[137] Höhe des menschlichen Geistes

Wohin hat sich der Geist der Menschen nicht geschwungen?
Die kleine Welt reicht hin, wie weit die große gränzt;
Denn ist der spröde Leib gleich nur von Thon entsprungen,
So sieht man doch, daß Gott aus diesen Schlacken glänzt,
Daß etwas Himmlisches beseele das Gehirne,
Der Ursprung sei von Gott, das Wesen vom Gestirne.
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Die Sonne der Vernunft, das Auge des Gemüthes
Macht uns zu Herrn der Welt, zu Meistern der Natur.
Der Panther dämpft vor ihr das Schäumen des Geblütes;
Sie nimmt der Schlang' ihr Gift durch einen kräft'gen Schwur;
Sie lehrt uns Drachen kirr'n und auf den Löwen reiten,
Die Adler übereil'n, das Krokodil bestreiten.
Die Elemente selbst sind Mägde des Verstandes.
Durch Leinwand und ein Bret zwingt man das große Meer;
Wir machen aus der See ein fruchtbar Stücke Landes,
Und wo erst Klippe war, kommt jetzt ein Segel her.
Sie raubt Korall' und Perl' aus Amphitrite's Grunde,
Gräbt Gold und andres Mark aus der Gebirge Schlunde.
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Wir spielen mit der Gluth und kurzweil'n mit den Flammen,
Daß sie uns minder Weh, als Salamandern, thun;
Wir theilen Wind und Luft auf tausend Art vonsammen
Und machen, daß ihr Flug sich hemmen muß und ruh'n;
Wir kehr'n die Berg' in Thal; im Abgrund bau'n wir Klüfte
Und große Städt' in's Meer, Thürm' über Wolk- und Lüfte.
Ja, eines Menschen Geist kann tausend Wun'der stiften,
Wenn Fleiß die Sinne schärft und Weisheit den Verstand.
Die Welt, das große Buch, steckt in gelehrten Schriften,
Daraus uns der Natur Geheimniß wird bekannt;
Ja, ein scharfsinn'ger Geist ist fähig, das zu lernen,
Was über die Natur, was außer Welt und Sternen.
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In dem Gehirne steckt's Register der Geschichte,
Und sein Gedächtniß ist die Mappe ganzer Welt;
Er zeucht Wald, Stein und Wild durch Harfen und Gedichte,
Schafft durch Beredtsamkeit, daß Grimm und Pöbel fällt,
Zwingt durch Gesetzes Zaum der rauhen Völker Sitten,
Daß tausend Ländern kann ein einig Haupt gebieten;
Ergründet ohne Blei die Tiefen tiefer Flüsse,
Mißt ohne Messen ab See, Berge, Thürme, Land;
Wenn er legt Städt' in Grund, von Feldern machet Risse,
Ist Schatten seine Schnur, der Meßstab seine Hand;
Schafft, daß ein einz'ger Arm ein Schiff stößt vom Gestade,
Die Obelisken hebt, Colosse setzt gerade.
Ja, er schifft höher an; sein Meer ist's Feld der Sternen,
Das Fernglas ist sein Schiff, die Segel der Verstand.
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Durch diese Leitung kann jetzt Witz und Auge lernen,
Wie wunderseltsam es im Himmel sei bewandt,
Wie kein Planete nicht ein andres Licht sonst habe,
Denn dies, womit die Sonn' ihr halbes Theil begabe.
Wie um den Jupiter vier Sterntrabanten rennen,
Wie Mars, trotz Hekla, Gluth und Feuer von sich speit,
Wie in dem Monde Berg' und Thäler ungleich brennen,
Wie auch die Sonne nicht von Makeln sei befreit,
Ihr Licht als Wolk' und Rauch und Fackeln von sich säme,
Wie Venus, Mars, Merkur, sowie der Mond, abnehme;
Wie länglich der Saturn sei wegen zwei Gefährten,
Die, als zwei halbe Mond', ihm an der Seite stehn;
Wie grause Haargestirn' und mit entflammten Gerten,
Trotz ihres fremden Laufs ihm keinen Irrgang gehn.
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Kurz, unsre Nachwelt ist so hoch und weit gestiegen,
Daß Tiphys und sein Schiff veracht't und mastlos liegen;
Daß Galilei mit Fug des Himmels Tiphys heißet,
Ein neu' Endymion, den Phoebe nackend sah. –
Und da der Geist sich dort so hoch vom Körper reißet,
So kommt er der Natur hier auch nicht minder nah;
Ja, diese Göttinn steigt zu ihm in Höhl' und Erde,
Daß ihr Geheimniß ihm vollkommen kundbar werde.
Er preßt aus Erzen Salz, aus edeln Steinen Säfte,
Bereitet trinkbar Gold, macht Wasser aus Metall,
Giebt in drei Tropfen ein wohl hundert Kräuterkräfte,
Macht Lebensöl aus Gift und Zuckertränk' aus Gall',
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Kehrt Spießglas in Arznei, bringt Geister aus Granaten,
Um wider Gift und Tod schon Sterbenden zu rathen.
Jedoch sind alles dies ihn noch zu enge Schranken;
Weil er von Gott herkommt, so schwingt er sich zu Gott,
Vergeistert andachtsvoll die himmlischen Gedanken,
Umarmt die Ewigkeit, umschränkt mit Angst und Tod,
Durchforscht die hohe Schrift, in der uns Gott heißt lesen;
Ja, Glaub' und Liebe faßt der Gottheit tiefstes Wesen.

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TextGrid Repository (2012). Lohenstein, Daniel Casper von. Gedichte. Gedichte. Höhe des menschlichen Geistes. Höhe des menschlichen Geistes. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0004-1D54-4