[46] Herbstgedanken

»Vernimm auch Du des Herbstes Stimme,

Hör, was er sagt und folge ihm!«


Weder der zu traulichem Beisammensein ladende Winter noch der liebeglühende Frühling oder der Rosen spendende, Früchte reifende Sommer übt einen so ergreifenden Eindruck aus auf das menschliche Gemüth, wie der Herbst mit seinen welkenden Blumen, hinsterbenden Fluren und erbleichenden Farben.

Der große Zug nach der Mutter Erde, welchem selbst der Stärkste und Gewaltigste gehorsamen muß, zeigt [46] triumphirend seine Herrschaft über die Natur. Das letzte Lied der Nachtigall ist verklungen; schief und schiefer fallen die Strahlen der Sonne; leer wird's auf Feld und Flur, und die schaffende Kraft will ausruhen von der segnenden Arbeit der verflossenen Wochen. Schon glänzt am Morgen der Reif auf den Spitzen der Gräser; der »Nachsommer« löst sich von den Stoppeln, und »eindringlich mild« zieht der Geruch des Herbstes durch die Lüfte.

Es ist die Zeit des Scheidens. Und wie die Gefühle des Herzens höher flammen in der Stunde des Abschiedes und alle Regungen des Inneren emporwallen in das thränenumflorte Auge, so sendet das Jahr die schönsten seiner Tage in den Herbst, und süße, beseligende Wemuth breitet sich über die weichen, sehnsuchtsathmenden Abende.

Und diese Weichheit, diese Sehnsucht bemächtigt sich des menschlichen Herzens. Sie mildert seine Leiden, verklärt seine Freuden und wirkt veredelnd auf alle seine Stimmungen. Wie an dem keuschen, unter dem Weh des Scheidens seufzenden und von hoffenden Wünschen geschwellten Busen der Geliebten, so ruht der Empfängliche in der Umarmung des Herbstes und saugt aus seinem Kusse die Ahnung, daß Glück und Seligkeit wohl fliehen, nicht aber uns für immer fern bleiben können.

Mag das Laub fallen und die Blume welken, es liegt doch im Fallen und Welken kein spurlos Verschwinden und Vergehen, sondern die liebe, alte Mutter Erde ruft ihre Kinder nur zurück, um sie verjüngt und verschönert wieder in's Leben zu führen. So ist auch der Tod nicht ein Aufhören alles Seins, sondern eine Zurückkehr zur ursprünglichen Kraft, um die Errungenschaften dieses Lebens für ein neues Bestehen zu verwerthen.

Denn wie da draußen in der Natur, so naht ein Herbst auch dem Menschenkinde, der ihm die Stirne furcht, das Haar lichtet und den Nacken beugt, der ihn zur ernsten Forschung stimmt und nach den Früchten seines Lebens fragt. Wie manch' stolzer Mann wird da der tauben Aehre gleichen, welche ihr Haupt hoch heben darf, weil es keine Körner trägt, und wie Mancher mag da am Boden kriechen, weil ihn die Last und Sorge der Arbeit niederdrückt! »Säen muß man hier mit Fleiß zu der Ernte jenes Lebens« klingt's im alten Kirchenliede; aber nicht dort erst, sondern schon hier beginnt diese Ernte und


»wohl dem Baume, welcher Früchte trägt,
wenn die Hand des Alters an ihr rüttelt!«
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TextGrid Repository (2012). May, Karl. Aufsätze, Reden, offene Briefe und Sonstiges. Herbstgedanken. Herbstgedanken. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-2EB1-F