugen war es dunkel vor den Augen geworden, als er das Wagestück sah; jeder andere Gedanke schwand aus seiner Brust als nur der, sie vor der Gefahr zu retten, die ihr jetzt drohte, wenn sie die Herrschaft über das erhitzte Tier verlöre und in dem Waldesdickicht an einen Baumstamm geworfen würde. Er stürmte ihr nach; mit verzweifeltem Entschluß übersprang auch er glücklich den Graben und fort ging es nun in tollem Jagen, bis mitten im Walde ein kleiner, freier Platz sich öffnete, auf dessen Moosgrund kein Schnee mehr lag und wo die Sonnenstrahlen warm und lieblich spielten. Eugen hatte die Reiterin beinah erreicht, da hörte er einen kurzen Schrei wie einen Hilferuf und zugleich sah er, daß die Zügel Emmas Hand entfielen und daß sie auf ihrem Sitze schwankte. Im Nu war er von seinem Pferde, das, der starken Hand des Reiters gehorchend, stille stand, und an Emmas Seite, gerade als sie bleich und erschöpft vom Sattel herunterglitt, während das erhitzte Pferd vor dem dichten Waldgestrüpp, das den Platz umgab, stutzte und zum Stehen gebracht wurde. Eugen empfing die Fallende in seinen Armen; er fühlte ihr pochendes Herz an seinem stürmisch klopfenden, sie lag einige Augenblicke mit geschlossenen Augen halb ohnmächtig; ihm schwindelte, er drückte sie mit Leidenschaft an seine Brust und rief ihren Namen. Da schlug sie die Augen zu ihm auf, über ihr Antlitz flog ein zartes Erröten und das holdeste Lächeln umspielte den rosigen Mund. Heiß flammte es in seinem Herzen auf, mit bebender Stimme fragte er: »Warum haben Sie mir diese Todesangst bereitet? Das Leben einzusetzen, um Sie zu gewinnen, das wäre Seligkeit, aber Sie in Todesgefahr zu sehen, das ist mehr als Sterben.«

Emma richtete sich auf und entwand sich langsam seinen [105] Armen. »Was könnte Ihnen an meinem Leben liegen,« sagte sie mit noch leiser, bebender Stimme. »Sie halten mich für ein frivoles Wesen, das nur an Triumphe der Eitelkeit denkt, für eine Sphinx, deren Rätsel Sie nicht lösen können – oder wollen.« Und dabei streifte ihn ihr Blick vorwurfsvoll und sie wandte sich ab, wie um ihren Schmerz zu verbergen.

»O, können Sie mir das verdenken?« rief er bitter. »Erinnern Sie sich an vorigen Winter – Sie ließen so viele um die reizende Flamme spielen, Sie schienen so unbekümmert um die Toren, die sich in den Flammentod stürzten, Sie lächelten allen und zeichneten keinen aus« –

»Und wenn das nun gewesen wäre, weil der eine, dem mein Herz von Anfang an gehörte, mich nicht verstand; nicht begriff, daß es meinem kindlichen Übermut gefiel, von allen bewundert zu werden, während ich nur von einem geliebt zu werden wünschte?« Sie schlug bei diesen Worten die leuchtenden Augen zu ihm auf mit einem Blick, vor dem ihm alle Kraft des Widerstandes schwand, dann verhüllte sie ihr Gesicht mit beiden Händen und rief: »Gott, was habe ich gesagt!« Nun war es um ihn geschehen, stille Neigung, Pflicht und Ehre gingen unter in dem entflammten Rausch der Sinne. Fortgerissen vom Ungestüm der Leidenschaft, ergoß er sich in glühenden Liebesbeteuerungen, die Emma mit jenem Reiz und jener verführerischen Hingabe erwiderte, die jedes Mannes Seele trunken und blind verlangend nach dem Besitz machen. Endlich erinnerte Emma daran, daß sie zu der übrigen Gesellschaft zurück müßten, die wahrscheinlich schon besorgt sei über ihr Ausbleiben. Eugen erschrak bei dem Erwachen aus dem berauschenden Traum, aber Emma flüsterte ihm mit bezauberndem Lächeln zu: »Was tut es, da das ganze Leben voller Wonne vor uns liegt?«

Er fühlte einen dunklen Schmerz am Herzen, aber er wagte es nicht, in sich selbst zu blicken, hob die schöne Reiterin aufs Pferd und als sie von diesem sich noch einmal lächelnd zu ihm niederbeugte und sagte: »Sie sprechen heute noch mit Mama, nicht wahr? Sie wird glücklich sein, Sie als Sohn zu [106] umarmen,« da küßte er nur stumm die ihm dargebotene Hand.

Im Forsthaus waren die andern schon seit einiger Zeit angelangt und voller Unruhe, die zwei nicht dort gefunden zu haben. Man bestürmte sie mit Fragen; die ältere Schwester schalt Emma wegen ihrer Tollkühnheit; man hatte den Sprung über den Graben von ferne gesehen und sich erst beruhigt, als man Eugen folgen sah und, beim Graben angelangt, sich überzeugen konnte, daß kein Unglück geschehen sei. Sie hatten alle die sichere, breite Straße verfolgt und geglaubt, die beiden Flüchtlinge schon am Ziel zu finden. Der Leutnant versicherte »auf Ehre«, er würde ohne weiteres den Sprung über den Graben gemacht haben, wenn er nicht so ein abscheuliches Pferd gehabt hätte und wenn er die Komtesse nicht unter so gutem Schutz gewußt hätte, setzte er voll Ärger hinzu. Emma hörte alles mit frohem Lächeln an und erwiderte die Vorwürfe mit Scherzen, erzählte von einer Fee, die ihnen im Walde erschienen sei und ihnen Grotten voll Zauberpracht gezeigt habe und brachte durch ihre Heiterkeit die ganze Gesellschaft wieder in die beste Stimmung, so daß beim trefflichen Mahl, das durch Eugens Fürsorge bereitet worden war, die Stunden in übermütiger Fröhlichkeit dahineilten. Auch Eugen übertäubte die mahnenden Stimmen, die in ihm laut werden wollten; er gab sich der allgemeinen Lust hin und berauschte sich an dem Anblick Emmas und ihrer alles mit fortreißenden Anmut und sprudelnden Intelligenz.


Kurz nachdem die glänzende Kavalkade am Morgen die Lilienburg verlassen hatte, war Amalie klopfenden Herzens dahin gegangen; es war ihr bang zumute, sie fürchtete, den Menschen jener ihr so fremden Welt zu begegnen und Eugen vielleicht vor Zeugen sehen zu müssen, denen gegenüber sie ihr Geheimnis zu wahren Mühe haben würde. Ja, im Innersten ihres Herzens quälte sie die Sorge, daß sie neben den Damen der Residenz dem Geliebten ungeschickt und kleinstädtisch [107] erscheinen könne. Es war ihr daher ein Trost, als sie das Schloß still und verlassen fand und von dem alten Haushofmeister hörte, daß die Gäste ausgeritten seien. Freilich sah sie auch Eugen nicht, aber wie groß war ihr Entzücken, als sie seinen Brief im Malzimmer fand, als sie die Ergüsse der Liebe las, welche die Zeilen enthielten. Sie drückte das Blatt an die Lippen, an ihr Herz und sagte sich:

»O, nun komme die ganze Welt! Wie wahr ist das Wort der Schrift: Die Furcht ist nicht in der Liebe und die völlige Liebe treibet die Furcht aus. Weil er mich liebt, mich gewählt hat, brauche ich nichts mehr zu fürchten, bin ich seiner wert.«

Sie setzte sich stillglücklich an die Arbeit, freute sich, daß die edle Beschäftigung ihre Gedanken nicht von dem Geliebten entfernte, sondern sie beständig zu ihm führte, da sie ihm alles verdankte, was sie wußte, und nahm sich vor, ihn mit einer recht gelungenen Arbeit zu überraschen. Ganz vertieft in diese, hatte sie überhört, daß sich Schritte der Tür nahten und erst als der schwere Vorhang, der dieselbe verhüllte, aufgehoben wurde, fuhr sie freudig zusammen, denn sie hoffte Eugen eintreten zu sehen. Um so mehr ward sie enttäuscht und verwirrt, als sie den Grafen erblickte, der eine alte Dame am Arm führte; ein Kleid von schwerem Seidenstoff mit langer Schleppe umrauschte deren hohe, dürre Gestalt, eine Spitzenhaube umschloß das geschminkte Gesicht und Ringe mit Brillanten glänzten an den mageren Fingern. Die Eintretenden blieben eine Sekunde lang wie verwundert in der Tür stehen, während Amalie verlegen und errötend sich erhob und verneigte. »Entschuldigen Sie,« sagte der Graf endlich, »ich wußte nicht, daß Sie hier arbeiteten. Ich zeigte der Frau Gräfin als Stellvertreter meines Freundes das Schloß. Fräulein Holm,« sagte er dann, Amalie der alten Dame vorstellend, »eine Schwester des verdienstvollen jungen Mannes, von dem gestern abend die Rede war und der hoffentlich für Eugens Kandidatur stimmen wird; die junge Dame ist Lehrerin an einer Mädchenschule und will sich wohl im Interesse [108] ihrer Zöglinge etwas im Malen ausbilden. Eugen, der immer gerne hilfreich ist, hat ihr dazu hier Gelegenheit geboten. Aber Sie haben schon Fortschritte gemacht, wie ich sehe,« fuhr er fort, indem er auf Amaliens Arbeit blickte. »Sehen Sie, meine Gnädige, die Kopie ist wirklich sehr hübsch und Mademoiselle lernt erst seit ein paar Wochen.« Die alte Dame nahm ihre Lorgnette, die an goldener Kette am Halse hing und richtete sie auf die Malerei. »Nicht übel,« sagte sie herablassend. Dann glitt ihr Blick immer durch die Lorgnette über Amalie hin, sie vom Kopf bis zu den Füßen musternd, so daß dieser ein tiefes Erröten über das Gesicht flog.

»Mich dünkt nur,« fuhr sie fort, »daß es nötiger wäre, Vorlagen von einfachen Dingen für Anfängerinnen einzuüben; was sollen kleine Bürgermädchen mit Aquarellen italienischer Landschaften tun? Folgen Sie meinem Rat, Mamsell, zeichnen Sie Stickmuster und so etwas, damit werden Sie Ihren Schülerinnen recht nützlich sein. Unser lieber Lilienfeld muß das noch lernen,« sagte sie, zum Grafen gewendet, »daß man Leute nie aus ihrer Sphäre herausheben muß, damit richtet man nur Unheil an. Aber gehen wir weiter, lieber Graf, ich bin begierig, das ganze Schloß kennenzulernen und besonders das Arbeitszimmer unseres Freundes, denn aus der Einrichtung eines Arbeitszimmers, wo sich das intime Leben eines Menschen konzentriert, kann man wichtige Schlüsse auf seinen Charakter machen und Sie wissen schon, welches Interesse ich habe, Lilienfeld ganz zu kennen.« Sie lächelte dem Grafen verständnisvoll zu, und ohne das junge Mädchen weiter zu beachten, rauschte sie zur Tür hinaus, die der Graf ihr geöffnet hatte. Dieser wandte sich rasch zu Amalie um und sagte halblaut: »Sie bleiben noch etwas, nicht wahr? Ich komme gleich zurück.«

Amalie war tief gekränkt, ja empört. Das waren seine Freunde? Das war seine Welt? In diese wollte er sie führen? Mit dieser hochmütigen Geringschätzung sollte sie kämpfen? Und was hatte diese Frau in so vertraulichen [109] Ausdrücken von ihm zu sprechen, in sein Zimmer einzudringen, sein intimes Leben zu erforschen? Was hatte das verständnisvolle Lächeln zu bedeuten, mit dem sie den Grafen angesehen hatte? Ein ungeheures Weh überflutete ihr Herz; sie wäre am liebsten gleich geflohen, fort aus dieser Welt, die sie wie eine häßliche Fratze angrinste, aber die Worte des Grafen hielten sie mit dämonischer Gewalt zurück. Die edelheroischen Naturen erbeben wohl, wenn das Unglück gleich einer drohenden Gewitterwolke heraufzieht, aber sie entfliehen nicht, sie sehen dem kommenden Sturm ins Antlitz und wenn der tötende Blitzstrahl auf sie niederzuckt, so sinken sie wie Helden in den Tod.

