Alfred Lichtenstein
Capriccio

[18] Der Athlet

Einer ging in zerrissenen Hausschuhen
Hin und her durch das kleine Zimmer,
Das er bewohnte.
Er sann über die Geschehnisse,
Von denen in dem Abendblatt berichtet war.
Und gähnte traurig, wie nur jemand gähnt,
Der viel und Seltsames gelesen hat –
Und der Gedanke überkam ihn plötzlich,
Wie wohl den Furchtsamen die Gänsehaut
Und wie das Aufstoßen den Übersättigten,
Wie Mutterwehen:
Das große Gähnen sei vielleicht ein Zeichen,
Ein Wink des Schicksals, sich zur Ruh zu legen.
Und der Gedanke ließ ihn nicht mehr los.
Und also fing er an, sich zu entkleiden ...
Als er ganz nackt war, hantelte er etwas.
[18]

Der Lackschuh

Der Dichter dachte:
Ach was, ich hab den Plunder satt!
Die Dirnen, das Theater und den Stadtmond,
Die Oberhemden, Straßen und Gerüche,
Die Nächte und die Kutscher und die Fenster,
Das Lachen, die Laternen und die Morde –
Den ganzen Dreck hab ich nun wirklich satt,
Beim Teufel!
Mag werden, was da will ... mir ist es gleich:
Der Lackschuh drückt mich. Und ich zieh ihn aus –
Die Leute mögen sich verwundert wenden.
Nur schade ists um meinen seidnen Strumpf ...

[19][18]

Die Gummischuhe

Der Dicke dachte:
Am Abend geh ich gern in Gummischuhen,
Auch wenn die Straßen fromm und flecklos sind.
In Gummischuhen bin ich nie ganz nüchtern ...
Ich halte in der Hand die Zigarette.
Auf schmalen Rhythmen tänzelt meine Seele.
Und alle Zentner meines Leibes tänzeln.

[18][20]

Der Rauch auf dem Felde

Lene Levi lief am Abend
Trippelnd, mit gerafften Röcken,
Durch die langen, leeren Straßen
Einer Vorstadt.
Und sie sprach verweinte, wehe,
Wirre, wunderliche Worte,
Die der Wind warf, daß sie knallten
Wie die Schoten,
Sich an Bäumen blutig ritzten
Und verfetzt an Häusern hingen
Und in diesen tauben Straßen
Einsam starben.
Lene Levi lief, bis alle
Dächer schiefe Mäuler zogen,
Und die Fenster Fratzen schnitten
Und die Schatten
Ganz betrunkne Späße machten –
Bis die Häuser hilflos wurden
Und die stumme Stadt vergangen
War in weiten
Feldern, die der Mond beschmierte ...
Lenchen nahm aus ihrer Tasche
Eine Kiste mit Zigarren,
Zog sich weinend
Aus und rauchte ...
[20]

Schwärmerei

Paul sagte:
Ach, wer doch ewig Auto fahren könnte –
Wir bohren uns durch hochgestielte Wälder,
Wir überholen Flächen, die sich endlos schienen.
Wir überfahren den Wind und überfallen die Dörfer, die flinken.
Aber verhaßt sind uns die Gerüche der langsamen Städte –
Hei, wie wir fliegen! Immer den Tod entlang ...
Wie wir ihn höhnen und ihn verspotten, der uns am Leben sitzt!
Der uns die Gräben legt und alle Straßen krümmt – ha, wir verlachen ihn
Und die Wege, die überwundenen, vergehen vor uns –
So werden wir die ganze Welt durchauteln ...
Bis wir einmal an einem heitern Abend
An einem starken Baum ein kräftges Ende finden.
[21]

