Malwida von Meysenbug
Zu spät

[194] »Alles, was den Geist befreit,

ohne ihm die Herrschaft über sich

selbst zu geben, ist verderblich.«

Goethe.


»Soll ich nicht mir dir gehen?« fragte der junge Sergei seinen ältern Bruder Iwan, der sich zum Ausgehen rüstete, »ich möchte lieber mit dir auf die Brühlsche Terrasse und den schönen Abend im Freien verbringen, als mit den langweiligen D.... s bei Mama im Salon sitzen.«

»Nein, Sergei, ich habe eine Besorgung zu machen und – ich – ich werde gar nicht auf die Brühlsche Terrasse gehen,« erwiderte Iwan sichtlich verlegen; »du kannst Mama sagen, wenn ich nicht zum Tee nach Hause komme, ich würde wohl im Theater sein.«

»Willst du Mama nicht Adieu sagen, es ist niemand bei ihr als die Professorin P... ?«

»Uh! dann gewiß nicht, adieu, Sergei,« rief Iwan und eilte, als ob er jeder fernern Erklärung entgehen wolle, zur Tür hinaus und die Treppe hinab.

»Hm! das geht nicht mit rechten Dingen zu!« sagte der sechzehnjährige Sergei zu sich selbst, indem er an das Fenster trat und dem auf der Straße dahineilenden Bruder nachsah. »Iwan, Iwan, zum erstenmal in deinem Leben fängst du an, mir Dinge zu verheimlichen – es war offenbar eine Lüge, als er sagte, er ginge nicht auf die Brühlsche Terrasse, denn er wurde ganz verlegen und stockte – ich habe es doch gesehen, daß ihm Ludmilla Petrowna gestern abend etwas zuflüsterte, wovon ich nur noch verstand, ›um sechs Uhr präzis‹, – ah, Herr Bruder, Sie wollen Geheimnisse haben vor mir, Ihrem andern Ich, Ihrem Faktotum, Ihrem liebsten Freund? – Donnerwetter!« – und der junge Mensch stampfte mit dem Fuß auf den Boden – »bin ich etwa ein Wiegenkind, das noch nicht wissen darf, wenn sich die Leutchen ineinander verlieben? Habe ich nicht schon meinen kleinen Roman mit Tatiana daheim in Moskau gehabt? Oder bin ich ein altes [194] Weib, das alles gleich klatschen muß, und würd' ich dein Geheimnis nicht bewahren, selbst vor Mama, wenn du es verlangtest, mein Iwan? Ah, Monsieur mon frère, Strafe muß sein! Wir begeben uns sogleich auf die Brühlsche Terrasse und rekognoszieren, und entdecken wir, daß unsere Vermutungen richtig sind – so dekretieren wir eine der Untat angemessene Strafe.«

So, halb im Unmut über des Bruders Heimlichtuerei, halb im stolzen Gefühl, einem Geheimnis auf der Spur zu sein, dessen Mitwissenschaft ihm unendlich wichtig dünken würde, ging Sergei, um seiner Mutter zu sagen, daß sein Bruder ausgegangen sei und daß auch er noch einen Spaziergang machen wolle.

Auf der Brühlschen Terrasse angelangt, schweiften seine Augen in allen Richtungen umher. Die Uhr hatte sechs geschlagen und wenn seine Vermutungen richtig waren, mußte es sich gleich zeigen. Er hatte auch noch nicht lange gespäht, als er von ferne eine Dame kommen sah, in der er sogleich die Vermutete erkannte. Sie schien auch ihn gesehen zu haben und ihn vermeiden zu wollen, denn sie lenkte in einen andern Weg ein und verschwand ihm aus dem Gesicht. »Hm! sehr bedenklich,« dachte Sergei und setzte sich, so versteckt wie möglich, in einem Restaurant nieder, wo er sich eine Tasse Kaffee geben ließ und sich anscheinend in eine Zeitung vertiefte. Einige Minuten darauf sah er seinen Bruder eilig herankommen und an einem Baum in seiner Nähe haltmachen, an dem Komödienzettel angeschlagen waren, die Iwan mit großem Eifer zu lesen begann. Er hatte Muße gehabt, die Personen auswendig zu lernen, als die Dame, die wahrscheinlich einen Umweg gemacht hatte, um Sergei Zeit zu geben, fortzugehen, sich nahte und Iwan begrüßte. Beide wollten miteinander weitergehen, da fielen ihre Blicke auf Sergei, der, als ob er soeben mit seinen Gedanken aus den großen Wirrsalen der europäischen Politik auftauche und zur Alltagswelt zurückkehre, seine Augen zerstreut von der Zeitung erhob und denen seines Bruders begegnete.

[195] »Ah, Sergei, du bist hier?« sagte Iwan verlegen, als dieser sich erhob, um Ludmilla Petrowna zu begrüßen.

»Ich glaubte, Sie vorhin von weitem zu sehen?« fragte Ludmilla, indem sie einen prüfenden Blick auf Sergei richtete.

»So?« erwiderte er gleichgültig, »ich kam noch ein wenig heraus, den schönen Abend zu genießen, ehe ich mich zum Tee zu Haus einsperren muß.«

»Ja, du mußt aber doch nach Hause gehen, damit Mama nicht allein ist mit den D ..s; ich begleite Ludmilla Petrowna eben ein wenig.« Bei diesen Worten eilte Iwan ein paar Schritte voraus, um dem Bruder anzudeuten, daß er seine Begleitung nicht wünsche. Ludmilla Petrowna blieb einen Augenblick zurück, reichte Sergei die Hand und sagte mit dem freundlichsten Lächeln und einem zärtlichen Blick aus ihren schwarzen Augen: »Adieu, Sergei, ich komme wohl noch heute abend!« Dann folgte sie Iwan und beide schlugen einen Weg ein, der sie Sergeis Blicken entzog.

»Die Gardinenpredigt bekommst du,« dachte Sergei, indem er Iwan nachsah; dann schlenderte er gemächlich nach Haus, mit der Neugier eines Knaben die Vorübergehenden musternd und die Wolken der unerläßlichen Zigarre, mit der Miene eines Menschen, der eine wichtige Tat tut, in die Höhe sendend.

Ehe wir ihn nach Hause begleiten, ist es vielleicht besser, den Leser mit einigen Worten in die Antezedenzien dieser seiner neuen Bekannten einzuweihen. Es wird bald geschehen sein, denn das Interessanteste am Menschen ist uns doch immer seine Gegenwart und da wir in ihr das Resultat der Vergangenheit besitzen, so kümmert uns nur in seltenen, ganz besonders intimen oder außerordentlichen Fällen jene lange Kette von Ursachen und Folgen, deren letzte Spitze eben das ist, was wir vor Augen haben. Die Brüder Iwan und Sergei waren junge Russen von guter Familie, die nach des Vaters frühem Tode von ihrer Mutter, Frau v. Sch..., mit der aufopferndsten Liebe erzogen, jetzt mit dieser Mutter, die sie nie verließ, ins Ausland gekommen waren, um ihre Studien [196] zu vollenden und sich für ein tätiges Leben vorzubereiten. In Dresden, wo sie sich aufhielten, trafen sie mit Landsleuten zusammen, einem Herrn v. D... mit seiner Frau, die ihnen eine junge Russin vorstellten, deren Namen sie schon oft gehört hatten, da sie anfing, durch ihre musikalischen Kompositionen Aufsehen zu erregen. Ludmilla Petrowna war verheiratet, aber ihr Mann war in Rußland zurückgeblieben; man sagte, es sei keine glückliche Ehe. Sie hatte ein kleines Mädchen, ihr einziges Kind, bei sich, ein blasses, trauriges, unentwickeltes Wesen, das die meiste Zeit einer Bonne überlassen blieb, da Ludmillas Zeit ihren Studien gehörte, durch die sie ihrem Kind zu leben schaffen müsse, weil sie kein Vermögen habe, wie sie sagte. Ludmilla war keine Schönheit, aber sie hatte prächtige schwarze Haare, lebhafte, ausdrucksvolle Augen, einen Mund, der, wenn er lächelte, zwei Reihen der schönsten weißen Zähne zeigte, eine hohe, üppige Gestalt und sehr schöne Hände und Füße.

Als Sergei in den Salon seiner Mutter zurückkehrte, fand er dort bereits die D...s und einige andere Bekannte, teils Russen, teils Dresdener, die bei ihnen aus- und eingingen. Das Gespräch drehte sich um Ludmilla.

»Sie ist ein außerordentliches Wesen,« sagte Frau v. D..., die, reich, kinderlos und sehr gutmütig, die Passion hatte, andere zu protegieren. »Sie ist ja nicht mehr ganz jung, dreißig Jahre, aber ein völliges Kind im Gemüt, ganz unerfahren; ich muß alles für sie tun, ihr alles einkaufen, sie anziehen, sie ginge sonst wer weiß wie herum, denn sie hat keine Spur von Eitelkeit, ein gänzliches Naturkind; aber welch ein tiefer Geist! welch eine reiche Natur, die sich selbst noch nicht kennt! Meine Teure,« fuhr sie, zu Frau v. Sch... gewendet, fort, »das ist eine Aufgabe für Sie, dies herrliche Geschöpf ganz herauszubilden, sie ihren eigenen Reichtum verstehen zu lehren, ihr die Zauberformel zu zeigen, das ›Sesam, Sesam, tu dich auf‹, mit der sie all die Schätze aus den Goldminen ihres Innern ans Tageslicht bringen wird.«

»Ja,« erwiderte Frau v. Sch..., eine ältere Frau, deren [197] Gesicht Geist, aber noch mehr Herzensgüte erkennen ließ, »ich bin auch ganz erstaunt über diese Erscheinung; von ihrem seltenen Talent hatte ich schon genug in Rußland gehört, aber man hatte mich vor ihr gewarnt als einer Frau, deren Charakter nicht untadelhaft sei; es scheint mir dies aber ein Irrtum.«

»Verleumdung, nichts als Verleumdung, meine Beste,« fiel Frau v. D... hitzig ein, »sie ist ein engelhaftes Geschöpf, aber Sie wissen, an das Außerordentliche heftet sich der Neid und bei den Hochbegabten muß man den Charakter angreifen, um sie auf das Niveau der gewöhnlichen Menschheit herabzuziehen. Ihnen, liebe Christiane Alexandrowna, aber muß es vor allem erfreulich sein, einer so seltenen Frau zu begegnen, da Sie so sehr für die höhere Bildung und ideale Entwicklung der Frauen schwärmen.«

»In der Tat,« erwiderte Frau v. Sch..., »es ist mein Lieblingsgedanke, den Frauen eine ebenso gründliche Bildung zu geben wie den Männern. Sie wissen, daß ich weit entfernt bin, die Übertreibungen zu billigen, zu denen sich einige der sogenannten emanzipierten Frauen haben hinreißen lassen; daß ich die ›Mannweiber‹ hasse und kaum dem Genie einer George Sand vergebe, daß sie hors de ligne gewesen ist, d.h. daß sie die Linie überschritten hat, die ein angeborenes Gefühl dem Weibe ewig als ihres Benehmens Grenze zeigt; ja, daß sie seit dem Roman, der ihr Verhältnis zu Alfred de Musset beschreibt, sehr tief in meiner Meinung gesunken ist – aber ich glaube auch gerade, daß diese Abnormitäten nur Folgen der engen Schranken waren, in denen man die Frauen im allgemeinen hielt. Ein starker Geist, ein zu gewaltiger Drang zum Leben rissen sich dann los und schossen über das Ziel hinaus in falscher Richtung. Eine vollständige, reiche Entwicklung aller Fähigkeiten wird dagegen erst recht zeigen, was das Weib sein kann, nicht länger eine Kokette, eine Intrigantin, eine Haushälterin oder eine Betschwester, sondern eine weise, ordnende und verwaltende Vorsteherin des häuslichen Kreises; nicht nur die leibliche, sondern auch die geistige [198] Mutter ihrer Kinder, die diese zuerst das wahre Wesen der Welt und ihre Pflichten in derselben kennen lehrt; die Bürgerin endlich, die weiß, was sie dem Gemeinwohl schuldig ist und keinen Augenblick zögert, ihm Opfer zu bringen so gut wie der Mann.«

»Erlauben Sie, gnädige Frau,« versetzte ein junger Mann, ein Schriftsteller, dessen Sachen viel Aufsehen machten, »mir scheint es, daß der Wirkungskreis des Weibes so genau und zugleich so herrlich von der Natur gezeichnet ist, daß sie nur diesen auszufüllen braucht, um vollkommen zu sein. Der Frauen Wesen ist die Liebe. Verstehen Sie mich recht, die Liebe im weitesten, im christlichen Sinn: die Charitas. Ich habe daheim auf meinem Landgut eine alte Tante bei mir leben, sie kann weder lesen noch schreiben, aber, glauben Sie mir, sie ist das höchste Ideal eines Weibes; ihr Herz ist ein unerschöpflicher Liebesquell und die unzähligen Tränen, die sie getrocknet hat, werden einst im Paradiese eine Krone leuchtender Perlen auf ihrem Haupte bilden.«

Niemand wunderte sich über dies letzte Bild, denn es war bekannt, daß der junge Autor zum Mystizismus neige. Frau v. Sch... aber rief: »Sie haben recht, lieber Graf, die Liebe ist das wahre Wesen der Frau; jedes Frauenherz sollte ein Mutterherz sein, ewig bereit, sich zu erbarmen über die Hilflosen, die Unmündigen, die Leidenden, die Gefallenen; ewig bereit, sich aufzuopfern für das Wohl der andern und sich zum Schutzengel ihres Glückes zu machen. Aber bedenken Sie nur eines, Graf: Liebe und Erkenntnis widersprechen sich nicht; im Gegenteil, die erweiterte Erkenntnis macht auch das Herz weiter und tötet den Egoismus.«

»Sie wenigstens sind ein Beispiel davon, daß Liebe und Erkenntnis sich nicht ausschließen,« bemerkte Herr v. D... »Sie haben ja wirklich die für Frauen ungewöhnlichsten philosophischen Studien gemacht, und eine bessere Mutter als Sie gibt es gewiß nicht; nicht wahr, Sergei,« setzte er hinzu, indem er dem jungen Mann auf die Schulter klopfte.

»Ich glaube nur eine zu gute,« sagte ein anderer Herr, indem [199] er Sergei zulächelte, »die jungen Herren haben zuviel Freiheit.«

»Ich habe von jeher nichts anderes sein wollen,« versetzte Frau v. Sch..., »als die beste Freundin meiner Kinder; mein Grundsatz in der Erziehung ist, daß kein Schatten das Glück der Kindheit stören, daß die Mutter womöglich jede Träne von der Geliebten Augen fernhalten soll, damit sie einst wie in ein Paradies in die Tage der Kindheit zurücksehen und ihnen das Bild der Mutter dort wie das eines glückspendenden Schutzengels begegne.«

»Nun, das sind Sie ihnen im vollsten Maße gewesen,« bemerkte Frau v. D..., »auch lieben Ihre Söhne Sie dafür in der schönsten Weise; ich habe nie ein schöneres Verhältnis gesehen.«

»Ich glaube, daß ich das unbedingte Vertrauen meiner Kinder besitze und das ist alles, was ich zum Lohn verlange,« erwiderte Frau v. Sch...; »doch,« setzte sie lächelnd hinzu, »wir sind ganz von unserm ersten Thema abgekommen und zur Strafe dafür kommt Ludmilla Petrowna heute abend nicht, wie es scheint. Das wollte ich noch sagen, was mir an ihr so sehr gefällt, ist das durchaus Weibliche, gar nicht Emanzipierte, bei so großem Talent.«

Es war, als ob diese freundlichen Worte sie herbeigerufen hätten; die Tür öffnete sich und Ludmilla trat herein, hinter ihr Iwan. Ein freudiges »Ah!« erscholl durch den ganzen Kreis; es war, als bemerke man nun erst, welch lieblicher Sommerabend durch die geöffneten Balkontüren hereinduftete. Ein jeder drängte sich, Ludmilla zu begrüßen, die, im einfachen weißen Kleide, ohne allen Schmuck, mit heiterem Lächeln und der Einfachheit eines Kindes das alles hinnahm. Sie küßte Frau v. Sch... voll Zärtlichkeit und setzte sich zwischen diese und Frau v. D..., scheinbar gänzlich gleichgültig gegen die erwartungsvollen Blicke der Männer, die alle auf einen Gruß von ihr zu hoffen schienen.

»Und wo war mein Kind so lange?« sagte Frau v. D...., als Ludmilla den Kopf auf ihre Schulter legte. »Wissen Sie, [200] Liebste,« fuhr sie zu Frau v. Sch... gewendet fort, »dies ist mein Kind, mein Töchterchen; ich muß sie immer schelten über ihre Unbesonnenheiten. Und wie sie sich nun wieder einfach angezogen hat! Nicht mal eine bunte Schleife um den Hals!«

»Das hab ich Ihrem Sohn zu Gefallen getan, liebste Frau v. Sch...; Iwan Paulowitsch sagt, er liebe nur die höchste Einfachheit, ein weißes Kleid, wie das einer Vestalin,« versetzte Ludmilla lächelnd; »ach, welch herrliche Menschen sind Ihre Söhne! Mir geht das Herz auf, wenn ich solche junge Leute sehe; ich liebe sie wie zwei jüngere Brüder.«

»Und welch schönen Einfluß können Sie auf sie haben, teure Ludmilla,« sagte Frau v. Sch..., »ich freue mich über nichts mehr für meine Söhne als über den Umgang mit edlen gebildeten Frauen.«

Allgemein richtete man jetzt an Ludmilla die Bitte, etwas Musik zu machen.

»Es ist eigentlich grausam von Ihnen,« sagte Ludmilla, »denn ich bin so müde.«

»Nein, dann sollen Sie es nicht,« rief Iwan lebhaft, »lieber wollen wir uns der Freude berauben, als Sie quälen.«

»Ach, das tut nichts; wenn's jemand Freude macht, so kann ich schon meine Müdigkeit überwinden,« versetzte Ludmilla, indem sie einen Blick auf Iwan warf, der ihm für seine zarte Sorge zu danken schien.

»Himmlisches Herz,« bemerkte Frau v. D..., indem sie Ludmillens Hand drückte.

Iwan und Sergei stürzten zum Klavier, öffneten es und schoben den Stuhl zurecht. Dann holte Iwan ein samtnes Kissen vom Sofa herbei und legte es vor den Stuhl, um die Füße darauf zu setzen.

»Unsinn,« sagte lächelnd Ludmilla, »Iwan Paulowitsch, mein Fuß ist gewöhnt, über Steppen zu wandern, nicht auf orientalischen Kissen zu ruhen. Wie soll ich denn mein Pedal regieren?«

»Glücklich das Pedal, das solch ein Fuß regiert,« flüsterte Iwan.

[201] »Das Kind will schon Komplimente machen!« versetzte Ludmilla laut in scherzendem Ton.

Iwans Stirn umdüsterte sich, das Wort Kind verletzte ihn schwer. Aber Ludmilla, die sich inzwischen gesetzt hatte und nun, der übrigen Gesellschaft den Rücken kehrend, ihr Gesicht nur ihm, der neben dem Piano ihr gegenüberstand, zuwendete, hob den Blick zu ihm auf und aus diesen dunklen Augensternen blitzte ein so holdes Geheimnis, so schien es wenigstens dem entzückten Iwan, daß er sich wie berauscht zurücklehnte an die Wand, während seine Blicke an ihr hingen und auf den ersten Ton warteten. Ludmilla beugte das Haupt und schien einige Augenblicke in tiefes Nachsinnen verloren; ihre schönen Hände hingen nachlässig an den Seiten herunter. Sie war plötzlich in sich versunken, der Welt um sie her entrückt.

»Jetzt schafft ihr Genius in ihr,« flüsterte Frau v. D...; »stören wir sie nicht.«

Plötzlich fuhr Ludmilla auf und ihre Hände berührten die Tasten; sie spielte eines der wehmutvollen kleinrussischen Volkslieder, in denen sich das ganze Dasein eines Volkes widerspiegelt, jene melancholische Poesie der Steppen und eines noch nicht zur Tat gelangten Lebens, wie sie auch in den Gedichten Kolzows, des Herdentreiber-Poeten, und in vielen der russischen Novellen atmet. Sie sang dazu mit einer Stimme, die wie von einem leichten Nebel verschleiert, aber außerordentlich wohltönend und sanft war und den melancholischen Reiz der Lieder erhöhte. Dann verstummte ihr Gesang und sie ging von dem Lied zu einem bewegteren Tempo über, das zuletzt in ein gewaltig brausendes Allegro hinauslief, das einem sturmbewegten Meere gleich, auf- und abwogte, bis es plötzlich mit einem herben, unversöhnten Schluß abriß. Ludmilla hatte, wie es schien, während des Spieles alles um sich her vergessen; von tiefer Wehmut war der Ausdruck ihres Gesichts übergegangen zu leidenschaftlicher Spannung, zu heftigem Schmerz, zu wilder Erregung, so daß zuletzt ihre Augen Blitze schossen, als wenn sie in Gedanken vor einem tödlich gehaßten Feind stünde und von ihrem Bogen [202] Pfeile sendete, um ihn ins innerste Herz zu treffen. Als sie geendet hatte, sprang sie vom Stuhl auf und ohne auf den Beifallssturm zu achten, der im Zimmer ausbrach, stürzte sie hinaus auf den Balkon.