Es währte nicht lange, so kam der Graf wieder. Er näherte sich Amalie mit vertraulicher Freundlichkeit und bot ihr die Hand, in die sie flüchtig und kühl die ihre legte.

»Mein liebes Fräulein,« hub er an, »ich hoffe, Sie zürnen mir nicht, daß ich Sie in Ihren einsamen Studien störte; ich wußte nicht, daß Sie hier waren und die Gräfin Tonleben hatte mich gebeten, ihr das ganze Schloß zu zeigen. Sie müssen es auch der alten Dame nicht verargen, daß sie ein wenig schroff war; es ist Gewohnheit bei ihr, aber im Grunde ist sie eine gute Frau und sie ist ganz nur von einem Gedanken erfüllt: hier alles kennenzulernen. Das ist natürlich für eine Mutter, der das Glück ihres Kindes am Herzen liegt.«

Amalie erbebte sichtlich, aber der Graf schien es nicht zu bemerken und fuhr fort: »Mein Freund Eugen hat mir mit so viel Hochachtung von Ihnen gesprochen, daß ich überzeugt bin, ich begehe keine Indiskretion, wenn ich Ihnen die Sache erkläre, damit Sie die alte Dame nicht mißverstehen. Es handelt sich um eine Verbindung Eugens mit der jüngsten Tochter der Gräfin, dem schönsten, liebenswürdigsten Mädchen der Residenz, die Eugen schon vorigen Winter ausgezeichnet hat. Eugens Mutter wünscht diese Verbindung leidenschaftlich und Eugen ist ein zu guter Sohn, um nicht die Wünsche seiner Mutter bei der Wahl seiner künftigen Gattin vor allem zu berücksichtigen, was in diesem Fall allerdings nicht schwer[110] ist, da es unmöglich ist, die Gräfin Emma zu sehen und nicht sterblich in sie verliebt zu sein. Auch sah ich gestern abend schon, wie die Leidenschaft in Eugen aufflammte nach dem himmlischen Gesang der schönen Zauberin und ich bin sicher, heute, wo sie zusammen reiten, wird der Herzensbund sich vollends schließen.«

Wie die Folterknechte einst mit Freuden die Marterwerkzeuge in der unglücklichen Opfer Fleisch senkten, so bewirkte der Graf mit Befriedigung durch seine Worte Todespein in dem Herzen des armen Mädchens, das bleich und erstarrt vor ihm stand. Nicht, daß er so boshaft war, wehe tun zu wollen; er hielt es nur für seine Freundespflicht, Eugen um jeden Preis vor den Folgen seiner Herzensschwäche zu bewahren und er glaubte dies nicht besser bewerkstelligen zu können, als indem er mit scharfem Schnitt jede Illusion des »Bürgermädchens« vernichtete. Aber es überkam ihn doch eine Art von Mitleid, als er die Wirkung sah, die er hervorgebracht hatte, denn Amalie war dem Umsinken nahe und es malte sich ein tödlicher Schmerz auf ihrem Gesichte. Der Graf trat nahe zu ihr hin und faßte ihre Hand. »Mein Kind,« sagte er in sanftem Ton, »ich sehe, ich habe Ihnen wehe getan, ohne es zu wollen. Ja, Eugens Nähe ist für die Ruhe junger Mädchen gefährlich, denn er ist zu schön, zu liebenswürdig, um ihm zu widerstehen, besonders wenn er sich freundlich und liebevoll zeigt. Ich habe ihn gewarnt in Ihrem Interesse, als er Ihnen die Stunden anbot. Ich wußte wohl, daß er Ihre Ruhe aufs Spiel setzte; denn das ist Eugens einzige Schwäche, daß er ein allzu empfängliches Herz hat. Ein Ton, ein Wort, ein Blick kann ihn so bezaubern, daß er sich selbst einbildet, zu lieben, doch sind das alles nur vorübergehende Phasen, ich habe schon mehrere mit ihm erlebt. Mit Gräfin Emma wird es aber, so hoffe ich, ernst sein. Darum trösten Sie sich, mein holdes Kind,« setzte er hinzu, und von einem plötzlichen Reiz ergriffen, schlang er den Arm um sie und zog sie an sich. Amalie erwachte aus der Starrheit des Schmerzes, in den sie versunken war, mit jähem Schauder. Sie stieß den Grafen [111] von sich, und indem sie mit der Hand nach dem Herzen fuhr, wie um dessen ungestümes Schlagen zu stillen, fühlte sie den Brief Eugens, den sie in ihrem Kleid an ihrem Herzen geborgen hatte. Wie ein himmlischer Trost durchzuckte es sie. Sie richtete sich stolz auf, und während edle Zornesglut ihr Antlitz überzog, sagte sie: »Ich weiß nicht, mit welchem Recht Sie mir diese Eröffnungen machen; ich weiß nur, daß ich Ihnen nicht das Recht einräume, über meine Gefühle zu urteilen oder sie kennen zu wollen. Noch viel weniger verlange ich Ihr Mitleid. Auch teile ich Ihre Ansicht über den Baron von Lilienfeld nicht. Er hat mich autorisiert, dies Zimmer als das meinige zu betrachten, ich bitte Sie daher, es augenblicklich zu verlassen und nötigenfalls befehle ich es.«

Sie stand vor ihm in solcher Würde, daß der Graf unwillkürlich die Augen niederschlug. Dann erwachte aber sein Stolz; diese kleine Schullehrerin durfte ihm das bieten? Er lächelte ironisch und sagte: »Sie sind gewarnt in guter Absicht; doch lächerlichem Hochmut kann man die bittere Enttäuschung gönnen.« Damit verbeugte er sich spöttisch und verließ das Zimmer.

Amalie zog nun in heftiger Erregung den Brief Eugens hervor, las ihn abermals und der Ausdruck des tiefen Leides verschwand während dem Lesen aus ihrem Gesicht und machte einem glücklichen Lächeln Platz. Mit raschem Entschluß ergriff sie dann Feder und Papier und schrieb: »Geliebter Freund, die häßliche Welt, die auch Du nicht liebst, brach herein in den Frieden, den mir Dein himmlischer Brief gegeben, und wollte mir Dein reines, edles Bild entstellen. Aber Dein Brief war mein Talisman; er hat mich über jeden Zweifel hinausgehoben und mein Vertrauen und meine Liebe zu Dir glänzen hoch wie zwei leuchtende Sterne über dem Elend des Lebens. Mit diesem Brief als Schild auf meinem Herzen, was sollte mich noch irremachen, was mich noch erschüttern? Ich komme nicht wieder, solange Deine Gäste da sind. Hoffentlich gehen sie bald und das Paradies öffnet sich wieder

Deiner Amalie.«


[112] Sie übergab den Brief dem alten Haushofmeister, der ihr freundlich zugetan war, mit der Bitte, ihn dem Baron am Abend, wenn er allein in seinem Zimmer sein würde, zu geben. Dann eilte sie fort, nicht ohne eine tiefe Pein bei der Erinnerung an jene Mitteilungen zu empfinden. Aber in ihrem einsamen Stübchen angelangt, las sie von neuem den Brief und jemehr er ihr das reine Vertrauen zu dem Geliebten zurückgab, jemehr kam sie zu der Überzeugung, daß das Erlebte nur eine Verabredung des Grafen und der alten Dame gewesen sei, die wohl hoffte, ihre Tochter zur Herrin von Lilienburg zu machen und sie durch absichtliche Kränkung zu entfernen. Denn sie setzte voraus, daß der Graf, wenn er nicht alles wisse, so doch vieles erraten und der alten Gräfin mitgeteilt habe. Diese Überlegung beruhigte sie völlig und sie nahm sich vor, sich mit Kraft zum Kampf mit jenen feindlichen Mächten zu rüsten und ihr gutes Recht siegreich zu verteidigen. So war sie freudiger, als es nach dem Vorgefallenen ihr zuerst möglich geschienen hatte und es gelang ihr sogar, auf Paulinens Frage, ob sie etwas von den Gästen auf Lilienburg gesehen, mit einer drolligen Beschreibung der alten, stolzen Dame zu antworten.


Inzwischen kehrten die Reiter vom Forsthaus zurück. Der Graf eilte ihnen entgegen und während er der Gräfin Emma beim Absteigen vom Pferde half, flüsterte er ihr zu: »Nun, schöne Zauberin?«

Emma winkte ihm mit dem reizvollsten Lächeln zu und flüsterte ebenfalls: »Ich habe das Leben eingesetzt als Pfand an das Schicksal und habe den Preis gewonnen. Wir sind verlobt, noch heute wird es bekannt.«

»Wunderbares Geschöpf,« versetzte der Graf, »und wahrlich, man muß ein Freund sein, wie ich es für Eugen bin, um sich neidlos über sein Glück zu freuen.«

»Und der Freund, der so treu über unserm Glück gewacht, wird er nicht auch mir ewig teuer sein?« sagte Emma und [113] reichte ihm die Hand. Der Graf führte die kleine Hand an seine Lippen und drückte einen langen Kuß darauf. Dann bot er Emma den Arm und führte sie in das Haus. Hier kam ihnen Eugen entgegen, der Frau von Haldeck zu ihrem Zimmer geleitet hatte. Emma warf ihm einen feurigen Blick zu und flüsterte: »Ich erwarte Sie bei Mama.« Eugen blieb unschlüssig stehen, während Emma in ihren Zimmern verschwand. Der Graf, der sich an ihrer Tür verabschiedete, fand ihn so. »Nun, bester Freund, ich ahne, dein Geschick ist entschieden; ich wünsche dir von Herzen Glück.« Er drückte ihm warm die Hand.

»Franz, was hab ich getan!« sagte Eugen dumpf; »ich war berauscht von einem Zauber, der mir ein Glück bot, das ich nicht hätte annehmen dürfen. Die Rückkehr hierher hat es mir wie Zentnerlast aufs Herz gelegt. Was soll ich tun? Sie erwartet mich jetzt bei ihrer Mutter, um ihre Hand zu erbitten, aber jenes Mädchen, das mein Wort hat –«

»Was du tun sollst? Kannst du nur einen Augenblick zweifeln?« erwiderte der Graf unwillig. »Wechsle auf der Stelle deine Kleider und eile, dir das schönste Weib zu erbitten. Sie ist ja dein; deine Ehre und dein Herz binden dich an sie. Was die andere anbetrifft, so habe ich schon vorgebaut; das wird viel besser gehen, als du denkst; ich erzähle dir alles heute Nacht, wenn wir allein sind. Jetzt nur rasch zur Gräfin.«

»O, Franz,« sagte Eugen seufzend, aber der Graf zog ihn in sein Zimmer und fachte durch seine entzückten Beschreibungen des Glückes, das ihm an Emmas Seite winkte, seine Leidenschaft von neuem so an, daß die Gestalt Amaliens im Nebel verschwand und nur die Glutsonne von Emmas Schönheit ihm versengend strahlte. Er ließ sich bei der Gräfin Tonleben melden. Sie kam ihm entgegen und reichte ihm beide Hände. »Ich weiß, lieber Baron, weshalb Sie kommen,« sagte sie mit lächelndem Antlitz, »mein Kind konnte der Mutter nichts verschweigen und wenn mich etwas trösten kann über die Trennung von meinem Kleinod« – hierbei fuhr sie mit dem [114] mit Spitzen besetzten Batisttuch über die Augen – »so ist es der Gedanke, sie Ihnen anzuvertrauen. Einen lieberen Sohn konnte mir meine Emma nicht bringen und wie glücklich werde ich sein, Ihrer herrlichen Mutter mein Kind in die Arme zu legen; sie wird sie lieben, ich bin dessen gewiß; wir werden nur eine Familie sein, ein Herz und eine Seele.«