Der Traurige

Nein, dies Leben faß ich nicht mehr an.
Mag man mich für närrisch halten –
Heute geh ich nicht ins Gasthaus.
Müde bin ich längst der Kellnerkerle,
Die uns mit blasierten Fratzen,
Höhnisch, schwarze Biere bringen
Und uns ganz verworren machen,
Daß wir nicht nach Hause finden
Und die törichten Laternen
Mit den schwachen Händen stützen
Müssen.
Heute hab ich größre Dinge vor –
Ach, ich will den Sinn des Daseins suchen.
Und am Abend werd ich etwas Rollschuh laufen
Oder mal in einen Judentempel gehn.
[22]

Capriccio

So will ich sterben:
Dunkel ist es. Und es hat geregnet.
Doch du spürst nicht mehr den Druck der Wolken,
Die da hinten noch den Himmel hüllen
In sanften Sammet.
Alle Straßen fließen, schwarze Spiegel,
An den Häuserhaufen, wo Laternen,
Perlenschnüre, leuchtend hängen.
Und hoch oben fliegen tausend Sterne,
Silberne Insekten, um den Mond –
Ich bin inmitten. Irgendwo. Und blicke
Versunken und sehr ernsthaft, etwas blöde,
Doch ziemlich überlegen auf die raffinierten,
Himmelblauen Beine einer Dame,
Während mich ein Auto so zerschneidet,
Daß mein Kopf wie eine rote Murmel
Ihr zu Füßen rollt ...
Sie ist erstaunt. Und schimpft dezent. Und stößt ihn
Hochmütig mit dem zierlich hohen Absatz
Ihres Schuhchens
In den Rinnstein –
[23]

Der Türke

Ein ganz und gar perverser Türke kaufte sich
Aus Trauer über den erst jüngst erfolgten Tod
Der fetten Fatme, seines Lieblingsweibes,
Bei seinem Mädchenhändler zwei noch ziemlich gut erhaltne –
Man kann fast sagen: beinah nagelneue –
Und eben frisch aus Frankreich importierte,
Ehemalge Mannequins.
Als er sie hatte, sang er, sich zur Feier:
Setzt euch doch auf meine Schenkel.
Fasset mich um meine Lenden.
Streichelt mit den süßen Zungen
Mir die weinerlichen Wangen.
Ach, ihr habt so schön geschmückte
Augen und so helle Hände,
Müdeste von meinen Frauen,
Und so lange, laue Beine.
Morgen kauf ich sechs Paar neue
Strümpfe euch aus dünnster Seide
Und dazu ganz kleine schwarze
Sammetschuhchen.
Und am Abend sollt ihr tanzen
Ganz verlogne, weiche Tänze
In den kleinen Sammetschuhchen
Und den neuen seidnen Strümpfen.
In dem Garten. Vor der Sonne.
Dicht am Wasser.
Doch zur Nacht laß ich euch peitschen
Von vier lächelnden Eunuchen.
[24]

Der Barbier des Hugo von Hofmannsthal

So steh ich nun die trüben Wintertage
Von früh bis spät und seife Köpfe ein,
Rasiere sie und pudre sie und sage
Gleichgültge Worte, dumme, Spielerein.
Die meisten Köpfe sind ganz zugeschlossen,
Sie schlafen schlaff. Und andre lesen wieder
Und blicken langsam durch die langen Lider,
Als hätten sie schon alles ausgenossen.
Noch andre öffnen weit die rote Ritze
Des Mundes und verkünden viele Witze.
Ich aber lächle höflich. Ach, ich berge
Tief unter diesem Lächeln wie in Särge
Die schlimmen, überwachen, weisen Klagen,
Daß wir in dieses Dasein eingepreßt,
Hineingezwängt sind, unentrinnbar fest
Wie in Gefängnisse, und Ketten tragen,
Verworrne, harte, die wir nicht verstehen.
Und daß ein jeder fern sich ist und fremd
Wie einem Nachbar, den er gar nicht kennt.
Und dessen Haus er immer nur gesehen hat.
Manchmal, während ich an einem Kinn rasiere,
Wissend, daß ein ganzes Leben
In meiner Macht ist, daß ich Herr nun bin,
Ich, ein Barbier, und daß ein Schnitt daneben,
Ein Schnitt zu tief, den runden frohen Kopf,
Der vor mir liegt [er denkt jetzt an ein Weib,
An Bücher, ans Geschäft] abreißt von seinem Leib,
Als wäre er ein lockrer Westenknopf –
Dann überkommts mich. Plötzlich ... Dieses Tier.
Ist da. Das Tier ... Mir zittern beide Knie.
[25]
Und wie ein kleiner Knabe, der Papier
Zerreißt [und weiß es nicht, warum],
Und wie Studenten, die viel Gaslaternen töten,
Und wie die Kinder, die so sehr erröten,
Wenn sie gefangner Fliegen Flügel brechen,
So möchte ich oft wie von ungefähr,
Wie wenn es eine Art versehen wär,
An solchem Kinn mit meinem Messer ritzen.
Ich säh zu gern den roten Blutstrahl spritzen.