Iwan, der jeder Veränderung ihres Ausdrucks mit der Spannung gefolgt war, die sein Gesicht beinahe zum Spiegel des ihrigen machte, sah ihr besorgt nach. Sie war heiß geworden vom Spiel, draußen war es kühl und sie hatte nur ein dünnes weißes Kleid an; sie litt: aus ihrem Spiel sprach ein gewaltiger Schmerz, der in seiner Seele nachzitterte, – er mußte ihr nach. Er ergriff ihren Schal und eilte hinaus. Alles das war das Werk eines Augenblicks und geschehen, noch ehe die übrigen sich von dem Eindrucke des Spiels, von der darüber entstandenen Diskussion und dem Verschwinden der Spielerin erholt hatten. Ludmilla stand draußen und drückte eine Rose, die an einem Rosenstrauch auf dem Balkon blühte, an ihre heiße Stirn, während ihre eine Hand das Geländer des Balkons hielt. Iwan schlug ihr schweigend den Schal um die Schultern, durch deren leichte Musselinbedeckung er das heiße, pulsierende Leben fühlte; dann beugte er sich schnell auf die Hand, die auf dem Geländer ruhte, und drückte einen Kuß darauf. In dem Augenblick aber drängten auch schon die andern hinzu, man holte Ludmilla in den Saal zurück, versichernd, daß sie sich erkälte und sie ging nun von der anscheinend so gewaltigen Erregung plötzlich zur ausgelassensten Lustigkeit über, schlug ein Kartenspiel vor und hatte bald alle anwesenden Männer um sich versammelt. Sergei hatte sich neben sie gedrängt; sie war allerliebst mit ihm, neckte ihn, hielt ihm die Hände fest, gab ihm guten Rat, kurz, schien ganz für ihn zu leben. Iwan saß am anderen Ende des Tisches und sah unruhig und zerstreut aus. Es ging lebhaft zu, man lachte und neckte sich, zuletzt wurde Punsch gemacht, und unter Scherz, Witz und Lachen trennte sich die Gesellschaft endlich.

»Welch ein Geschöpf! Im Ernst wie im Scherz gleich bezaubernd, die Seele eines ganzen Kreises und das Entzücken [203] eines tête-à-tête!« flüsterte Frau v. D.... Iwan zu, als sie ging.

»Ja, sie ist eine Göttin,« versetzte er feurig und sagte dann zu seiner Mutter: »Mama, was meinst du, wenn ich die Herrschaften nach Hause begleite?«

»O, lieber Iwan, es ist schon sehr spät und du siehst angegriffen aus; bleib lieber zu Haus,« erwiderte die Mutter freundlich und wandte sich grüßend zu den andern Gästen.

»Armer Iwan, noch am Gängelbande,« sagte Ludmilla leise, spöttisch lächelnd. Iwan wollte ihr nachstürzen und dem Rate der Mutter trotzen, aber schon hatte sie den Arm des jungen mystischen Autors angenommen und eilte mit ihm die Treppe hinunter.

Zerstreut und einsilbig hörte Iwan noch eine Weile den Worten seiner Mutter zu, dann suchte er sein Schlafgemach auf. Sergei schlief in demselben Zimmer und war bereits im Bett, aber als Iwan hereintrat, richtete er sich auf und sagte:

»Iwan!«

»Was willst du, Sergei? Ich dachte, du schliefst schon!«

»Iwan, sagt dir dein Gewissen nichts?«

»Mein Gewissen? Weshalb denn? Ich wüßte nicht.«

»Hast du mich nicht getäuscht?«

»Was meinst du, Sergei? Ich kann das dumme Zeug nicht leiden; sprich klar oder laß mich zufrieden,« versetzte Iwan ärgerlich.

»Du wolltest heute doch auf die Brühlsche Terrasse gehen und du hattest mit Ludmilla verabredet, euch dort zu treffen?«

Iwan stand einen Augenblick unschlüssig; der Unwille kochte in ihm, so den zarten Schleier von dem Geheimnis gezogen zu sehen, das man sich noch selbst kaum gesteht; dann befiel ihn die Scham, von dem jüngern Bruder auf einer Falschheit ertappt zu sein, endlich fühlte er das Verlangen, sich dem lieben Jugendgefährten um den Hals zu werfen und zu weinen, Tränen der ersten aufkeimenden Leidenschaft, die ebenso selig als schmerzlich sind.

[204] »Iwan,« fuhr Sergei, mit sanftem Vorwurf in der noch kindlichen Stimme, fort, »es war doch nicht schön von dir; glaubst du, ich verständ's nicht, daß dir Ludmilla gefällt? Ich selbst bete sie an; ich hätte es auch der Mama nicht gesagt, wenn du es nicht wolltest. Bin ich nicht mehr dein bester Freund?«

Dieser Ton traf Iwans Herz; er eilte auf den Bruder zu, umschlang ihn leidenschaftlich und sank neben ihm auf das Bett. »O Sergei,« rief er, »ich weiß es selbst nicht, was in mir vorgeht; du bist noch so jung – aber du bist doch der einzige, dem ich es sagen kann: du weißt, wie oft ich schon daheim äußerte, ich begriffe nicht, wie man mehrmals lieben könne; ich sei sicher: wenn mein Herz sich einmal für eine Frau erschlösse, so würde es für ewig sein. Eine einzige, heiße, alles verzehrende Liebe, das ist das einzige, was ich begreife. Ob, was ich für Ludmilla fühle, diese Liebe ist, weiß ich noch nicht; aber ich weiß, daß ich nie ein herrlicheres, entzückenderes Weib gesehen habe, daß bei Tag und Nacht ihr Bild vor meiner Seele schwebt, daß ich unruhig bin, wenn sie nicht da ist, zittre, wenn sie kommt, selig bin in ihrer Nähe und daß ich die ganze Welt vergessen könnte, wenn sie mir bliebe.«

»Nun, das scheint mir doch so was wie Liebe zu sein, soweit ich sie aus meinem eigenen Roman mit Tatiana und aus Büchern kenne,« versetzte Sergei mit der überlegenen Miene eines kleinen Philosophen, »aber nur zu ernst mußt du es nicht nehmen! Ludmilla ist ja verheiratet und sieben Jahre älter als du.«

»O, schweig vom Alter, sie ist ewig jung, und was ist die unreife Blüte eines jungen Mädchens gegen den Geist und die alles fesselnde Macht ihrer Anmut? Wenn ich aber an ihren Mann denke, möcht ich rasend werden.«

»Still, still, Iwan, nicht so heftig; auch möchte die Mama uns hören und sich beunruhigen. Warum sagtest du es aber nicht, daß ihr auf die Brühlsche Terrasse wolltet?«

»Ludmilla sagte, sie habe manchmal so das Bedürfnis, mit mir allein zu reden, weil ich der einzige im ganzen Kreise sei, [205] der sie völlig verstehe und das Geschwätz der übrigen sie oft sehr drücke,« erwiderte Iwan etwas verlegen.

»Danke! Also ich verstehe sie nicht?« versetzte Sergei mit kindisch trotziger Miene.

»Du bist noch so jung,« erwiderte Iwan begütigend, »und dann hat sie so tiefen Kummer, die Aermste, den sie nicht jedem sagen kann. Sie behandelt mich wie einen Bruder, dem sie alles vertrauen darf; und – das ist wahr,« fuhr Iwan fort, »da fühl' ich wirklich den Unterschied mit Mama; so unendlich gut sie ist, so viel Freiheit sie uns gibt, dennoch übt sie, ihr selbst unbewußt, eine Kontrolle, gerade als ob ich noch ein Kind wäre. Ludmilla nennt es mit dem richtigen Ausdruck: es ist die Tyrannei der Liebe; aber deren Fesseln sind schwerer als alle andern, weil man sie nicht leicht zerreißen kann.«

Sergei bestrebte sich, des Bruders Aufregung mit Liebkosungen zu beruhigen. Ihn interessierte das Mitgeteilte außerordentlich; er schwor blind auf alles, was sein Bruder sagte, und ihm war es plötzlich auch, als hielte die Mutter sie doch zu sehr wie Kinder. Aber er war weit entfernt, die Sache sehr ernst zu nehmen; seine Natur war eine viel leichtere, sorglosere als die Iwans und er fand es natürlich, daß Ludmilla seinem Bruder und daß dieser, den er für ein Ideal hielt, Ludmillen gefiele. Daß die Sache geheim bleiben müsse und nur er der einzige Vertraute sei, er schien ihm ebenfalls ganz natürlich und interessierte ihn nur noch mehr; daß sie weitere Folgen haben könnte, fiel ihm nicht ein. Ludmilla war ja verheiratet und trennte sich bald von ihnen, denn sie wollten Dresden in 14 Tagen verlassen, um nach Heidelberg zu gehen, wo er und Iwan studieren sollten.

»Dann hört's ja von selbst auf,« dachte er schon halb im Einschlafen, als sie sich endlich zur Ruhe begeben hatten. »Wie sollte es anders sein, als daß zwei solche Sterne sich gegenseitig anziehen?«

Die Abreise der Sch...schen Familie kam heran. Zu gleicher Zeit verließen auch die D...s Dresden, um nach [206] Rußland zurückzukehren. Einige Tage vor dem zur Abreise bestimmten Tag kam Frau v. D... zu Frau v. Sch... und sagte, sie habe mit ihr zu reden, Ludmillas Schicksal liege ihr so am Herzen; diese wolle längere Zeit im Ausland zubringen, um zu sehen, zu lernen, ihr seltenes Talent zur Reife zu bringen und mit großen Künstlern in Verbindung zu kommen. »Aber sie ist ein Kind im praktischen Leben, in der Gesellschaft,« fuhr Frau v. D.... fort; »liebste Christiane Alexandrowna, erlauben Sie ihr, sich Ihnen anzuschließen. Sie wünscht es so sehr, ist aber zu schüchtern, es zu sagen. Sie liebt Sie wie eine Mutter, Ihre Söhne wie Brüder. Sie sagen selbst, ihr Umgang könne veredelnd auf die jungen Männer wirken und die werden für Ludmilla ein Segen sein. Geführt von Ihnen, kann sie nicht anders als den rechten Weg finden, den ihr herrliches Wesen gehen muß, um zur vollen Entfaltung zu gelangen.«

»Aber ist Heidelberg der rechte Ort für sie?« sagte Frau v. Sch... nachdenklich und zögernd. »Wäre ein größerer Ort, Paris zum Beispiel, nicht besser?«

»Vorerst nicht, sie muß sich erst erholen; sie hat viel gelitten, die Arme. Liebe und die herrliche Umgebung Heidelbergs werden ihr gut tun. Mir wäre es eine himmlische Beruhigung, sie unter Ihrem Schutz zu wissen, denn ich adoriere sie; sie ist ein geniales Wesen.«

Frau v. Sch... schwieg.

»Was ist Ihnen, liebe Christiane Alexandrowna? Sie sind so bedenklich, das ist sonst gar nicht Ihre Art, Sie, die Sie immer vertrauensvoll bereit sind, dem Schönen und Guten Tür und Herz zu öffnen. Sie fürchten doch nicht etwa für Ihren Sohn?«

»Gerade nicht fürchten,« erwiderte Frau v. Sch..., »aber – in der Tat, Iwan ist eine konzentrierte, leidenschaftliche Natur, er muß noch seinen Studien obliegen; Ludmilla ist so reizend – ich möchte ihn vor Schmerz bewahren.«

»O Liebste, da seien Sie ruhig. Ludmilla wird die erste sein, die ihn zum Studium antreibt und die jede Möglichkeit [207] einer andern als brüderlichen Liebe für vollkommen undenkbar ansieht. Ihr Herz ist nur allzu erstorben; ich glaube nicht, daß es je wieder aufblühen kann und dann ist sie ja auch gebunden, wie traurig das Band auch sein mag.«

Frau v. D... brauchte nicht lange mehr zuzureden, die gutmütige Frau v. Sch... war bald überzeugt und wurde es vollends, als Ludmilla selbst kam und sie in der liebenswürdigsten Weise um ihren Schutz bat.

»Ich bin wirklich wie ein Kind,« sagte sie, »ich weiß mir noch in nichts zu helfen. Die Verhältnisse bei uns in der Provinz sind so verschieden. Ich bin erst seit so kurzer Zeit bekannt geworden durch meine Kompositionen und damit herausgerissen aus meinem Traumleben, daß ich mich noch scheue vor dem lauten Gewühl der Welt und mich oft schmerzlich in meine Steppenheimat zurücksehne, wo man unbemerkt blüht und verwelkt wie eine Waldblume, dafür aber auch nicht von groben Füßen zertreten und zerknickt wird. Wirklich, wenn Sie sich meiner nicht annehmen, teure Christiane Alexandrowna, dann bin ich verloren. Ich werde nie den Mut haben, mich den berühmten Meistern zu nahen, mit denen ich doch in Berührung kommen muß, wenn mein Talent wachsen soll, und Geschäfte kann ich gar nicht besorgen, dabei weiß ich mich durchaus nicht zu benehmen.«

»Hören Sie, liebste Ludmilla,« erwiderte Frau v. Sch..., »einer unserer größten Musikalienhändler aus Petersburg ist seit gestern hier, ich kenne ihn sehr gut. Wollen Sie, daß ich mit Ihnen hingehe und Ihnen helfe, damit Sie mit ihm in Verbindung treten können?«

Ludmilla war hocherfreut über das Anerbieten und konnte nicht Worte finden für ihre Dankbarkeit. Ebenso waren die Brüder entzückt, als sie hörten, daß auch Ludmilla nach Heidelberg kommen werde. Beide versicherten, sie würden noch einmal so gut studieren, wenn diese Muse ihnen nahe sei, um sie zu begeistern. Zur bestimmten Stunde begaben sich Frau v. Sch... und Ludmilla zu dem Verleger. Frau v. Sch... hatte sich schon die Rede ausgedacht, mit der sie ihre Schutzbefohlene [208] vorstellen und ihr aus der Verlegenheit helfen wollte. Wie erstaunte sie aber, als Ludmilla dem Verleger plötzlich mit größter Sicherheit entgegenging, mit dem vollen Bewußtsein einer Frau, die ihre Leistungen sehr wohl zu schätzen weiß, über diese sprach und ein so trockenes, klares Verständnis der Geschäfte zeigte, daß nach einiger Zeit der Verleger ganz eingeschüchtert wurde und sich ihren Bedingungen demütig unterwarf. Zu Hause angelangt, konnte Frau v. Sch... kaum Worte finden für ihr Erstaunen. Ihre beiden Söhne fanden, was sie erzählte, himmlisch und meinten, das vollende noch das Bild dieser wunderbaren Frau.

Die Abreise von Dresden fand statt. Die Reise war überaus fröhlich. Frau v. Sch... bereute es nicht, Ludmilla mitgenommen zu haben, denn diese hatte für sie die Zärtlichkeit und Aufmerksamkeit einer liebenden Tochter. Dafür nahm Frau v. Sch... sich mütterlich der kleinen, bleichen Wanda an und pflegte und unterhielt sie, wenn die drei jungen Leute umherstreiften, um alles Merkwürdige zu sehen. Das Band zwischen Ludmilla und den beiden Brüdern wurde immer fester, besonders von seiten der jungen Männer, allein Frau v. Sch...s Gemüt war völlig beruhigt, da die Brüder immer zusammen waren und Ludmilla sich fast mehr mit Sergei, den sie wie ein Kind behandelte, abgab, als mit Iwan. Die strahlenden Gesichter ihrer Lieblinge machten sie so glücklich, daß sie es Ludmillen im Herzen Dank wußte, ihren Kindern so viel zu sein und daß sie ihre Zärtlichkeit gegen sie verdoppelte.

In Heidelberg angelangt, nahm Frau v. Sch... ein Logis für längere Zeit, da ihre Söhne hier studieren wollten. Ludmilla mietete sich mit ihrem Kind in der Nähe ein.

»Sie erlauben wohl, teure Christiane Alexandrowna, daß ich Wanda öfters am Morgen herüberschicke? Bei Ihnen ist sie so gut aufgehoben wie nirgends in der Welt und ich kann dann ungestört arbeiten, was ich wirklich jetzt wieder fleißig tun muß,« hatte Ludmille gesagt und Frau v. Sch.... hatte es mit Freuden erlaubt, da sie es schön und natürlich fand, daß Ludmille ihrem Talente leben und es ernst ausbilden [209] wollte. Sie hoffte auch, ihre Söhne würden nun mit Eifer ihre Studien beginnen. Sie machte Besuche bei den Professoren und wollte ihnen alles einrichten; aber da fand es sich, daß die jungen Leute doch erst noch etwas freie Zeit haben müßten, um die Umgebung Heidelbergs zu genießen, solange das schöne Sommerwetter bliebe, nachher würde man desto eifriger arbeiten. Die liebende Mutter gab nach. Man konnte aber nicht ohne Ludmilla gehen, denn sonst wäre es keine rechte Lust gewesen und man hätte das Schöne ohne sie nicht genossen. Die Partien waren oft zu weit und ermüdend für Frau v. Sch...; dann blieb sie mit der kleinen Wanda allein. Das Kleeblatt aber, dem sich zuweilen noch andere junge Leute, deren Bekanntschaft gemacht ward, anschlossen, schwärmte oft tagelang umher und kam erst spät abends nach Hause.

So vergingen Wochen. Frau v. Sch... fing endlich an unruhig zu werden, denn aus dem Studieren wurde nichts. Die leidenschaftlichen Stimmungen ihres Iwan entgingen ihr nicht; sie sah den Ausdruck seiner Augen, wenn sie sich auf Ludmilla richteten, die Unruhe, in der er war, wenn nur ein halber Tag verging, ohne daß er sie gesehen hatte, die Eifersucht in seinem Gesicht, wenn sie mit anderen Herren sprach. Sie beobachtete auch Ludmilla und es kam ihr nicht länger so vor, als ob sie wirklich ein so unerfahrenes Wesen sei. In einzelnen Augenblicken erschien sie ihr wie eine vollendete Kokette, aber dann machte sie sich wieder Vorwürfe, daß sie an ihr gezweifelt habe, besonders wenn Ludmilla sich an das Klavier setzte und sie durch Spiel und Gesang entzückte, oder wenn diese ihr weinend um den Hals fiel und ihr unglückliches Los beklagte, an einen Gatten gebunden zu sein, den sie nicht liebe. Sie nahm sie dann in ihre Arme, tröstete sie und Ludmilla versicherte, daß ihr das Leben nichts sei ohne ihrer mütterlichen Freundin Liebe.

Dennoch aber wuchsen ihre Besorgnisse um Iwan. Leider wählte sie das schlechteste Mittel in einem solchen Fall, wo bei einem jungen Mann von einigen zwanzig Jahren die Leidenschaft [210] schon über den Verstand hinausgewachsen ist, nämlich: offen mit ihm über die Sache zu reden. »Die Leidenschaft mildert und erhöht sich im Bekennen,« sagt Goethe und so ist es. Einmal ausgesprochen, verliert sie den wilden flammenden Charakter, den sie im Geheimnis hatte, aber sie konzentriert sich desto mehr und erscheint unüberwindlich.

Nachdem sie den Sohn auf die Gefahren, in die ihn diese Neigung stürzen würde, aufmerksam gemacht und ihn mit Tränen und Bitten bestürmt hatte, Iwan sie aber mit aller Sophistik der Leidenschaft abwehrte und zu beruhigen suchte, sagte sie endlich:

»Und denkst du gar nicht mehr an deine Jugendideale, an die großen Aufgaben, die du dir gestellt hattest, mitzuwirken an der Entwicklung deines Vaterlandes, dich an dem neuen Leben zu beteiligen, das dort aufblüht, und zu diesem Zweck erst hier die Resultate der westlichen Zivilisation zu studieren, um für dein armes, so lange geknechtetes Volk Nutzen daraus zu ziehen? Ach, gedenke deines edlen Vaters, der jener großherzigen Generation angehörte, die in der dunkelsten Nacht des Despotismus das freie Streben nach einer besseren Zukunft aufrecht hielt. Wenn es möglich wäre, daß sein Sohn jene hochherzigen Ideen vergessen könnte um einer Frau willen« –

»Vergaß mein Vater nicht auch jene Ideen oder stellte sie wenigstens in den Hintergrund, als er die Familie gründete?« rief Iwan.