Eugen küßte der alten Dame die Hände und stammelte etwas von Dank. Sie aber schloß ihn in ihre Arme und bot ihm ihre beiden geschminkten Backen zum Kuß. Darauf trat Emma ein, strahlend von Liebreiz, in ausgesuchter Toilette; die ältere Schwester kam ebenfalls, ihn zu begrüßen, alles schien sich leicht und harmonisch um ihn zu schließen und er schien sich selbst ein Tor, daß er ein so glänzendes, müheloses Glück für einen traurigen Kampf habe verscherzen wollen. Beim Abendessen teilte die alte Gräfin alsbald den versammelten Freunden das frohe Ereignis mit und der Graf brachte einen begeisterten Toast auf das Brautpaar aus. Alle drängten sich beglückwünschend um dieses, nur der kleine Leutnant nahm eine Märtyrermiene an. Als sich der Sturm gelegt hatte und das Geplauder sich wieder andern Gegenständen zuwandte, sagte die alte Gräfin plötzlich: »A propos, lieber Lilienfeld, ich muß Ihnen einen praktischen Rat geben. Ich habe heute morgen die Schulmamsell gesehen, der Sie erlauben, Ihre schönen Aquarelle zu kopieren. Ich meine, es wäre viel besser für so ein Mädchen, einfache Vorlagen zu zeichnen, in denen sie ihre Schulkinder nachher unterrichten kann. Was sollen ordinäre Bürgerkinder mit den Kopien solcher Aquarelle machen? Das fördert nur die gefährliche Richtung unserer Zeit, daß die unteren Stände immer über ihre Lebensstellung hinaus wollen in höhere Sphären.« Eugen wechselte die Farbe während dieser Worte und fühlte sich gedemütigt und beschämt, indem er dachte, daß er jene Schullehrerin an die Stelle des glänzenden Wesens, das an seiner Seite, ihm wonnevoll zulächelnd, saß, hatte erheben wollen. Aber sein Gewissen mahnte ihn dennoch, etwas zu Amaliens Gunsten zu sagen.

»Das Fräulein tut es aus eigener Freude an der Kunst,« [115] sagte er, kaum seine Befangenheit verbergend, »sie hat Talent und ist überhaupt ein sehr begabtes Mädchen.«

»Fräulein?« wiederholte der kleine Leutnant mit ironischem Lächeln. »Man sieht, der Baron befindet sich in einem demokratischen Wahlkreis.«

Eugen warf ihm einen zornigen Blick zu; wie gern hätte er sich an jemand anderem gerächt für das Pochen des unbequemen Mahners in seiner Brust, aber in demselben Augenblick frug Emma: »Was ist denn das für eine Geschichte? Eine junge Dame, die hier malt? Ist sie hübsch?«

»Gar nicht, mein Kind,« versetzte die alte Gräfin rasch, »tout ce qu'il y a de plus vulgaire et quelle mise! Ah, mon Dieu – freilich, was kann man von einer armen Schulmamsell in der Provinz erwarten?«

»Nun, das ist mir lieb, sonst würde ich auch protestieren,« sagte Emma, indem sie den Baron mit ihrem bezaubernden Lächeln ansah.

»Im Gegenteil, Sie müssen ihn dafür nur noch mehr achten,« fiel der Graf ein, der auf der andern Seite neben Emma saß. »Er hat der Schwester freigebig eine Gelegenheit geboten, die sie sonst in der kleinen Stadt nicht hätte, um ihr Talent zu üben, so wie er dem Bruder seine Bibliothek geöffnet hat; das ist human, macht seinem Herzen Ehre und macht ihn zugleich hier populär.«

»Sehr schön und sehr klug zugleich,« versetzte der Leutnant immer mit einem Beisatz von Ironie. Unter dem Tisch aber legte sich eine kleine Hand in die Eugens und er fühlte einen warmen Druck, der ihn beglückte, aber auch vor sich selbst erröten machte. Er blieb den ganzen Abend innerlich beunruhigt und gequält und nur als Emmas Gesang alles in Entzücken versetzte, schwand auch ihm für kurze Zeit jeder andere Gedanke außer dem, der beneidete Verlobte dieses zauberischen Wesens zu sein. Als er nun endlich glückberauscht sein Zimmer aufsuchte, trat der alte Haushofmeister bei ihm ein und übergab ihm Amaliens Brief. Eugen traute sich kaum, ihn zu öffnen. Er fürchtete sich, in den Spiegel zu blicken, der ihm [116] sein eigenes treuloses Betragen vorhalten würde; mißmutig warf er ihn auf den Tisch und zürnte Amalie, daß sie kam, ihn zu mahnen, wie er meinte. Als er aber endlich die Zeilen las, so einfach, so rührend in ihrem Vertrauen, in ihrem Glauben an ihn, da überfiel ihn eine peinvolle Reue und er rief: »O, ich Elender, was habe ich getan? Einem armen Mädchen den Himmel geöffnet, um ihn so grausam wieder zu schließen? War es nicht an der Seite dieser einfach edlen Natur, daß ich eine andere Existenz träumte, ein Leben nützlicher, fruchtbarer Tätigkeit für meine Nebenmenschen? Und bin ich nun nicht wieder in dem weltlichen Treiben gefangen, dem mich zu entziehen mein besseres Selbst mich trieb? – Freilich, ihr zu entsagen, jener göttlichen Sirene, deren süßes Locken mich schon bestrickt hatte, ehe ich Amalie kannte und deren Huld mir nun entgegenkam und alles um mich in Glück und Freude vereinte – nein, das wäre zuviel verlangt gewesen – ein solches Opfer hätte auch der Stärkste nicht gebracht. – Aber wie – wie der Ärmsten das Schreckliche verkünden? Sie wird mich verachten und mit Recht« –

In dem Augenblick trat der Graf herein und erriet an dem Ausdruck und der Haltung des Freundes, welche Gedanken ihn beschäftigten.

»Eugen, ich komme, dich zu beruhigen,« hub er an. –

»Beruhigen? wie ist das möglich? Kannst du das Geschehene ungeschehen machen?« rief Eugen unterbrechend und schlug sich verzweifelnd mit der Hand vor die Stirn. »Du hast mich gewarnt, du bist nicht schuldig, aber ich bin ein Elender, mit idealen Instinkten und mit einer Schwäche, die mich Schlimmeres tun läßt, als ein Bösewicht tun würde. O, ich richte mich selbst und verurteile mich härter, als irgend jemand es tun könnte. Heute war ich berauscht von Emmas Reiz und hieß mein Gewissen schweigen; aber jetzt in der Einsamkeit erwacht es laut. Was soll ich tun? Wie dieser Situation entrinnen? Wortbrüchig, treulos bleib ich, nach welcher Seite hin ich auch entsage.«

Er warf sich in einen Sessel und bedeckte sein Gesicht mit [117] beiden Händen. Der Graf hatte ihn ausreden lassen, jetzt trat er auf ihn zu, nahm eine Hand des Freundes von dessen Gesicht, hielt sie zwischen den seinen und sagte: »Höre mich jetzt, Eugen, da du mich früher nicht hast hören wollen. Sei ein Mann und wirf diese Schwäche von dir; die allein ist deine Schuld, nichts anderes. Daß du dich hinreißen ließest, jenem Mädchen dein Wort zu geben, sie heiraten zu wollen, das war allerdings eine schwere Unbesonnenheit. Du konntest dich ja mit ihr amüsieren, einen kleinen sentimentalen Roman abspielen, das war kein Arg und so ein Mädchen hätte sich noch sehr glücklich geschätzt, eine Zeitlang die Geliebte eines Menschen wie du gewesen zu sein. Daß du die Sache für ernst nahmst, war dumm. Deine ganzen Träume von demokratischen Bestrebungen waren unsinnig. Du bist wieder auf dem rechten Weg, machst die einzige Heirat, die für dich paßt, machst deine Mutter glücklich, gehörst wieder ganz in den Kreis, in den dich Geburt und Verhältnisse beriefen und wo du dich mit deinen Gaben glänzend auszeichnen kannst. Und dies alles wolltest du einer Mesalliance opfern, die dich unglücklich gemacht hätte, da jene junge Person in keiner Weise in deinen Lebenskreis paßte und deine Liebe für sie jedenfalls eine Täuschung war, die du mit bitterer Reue bald erkannt hättest? Sei froh, daß alles gerettet ist, ehe es zu spät war. Was aber jenes Mädchen anbetrifft, so sei versichert, sie ist nicht so edel, wie deine Phantasie sie dir gemalt hat. Es ist Berechnung und schlaue Koketterie in dem Scheine von Unschuld und Naivität gewesen, der dich getäuscht hat. Ich habe sie heute auf die Probe gestellt und sie durchschaut. Du weißt, ich verstehe mich auf Mädchenherzen, sie wird sich ein wenig grämen, mehr aus verletzter Eitelkeit als aus Liebe, und dann wird sie einen braven Bürger aus der Stadt heiraten, Kinder bekommen und sich lebenslang mit ihren Freundinnen beim Kaffee rühmen, die Eroberung eines Barons gemacht zu haben. Ich kenne das, mein Lieber; die Frauen sind alle so – alle; nur nimmt es verschiedene Formen an und was uns in einer Emma entzückt, die liebenswürdige Koketterie, die [118] reizenden Kaprizen, die uns Männer immer in Atem erhalten und verführen, das wird unausstehlich in einer bürgerlichen Kokette, der unsere Phantasie Reize verliehen hat, die sie nie besaß und die wir nur zu bald überdrüssig werden.« Eugen hörte dieser Rede schweigend zu; seine innerste Überzeugung sagte ihm, daß alles, was der andere gegen Amalie sagte, falsch sei. Aber wie es schwachen Naturen zu gehen pflegt, er nahm die Lüge an, wurde unredlich, nur um der tiefen Beschämung über seine eigene Schwäche und Treulosigkeit zu entfliehen und gab sich fremder Führung hin, nur um nicht selbst zu entscheiden, nicht selbst zu handeln. Er erhob langsam den Kopf, schaute zu dem Grafen auf und sagte dumpf: »Aber was soll ich tun? Wie soll ich mich in dieser Verwirrung benehmen?«

»Nichts einfacher als das,« versetzte der Graf. »Der morgende Tag ist ja schon ganz besetzt, du bist deine Zeit deinen Gästen schuldig und wirst folglich das Mädchen, falls sie käme, nicht sehen. Übermorgen brechen wir alle auf, du mit; wir bleiben noch zwei Tage auf Steineck. Dann geht die Gräfin Tonleben mit den Töchtern nach der Residenz zurück; du begleitest sie natürlich, um dort bei deiner Mutter das wahre Verlobungsfest zu feiern und schreibst nach einiger Zeit einen kühlen Absagebrief, du kannst ja auch irgendein Geschenk hinzufügen, was bei solchen Mädchen immer Eindruck macht.«

»Ach, du gibst mir eine Idee,« rief Eugen, »ja, ja, ich weiß schon, was ich ihr schenke,« fuhr er fort und atmete wie erleichtert auf. »Gut, ich komme mit euch; mach nur fort, vielleicht könnten wir schon morgen nachmittag fahren.«