Frühling

Ein gewisser Rudolf rief:
Ich hab' viel zu viel gegessen.
Ob's bekömmlich ist sehr fraglich.
Nach so fettem Mittagessen
Fühl' ich mich recht unbehaglich.
Doch ich rülpse hübsch und rauche
Zigaretten hin und wieder.
Liegend auf dem schweren Bauche
Pieps ich lauter Frühlingslieder.
Sehnsuchtsvoll wie auf der Rampe
Quietscht die Stimme aus der Kehle.
Und wie eine alte Lampe
Blakt der Wind die saure Seele.
[26]

Wüstes Schimpfen eines Wirtes

Es ist, um die Stühle durch die Spiegelscheiben auf die Straße zu hauen –
Da sitz ich nun mit hochgezognen Augenbrauen:
Alle Gasthäuser sind voll,
Mein Gasthaus ist leer – Ist das nicht toll ...
Ist das nicht merkwürdig ... Ist das nicht zum Kotzen ...
Die dämlichen Spießer – die elenden Protzen –
Bei mir geht jeder vorbei ...
Verfluchte Schweinerei ...
Dazu verbrenne ich Gas und elektrische Flammen –
Möge mich Gott und Teufel verdammen:
Donnerwetter ... Warum ist gerade mein Gasthaus leer ...
Mürrische Kellner stehen vorwurfsvoll umher –
Was kann ich denn dafür –
Kein Aas kommt zur Tür –
In engster Ecke sitz ich mit sehnsüchtgem Gesicht.
Gäste kommen nicht. – –
Das Essen verdirbt, der Wein und das Brot.
Am liebsten machte ich die Bude zu.
Und weinte mich tot ...

Ärgerliches Mädchen

Es ist schon spät. Ich muß verdienen.
Aber die gehn heute alle vorbei mit blasierten Mienen.
Nicht einen Glücksgroschen wolln sie mir geben.
Es ist ein jämmerliches Leben.
Komme ich ohne Geld nach Haus,
Wirft mich die Alte hinaus.
Fast kein Mensch ist auf der Straße mehr.
Ich bin todmüde und friere sehr.
[27]
So elend zumute war mir noch nie.
Ich laufe umher wie ein Stück Vieh.
Da endlich kommt drüben einer an:
Ein ganz anständig angezogener Mann –
Doch auf das Äußere darf man in diesem Leben
Nicht viel geben.
Er ist auch schon älter. [Die haben mehr Geld,
Von den Jungen wird man eher geprellt.]
Er ist mir vis-à-vis.
Ich heb die Kleddage bis über das Knie.
Ich kann mir dies leisten.
Es zieht am meisten.
Die Kerle kommen wie Fliegen
Ins Licht zu uns Ziegen ...
Der Kavalier bleibt wirklich drüben stehen.
Er glotzt. Er winkt. Ich will schon bei ihm hingehn ...
Ich denke: der wird mir ein großes Goldstück schenken.
Dann besauf ich mich heimlich mit teuren Getränken.
Das ist noch das schönste: einmal – allein
Still für sich besoffen sein –
Oder ich kann neue Schuhe kaufen ...
Muß nicht mehr in gestopften Strümpfen laufen –
Oder ... ich geh einmal nicht auf den Bummel hinaus.
Und ruhe mich von den Kerlen aus –
Oder ... ach, ich freu mich schon so ...
Ich bin so froh –
Da kommt die Kitti an.
Und versaut den Mann.
[28]