»Nein, mein Sohn,« erwiderte die Mutter feurig, »nein! Dein Vater wußte, daß sein Weib jene Ideen mit ihm teilte und gleich ihm jedes Opfers dafür fähig war. Eine andere Liebe hätte er nie begriffen.«

»Aber wer sagt dir, daß Ludmilla diese Sympathien nicht hat, sie, deren Genie sie in alle Tiefen des Lebens führt? Wer sagt dir, daß ich nicht mehr lerne in ihrem Umgang, wenn ihr tiefer Geist sich mir erschließt, als mich alle Weisheit der Professoren lehren könnte?«

Frau v. Sch... lächelte trotz ihrer Sorge und sagte: »Das [211] ist die Sprache eines Verliebten, mein Sohn; aber denke, daß Ludmilla verheiratet, daß sie viel älter ist als du –«

»O die verhaßten Argumente!« rief Iwan zornig, »sage lieber, daß du mich noch wie ein kleines Kind beherrschen, die unschuldigsten Regungen meines Herzens bewachen willst, daß du eifersüchtig bist auf Ludmilla, weil du fürchtest, sie könnte mich deiner ausschließenden Liebe entziehen.«

Kaum war ihm das Wort entflohen, so bereute er es schon, denn seine Mutter wurde blaß wie der Tod und Tränen stürzten ihr aus den Augen. »Mein Sohn,« sagte sie nach einer Minute des Schweigens mit zitternder Stimme, »wenn meine Besorgnis um dich dir wie Tyrannei erscheint, dann will ich schweigen, denn ich habe von jeher meine Kinder durch meine Liebe nur glücklich machen wollen, nicht sie bedrücken. Aber verdenken kannst du es mir doch nicht, wenn deine Zukunft mir am Herzen liegt und wenn ich nicht möchte, daß ein vorzeitiger Schmerz deine Kraft bräche.«

Iwan stürzte seiner Mutter zu Füßen und bedeckte ihre Hände mit Küssen. Frau v. Sch.... zog ihn an ihr Herz und beide hielten sich lange umfaßt in sprachloser Rührung. Endlich sagte Iwan:

»Du sollst mit mir zufrieden sein, Mutter. Ich werde arbeiten; ich werde alles studieren, was mich befähigen kann, daheim Gutes zu wirken. Nur laß mich auch still in dem Zauber leben, den Ludmillas Nähe für mich hat. Fürchte nichts! Kann das edelste Geschöpf mich unedel machen? Hat die erste Liebe, wenn sie einer so vollendeten Frau galt, nicht von jeher bedeutende Männer erst zu dem gemacht, was sie waren und das Genie, die schaffende Kraft in ihnen entwickelt?«

Frau v. Sch... sagte nichts mehr, sie fürchtete durch ein Wort des Zweifels an Ludmilla ihren Sohn aufs neue zu verletzen und seine Liebe, sein Vertrauen waren ihr solch ein Bedürfnis, daß sie sich von frühauf die größten Inkonsequenzen in seiner Erziehung hatte zuschulden kommen lassen. Ohne [212] daß sie es sich selbst gestand, war Iwan ihr Liebling. Der Älteste und mehrere Jahre ihr einziges Kind, hatte er die erste Kindheit noch unter den Augen seines Vaters verbracht, den sie unaussprechlich geliebt hatte. Der Vater starb bald nach der Geburt Sergeis und ließ die Familie in sehr bedrängten Umständen zurück. Frau v. Sch... fing mutig an für ihre Söhne zu arbeiten, und da sie gründlich und vielseitig unterrichtet war und mit Geist und Gewandtheit die Feder führte, so erwarb sie sich durch schriftstellerische Arbeiten so viel, daß sie leben und den Söhnen eine Erziehung geben konnte. Iwans Natur zog sie am meisten an. Sein Patriotismus, sein Haß gegen die Despotie, die auf seinem Volk lastete und die schwärmerischen Träume des Knaben für die dereinstigen Taten des Mannes erfüllten sie mit Stolz und Glück. Die beiden Brüder liebten sich zärtlich und dies war eine neue Quelle der Freude für die Mutter, die in aufopfernder, selbstverleugnender Liebe jede Minute ihres Daseins den Kindern widmete und ihnen die Jugend so heiter machte, wie es in ihren Kräften stand. Sie bemerkte dabei freilich nicht, daß sie in den jungen Seelen den Drang zum Leben zu übermächtig entwickelte, ohne ihnen zugleich die Kraft der Entsagung zu stärken. Vorerst jedoch stellte das Schicksal diese letztere auf keine Probe, denn das Glück kehrte bei ihnen auch äußerlich ein. Eine reiche Tante starb und hinterließ eine ansehnliche Erbschaft und eine schöne Besitzung für Iwan. Frau v. Sch... teilte sogleich das ganze Vermögen unter ihre Söhne und behielt nichts für sich, indem sie ihnen sagte, daß sie hoffe, sie würden ihr allezeit ein Plätzchen im Hause gönnen, wo sie bei ihnen leben und sich ihres Glückes freuen könne.

»Ich behalte mir nichts vor als eure Liebe und euer Vertrauen,« sagte sie zu ihnen; »eure Freundin, Trösterin, Ratgeberin will ich bleiben; euch mit meinen Wünschen begleiten, wenn ihr weggeht, und euch das Haus zur Heimat machen, wenn ihr zurückkehrt.«

Auch war bisher alles aufs schönste gegangen und der Bund der Mutter mit den Söhnen war rührend und erfreulich. [213] Als Iwan seine Studien in Moskau vollendet hatte, war die Reise beschlossen worden, auf der wir sie jetzt finden und die Mutter geleitete sie auch hier, da die Söhne ihr noch einziger Lebenszweck waren.

Nach der erwähnten Unterredung hatte Iwan wirklich angefangen zu arbeiten und sich einige Tage lang mehr zu Haus gehalten. Am Abend versammelte sich stets ein geselliger Kreis im Salon der Frau v. Sch... Ludmilla fehlte nie und andere in Heidelberg anwesende Russen, sowie Leute aus der Stadt, erschienen in demselben. In diesem Kreis hatte sich, ohne daß Frau v. Sch.... recht bemerkt hatte, wie es zugegangen war, ein frivolerer Ton eingeschlichen als der bei ihr sonst übliche. Das Gespräch drehte sich mehr und mehr um Klatschereien und triviale Stadtgeschichten und vor allem kam das Bespötteln anderer Menschen in Aufnahme, ja die meisten Mitglieder des Kreises selbst wurden, sobald sie den Rücken wendeten, unbarmherzig kritisiert. Ludmilla glänzte bei diesen Gelegenheiten durch ihren Witz und riß die jungen Leute mit sich fort. Besonders war Sergei entzückt über diese neue Seite ihres Wesens und lachte schon im voraus, wenn irgendein Individuum, dem möglicherweise eine lächerliche Seite abzugewinnen war, sich im Salon zeigte und er den Moment voraussah, wo Ludmilla es unter die Geißel ihrer Satire nehmen würde. Auch die Musik nahm nach und nach den Charakter des Frivolen an. Statt der ursprünglichen Poesie der heimischen Volkslieder kam die trivialste Opernmusik an die Reihe. Ludmilla hatte Singstunden bei einer berühmten italienischen Sängerin genommen, die sich der Gesundheit halber ausruhte und in Heidelberg lebte. Plötzlich kamen ihr alle die heimischen Melodien zu fade vor, sie erklärte mit Begeisterung die »Traviata« für ihre Lieblingsoper und Verdi für den größten Komponisten. Mit Entzücken hörten ihr die Herren zu, wenn sie italienische Arien sang oder Variationen über solche Themata spielte. Frau v. Sch... war nicht musikalisch genug, um den Rückschritt zu fühlen, den Ludmillas Begabung dadurch machte; [214] sie bedauerte nur den Verlust der heimischen Töne als eine Erinnerung.

Sie wurde aber bald für einige Zeit von der Aufmerksamkeit auf dieses Treiben abgezogen, indem Sergei ernstlich erkrankte und seine Pflege all ihre Zeit und Gedanken in Anspruch nahm. In der ersten Zeit, wo entschiedene Gefahr vorhanden war, blieb Iwan der Mutter zur Seite und teilte mit ihr des Bruders Pflege. Aber auch Ludmilla war da, half sorgen und pflegen und Frau v. Sch... wandte sich ihr mit neuer Liebe zu und bat ihr im Herzen jeden stillen Vorwurf ab. Iwan und Ludmilla saßen im Vorzimmer, wenn die Mutter bei dem Kranken war, oder wenn sie auf Iwans Bitte sich zur Ruhe legte, saßen die beiden am Bette Sergeis. Ja, Ludmilla ließ es sich nicht nehmen, zwei der schlimmsten Nächte dort zuzubringen, damit es an weiblicher Pflege nicht fehle, wie sie sagte, während die Mama die ihr so nötige Ruhe habe. Auch Iwan wachte in diesen Nächten und beide versicherten am andern Morgen, sie hätten abwechselnd auf dem Sofa geruht.

Endlich war die Gefahr vorbei und die Mutter drang selbst darauf, daß Iwan und Ludmilla sich einmal einen ganzen Tag im Freien erholen sollten. Nach einigem Widerstreben ging Ludmilla darauf ein. Iwan hatte einen Kahn gemietet, der sie den Neckar hinunter nach einem einsamen, malerisch gelegenen Dörfchen führen sollte, das sie schon öfter in Gesellschaft besucht hatten und das Iwans Lieblingsort war. Als sie dort angelangt waren und nach einem ländlichen Mahl auf grünem Rasen unter einer weitschattenden Linde ruhten, während die milde Herbstluft schmeichelnd um sie spielte, sagte Ludmilla, sie bereue es, daß sie die Mutter allein gelassen hätten.

»Und gönnen Sie mir diese Stunden des Glücks nicht, Ludmilla?« fragte Iwan mit sanftem Vorwurf, indem er ihre Hand ergriff. »Freilich, jene Nächte, als Sie wie ein guter Engel am Bett des Bruders saßen, als ich vor Ihnen kniete, als meine Lippen auf Ihre Hände das Geständnis alles dessen, [215] was in meinem Herzen glüht, drückten, als ich in Ihre Augen sah und darin einen Schein von Hoffnung zu lesen glaubte, da war ich auch glücklich – glücklich – neben dem Bruder, der ja sterben konnte! Ja, Ludmilla, ich bekenne es, als Sie mir zuflüsterten, wenn der Bruder stürbe, dann wollten Sie mein Trost sein – da – da wünschte ich fast, daß es geschehe, nur um diesen Trost zu empfangen! So sehr hat diese Liebe mein ganzes Wesen eingenommen, so sehr ist sie mein alles, daß mir Mutter und Bruder nichts mehr sind, daß ich jenen verbrecherischen Gedanken hatte und es nicht bereue. Aber da er gerettet ist, soll ich verzweifeln? Willst du mich nun nicht trösten um meinetwillen, Ludmilla? – Sprich, angebetetes Weib, sprich – soll ich es verwünschen, daß mein Bruder genas?«

Er preßte Ludmillas Hand heftig auf sein ungestüm pochendes Herz. Sie hatte die Augen auf den Boden geheftet; ihre freie Hand zerknitterte Blumen, die ihr Iwan vorhin auf den Schoß gestreut hatte; sie schwieg; nur ihr Busen hob sich schneller. Endlich schlug sie ihren Blick zu ihm auf; es lag eine dämonische Macht in ihren Augen und Iwan, überwältigt, umschlang sie mit beiden Armen und preßte einen flammenden Kuß auf ihre Lippen. Sie ließ es geschehen. Dann aber entwand sie sich seinen Armen und sagte mit einem Tone des Selbstvorwurfs:

»Ich tue nicht recht, Sie gewähren zu lassen! Wohin soll diese Leidenschaft in einem Kinde führen? Denn Sie sind ja nur ein Kind im Vergleich mit mir; nicht zu Ihrem Unglück, sondern zu dem meinen. Sie sind frei, Iwan, Sie können sich jeden Augenblick eine junge Gefährtin suchen, wie Ihre Mutter es wünscht. Sie werden mich in der neuen Liebe vergessen. Ich aber, durch ein unseliges Band gefesselt, werde einen Morgentraum geträumt haben, um desto gräßlicher zu erwachen. Nein, fliehen Sie mich, Iwan! Verlassen Sie mich, ehe Sie mich elend machen.«

Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen. Iwan war außer sich: »Ich will es dir zeigen,« rief er, »daß ich kein [216] Kind mehr bin, sondern ein Mann; daß ich nicht für mich wählen lasse; daß alle andern Frauen der Erde mir gleichgültig sind; daß ich dich besitzen will, dich allein, und müßt' ich dich der ganzen Erde abgewinnen. Kein anderer soll mehr ein Recht über dich haben – ha – der Gedanke allein macht mich wahnsinnig! Dein Glück soll meine Lebensaufgabe sein! Nichtig und leer sind alle anderen Ziele! Ein Wahn ist aller Ehrgeiz, außer dem, dich in meinen Armen zu halten! Ein Wahn ist es, die Menschheit beglücken zu wollen! Wie reichte dazu eine einzelne Kraft aus? Eine Menschheit noch dazu, die gar nicht das will, was ich Glück nenne, in der keiner den andern versteht und mit ihm dasselbe sucht. Mein Glück ist bei dir, in deinem Glück. Darin will ich meine Bildung, meine Entwicklung suchen! In deinen Armen will ich die übrige Welt vergessen.«

Er zog sie aufs neue an sich; sie ließ ihn diesmal gewähren, sie schien an ihn zu glauben. Er küßte ihr die Tränen von den Augen; sie war halb wie ein junges, verschämtes Mädchen und halb wie ein selbstbewußtes Weib. Versagend und gewährend zugleich, entflammte sie in ihm die Liebe zum glühenden Verlangen, dann aber, indem sie ihn freundlich, zärtlich liebkoste, beruhigte sie nach und nach seine aufgeregten Sinne und scherzte mit ihm wie mit einem Kinde. So vergingen mehrere Stunden, die Sonne war schon untergegangen, es wurde feucht und dämmerig. Ludmilla erhob sich und sagte, sie müßten heim.

»Weh, daß diese Stunden des Glücks schon enden,« rief Iwan; »es bleibt nur ein Trost, daß schönere, reichere ihnen folgen werden.«

Als sie zu Hause anlangten, kam ihnen Frau v. Sch... mit freudestrahlendem Gesicht entgegen. »Ich habe gute Nachrichten, meine Kinder,« rief sie, »in einigen Tagen kommt meine teuerste Freundin, die Fürstin K..., hier durch, mit Irene, ihrer Tochter, und mit ihrer Schwägerin, der Prinzessin. Hoffentlich ist Sergei wieder ganz wohl, dann wollen [217] wir recht vergnügte Tage haben. Es sind jetzt zehn Jahre, daß ich die Fürstin nicht gesehen habe; sie hat im Kaukasus gelebt, wo ihr Gemahl bei der Armee ist. Damals war Irene erst acht Jahre alt. Nun ist sie achtzehn und ihre Mutter schreibt mir, sie sei ein liebes Mädchen und ihr Herz sei noch völlig frei. Auch auf die Prinzessin freue ich mich sehr, sie ist eine originelle Person, immer mit sich beschäftigt und doch herzensgut; malade imaginaire, aber höchst lebhaft und stets bereit, sich zu amüsieren. O, ich freue mich auf den Besuch.«

Alles dies ward zumeist zu Ludmilla gesagt. Frau v. Sch... hatte in dem Dämmerlicht, das Sergeis angegriffenen Augen zuliebe im Zimmer herrschte, nicht bemerkt, wie ihr Sohn und Ludmilla erblaßt waren bei ihren Worten. Sie vergaß nach dem Verlauf des Tages zu fragen, weil sie einzig des bevorstehenden Besuchs gedachte und in ihrer Freude fiel es ihr nicht auf, daß keines der beiden ein Wort erwiderte. Sie hatte unerschöpflichen Stoff, von der Fürstin und deren Verhältnissen, die sie als glänzend schilderte, zu erzählen. Mehr als einmal entschlüpfte ihr auch ein Wort der Hoffnung in bezug auf den geheimen Wunsch, den sie hegte, daß Iwan und die Tochter der Jugendfreundin ein Paar werden möchten. Sie war zu wenig Kennerin des menschlichen Herzens, um zu vermuten, daß schon allein die Absichtlichkeit ein unübersteigbares Hindernis in Iwans Herzen werden würde, da dieses, wie sie wohl wußte, erregt war, wenn sie schon nicht ahnte, bis zu welchem Grad. Ludmilla fand zuerst die Sprache wieder und nur Iwan glaubte ein leises Beben in ihrer Stimme zu unterscheiden, den übrigen erschien sie ruhig. Sie sagte, daß sie durch einen Herrn, der die Familie des Fürsten K.... in Odessa gekannt habe, viel von ihr gehört hätte, daß Irene reizend, schön wie ein Engel, talentvoll und elegant sei, gerade ein Wesen, um jedes junge Herz im Sturm zu erobern. Sie wurde ganz hingerissen, indem sie davon sprach und keine Huri des türkischen Paradieses konnte das Bild übertreffen, das sie zuletzt von der jungen Fürstin hingemalt [218] hatte, so daß Frau v. Sch... sie endlich unterbrach und fast verlegen sagte:

»Liebe Ludmilla, ich fürchte, Sie verderben in Ihrem Enthusiasmus der armen Irene jede Möglichkeit eines guten Eindrucks. Muß nicht alles hinter einem Bild zurückbleiben, wie Sie es uns entwerfen?«

»Wie neidlos Sie sind, Ludmilla!« rief Sergei, indem er Ludmillas Hand ergriff und galant küßte; »ich freue mich mehr, als auf das Wundermädchen Irene, auf die Prinzessin, die wird Stoff zur Heiterkeit geben! Aber jetzt lassen wir die ganze Gesellschaft in Ruhe, bis sie da ist und singen und spielen Sie uns etwas, Ludmilla. Ich habe Sehnsucht, Musik zu hören und bin wieder stark genug, sie zu ertragen.«

Bereit, ihres kranken Kindes Wünsche zu erfüllen, wie sie sagte, ging Ludmilla an das Klavier. Sie kam heute einmal auf ihre alten Inspirationen zurück, sang russische Volkslieder, phantasierte über wehmütige, trauervolle Weisen, in die nur dann und wann ein Ton der Freude, des Jubels, wie der Blitz eines kurzen Glückes, hineinzuckte, um gleich wieder zu verschwinden. Nie hatte sie schöner gesungen und gespielt. Iwan hielt das Gesicht in beide Hände vergraben; Frau v. Sch... hatte Tränen in den Augen, Sergei lächelte Beifall. Plötzlich aber sprang Ludmilla auf, eilte in das Schlafzimmer nebenan und ein wilder Schrei tönte zu den im Salon Anwesenden herein. Frau v. Sch... eilte ihr nach und fand sie, auf das Bett gesunken, das Gesicht in das Kissen vergraben und heftig weinend. Frau v. Sch... beugte sich über sie und wollte sie aufrichten und trösten, da fühlte sie sich am Arm zurückgehalten. Sie drehte sich um und sah Iwan vor sich stehen. Sein Anblick machte ihr liebendes Herz erstarren, er war totenbleich, seine Züge waren von Schmerz entstellt und seine dunklen Augen glühten unheimlich.

»Laß sie, Mutter,« sagte er fast hart, »du verstehst ihren Schmerz nicht, laß sie weinen!« Dabei wollte er sich Ludmilla nahen, sie wehrte beide mit der Hand ab, ohne aufzublicken.

»Sie will allein sein, laß sie!« fuhr er fort, indem er seine [219] Mutter zurückzog in das andere Zimmer. Frau v. Sch... war verletzt und erschreckt. Ein eisiger Hauch zog über die Hoffnungen, denen sie sich noch vor einigen Stunden hingegeben hatte. Das Gesicht ihres Sohnes hatte ihr den Blick in einen Abgrund eröffnet, vor dem ihr Herz sich in Schmerz zusammenzog. Weder Mutter noch Sohn sprachen ein Wort. In düsteres Schweigen versunken, wagten sie gegenseitig nicht sich anzusehen. Sergei blickte unruhig und verlegen auf beide und wollte endlich dem ihm lästig werdenden Schweigen ein Ende machen, als sich draußen Stimmen hören ließen, die Türe aufflog und zwei Damen hereintraten.

