Georg Christoph Lichtenberg
Ein Traum

[108] Mir war als schwebte ich, weit über der Erde, einem verklärten Alten gegenüber, dessen Ansehen mich mit etwas viel Höherem als bloßem Respekt erfüllte. So oft ich meine Augen gegen ihn aufschlug, durchdrang mich ein unwiderstehliches Gefühl von Andacht und Vertrauen, und ich war eben im Begriff mich vor ihm nieder zu werfen, als er mich mit einer Stimme von unbeschreiblicher Sanftheit anredete. Du liebst die Untersuchung der Natur, sagte er, hier sollst du etwas sehen, daß dir nützlich sein kann. Indem er dieses sagte, überreichte er mir eine bläulich grüne und hier und da ins Graue spielende Kugel, die er zwischen dem Zeigefinger und Daumen hielt. Sie schien mir etwa einen Zoll im Durchmesser zu haben. Nimm dieses Mineral, fuhr er fort, prüfe es, und sage mir, was du gefunden hast. Du findest da hinter dir alles, was zu solchen Untersuchungen nötig ist, in höchster Vollkommenheit; ich will mich nun entfernen, bin aber zu rechter Zeit wieder bei dir. Als ich [108] mich umsah, erblickte ich einen schönen Saal mit Werkzeugen aller Art, der mir im Traum nicht so fremd schien, als nachher beim Erwachen. Es war mir als wäre ich öfter da gewesen, und ich fand, was ich nötig hatte, so leicht als hätte ich alles selbst vorher hingelegt. Ich besah, befühlte und beroch nunmehr die Kugel, ich schüttelte und behorchte sie, wie einen Adlerstein; ich brachte sie an die Zunge; ich wischte den Staub und eine Art von kaum merklichem Beschlag mit einem reinen Tuche ab, erwärmte sie und rieb sie auf Elektrizität am Rockärmel; ich probierte sie gegen den Stahl, das Glas, und den Magneten, und bestimmte ihr spezif. Gewicht, das ich, wo ich mich recht erinnere, zwischen vier und fünf fand. Alle diese Proben fielen so aus, daß ich wohl sah, daß das Mineral nicht sonderlich viel wert war, auch erinnerte ich mich, daß ich in meiner Kindheit von dergleichen Kugeln, oder doch nicht sehr verschiedenen, drei für einen Kreuzer auf der Frankfurter Messe gekauft hatte. Indes schritt ich doch nun zu der chemischen Prüfung, und bestimmte die Bestandteile in Hundertteilen des Ganzen. Auch hier ergab sich nichts Sonderliches. Ich fand etwas Tonerde, ungefähr ebensoviel Kalkerde, aber ungleich mehr Kieselerde, endlich zeigte sich noch Eisen und etwas Kochsalz und ein unbekannter Stoff, wenigstens einer der zwar manche Eigenschaften der bekannten hatte, dafür aber wieder eigene. Es tat mir leid, daß ich den Namen meines Alten nicht wußte, ich hätte ihn sonst gern dieser Erde beigelegt, um ihm auf meinem Zettelchen ein Kompliment zu machen. Übrigens muß ich sehr genau bei meinen Untersuchungen verfahren sein, denn als ich alles zusammen addierte was ich gefunden hatte, so machte es genau hundert. Soeben hatte ich den letzten Strich in meiner Rechnung gemacht, als der Alte vor mich hintrat. Er nahm das Papier und las es mit einem sanften Lächeln, das kaum zu bemerken war; hierauf wandte er sich mit einem Blick voll himmlischer Güte mit Ernst gemischt gegen mich, und fragte,weißt du wohl, Sterblicher, was das war, was du da geprüft hast? Der ganze Ton und Anstand, womit er dieses sprach, verkündigte nunmehr deutlich den Überirdischen. Nein! Unsterblicher, rief ich, indem ich mich vor ihm niederwarf, ich weiß es nicht. Denn auf mein Zettelchen wollte ich mich nun nicht mehr berufen.

Der Geist. So wisse, es war, nach einem verjüngten Maßstabe, nichts Geringeres als – die ganze Erde.

[109] Ich. Die Erde? – Ewiger, großer Gott! und das Weltmeer mit allen seinen Bewohnern, wo sind denn die?

Er. Dort hängen sie in deiner Serviette, die hast du weggewischt.

Ich. Ach! und das Luftmeer und alle die Herrlichkeit des festen Landes!

