8. Die vier Brüder.

Es waren einmal vier Brüder, die hießen Hans, Jörg, Jockel und Michel, davon war der erste ein Scharfschütz, der zweite ein Windbläser, der dritte ein Läufer und der vierte, der Michel, der war so stark, daß er die dicksten Eichen nur [42] so spielend wie Grashalme aus der Erde rupfen konnte. Alle vier Brüder aber waren mit einander in die Welt gegangen. Da traf einmal ein Forstmann den Hans, der eben sein Gewehr angelegt hatte, als wenn er in die Luft schießen wollte, weshalb ihn der Förster fragte, wornach er denn ziele? Sprach jener: »hundert Stund von hier, auf einer Kirchthurmsspitze in Berlin sitzt ein Spatz, den will ich schießen,« und in demselben Augenblicke drückte er los und sprach nach einer kleinen Weile: »da liegt er!« Der Förster aber wollte nicht glauben, daß er etwas getroffen habe, worauf der Scharfschütz den Schnellläufer herbeirief und ihn nach Berlin schickte, um den geschoßenen Spatz zu holen. Der lief auch sogleich hin und war nach zwei Stunden wieder da und brachte richtig den Spatz mit; der war aber so gut getroffen, daß der Kopf rechts, der Leib links von dem Kirchthurm herabgefallen war.

Darauf begleitete sie der Förster noch eine Strecke und traf den Jörg, der stand da bei sieben Windmühlen und schien ganz müßig in die Luft zu schauen und hielt beständig ein Rohr vor seinen Mund. Sprach der Förster: »Ei Kamerad, was machst du da?« – »Nun, sprach der Jörg, ich blase die Windmühlen an, daß sie nicht still stehen, weil heute der Wind nicht weht.« –

Nicht weit davon traf der Förster auch den Michel, der hatte ein großes Seil um siebenzig Morgen Wald gespannt, daß der Förster gar nicht wußte, was das bedeuten sollte und ihn fragte, was er damit anfangen wolle? »Ach, sagte der Michel, ich wollte mir nur ein Büschele Holz holen, damit [43] ich mir auch ein Feuerle machen kann, wenn's etwa im Winter kalt werden möchte,« und riß den ganzen Wald um, daß es krachte und trug ihn fort. Da mußte der Förster sich schier verwundern und eilte, daß er nach Haus kam. Die vier Brüder aber wanderten bald darauf nach Berlin.

Da geschah es, daß der König von Preußen schwer erkrankte und der Leibarzt desselben erklärte: der König müße sterben, wenn nicht das Kraut des Lebens, das auf dem Sankt Gotthardt in der Schweiz wachse, binnen acht Stunden herbeigeschafft werde. – Da ließ der König sogleich bekannt machen: »wer das Kraut des Lebens innerhalb acht Stunden vom Sankt Gotthardt aus der Schweiz holen könne, der solle so viel Geld haben, als er nur begehre.« – Darauf meldete sich der Schnellläufer und erklärte sich bereit, das Kraut des Lebens holen zu wollen, wenn man ihm schriftlich den verheißenen Lohn zusichere. Das geschah denn auch. Darauf sprang der Jockel schnell davon und kam schon in zwei Stunden auf dem Gotthardt an und fand dort auch sogleich das Kraut des Lebens und eilte damit wieder zurück. Als er aber noch etwa hundert Stunden von Berlin entfernt war, setzte er sich, um ein wenig auszuruhen, unter eine Eiche und schlief ein. Da ward den übrigen Brüdern die Zeit etwas lang, weshalb der Scharfschütz nach ihm ausschaute und alsbald sah, wie er unter der Eiche saß und fest eingeschlafen war. Da nahm der Scharfschütz flink sein Gewehr und schoß mit einer Kugel nach dem Rockzipfel des Bruders. Dem kam es grad so vor, als ob ihn Jemand am Rock zupfte, also, daß er aufwachte und schnell nach [44] seiner Uhr sah. Da war's die höchste Zeit und er lief gleich fort und kam nach fünf viertel Stunden noch zeitig genug in Berlin an und übergab das Kraut; daraus wurde für den König eine Arzenei bereitet, durch welche er in wenigen Stunden vollkommen wieder gesund ward.