»Teure Christiane Alexandrowna, da sind wir schon,« rief die zuerst eingetretene Dame, eine ältliche Frau von würdigem Ansehen und eilte mit offenen Armen auf Frau v. Sch .. zu. Diese erhob sich und fiel der Ankommenden um den Hals. »Maria Paulowna,« rief sie, »welche Überraschung! heute morgen erst habe ich deinen Brief bekommen.«

Beide Damen küßten sich zu wiederholten Malen, dann wandte sich die Fremde zu einem jungen Mädchen, das bescheiden hinter ihr stehen geblieben war und indem sie es bei der Hand nahm und Frau v. Sch.... zuführte, sagte sie: »Hier ist meine Irene und nun bitte ich mir auch deine Kinder aus!« Dabei wandte sie sich zu Iwan und rief: »Ist's möglich, daß das der Iwan ist, der so hübsch mit der kleinen Irene spielte, als wir in Moskau waren?« und als Iwan sich bejahend verbeugte, hielt sie ihm beide Hände hin und sagte ihm die herzlichsten Worte, während Frau v. Sch... Irene an ihr Herz drückte und sie mit prüfenden Blicken betrachtete. Von dem Bilde, das Ludmilla von ihr entworfen, war keine Spur da: Eine schnell aufgeschossene, noch unreife Gestalt; ein bleiches, zartes Gesicht, schöne Augen und Augenbrauen und eine edle, gedankenvolle Stirn, das war alles. Dabei sah sie schüchtern aus, doch gab ein anmutiges Lächeln ihrem Gesicht etwas sehr Anziehendes; in einer Gesellschaft jedoch würde man sie kaum bemerkt haben, wenn man nicht auf sie aufmerksam gemacht worden wäre. Nachdem auch die jungen [220] Leute mit stummer Verbeugung die Bekanntschaft erneuert hatten, Sergeis Krankheit besprochen und bedauert worden war und man sich niedergelassen hatte, ging es an ein gegenseitiges Erzählen.

»Wo ist denn die Prinzessin?« fragte endlich Frau v. Sch.... »Ich habe ganz vergessen, daß sie auch kommen sollte.«

»Sie ist im Hotel geblieben,« erwiderte lächelnd die Fürstin; »sie ist immer noch die alte und versichert, sie werde wahrscheinlich heute nacht sterben nach der Ermüdung auf der Eisenbahn; auch will sie nicht weiter reisen mit uns, sondern hier bei dir bleiben.«

»Und wohin gedenkt ihr zu gehen?« frug Frau v. Sch...

»Nach Italien, meine Beste,« versetzte die Fürstin; »Irene hat ein entschiedenes Talent zur Malerei, sie soll Italien und die Meisterwerke der Kunst sehen, damit sich ihr Auge für das Schöne bildet und sich an den großen Stil gewöhnt. Ich hasse nichts mehr als das schülerhafte Dilettantenwesen. Das bißchen Klimpern, das bißchen Kritzeln der meisten jungen Mädchen ist mir unausstehlich. Mit der Kunst sollte man so wenig spielen wie mit der Religion, der Wissenschaft, der Liebe. Aber leider verwechselt man in der heutigen Erziehung Stümperei und Kunst ebenso, wie man Frivolität und Heiterkeit verwechselt. Man denkt, ein junges Mädchen, wenn es gewöhnt wird, ernste Dinge ernst zu nehmen, könne deshalb nicht heiter sein.«

»Mein Thema, liebste Maria Paulowna!« rief Frau v. Sch.... »Wie schön, daß wir auch in diesen Sympathien uns wiederfinden!«

Irene sprach nicht viel, sie antwortete nur, wenn Frau v. Sch... sich direkt an sie wandte oder wenn Sergei von seinem Lager aus eine Frage an sie richtete. Iwan beobachtete düsteres Schweigen und warf mehrmals unruhige Seitenblicke nach dem Schlafzimmer. Seine Mutter verstand seine Qual und immer bereit, ihm wohlzutun, sagte sie zu ihm: »Iwan, willst du nicht sehen, ob Ludmilla hereinkommt? Ich [221] bin überzeugt, unsere Freundinnen werden sich sehr freuen, ihre Bekanntschaft zu machen.«

Während Iwan sich beeilte, der Aufforderung nachzukommen, fing Frau v. Sch.... an, über Ludmilla zu sprechen und Irene rief lebhafter, als sie sich bisher noch gezeigt hatte: »Wie, Madame C... ist hier? O, wie würde ich mich freuen, sie zu sehen, ich liebe ihre Kompositionen.«

Auch die Fürstin äußerte den Wunsch, Ludmilla zu sehen und erwartungsvoll wendeten sich alle Blicke nach der Tür, als diese sich wieder öffnete. Aber Iwan allein trat ein und sagte, Ludmilla lasse sich entschuldigen, sie habe heftiges Kopfweh und sei nach Hause gegangen. Die Damen bedauerten es, man sprach noch eine Weile, dann wollten die Fremden sich in das Hotel zurückbegeben. Frau v. Sch.... sagte, sie werde sie mit Iwan begleiten; dieser leistete stummen Gehorsam. Auf der Straße gab Frau v. Sch... der Fürstin den Arm und sagte scherzend: »Diesmal muß die Jugendfreundin dir als Kavalier dienen, Iwan führ' du deine Spielgefährtin.«

Iwan bot seinen Arm, Irene legte den ihren leicht darauf. Sie folgten den eifrig redenden Müttern, ohne ein Wort miteinander zu sprechen. Man mußte an Ludmillas Wohnung vorüber. Iwan sah hin, sie wohnte im Erdgeschoß. Das Fenster war offen, eine Gestalt lehnte darin. Iwan erkannte sie; er wußte, daß auch sie erkannt würden, da seine Mutter laut sprach. Sein Herz litt unsäglich bei dem Gedanken, daß Ludmilla ihn mit der jungen Fürstin am Arm sähe, besonders nach dem, was sie ihm vorhin im Schlafzimmer seiner Mutter gesagt hatte. In diesem Augenblick gerade brach Irene das bisherige Schweigen und fragte: »Ist Madame C... auch eine ebenso schöne Frau, als sie eine gute Komponistin ist?«

Iwan war überzeugt, daß Ludmilla die Frage gehört hätte, denn Irene hatte den Namen deutlich ausgesprochen und es herrschte in der Straße tiefe Stille. Er wagte nicht zu antworten aus Furcht, sie möchte ihn auch noch hören und schwieg ein paar Minuten; erst als sie aus der Hörweite [222] Ludmillas waren, versetzte er mit gedämpfter Stimme: »Ich weiß nicht, ob Sie sie schön finden würden.«

Irene erwiderte eifrig: »O, ich gewiß, denn ich liebe ihre Kompositionen außerordentlich und habe mir ein Bild von ihr gemacht, für das ich schwärme.«

Iwan drückte unwillkürlich die kleine Hand, die kaum fühlbar auf seinem Arm ruhte, ein wenig fester an sich und versetzte rasch: »Ja, sie ist auch schön, schöner als alle – als die meisten Frauen, die ich kenne,« fügte er langsamer hinzu.

Beide schwiegen wieder, denn sie waren inzwischen beim Hotel angelangt und man nahm Abschied mit dem Versprechen, sich morgen, gleich nach dem Frühstück, wiederzusehen. Auf dem Rückweg sprach Frau v. Sch... unaufhörlich über den Besuch, da sie keine schmerzende Seite in Iwans Herzen berühren wollte. Sie überhob ihn so der Qual, selbst reden zu müssen, aber sie verwundete ihn dennoch tief, indem sie mit Zärtlichkeit von Irene sprach, ihre mädchenhafte Bescheidenheit lobte und hinzufügte, wenn sie solch eine Tochter hätte, würde sie glücklich sein. War es Absicht oder nicht – aber Frau v. Sch... hatte einen andern Rückweg eingeschlagen, der nicht bei Ludmillas Haus vorbeiführte. Iwan war in der leidenschaftlichsten Unruhe. Zu Hause verabschiedete er sich gleich von seiner Mutter. Seit Sergeis Krankheit hatte er ein eigenes kleines Schlafzimmer oben im Haus, um das größere Zimmer, das sie früher geteilt hatten, ganz dem Kranken zu lassen. Kaum war er in demselben angelangt, so steigerte sich seine Aufregung so, daß er es im Zimmer nicht aushalten konnte. Er nahm seinen Hut, schlich leise die Treppe hinunter und überlegte, wie er, ohne Lärm zu machen, zum Haus hinauskommen sollte, da die Türe bereits verschlossen war und die Hausleute, die das Erdgeschoß bewohnten, zur Ruhe gegangen waren. Es gab nur einen Weg; das Dienstmädchen schlief in einer Kammer nach rückwärts, deren einziges Fenster in den Garten ging. Von diesem Garten konnte man über eine Mauer auf einen Weg kommen, der zwischen Hecken bis hinter das Haus führte, in dem Ludmilla[223] wohnte. Nur einen Augenblick lang zögerte Iwan. Ein blinder, wilder Drang trieb ihn vorwärts. Leise öffnete er die Kammertüre; die Magd, ein rüstiges Bauernmädchen, lag nach der schweren Tagesarbeit im ersten tiefen Schlaf; sie erwachte nicht, als Iwan das Fenster vorsichtig öffnete. Er sprang mit leichter Mühe aus demselben in den Garten und ließ es zum Rückzug offen. Sich über die Mauer zu schwingen war das Werk eines Augenblicks. Rasch eilte er in dem feuchten Weg zwischen den Hecken weiter. Alles war still, nur ganz von ferne ertönte das lustige Lied einer heimziehenden Studentenschar. Fast atemlos, mit immer ungestümer pochendem Herzen stand er jetzt unter dem Fenster von Ludmillas Schlafzimmer, das nach dieser Seite hin lag; es war, als wenn sein Verhängnis ihn einlüde. Das Fenster war offen und durch die ein wenig geöffnete Türe des andern Zimmers leuchtete ein Lichtstreif. Also war Ludmilla noch auf. Er lehnte sich einen Augenblick an die Mauer des Hauses; sein Herz schlug hörbar; sein Blut kochte; sein Kopf schwindelte. Dann sah er sich um: kein Licht sonst mehr; kein Mensch sichtbar; kein Laut vernehmbar, außer dem Zirpen eines Heimchens, was das Gefühl der Einsamkeit noch erhöhte. Gedacht ward's nicht, aber gewollt, aus den dunklen Tiefen der Brust herauf, und im selben Moment auch getan! Er schwang sich zum Fenster hinauf und stand bebend, den kalten Schweiß auf der Stirne, während der gewaltige Drang im Innern die Brust zu sprengen drohte, im Schlafzimmer Ludmillens. Durch die Öffnung der Tür sah er wie durch einen Nebel, der vor seinen Blicken schwamm, Ludmilla auf dem Sofa im Wohnzimmer liegen. Sie war in einen losen Morgenüberwurf gehüllt, die langen Flechten ihres schwarzen Haares hingen ihr über die Schultern herunter, ihre vollen, weißen Arme waren aus den weiten offenen Ärmeln des Überwurfs sichtbar. Wie es schien, war sie mit Schreiben beschäftigt gewesen, vor ihr auf dem Tisch lagen Papiere, viele zerknitterte und zusammengedrückte Blätter wie im Unmut weggeworfen und ein beschriebenes Blatt, dessen Inhalt sie [224] auch nicht befriedigen mochte, denn sie hielt die Feder müßig über demselben und starrte darauf hin.

Plötzlich schreckte sie in die Höhe; die Türe ihres Schlafzimmers öffnete sich weiter und auf der Schwelle stand Iwan. Kein Schrei entfuhr Ludmillas Lippen, aber sie sprang auf und sagte mit bebender Stimme: »Was bedeutet dieser Überfall? Sind Ihnen meine Ehre, mein Ruf nichts? Warum folgen Sie nicht als ein gehorsamer, unmündiger Knabe den Befehlen Ihrer Mutter und gehen zu Ihrer Fürstin, der Sie ja nicht einmal einzugestehen wagen, daß Sie ein anderes Weib schön gefunden haben.«

Iwan sah den Ausdruck tiefster Erbitterung nicht, der sich auf ihrem Gesicht malte. Er sank ihr zu Füßen und umfaßte ihre Knie. »Ludmilla, vergib, vergib,« stöhnte er, »wenn du wüßtest, welche Qualen ich heute abend erduldet habe, du würdest mir nicht zürnen. Deine schrecklichen Worte dort im Schlafzimmer, daß du fort wolltest, ließen mir keine Ruhe. Wenn du gehst, gehe ich mit; an das Ende der Welt will ich dir folgen. Was soll ich bei diesem jungen Mädchen, unter den lästigen Blicken meiner Mutter und der Fürstin, die mich verhandeln wollen wie einen unmündigen Knaben? Ich mußte hierher, mußte dich sehen oder sterben. Habe Erbarmen mit mir!«

»Unglücklicher,« versetzte Ludmilla sanfter, »und wenn irgend jemand Sie gesehen hat? Freilich, ich achte das Urteil der Welt gering! Aber mich, die Schutzlose, die Alleinstehende, wird jeder gern unverdient beleidigen, während jene stolzen Frauen sich im Gefühl ihrer nie angegriffenen Unschuld über mich stellen.«

»Ha, und werde ich dich nicht schützen gegen jeden Angriff?« rief Iwan. »Mein Weib sollst du werden trotz jenen. Was kümmert uns das schnöde Gesetz, das Ehen heiligt im Angesicht der Gesellschaft? Sei mein, Ludmilla, und morgen folge ich dir, wohin du willst, trotz der Anwesenheit der Fürstin und ihrer Tochter.«

Noch vor dem ersten Hahnenschrei schloß sich das Fenster [225] wieder in der Kammer des Dienstmädchens, ohne daß diese aufgewacht wäre und die Gestalt bemerkt hätte, die sich leise durch die Kammer zur Türe hinausstahl. Als sie aufstand, wunderte sie sich nur, woher das Paar schöner Handschuhe komme, das sie beim Fenster auf dem Boden fand. Sie fragte im Hause umher, da sich aber niemand dazu bekennen wollte, dachte sie weiter nicht darüber nach und behielt sie, um am nächsten Sonntag beim Kirchengehen Staat damit zu machen.

Am folgenden Morgen erhielt Frau v. Sch... beim Frühstück ein Billett; sie las es laut:


»Teure Christiane Alexandrowna!

Ich habe gestern abend die Nachricht erhalten, daß jemand, der mich in wichtigen Familienangelegenheiten zu sprechen hat, mich in Stuttgart erwartet. Die Sache ist eilig und ich reise ohne Verzug dahin ab. Entschuldigen Sie daher, daß ich nicht erst noch bei Ihnen vorkam. Ich weiß Sie ja jetzt glücklich mit Ihren Freundinnen. Da brauchen Sie doch nicht Ihre Sie über alles liebende

Ludmilla.«


Frau v. Sch... sah auf Iwan und bemerkte, daß er heftig die Farbe wechselte. Sie hielt das für die Wirkung der überraschenden Nachricht, aber im Grunde des Herzens freute sie sich über diese, denn sie schmeichelte sich nun mit der Hoffnung, daß Iwan sich mit Irene beschäftigen und von ihr angezogen werden könne. Der Verstellung unfähig und daran gewöhnt, ihren Söhnen alles zu sagen, gab sie sich auch jetzt wieder unvorsichtig dem Drange ihres Herzens hin. Sie ergriff Iwans Hand und sagte zärtlich: »Mein liebes Kind, das scheint wie eine Fügung! Ludmilla geht in dem Augenblick, wo Irene kommt; nun fordere ich nichts von dir, mein geliebter Iwan, als daß du dich ohne Nebengedanken in diesen Tagen dem Umgang mit der Fürstin und Irene hingibst. Du weißt, daß ich dich zu nichts zwingen will, aber du weißt auch, daß mich nichts glücklicher machen könnte, als wenn du und [226] Irene euch einander nähertet. Daß Ludmilla einen Zauber auf deine Phantasie geübt hat, finde ich begreiflich, aber dein Herz, Iwan, glaub es mir, deiner Mutter, ist noch frei und die unschuldige, jungfräuliche Irene paßt besser für dich als die erfahrene und verzeih es mir, Iwan – die kokette Frau.«

»Mutter,« rief Iwan aufspringend, »ein jedes Wort, das sie verleumdet, trifft mein Herz. Deine Irene ist mir völlig gleichgültig, ja sie fängt an, mir widerwärtig zu werden, weil sie mir aufgedrungen werden soll.«

Mit diesen Worten eilte er aus dem Zimmer und schlug die Türe heftig hinter sich zu. Frau v. Sch... blieb in kummervollem Nachdenken zurück. Was war aus ihrem liebevollen, ergebenen, träumerischen Iwan geworden? Ihr Herz schwoll auf in Bitterkeit gegen die, die sie als die Urheberin alles dessen ansah. Sie wurde indes aus ihrem trüben Sinnen geweckt durch die Ankunft der Fürstin und ihrer Tochter, die diesmal von der Prinzessin begleitet waren, einem ältlichen, magern, häßlichen Fräulein, eingehüllt in Schals, Mantillen, Pelzkragen und Mäntel aller Art und Farben.

»Ach, teure Christiane Alexandrowna, welch ein Wunder, daß ich Sie noch wiedersehe in diesem Leben,« rief die Prinzessin, indem sie Frau v. Sch... umarmte. »Mein Gott, wie bin ich leidend! Immer im Angesicht des Todes! Aber diesen letzten Wunsch hat mir doch der Himmel gewährt.«

»Nun, bei alledem hast du gottlob die weiten Eisenbahnfahrten besser vertragen als ich, meine Beste,« versetzte lächelnd die Fürstin, »und hast immer noch Kraft gehabt, mit Irene Theater und Konzerte zu besuchen, wenn ich todmüde im Hotel liegen blieb.«

»Ja, mein Gott, dem Kind zuliebe mußte ich mich zusammennehmen,« sagte die Prinzessin und indem sie sich bemühte, sich einiger überflüssiger Kleidungsstücke zu entäußern, fügte sie, sich zu Irene wendend, hinzu: »Ma nièce, prenez mon manteau

Als Irene diesem Befehl Folge geleistet und es versucht [227] hatte, etwas Ordnung in das noch übrige Chaos der Jacken und Mantillen zu bringen, fuhr die Prinzessin zu Frau v. Sch... gewendet fort: »Meine Nichte ist sehr gut von mir erzogen, sie vergißt nie, was ein junges Mädchen den älteren Leuten schuldig ist. Das verlange ich aber auch und verlange es ebenso von den Söhnen meines Bruders; sie müssen die zartesten Attentionen für mich haben, mir den Fußschemel herbeirücken, mir die Kissen in den Rücken legen, mir den Arm reichen, sobald ich vom Lehnstuhl aufstehe, um mich auf das Sofa zu setzen. Ich will in meiner Stellung als Tante geachtet sein. Ich hoffe, Sie werden mir darin beistimmen, Christiane Alexandrowna, und Sie haben wohl Ihre Söhne ebenso erzogen? O, ist dies Sergei?« rief sie dem Eintretenden vom Lehnstuhl aus, in den sie sich geworfen hatte, entgegen, indem sie ihm die Hand zum Kusse hinhielt. »Nun, junger Herr, ich hoffe, Sie werden mir den Arm geben, wenn wir nachher das Schloß besteigen.«

Die Fürstin lächelte Frau v. Sch... zu und Irene sagte spottend: »Aber, beste Tante, Sie sind so ermüdet!«

»Freilich, mein Kind, angegriffen! aufs äußerste! aber die schöne Natur wirkt immer wohltätig auf mich und stellt meine zerrütteten Nerven wieder her. Aber, wo ist Iwan Paulowitsch? Ich muß doch die Kinder meiner teuren Christiane sehen.«

Frau v. Sch.... bat Sergei, seinen Bruder zu rufen; er kam aber mit der Nachricht zurück, daß Iwan fort sei. So mußte man ohne ihn eine Promenade auf die Schloßruinen von Heidelberg unternehmen, denn die Prinzessin versicherte, sie ersticke in der Stubenluft und bedürfe für ihre Nerven der milden Herbstsonne draußen und des Eindrucks der romantischen Ruine.