Der Graf versprach, alles zu besorgen, innerlich entzückt, daß ihm sein Werk gelungen und der Freund, den er soviel liebte, wie es seine egoistische Natur zuließ, gerettet sei. Schon am folgenden Tag brach die ganze Gesellschaft auf und Emma versicherte, es werde ihr leicht, jetzt von der Lilienburg zu scheiden, da sie hoffe, bald in vollem Glück dahin zurückzukehren. Dabei umgab sie den Baron mit solch einem zauberhaften Spiel von reizvoller Hingabe, schüchternem Versagen, [119] verlockender Anmut, daß er nicht zur Besinnung kam und daß der Sturm der Leidenschaft die Stimme des Gewissens übertönte. Er schrieb vor der Abreise, wie verabredet mit dem Grafen, nur ein paar flüchtige Worte an Amalie, worin er sagte, er sei durch seine geselligen Pflichten gebunden, mit seinen Gästen zu gehen, gedenke aber demnächst zurückzukehren und bitte sie, einstweilen ihre Studien in der Lilienburg fortzusetzen, auch den ganzen Malapparat, ja seine Sammlung der schönen Aquarelle, als ihr Eigentum anzusehen. – Der kühle Ton der wenigen Zeilen schnitt Amalie in das Herz; daß sie ihn nicht, wie sie gehofft hatte, nach dem Weggehen der Gäste wiedersehen würde, war ihr ein bitterer Schmerz. Aber sie erlaubte es sich doch nicht, an ihm zu zweifeln und wenn sie sich in der Lilienburg bei ihrer Arbeit befand und der wonnevollen, hier verlebten Stunden gedachte, das schöne Antlitz im Geiste vor sich sah, die Liebesbeteuerungen sich wiederholte, die er ihr zugeflüstert hatte, wenn sie seinen ersten Brief wieder las, so kehrte ihr Vertrauen in ihn voll und rein zurück. Sie sagte sich, daß der Zweifel der Gifthauch sei, der die Blüte einer reinen Liebe zerstöre und sie wollte nicht, daß ein Schatten auf die ideale Gestalt falle, der die heiligsten Empfindungen ihres Herzens galten. Als aber Tag auf Tag und Woche auf Woche verstrich, ohne daß der Geliebte wiederkehrte und ohne daß eine Zeile von seiner Hand ihr Trost gebracht hätte, da fing der Schmerz an, seine Wohnung in ihrem Herzen aufzuschlagen und eine tiefe Traurigkeit verbreitete sich über ihr ganzes Wesen. Sie suchte soviel als möglich ihren Seelenzustand der Aufmerksamkeit der Ihrigen zu entziehen; doch Paulinens scharfem Blick entging er nicht. Sie wußte freilich nicht, wie schwer das war, was der Schwester widerfuhr; sie dachte nur, daß ihre Befürchtung eingetroffen sei und daß Amaliens Herz eine hoffnungslose Liebe für den Baron hege; denn daß je von einer Verbindung die Rede gewesen wäre, das fiel ihr auch von ferne nicht ein. In ihrer praktischen Weise hielt sie Arbeit für das beste Mittel gegen solche Seelenleiden und unter dem Vorwand, daß sie [120] zu viel Arbeit habe, hatte sie unaufhörlich etwas für Amalie zu tun, so daß diese fast unmutig darüber wurde, da sie es der Schwester nicht abschlagen mochte, dadurch aber dem einzigen, was ihr jetzt Trost gab und ihre Seele füllte, entzogen wurde, nämlich den Besuchen der Lilienburg, dem Verweilen in den Räumen ihres entschwundenen Glücks, dem Sichversenken in die Erinnerung, hier, wo alles ihr das geliebte Bild hervorrief und wo eine Welt der Schönheit sie umgab, wie sie dem innersten Bedürfnis ihrer Seele entsprach. Der alte Haushofmeister ließ ihr volle Freiheit, in dem Schlosse umherzugehen. Sie besuchte oft den großen Saal und verweilte stundenlang vor den erhabenen Götterbildern, deren stumme, milde Hoheit ihr verwundetes Herz wohltuend berührte.

Eines Tages vermochte sie nicht länger dem Triebe zu widerstehen, der sie lockte, Eugens Privatzimmer zu betreten. Sie war sicher, dies in dem einsamen Schloß unbemerkt tun zu können. Dennoch öffnete sie mit klopfendem Herzen die Tür, voll Scheu, als tue sie etwas Unrechtes, und doch in freudiger Erregung, als müsse ihr dort eine glückliche Offenbarung werden. Ja, trotz des Widerspruchs der Vernunft spiegelte die Phantasie ihr vor, sie könne da dem Geliebten selbst begegnen, an seinem Herzen zum Glück zurückkehren und von seinen Lippen die beseligenden Worte hören, daß alle Hindernisse beseitigt seien und daß ihrer Verbindung nichts mehr im Wege stehe. Freilich kam ihr die geliebte Gestalt nicht entgegen, als sie eingetreten war, und tiefes Schweigen herrschte in dem geschlossenen Raum, aber es war ihr dennoch, als umwehe sie sein Atem, als sei sie ihm hier näher, als schaue sie in sein innerstes Leben. Da war sein Schreibtisch, da waren Bücher, in denen er zuletzt gelesen haben mochte, staatswissenschaftliche, nationalökonomische Schriften, aber auch Romane, besonders französische, darunter einige, die Amalie nur dem Titel und dem Namen des Autors nach kannte, von denen es ihr aber leid tat, sie hier zu finden, weil sie aus Kritiken ihre verwerfliche Tendenz kannte. »Doch, wer weiß, was ihn veranlaßt, sie zu lesen,« dachte sie, »vielleicht [121] muß er es, um in seiner Welt nicht hinter dem allgemeinen Geschmack zurückzubleiben; aber in unserer Welt, dem reinen Äther, der uns umgeben soll, da wollen wir nicht solche Bücher dulden; da werden uns nur die Geistesheroen nahen, da werden wir liebend nur das Schöne und Gute pflegen.« –

Sie verlor sich in Träumen einer idealen Zukunft und betrachtete mit zarter Teilnahme alles, was das Zimmer enthielt, als ihm besonders angehörig und ihr deshalb besonders geweiht. Endlich zog es sie unwiderstehlich, auch noch den letzten Schritt zu tun und sein Schlafzimmer zu betreten. Sie folgte dem sehnsuchtsvollen Triebe und trat ein. Da stand sein Lager, von einem Baldachin überragt, von dem ein Vorhang aus purpurfarbigem Seidendamast niederfiel. Dem Bett gegenüber hing das lebensgroße Ölgemälde eines älteren Mannes, in dem Amalie Eugens Vater vermutete. Mit Rührung glaubte sie hierin einen schönen Zug kindlicher Liebe zu erkennen, der es Bedürfnis war, dem Bilde des ausgezeichneten Vaters den ersten Blick am Morgen zuzusenden und unwillkürlich sagte sie laut vor sich hin: »O mein Eugen!« Auch fand sie mit Freude im milden Ausdruck der Augen eine Ähnlichkeit des Sohnes mit dem Vater, während sie sich sonst gestehen mußte, daß seine schönen Züge ganz denen der Mutter ähnlich waren, deren Bild auf seinem Schreibtisch stand und das sie nicht ohne ein gewisses Grauen angesehen hatte, denn aus dem auffallend schönen Antlitz sprach ein so kalter Stolz, eine so unerbittliche Härte, daß sie seufzend dachte, ob diese Frau sie je als Tochter würde empfangen wollen. Sie fühlte sich zauberisch gefesselt in dem Schlafgemach und es zog sie unwiderstehlich zu dem Lager hin, auf dem er geruht und wo im Traum vielleicht ihr Bild ihm vorgeschwebt hatte. Ihr Herz wallte über von zärtlicher Liebe und wie in einer beseligenden Vision sah sie sich hier mit ihm vereint und fühlte ein zartes Erröten auf ihre Wangen steigen. Sie sah sich um – kein Lauscher von nah und fern – tiefe Stille, die kaum das Summen einer Fliege unterbrach. Da legte sie leise den Kopf auf das Kissen, schlang in Gedanken ihre Arme um seinen [122] Hals und fühlte seine Lippen auf den ihren brennen. Es war ihr, als flüsterte er ihr zu, der Widerstand seiner Mutter habe ihn solange zurückgehalten, nun aber sei alles geordnet und sie sei auf ewig sein. Ihr Blick fiel auf das Bild des Vaters: »Ja, der hätte uns gesegnet, hätte mich als Tochter an sein Herz gedrückt,« sagte sie zu sich selbst; »dieser milde Blick hätte in mein Inneres geschaut und nach den Schätzen der Seele gefragt, die ich seinem Sohn zu bringen hätte, aber nicht nach Stammbaum und Vermögen. Was sind denn auch alle irdischen Güter gegen die hohe Gabe, die ein edles Weib dem Manne, den sie liebt, bringt? Die Hingabe ihres ganzen Selbst, zugleich in Demut und reiner Hoheit; die Liebe, die, indem sie die Frau in ihrer Weiblichkeit vollendet, auch den Mann ergänzt und hinanzieht. Welche Schätze von Gold und Silber, welche Vorteile der Geburt können sich damit vergleichen? Du edler Mann, du hättest das verstanden und dein Sohn wird deiner würdig handeln; er hat deine Augen, aus denen deine Seele spricht; er wird zu mir zurückkehren, wenn er alle Schwierigkeiten beseitigt hat, um mich mit der Fülle des Glücks zu überraschen.«

Die beseligende Gewißheit füllte plötzlich ihr ganzes Herz; seit langem hatte sie sich nicht so glücklich gefühlt. Glut der Liebe durchdrang sie mit allmächtigem Feuer; sie drückte heiße Küsse auf das Polster, auf dem sein Haupt gelegen hatte. »Gib sie ihm wieder, wenn er hier ruht,« flüsterte sie dem Kissen zu und fügte tausend zärtliche Worte hinzu, als könne dieses sie wiederholen. Endlich riß sie sich gewaltsam aus dem glücklichen Traumleben, in das sie versunken war, los, um nach Hause zurückzukehren. Als sie das Schloß verließ, kam ihr der alte Haushofmeister nach und gab ihr einen Brief, der eben aus der Residenz für sie angekommen sei. Mit hochklopfendem Herzen nahm sie ihn und dankte dem freundlichen Alten so innig, als wäre die Glücksverheißung, die sie in Händen zu halten glaubte, ein Geschenk von ihm. Sie eilte nach Hause, um den Brief in der Stille ihres Zimmers zu lesen. Es schien ihr unzweifelhaft, daß er ihr die Verkündigung bringen werde, [123] daß Eugen nun endlich alle Hindernisse besiegt habe. Was konnte er anderes schreiben? O, ihr Traum vorhin auf seinem Lager war die Vorahnung dieses Glücks gewesen! Wie würde sie nun wieder aufleben und zu allem Schönen und Großen fähig sein! Und welch eine Freude, der alten Mutter dies künden zu dürfen und dem teuren Bruder und der guten Pauline. Auch ein wenig Eitelkeit regte sich in ihrem Herzen; es war doch schön, Baronin von Lilienfeld und Herrin der Lilienburg zu werden und sich über die kleinlichen Alltagsmenschen, denen sie sich immer fremd gefühlt hatte, auf Höhen edlerer Kultur zu erheben. Sie hoffte, unbemerkt in ihr Haus schlüpfen zu können, um erst den kostbaren Brief zu lesen. Wie groß war daher ihr Mißvergnügen, als sie an der Haustüre der Justizrätin mit ihrer Tochter begegnete, die eben eintraten. Sie hatte sie seit jener abendlichen Begegnung nicht wieder gesehen und sie absichtlich vermieden, da die offenbare Mißgunst der Mutter ihr eine zu peinliche Mahnung an jene Welt war, der zu entfliehen von jeher ihre Sehnsucht gewesen und nun ihre Hoffnung war. Jetzt aber konnte sie sich dem Zusammentreffen nicht entziehen, denn Linchen stürzte auf sie zu, faßte ihren Arm und rief: »Gut, daß Sie nach Hause kommen, Malchen, wir haben merkwürdige Dinge mitzuteilen.«

»Die Sie vorzüglich interessieren werden,« versetzte die Justizrätin mit scharfem Ton.

Amalie wollte sich entschuldigen, indem sie die Türe des Wohnzimmers öffnete und vorgab, erst ihren Hut und Mantel in ihrem Zimmer ablegen zu wollen.

»Nein, nein,« rief Linchen und schob sie in das Wohnzimmer hinein, »erst müssen Sie hören, es ist zu interessant.«

Frau Holm, die allein zu Hause war, empfing die Gäste mit der Bemerkung, daß sie lange nicht die Ehre gehabt habe, die Damen zu sehen, worauf die Justizrätin erwiderte, daß sie so von den Pflichten höherer Geselligkeit im Hause des Präsidenten und an derer vornehmer Leute in Anspruch genommen worden seien, daß sie nicht zu Atem gekommen wären.