Nun war der König sehr froh und ließ dem Schnellläufer sagen, er möge nur kommen und seinen Lohn holen. Der aber ließ vorher einen Sack machen, zu dem gebrauchte er zweihundert Ellen Zwilch, und nahm zugleich seinen Bruder Michel, den Eichenumreißer, mit, daß er in dem Sack das Geld tragen sollte, was der König zu geben versprochen hatte, nämlich so viel als Einer tragen könnte, und so begaben sie sich zum König. Da führte sie der König in eine Schatzkammer und sagte: »hier nehmt Euch so viel als Einer tragen kann!« Da machte der Michel seinen großen Sack auf und nahm eine Tonne Goldes nach der andern wie einen Spielball in die Hand und warf sie hinein; aber der Sack war noch lange nicht voll und der Michel konnte noch viel mehr tragen. Deshalb begaben sie sich in eine zweite Schatzkammer und steckten ebenfalls alles Geld in den Sack, was sie dort vorfanden. Als sie darauf aber in die dritte giengen und noch immer nicht genug bekommen konnten, da ward der König bös und gab Befehl, daß zwei Regimenter Fußsoldaten und zwei Regimenter zu Pferd vor das Schloß rücken sollten. Das dauerte aber zwei Stunden, bis sie ankamen. Unterdessen hatte der Michel seinen Sack über die Schulter geworfen und war fortgegangen. Weil der Sack aber so dick und breit war, so konnte er nicht ganz ungehindert [45] damit aus dem Schloße kommen, sondern mußte ein wenig ziehen; da gieng zwar der Sack hindurch, aber auch die ganze Schloßthür nebst acht Säulen blieben daran hängen.

Darauf gieng der Michel seines Weges weiter, bis er zum Königsthore kam; da war wieder der Durchgang zu klein; allein er drückte herzhaft und hob das ganze Königsthor aus und trug's auf seinen Schultern von dannen nebst den acht Säulen der Schloßthür und den vielen Tonnen Goldes. So kam er mit dieser Last an einen See und sprach: »Ich will doch ein Weilchen hier ausruhen, bis der Jockel und Jörg kommen; auch drückt mich das dumme Säckle ein wenig auf der Schulter.« Und wie er's nun ablegte, da sah er erst, was Alles noch auf dem Sacke lag, und als die beiden Brüder jetzt ankamen, so mußten sie über den starken Michel recht herzlich lachen. – Es dauerte aber nicht lange, da rückten die vier Regimenter Soldaten an den See und wollten das Geld wieder holen. Da nahm aber der Jörg bloß sein Windrohr und blies alle Soldaten in den See, daß sie jämmerlich ums Leben kamen, und darauf zogen die vier Brüder in Frieden weiter, theilten unter sich das Geld und lebten als reiche Leute vergnügt bis an ihr Ende.

Der annotierte Datenbestand der Digitalen Bibliothek inklusive Metadaten sowie davon einzeln zugängliche Teile sind eine Abwandlung des Datenbestandes von www.editura.de durch TextGrid und werden unter der Lizenz Creative Commons Namensnennung 3.0 Deutschland Lizenz (by-Nennung TextGrid, www.editura.de) veröffentlicht. Die Lizenz bezieht sich nicht auf die der Annotation zu Grunde liegenden allgemeinfreien Texte (Siehe auch Punkt 2 der Lizenzbestimmungen).

Lizenzvertrag

Eine vereinfachte Zusammenfassung des rechtsverbindlichen Lizenzvertrages in allgemeinverständlicher Sprache

Hinweise zur Lizenz und zur Digitalen Bibliothek


Citation Suggestion for this Object
TextGrid Repository (2012). Meier, Ernst. Märchen. Deutsche Volksmärchen aus Schwaben. 8. Die vier Brüder. 8. Die vier Brüder. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-3255-D