Als man nach einigen Stunden zum Essen nach Hause kam, fragte Frau v. Sch.... nach ihrem Sohne und hörte, daß er nicht nach Haus gekommen sei, daß aber ein Mensch vom Bahnhof ein Briefchen für die gnädige Frau gebracht habe. – Frau v. Sch... erbrach es hastig, es war von Iwan. Er [228] schrieb, er sei, nach der Unterredung am Morgen, nicht in der Stimmung gewesen, heute mit den Damen zusammenzutreffen und habe deshalb eine Fahrt nach Mannheim gemacht, von wo er erst morgen wieder zurückkehren werde. Frau v. Sch .. empfand das Verletzende dieses Betragens bitter, aber sie strebte dennoch, den Liebling ihres Herzens vor den Freunden zu entschuldigen, obwohl sie fühlte, daß der prüfende, klare Blick der Fürstin anfing, zu erraten, daß nicht alles sei, wie es sein sollte. Irene zeigte sich heute auf das liebenswürdigste; die gestrige Schüchternheit war verschwunden und neben jugendlicher Heiterkeit, ja Schelmerei, trat ein bedeutender, ernster Grundzug überall hervor. Frau v. Sch... war entzückt von ihr und drückte der Mutter dies Gefühl aus, als sie sich am Abend, wo sich Besuch, der den jungen Leuten galt, einfand, von den übrigen etwas zurückzogen zu vertraulicher Plauderei.

»Ja, sie ist ein treffliches Kind,« sagte die Mutter, »die schönsten Anlagen waren in ihr; ich habe nichts zu tun brauchen, als diese zu entwickeln, damit sie, im Licht der Erkenntnis, bewegt und angezogen von den edelsten Motiven, die Selbstherrschaft über den dunkeln ungestümen Drang des Lebens, der ja gewöhnlich in bevorzugten Naturen auch am heftigsten ist, üben und das Maß finden lerne, das den Menschen zum Kunstwerk macht. Freilich habe ich dazu manchmal strenge sein müssen, aber sie wußte, daß meine Strenge auch eine Form der Liebe war und sie hat sie mir gedankt!«

»Nun, da bewundre ich dich, ohne dir nachahmen zu können,« erwiderte Frau v. Sch.... »Ich kenne nur eine Aufgabe in der Erziehung: jede Träne von der Geliebten Augen zu trocknen und unbeschränktes Vertrauen zwischen Mutter und Kind aufrecht zu halten; alles andere muß man der Natur überlassen.«

»Täuschest du dich aber nicht, Beste?« sagte die Fürstin sanft. »Ist das wirklich Glück, den blinden Drang gewähren zu lassen, der den Menschen in ewigem Begehren, in nie befriedigtem Wollen von Wunsch zu Wunsch fortreißt? Und [229] das nur, um im Augenblick nicht versagen zu müssen, um die flüchtige Träne der Entsagung zu vermeiden, womit man aber auch den edlen Triumph der Selbstüberwindung vernichtet? Kann deine grenzenlose Liebe den Söhnen ihren Weg so ebnen, daß sie nie sich verwunden werden, daß kein tragisches Schicksal schwer zu lösende Konflikte für sie heraufführen wird? Beste Christiane, möchte es so sein, aber ich zweifle.«

»Ach, laß mich's hoffen,« versetzte Frau v. Sch.... »Ich kann meiner Lieblinge Augen nicht weinen sehen; so viel es in meiner Macht steht, sollen sie glücklich sein.«

Die Fürstin schwieg; sie sah nur ernst auf das redliche Antlitz ihrer Freundin, die mit niedergeschlagenen Augen dasaß, als fürchte sie, es zu verraten, daß in ihrer eignen Seele der Zweifel an ihrer Theorie aufzutauchen begann. Natürlich fand die Fürstin es sonderbar, daß Iwan sich gerade an diesem Tage entfernt hatte, doch mochte sie nichts darüber sagen, denn sie wollte ihre Freundin nicht verwunden, aber sie nahm sich innerlich vor, erst genau zu beobachten und zu prüfen, ehe sie das Glück ihrer Irene auf das Spiel setze.

Inzwischen hatte sich im übrigen Teile der Gesellschaft, wie es schien, eine heftige Diskussion erhoben. Man hörte die Stimme der Prinzessin und die eines Russen, der seit kurzem in Heidelberg weilte. Frau v. Sch..., die das Gespräch mit der Freundin abzubrechen wünschte, stand auf und näherte sich, um zu sehen, wovon die Rede sei. Sie hörte Ludmillas Namen.

»Beste Christiane Alexandrowna,« rief die Prinzessin ihr zu, »eben höre ich, daß Ludmilla C... hier und ganz intim in Ihrem Hause ist? Mein Gott, Teure, wissen Sie denn nichts von dieser Frau? Ich finde hier so lebhafte Sympathien für sie im Herrn v. Schmetow und Ihrem Sergei, daß ich ganz erstaunt bin. Das ist ja eine berüchtigte Kokette, die schon in mehrere Familien Unheil und Verzweiflung gebracht hat. Ich habe sie in Petersburg gesehen, wo sie ein schönes eheliches Verhältnis zerstört hat; der Mann ist halb verrückt geworden aus Liebe zu ihr und hat seine liebenswürdige [230] Frau ganz unglücklich gemacht. Und ist sie etwa eine Frau comme il faut? Nennen Sie das Erziehung und Benehmen, wie sie sich beträgt?«

»Sie ist jung, liebenswürdig und talentvoll, das ist genug, um den Neid derer zu erregen, die es nicht sind,« erwiderte Herr v. Schmetow mit ironischem Lächeln, indem er aufstand und der Prinzessin den Rücken wandte.

»Wie die Verteidigte, so die Verteidiger,« sagte die Prinzessin halblaut, doch laut genug, um von allen gehört zu werden.

»O Tante, ich bin Ihnen böse,« rief Irene, »daß Sie mir mein Ideal verderben. Ich denke mir Madame C... als eine jener außergewöhnlichen Naturen, die viel zu sehr in Ideen leben, um immer auf jede kleine Handlung des Lebens zu achten und sie ebenso zu machen wie andere Leute und die daher oft mißverstanden werden.«

»Vous êtes charmante, Mademoiselle!« sagte Herr v. Schmetow, indem er wohlgefällig auf Irene blickte, deren Wangen lebhaft erglüht waren, »il faut être jeune et aimable comme vous pour comprendre ce qui est jeune et aimable

»Jeune? Eine Frau von dreißig Jahren?« murmelte die Prinzessin, indem sie ihren Schal fester um sich zog und sich im Lehnstuhl zurückwarf. »Irene, meine Gute, enthalte dich in Zukunft des Urteils, wenn es in direktem Widerspruch steht mit dem, was deine Tante sagt,« fügte sie hinzu, indem sie den Ärger über die beleidigende Weise ihres Gegners an der Nichte ausließ.

Irene, voll Mitleid über die Kränkung, die der Tante widerfahren war, sprang auf und küßte sie auf die Stirne, indem sie sich zu ihr niederbeugte und ihr allerlei zuflüsterte, was zuletzt ein Lächeln auf den Zügen der Prinzessin hervorrief.

»Charmante enfant!« sagte Herr v. Schmetow, der Irene durch die Lorgnette beobachtete und sich dann davonschlich, da ihm die Fürstin, die hinzugetreten war, leise bemerkte, daß er [231] das Thema lieber vermeiden solle, da zuviel antagonistische Meinungen im Saale herrschten.

Am folgenden Morgen wartete Frau v. Sch... mit Ungeduld auf die Rückkehr ihres Sohnes. Es fiel ihr nicht ein, daß er ausbleiben könne, aber sie war doch in einer fieberhaften Unruhe, denn ihr liebendes Herz machte ihr Vorwürfe, daß sie ihn gekränkt habe, da er doch nun einmal für Ludmilla eingenommen sei und mit dem Eigensinn der Jugend dem Glauben an ihre Vortrefflichkeit huldige. »Vielleicht,« setzte sie in Gedanken hinzu, »ist Ludmilla wirklich so großherzig und ist gerade gegangen, um der Begegnung Iwans mit Irene nicht im Wege zu sein und vielleicht habe ich das nun durch meine Unvorsichtigkeit verdorben, indem ich ihn verletzt und trotzig gemacht habe.«

Wie wünschte sie ihn nun zurück, um alles wieder gutzumachen, um im Drang ihres dankbaren Gefühls Ludmilla zu erheben und ihm Irene wert zu machen durch die Erzählung ihrer Verteidigung Ludmillas. Wie lästig war es ihr daher, als um elf Uhr morgens die Prinzessin anrückte mit einem ganzen Warentransport hinter sich, den sie aus den besten Läden der Stadt hatte anschleppen lassen. Sie hatte die Manie, zu kaufen, und gewöhnlich ganz unnötige Dinge. Es war eine Qual für andere, mit dabei zu sein, denn sie verfuhr in der rücksichtslosesten Weise, warf die Sachen den Kaufleuten erbarmungslos durcheinander und tadelte bitter, oft ohne sie kaum angesehen zu haben. Der Ladendiener breitete einen Stoff vor ihr aus, sie schlug ihm verächtlich das Zeug aus der Hand und rief: »Pfui, welch ein abscheulicher Stoff!« Der Mensch sah sie etwas zornig an, da zog sie einen Schal mitten aus einem Paket heraus, so daß alles daraufliegende herunterfiel und ohne ihn nur einmal näher anzusehen, rief sie: »Den behalte ich, der ist geschmackvoll!«

Als nun der Ladendiener, der anfing, sich über sie zu amüsieren, seinen Vorteil einsah und ihr allerlei unnützen und geschmacklosen Tand anpries, indem er versicherte, er werde ihr sehr gut stehen und sei die neueste Mode, kaufte sie wirklich eine [232] Menge Gegenstände, bis sie sie plötzlich alle auf einen Haufen warf, in den Lehnstuhl sank und ausrief: »Ich bin erschöpft! Ich kann nicht mehr! Schnell, nehmen Sie all das Zeug fort, schicken Sie die Rechnung und lassen Sie mich in Ruhe. Mein Gott, wie bin ich angegriffen! Sergei, mon cher, etwas Eau de Cologne! so! – eine Fußbank, mein Lieber! – etwas weiter dorthin! – lassen Sie das Rouleau herunter, Bester, die grelle Sonne greift meine Nerven an!«

In diesem Stil ging es fort, bis die Fürstin und Irene im Wagen anlangten und Frau v. Sch...., Sergei und die Prinzessin abholten. Frau v. Sch... war in gedrückter Stimmung, doch hoffte sie zuversichtlich, Iwan am Abend zu Hause zu finden. Statt seiner war es abermals nur ein Brief, der meldete, daß er in Mannheim ganz unvermutet einen Freund aus Moskau getroffen habe, der ihn so sehr gequält hätte, ein paar Tage mit ihm nach Frankfurt zu reisen, daß er es nicht hätte abschlagen mögen, um so mehr, da er fühle, daß eine kleine Zerstreuung ihm sehr gut tun werde.

Frau v. Sch.... war betrübt und beleidigt zugleich und doch tröstete sie der Gedanke wieder, daß vielleicht neue Umgebungen und das Zusammensein mit einem Jugendfreund vorteilhaft auf Iwan wirken und dem verhängnisvollen Einfluß Ludmillas, dessen Stärke sie sich noch immer nicht ganz eingestand, einen Damm entgegensetzen könnten. Die Fürstin half ihr in der würdigsten Weise über die Verlegenheit hinweg, in die Iwans Betragen die Mutter ihr gegenüber setzte. Sie schien nicht nur nicht beleidigt, sondern freute sich, wie sie sagte, auf das Frühjahr, wenn sie, aus Italien zurückkehrend, sich in Paris mit den Sch... s, die den Winter da zubringen wollten, treffen und dann auch Iwan recht gründlich kennenlernen würde. Zwei Tage später wollte sie mit Irene abreisen. Die Prinzessin, die ihre Entschlüsse täglich änderte, wollte sie nun doch bis Genf begleiten, obgleich das Reisen sie so sehr anstrengte, von da aber wollte sie nach Paris und ruhig den Winter mit Frau v. Sch... zubringen.

[233] Am Abend vor der Abreise kam ein alter Bekannter der Fürstin, der am selben Tag erst in Heidelberg angekommen war, um sie noch zu sehen. Man war im Salon der Frau v. Sch... versammelt. Der Herr erzählte, er komme von einer Tour durch den Schwarzwald, das Murgtal und von Baden-Baden.

»Denken Sie nur, was mir passiert ist,« sagte er im Verlauf der Erzählung, »ich bin einer Berühmtheit, die ich so gerne kennengelernt hätte, begegnet, ohne es zu wissen. Als ich im Murgtal umherstreifte, fand ich auf einer romantischen Stelle an der wilden, rauschenden Murg ein Paar gelagert, die, wie ich mir dachte, in den Flitterwochen sein müßten, so ganz schien der junge Mann absorbiert in Liebe und Bewunderung für die schöne, üppige Frau, neben der er im Grase ruhte. Ich wurde um so mehr von der Gruppe angezogen, als russische Laute mein Ohr trafen, aber ich wagte nicht, das Gespräch der Liebenden zu unterbrechen, um mich als Landsmann vorzustellen. Als ich später über denselben Platz zurückkehrte, hatten sie ihn verlassen. Spät abends im Wirtshaus angelangt, hörte ich neben mir im Zimmer, wie es mir schien, auch Russisch sprechen, obgleich ich nichts verstehen konnte außer dem Namen Ludmilla, der von einer Männerstimme öfters ausgesprochen wurde. Ich war sehr ermüdet vom vielen Laufen und schlief lange. Als ich aufstand und an das Fenster trat, sah ich einen Wagen vor der Türe halten; eine Dame und ein Herr waren eben im Begriff, einzusteigen. Ich erkannte das Paar von gestern. Der Kellner brachte mir mein Frühstück und ich erkundigte mich nach den Fremden. Er sagte, es seien Russen, die zwei Tage hier verlebt hätten. ›Sie gaben sich für Geschwister aus,‹ setzte er mit einem zweideutigen Lächeln und der seiner Klasse anhängenden Redseligkeit hinzu, ›sie hatten zwei Zimmer nebeneinander, hier zunächst dem Ihrigen. Eine offene Türe führt aus dem einen in das andere,‹ fuhr er fort mit noch stärkerem Lächeln und Zwinkern der Augen.

»Zeigen Sie mir das Fremdenbuch,« unterbrach ich seinen [234] Drang nach Mitteilung. Er brachte es; ich las den Namen: Ludmilla C. Nun denken Sie sich meinen Unmut, dieser begabten Frau so nahe gewesen zu sein und ihr nicht wenigstens ein Wort der Huldigung, die man in Rußland ihrem Talente zollt, haben sagen zu können. Ich kann es bis jetzt noch nicht verschmerzen.«

»Und der Name des Herrn?« frug Frau v. Sch... mit kaum unterdrückter Bewegung.

»Iwan – Iwan – ach, ich erinnere mich des Namens nicht mehr; ich hatte früher nie den Mädchennamen von Madame C... gehört,« erwiderte der Herr; »übrigens gestehe ich, daß ich, nach der Szene in der romantischen Einsamkeit an der Murg, eher etwas den Vermutungen des Kellners beistimmen würde, wenn mich das etwas anginge und ich ein Recht hätte, über Madame C... zu urteilen.«

Frau v. Sch... war aufgestanden und, wie um etwas zu holen, in das Nebenzimmer gegangen. Die Fürstin, die den Zusammenhang schnell begriff, litt für ihre Freundin und suchte das Gespräch zu wenden, um so mehr, da es ihr um Irenes willen sehr unangenehm war. Aber die Prinzessin bemächtigte sich des Themas mit Leidenschaft.

»Ah voilà!« rief sie, »eine neue Illustration zu der unvergleichlichen Vortrefflichkeit von Madame C...! Also da hat sie wieder einen vielleicht seiner Familie und seinen Pflichten entführt! O ihr blinden Männer! Wie wehrlose Mücken schwärmt ihr um die gefährliche Flamme herum, bis ihr hineintaumelt und verbrennt. Was kümmert es die Flamme? Sie brennt ungerührt weiter und verschlingt neue Opfer.«

»Nun, das ist die Natur der Flamme, meine Gnädige,« versetzte der Herr; »sollen wir sie deshalb schmähen, weil ihr reizendes Licht so übermächtig zauberisch lockt, daß die Mücke im Sehnsuchtsdrang sich in diesen seligen Tod stürzt?«

»Ah pardon! Hier hört der Vergleich auf,« versetzte die Prinzessin, indem ihr mageres, ohnehin etwas kupferiges Gesicht von Eifer noch mehr erglühte; »die Flamme mordet bewußtlos, [235] deshalb ist sie unschuldig; eine Frau, die wie Madame C... die Kinderschuhe längst ausgetreten hat, die einen guten, rechtschaffenen Mann und ein Kind hat, die weiß, was sie tut. Und das ist ja eben das Abscheuliche an einer Kokette, daß sie mit kaltem Blut, selbst ungerührt, ihre Opfer in das Verderben lockt.«

»Meine Beste, höre doch auf mit diesem ewigen Verfolgen von Madame C....« sagte die Fürstin, »du ziehst nur den Verdacht auf dich, du habest ein persönliches Motiv dabei, was bei deinem edlen Herzen gewiß nicht der Fall ist. Eine Frau von großem Talent, die, auf dieses Talent gestützt, allein hinaustritt in die Welt, hat bei den heutigen sozialen Begriffen noch einen so schweren Stand, daß es fast unmöglich für sie ist, nicht gegen hergebrachte Meinungen anzustoßen, wenn sie den mannigfaltigen, reichen Bedürfnissen einer Künstlernatur genügen will, und das muß sie doch um ihres Talentes willen. Ich gestehe, ich bin selbst sehr begierig auf die Bekanntschaft mit Madame C..., um mir mein eigenes Urteil zu bilden und ich hoffe, wir begegnen ihr irgendwo auf der Reise.«

Nach mehreren Tagen kehrte Iwan zurück. Frau v. Sch..., die nicht mehr daran zweifelte, daß es ihr Sohn gewesen sei, der mit Ludmilla zusammen gesehen worden war, war äußerst unwohl von der tiefen, schmerzlichen Erschütterung, die ihr dieser erste Betrug, den sie von ihm erlitten hatte, verursachte. Sie verbrachte ihre Nächte in Tränen und ihre Tage in dumpfem Brüten. Vergebens wollte Sergei es ihr ausreden, daß es Iwan gewesen sei. Sie war aus ihrem Vertrauenstraum geweckt und wie es oft zu gehen pflegt bei weichen, hingebenden Naturen, wenn sie gewaltsam zum Bewußtsein gebracht werden: das Mißtrauen war für immer bei ihr eingezogen. Sie lag unwohl zu Bett, als Iwan am Abend ankam. Sie wollte sich zwingen, kalt zu sein, aber als der Liebling nun vor ihr stand und der Gedanke über sie kam, daß dieser Sohn, ihr Stolz, ihre Hoffnung für die Zukunft, sie so getäuscht, so absichtlich verletzend gehandelt hatte, da verwandelte [236] sich ihr Zorn in grenzenlosen Schmerz und sie weinte laut. Iwan war erschüttert, denn Sergei hatte ihm schon auf der Treppe zugeflüstert, daß die Mutter alles wisse. Er ergriff ihre Hand und küßte sie, ohne ein Wort zu sagen.

»Möge dein eigenes Herz dir vergeben, wie ich es tue,« sagte Frau v. Sch.... endlich, als sie die Sprache wiederfand; »ich kann dir nicht zürnen. Ich beklage nur das Unglück, in das du dich stürzest. Eine Leidenschaft, die dich schon so verblendet, daß du der Wahrheit untreu wirst, daß du dich scheust, deiner Mutter einzugestehen, bis wohin sie dich fortreißt – – –. Noch, hoffe ich, ist das Schlimmste nicht geschehen, noch, hoffe ich, bist du frei. Aber wird es nicht dahinkommen, daß du dieses Weib an dich bindest und dir selber die Möglichkeit eines edlen, glücklichen Familienlebens nimmst?«

»Mutter, dies Weib, wie du sie nennst, ist die einzige Frau, die dein Sohn je lieben wird. Es war eine Pflicht für mich, der Fürstin zu zeigen, daß ich nicht daran denke, nach der Hand ihrer Tochter zu streben. Einige Tage des heiteren Naturgenusses und der Ruhe, in Gesellschaft der geistreichsten und liebenswürdigsten Frau, die ich kenne, wie hätte ich ein solches Glück aufgeben sollen? Ich sagte es dir nicht, weil du zum erstenmal im Leben den Wünschen meines Herzens widerstrebst und ich es vermeiden wollte, dich unglücklich zu machen. Daß der Zufall dir es verriet, tut mir leid um deinetwillen.«

»Und Madame C..., die mir schrieb, sie müsse nach Stuttgart,« sagte Frau v. Sch... bitter.