Der Angetrunkene

Man muß sich so sehr hüten, daß man nicht
Ohn jeden Anlaß aufbrüllt wie ein Tier.
Daß man der ganzen Kellnerschaft Gesicht
Nicht kurz und klein haut, übergießt mit Bier.
Daß man sich nicht die ekle Zeit verkürzt,
Indem man sich in einen Rinnstein legt.
Daß man sich nicht von einer Brücke stürzt.
Daß man dem Freund nicht in die Fresse schlägt.
Daß man nicht plötzlich unter Hundswauwau
Die Kleider sich vom feisten Leibe reißt.
Daß man nicht irgendeiner lieben Frau
Den finstern Schädel in die Schenkel schmeißt.
[29]

Ein Generalleutnant singt:

Ich bin der Herr Divisionskommandeur,
Seine Exzellenz.
Ich habe erreicht, was menschenmöglich ist.
Ein schönes Bewußtsein.
Vor mir beugen das Knie
Hauptleute und Regimentschefs,
Und meine Herren Generäle
Horchen auf meinen Befehl.
Wenn Gott will, beherrsche ich nächstens
Ein ganzes Armeekorps.
Frauen, Theater, Musik
Interessieren mich wenig.
Was ist das alles gegen
Parademärsche, Gefechte.
Wäre doch endlich ein Krieg
Mit blutigen, brüllenden Winden.
Das gewöhnliche Leben
Hat für mich keine Reize.
[30]

Der Fall in den Fluß

Lene Levi lief besoffen
Nächtlich in den Nebenstraßen
Hin und wieder »Auto« brüllend.
Ihre Bluse war geöffnet,
Daß man ihre feine, freche
Unterwäsche und das Fleisch sah.
Sieben geile Männlein rannten
Hinter Lene Levi her.
Sieben geile Männlein trachten
Lene Levi nach dem Leibe,
Überlegend, was das kostet.
Sieben, sonst sehr ernste Männer
Haben Kind und Kunst vergessen,
Wissenschaft und die Fabrik.
Und sie rannten wie besessen
Hinter Lene Levi her.
Lene Levi blieb auf einer
Brücke stehen, atemschöpfend,
Und sie hob die wirren blauen
Säuferblicke in die weiten
Süßen Dunkelheiten über
Den Laternen und den Häusern.
Sieben geile Männlein aber
Fielen Lenen in die Augen.
[31]
Sieben geile Männlein suchten
Lene Levis Herz zu rühren.
Lene Levi blieb unnahbar.
Plötzlich springt sie aufs Geländer,
Dreht der Welt die letzte Nase,
Jauchzend plumpst sie in den Fluß.
Sieben bleiche Männlein rannten,
Was sie konnten, aus der Gegend.
[32]

Ein Armer singt:

Die waren feine Zeiten, als ich noch
In seidnen Socken ging und Unterhosen hatte,
Manchmal zehn Mark erübrigte, um mir
Ein Weib zu mieten, tags mich langweilte
Und Nacht für Nacht in Kaffeehäusern saß.
Oftmals war ich so satt, daß ich
Nicht wußte, was ich mir bestellen sollte.

[33][43]

Notizen
Die von Kurt Lubatsch, Lichtensteins Nachlaßverwalter, vorgenommene Einteilung des lyrischen Werkes in die drei Hauptgruppen »Cappricio«, »Die Dämmerung« und »Die Gedichte des Kuno Kuhn« geht auf eine »Selbstkritik« zurück, die Lichtenstein 1913 in der »Aktion« veröffentlicht hatte. Spätere Editoren haben diese Gruppierung nur noch im Detail modifiziert.
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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Lichtenstein, Alfred. Capriccio. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EBFC-6