[124] »Nun aber, Mama – unsere Neuigkeit!« rief Linchen.

»Ja, lies du,« sagte die Mutter; »bereiten Sie sich vor, liebe Holm, ein Ereignis zu hören, das für unsere Geselligkeit eine glänzende Aussicht eröffnet und uns den Zirkeln der Residenz nahebringt.«

Linchen zog ein Zeitungsblatt aus der Tasche, entfaltete es und begann zu lesen:

»Gestern feierte man hier in den höchsten Kreisen eine Vermählung, welche die allgemeine Teilnahme erregte. Der junge Baron von Lilienfeld, einer unserer reichsten Grundbesitzer, vermählte sich mit der Gräfin Emma Tonleben, deren Schönheit und Liebenswürdigkeit schon im vorigen Winter das Entzücken unserer Salons gewesen ist. Nachdem am Abend vorher im Hause der verwitweten Baronin von Lilienfeld, im glänzendsten Kreise, dem die Mitglieder des königlichen Hauses beiwohnten, die Ziviltrauung vollzogen worden war, fand gestern vormittag die kirchliche Feier statt. Schon eine Stunde vor Beginn war die Straße, die zur Kirche führte, so dicht mit Menschen gefüllt, daß die Polizei Mühe hatte, den Weg für die Wagen offenzuhalten und in der Kirche war jedes Plätzchen so besetzt, daß außer den freigebliebenen Sitzen für die Eingeladenen keine Möglichkeit war, noch eine Stelle, selbst zum Stehen, zu finden. Als nun endlich die Wagen vorfuhren und das Brautpaar, von Mitgliedern des höchsten Adels geführt, erschien, konnte auch selbst die Heiligkeit des Ortes es nicht verhindern, daß ein Gemurmel der Bewunderung in der Menge hörbar wurde, denn es ließ sich wohl nicht leicht ein schöneres Paar denken. Die Braut, in ihrem kostbaren Spitzenkleide, mit reichem Brillantschmuck, Schleier und Myrtenkranz, strahlte so von Schönheit, Anmut und Glück, daß man die Blicke nicht von ihr abwenden konnte und ihr Lächeln verriet, daß sie sich der allgemeinen Bewunderung freute. Der Bräutigam sah etwas bleich und sehr ernst aus, gewann aber auch die größte Sympathie. Nach der Trauung vereinte ein glänzendes Frühstück die ausgesuchte Gesellschaft im Hause der Baronin Lilienfeld,[125] nach welchem das junge Paar die Hochzeitsreise nach Italien antrat.«

»Nun, was sagen Sie?« rief die Justizrätin. »Das verspricht viel für unsere Stadt, wenn das junge Paar in der Lilienburg ›residenzieren‹ wird; da wird unsere Geselligkeit einen höheren Aufschwung nehmen! Der Baron hat sich zwar etwas einfältig benommen, als er hier war, aber an der Seite einer Frau aus der vornehmen Welt wird er schon die ›Dekoration‹ zu wahren wissen –«

»Das Dekorum,« verbesserte Linchen leise. Die Justizrätin hörte nicht darauf und fuhr fort: »und die Gesellschaft um sich versammeln, die dazu berechtigt ist.«

Sie wandte sich bei diesen Worten wie zufällig nach Amalie um und wollte eben noch etwas hinzusetzen, aber das Wort erstarb ihr auf den Lippen, denn selbst in der Dämmerung, die im Zimmer herrschte, sah sie, wie Amalie totenbleich an der Wand lehnte und krampfhaft die Hand an das Herz führte.

»Was ist Ihnen?« sagte die Justizrätin mit kaum verhaltener Schadenfreude. »Sind Sie unwohl?«

Erschreckt blickte Frau Holm auf und sagte ängstlich: »Malchen?«

»Es ist nichts, es – ist mir zu heiß hier,« stammelte Amalie, nahm sich gewaltsam zusammen und eilte zur Tür hinaus.

»Hm, hm!« räusperte sich die Justizrätin und schüttelte den Kopf. »Liebe Frau Holm,« fuhr sie dann fort, indem sie sich näher zu Frau Holm hinneigte und halblaut, wie um es Linchen nicht hören zu lassen, sagte: »Ich glaube, Sie haben eine große ›Imbrutenz‹ begangen, daß Sie die Amalie so allein zu dem jungen Manne laufen und stundenlang da bleiben ließen; man weiß ja, wie junge Männer aus der Residenz sind; ein Mädchen unter ihrem Stande, das sich ihnen so ohne weiteres an den Hals wirft –«

»O bitte, Frau Justizrätin,« unterbrach sie die alte Holm mit vor Erregung zitternder Stimme, »meine Amalie –«

»Nichts für ungut, liebe Holm,« fiel die Justizrätin ihr ins Wort, »Sie kennen eben die vornehme Welt nicht, aber hätten [126] Sie mich gefragt, ich hätte Ihnen gesagt, daß die Sache die unehrenhaftesten Folgen haben könnte; nun, ich hoffe für Sie, daß das Schlimmste noch nicht geschehen ist, aber die Reputierlichkeit von der Amalie hat schon Schaden gelitten und man munkelt allerlei häßliche Dinge von dem, was da in der Lilienburg vor sich gegangen ist.«

»Frau Justizrätin,« brachte die alte Holm mühsam hervor und Tränen erstickten ihre Stimme.

»Beruhigen Sie sich, meine Gute, daß nur mein unschuldiges Linchen nichts vermutet von dem ›Schkandal‹ – übrigens seien Sie sicher, daß ich Sie verteidigen und sagen werde, Sie hätten von nichts gewußt und solchen Leichtsinn der Amalie nicht zugetraut.«

Währenddessen hatte Amalie in fieberhafter Hast in ihrem Stübchen Licht angezündet und den Brief hervorgezogen, den sie für den Boten unermeßlichen Glücks gehalten hatte.

»Ich will alles wissen,« sagte sie vor sich hin, »will den Kelch bis auf die Hefe trinken.« Mit dem Mut der Verzweiflung, die sich das Messer selbst in die Brust stößt, zerriß sie den Umschlag des Briefes, aber dann hielt sie ihn einen Augenblick lang in der zitternden Hand, denn die ewige Schmeichlerin Hoffnung, die oft noch am Rande des Abgrundes dem Menschen den Retter verheißt, flüsterte ihr zu, es könne dieser Brief noch einen Widerruf des eben Gehörten, eine Rechtfertigung des so heiß Geliebten enthalten. Endlich aber entfaltete sie mit gewaltsamem Entschluß das Blatt und las:


»Ich übernehme es, eine Unvorsichtigkeit meines Sohnes nicht zu entschuldigen, aber gutzumachen. Es scheint, daß er eine flüchtige Aufwallung seines leicht erregbaren Herzens für eine ernste Neigung gehalten, mit seinem allzu idealistischen Gemüt das Unmögliche einer Verbindung unter seinem Stande für möglich gehalten und in dieser Hinsicht Versprechungen gemacht hat. Sie, Mademoiselle, hätten allerdings vorsichtiger sein und an solch ein unmögliches Glück nicht glauben sollen, denn ich will annehmen, daß Sie sich keiner [127] absichtlichen Verlockung meinem edlen Sohne gegenüber schuldig gemacht haben, weil er mir mit Lob von Ihnen gesprochen hat. Ich will Ihnen auch keine Vorwürfe machen, da ein Mädchen Ihres Standes leicht durch die Schönheit, den Reichtum und die Liebenswürdigkeit meines Sohnes verblendet werden konnte. Mein Sohn aber hat nun die ihm ebenbürtige Gattin gefunden und seine Mutter dadurch unendlich beglückt. Dieses Glück macht mich auch noch geneigter, andere nachsichtig zu beurteilen und die Enttäuschung, die Sie sich freilich allein selbst zuzuschreiben haben, genügend zu vergüten. Ich weiß durch Eugen, daß es Ihr Wunsch ist, nach Italien zu reisen, um dort Ihr Talent zur Malerei auszubilden. Obwohl ich dies nun in Ihren Verhältnissen für eine Torheit ansehe und für eine Überhebung, wie sie leider heutzutage in den niederen Ständen nur zu häufig vorkommt, so füge ich doch einen Wechsel von tausend Talern bei, der es Ihnen ermöglichen wird, die Reise zu unternehmen, oder, wenn Sie einen Mann Ihres Standes finden, sich eine Aussteuer damit zu machen.

Adelheid, Baronin von Lilienfeld.«


Der Brief nebst dem darin liegenden Wechsel entfiel Amaliens Hand, sie sank auf einen Stuhl, rang nach Atem und meinte zu ersticken, so heftig schlug ihr Herz, so gewaltig pochten ihre Schläfen. Plötzlich aber überflutete es sie heiß und die Empörung über den Brief, über die Art, ihre reine Liebe zu beurteilen, über die Schmach, mit Geld den tödlichen Schmerz ihrer Seele abkaufen zu wollen, gewann für den Augenblick eine solche Gewalt, daß alle Nerven sich spannten zu furchtbarer Energie und zu raschem Handeln, als könne sie damit dem vernichtenden Weh entfliehen.

»Auch nicht einen Augenblick soll dies hochmütige Weib glauben, ich werde mich beflecken, indem ich ihr Geld nehme. Sie soll es wissen, daß es etwas Höheres gibt als den Stolz der Kaste: den Stolz einer edlen Seele, die hintergangen, aber nicht erniedrigt werden kann.«

[128] Mit Ungestüm ergriff sie den Wechsel, legte ihn in ein Blatt Papier und schrieb darauf: »Kein Zufall der Geburt entschuldigt den, der fähig ist, schnöden Verrat mit Geld vergüten zu wollen. Eher sterben, als dieses Judasgeld nehmen.«

Sie siegelte den Brief, adressierte ihn an die Baronin von Lilienfeld und eilte unbemerkt zum Haus hinaus, um ihn auf die Post zu tragen. Es regnete in Strömen und ein eisiger Wind riß ihr beinahe das Tuch weg, das sie in der Eile umgeschlagen hatte. Aber sie achtete dessen nicht; der Sturm, der in ihrer Seele wütete, ließ sie das Toben der Elemente kaum bemerken. Ganz durchnäßt, mit fiebernd heißer Stirn, kam sie zurück und sah durch das Fenster, wie der kleine Familienkreis bereits bei der Lampe um den Tisch saß, die Mutter eifrig strickend, Pauline mit dem Korrigieren von Schulbüchern beschäftigt, Heinrich lesend. Es sah rührend aus, dieses stille Trio! Der Frieden der Genügsamkeit, der Entsagung, der bescheidenen, freudigen Pflichterfüllung, schwebte wie ein Heiligenschein um die Häupter der drei Menschen in der kleinen Stube. Amalie blieb einen Augenblick vor dem Fenster stehen und betrachtete das friedliche Bild; ein unsägliches Weh schnürte ihr das Herz zusammen; es war ihr wie ein Vorwurf, diesen demütig Entsagenden gegenüber, nach einem höheren Glück verlangt zu haben und doch schauderte ihr vor der Beschränkung einer solchen Existenz. »Aber ihr sollt's nie wissen, was ich leide, was mir widerfahren ist,« sagte sie zu sich selbst und preßte die Hand auf ihr schmerzendes Herz, »nein, euer Frieden, ihr Armen, Genügsamen, soll nicht durch mich gestört werden; allein will ich's tragen und überwinden und ihr sollt ihn nicht verachten, das könnte ich nicht ertragen, den schmähen zu hören, den ich – verachten muß und den ich – dennoch liebe – o, wie tief, wie unauslöschlich liebe.«

In heißer Qual wäre sie am liebsten wieder in die stürmische Nacht hinausgeeilt, aber der Gedanke an die Ihrigen trieb sie in das Haus, da sie wohl denken konnte, daß ihr Ausbleiben sie beunruhigen würde. Kaum hatte sie auch die Haustür [129] geschlossen, als sich die Stubentür öffnete und Paulinens Kopf heraussah.