»Sie ist nach Stuttgart, Mutter, das ist ganz wahr,« versetzte Iwan eifrig, erfreut, hier wenigstens im Recht zu sein, »sie wird wohl noch vierzehn Tage ausbleiben.«

Frau v. Sch... fühlte sich erleichtert und ihr Herz lenkte schon zur Milde. Trennung schien ihr wieder Hoffnung. Wie um abzulenken, fragte sie:

»Und wo ist Wanda?«

»Sie ist hier mit der Bonne, Ludmilla – bat sogar, ob du dich ihrer nicht während der Zeit annehmen wolltest?« [237] sagte Iwan verlegen und doch voll Zuversicht, bei seiner Mutter die rechte Saite angeschlagen zu haben.

»Das arme Kind ist unschuldig, es mag kommen,« sagte Frau v. Sch..., ohne ihren Sohn anzusehen.

»Dank, Mütterchen, Dank; ich wußte es ja, du bist gut und du willst auch nicht, daß dein Iwan leidet; laß mich doch gewähren! Ich bin jung und die Jugend will ihr Recht haben.« Bei diesen Worten zog er den Kopf seiner Mutter an seine Brust und liebkoste sie. Frau v. Sch... schwieg, aber sie konnte dem Zauber nicht widerstehen.

»Sein Vertrauen, sein Vertrauen doch vor allem,« rief es in ihrem Herzen und zuletzt lächelte sie ihm unter Tränen zu.

In den folgenden Tagen war Iwan voll der größten Zärtlichkeit für seine Mutter. Er kaufte neue Bücher, las ihr vor, fing an zu arbeiten, Ludmillas Namen wurde nicht genannt. Dafür aber hatte Frau v. Sch... die arme kleine Wanda den ganzen Tag bei sich und nahm sich ihrer mütterlich an. Iwan war heiter und fleißig und das allzu leichtgläubige Mutterherz lebte auf. Nach vierzehn Tagen aber trat eines Abends Ludmilla wieder ein. Frau v. Sch... fühlte bei ihrem Anblick die alte Sorge zurückkehren, denn Iwans Gesicht leuchtete von solchem Glück, daß sie sah, es war nichts geändert. Sie konnte sich daher kaum zwingen, höflich zu sein und begegnete Ludmilla nicht in alter Weise. Diese schien es nicht zu bemerken, dankte Frau v. Sch... für ihre Güte gegen Wanda, hatte tausend freundliche Worte für Sergei, war unbefangen freundlich mit Iwan und feierte ein überaus herzliches Wiedersehen mit Herrn v. Schmetow, der kurz nach ihr in das Zimmer trat.

»Sie hier, bester Schmetow? Welch ein Glück für mich, nun habe ich doch einen Freund, einen Beschützer,« rief sie, indem sie Schmetow ihre beiden Hände reichte, die dieser nacheinander an seine Lippen führte. Frau v. Sch... sah unwillkürlich auf Iwan. Seine Stirne war finster und seine Lippen bebten. Schmetow setzte sich zu Ludmilla; er konnte nicht Worte genug finden, sein Glück zu schildern, daß er sie [238] wiedergefunden habe; sie hatten sich gegenseitig soviel zu sagen, sie sprachen von Verhältnissen, die den Sch...s unbekannt, der Zeit vor ihrer Bekanntschaft mit Ludmilla angehörig waren; mit Lachen wurde besonders einer Person, die durch einen Spottnamen bezeichnet wurde, gedacht; aus dem Zusammenhang erriet man, daß Ludmillas Mann gemeint sei. Da noch einige Personen anwesend waren, so waren Frau v. Sch... und Sergei anderweitig beschäftigt. Iwan ward von Minute zu Minute düsterer, er antwortete gar nicht oder nur einsilbig und mürrisch auf Fragen, die man an ihn richtete und seine Augen hafteten mit einem Ausdruck von Wut auf den beiden in ihr Gespräch Vertieften. Jedermann sah und erriet das Drama, das sich hier vorbereitete und Frau v. Sch... bemerkte es an den Blicken der Anwesenden, daß ihr Familienleid kein Geheimnis mehr sei. Nur Ludmilla und Schmetow schienen nichts zu bemerken; sie waren so miteinander beschäftigt, daß sie auf nichts um sich her acht gaben. Endlich erhob sich Ludmilla, um zu gehen.

»Ich begleite Sie, meine verehrte Freundin«, sagte Schmetow.

Iwan trat rasch zu Ludmilla heran, aber noch ehe er ein Wort sagen konnte, hielt diese ihm die Hand hin und sagte mit freundlichem Lächeln: »Gute Nacht, Iwan!« Dann ergriff sie Schmetows Arm und eilte fort.

Iwan stampfte mit dem Fuße auf die Erde, seine Züge waren von Wut entstellt, er stürzte an das Fenster, drückte sein heißes Gesicht an die Scheiben und starrte in die Nacht hinaus. Frau v. Sch... sah besorgt nach ihm hin, Sergei nahte sich ihm und legte seine Hand auf seinen Arm, da fuhr Iwan auf: »Nein, das muß auf der Stelle ins reine kommen,« rief er mit bebender Stimme und ehe noch Mutter oder Bruder es hindern konnten, hatte er seinen Hut ergriffen, stürzte zur Türe hinaus und die Treppe hinunter.

Frau v. Sch... war außer sich. »Was wird das geben, wenn er Schmetow beleidigt und sie sich schlagen – Gott, Iwan, Iwan! Diese unselige Liebe wird ihn noch töten!« [239] rief sie jammernd. Dann wollte sie selbst nacheilen oder Sergei schicken; aber die Überzeugung, daß ihre Gegenwart Iwan nur erbittern werde und die Angst, auch Sergei in den Handel zu verwickeln, machten sie unschlüssig. Vergebens bemühte sich Sergei, sie zu bewegen, zu Bett zu gehen, indem er versprach, wenn Iwan in einer halben Stunde nicht zurück sei, wolle er fort, ihn zu suchen. Davon wollte sie nichts wissen. Endlich nahm sie Hut und Schal, ergriff Sergeis Arm und begab sich auf die Straße. Am Hotel angelangt, wo Schmetow wohnte, schickte sie Sergei hinein, um zu fragen, ob dieser schon im Hause sei. Der Kellner erwiderte, daß der russische Herr vor einiger Zeit allein nach Haus gekommen und bereits in sein Schlafzimmer gegangen sei. Das beruhigte Frau v. Sch... etwas und sie schlug nun den Weg nach Ludmillas Wohnung ein. Es war noch hell im Zimmer, aber die Vorhänge waren niedergelassen und es war unmöglich zu sehen, was im Innern vorging. Doch fühlte und wußte Frau v. Sch..., daß Iwan hier sei. Sie stand eine Zeitlang unter dem Fenster, unschlüssig, ob sie hineingehen solle oder nicht, aber Sergei beschwor sie, es nicht zu tun. Er sagte, er kenne seinen Bruder viel zu gut, um nicht zu wissen, daß es ihn tief beleidigen, ihn vielleicht für immer von den Seinigen entfernen würde. Dieser Grund überwog bei der Mutter und schweren Herzens ging sie wieder heim. Kein Schlaf kam auf ihre Augenlider; sie zählte die Stunden der Nacht, die langsam dahinschlichen, um zu hören, wann Iwan heimkehre.

Dieser war indes, als er das Haus verlassen hatte, direkt auf Ludmillas Wohnung zugeeilt. In kleiner Entfernung hielt er jedoch an, denn er sah Ludmilla und Schmetow noch vor derselben stehen. Endlich empfahl sich der letztere und ging. Iwan eilte hin. Er fand das Haus noch offen, pochte an Ludmillas Türe, trat aber auch zugleich ein. Sie sah ruhig und heiter aus, aber als sie ihn erblickte, flog eine Wolke über ihr Gesicht.

»Halten Sie so Ihr Versprechen, mein Herr?« sagte sie [240] kalt. »Es war Bedingung, daß Sie hier bescheiden und vorsichtig sein sollten.«

»Und glaubst du, daß ich das ertragen werde, Ludmilla, dich mit einem andern freundlicher zu sehen, als du es je mit mir gewesen bist? Wissen muß ich, was das für ein Verhältnis ist mit diesem Schmetow, der wahrlich tut, als hätte er ältere Rechte auf dich, als ich. Ha! wenn ich das fände, – es wäre sein Tod oder meiner.«

»Tor!« sagte Ludmilla, indem sie fast verächtlich mit den Schultern zuckte. »Verhältnis? Was für ein Verhältnis? Ich kenne Schmetow von Petersburg her; er ist mein ergebener Freund; ich verehre ihn hoch, höher als alle andern Männer, ich könnte ihm jedes Opfer bringen. Fange nur nicht an, den Othello mit mir zu spielen, das ist lächerlich und ich hasse das Ridiküle! Von deinen Rechten weiß ich nichts: ich habe mich nie des Rechts begeben, meine Freundschaft zu verschenken, an wen ich will.«

Kaum hatte sie dies gesagt, so sprang Iwan wie ein Tiger, den das tödliche Blei verletzt hat, mit zornflammenden Augen auf sie zu, faßte die beiden Enden eines seidenen Tuches, das sie um den Hals geschlungen hatte und riß sie auf das Sofa nieder; hier zog er das Tuch fest zu und rief: »Wiederhole noch einmal deine letzten Worte und deine Lippen werden nie wieder freveln. Ehe ich dich einem andern Manne lasse, eher will ich dich tot vor mir sehen! Schwör' es, daß du nur mein sein willst für ewig und du sollst leben!«

Ludmilla war im ersten Moment vom Schreck betäubt: eine Veränderung ging in ihrem Verhältnis vor sich, er, der bisher der Sklave gewesen war, wurde nun ihr Meister. Sie hatte mit einem noch halb knabenhaften Jüngling zu spielen geglaubt, jetzt stand der Dämon einer Leidenschaft vor ihr, der höchstens durch List besiegt werden konnte, aber, durch Widerstand gereizt, zu allem fähig war. Sie schlug die Augen zu ihm auf und ihr Blick, der um Mitleid zu flehen schien, entwaffnete Iwan. Er ließ das Tuch los und sank vor ihr auf die Knie.

[241] »Ludmilla, vergib, meine Liebe riß mich fort, aber du hast mich auch zu hart geprüft heute abend.«

»Ich Unglückliche,« flüsterte Ludmilla mit noch zitternder Stimme, »diesem Menschen habe ich mein Herz gegeben und meine Ehre anvertraut.«

Sie wendete sich ab von ihm und wollte ihn nicht ansehen, wieviel Iwan auch bat und flehte. Nun brach er im Schmerz zusammen, er riß sich selbst an den Haaren, er krümmte sich im Staube zu ihren Füßen, er schwor, nie wieder an ihr zu zweifeln, nie wieder sie öffentlich durch seinen Unmut beleidigen zu wollen. Er ruhte nicht, bis sie vergeben hatte und dann vergaß er alles im Rausche der Sinne.

Im Morgengrauen hörte Frau v. Sch... die Haustüre öffnen und leise Schritte die Treppe heraufkommen. Sie sprang vom Sofa, wo sie angekleidet lag, auf und öffnete die Zimmertüre. Im fahlen Dämmerlichte des Morgens standen sich Mutter und Sohn gegenüber, beide geisterhaft bleich, beide sich anstarrend wie zwei Schatten aus dem nächtigen Reich der Qualen, das Dante so viel besser zu schildern vermocht hat als das Paradies, weil die Qual dem Erdgebornen mehr bekannt ist als die Seligkeit leidenloser Geister.

»Mutter!« flüsterte Iwan nach einem Augenblick schwerer Stille und reichte ihr die Hand. Sie gab ihm die ihre nicht, sie fragte nur mit klangloser Stimme: »Hast du Streit mit Schmetow?«

»Nein, nein, beruhige dich!« rief er.

Sie sah ihn an, als wollte sie in seinen Zügen lesen, ob er ihr diesmal die Wahrheit sage, dann wandte sie sich in ihr Zimmer und verschloß die Türe von innen.

»Mutter!« stöhnte Iwan, indem er gegen die Türe lehnte – aber – zum erstenmal im Leben öffnete sich ihm diese nicht.

Erst gegen Mittag wurde Frau v. Sch... sichtbar. Sie war gealtert in dieser einzigen Nacht, aber sie war ruhig. Ernst und bestimmt erklärte sie ihren Söhnen, daß sie sich bereit [242] zu halten hätten, in drei Tagen mit ihr nach Paris abzureisen.

»Hier ist doch schon einmal alles verfehlt; aus dem Arbeiten wird nichts, dort werdet ihr hoffentlich anfangen zu beobachten und zu lernen, damit unsere Reise endlich auch segensreiche Früchte trage,« sagte sie.

Beide Söhne nahmen schweigend ihre Entscheidung hin; sie fühlten beide, daß sie ihr jetzt nicht widersprechen durften. Ihr kummervolles Aussehen lag auf beider Herzen als ein Vorwurf, denn auch Sergei mußte sich sagen, daß er mehr dem Bruder gedient hatte als ihr. Beide liebten sie zärtlich, soweit es der durch die mütterliche Schwäche in ihnen entwickelte Egoismus zuließ. Sergei freute sich überdies auf Paris und Iwan beschloß sogleich in seinem Herzen, das nicht zu entbehren, was ihm schon unentbehrlich war. Er benutzte den ersten Moment, wo er unbemerkt entschlüpfen konnte und eilte zu Ludmilla. Am Abend erschien sie wie gewöhnlich. Frau v. Sch... empfing sie kalt. Ludmilla war ganz unbefangen heiter und erzählte, daß sie am nächsten Morgen Heidelberg verlasse und mit Herrn v. Schmetow nach Wiesbaden gehe, wo dessen Frau zur Kur sei, die sie zum Besuch eingeladen habe. Frau v. Sch.... schaute Iwan an, er sah ruhig aus. Ein Hoffnungsstrahl zuckte von neuem durch der Mutter Herz. Die Trennung, Paris auf der einen, auf der andern Seite Ludmilla im Kreise von Menschen, die ihren leicht bestimmenden Entschlüssen vielleicht eine ganz neue Richtung geben würden, – alles das belebte sie wieder. Sie nahm einen kalten Abschied von Ludmilla, ohne das bittere Lächeln zu sehen, das einen Augenblick um deren Mundwinkel zuckte.

Nach einigen Tagen war sie mit ihren Söhnen auf dem Wege nach Paris. Ludmillas Namen wurde nicht genannt; sie wurde nie erwähnt. Iwan nahm sich sichtlich zusammen, dennoch war eine Art fieberhafter Unruhe in ihm sichtbar, die Frau v. Sch... auf Kosten der Trennung schob und natürlich fand, da sie nicht hoffen durfte, das Gefühl, das so [243] viel Macht über ihn gewonnen hatte, mit einemmal schwinden zu sehen.

Nachdem sie sich in Paris eingerichtet hatten, machte Iwan Anstalten zum Studieren. Er wählte mehrere Kurse am Collège de France und an der Sorbonne, die er besuchen wollte, dann streifte er mit Sergei bei den Sehenswürdigkeiten von Paris umher; des Abends besuchten sie alle zusammen Theater und Konzerte oder empfingen Landsleute, die sich gleich in großer Anzahl bei ihnen einfanden, da sich deren in Paris immer viele aufhalten. So vergingen mehrere Wochen. Frau v. Sch... fing an zu hoffen und die natürliche Lebhaftigkeit ihres Geistes, mit der sie alles, was nur irgend Interesse hatte, erfaßte, kehrte zurück. Um so größer war daher ihr Schreck und ihre Entrüstung, als eines Abends ein Bekannter bei ihr eintrat und ausrief: »Ich habe Ihnen eine angenehme Nachricht zu bringen; soeben ist Ludmilla C... in dem Hotel angekommen, wo ich wohne.«

Frau v. Sch... fand keine Antwort; Iwans Gesicht erglühte in Flammen, nur Sergei rief unbedacht:

»Ah Gottlob! wenn Ludmilla kommt, dann fängt das schöne Leben erst recht an.«

»Sie ist mit Herrn v. Schmetow zusammen gekommen,« fuhr der Herr fort.

»Und Frau v. Schmetow?« frug ein anderer der Anwesenden.

»Die ist mit den Kindern nach Rußland zurück, wie ich höre,« erwiderte der erste.

Frau v. Sch... suchte Iwans Blick; er vermied sie anzusehen, aber ein Ausdruck tiefer Pein lag in seinen Zügen. Nach einigen Augenblicken verschwand er aus dem Zimmer und kehrte nicht zurück.

»Der Zauber lebt noch und die Gefahr ist wieder neu,« dachte Frau v. Sch...

In der schlaflosen Nacht, die sie verbrachte, überlegte sie reiflich, was zu tun sei. Am Morgen kam Iwan ihr entgegen und sagte mit einiger Verlegenheit: »Ich ging gestern abend, [244] um Ludmilla noch einen Augenblick zu sehen und mich zu erkundigen, was das mit Schmetow für eine Bewandtnis habe: das ist nichts! Ganz einfach und natürlich. Frau v. Schmetow war zur Kur in Wiesbaden und ist nach Rußland zurück der kleinen Kinder wegen, mit denen das Reisen zu beschwerlich ist. Er, Schmetow, hat wissenschaftliche Zwecke in Europa, weshalb er hierher mußte. Später geht er nach Italien und da Ludmilla immer die Absicht hatte, hier den Winter zuzubringen, um zu studieren und zu komponieren, so hat er sie hierher begleitet. Sie nimmt ein kleines Logis für sich allein, Wanda wird sie in eine Pension geben. Sie läßt sich deshalb bei dir entschuldigen, daß sie heute noch nicht kommen kann, dich zu sehen, da sie zu sehr mit den Einrichtungen beschäftigt ist. Sobald es ihr möglich ist, kommt sie.«

»Iwan,« erwiderte Frau v. Sch... mit Würde, »höre, welch einen unwiderruflichen Entschluß ich gefaßt habe. Ich werde Madame C... nicht mehr bei mir empfangen. Wenn ich es täte, so würde ich den Menschen das Recht geben zu sagen, daß ich ein Verhältnis, das ich aus tiefster Seele beklage, begünstige und die Mätresse meines Sohnes beschütze. Das geht nicht an! Ich habe von jeher deine Freiheit geachtet – du kannst handeln, wie du willst. Wenn du eine unsinnige Liebe deiner Ehre, deiner Zukunft, deiner Mutter vorziehst, so kann ich dich beweinen, aber nicht hindern. Nur Teilnehmerin an diesem Vergehen kann ich nicht sein.«

Iwan lehnte bleich und zitternd seiner Mutter gegenüber an der Wand. Zum erstenmal im Leben hörte er von ihr diese Sprache, fand er diesen ruhigen, entschiedenen Widerstand. Er war beleidigt, verletzt, erschüttert. Zorn und Stolz kämpften in ihm mit seinem besseren Selbst, mit seiner Liebe zu der Mutter, mit der Stimme seines Gewissens, das ihm sagte, sie habe recht. Die Sophistik der Leidenschaft siegte.

»Mutter,« sagte er bitter, »mein ganzes Leben hindurch hast du mir von deiner Liebe gesprochen und daß mein Glück dir über alles teuer sei. Du hast unendlich viel für mich getan, aber das ist natürlich für eine Mutter. Jetzt kommt die erste [245] große Probe und da siegt der Egoismus deiner persönlichen Wünsche. Die Frau, die dein Sohn liebt, sollte wie eine geliebte Tochter in deinem Hause empfangen werden, und du verschließest ihr deine Türe wie einer gemeinen Dirne.«

»Nein, Iwan, führe mir das ärmste Mädchen zu, wenn sie redlich und unbescholten ist und dich liebt, will ich sie als meine Tochter an das Herz drücken. Aber eine Frau, die dich zur Lüge gegen deine Mutter verleitet und deine Jugend in ein unhaltbares Verhältnis verstrickt, kann ich nicht achten, folglich nicht in meinem Hause dulden. Und – was die Hauptsache ist – kannst du glauben, daß eine solche Frau dich liebt?«

Iwan erschrak sichtlich bei dieser Frage. »Ich – ich glaube fest, daß sie mich liebt,« stotterte er, »ja, sie liebt mich,« fuhr er heftiger werdend fort, »und ich werde ihre Liebe jedem streitig machen, der sich vermessen wollte, danach zu streben. Wenn du sie nicht hier sehen willst, so verbannst du mich aus deinem Hause, denn ich kann keinen Tag sein, ohne sie zu sehen. Sie ist mein Weib und mein Platz ist bei ihr.«

»Sie ist das Weib des Herrn C..., die Mutter seines Kindes, das ist das einzige, was ich wissen will,« sagte Frau v. Sch... stolz, wendete ihrem Sohne den Rücken und ging in ihr Schlafzimmer.

