[145] 46.
Nachtschwärmerey

Ach rausche, rausche heiliger Wasserfall,
Rausche die Zeiten der Kindheit zurück in mein Gedächtnis,
Da ich noch nicht entwöhnt von deinen Brüsten,
Mutter Natur, mit dankbar gefühliger Seele
Dir im Schoos lag, dich ganz empfand.
Schämst du dich, Wange, von jenen Flammen zu brennen,
Schämst du dich, Auge, von jenen geheimen Zären,
Jenen süssen, süssesten aller meiner Zären
Wieder still befeuchtet zu werden?
Nein so hab ich, so hab ich die Menschheit
Noch in der wilden Schule der Menschen,
Nein so hab ich sie noch nicht verlernt,
Kann gleich mein Geist mit mächtigerm Schwunge
Unter die Sterne sich mischen, die damals
Nur als freundliche Funken mich ganz glücklich
Ganz zum Engel lächelten.
Aber itzt steh ich, nicht lallendes Kind mehr,
Itzt steh ich dar ein brennender Jüngling,
Blöße mein Haupt vor dem Unendlichen
Der über meiner Scheitel euch dreht,
Dank ihn, opfr ihm in seinem Tempel
All meine Wünsche, mein ganzes Herz.
Fühle sie ganz die große Bestimmung,
All diese Sterne durchzuwandern
Zeuge dort seiner Macht zu seyn.
O wenn wird er, wenn wird er, der glücklichste der Tage
Unter allen glücklichen meines Lebens,
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Wenn bricht er an, da ich froher erwache
Als ich itzt träume – o welch ein Gedanke,
Gott! – noch froher als itzt! ists möglich,
Hast du soviel dem Menschen bereitet?
Immer froher – tausendmal tausend
Einen nach dem andern durchwandern und – immer froher
O da verstumm ich – und sink in Nichts.
Schaffe mir Adern du Allmächtiger dann! und Pulse,
Die dir erhitzter entgegen fliegen,
Und einen Geist, der dich stärker umfaßt.
Herr! meine Hofnung! wenn die letzte der Freuden
Aus deiner Schaale ich hier gekostet,
Ach denn – wenn nun die Wiedererinnrung
Aller genossenen Erdenfreuden
Unvermischt mit bittrer Sünde,
Wenn sie mich einmal noch ganz überströmt
Und dann, plautz der Donner mir zu Füßen
Diese zu enge Atmosphäre
Mir zerbricht, mir Bahn öfnet, weiter –
In deinen Schoos Unendlicher:
Ach wie will ich, wie will ich alsdenn dich
Mit meinen Glaubensarmen umfassen
Drücken an mein menschliches Herz.
Laß nur, ach laß gnädig diesen Antheil von Erde
Diese Seele von Erde mich unzerrüttet,
Ganz gesammlet, dir darbringen zum Opfer
Und dein Feuer verzehre sie. –
Ach dann seht ihr mich nicht mehr, theure Freunde,
Lieber Göthe! Der Freunde erster,
Ach dann siehst du mich nicht mehr.
Aber ich sehe dich, mein Blick dringt
Mit dem Strahl des Sterns, zu dem ich eile,
Noch zum letztenmahl an dein Herz,
An dein edles Herz. – Albertine
Du auch, die meiner Liebe Sayte
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Nie laut schallen hörtest, auch dich
Auch dich seh ich, seegne dich – wär ich
Dann ein Halbgott, dich glücklich zu machen,
Die du durch all mein verzweiflungsvoll Bemühen
Es nicht werden konntest – die du vielleicht es wardst
Durch dich selbst – ach, die du in Nacht mir
Lange, lange drey furchtbare Jahre
Nun versunken bist – die ich nur ahnde! –
Euch mein Vater und Mutter – Geschwister
Freunde, Gespielen – fort zu vielfache Bande
Reißt meine steigende Seele nicht wieder
Nach der zu freundlichen Erde hinab. –
Aber ich sehe dich dort, meine Doris
Oder bist du vielleicht – trüber Gedanke!
Nein du bist nicht zurückgekehrt.
Nein ich sehe dich dort, ich will in himmlischer Freundschaft
Mit dir an andern Quellen und Büschen,
Sternenkind! ach wie wollen wir Kinder
Hand in Hand dort spazieren gehn! –
Aber Göthe – und Albertine –
Nein, ihr reißt mich zur Erde hinunter.
Grausame Liebe! ihr reißt mich hinunter.
Reißt denn geliebte! reißt, denn ich folge
Reißt – und macht mir die Erde zum Himmel!

Notes
Entstanden wohl 1775. Erstdruck in: Aus F.H. Jacobis Nachlaß: Ungedruckte Briefe von und an Jacobi und Andere; nebst ungedruckten Gedichten von Goethe und Lenz, hg. von Rudolf Zöppritz, 2. Band, Leipzig (Engelmann) 1869.
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Citation Suggestion for this Edition
TextGrid Repository (2012). Lenz, Jakob Michael Reinhold. 46. Nachtschwärmerey. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-E3FB-E