»Mein Gott, Malchen, wo steckst du denn?« rief Pauline. »Mutterchen hat sich schon geängstigt, daß du bei dem Wetter draußen warst.«

»Ich – ich hatte ein Buch in der Schule vergessen,« brachte Amalie mühsam hervor; »der Regen hat mich überrascht; ich komme gleich, will nur eben die nassen Sachen ablegen.«

In ihrem Stübchen ordnete sie ihr vom Wind zerzaustes Haar, suchte mit übermenschlicher Anstrengung ihrem Gesichte den Ausdruck der Ruhe zu geben und drängte gewaltsam die Tränen zurück, die jetzt aus der gepreßten Brust sich losringen wollten. »Sie sollen es nicht wissen, sie sollen nicht darunter leiden,« war ihr einziger Gedanke. So trat sie, anscheinend ruhig, in das Wohnzimmer, nur ihre tödliche Blässe verriet, daß etwas Besonderes in ihr vorging. Auch sah die Mutter sie besorgt an, denn sie, allein bei dem Besuch der Justizrätin gegenwärtig, hatte geahnt, was Amaliens Seele bei dem Anhören des Artikels bewegte, ohne doch die ganze Schwere des Schlages zu kennen, denn sonst wäre ihr armes Mutterherz vor Weh gebrochen. Aber sie wagte nicht an jene Saite zu rühren und fragte nur zärtlich, ob sich Malchen auch nicht erkältet habe bei dem Gang in dem schlechten Wetter. Diese versicherte: nein, obgleich sie schon fühlte, daß Fieberfrost sie durchschauerte; sie saß arbeitend über ihr Nähzeug gebückt, damit niemand sehen sollte, wie die verräterischen Tränen immer und immer wieder nach den Augen drängten.

Lautlose Stille herrschte abermals im Stübchen; ein jeder war mit seiner Arbeit oder mit seinen Gedanken beschäftigt. Endlich legte Heinrich das Buch nieder und sagte tief aufatmend: »Ach, so eine Stunde lang im Plato zu lesen, tut doch himmlisch wohl; es reinigt die Seele vom Schmutz der Welt. Und diese herrliche griechische Sprache! Es ist wie eine Harmonie, die durch die Seele tönt.«

»Heini, willst du mich Griechisch lehren?« frug Amalie, [130] plötzlich den Kopf erhebend, denn es durchzuckte sie der Gedanke, in solchem Studium könne ihr Friede werden.

»Ei, Kind,« erwiderte Heinrich lächelnd, »das ist keine Kleinigkeit; das verlangt angestrengte Arbeit.«

»Desto besser,« versetzte Amalie, »ich möchte auch den Plato griechisch lesen können. Willst du?«

»Ich will schon, Herzchen,« sagte Heinrich, noch immer lächelnd, »aber bis zum Plato ist es ein wenig weit. Ja so,« fuhr er fort, »ich vergaß euch zu sagen, daß heute Wählerversammlung war; die Wahl Lilienfelds ist so gut wie gewiß.«

»Weißt du denn nicht –« hub die Mutter mit einem ängstlichen Seitenblick auf Amalie an, deren Kopf tiefer als vorher auf die Arbeit sank.

»Ach ja,« rief Pauline, sie unterbrechend, »du hast wohl die große Neuigkeit noch nicht gehört? Ich begegnete der Justizrätin, als sie von hier kam, sie schrie es mir förmlich entgegen: Lilienfeld ist verheiratet! Und dann erzählte sie mit gewohnter Zungengeläufigkeit, was in der Zeitung über das glänzende Hochzeitsfest gestanden habe, auch, daß die Hochzeitsreise nach Italien angetreten sei. Siehst du, Heini, ich habe es dir immer gesagt, mit dem Menschen ist nichts Ernstes anzufangen. Angenehm war er schon, das will ich gestehen, aber es ist doch nichts dahinter, kein wahrer Ernst und vor allem kein Herz für das Volk. Das sagt sich so zum Schein, aber wenn's zum Handeln kommt, dann ist's doch nur die Kaste. Wie soll der hier sich um unsere Interessen kümmern, wenn er sich mit einer jungen, schönen Frau in Italien amüsiert? Ach, Heini, Heini, du hättest bei Lenke stehen sollen, das war der rechte Mann.«

»So, wirklich – er ist verheiratet und nach Italien?« sagte Heinrich nachdenklich. »Das tut mir leid; ich hatte ihn gern, ich hoffte etwas von ihm; ich dachte, es sei einmal einer, der die einzig zeitgemäße Aufgabe des Adels begriffe: den notwendigen Forderungen der Zeit mit edler Voraussicht entgegenzukommen und die Sache der Unterdrückten selbst in die Hand zu nehmen –«

[131] Ein leises Stöhnen unterbrach seine Rede. Amalie, unfähig, länger der Qual, die ihr das Herz zusammenschnürte, zu widerstehen und zugleich von Fieberschauern geschüttelt, war auf ihrem Stuhl zurückgesunken und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen.

»O mein Gott, Malchen,« rief die Mutter voller Schreck und sprang vom Sofa auf, die Tochter umfassend. Auch Pauline war aufgesprungen und ergriff der Schwester Hand: »Amalie, was ist's?« rief sie besorgt. »Sie ist krank,« setzte sie dann schnell hinzu, »Mutterchen, du siehst ja, sie zittert vor Kälte, sie hat sich draußen erkältet.«

Die Mutter schüttelte ungläubig den Kopf und Tränen strömten ihr aus den Augen. Heinrich war auch herzugetreten und legte die Hand auf Amaliens Kopf. »Mein armes Kind,« sagte er leise, denn plötzlich verstand er, was die Besuche in der Lilienburg für Amalie bedeutet hatten, ohne doch zu ahnen, wie weit der Baron schuldig dabei war.

Pauline bestand darauf, die Schwester zu Bette zu bringen und diese ließ es geschehen, weil sie so allen weiteren Erörterungen entging und weil sie selbst fühlte, daß sie krank sei. Das Fieber brach auch in furchtbarer Heftigkeit aus und Amalie bewillkommte es in ihrem Herzen wie einen Retter, denn es entführte sie für den Augenblick wenigstens den verzehrenden Schmerzen der Seele und dem qualvollen Kampf mit der verratenen Liebe, die sie doch nicht in sich zu töten vermochte. Ein wohltätiger Nebel legte sich über ihr Denken und Erinnern und führte sie in das Land der Phantasien und Träume; heitere glückliche Bilder von sonnenbeglänzten Fluren, über denen ein tiefblauer Himmel sich wölbte, von entzückenden Orangenhainen am blauen Meer, wo sie an der Seite eines teuren Freundes lustwandelte, wechselten darin mit Schreckensszenen, in denen eine dunkle Gestalt sich zwischen sie und ihn drängte und sie in einen Abgrund hinabstieß, in dem ihr die Sinne vergingen. Was während dieser Phantasien ihr Mund den Ihren verraten hatte, blieb ihr auf ewig ein Geheimnis; denn als sie nach Wochen schweren Krankseins [132] wieder nach und nach zum Bewußtsein ihrer selbst kam, fand sie die treuen Menschen in liebender Sorgfalt und Freude über ihre Genesung bemüht, sie zu erheitern und zu pflegen, so gut es ihre Mittel und Kräfte erlaubten, aber nie kam eine Andeutung dessen, was ihre Fieberphantasien hatten erraten lassen, nie ein Wort, das an die seligste und schmerzvollste Episode ihres Lebens erinnerte, über die Lippen der Trefflichen, zwischen denen sie langsam zum gewohnten Gang des Lebens zurückkehrte.

Doch nur äußerlich kehrte sie zu ihm zurück; in ihrem Innern war alles verändert. Ein still verzehrendes Weh, eine Sehnsucht, die alles, was sie umgab, wie eine traurige Ode erscheinen ließ, nagten an ihrem Leben. Es war ihr auch von der schweren Krankheit eine körperliche Schwäche geblieben, die sie zwar sorgfältig vor den Ihren zu verbergen strebte, die aber eben durch diese Anstrengung nur noch gesteigert wurde. Mehr als je erwachte daher die Sehnsucht nach Italien in ihr, dessen Formen und Farben sich ihr schon durch das Kopieren der Aquarelle so eingeprägt hatten, daß es ihr war, als sei dort ihre wahre Heimat und als lebe sie im Norden in der Verbannung. Dazu kam der Gedanke, daß ihre Gesundheit sich dort allein werde erholen können, worin eine zufällige Äußerung des Arztes, die zum Glück niemand der Ihrigen vernommen hatte, sie bestärkte. Dieses Ziel zu erreichen, wurde von nun an die heiße Flamme, die ihr das Leben ertragen half, wenn die Erinnerung an den Treulosen, aber noch immer glühend Geliebten, es ihr unerträglich machte. Sie sah zur Erreichung dieses Zieles nur ein Mittel: rastlose Arbeit, um das notdürftige Reisegeld zu sammeln, wobei auch ein geheimer Stachel verachtenden Trotzes gegen jene Frau hinzukam, die durch Geld ihr die Herzenswunde hatte heilen wollen. Sie erklärte sich bereit, ihre frühere Lehrtätigkeit wieder aufzunehmen, ja diese durch eine größere Zahl zu gebender Stunden noch zu vermehren.

Die alte Mutter schüttelte besorgt den Kopf und meinte, das werde zu viel sein für ihre Kräfte, aber Amalie zwang [133] sich anscheinend heiter, zu versichern, sie fühle sich ganz wohl und die Arbeit werde ihr gut tun. Hierin wurde sie von Pauline unterstützt, die stets die Arbeit als das beste Heilmittel für psychische und physische Leiden ansah und so wurde die Zahl der Stunden beinah auf das Doppelte erhöht. Dazu kam sie auf ihren früheren Wunsch, die griechische Sprache zu erlernen, zurück und Heinrich, der seine liebste Schwester jetzt noch mit erhöhter Zärtlichkeit umfing, da er ihr Herzensgeheimnis kannte, widmete sich ihr mit innigster Hingebung. Obgleich selbst mit Arbeit überhäuft – die auch er im stillen verdoppelt hatte, um während Amaliens Krankheit zu den größeren Ausgaben des Haushaltes ausreichend beitragen zu können – betrieb er den Unterricht auf das eifrigste und da die Schülerin äußerst gelehrig war und mit rastlosem Fleiß arbeitete, so waren ihre Fortschritte so groß, daß ihm wahre Freude aus diesen Stunden erwuchs. Wenn er aber, besorgt über ihr Aussehen, seine Bedenken äußerte und mahnte, nicht zu viel zu tun, dann versicherte ihm Amalie, sie fühle sich ganz wohl und warf ihm scherzend vor, daß er zu gering von Frauenkräften denke, während er doch selbst sich immer mehr Arbeit auflade und bleicher aussehe als sie. Auch schien sie sich mit der im Norden so spät, aber doch endlich eingetretenen wärmeren Jahreszeit wirklich zu erholen und mit Freude sah die Mutter die Farben, die, wie sie meinte, Rosen der Gesundheit seien, wieder auf ihren Wangen blühen. Aber weder die Mutter noch die Geschwister wußten, daß Amalie auch die Hälfte der Nacht noch mit dem Studium der italienischen Sprache zubrachte, die sie als Vorbereitung für das ersehnte Ziel ansah. Sie wollte damit auch die Geister des Schmerzes und der Verzweiflung bannen, die, nachdem der geschäftige Tag sie verscheucht hatte, in der Stille der Nächte heraufstiegen, um ihr den Schlaf zu rauben und sie in peinvoller Sehnsucht nach dem erloschenen Traum des Glücks schmachten zu lassen. Nur wenn die erschöpfte Natur endlich den rastlosen Kampf des energischen Willens gegen die aufreibende Gewalt der unauslöschlichen Liebe nicht mehr auszuhalten vermochte, [134] schloß ein schwerer Schlaf der Ermattung die müden Augenlider und unerquickt von diesem Schlummer, erhob sie sich am Morgen und faßte gewaltsam ihre Kräfte zusammen, um der Aufgabe des Tages zu genügen.