Sergei fing nun auch an, dem Bruder Vorwürfe zu machen; er habe nicht gedacht, daß es so weit gehen würde, sonst würde er sich nie zum Schützer dieses Geheimnisses gemacht haben usw. Iwan wies ihn heftig zurück. Eine peinliche Stimmung herrschte in der Familie, als man sich zu den Mahlzeiten zusammenfand. Zum Glück erleichterte die Gegenwart von Gästen das schwere Zusammensein.

Am Abend verließ Iwan abermals das Haus und ging zu Ludmilla. Sie hatte schon ihr kleines Quartier bezogen und war allein. Wanda war in die Pension gebracht worden. Sie empfing Iwan in heiterer, übermütiger Stimmung, erzählte ihm alle ihre Erlebnisse und sagte ihm endlich, sie werde am folgenden Tage kommen, seine Mutter zu sehen; »obgleich [246] unser Abschied nicht sehr warm war,« setzte sie etwas spöttisch hinzu.

Iwan mußte ihr nun den Entschluß seiner Mutter mitteilen; er tat es, ohne sie anzusehen, sein Gesicht in seine Hände vergraben und mit bebender Stimme. Er sah den Ausdruck in Ludmillas Gesicht nicht. Aus ihren Augen blitzte ein Strahl des Hasses und um ihre Lippen zuckte höhnischer Zorn. Das war aber nur einen Augenblick lang, dann sagte sie ruhig:

»Nun und Iwan wird gehorsam sein und seiner Mutter folgen?«

»Ludmilla, sündige nicht an mir und zweifle nicht an meiner Liebe; um ihretwillen kann ich jedes Band zerreißen, wenn es sein muß.«

Er warf sich ihr zu Füßen, er beteuerte unter Schwüren und Tränen, daß nichts ihn von ihr trennen könne. Ludmilla ließ sich überzeugen, sie war liebenswürdiger, verführerischer als je, so daß Iwan nach Hause ging mit den bittersten Vorwürfen gegen seine Mutter im Herzen, daß sie solch ein Weib verstoßen könne.

Das Leben im Hause der Frau v. Sch... war von nun an ein Leben der Qual. Sie blieb fest bei ihrer Weigerung, Ludmilla zu sehen, aber sie hatte nicht Festigkeit genug, Iwan ungestört seinen Weg gehen zu lassen und ihren Schmerz in sich zu verschließen. Iwan vermied das Haus mehr und mehr. Kein Abend verging, den er nicht bei Ludmilla zubrachte, selten, daß er es über sich gewann, den ganzen Tag verstreichen zu lassen, ohne sie wenigstens flüchtig auch schon im Laufe desselben gesehen zu haben. Jeder dieser Besuche war der Mutter ein Stich in das Herz. Schlaflos und in Tränen gebadet, lag sie die halben Nächte durch, bis sie ihn zurückkommen hörte. Dann rief sie ihn, er setzte sich zu ihr auf das Bett und sie verbrachten die zweite Hälfte der Nacht in fruchtlosen Diskussionen, die einen wilden Schmerz in beiden aufregten, ohne ein Resultat herbeizuführen. Beider Gesundheit fing an zu leiden. Frau v. Sch... sah ihren Liebling [247] bleich und mager werden, oft kam er auch mit verweinten Augen von Ludmilla zurück und das brachte die Mutter zur Verzweiflung.

»Glaubst du, daß wir glücklich sind, daß wir nicht leiden, sie und ich?« fragte er seine Mutter vorwurfsvoll, wenn sie ihm von ihrem Schmerz sprach. Dann verschloß sie wieder den Gram in ihre Brust, nur um den Sohn zu schonen.

Die Prinzessin war inzwischen angekommen. Sie sah das Treiben, was übrigens für den ganzen Bekanntenkreis kein Geheimnis war, und war empört.

»Aber, beste Christiane Alexandrowna, das ist ja entsetzlich! der junge Mann verdirbt sich ja seine Karriere! Mein Gott, um einer solchen Frau willen! Wenn sie noch schön wäre! Aber – mauvais genre! Ganz und gar! Nichts tut er, nichts studiert er, zu den Füßen von Madame seufzt er, das ist alles. – Ha! wäre er mein Sohn, ich würde dem schnell ein Ende machen!«

Solche Äußerungen erbitterten Frau v. Sch... natürlich immer mehr gegen das Verhältnis ihres Sohnes und diesen brachten die Ausfälle gegen Ludmilla, die die Prinzessin in Iwans Gegenwart wagte, bis zur Grobheit gegen diese letztere. Bei Ludmilla selbst war er übrigens auch in beständiger Sorge und Aufregung, denn nicht nur, daß Schmetow ihr täglicher Besucher und feuriger Verehrer war, auch andere Herren ließen sich einführen und huldigten der Anziehungskraft, die sie auf Männer ausübte. Alle Qualen der Eifersucht fingen an in Iwans Herzen zu wühlen und in dem Kampf der verschiedenen Empfindungen verlor er gänzlich jede Energie, einen andern Entschluß zu fassen oder etwas zu tun, was diesem Zustand ein Ende machen konnte.

Es war der Geburtstag seiner Mutter. Sergei hatte ihn gebeten, wenigstens den Abend mit ihnen zuzubringen. Die beiden Brüder waren nicht mehr so zärtlich miteinander wie früher. Frau v. Sch.... hatte Sergei verboten, zu Ludmilla zu gehen und er hatte es nicht gewagt, dies Verbot zu überschreiten. Iwan ließ es ihn aber fühlen, daß er sein Idol [248] beleidige. Doch hatte er es Sergei zugesagt, an diesem Tag nur auf eine Stunde zu Ludmilla zu gehen und für den Rest des Abends zurückzukommen. Er fand die Geliebte allein und in Tränen, wie jetzt öfter. Sie beklagte ihr unglückliches Los, gebunden zu sein, aber doch allein und hilflos.

»Was ist mein Talent und der Ruhm, den es mir bringt?« sagte sie. »Wer weiß, ob die Inspirationen dauernd sein werden, und wenn auch – füllt das Talent das Leben des Weibes aus? Die rechte Liebe habe ich noch nicht gekannt und wäre sie auch in meinem Herzen erwacht, muß ich sie nicht bekämpfen? Ich bin ja nicht frei und du bist es auch nicht; du darfst deiner Mutter nicht ungehorsam sein.«

Mit tausend, schon unzähligemal wiederholten Schwüren suchte Iwan sie zu beruhigen, ihr zu versichern, daß sein Leben ihr gehöre und nur ihrem Glück geweiht sei. Sie ließ sich endlich überreden und gewann ihren Frohsinn wieder. Nun aber mußte es ihr Iwan sagen, daß er sie für heute verlassen müsse. Sie erwiderte nichts. Er ergriff Hut und Überrock, wollte gehen und reichte ihr die Hand. Sie berührte sie kaum mit der ihrigen und sagte mit eiskaltem Tone:

»Adieu, Herr v. Sch...!«

»Ludmilla,« rief Iwan, »was ist das? So darfst du mich nicht entlassen.«

»Gehen Sie!« sagte sie, indem sie sich stolz zurücklehnte. »In dem Augenblick, wo das Weib, das Sie zu lieben vorgeben, unter seinen Schmerzen und der Qual seiner Einsamkeit zu erliegen droht, eilen Sie zurück in den reichen Salon Ihrer Mutter, damit die festliche Gesellschaft nicht merke, daß Sie die arme, einsame Frau besuchen, die Ihre Mutter hochmütig zurückstieß. Gehen Sie und kommen Sie nie zurück.«

Sie wendete sich ganz von ihm ab. Iwan sank ihr in Verzweiflung zu Füßen. »Ludmilla, du bist abscheulich, du bist grausam; aber meine Liebe ist stärker als alles. Sie ist eine dämonische Gewalt, die mich zwingt, dir Ehre, Pflicht und Dankbarkeit zu opfern. Ludmilla, entschädige mich für diese [249] Opfer, für die Jugend, die ich zu deinen Füßen verseufze, anstatt sie in edlen Taten zu gebrauchen; entschädige mich, sonst muß ich verzweifeln.«

Sie wollte ihn erst nicht hören, dann bat und beschwor sie ihn, zu gehen, brach in Tränen aus und sagte, sie wolle ihn nicht von seiner Mutter trennen, sie könne solche Opfer nicht annehmen. Aber nun blieb er und sie weinten miteinander Tränen verzweifelnder Leidenschaft, Wut und Reue. –

Iwan kam nicht wieder zum Geburtstagsfest. Erst am frühen Morgen hörte ihn die in Tränen wachende Mutter zurückkehren. Aber sie rief ihn nicht zu sich herein.

Am folgenden Tag, als Iwan zu Ludmilla kam, fand er sie lebhaft aufgeregt. Sie teilte ihm mit, daß Schmetow bei ihr gewesen sei und sie aufgefordert habe, mit nach Nizza zu gehen, wohin er zu reisen gedenke.

»Ich habe es zugesagt,« fügte sie hinzu, »denn der Zustand hier ist mir unerträglich geworden. Die stolze Zurückweisung deiner Mutter, dein ewiges Schwanken zwischen ihr und mir, diese aufregenden Szenen – alles das ertrage ich nicht mehr. Meine Gesundheit leidet, meine Kraft zum Schaffen geht verloren; ich muß mir Geld verdienen oder in die Abhängigkeit zu meinem Mann zurückkehren – alles das hat mich be stimmt. Die Reise mit Schmetow wird herrlich sein; er ist geistreich, unterrichtet; ich werde viel von ihm lernen. Er versteht sich auf alle praktischen Einrichtungen, die mir ein Greuel sind; er wird für Logis und alles übrige sorgen. Ich soll nur genießen, wie er sagt, und das ist reizend, das ist, was meine Natur verlangt. Ich nehme Wanda morgen aus der Pension und in acht Tagen reisen wir.«

»Dann gehe ich mit,« rief Iwan, »keine Macht der Erde hält mich zurück. Ich dich allein lassen mit Schmetow? Wie oft du mir auch versichert hast, daß du ihn nur wie einen Freund betrachtest – nimmermehr! Ich kann nicht ohne dich leben, und dudarfst nicht ohne mich gehen, denn du bist mein. Zudem kann ich auch das Leben im Haus nicht mehr aushalten. Das ewige Weinen, die wenn auch nur stummen Vorwürfe [250] meiner Mutter töten mich. Es ist eine Hölle und es ist Pflicht für mich, mich daraus zu retten.«

Ludmilla triumphierte innerlich, daß die Schmach, die Frau v. Sch... ihr angetan hatte, gerächt sei. Auch war ihr Iwan noch unentbehrlich. Sie hoffte, daß er, fern von seiner Mutter, die Lust der Jugend, den wilden Lebensdrang, der vom Augenblick die volle Schale fordert und sich für die kommende Stunde blind macht, wiederfinden werde. Dabei schmeichelte ihr des Jünglings anbetende Liebe auch viel zu sehr, um ihn zurückzuweisen. Als alles zwischen ihnen verabredet war, blieb nur die Schwierigkeit für Iwan, es seiner Mutter zu sagen. Der Zufall kam ihm zu Hilfe. Die Prinzessin, die mit ihnen im selben Hause wohnte, kam zum Frühstück mit einem Brief der Fürstin und erzählte, daß diese geschrieben habe, sie werde in einigen Wochen über Nizza zurückkehren und nach Paris kommen. »Irene scheint sehr glücklich,« fuhr sie mit absichtlicher Betonung fort; »sie studiert die großen Ideale der Kunst und welche Wirkung das auf ihre reine, empfängliche Seele machen muß, kann ich mir denken. Wie freue ich mich darauf, Irene wiederzusehen! Ihre Erziehung ist doch zum Teil mein Werk; ma cousine ist eine energische Frau und hat die einzige Tochter mit vieler Konsequenz erzogen, aber wenn sie mich nicht zur Seite gehabt hätte, wäre es doch nicht so geworden. Mon Dieu! den Kindern muß man nicht allen Willen lassen und vor allen Dingen muß man den bon goût, das savoir faire und die vollkommene aisance der gebildeten Welt in ihnen entwickeln. Eine Frau, die nicht bon genre ist, ist mir ein horreur und ich begreife nicht, wie ein Mensch von Bildung sich in eine solche verlieben kann.«

Iwan unterbrach sie ungeduldig. »Dann habe ich vielleicht das Vergnügen, die Damen in Nizza zu sehen; ich gedenke in acht Tagen dahin zu reisen. Ja, liebe Mutter,« setzte er, zu dieser sich wendend, hinzu, »ich traf Schmetow gestern und der hat mich überredet, mit ihm zu kommen. Ich fühle, daß mir eine Reise sehr gut tun wird, denn ich bin angegriffen[251] und matt. Schmetows Gesellschaft ist unterrichtend und angenehm, es muß mir gut tun.«

Frau v. Sch... wußte nicht, sollte sie sich freuen oder nicht. Die Trennung von Iwan war ihr schrecklich und doch griff sie nach jedem Schein von Hoffnung wie nach einem Rettungsanker. Eine Reise mit Schmetow ohne Ludmilla schien ihr wie eine Kur, die Genesung versprach. Zwar war es ihr augenblicklich etwas unbequem wegen der Ausgaben, aber sie zögerte nicht, eine Summe, für die sie sich selbst einige notwendige Dinge hatte kaufen wollen, sogleich herzugeben, um Iwans Garderobe auszurüsten. Das Geld, das er selbst von seinen Besitzungen bekam, war in der letzten Zeit immer sehr schnell verschwunden und seine Mutter hatte vermutet, er habe einen Teil Ludmilla gegeben. Aber sie gab willig her, was sie hatte, und war in voller Geschäftigkeit, um ihm fortzuhelfen und seinen Wunsch zu erfüllen, in dem sie ein Zeichen wiederkehrender Energie zu sehen glaubte.

Als die Stunde der Abreise da war, warf sich Iwan seiner Mutter zu Füßen. Er war aufgeregt, weinte und bat sie, ihn zu segnen. »Ich habe dir vielen Kummer gemacht, Mutter, vergib,« sagte er.

Sie segnete ihn mit heißen Liebestränen und versetzte: »Reise glücklich, kehre mir gesund zurück. Ich bin auch oft ungerecht und gereizt gegen dich gewesen, aber das Herz einer Mutter bleibt ewig dasselbe, ob das Kind noch in der Wiege liegt oder ein Mann geworden ist; es ist einerlei. Die Mutter leidet bei seinen Leiden und sorgt sich, wenn sie Übel befürchtet. Kehre gesund zurück, Iwan, und sei aufs neue mein Stolz und mein Glück.«

Einige Tage nach Iwans Abreise kam die Prinzessin aus einer Gesellschaft nach Hause, warf sich auf einen Stuhl und sagte: »Schöne Nachrichten, beste Christiane Alexandrowna! Madame C... haben ebenfalls Paris verlassen und sind mit Herrn v. Schmetow nach Italien! Nun wissen wir, in welcher Gesellschaft der Herr Sohn reist.«

Frau v. Sch... war erstarrt! Damit schwand ihre letzte [252] Hoffnung! Ein neuer Betrug und eine gemeinschaftliche Reise! In der Bitterkeit ihres Herzens verwünschte sie die Frau, die soviel Kummer über sie gebracht und schrieb an Iwan einen bittern, harten Brief, in dem sie ihm mit der größten Strenge alles vorhielt und ihr Verdammungsurteil über seine Gefährtin aussprach. Erst nach längerer Zeit erhielt sie Antwort.

Iwan schrieb: »Mutter, ich weiß, ich habe unrecht. Ich will auch nicht versuchen, mich zu entschuldigen, ich sage nur das eine: ich liebe, liebe bis zum Wahnsinn, darin liegt jede Erklärung. Mein Leben gehört dieser Frau; jedes Opfer, das sie von mir fordert, muß ich ihr bringen; Pflicht und Ehre sind mir leere Begriffe geworden neben ihrem Besitz. Ob sie es wert ist? – Frage mich nicht; ich will ihren Wert oder Unwert nicht messen. Das nur weiß ich, daß im Augenblick, wo sie einen andern vorzuziehen scheint, wo unwillkürlich der Gedanke in mir aufsteigt, daß sie eine Kokette ist, ich nur desto wahnsinniger an ihr hänge und an ihren Besitz Leib und Leben setze. Laß mich, es ist mein Schicksal und ich muß es erfüllen. Hätte ich dir den Schmerz ersparen können, wie gerne hätte ich es getan. Aber sind wir die Meister jener blinden Gewalt, die unser Leben mit unerbittlicher Notwendigkeit regiert? Wahnsinn und Torheit sind die Dogmen von der Freiheit des Willens! Sklaven sind wir, Sklaven einer Naturgewalt, die uns zwingt, Frieden und Glück dahinzuwerfen und uns in ein offenes Grab zu stürzen; die zu töten, die uns lieben und uns zu opfern für die – die uns nicht lieben – Nicht? – Ah, abscheulicher Gedanke. – Laß mich enden. Zürne mir nicht, ich kann nicht anders!

P. S. Hier in Nizza ist es göttlich schön, Ludmilla genießt das entzückende Dasein mit all der übermächtigen Empfänglichkeit ihrer Natur. Ich genieße durch ihre Augen, durch ihre Freude. Ich hoffe, daß mir das Klima gut tun wird, da ich etwas leidend bin. Es sind viele Russen hier, mehrere haben sich Ludmilla schon vorstellen lassen.

Lebe wohl und traure nicht zu sehr. Dein Iwan.«

[253] Frau v. Sch... litt unsäglich nach diesem Brief, die folgenden waren nicht erfreulicher. Sie zeigten die Zerrissenheit, die in der Seele Iwans herrschte, ohne die geringste Spur davon, daß er Kraft finden werde, sich daraus zu retten. Zuletzt hörten seine Briefe ganz auf und mehrere Monate vergingen, ohne daß Frau v. Sch... wußte, wo er war und wie es ihm ging. Endlich erhielt sie folgenden Brief:


»Gnädige Frau!

Ich halte es für meine Pflicht, Sie zu benachrichtigen, daß Ihr Sohn Iwan hier sehr krank gewesen und noch nicht völlig genesen ist. Er wollte durchaus nicht, daß ich Ihnen schreiben sollte, da ich aber, obgleich ihm erst seit so kurzer Zeit bekannt, schnell zu seinem Freund geworden bin, so glaube ich mich dieser Übertretung schuldig machen zu können, um so mehr, da es sicher mit seinen geheimsten Wünschen übereinstimmt. Er ist schon seit länger als einem Monat hier allein. Die Frau, die er so leidenschaftlich liebte, wie Ihnen bekannt ist, hat ihn plötzlich und heimlich verlassen. Sie ist wahrscheinlich mit einem sehr reichen Russen fort, der sich hier aufhielt, ihre Bekanntschaft machte, und wie es schien, ganz von ihr gefesselt wurde; wenigstens ist er zu gleicher Zeit verschwunden. Die Sache war so geschickt verheimlicht, daß Ihr Sohn keine Spur zu verfolgen fand. Er hätte es aber auch nicht gekonnt, denn seine schon seit langem angegriffene Gesundheit brach durch den Schlag zusammen und er lag drei Wochen hindurch tödlich krank darnieder. Ich hatte ihn vordem öfter gesehen und immer mit Betrübnis seine grenzenlose Anhänglichkeit an jene Frau bemerkt, da mir diese nicht erwidert zu werden schien. Als ich von seiner Krankheit hörte, eilte ich zu ihm und habe ihn treu gepflegt. Natürlich erfuhr ich nun den ganzen wahren Stand der Dinge, und wenn Ihnen, gnädige Frau, das ein Trost sein kann, so mögen Sie wissen, daß seine liebevollsten, zärtlichsten Gedanken in seinen lichten Stunden bei Ihnen waren; daß die Sorge um Ihren Schmerz und seine Reue sein Herz mehr füllten als das Andenken [254] an jene Unedle, um sie mit keinem schlimmeren Namen zu nennen.

Sein höchster, heißester Wunsch ist, zu Ihnen zu reisen, in Ihrer liebevollen Pflege genesen zu können, wiewohl ich nicht verhehlen darf, daß sein Zustand noch bedenklich ist. Er selbst hatte nicht den Mut, Ihnen diesen Wunsch vorzutragen, ich aber glaube Sie hinreichend aus seinen Erzählungen zu kennen, um zu wissen, daß Ihr Herz und Ihre Arme sich ihm öffnen werden; denn wenn er gefehlt hat, so ist er hart bestraft.

Sollte Ihre Antwort so sein, wie ich nicht zweifle, daß sie sein wird, so bin ich mit Freuden bereit, ihn zu Ihnen zu geleiten.

