3. Die Grasmücke.

Eine Grasmücke hatte einmal zwei Eier in ihr Nestchen gelegt, und war davon geflogen, um sich ein Paar Fliegen und Raupen zum Mittagessen zu holen. Es hatte sie aber ein träger Kuckuck von ihrem Neste wegfliegen sehen; da flog er hin, und warf eins von den Grasmücken-Eiern heraus, und legte dafür ein Kuckucksei hinein. Dann flog er wieder fort, und dachte: Die Grasmücke mag das Ei ausbrüten, und mein Kuckuckssöhnchen groß ziehen. Die Grasmücke hatte es aber nicht gemerkt, daß sie ein fremdes Ei in ihrem Neste habe, und brütete Tag und Nacht, bis sie nach einiger Zeit zwei junge Vögelchen ausgebrütet hatte. Sie sahen aber einander gar nicht ähnlich. Das junge Grasmückchen war gar zart gebaut, aber der junge Kuckuck hatte einen gewaltig großen Bauch, und schrie den ganzen [12] Tag: »Mutter, essen! Mutter, essen!« Und wenn die Mutter mit einer Raupe oder Fliege nach Hause geflogen kam, so schnappte der Kuckuck immer zuerst danach, so daß das kleine Grasmückchen fast nichts bekam. Er machte sich auch in dem Nestchen so breit, daß das kleine Grasmückchen keinen Platz hatte zum Sitzen.

Es waren aber noch nicht zwei Wochen vergangen, da sagte einmal der Kuckuck zum Grasmückchen: »Mache mir Platz!« Grasmückchen aber erwiederte: »Ich kann gar nicht mehr weiter rücken, du nimmst ja das ganze Nestchen allein ein!« – »Mache mir Platz!« schrie der Kuckuck, »oder ich fresse Dich!«

Da setzte sich klein Grasmückchen auf den Rand des Nestes, und hielt sich mit dem Schnabel fest; aber der Kuckuck schüttelte und rüttelte sich, daß das kleine Grasmückchen sich nicht mehr halten konnte, und hinunterfiel auf den Boden: denn seine Flügel waren noch nicht gewachsen.

Es ging aber ein kleiner Knabe unten am Bäumchen vorbei, der hörte das Grasmückchen schreien, und nahm es mit sich nach Hause, und fütterte es mit Würmern und Brosamen, und das Grasmückchen wuchs, und ward stark und munter. Es flog aber in der Stube umher, und fraß die Fliegen, und zwitscherte und sang gar munter und lustig. Wenn ihm aber der kleine Knabe rief: »Grasmückchen, komm!« so flog das Grasmückchen herbei, und setzte sich auf seinen Finger.

Grasmückchen lebte bei dem Knaben den Herbst und Winter über, und ergötzte Alle durch seine Fröhlichkeit und sein munteres Wesen. Als aber im Frühjahr der Schnee von den Bergen geschmolzen war, und die Erde wieder anfing, grün zu werden, die Bäume Blätter bekamen, die Vögel lustig darein sangen, und die Sonne so freundlich zum Fenster herein schien; da ward es dem Grasmückchen zu enge [13] in dem kleinen Stübchen, und es wäre gar gerne draußen gewesen in dem grünen Walde bei seiner Mutter. Der Knabe merkte sein Begehren, und öffnete ihm das Fenster. Da flog es hinaus zu dem Bäumchen, wo seiner Mutter Nest gestanden hatte; aber es war nicht mehr da; auf dem Boden aber lagen Heu, Pferdehaare und ausgerupfte Federn umhergestreut, und es sah, daß jemand das Nest zerrissen haben mußte. Darüber betrübte sich Grasmückchen sehr, und flog in den Wald hinein, und fragte nach bei allen Vögeln, ob sie seine Mutter nicht gesehen hätten. Aber niemand konnte ihm etwas von ihr sagen. – Mit der alten Grasmücke aber war es also zugegangen.

Nachdem nämlich der Kuckuck das Grasmückchen aus dem Neste geworfen hatte, war die Mutter nach Hause gekommen, und fragte den Kuckuck, wo klein Grasmückchen sey. Der aber sagte: »Ja, das ist ein recht boshaftes Kind; es hat mich aus dem Neste jagen wollen, ich habe mich aber gewehrt, und da ist es davongeflogen.« Die alte Grasmücke hatte das geglaubt, und war fortgeflogen, um dem Kuckuck Fressen zu holen. Der war aber gar nicht mehr zu sättigen, und die alte Grasmücke wurde ganz matt vom vielen Hin- und Herfliegen.

Als sie aber eines Abends sehr müde nach Hause gekommen war, wollte der Kuckuck, daß sie noch ein Mal ausflöge; sie aber ward unwillig, und sagte: »Du kannst satt seyn für heute, du fauler Vielfraß; warte bis morgen!« Da riß er seinen Schnabel ganz schrecklich auf, und sagte: »Wenn Du mir nicht gleich zu essen giebst, so fresse ich Dich.« Da fürchtete sich die alte Grasmücke, und flog davon. Als aber am andern Morgen der Kuckuck sah, daß die alte Grasmücke nicht mehr zurückkommen wollte, sah er sich gezwungen, jetzt selbst seine Nahrung zu suchen; er[14] flog darum aus dem Neste, zerriß es aber aus Bosheit, und warf es auf die Erde.

Die alte Grasmücke hatte ihr Grasmücken-Töchterchen überall aufgesucht, hatte es aber nicht finden können. Da flog sie auf einen Busch, dessen Blätter hatte ein Knabe mit Vogelleim bestrichen. Als sie nun wegfliegen wollte, konnte sie nicht; da fing sie an zu schreien und mit den Flügeln zu schlagen, aber sie konnte nicht loskommen; und der Knabe lief herzu, nahm sie, und setzte sie in einen Käfig. Er gab ihr aber zu essen und zu trinken, und behielt sie den Herbst und Winter über bei sich.