Er. Das Luftmeer? Das wird dort in der Tasse mit destilliertem Wasser sitzen geblieben sein, und mit deiner Herrlichkeit des festen Landes? Wie kannst du so fragen? Das ist unfühlbarer Staub; da an deinem Rockärmel hängt welcher.

Ich. Aber ich fand ja nicht eine Spur von dem Silber und Gold, das den Erdkreis lenkt!

Er. Schlimm genug. Ich sehe ich muß dir helfen. Wisse: mit deinem Feuerstahl hast du die ganze Schweiz und Savoyen, und den schönsten Teil von Sizilien herunter gehauen, und von Afrika einen ganzen Strich von mehr als 1000 Quadratmeilen vom Mittelländischen Meer bis an den Tafelberg völlig ruiniert und umgewendet. Und dort auf jener Glasscheibe – o! soeben sind sie herunter geflogen – lagen die Kordilleren, und was dir vorhin beim Glasschneiden ins Auge sprang, war der Chimborasso.

Ich verstund und schwieg. Aber neun Zehnteile meines noch übrigen Lebens hätte ich darum gegeben, wenn ich meine chemisch zerstörte Erde wieder gehabt hätte. Allein um eine andere bitten, einer solchen Stirne gegenüber, das konnte ich nicht. Je weiser und gütiger der Geber war, desto schwerer wird es dem Armen von Gefühl ihn zum zweitenmal um eine Gabe anzusprechen, sobald sich der Gedanke in ihm regt, er habe von der ersten vielleicht nicht den besten Gebrauch gemacht. Aber eine neue Bitte dachte ich, vergibt dir wohl dieses verklärte Vater-Gesicht: O! rief ich aus, großes, unsterbliches Wesen, was du auch bist, ich weiß du kannst es, vergrößere mir ein Senfkorn bis zur Dicke der ganzen Erde, und erlaube mir die Berge und Flöze darauf zu untersuchen bis zur Entwickelung des Keims, bloß der Revolutionen wegen. Was würde dir das helfen? war die Antwort. An deinem Planeten hast du ja schon ein Körnchen für dich zur Dicke der Erde vergrößert. Da prüfe. Vor deiner Umwandlung, kömmst du nicht auf die andere Seite des Vorhangs, die du suchst, weder auf diesem noch einem andern Körnchen der Schöpfung. Hier nimm diesen Beutel, prüfe was darin ist, und sage mir was du gefunden hast. Beim Weggehen [110] setzte er fast scherzend hinzu: verstehe mich recht, chemisch prüfe es, mein Sohn; ich bleibe dieses Mal länger aus. – Wie froh war ich, als ich wieder was zu untersuchen hatte, denn nun, dachte ich, will ich mich besser in acht nehmen. Gibt acht, sprach ich zu mir selbst, es wird glänzen, und wenn es glänzt, so ist es gewiß die Sonne, oder sonst ein Fixstern. Als ich den Beutel aufzog, fand ich ganz wider meine Erwartung, ein Buch in einem nicht glänzenden einfachen Bande. Die Sprache und Schrift desselben waren keine der bekannten, und obgleich die Züge mancher Zeilen flüchtig angesehen, ziemlich so ließen, so waren sie es, näher betrachtet, doch ebensowenig als die verwickeltsten. Alles was ich lesen konnte, waren die Worte auf dem Titelblatt: Dieses prüfe mein Sohn, aber chemisch, und sage mir was du gefunden hast. Ich kann nicht leugnen, ich fand mich etwas betroffen, in meinem weitläuftigen Laboratorio. Wie, sprach ich zu mir selbst, ich soll den Inhalt eines Buchs chemisch untersuchen? Der Inhalt eines Buchs ist ja sein Sinn, und chemische Analyse wäre hier Analyse von Lumpen und Druckerschwärze. Als ich einen Augenblick nachdachte, wurde es auf einmal helle in meinem Kopf, und mit dem Licht stieg unüberwindliche Schamröte auf. O! rief ich lauter und lauter, Ich verstehe, ich verstehe! Unsterbliches Wesen, O vergib, vergib mir; ich fasse deinen gütigen Verweis! Dank dem Ewigen daß ich ihn fassen kann! – Ich war unbeschreiblich bewegt, und darüber erwachte ich.

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TextGrid Repository (2012). Lichtenberg, Georg Christoph. Aufsätze und Streitschriften. Ein Traum. Ein Traum. Digitale Bibliothek. TextGrid. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-EB13-0