Ihr ergebener

Adolphe Breteuil.«


Frau v. Sch... antwortete auf der Stelle, dankte Herrn Breteuil für alles, was er an ihrem Sohne getan und für sein Vertrauen, in dem er sich nicht getäuscht habe: »Sagen Sie Iwan,« schrieb sie, »daß das Herz einer Mutter unerschöpflich ist an Liebe wie das Weltmeer an Wassertropfen. Der Schlag, der das Herz des Kindes trifft, trifft durch dieses auch das Herz der Mutter. O komme, Iwan, und ruhe an meinem Herzen aus. Und Sie, mein unbekannter Freund, bringen Sie mir schnell meinen Sohn und empfangen Sie im voraus meinen Segen für diesen Liebesdienst.«

Acht Tage später hielt ein Wagen vor der Türe der Frau v. Sch... und heraus sprang ein junger Mann, der darauf mit größter Sorgfalt einem zweiten heraushalf und diesen in das Haus geleitete. Als die Türe des Salons aufging und Frau v. Sch... die beiden erblickte, entfuhr ihr ein Schrei des Schmerzes. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und breitete die Arme aus. Iwan sank darein und Mutter und Sohn hielten sich lange umschlossen, ehe sie die Fassung finden konnten, ein Wort zu sagen. Endlich reichte Frau v. Sch... dem fremden jungen Manne die Hand. Dieser aber [255] griff nach Iwan, den er wanken und totenbleich zurücksinken sah und fing ihn in seinen Armen auf. Man führte ihn aufs Sofa; er lag wie ein Sterbender, in einer tiefen Ohnmacht.

Frau v. Sch... und der Fremde bemühten sich gemeinschaftlich um ihn. Endlich kam er wieder zu sich, aber er konnte seiner Mutter kaum einige Worte sagen, weil ein schwerer Hustenanfall ihm die Stimme erstickte. Man mußte ihn zu Bette bringen, und erst als dies geschehen und vollkommene Ruhe unerläßlich war, zog Frau v. Sch... sich zurück, um mit dem jungen Manne, der ihr so plötzlich wie ein längst Bekannter zur Seite stand, zu reden. Er erzählte ihr im Detail, was sein Brief angedeutet und sagte, daß er glaube, Madame C... sei der tiefen, ausschließlichen Besitz fordernden Liebe Iwans überdrüssig gewesen und habe deshalb das wechselnde, bewegte Leben vorgezogen, das ihr der Reichtum des Russen, mit dem sie Nizza verlassen habe, verspreche. Er versuchte es nicht, Frau v. Sch... über den Zustand ihres Sohnes zu täuschen und sie hatte genug davon gesehen, um zu wissen, daß er gefährlich krank sei. Ihr Schmerz machte sie aber nicht untätig; im Gegenteil, ihre Mutterliebe erwachte stärker als je und es war ihr, als müßte sie ihn mit der Kraft derselben decken und seine Jugend dem furchtbaren Feind entreißen, der seine Krallen nach ihm ausstreckte. Sie rief die ersten Ärzte von Paris herbei, sie wollte, daß ihr Sohn leben, genesen, in neuer Jugend aufblühen und alles, was sie gehofft, wahrmachen solle. Sie erschöpfte sich in treuer Pflege, in liebevoller Sorgfalt. Mit keinem Wort erwähnte sie das Vergangene. Wenn Iwans Augen traurig auf ihr ruhten, fing sie an, ihm heitere Geschichten aus seiner Jugend oder aus seines Vaters Leben zu erzählen, bis er endlich mild lächelnd seinen Kopf auf ihre Schulter legte oder die Augen schloß zu leichtem Schlummer. Oder sie suchte die alten Jugendideale in ihm zu entfachen und merkte es oft in ihrem eigenen Enthusiasmus nicht, wie Iwans Lippen schmerzlich zuckten und er leise und ermüdet den Kopf schüttelte, als wollte er sagen: »Der Traum des Lebens ist ausgeträumt; [256] vergebens ist der Schmerz um das Unerreichte, es ist zu spät.«

Nach kurzer Zeit sah denn auch Frau v. Sch..., daß es zu spät sei, und die Ärzte verhehlten ihr die Wahrheit nicht länger, daß Iwan unrettbar dem Tode zueile, ja, daß es sich nur noch um Wochen und Tage handle. Frau v. Sch... lag lange in verzweifeltem, innerem Kampf auf ihren Knien, nachdem ihr dies unwiderrufliche Urteil verkündigt war. Sie klagte das Schicksal an; sie fluchte der Frau, die dies Unglück über sie gebracht. Alle Leiden und Entbehrungen früherer Jahre hatte sie mutig getragen, ohne zu murren; in ihren Kindern hatte sie Ersatz für alles gehofft; in ihrem Erstgebornen besonders hatte ihr mütterlicher Stolz eine reiche, vergeltende, ruhmvolle Zukunft erwartet. Nun war alles dahin! Die Blüte war vor der Zeit geknickt und das Grab, das sich für ihn öffnete, schien auch ihr die letzte, verzweifelte Zuflucht. Noch sträubte sich ihr Herz in wildem Schmerz gegen den Spruch des Schicksals, noch rief sie den Weltgeist an, sie zu verschonen mit diesem entsetzlichen Schlag oder wenigstens ihr Leben als Opfer für jenes hinzunehmen. Da öffnete sich leise die Tür ihres Schlafzimmers, wohin sie sich zurückgezogen hatte, und auf der Schwelle stand Iwan, bleich, nur noch ein Schatten von dem, was er gewesen, aber seine dunkeln Augen glänzten von einem milden Licht. Er konnte das Haus nicht mehr verlassen, doch in den schmerz-und hustenfreien Augenblicken ging er noch zuweilen aus einem Zimmer in das andere. Als Frau v. Sch... ihn sah, erhob sie sich und wollte sich gewaltsam fassen, aber sein geisterhaftes Aussehen brach ihr das Herz und laut weinend verbarg sie ihr Gesicht in den Kissen des Sofas. Iwan trat zu ihr heran und indem er sich neben ihr niederließ, zog er sanft ihren Kopf an seine Brust.

»Mutter,« sagte er mit leiser Stimme, »ich wußte es, daß du leidest, daß du jetzt alles weißt. Ich selbst habe den Doktor gebeten, dich nicht mehr zu täuschen. Der dunkle, glühende Vulkan in meinem Innern hat ausgetobt und in dem heißen [257] Lavastrome der Leidenschaft ist meine Jugend, mein Leben verschüttet. Aber in mir ist Friede und mir ist wohler jetzt als in jenen Tagen unseligen Taumels und ewigen Schwankens zwischen wahnsinnigem Begehren und einer Befriedigung, die nur neues Verlangen gebar. Fluche ihr nicht, zürne ihr nicht, die du in deinem Herzen, ich weiß es wohl, als die Ursache meines Todes ansiehst. Vielleicht – ja vielleicht hätte alles anders werden können! Du hast mir früher viel von Christus gesprochen und seine erbarmende Liebe, seine milde, versöhnende Gesinnung als den Kern des Christentums hingestellt. Vielleicht – wenn du, anstatt jene zu verstoßen und von dir zu weisen, sie herangezogen, sie an dein edles Herz genommen hättest, hätte in ihr die Liebe über den Trotz und die Weltklugheit gesiegt! Vielleicht – ach, ich liebe dies zu denken! Doch du warst gereizt, arg gereizt und mein war die größte Schuld! Ich habe schwer gefehlt und darum büße ich jetzt! Aber darum empfange ich auch den Tod als Versöhnung, als eine Lossprechung von meiner Sünde.«

Er hatte dies nur mit Mühe, mit Unterbrechungen gesagt und lehnte nun erschöpft zurück. Frau v. Sch... erhob ihr Antlitz zu ihm, eine Art von Verklärung lag auf dem seinen. Sie betrachtete ihn einige Augenblicke in sprachloser Rührung; ihre Tränen waren versiegt, ihr Gesicht war ruhig.

»Mein geliebter Sohn,« sagte sie, indem sie seine magere, weiße Hand auf ihr Herz drückte, »ja, du öffnest mir endlich die Augen. Ich sehe es jetzt, die Schuldigste bin ich und meine Schuld fängt an mit deiner ersten Kindheit. Meine ganze Erziehung war ein großer Irrtum; anstatt dich glücklich machen zu wollen, hätte ich dich früher in den furchtbaren Ernst und das Leiden des Lebens einweihen sollen! Anstatt die Tränen von dir fernzuhalten, hätte ich dich anleiten sollen, die Tränen anderer zu trocknen, und anstatt deinen Launen nachzugeben, hätte ich dich lehren sollen, durch die Erkenntnis den dunkeln Drang zu beherrschen, der den Menschen in [258] das Verderben lockt. – Ja, anstatt dem verletzten Egoismus meiner Liebe nachzugeben – hätte ich – sie – ja sie an mein Herz nehmen sollen, wie du sagst; sie bitten, sie beschwören, mir mein Kind zu retten, es nicht in den Abgrund der Leidenschaft zu locken – so hätte ich vielleicht euch beide gerettet! O Iwan, Iwan, meine blinde Mutterliebe ist es, die dich ins frühe Grab stürzt! Nein, ich habe kein Recht, sie zu verdammen!«

Mit neuen und heftiger strömenden Tränen verbarg die unglückliche Mutter ihr Gesicht wieder an des Sohnes Brust. Er sprach zu ihr Worte des Trostes und der Liebe. Sie beharrte bei ihren Selbstanklagen, aber allmählich ging ihr Gespräch über in die Erörterung der tiefsten Lebensfragen und mit Erstaunen sah Iwan den ganzen Reichtum des innern Lebens seiner Mutter sich vor ihm entfalten.

»O, warum mußte ich so gewaltsam die Binde zerreißen, die meinen Augen das göttliche Licht der Wahrheit verbarg, die dich ein langes, leidenvolles Leben lehrte,« sagte er zuletzt schmerzlich seufzend. »Wie verstehe ich jetzt erst die Worte des Neuen Testaments: wer zu leben sucht, wird sterben, wer aber zu sterben sucht, wird leben! Was der Jugend das Leben scheint, die Befriedigung der Leidenschaft, des ungestümen Lebensdranges, das ist lauter Lüge und Elend. Nur wenn wir uns aus uns selbst hinauswenden auf das Erkennen ewiger Ideen, unvergänglicher Ideale, wenn wir gleichsam uns selbst sterben, geht uns das rechte Leben auf. Anstatt das Opfer einer unseligen Leidenschaft zu sein, könnte ich jetzt arbeiten für Menschenglück und mein Leben wenigstens zu einem Opfer für erhabene Zwecke hingeben.«

Seine gänzliche Erschöpfung machte endlich diesem Gespräch ein Ende. Aber so oft es sein Zustand zuließ, wiederholten sich solche Unterhaltungen zwischen Mutter und Sohn und mischten in den Schmerz der bevorstehenden Trennung, die ihnen beiden das Herz zerriß, den Trost der erhabenen Entsagung, in der der Mensch sich über sich selbst erhebt und, indem er die engen Fesseln der Persönlichkeit abwirft, [259] geheiligt und befreit aufsteigt in die einzig wahre Seligkeit des reinen Erkennens. Es war ein rührendes Schauspiel für die wenigen, die es miterlebten, zu sehen, wie die Mutter das geliebte Kind, das sie unter unzähligen Liebesopfern großgezogen, nun wieder zurückbegleitete in die letzte Wohnung, aus der keine Wiederkehr ist. Freilich ganz verstand es keiner, was dabei in der Mutter Herzen vorging, wie sie täglich, ja stündlich neu das Opfer bringen mußte im einsamen, herzzerreißenden Kampf; und wie in der Brust des sterbenden Jünglings oft noch die Lust zum Leben, die Sehnsucht nach der verlorenen Liebe, der stachelnde Schmerz des Verratenseins in heißen Zuckungen aufwachten, gleich der Flamme, die noch einmal auflodert, ehe sie verlischt. – Aber eine Ahnung dieses gewaltigen Kampfes mischte sich doch in den jugendlich heftigen Schmerz Sergeis und machte ihn still und ehrfurchtsvoll vor dem Tode. Ein tieferes Verständnis fesselte Adolphe Breteuil mit wärmster Teilnahme an das Sterbezimmer. Selbst die Prinzessin hatte alle ihre kleinen, komischen Manieren vergessen und stand mit wahrer Freundschaft Frau von Sch... zur Seite.

Näher und näher kam die schwere Stunde. Iwan hatte nur noch Augenblicke frei, um sich mit den Seinigen zu unterhalten. Man konnte eigentlich jeden Moment auf die letzte Entwicklung gefaßt sein. Eines Abends saß im Salon der kleine Kreis traurig beisammen. Breteuil, der beinahe nicht mehr aus dem Hause wich, war in dem Krankenzimmer und man hatte Frau v. Sch... vermocht, mit den übrigen eine Tasse Tee zu trinken. Da ging die Türe auf und herein traten die Fürstin und Irene. Leise eilte die erstere auf Frau v. Sch... zu und schloß sie in ihre Arme. »Ich weiß alles,« flüsterte sie, »meine arme, arme Freundin! Gottlob, daß ich noch zu rechter Zeit gekommen bin, um bei dir zu sein in der schwersten Stunde.«

Die Ankommenden hatten sich kaum gesetzt und mit dem Takt der wahren Empfindung sich gleich, ohne viel Worte, der Stimmung angepaßt, als Breteuil hereinkam und meldete, [260] Iwan sei vom Schlummer erwacht, fühle sich ziemlich frei und wünsche die Seinigen zu sehen. Die Fürstin äußerte den Wunsch, ihn sehen zu dürfen. Man ging hin, ihn vorzubereiten; er war gern bereit, sie zu empfangen. »Darf ich auch mit?« sagte Irene plötzlich, indem sie aufstand, »auch ich möchte den Freund meiner Kindheit noch einmal sehen.«

Die Fürstin zögerte einen Augenblick, aber Frau v. Sch... nahm gerührt Irenes Hand und sagte: »Ja, komm, meine Tochter, du sollst ihn sehen; ich will dich zu ihm führen.«

Die Fürstin trat zu Iwan heran, er ergriff ihre Hand und zog sie an seine Lippen. Sie sprach ein paar Worte der zärtlichsten Freundschaft. Er sagte leise: »Stehen Sie meiner Mutter bei« und erhob seine dunklen Augen flehend zu ihr. Da traf sein Blick auf eine schlanke Mädchengestalt und auf ein jugendliches Antlitz, das in diesem Augenblick von dem Ausdruck der höchsten Seelenschönheit strahlte; über den blühenden, von Reinheit und Intelligenz durchdrungenen Zügen lag die Verklärung des Mitleids, jener heiligsten aller menschlichen Empfindungen, in der allein sich der menschliche Charakter, wie angestammt aus einer fernen Götterheimat, darstellt. Iwan sah sie sprachlos an; Irene näherte sich ihm; unwillkürlich traten alle andern zurück. Sie legte still und feierlich ihre Hand auf die seine und ihre feuchten Augen schauten auf ihn nieder, als wollten sie allen Schmerz und alles Leiden von ihm ablösen und ihn, befreit, auf den Flügeln einer erhabenen Melodie, in die Unendlichkeit des Daseins zurücktragen.

Alle schwiegen; der Genius des Todes stand versöhnt vor diesem Bund und senkte sanft und still seine Fackel zum Erlöschen. Frau v. Sch..., nach einem Blick auf jene Gruppe, verbarg leise weinend ihr Gesicht an der Fürstin Brust. Beide verstanden sich ohne Worte.

Als alle das Zimmer verlassen hatten, ausgenommen Breteuil, der diese Nacht bei dem Kranken wachen wollte, winkte Iwan diesem, herbeizukommen. Breteuil beugte sich über ihn.

[261] »Die Stunde naht,« flüsterte Iwan, »das war ein Engel, mir die Erlösung zu verkünden. Ich fühle mich stark genug, das letzte Opfer zu bringen.« Er deutete auf einen Kasten, der vor seinem Bett stand. Breteuil brachte ihn und öffnete mit einem Schlüssel, den Iwan an einer seidenen Schnur um den Hals trug. Der Kasten war voller Briefe.

»Wirf sie in die Flamme!« sagte Iwan, nachdem er noch einen Blick darauf geworfen; »möge sie sie verzehren, wie jene unselige Liebe mein Leben verzehrt hat. Ohne sie wäre jetzt vielleicht« – er wendete sich ab und ein schmerzliches Zucken überflog sein Antlitz. Dann sah er in die hell leuchtenden Flammen, die jene Briefe, getrocknete Blumen und eine schwarze Haarlocke verzehrten. Als es vorüber und das Zimmer wieder düster war, ergriff er Breteuils Hand, drückte sie und sagte: »Nun beginnt die ewige Nacht – tröstet – meine Mutter.«

Er schloß die Augen und schien zu schlummern. Gegen Morgen bemerkte Breteuil, daß sein Atem schwerer wurde, daß seine Hände unruhig auf der Decke des Bettes umhergriffen, daß der letzte Kampf da sei. Breteuil ging, um Sergei zu wecken und durch diesen die Mutter. Als beide kamen, folgten sie mit qualvoller Spannung jeder Bewegung des Sterbenden. Da schlug Iwan noch einmal die Augen auf; sein Blick war schon der Welt der Erscheinung entrückt und suchte etwas in einer unbestimmten Ferne. Endlich aber ruhte dieser irrende Blick auf dem Angesicht seiner Mutter. Noch einmal tauchte das Bewußtsein auf aus der Dämmerung, die sich darauf niedersenkte; ein mildes Lächeln überflog sein Gesicht. So hielt der Tod seine Züge fest, und als der Tag voll hereinbrach, da fand er sie in jene plastische Ruhe versenkt, die die Toten so ehrwürdig oder so schrecklich macht, weil sich in ihr der Grundcharakter des Menschen unauslöschlich feststellt. Sie ist das letzte Gericht, dem keiner entrinnt, wenn alles, was das Leben, die Erkenntnis und die Politur der Gesellschaft uns angehängt haben, [262] abfällt, und das innerste Wesen gleichsam nackt in die Erscheinung tritt.

Einige Tage später fuhr ein stiller, trauriger Zug nach dem Kirchhof von Montmartre hinaus. Es war ein lauer Frühlingsmorgen, der Himmel war verschleiert von grauen Wolken, die einen Regentag verkündeten. Die Stimmung der Natur paßte zu der Stimmung derer, die in den Trauerwagen saßen. Auf dem Kirchhof angelangt, wurde ein Sarg von dem Leichenwagen abgenommen und die Anhöhe hinaufgetragen, in die Nähe jener Gruft, in der Manin, der edle Patriot und Verteidiger Venedigs, und Ary Scheffer, der idealistische Künstler, vereinigt ruhen. Hinter dem Sarge ging eine ältere Dame am Arm eines jungen Menschen mehrere Damen und Herren folgten, lauter Fremde, die hier ein Kind ihrer fernen Heimat zur Ruhe brachten. Nur ein Franzose war dabei und er schien nicht der am mindesten bewegte. Ein Pope der griechischen Kirche empfing den Trauerzug oben am offenen Grab und vollzog daselbst die Pflichten seines Amtes, währenddessen die Anwesenden in tiefem Schweigen umherstanden. Aber als der Sarg hinabgesenkt wurde, brach plötzlich ein Schrei des Schmerzes aus der Brust der Mutter hervor und mit dem Ausruf: »Mein Sohn! Mein Iwan! Mein Kind!« stürzte sie auf die Knie an den Rand des Grabes und sah händeringend in die Tiefe, in die der Sarg hinabgesunken war. Neben ihr beugte sich ein junges Mädchen über die Gruft und ließ leise eine Rose, die sie in der Hand getragen hatte, hinabgleiten, fuhr mit dem Taschentuch über ihre nassen Augen und warf es der Blume nach. Endlich hob man die Mutter auf und geleitete sie weg; alle verließen den Kirchhof, nur einer blieb auf immer zurück.

Am Abend des Tages saßen alle um Frau v. Sch... versammelt, die schweigend auf dem Sofa ruhte und nur zuweilen durch einen Händedruck oder ein leises Wort den übrigen für ihre Liebe dankte. Die Fürstin saß neben ihr und streichelte ihr sanft von Zeit zu Zeit das im letzten Jahr fast ganz ergraute Haar.

[263] Plötzlich wendete sich Frau v. Sch... zu ihr und sagte: »Du hattest recht, Maria, mit deiner Ansicht über Erziehung! Das einzige, was sie tun soll, ist: dem Menschen die Herrschaft über sich selbst zu geben durch die Erkenntnis! Jetzt sehe ich klar den Irrtum meines ganzen Lebens – ach aber – zu spät!«

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TextGrid Repository (2012). Meysenbug, Malwida Freiin von. Erzählungen. Zu spät. Zu spät. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3754-9