Unterdessen hatte auch klein Grasmückchen seine Mutter vergeblich gesucht. Da kam sie einmal zu einer Nachtigall, die sagte: »Ich will Dir einen guten Rath geben. Wir reisen jetzt bald in das Land nach Mittag zu, da gehe Du mit uns, vielleicht findest Du Deine Mutter.« Grasmückchen war damit zufrieden, und als es Nacht war, flog es mit den Nachtigallen fort, die wurden von einer Königinn angeführt. Sie flogen nur des Nachts, am Tage aber schliefen sie in einem dichten Gehölze, oder sie suchten ihre Nahrung, und aßen und tranken.

Nachdem sie über ein großes Meer geflogen waren, kamen sie in ein Land, das lauter Sand war, so weit man sehen konnte. Ganz am Ende aber sah man einen erhabenen Punkt; das war eine Insel in dem Sandmeere, die grünte das ganze Jahr, während rings herum alles verdorrt und erstorben war. Mitten auf der Insel war eine kleine Quelle, die floß aus einem Felsen heraus, und lief über eine Wiese; als sie aber in den Sand kam, versiegte sie plötzlich vor der großen Hitze. Auf der Insel hingegen war es kühl und schattig, und die Nachtigallen sangen wunderschön, und wenn sie gesungen hatten, badeten sie sich in dem klaren Wasser.

[15] Grasmückchen suchte vergeblich nach seiner Mutter, sie war nirgend zu finden. Die Nachtigallen blieben aber so lange hier, bis in ihrer Heimath der Winter vorbei war, und auf der Insel der Herbst anfing; da flogen sie wieder zurück, die Nachtigallen-Königinn aber flog voraus.

Ehe sie nun über das große Meer flogen, machten sie einmal Halt, und setzten sich am Ufer nieder, um Kräfte zur Ueberfahrt zu sammeln. Da scharrte Grasmückchen ein wenig im Sand, und fand zwei schwarze, glänzende Kugeln. Die, dachte sie, will ich mitnehmen, und will sie dem Knaben schenken, der mich gefüttert und gepflegt hat. Sie nahm sie also in ihre Klauen, und flog mit ihnen über das Meer in ihre Heimath.

Als sie hier ankam, war auch der Frühling gekommen. Da schien nun die Sonne so freundlich durch das Fensterlein, hinter welchem Grasmückchens Mutter im Käfig gefangen saß; sie wäre aber gar gerne draußen gewesen in der frischen, freien Luft. Das merkte der Knabe, und hing den Käfig vor das Fenster, und die Grasmücke wurde gar lustig und munter. Da sah sie eine andere Grasmücke herbeifliegen, die hatte zwei schwarze Kugeln in ihren Krallen; es war aber ihr Töchterlein, das junge Grasmückchen. Da rief sie schnell: »Mach auf, mach auf!« Das kleine Grasmückchen schob schnell den Riegel vor dem Thürchen zurück, und husch! flog die Alte heraus. Als sie sich nun einander wieder sahen, da weinten beide vor Freude, und erzählten sich auf einem nahen Baume Alles, was ihnen seitdem begegnet war.

Hierauf sagte die Alte: »Willst Du nicht dem Knaben, der mich den ganzen Winter über gefüttert hat, eine von den Kugeln schenken? Du hast ja noch eine.«

»Ach, ja!« sagte klein Grasmückchen, und flog hin zum Käfig, und legte die eine Kugel in's Nestchen. Dann [16] flogen sie fort zu dem Knaben, der klein Grasmückchen gepflegt hatte, und dies warf ihm die andere Kugel zum Fenster hinein. Als sie aber auf den Boden fiel, zerbrach sie in zwei Stücke, und es fiel aus der Höhlung ein Diamant heraus, der glänzte wie Feuer. Den fand der Knabe, und sein Vater trug ihn in die Stadt, und verkaufte ihn für vieles Geld, so daß der Knabe sehr reich wurde.

Der andere Knabe hatte unterdessen auch seine Kugel gefunden, und betrachtete sie lange, und hielt sie für ein Ei. »Das will ich ausbrüten lassen,« sagte er, »darin muß ein sonderbarer Vogel stecken!«

Während er nun so die Kugel in der Hand betrachtete, hörte er an dem Busch, der mit Vogelleim bestrichen war, ganz gewaltig schreien. Er lief schnell hinaus, um zu sehen, was es dort gäbe; und siehe da! es hatte sich ein großer Kuckuck in dem Vogelleim festgeklebt. Das war derselbe, der die junge und die alte Grasmücke aus dem Nest getrieben hatte. Da nahm ihn der Knabe, und setzte ihn auf das Nest in seinem Käfig, und sagte: »Jetzt brüte mir einmal das Ei aus!« Der Kuckuck aber, weil er sonst gar nichts zu thun hatte, brütete und brütete in einem fort; da zerplatzte endlich auf ein Mal das Ei. Statt eines Vögelchens kam aber eine junge Schlange heraus, die wickelte sich um seinen Hals und erwürgte ihn; darauf schlüpfte sie zum Käfig hinaus, und verkroch sich in die Erde.

Die beiden Grasmücken aber bauten sich ihr zerrissenes Nestchen, und lebten noch lange in Friede und Eintracht bei einander.


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Zitationsvorschlag für diese Edition
TextGrid Repository (2012). Lehnert, Johann Heinrich. 3. Die Grasmücke. Digitale Bibliothek. https://hdl.handle.net/11858/00-1734-0000-0003-DC80-6