[3] Vorwort Paul Heyse, 1905

Der große Lyriker, der am 18ten Juni dieses Jahres im hohen Alter von 85 Jahren von uns schied, ist früh aus der Dunkelheit seiner Jugendjahre hervorgetreten und seinem Volk ans Herz gelegt worden. Im Jahr 1854 gab Emanuel Geibel die Gedichte des jüngeren Poeten in einer Auswahl heraus, mit einem kurzen Vorwort, worin er ihn als einen Ebenbürtigen neben sich stellte. Der völlig neue Klang dieser Lieder und Balladen, die visionäre Kraft, Bilder und Stimmungen vergangener Zeiten heraufzubeschwören, der edle Tiefsinn und die innige Wärme in der Betrachtung alles Menschengeschicks erregten sofort den Eindruck, daß hier in der Tat wieder einmal eine echte Dichternatur unter uns erschienen, der zu allem andern die Gabe des Wohllauts und der reinen Form in hohem Grade verliehen sei.

Seit Mörike und Storm waren keine so eigenartigen Töne vernommen worden, wie in den Gedichten: »Immer leiser wird mein Schlummer«, »Kalt und schneidend weht der Wind«, »Die Schiffersfrau«, »Alte Träume«, »Stiller Schmerz«, »An meine pompejanische Lampe« und so [3] vielen anderen; Niemand hatte die magische Macht der Natur schlichter und doch ergreifender ausgesprochen, als in dem Sonett »Mittagszauber« geschehen war, und als eine ganz neu eroberte Provinz der Dichtung erschien, was man als Lingg's »historische Lyrik« bezeichnete. Wenn nicht alles zu voller Klarheit durchgebildet war, durfte der Dichter sich wohl gelegentlich auf das Goethe'sche Wort berufen, »daß jedes Gedicht im Einzelnen ein bischen Unvernünftiges haben sollte.«

Durch ein langes Leben, das äußerlich in ereignisloser Stille verlief, hat Hermann Lingg in seinem bescheidenen Hause und Garten an der Nymphenburger Straße fortgefahren, sich nur seiner Muse zu widmen. Nicht allein den Schatz seiner eigentlichen Lyrik vermehrte er bis ins Greisenalter, sondern jahrelang schuf er an einer epischen Dichtung, die den ungeheuren Strom der Völkerwanderung gleichsam in ein großes Becken sammeln sollte, eine Aufgabe freilich, an der selbst die genialste dichterische Kraft scheitern mußte. Denn da es an einem einheitlichen Mittelpunkt fehlt, um den sich die Fülle der Ereignisse und Charaktere hätte gruppieren lassen, vielmehr immer nur neue Völker und Könige auf der Weltbühne erscheinen, um den Koloß des römischen Reiches zu Fall zu bringen, zieht die Dichtung wie ein unabsehlicher Fries historischer Figuren ohne schärfere Charakteristik an uns vorüber, und nur der Glanz einzelner Schilderungen in prachtvollen Oktaven erregt zwischen den langen Strecken zuweilen ziemlich nüchterner geschichtlicher Berichte unsere Bewunderung.

[4] Auch auf dem Gebiet der Novelle und des Dramas hat Hermann Lingg sich versucht. Doch stehen auch diese Arbeiten hinter seinen lyrischen Gaben zurück. Denn gerade, was als das eigenste Grundwesen seines Naturells ihn vor so vielen Dichtern seiner und jeder Zeit auszeichnete: jenes dunkle, halb unbewußte Walten einer Inspiration, die ihm die tiefsten Seelenklänge entlockte und seine schönsten Lieder unvergeßlich macht, versagte bei Aufgaben, zu deren Lösung es künstlerischer Besonnenheit und kühlen kritischen Verstandes bedurfte.

Dieser Mangel an kritischem Vermögen wurde auch bei der Herausgabe seiner späteren Gedichtbände fühlbar. Denn ähnlich, wie es Rückert erging, der stets in einem dichterischen Element lebte und den prosaischen Alltag nur dadurch zu überstehen vermochte, daß er wenigstens einen flüchtigen Griff in die Saiten seiner Leier tat, so war es auch für Lingg ein Bedürfnis, sich täglich an irgend einer dichterischen Leistung zu erfreuen, ohne daß er es darauf anlegte, jedesmal ein vollwichtiges kleines Kunstwerk zu schaffen, oder durch geduldige Feile das flüchtig Hingeworfene dazu auszubilden. Ihm genügte, daß wieder im Vorübergehen seine Muse zu ihm hereingegrüßt hatte. So war er auch stets bereit, wenn Bitten um die poetische Weihe einer festlichen oder Wohltätigkeitsveranstaltung an ihn herantraten, ihnen zu willfahren, auch wenn die Sache selbst nicht dazu angetan war, in eine höhere Stimmung zu versetzen und Stoff zu einem gehaltvollen Gelegenheitsgedicht zu bieten.

[5] So viel Liebenswürdiges und Geistvolles im Lauf der langen Jahre auf diese Weise entstand und nach und nach veröffentlicht wurde, auf dauernde Geltung konnte nur ein Teil der Gedichte Anspruch machen. Lingg's Freunde empfanden es daher als eine Pflicht der Pietät, was in seinem lyrischen Vermächtnis ihnen als das Bedeutendste und Unvergänglichste erschien, in einem Bande zu sammeln. Der Dichter selbst hatte dies schon bei seinen Lebzeiten gewünscht und sich mehrfach gegen mich geäußert, daß er das schwierige Geschäft der Auswahl gern mir anvertrauen möchte. Vor seinem Tode sollte der Plan leider nicht mehr zur Ausführung kommen. Doch während der Arbeit erst bin ich mir der Schwere dieser verantwortungsvollen Testamentsvollstreckung voll bewußt geworden.

Denn da ich durch ein halbes Jahrhundert mit diesen Gedichten vertraut gewesen war, selbst von den unbedeutenderen viele im Gedächtnis bewahrte und manche im Ganzen unzulängliche nur um einer einzelnen glücklichen Wendung willen liebte, ja sie alle zuletzt nicht mehr mit ästhetischem Empfinden, sondern wie Tagebuchäußerungen eines theuren alten Freundes hinnahm, war ich eigentlich am wenigsten zu der objectiven Stimmung befähigt, die ein solches Geschäft des Sonderns und Sichtens erfordert. Wie manches mir lieb gewordene Gedicht wurde erst aufgenommen, dann ausgeschieden, wieder ausgenommen und endlich doch, oft nur aus Rücksicht auf den beschränkten Umfang des Buches, ungern beiseite gelegt.

[6] Immerhin darf ich mich der Hoffnung hingeben, diese Auswahl werde unserem Volk von neuem zum Bewußtsein bringen, daß wir in Hermann Lingg einen Dichter besitzen, dem wir unvergängliche Gaben der Muse zu danken haben.


September 1905.


Paul Heyse.

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TextGrid Repository (2012). Lingg, Hermann von. Gedichte. Ausgewählte Gedichte. Vorwort Paul Heyse, 1905. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-F144-6