Doch nicht ungestraft läßt die Natur sich solchen Zwang gefallen. Nur bis zu einem gewissen Grad erlaubt sie es dem gewaltigen Wollen einer starken Seele, anzukämpfen gegen die Gesetze, die auch den Geist mit ehernen Ketten binden. Jene Rosen, die auf Amaliens Wangen blühten und die der Mutter Herz entzückt hatten als Zeichen wiederkehrender Gesundheit, sie waren trügerische Blüten des Übels, das mit reißenden Fortschritten das junge Leben untergrub. Schließlich mußte auch die Mutter, mußten die Geschwister es sich mit herbem Schmerz eingestehen, daß ihnen ein Unglück drohe, das ihre Seele mit Verzweiflung füllte. Amalie leugnete es ihnen, leugnete es sich selbst, daß ihre Kräfte nicht mehr ausreichten für die Aufgabe, die sie sich gestellt hatte. Mit fieberhafter Hast arbeitete sie und gab ihre Stunden, um die Mittel zu erlangen zur Erreichung der einzigen Hoffnung, die ihr Leben noch erhielt: dem sonnigen Süden zueilen zu können. Ihre Träume selbst führten sie dahin und was sie am Tage in verzehrender Sehnsucht quälte, das wurde ihr im Traum zu seliger Erfüllung, so daß man sie oft, wenn sie aus Erschöpfung auch am Tage eingeschlafen war, wie verklärt lächeln sah.

Endlich aber vermochte sie nicht mehr der schwindenden Körperkraft zu gebieten und mußte sich der Verordnung des Arztes fügen, der sie zu völliger Ruhe verwies, obgleich er wohl wußte, daß auch diese sie nicht mehr retten und nur der letzte Schritt zur ewigen Ruhe sein würde. Schon konnte sie ihr kleines Zimmer nicht mehr verlassen und schließlich nicht mehr ihr Bett; aber ihre Blicke hingen immer an den Aquarellen, die sie in der Lilienburg verfertigt und mit denen sie, in den Zeiten, wo sie dort gearbeitet, ihr Stübchen geschmückt hatte. Die Originale des Barons, die Farben und alles, was er ihr in dem letzten Brief geschenkt hatte, hatte sie natürlich verschmäht und in dem Schloß zurückgelassen, aber wenn ein[135] blasser Herbstsonnenstrahl auf die Bilder in ihrer Stube fiel, dann flog ein wehmütiges Lächeln über ihr abgemagertes bleiches Antlitz und in den schönen Augen blitzte es noch einmal auf, als wollte die frei werdende Seele den Körper verlassen und ihre Flügel entfalten, um den Gefilden ewiger Schönheit zuzueilen. Ihr Bruder Heinrich, der ihr stets besonders nahe gestanden hatte und jetzt fast nie von ihrer Seite wich, mußte ihr vorlesen aus Plato, aus Plutarch und andern alten Schriftstellern und dann Reisebeschreibungen aus Griechenland und Italien. Zuweilen unterbrach sie ihn, sah ihn mit einem tiefen, forschenden Blick an und sagte seufzend: »Auch du bist krank, mein Heini, lies nicht, das Lesen greift dich an.« Und in der Tat atmete die Brust des Bruders krankhaft, ein trockener Husten hinderte ihn häufig am Lesen und sein Gesicht war kaum weniger bleich und abgemagert als das der Schwester.

Der Monat Oktober war zu Ende und draußen stand bereits der eisige Winter vor der Tür, der die Erde mit einem weißen Leichentuch überdeckte, während der bleigraue Himmel keinen tröstenden Sonnenstrahl mehr durchdringen ließ auf die verödete Erde. In Amaliens Stübchen war es ganz still geworden, denn die Kranke atmete nur noch schwach und das Lebenslicht war dem Erlöschen so nahe, daß der Arzt der schmerzerfüllten Familie eines Tages hatte sagen müssen, es handle sich nur noch vielleicht um Stunden. Am Abend dieses Tages war die Mutter, von Kummer und Tränen völlig erschöpft, in der Wohnstube etwas eingeschlummert und Pauline, deren kräftige Natur sich wenigstens körperlich aufrecht erhielt, saß bei ihr, den tröstenden Schlummer zu bewachen, während sie dabei trotz ihrer tiefen Traurigkeit, dennoch ihren Schulpflichten oblag. Heinrich saß an einem Tisch allein im Krankenzimmer, in dem eine verhängte Lampe nur spärliches Licht verbreitete und es nach der Seite des Bettes hin fast dunkel ließ. Er hatte ein aufgeschlagenes Buch vor sich, aber er las nicht darin, sondern stützte den Arm auf den Tisch und verbarg das Gesicht in der Hand. [136] Bitterer Schmerz rang in seiner Seele mit der Empörung gegen das grausame Verhängnis, das ihm die geliebteste Schwester raubte. »Ich hatte das Leben der Entsagung standhaft auf mich genommen, hatte für mich selbst auf Lebensgenuß, Glück und Liebe verzichtet, nur diese eine Blüte solltest du mir lassen, Schicksal,« sagte er vor sich hin; »in dem reichen Frühling ihres Lebens wollte auch ich mich einen Augenblick lang sonnen und dann ohne Klage untergehen. Und nun muß sie vorher hinab in das dunkle Reich der Schatten, ach und von welch bittrem Pfeil getroffen! Könnte ich mich trösten mit dem edlen Trost der Alten, daß der, den die Götter lieben, jung stirbt! Aber sie stirbt nicht, um in die Lichtregionen Unsterblicher einzugehen, nicht um das Reich der Schönheit zu finden, nach dem ihre Seele dürstete – nein, sie stirbt, um dem Elend und der Qual des unerfüllten Lebenstraumes zu entfliehen. Und wie viele, wie viele, die wie du, meine arme Schwester – einmal im Traum die Gestade der Seligen erblickt haben und sich nun gleich dem Ikaros die Flügel schaffen, um sich frei in ideale Sphären zu erheben, aber getroffen zur Erde niedersinken. Ewiger grausamer Widerspruch, nur für solche Naturen lösbar wie die Paulinens, die das heitere Maß vernünftiger Beschränkung mitbekommen haben. Aber die, denen die Götter die Sehnsucht nach dem himmlischen Manna der Schönheit in das Herz legten« –

Er fuhr empor aus seinen schmerzlichen Gedanken, denn er hörte plötzlich flüstern: »Heini!« Im Augenblick war er an der Seite des Bettes und beugte sich zu der Schwester nieder, die er schlummernd gewähnt hatte. Die großen Augen schauten aus dem wachsbleichen Antlitz zu ihm auf und kaum vernehmbar hauchte sie die Worte: »Heini, ich möchte dich etwas fragen?«

»Was, meine teure Schwester?« sagte Heinrich und lächelte ihr liebevoll zu, indem er gewaltsam die Tränen zurückdrängte, die ihr Anblick stets in seine Augen rief.

»Wen habt ihr gewählt?« flüsterte Amalie und schlug die [137] Augen nieder, als ob sie sich dieser Frage schäme. Heinrich war betroffen, denn die Frage zeigte ihm, daß der Gedanke, den er erstorben glaubte, noch den bittern Wermutstropfen in den Todeskelch mischte. Er zögerte einen Augenblick mit der Antwort, aber ungewiß, welches der größere Schmerz für die Sterbende sein würde, zog er es vor, ihr die Wahrheit zu sagen und erwiderte leise: »Lenke ist gewählt.«

Die magere weiße Hand der Kranken drückte leise die seine. »Das ist gut,« hauchte sie und schwieg einige Augenblicke; dann bat sie den Bruder, die Schublade ihres Schreibtisches zu öffnen und ihr daraus ein verschlossenes Kästchen zu geben. Heinrich brachte es ihr. Sie holte einen Schlüssel hervor, den sie unter ihrem Kopfkissen verborgen hielt, öffnete das Kästchen, entnahm ihm einen kleinen Beutel und sagte: »Hier, geliebter Heini, sind meine Ersparnisse, die ich seit Jahren sammelte, um die Reise in das Land meiner Sehnsucht machen zu können. Es ist nur erst ein kleiner Teil, kaum ein Drittel des Nötigen, aber es ging nicht schneller. Du kannst es rascher vervollständigen und dann – geh du, mein Heini, – geh du – du bedarfst es – du mußt dort genesen – ich – ich gehe wo anders hin – vielleicht zu dem Urquell der Schönheit – dort aber – unter jenem Himmel – gedenke meiner, Heini« –

Die Stimme versagte ihr; sie hatte alles nur mit einer letzten, allmächtigen Anstrengung hervorgebracht und sank nun erschöpft auf das Kissen zurück, von dem sie sich, vom Bruder unterstützt, erhoben hatte.

Heinrich vermochte nicht länger, den Tränen zu wehren, die in heißen Strömen über seine Wangen rollten. »Mein armes, armes Kind,« sagte er schluchzend, »auch ich werde das Land deiner Sehnsucht nicht sehen; ich folge dir bald auf deinem Weg und wir werden da vereint sein, wo alle Sehnsucht schweigt.«

Ein verklärtes Lächeln glitt über Amaliens Züge, ihre Lippen bewegten sich, wie um etwas zu sagen, aber das Wort war nicht mehr vernehmbar. Dann schloß sie die Augen zum [138] Schlummer. Heinrich aber sank auf die Knie neben dem Bett, barg sein Gesicht in die Decken und weinte bitterlich.


Einige Tage darauf trug man Amalie zur ewigen Ruhe auf den Kirchhof. Ein langer Zug der besten Bürger der Stadt gaben durch ihre Beteiligung der Familie Holm ein Zeichen ihrer Hochachtung; die Schülerinnen Amaliens hatten sich dem Zuge angeschlossen und weinten der geliebten Lehrerin Tränen innigster Trauer nach.

Eine der seltsamen Fügungen des Schicksals, die sich zuweilen ereignen und wie absichtliche Gerechtigkeit aussehen, hatte es gewollt, daß am Tag vorher die Besitzer der Lilienburg, die seit der Zeit der Verlobung leer gestanden hatte, zurückgekehrt waren, nämlich: die alte Baronin mit ihrem Sohn und dessen Frau. Mehrere Gäste, unter denen sich der Graf befand, begleiteten sie und es begann alsbald ein fröhliches Leben dort.

Der Baron befand sich gerade am Gittertor des Parkes mit dem alten Haushofmeister, dem er einige Neuerungen für die Einfahrt, die seine Frau verordnet hatte, auftrug, als der Trauerzug, der sich nach dem Kirchhof bewegte, vorüber kam. Eugen erkannte den bleichen Heinrich Holm und Pauline, die hinter dem Sarge gingen und in ihrer Mitte eine alte, tiefgebeugte Frau führten. Von einer Ahnung durchschauert, fragte er den Haushofmeister, der still andächtig sein Mützchen abgenommen hatte, wer da begraben werde.

»Die arme Mamsell Holm,« erwiderte der Alte voll Rührung, »dieselbe, die im vorigen Winter hierher kam, um zu malen; ein braves, liebes Mädchen – und so jung zu sterben – und die arme alte Mutter, – so brave Leute – die ganze Familie.«

Eugen war totenblaß geworden und eine unsägliche Pein schnürte ihm das Herz zusammen. »Wie kam das?« frug er hastig. »War sie lange krank?«

»Bald nach der Zeit, wo der Herr Baron von hier fortgingen,« versetzte der Alte mit einem strengen Seitenblick [139] auf seinen Herrn; »im Anfang kam sie noch oft, um zu malen und ging im Schloß umher, denn ich wußte wohl, daß der gnädige Herr nichts da gegen haben würde. – Aber von dem Tage an, wo ein Brief ankam – wie mir nach der Handschrift schien, von der gnädigen Frau Mutter – den ich ihr zu geben hatte, kam sie nie mehr und ich hörte später, daß sie kränkle und endlich, daß sie sterbenskrank sei.«

Eugen hatte sich abgewendet, verließ dann raschen Schrittes, ohne seine Verordnungen weiter fortzusetzen, den Alten und eilte in das Schloß. Der alte Mann sah ihm nach, schüttelte den Kopf und murmelte vor sich hin: »Er hat kein gutes Gewissen! Habe ich's doch gehört, als ich zufällig einmal neben dem Malzimmer aufräumte und die Tür hinter der Portiere offen stand, wie er sie küßte und seine liebe Braut nannte. Und dann kam die andere, die Schönere – nun ja – und da war's vorbei, da war er behext. Und es wird gehen wie mit dem seligen Herrn, der war so gut, so gut, aber als er die Frau nahm, da war's auch vorbei mit unser aller Glück und dieser ist auch gut, aber noch schwächer als der Vater; die junge Frau wird ihn ganz beherrschen und alles wird gehen, wie sie es will. Arme, arme Mamsell Holm.« Sich eine Träne trocknend, schlich der Alte in das Schloß zurück. Eugen aber war in heftiger Erregung in das Malzimmer geeilt. Hier stand alles, wie Amalie es verlassen hatte; auf der Staffelei war das letzte Bild, das unvollendet geblieben war. Die Mappe mit seiner Aquarellsammlung lag daneben. Er warf sich auf das Sofa, auf dem er mit ihr gesessen und ihr Schwüre ewiger Liebe zugeflüstert hatte. Sein Gewissen erhob sich aus der Betäubung, in die seine Ehe und die Zerstreuungen der Welt es versenkt hatten und stand wie ein strenger Richter vor ihm. Er wand sich in schwerer Selbstanklage unruhig hin und her, da fiel sein Blick auf ein kleines Buch, das in einer Ecke des Sofas lag. Wie um sich selbst zu entfliehen, griff er danach und fing an, die feine Schrift zu lesen, mit der viele Blätter bedeckt waren und je weiter er las, je weher wurde es ihm ums Herz. Es waren Gedanken und Poesien, [140] in denen Amalie nach der Trennung von ihm ihren Schmerz, ihre Liebe, ihre Zweifel und ihren immer wieder auflebenden Glauben an ihn ausgesprochen und das sie wohl hier vergessen hatte. Das reiche Gemüt, die hingebende Liebe, die edlen Gesinnungen des Mädchens sprachen aus diesen Worten so lebendig zu ihm, daß ihr Bild in voller Anmut reiner Jungfräulichkeit vor ihm aufstieg und sein Herz an jenen süßen Traum wahrer Neigung mahnte. Mit jähem Schreck fuhr er empor, als der Diener ihn zum Frühstück rief. Hastig schob er das kleine Buch in die Brusttasche und trat verstört und beklommenen Herzens in den Speisesaal, wo seine schöne, glänzende Gattin und seine Mutter in lebhaftem Geplauder mit den Herren, die sie begleitet hatten, seiner harrten. Das oberflächliche Gespräch, die frivolen Scherze, das Lachen und die Entwürfe zu allerlei Vergnügungen waren ihm heute beinah unerträglich. In seinem Innern tönte ihm in unheimlicher Weise ein furchtbares Wort: »Mörder« und es überlief ihn kalt, wenn er an den Trauerzug dachte. Emmas übermütiger Spott über seine Schweigsamkeit, der bei der übrigen Gesellschaft lautes Gelächter hervorrief, verstimmte ihn aufs äußerste und fast heftig machte er sich von ihr los, als sie nach dem Frühstück sich an seinen Arm hing und mit allerlei Scherzen »seine üble Laune«, wie sie es nannte, bannen wollte.

»Ah mon cher comte,« rief sie zum Scheine schmollend, »da sehen Sie, welch einen Mann ich habe, kommen Sie geschwind, mich zu trösten.«

Der Graf flog herbei, Emma nahm, ihm kokett zulächelnd, seinen Arm und zog ihn fort in den anstoßenden Wintergarten, wo sie sich zwischen blühenden Kamelien und Pflanzen auf eine Bank, vertraulich flüsternd, mit ihm niederließ. Die alte Baronin Lilienfeld, die sehr viel auf Etikette hielt, warf ihrer Schwiegertochter einen mißbilligenden Blick nach und fragte dann ihren Sohn, was er habe, da er in der Tat verstimmt aussähe. Er schützte Kopfweh vor und begab sich auf sein Zimmer. Hier schloß er sich ein, zog das Buch hervor und begann wieder zu lesen. Immer tiefer zog es ihn hinein [141] in diese Welt voll reiner Liebe und Poesie und all die alten, edlen Träume von einem Leben geistigen Fortschritts und tätiger Humanität tauchten wie ferne Lichtgestalten aus den Tiefen seiner Seele auf. »O, mit ihr wäre das alles zur Wahrheit geworden, mein Leben würde nützlich erfüllt gewesen sein und jetzt – diese ewige Jagd nach raffiniertem Genuß, bei dem das Herz leer bleibt, wenn der Rausch der Leidenschaft erloschen ist – ach, Amalie, du bist durch mich gestorben – ich fühl es und dieses Buch, es ist wie eine Mahnung aus dem Grabe, in das du durch meine Schuld hinab mußtest. O, könnte ich dich wenigstens versöhnen durch ein deiner würdiges Leben – aber zwischen meiner Mutter und – ihr – der ich dich opferte, wird es je möglich sein, ohne den Scheinfrieden des Hauses zu zerstören?«

In trübes Sinnen verloren, verbrachte er die Zeit bis zur Abendtafel. Er hatte sich von der Ausfahrt, die seine Mutter, Emma und die Gäste unternommen hatten, losgemacht und als nach der Abendtafel wieder lustige Spiele, frivoles Geplauder, Lachen und Scherze die Zeit füllten, schlich er sich unbemerkt fort, hüllte sich in seinen Mantel und eilte aus dem Schloß. Er schlug den Weg zum Kirchhof ein. Es war eine kalte helle Winternacht, der Mond stand voll am wolkenlosen Himmel. Langsam schritt er zwischen den Gräbern hin, deren schwarze Kreuze und weiße Leichensteine ihn wie stumme Vorwürfe des Gewissens anzustarren schienen; er schaute nach allen Seiten – da – da war es: ein frisch aufgeworfenes Grab, von grünen Tannenkränzen – denn Blumen hatte zu dieser Zeit der rauhe Norden nicht – bedeckt. Auf einem weißen Band, das den obersten Kranz zusammenhielt, schimmerten die Buchstaben: A. H. – Eugen stand da wie ein Gerichteter und ein namenloser Schmerz wühlte in seiner Brust. »Die einzige reine, selbstlose, ideale Liebe, die mir im Leben begegnet ist, da ruht sie nun für ewig und ich bin gebunden an den glänzenden Egoismus, an den Freudentaumel der Genußsucht, an die Reize der Erscheinung, denen das Wesen nicht entspricht. O, Amalie, du bist gerächt,« so [142] rief es angstvoll aus seiner Brust; er sank auf die feuchte Erde und bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, während ein heißer Tränenstrom seinen Augen entquoll. Endlich erhob er sich und bemerkte jetzt erst, daß ein Mann unfern von ihm an einem Baumstamm lehnte und ihn beobachtete. Ein kurzer Blick ließ ihn Lenke erkennen, seinen Gegner für die Wahl und seinen Rivalen an diesem Grabe. Ohne ihm ein Zeichen des Erkennens zu geben, wandte er sich um und schritt wie ein Traumverlorener dem Ausgang zu. Noch einmal blickte er rückwärts und sah, daß jener Mann, vom Mondlicht hell beschienen, jetzt am Grabe kniete, die Hände gefaltet wie zum Gebet und aufwärts blickend in den milden Glanz, wie um die zu suchen, die, alles Leids enthoben, ihre Sternenbahn dahinzog.

»Er ist glücklich, er darf ohne Vorwürfe um sie weinen,« dachte Eugen und wankte nach Hause ohne Versöhnung im Herzen, mit sich selbst entzweit und doch ohne die Kraft, sein Leben edler zu gestalten.


Ein Jahr war kaum verflossen, da trug man auch Heinrich Holm hinaus zur ewigen Ruhe an der Seite der vielgeliebten Schwester. Einsam, in unsäglichen Schmerz versenkt, saß am Abend des Begräbnistages die so schwer geprüfte, alte Mutter mit der einzigen übrigen Tochter zusammen und weinte still für sich hin; denn nach diesem letzten Schlag vermochte auch Paulinens kräftige, klare Natur kein Wort des Trostes mehr zu finden. Da hörte man plötzlich die Haustür gehen und gleich darauf wurde leise an die Stubentür gepocht. Pauline nahm das Taschentuch von den nassen Augen und ging an die Tür. Draußen im dunkeln Gang stand ein Mann, den sie nicht sogleich erkannte. »Fräulein Holm,« sagte eine schüchterne Männerstimme, »wollen Sie einem Freund erlauben –«

»Herr Lenke,« versetzte Pauline, die ihn an der Stimme erkannt hatte, »treten Sie ein, wenn es Ihnen nicht zu traurig bei uns verwaisten Menschen ist.«

[143] »Ach, liebes Fräulein, deshalb komme ich ja gerade,« sagte Lenke mit bebender Stimme; »ich bin erst heute mittag von den Kammersitzungen in der Residenz zurückgekehrt, ich wußte nichts – nicht einmal, daß er so krank war –«

Die Stimme versagte ihm, er trat ins Zimmer, drückte stumm der alten Frau die Hand und setzte sich auf deren Wink zwischen Mutter und Tochter nieder. Es entstand eine lange Pause. Endlich holte Lenke tief Atem und sagte leise und befangen: »Es ist wohl nicht der rechte Augenblick – aber auch wieder – eine solche Stunde – schließt Menschen enger aneinander – – – verehrte Frau Holm – ich bitte Sie – lassen Sie mich – Ihren Sohn sein. Ihn kann ich nicht ersetzen, aber was ein redliches Herz vermag – –« Abermals hielt er inne, von Rührung übermannt. Frau Holm drückte ihm stumm die Hand und schluchzte.

»Ja – aber ganz Ihr Sohn,« hub Lenke wieder an, »Pauline – wenn Sie sich entschließen könnten – wenn Sie – meine Hand nicht ausschlagen – Sie wissen, was auch mein Herz verloren hat – wollen Sie mich trösten? Zusammen wollen wir das Andenken der Teuren, die wir verloren haben, feiern, indem wir ein nützliches Leben führen, in unserem kleinen Kreise so viel Gutes tun als irgendmöglich und der lieben Mutter hier den Lebensabend noch verschönern.«

Der schüchterne Mann, nachdem er sein Geständnis abgelegt hatte, war plötzlich ganz beredt geworden. Er hielt einen Augenblick inne, als aber Pauline und ihre Mutter, keines Wortes fähig, stumm blieben, fuhr er fort: »Vielleicht finden Sie die Stunde nicht passend für meine Bitte, vielleicht wollen und können Sie mir jetzt nicht antworten, Pauline; handeln Sie in voller Freiheit, aber lassen Sie mich hoffen, daß ich hier nie mehr ein Fremder sein werde. Wollen Sie mir das wenigstens versprechen?«

Er hielt Pauline die Hand hin. Sie erhob ihren Blick zu ihm und es schimmerte etwas wie ein fernes Leuchten aus ihren tränenerfüllten Augen. Dann legte sie ihre Hand fest und feierlich in die seine und sagte in tiefster Bewegung: »Sie [144] sind ein edler Mann, ich habe es immer gewußt und – ich habe Sie immer geliebt. Aber ich hielt Sie zu gut für mich und wollte Sie für – für meine Herzensschwester –« Die Stimme versagte ihr.

Lenke hielt ihre Hand fest und wandte sich zu der Mutter. »Segnen Sie diesen Bund, Mutter,« sagte er; »er ist eine stille Blume, die aus Gräbern aufblüht; aber für die rechten Menschen ist der Tod nur eine Mahnung, desto eifriger fortzuwirken, solange es Tag ist. Und wenn den schönen Seelen unserer Geschiedenen die hohe Sehnsucht unerfüllt blieb, so will ich mit Hilfe Ihrer trefflichen Tochter mein bescheidenes Teil beitragen, daß es wenigstens im Kleinen besser werde auf Erden.« –

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meysenbug, Malwida Freiin von. Erzählungen. Unerfüllt. Unerfüllt. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3763-9